Heimatfilm - Sissy
Heimatfilm - Sissy
Heimatfilm - Sissy
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Ausgabe dreizehn · März bis Mai 2012 · kostenlos<br />
s Racheengel: Das blutige Märchen s Umständehalber: Harvey Milk auf Farsi s Feste Größe: Peter Kern s <strong>Heimatfilm</strong> (1): Too much<br />
Berlin s Geschlechterfrage: Ganz konkret zurechtgerückt s Erlösung: Ein Schwuler in Menschengestalt s Pim und Gino: Träume jenseits<br />
von Cinecittà s Close Talk: Filmische Naherholung s Gleich und anders: Priscilla im Landkreis Sonneberg s <strong>Heimatfilm</strong> (2): Schande für<br />
Niederbayern s Muskeln und Glamour: Fang an zu drehen! s Hoffnungsloses Beige: Falsch bis zum letzten Augenblick s Dachgeschoss:<br />
Zähne zusammenbeißen und durch s Sprechblasenvortrag: Lutsch mir die Ente! s Knutschfleck: Die ExpertInnenjury entscheidet
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TITEL: EDITIoN SALZGEBEr<br />
<strong>Sissy</strong> dreizehn<br />
Es war mal wieder Berlinale, im Panorama gab’s mal wieder einen<br />
Queer-Schwerpunkt, Queer-Film-Festival-Kuratoren haben als Jurymitglieder<br />
Teddys verteilt. Das gibt es auf keinem anderen großen<br />
internationalen Filmfestival. Bestürzend und schade (wie immer) aber<br />
war, was und wie darüber geredet wurde. Von einer „Timeline“ ist da<br />
von den Veranstaltern die Rede, auf der „der Westen“ top Ergebnisse<br />
im Bekämpfen der Queer-Diskriminierung<br />
erzielt und alle anderen Kulturen zwischen 10<br />
und 30 Jahre hinterher seien. Da wird, wenn<br />
überhaupt das Wort „Film“ fällt, das audiovisuelle<br />
Medium allenfalls als Gefäß für wichtige<br />
Themen angesehen, nämlich, um bedrohte<br />
queere Menschen und Szenen vor allem der<br />
‚rückständigen‘ Orte dieser Welt zu zeigen,<br />
ganz egal wie. Als „Geschenk“ wird ein serbischer<br />
Mainstream-Film vorgestellt und empfohlen,<br />
der serbischen Homophoben erklärt,<br />
dass Schwule tatsächlich Menschen sind, was<br />
dort (Parada war ein Kassenhit) gut funktioniert<br />
hat. Schön für die Serben – problematisch<br />
für alle anderen, die sich mit flachen Klischees,<br />
leidenden und am Ende sterbenden schwulen<br />
Figuren und verschämter Körperlichkeit (kein Von Heterosexuellen umarmt: „Parada“ von Srdjan Dragojevic (2011).<br />
Kuss, kein Sex, um die homophoben Serben<br />
nicht zu verprellen, bevor sie was lernen) auseinandersetzen müssen.<br />
Diese Denke ist überheblich und unqueer – denn sie übersieht,<br />
dass Queer-Sein kein globales essentialistisches Phänomen ist, sondern<br />
in jeder Kultur und Szene, bei jedem Menschen anders ist und<br />
einen anderen (auch filmischen) Ausdruck findet, den zu entdecken ja<br />
gerade das Spannende am Queer Cinema ist.<br />
Davon unbeeindruckt hat die Teddy-Jury wie üblich gute Arbeit<br />
geleistet und u.a. einen Film prämiert, der eine private Beziehung in<br />
einem Land schildert, in dem queere Menschen nicht mit der Todesstrafe<br />
bedroht sind: Keep The Lights On tastet sich sensibel an das Bild<br />
einer schwulen Beziehung in New York heran, mit flimmernden Bildern,<br />
ätherischen Songs, einer taktilen Kamera, durch die das Thema<br />
der Berührbarkeit auch auf filmischer Ebene erkundet wird. Dass er<br />
überhaupt im Programm war (zuletzt wurden z.B. Weekend oder das<br />
Spielfilmdebüt von Travis Matthews abgelehnt), könnte daran gelegen<br />
haben, dass in dem Film eine Figur selbst einen Teddy gewinnt (so<br />
viel Schmeichelei muss belohnt werden).<br />
Natürlich haben auch wir dieses Jahr wieder viele tolle Entdeckungen<br />
gemacht (S. 37). Was das Queer-Cinema-Konzept der Berlinale<br />
angeht (eigentlich nur des Panoramas, denn Festivalchef Kosslick<br />
geht nach eigenen Worten „diese Trans-Kiste“ sowieso grundsätzlich<br />
an der eigenen vorbei), darüber sollte in einer der nächsten SISSYs<br />
mal offen gesprochen werden.<br />
vorspann<br />
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3<br />
BErLINALE / VuKASIN VELjIC
mein dvd-regal<br />
Peter Kern – Regisseur, Schauspieler, Autor<br />
4 5<br />
Peter Kern
kino<br />
DIe BAllADe<br />
vOn vASSIlI<br />
unD AngelO<br />
von SaScha WeStphal<br />
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit sind zwei dunkle Engel<br />
in Gaël Morels blutigem Märchen „unser Paradies“. Die beiden<br />
Stricher wehren sich mit Gewalt gegen die entwürdigenden<br />
Blicke ihrer Freier und steuern auf der Suche nach einem<br />
ort für ihre Liebe immer mehr auf eine Katastrophe zu. Der<br />
Spielfilm mit Stéphane rideau (Porträt in der letzten SISSY)<br />
in der Hauptrolle läuft im März in der Gay-Filmnacht und ist<br />
ab 5. April in ausgewählten Kinos zu sehen.<br />
Over there / In the cold / Stands the hustler, / His eyes are old –<br />
He has seen a million ugly scenes, / Places where men droop with mould,<br />
The backrooms / Where soiled goods are sold,<br />
Seen with opened eyes since frail fifteen.<br />
He has found it hard at first / But on his brow there sits a curse<br />
For when the young must suffer / At the hands of men.<br />
marc almond: the hustler, 1986<br />
s Nachts im Bois de Boulogne. Vassili streift ziellos umher. Gerade<br />
hat ihn ein viel jüngerer Stricher von seiner Ecke an der Straße vertrieben.<br />
Einer wie Vassili ist nun mal schlecht für das Geschäft. Die<br />
Männer in den Autos suchen nach jungen, attraktiven Begleitern und<br />
nicht nach Typen, die vielleicht vor 15 Jahren einmal Könige in der<br />
Welt des schnellen, anonymen Sex’ waren. Aber Vassili hat eben nie<br />
den Absprung geschafft. Er lebt immer noch so wie am allerersten<br />
Tag, damals vor so vielen Jahren, als er in Paris angekommen ist und<br />
ihm, dem jungen Schwulen aus einem winzigen, viel zu engen Nest<br />
bei Grenoble, die Welt zu Füßen zu liegen schien. Mittlerweile dreht<br />
sich so leicht keiner mehr nach ihm um. Die Bewunderung ist aus den<br />
Blicken der anderen verschwunden. Nun registrieren sie ihn nur noch<br />
distanziert und fragend oder gleich spöttisch und verachtend. Die<br />
Jungen, die seine Söhne sein könnten, sehen in ihm höchstens noch<br />
ein abschreckendes Beispiel. So etwas darf ihnen nicht passieren.<br />
Also geht Vassili nun alleine mit sich und seinen Gedanken, seinen<br />
Erinnerungen und seiner Wut durch den Park. Nah am Wasser entdeckt<br />
er plötzlich im Gras einen bewusstlosen jungen Mann und holt<br />
ihn zurück ins Leben. „Bin ich tot?“, fragt der Fremde, als er die Augen<br />
wieder öffnet und in Vassilis leicht aufgedunsenes und schon ziemlich<br />
verlebtes Gesicht blickt. „Nein“, versichert ihm sein Retter. Aber der<br />
Tod wird trotz allem von nun an sein Begleiter sein. Zunächst will der<br />
Namenlose, der überfallen und wohl auch vergewaltigt wurde, Vassilis<br />
Hilfe nicht annehmen. Er setzt sich in einer Bushaltestelle auf eine<br />
Bank und will nur noch allein sein.<br />
Aber Vassili kann seine Augen nicht von dem blonden, aufreizend<br />
unschuldig wirkenden Jüngling nehmen. Von der anderen Straßenseite<br />
aus beobachtet er ihn und schreitet sofort ein, als ein Freier den<br />
Verletzten anspricht. Von diesem Moment an sind die beiden praktisch<br />
unzertrennlich. Noch in derselben Nacht wird Vassili seinen<br />
Schützling Angelo taufen. Zunächst hatte er es mit Ange und Angel<br />
versucht. Doch weder der eine noch der andere Name gefiel seinem<br />
Gast. Vielleicht waren sie diesem aus dem Nichts gekommenen, durch<br />
die Liebe Vassilis neugeborenen Engel zu offensichtlich und banal. In<br />
Angelo schwingen zumindest nicht nur die Erwartungen und Hoffnungen<br />
des Älteren mit. Dieser Name ist für den Fremden aus dem<br />
Park, der nicht ein einziges Wort über seine Vergangenheit verlieren<br />
wird, selbst eine Art Versprechen. Er hat etwas Exotisches an sich, ein<br />
Geheimnis, das nicht so ganz zu seinem Äußeren passen will.<br />
Eine Begegnung wie in einem Märchen ist dieses erste Zusammentreffen<br />
von Vassili und Angelo. Und so setzt sie Gaël Morel auch in<br />
Szene. Der Bois de Boulogne, diese Wildnis mitten in der Stadt, in der<br />
Nacht für Nacht die Hustler nach Freiern suchen, durch die aber auch<br />
homophobe Schläger marodieren, in der ein Leben kaum mehr wert ist<br />
als ein Blowjob, erscheint plötzlich in einem anderen Licht, verwandelt<br />
sich vom Straßenstrich in einen verwunschenen Märchenwald, in<br />
den ein Engel vom Himmel herabsteigen und ein schon vor langer Zeit<br />
gefallener Cherub noch einmal eine Chance bekommen kann.<br />
Morel nimmt das Wunder und Mysterium der Liebe genauso ernst<br />
wie die triste Wirklichkeit eines Lebens als alternder Stricher, in der<br />
Vassili zusammen mit Angelo in – wie er sagt – „unser Paradies“ entfliehen<br />
will. Wie dieses Paradies aussehen könnte, auch davon wird<br />
Morel später noch ganz ohne Kitsch erzählen. Sie finden es schließlich<br />
in den verschneiten Bergen und Wäldern rund um die Villa von<br />
Vassilis erstem Freier Victor. Für einige kostbare Momente, in denen<br />
die beiden ganz bei sich sind, taucht ihre bedingungslose, keine Grenzen<br />
akzeptierende Liebe die Welt in ein sanftes, beinahe goldenes<br />
Licht und transformiert sie. So könnte es vor dem Sündenfall, der bei<br />
Morel der Fall eines und damit aller Männer ist, gewesen sein.<br />
Doch das wiedergefundene, das selbst erschaffene Paradies hat<br />
keinen Bestand. Die Illusion muss zerplatzen, in einem anderen,<br />
neuen Sündenfall, den ein kleiner Junge, der auch Vassili heißt, mit<br />
ansieht. Das Paradies lässt sich nicht festhalten so wie die Zeit, die<br />
Vassili mit seiner Jagd nach bedeutungslosem Sex vergeudet und verloren<br />
hat, sich nicht wiederfinden lässt. Angelo, der Engel aus dem<br />
Bois de Boulogne, ist für ihn nun ein Versprechen auf eine zweite<br />
Jugend und auf ein Leben, das durch die Liebe doch noch einen Sinn<br />
erhält, das alles Gewesene, all das Dunkle und Kaputte, das Geld und<br />
die Gewalt transzendieren könnte. Doch die Wirklichkeit hat ihre<br />
eigenen Gesetze, an denen das Märchen nur zerbrechen kann. Und<br />
so verliert der alternde Hustler, der gelernt hat, seine Freier zu hassen,<br />
der sie nur mehr als Zerstörer der Liebe und Korrumpierer von<br />
Unschuld sehen kann, auch noch die ihm noch gebliebene Illusion<br />
über seine Vergangenheit.<br />
Lange galt in Vassilis Augen für Victor genau das, was Pierre Pruez<br />
in Avant que j’oublie, Jacques Nolots exquisitem Porträt des Gigolos<br />
als altem Mann, über einen seiner ersten Freier sagt: „Er war immer<br />
mein Vater, meine Mutter, meine Bank. Wie ein Elternteil, das du nur<br />
sehen willst, wenn die Dinge schlecht stehen.“ Doch dieser Vater in<br />
der Ferne, der ihm immer noch die Miete für sein Pariser Appartement<br />
zahlt, ist eben auch nur ein Mann wie alle anderen, denen er<br />
schon in einer Million hässlicher Szenen begegnet ist, ein Mann, der<br />
sich einen deutlich jüngeren Geliebten hält, der wiederum Ansprüche<br />
auf ihn erhebt. Damit ist das Idyll in den Bergen beschmutzt und die<br />
Katastrophe, auf die diese „Ballade von Vassili und Angelo“ schon von<br />
Anfang an zusteuert, unausweichlich.<br />
Aber nicht nur Vassili sucht nach einer verlorenen, einer ihm zwischen<br />
den Fingern davon geronnenen Zeit. Der Film selbst gleicht<br />
einer Beschwörung eines vergangenen oder zumindest aus der Mode<br />
gekommenen Kinos. Auf den ersten Blick könnte Unser Paradies mit<br />
seinem Hustler-Paar, das seine Freier für ihre Verderbtheit, ihre rein<br />
materialistische Vorstellung von Nähe und Sexualität richtet, die<br />
schwule Variante von Serienkiller-Pärchen à la California, Natural<br />
Born Killers oder auch Jean-Marc Barrs und Pascal Arnolds American<br />
Translation sein, in dem die amour fou zweier haltloser Twens in<br />
mehreren Morden an jungen Strichern kulminiert.<br />
EDITIoN SALZGEBEr<br />
6 7<br />
kino
kino kino<br />
Doch letzten Endes verbindet Morels Film<br />
kaum etwas mit diesem tief in der amerikanischen<br />
Popkultur des späten 20. Jahrhunderts<br />
verwurzelten Subgenre. Seine Ursprünge<br />
liegen viel eher im (französischen) Queer<br />
Cinema der 80er und 90er Jahre. Morel kehrt<br />
zurück zu den rauen, transgressiven Arbeiten<br />
von Filmemachern wie Patrice Chéreau und<br />
Cyril Collard. Von L’homme blesse über Wilde<br />
Nächte und Vincent Ravalecs ekstatischem<br />
Filmpoem Portrait des hommes qui se branlent<br />
scheint praktisch eine direkte Linie zu Unser<br />
Paradies zu führen, der angesichts der Radikalität<br />
und Intensität seiner ungeschminkten<br />
Bilder und Szenen aus dem Leben zweier<br />
Hustler aus einer anderen Zeit zu stammen<br />
scheint. Die Reise der vorbehaltlos Liebenden<br />
in Richtung Paradies ist eben auch eine Reise<br />
in die Vergangenheit, in die Zeit, in der Vassili<br />
noch jung und unwiderstehlich war.<br />
Doch die Uhr lässt sich nicht zurück drehen,<br />
weder von zwei gestürzten Engeln noch<br />
von einem Filmemacher, der sie auf diesen<br />
vergeblichen Trip schickt. Davon zeugen<br />
alleine schon Stéphane Rideaus Körper und<br />
Gesicht. In seinen Augen ist immer noch<br />
etwas zu erkennen von dem umwerfenden<br />
jungen Mann aus André Téchinés Wilde<br />
Herzen, in den man sich einfach verlieben<br />
musste. Aber von seinem spektakulären<br />
Körper ist nur noch eine Ahnung geblieben.<br />
Gleich in der ersten Szene sitzt er nahezu<br />
unbeweglich auf der Couch eines wohlhabenden<br />
Freiers und versucht nicht einmal,<br />
den Bauchansatz zu verstecken. In seinen<br />
Anzeigen, im Internet und am Telefon lügt<br />
dieser Vassili dreist, wenn es um sein Alter<br />
und sein Aussehen geht. Anders könnte er<br />
auch kaum noch Kunden finden. Ist er aber<br />
erst einmal bei ihnen, stellt er den Niedergang<br />
seines Körpers ebenso schamlos aus.<br />
Alles an diesem in die Jahre gekommenen<br />
rent boy verkündet den Männern, die ihre<br />
eigene Jugend noch einmal heraufbeschwören<br />
wollen, in dem sie möglichst junge und<br />
schöne Männer für Sex bezahlen: Auch ihr<br />
seid alt und hässlich, akzeptiert den Lauf der<br />
Zeit. Doch das können sie nicht, und so greift<br />
er zur nächstbesten Waffe. Den ersten Klienten,<br />
der selbstvergessen zu Roy Orbisons<br />
„In Dreams“ tanzt und gar nicht aufhören<br />
kann, auf Vassili einzureden, will er mit dem<br />
Stromkabel eines Plattenspielers erwürgen.<br />
Einen erschlägt er, und wieder einen anderen<br />
ersticht er in dessen Badewanne und lässt<br />
ihn dort in einer Pose zurück, die deutlich an<br />
Jacques-Louis Davids Gemälde „Der Tod des<br />
Marat“ erinnert. Nur liegt er vor einer Wand<br />
aus Panoramafenstern, die den Blick auf ein<br />
nächtliches Schneetreiben freigibt.<br />
In diesem Blick ins vom Schnee erhellte<br />
Dunkel schwingt noch ein anderes Bild mit.<br />
In André Téchinés Ich küsse nicht stehen an<br />
einem Weihnachtsabend der aus der Provinz<br />
nach Paris geflohene Pierre Lacaze und der<br />
erfolgreiche Fernsehproduzent und -Moderator<br />
Romain an einem Fenster hoch über<br />
der Stadt und betrachten den Schnee, der<br />
sanft auf die Straßen nieder rieselt. Pierre<br />
und Romain sind das Paar, das in Téchinés<br />
kristalliner Verfilmung von Jacques Nolots<br />
Drehbuch nie zusammenkommt. Selbst als<br />
Pierre seine Hemmungen überfunden hat<br />
und im Bois de Boulogne, in den es Romain<br />
trotz seiner Berühmtheit immer wieder<br />
zieht, anschaffen geht, versteckt er sich<br />
sofort, wenn er den älteren Mann sieht. Er<br />
entzieht sich konsequent der Möglichkeit,<br />
in Romain seinen Vater, seine Mutter, seine<br />
Bank zu sehen, und wird dafür einen hohen<br />
Preis zahlen. Wohin sein Weg führt, lassen<br />
Téchiné und Nolot offen, wobei dessen<br />
eigene Trilogie, L’arrière pays, La Chatte à<br />
deux têtes und Avant que j’oublie, sich durchaus<br />
auch als Fortschreibung von Pierres<br />
Geschichte lesen lässt.<br />
Vor diesem Hintergrund eröffnet sich<br />
noch einmal eine andere Facette in Morels<br />
lyrischem Märchen von Eros und Thanatos.<br />
Zusammen mit UIch küsse nicht und Avant<br />
que j’oublie bildet Unser Paradies eine Art<br />
von Dreieck, das verschiedene Möglichkeiten<br />
einer Biografie vermisst und durchspielt.<br />
Gemeinsam zeichnen sie das Bild eines Stri-<br />
chers und Gigolos als filmisches Triptychon,<br />
ein Panorama eines Lebens am Rand. Im<br />
Zentrum stände dabei Téchinés Bildnis eines<br />
jungen Mannes, der keinerlei Emotionen an<br />
sich heran lässt, nur um schließlich einer<br />
Prostituierten zu verfallen, die sein Spiegelbild<br />
sein könnte. Die Seitenflügel offenbaren<br />
Varianten seines Weges und ergänzen sich<br />
dabei auf eine geradezu unheimliche Weise.<br />
Nolots Pierre Pruez phantasiert einmal<br />
über Pasolinis Ende am Strand von Ostia und<br />
sagt zu einem alten Freund: „Pasolini muss<br />
Angst gehabt haben. Dennoch, es war ein<br />
schöner Tod.“ Und eben den sucht – zumindest<br />
wäre das eine Deutung der irritierenden,<br />
von Klängen aus dem ersten Satz von<br />
Mahlers Dritter Symphonie begleiteten und<br />
in einer Schwarzblende gipfelnden Schlussszene<br />
– Pierre schließlich selbst. Morel wirft<br />
mit Unser Paradies einen Blick auf die andere<br />
Seite: Der alt gewordene Freier, für den es<br />
letztlich nur noch den Tod gibt, braucht den<br />
zum Mörder gewordenen Stricher. Ihre Wege<br />
müssen sich kreuzen und kommen damit zum<br />
Ziel. Der tief gestürzte Cherub Vassili ist auch<br />
ein Engel des Todes. Seine große, von einer<br />
göttlichen Unschuld erfüllte Liebe zu Angelo<br />
ist die andere Seite des tödlichen, von gegenseitiger<br />
Schuld geprägten Hasses auf seine<br />
Opfer. Dieser Nachtseite seiner Existenz<br />
entflieht Vassili in den gemeinsamen Traum<br />
mit Angelo, seinem Engel des Lichts. „Only<br />
in dreams you can live for real“, singt Roy<br />
Orbison und verspricht damit den verzweifelten<br />
Liebenden ihr Paradies, einen Ort, wo<br />
sie nichts trennen oder zerstören kann, weder<br />
irgendein Freier noch die Polizei. s<br />
unser Paradies<br />
von Gaël Morel<br />
FR 2011, 100 Minuten,<br />
französische OF mit dt. UT<br />
Edition Salzgeber, www.salzgeber.de<br />
Im Kino<br />
G-Filmnacht im März<br />
www.gay-filmnacht.de<br />
Kinostart: 12. April 2012<br />
EDITIoN SALZGEBEr (2)<br />
„DAS SinD<br />
echte helDen“<br />
IntervIeW: thomaS abeltShauSer<br />
Gaël Morel über seinen neuen Film. und über Schwule als<br />
knuffige Haustiere, die Schwulenikone Stéphane rideau und<br />
seine Filmfamilie, zu der auch regisseur Christophe Honoré<br />
(siehe Seite 25) gehört.<br />
sissy: „Unser Paradies“ mit seinen schwulen Antihelden erinnert an<br />
das amerikanische New Queer Cinema Anfang der Neunziger Jahre.<br />
War das ein bewusster Bezugspunkt?<br />
gaël Morel: Ich war es einfach leid, all diese völlig flachen französischen<br />
Filme zu sehen, die aussehen wie Fernsehfilme, die Samstagabend<br />
auf den Öffentlich-Rechtlichen laufen. Und dann nennt sich<br />
das auch noch Autorenfilm! Dagegen wollte ich aufbegehren. Ich<br />
wollte einen schwierigen, radikalen Film machen. Aber bewusst<br />
beziehe ich mich nicht auf andere Filme, ich zeige einfach eine Welt,<br />
die ich kenne. Französische Filme sind traditionell oft sehr naturalistisch<br />
und psychologiebetont und es wird gerne von der Gesellschaft<br />
geredet. Und das aus einer ästhetischen Perspektive, die mir sehr<br />
unpersönlich vorkommt. Ich dagegen wollte das Düstere betonen.<br />
Aber mit dem Begriff Antiheld kann ich nicht viel anfangen. Nehmen<br />
Sie die Figuren, die Charlie Chaplin in den Zwanzigern spielte oder<br />
Marlon Brando in den Fünfzigern. Das waren auch keine Helden im<br />
herkömmlichen Sinne. Ich habe an solche Charaktere gedacht. Es<br />
ist doch eine Wohltat, einmal ein schwules Liebespaar auf der Leinwand<br />
zu sehen, das Straftaten begeht! Sonst werden Schwule immer<br />
nur als beste Freunde irgendwelcher Teeniegören oder als knuffige<br />
Haustiere dargestellt. Das interessiert doch keinen. Als ich jung war,<br />
wollte ich auch lieber River Phoenix und Keanu Reeves in My Own<br />
Private Idaho oder Marlon Brando in Die Faust im Nacken sehen als<br />
irgendwelche schwulen Abziehbilder in x-beliebigen Coming-out-<br />
Komödien. Für mich sind diese Figuren echte Helden.<br />
Außer Angelo haben in Ihrem Film im Grunde alle Probleme mit dem<br />
Älter werden. Beschreiben Sie damit ein gesellschaftliches Phänomen<br />
oder treibt Sie das auch persönlich um?<br />
Beides. Älter werden wir alle. Aber wir Schwule haben damit vielleicht<br />
noch mehr zu kämpfen. Als älterer Hetero wird man für viele<br />
Frauen ja erst richtig interessant. Bei Schwulen zählt dann doch eher<br />
das Aussehen. Wie nett oder klug jemand ist, tut weniger zur Sache.<br />
Da herrscht ein Anspruchsdenken, was körperliche Attraktivität und<br />
Jugend angeht, das man kaum erfüllen kann. Man begehrt und verachtet<br />
es zugleich.<br />
Sie selbst haben bereits 1994 mit Stéphane Rideau in André Techinés<br />
„Wilde Herzen“ vor der Kamera gestanden und seitdem immer wieder<br />
mit ihm gedreht. Was ist für Sie das besondere an ihm? Und wie haben<br />
Sie ihn überzeugt, doch wieder eine schwule Rolle zu spielen?<br />
Er ist einfach ein sehr mutiger Schauspieler, mit dem ich gerne zusammenarbeite.<br />
Er ist in der französischen Filmbranche eine einzigartige<br />
Erscheinung, alleine schon was seine körperliche Präsenz angeht. Er<br />
ist sehr frei und aufgeschlossen und hat keine Angst vor Herausforderungen.<br />
Ja, es ist eine Schwulenrolle, aber genau damit wollte er auch<br />
brechen. Durch Filme wie Sommer wie Winter … wurde er weltweit<br />
zur Schwulenikone und Objekt der Begierde für Tausende Schwule.<br />
Die Rolle des Vassili gab ihm die Chance, sich neu zu positionieren.<br />
Es geht dabei weniger darum, wieder einen Schwulen zu spielen, sondern<br />
sich auch in seiner körperlichen Reife als Mann Mitte Dreißig<br />
mit Bart und Bauch zu präsentieren.<br />
Im Abspann des Films danken Sie Christophe Honoré. Was verbindet Sie?<br />
Christophe gehört definitiv zu den französischen Regisseuren, die<br />
ich am meisten schätze. Ich finde seine Filme interessant und überraschend.<br />
Wir arbeiten schon lange zusammen, ich war bereits bei<br />
seinem ersten Kurzfilm vor zehn Jahren dabei. Er hat mir dann bei<br />
Après lui und Brüder Liebe geholfen. Er ist für mich Filmemacher und<br />
Freund. Es ist uns beiden wichtig, dass wir nicht allein dastehen in<br />
dieser Branche, wir bilden eine Art Filmfamilie. Dabei ähneln sich<br />
unsere Filme noch nicht einmal, aber wir schätzen, was der jeweils<br />
andere macht. Und wir würden auch gerne einen gemeinsamen Film<br />
machen.<br />
Für Honoré ist auch relevant, dass Sie beide aus der Provinz stammen.<br />
Sehen Sie das ebenso?<br />
Mit Sicherheit. Wenn man aus der Provinz nach Paris kommt, geht es<br />
darum, die fremde Stadt zu erobern, sie sich anzueignen. Und viele,<br />
die in Paris geboren wurden, sehen die Besonderheiten dieser Stadt<br />
gar nicht. Das verbindet uns. Eine andere Gemeinsamkeit ist sicherlich<br />
unsere Radikalität und unser Anspruch, auch wenn unsere Filme<br />
grundverschieden sind. Und noch etwas verbindet uns: das enge Verhältnis<br />
zum geschriebenen Wort. Wie ich schreibt Christophe seine<br />
Drehbücher selbst und wir lesen gegenseitig unsere Texte. Christophe<br />
ist mein erster Leser und mein erster Zuschauer. Er gibt Ratschläge<br />
und kritisiert ohne jede Herablassung. Das weiß ich sehr zu<br />
schätzen. s<br />
Sommer wie Winter …<br />
von Sébastien Lifshitz<br />
FR 2011, 100 Minuten,<br />
deutsche SF, OmU<br />
Auf DvD bei der Edition<br />
Salzgeber, www.salzgeber.de<br />
Full Speed<br />
von Gaël Morel<br />
FR 1996, 82 Minuten,<br />
französische OF mit dt. UT<br />
Auf DvD bei Pro-Fun Media,<br />
www.pro-fun.de<br />
Brüderliebe<br />
von Sébastien Lifshitz<br />
FR 2004, 86 Minuten,<br />
französische OF mit dt. UT<br />
Auf DvD bei Pro-Fun Media,<br />
www.pro-fun.de<br />
8 9<br />
EDITIoN SALZGEBEr
kino<br />
10<br />
EDITIoN SALZGEBEr AnDeRe<br />
umStänDe<br />
von maIke Schultz<br />
kino<br />
Das heimische Wohnzimmer als Schutzraum: „Sharayet – Eine<br />
Liebe in Teheran“ erzählt von einer Beziehung in den Zwängen<br />
des Mullah-regimes. Das Spielfilm-Debüt von Maryam<br />
Keshavarz gewann den Publikumspreis beim Sundance<br />
Festival, läuft im März in der L-Filmnacht und kommt am 24.<br />
Mai ins Kino.<br />
s Der Übergang ist fließend. Die beiden Mädchen lachen und weinen<br />
zusammen, umarmen sich auf dem Schulhof, gehen mit, wenn die<br />
Lehrerin eine von ihnen ausschimpft. Sie tuscheln, rauchen und rangeln<br />
miteinander. Und dann, eines Nachts, wandert eine Hand unter<br />
das Nachthemd der Anderen. Ganz selbstverständlich, so als hätte sie<br />
nie etwas anderes getan.<br />
Kein Schlüsselerlebnis, kein sexuelles Erwachen findet statt in<br />
Sharayet – Eine Liebe in Teheran. Weil das, worum es geht, schon die<br />
ganze Zeit da war: Nicht nur Freundinnen, sondern Liebende sehen<br />
wir hier flirten und herumtollen. Von Anfang an werfen sich Shirin<br />
und Atafeh Blicke zu, die selbst der Mutter nicht entgehen können.<br />
„Sharayet“ heißt „Lebensumstand“. Muss man sein Leben den<br />
Umständen anpassen, die der Geburtsort einem vorgibt – mit all<br />
dessen gesellschaftlichen und politischen Zwängen? Oder siegt der<br />
Wunsch nach Freiheit über die Angst, letztlich auch die familiäre<br />
Bindung aufzugeben? Für die beiden Schülerinnen Shirin und Atafeh<br />
stellt sich diese Frage zunächst gar nicht. In der liberalen Teheraner<br />
Oberschicht aufgewachsen, leben sie in einer Art Grauzone: Nach<br />
außen hin passen sie sich den strengen Vorsätzen des öffentlichen<br />
Lebens an, doch im Untergrund tanzen sie mit anderen Jugendlichen<br />
auf illegalen Techno-Partys, sprühen Graffiti und träumen von einer<br />
Popkarriere im Ausland.<br />
Die US-amerikanisch-iranische Regisseurin Maryam Keshavarz<br />
porträtiert in ihrem Spielfilm-Debüt den privilegierten iranischen<br />
Mittelstand. Viele Vertreter dieses gebildeten Bürgertums verteidigen<br />
ihre private Freiheit mit öffentlicher Anpassung und Geld: In<br />
Atafehs Wohnzimmer herrschen weder Kopftuchzwang noch die<br />
Gebetsriten des Islam. Und wenn sie doch einmal von der Moralpolizei<br />
erwischt wird, reicht meist ein Bündel Scheine vom Vater, um<br />
deren Schweigen zu erkaufen.<br />
Für die Tochter und ihre beste Freundin bildet dieses Umfeld der<br />
Liebe und Akzeptanz einen Schutzraum, in dem sie sich sicher fühlen.<br />
Wie brüchig die Zuflucht ist, zeigt Atafehs Bruder Mehran: Seine<br />
Exzesse und Eskapaden wider die Konvention haben ihn zu einem<br />
Drogensüchtigen gemacht, der nach einem Entzug nun ausgerechnet<br />
im Glauben Halt findet. Immer radikaler wandeln sich seine Ansichten<br />
und irritieren selbst seine durchaus kritischen Angehörigen.<br />
Keshavarz’ fiktive Charaktere agieren in einem Spannungsfeld,<br />
das angesichts der aktuellen Debatten um das Atomprogramm des<br />
iranischen Präsidenten Ahmadinedschad schon beinahe in Vergessenheit<br />
geraten ist. Im Juni 2009 wurden Tausende Iranerinnen<br />
und Iraner von der so genannten „Grünen Revolution“ erfasst und<br />
protestierten auf den Straßen Teherans: Sie warfen dem Regime vor,<br />
die Wahlergebnisse gefälscht zu haben. Die Mullahs reagierten mit<br />
11
kino kino<br />
Härte auf die Demonstranten. Es gab zahlreiche<br />
Opfer wie die Studentin Neda Soltani,<br />
die durch ihren gewaltsamen Tod zur<br />
Ikone der iranischen Widerstandsbewegung<br />
wurde. Ein konkretes Ergebnis der Proteste<br />
blieb jedoch aus. Wohl auch, weil die Opposition<br />
so heterogen ist: Viele sind gegen einen<br />
islamischen Gottesstaat, wollen aber auch<br />
kein System nach westlichem Vorbild.<br />
Shirin und Atafeh wünschen sich das<br />
durchaus. Sie vertreten eine Generation junger<br />
Menschen, die sich die Regeln nicht mehr<br />
von Mullahs diktieren lassen wollen. „Ihr<br />
habt uns das doch erst eingebrockt mit eurer<br />
Revolution“, macht Shirin ihren Vater im<br />
Streit für die eigene Revolte verantwortlich.<br />
Gemeint ist jener Aufstand gegen die Monarchie,<br />
der 1979 zur Errichtung eines islamischen<br />
Staates geführt hatte. Erst danach<br />
wurden die Frauenrechte so stark beschnitten,<br />
wie Atafeh es nun täglich zu spüren<br />
bekommt. Nicht einmal alleine Taxi fahren<br />
kann sie, ohne gleich für eine Prostituierte<br />
gehalten zu werden.<br />
Mit ihrer rebellischen Art erinnert sie<br />
an eine andere berühmte Figur aus Teheran:<br />
Die Comic-Heldin in Marjane Satrapis autobiografischer<br />
Erzählung Persepolis. Auch sie<br />
erzählt von den Umbrüchen der Islamischen<br />
Revolution. Und genau wie Satrapi ist auch<br />
Keshavarz zwischen den Welten aufgewachsen.<br />
Die Schulzeit verbrachte sie in New York,<br />
die Sommermonate in Shiraz. Das Drehbuch<br />
zu Sharayet entwickelte sie aus dieser Erfahrung,<br />
orientierte sich bei ihren Figuren an<br />
eigenen Bekannten und ließ sie von einem<br />
Schauspieler-Ensemble verkörpern, das nur<br />
aus Emigrierten besteht.<br />
In Sharayet ist es Atafehs Cousin Hossein,<br />
der in Amerika studiert hat und nun<br />
mit Befremden auf die eigene Heimat schaut.<br />
Mit seinen Freunden will er den Film Milk<br />
synchronisieren, der als Hollywood-Porträt<br />
eines schwulen Bürgermeisters in Teheran<br />
nur unter der Ladentheke verkauft wird<br />
– vor allem aber will Hossein damit „eine<br />
ernsthafte Diskussion entfachen“. „Politik<br />
hat wenig Romantisches“, entgegnet<br />
ihm eine desillusionierte Shirin. Als Kind<br />
zweier Gelehrter, die wegen revolutionärer<br />
Schriften zum Tode verurteilt wurden, steht<br />
sie unter besonderer Beobachtung. Shirin<br />
wächst bei ihrem Onkel auf, der sie so schnell<br />
wie möglich verheiraten will. Sie ist diejenige,<br />
die immer wieder vom Auswandern<br />
spricht. Und doch ist es auch ausgerechnet<br />
sie, die sich letztlich am schwersten aus der<br />
Bindung ihrer Ersatzfamilie, nämlich der<br />
von Atafeh, lösen kann – vielleicht, weil sie<br />
diese nicht noch einmal verlieren will.<br />
Um ihrer Geliebten nahe zu sein, gibt<br />
sie dem Werben von Atafehs Bruder Mehrat<br />
nach. „Ich habe das nur für dich getan“,<br />
erklärt sie der sichtlich leidenden Schwester<br />
12<br />
ihre Entscheidung. Für Shirin ist auch dieser<br />
Übergang fließend, denn an ihren heimlichen<br />
nächtlichen Besuchen hat sich nichts<br />
geändert. Ihre Ehe ist eine Farce, eine weitere<br />
öffentliche Anpassung, um ihr Privatleben<br />
zu schützen. Doch mit dem drängenden<br />
Gatten ist auch die Leichtigkeit aus diesem<br />
Mikrokosmos gewichen. Und umso schwerer<br />
fällt es den Frauen, den Druck von außen<br />
fernzuhalten.<br />
Ob sie streiten, warten oder einsam ins<br />
Leere starren – immer wieder sehen wir die<br />
Darsteller in den körnigen Aufnahmen einer<br />
Überwachungskamera. Was zunächst wie<br />
ein Regie-Stilmittel wirkt, das die Kontrolle<br />
durch den Staat visualisieren soll, entpuppt<br />
sich jedoch als realer Beobachtungsapparat.<br />
Längst hat das Regime die Familie in Gestalt<br />
eines religiösen Fundamentalisten unterwandert.<br />
Es ist Mehran, der sich an seinem<br />
Computer in Atafehs Schlafzimmer klickt.<br />
Wie aus diesem vertrauten, am eigenen<br />
Freiheitsstreben gescheiterten Bruder ein<br />
Bösewicht und Konkurrent um die große<br />
Liebe wird, ist sicher eine der interessantesten<br />
Wendungen des Films. Niemand kann<br />
darin der Zerstörung entkommen, auch<br />
nicht der Intrigant selbst. Sehenden Auges<br />
läuft Mehrat in sein Unglück mit einer Frau,<br />
die auch patriarchalisches Machtgehabe<br />
nicht umpolen kann. Und sitzt mit in der<br />
Falle, die er selbst gebaut hat. „Ich hoffe, der<br />
Zuschauer hat genauso viel Mitleid für den<br />
Gefängniswärter wie für den Inhaftierten“,<br />
sagt Maryam Keshavarz über diese Parabel,<br />
die ihr ihm beim Sundance Film Festival<br />
2010 zurecht den Publikumspreis einbrachte.<br />
Die Problematisierung von Homosexualität<br />
ist darin nur ein Aspekt der Sehnsucht<br />
nach einem selbstbestimmten Leben. Für sie<br />
findet Keshavarz viele Projektionsflächen:<br />
Hollywood etwa, auf das die Jugendlichen<br />
mit hartem Alkohol anstoßen, dessen Filme<br />
sie bewundern und dessen Traumbilder Pate<br />
standen für eine erotische Fantasie, in der<br />
EDITIoN SALZGEBEr (2)<br />
Shirin und Atafeh sich in einer Villa am Meer<br />
lieben.<br />
Dabei bleiben die beiden stets in ihrer<br />
Kultur verhaftet. In ihren tatsächlichen<br />
Fluchtplänen ist das Ziel weit weniger westlich,<br />
sexuelle Unabhängigkeit glauben sie<br />
auch im vermeintlich weltoffenen Dubai zu<br />
finden. Die eine als glitzernder, singender<br />
Bauchtanzstar, die andere als ihre Managerin<br />
in dunklen Nachtclubs. Selbst ein Emirat,<br />
in dem Schwule und Lesben mit Haftstrafen<br />
und Ausweisung rechnen müssen, erscheint<br />
den Iranerinnen schon als paradiesische Verbesserung.<br />
In ihren Tagträumen können sie sich<br />
auflösen, frei sein – und immer wieder in der<br />
Musik. In Sharayet fungiert sie als eine Art<br />
Geigerzähler der Emotionen. Traditionelle<br />
arabische Weisen, wie sie Shirins Familie an<br />
gesellschaftlichen Abenden anzustimmen<br />
pflegt (auch die Frauen, die das öffentlich<br />
nicht dürfen); der iranische HipHop im Autoradio<br />
der Taxifahrer; die TV-Castingshow,<br />
in der die Kandidatin „Total Eclipse of The<br />
Heart“ singt; Atafehs Eifersuchts-Amokfahrt,<br />
begleitet von Le Tigres „Deceptacon“.<br />
All das sind Puzzleteile einer Protestkultur,<br />
die sich gegen ein permanentes Klima<br />
der Bedrohung, harten Strafen und Unterdrückung<br />
richtet. Seit einem Jahr flimmert<br />
sie uns wieder auf den Fernsehbildschirmen<br />
entgegen, blutig, verbreitet sich dank sozialer<br />
Netzwerke über das Internet und stürzt<br />
in anderen Ländern bereits Diktatoren: Als<br />
Motor der Arabellion. s<br />
Sharayet – eine liebe in Teheran<br />
von Maryam Keshavarz<br />
USA/F/IRA 2010, 105 Minuten,<br />
farsische OF mit dt. UT<br />
Edition Salzgeber, www.salzgeber.de<br />
Im Kino<br />
L-Filmnacht im März<br />
www.l-filmnacht.de<br />
Kinostart: 24. Mai 2012<br />
Persepolis<br />
von Vincent Paronnaud<br />
und Marjane Satrapi<br />
FR 2007, 91 Minuten,<br />
französische OF, deutsche SF<br />
Auf DvD bei Universal/Prokino,<br />
www.uphe.de<br />
13<br />
Gute Filme.<br />
Neu auf DVD!<br />
Überall im Handel und auf www.goodmovies.de<br />
Weekend<br />
Russell lernt eines Tages<br />
Glen kennen. Nach zwei<br />
gemeinsamen Nächten merkt<br />
Russell: er hat sich verliebt in<br />
einen, der Liebe nicht braucht,<br />
nicht will und obendrein das<br />
Land verlassen wird. Zumindest<br />
seine Liebe gestehen<br />
will er, und trifft Glen am<br />
nächsten Tag am Bahnhof…<br />
Mein Sommer<br />
mit Mario<br />
Zwei Kinder, ein Mädchen<br />
und ein Junge, während eines<br />
gemeinsamen Sommers:<br />
Jorgelina lernt Mario kennen,<br />
mit dem sie durch die Gegend<br />
streift und die freie Zeit genießt.<br />
Plötzlich jedoch merkt<br />
sie, dass bei Mario manches<br />
anders ist als bei den<br />
anderen Jungen…<br />
Gianni und die Frauen<br />
Frührentner Gianni lebt<br />
seine Tage im schönen Rom<br />
im immergleichen Trott von<br />
Besorgungen und Gefälligkeiten<br />
für andere. Bis ihm<br />
plötzlich eines Tages ein<br />
Freund die Augen öffnet:<br />
Auch in seinem Alter gibt es<br />
genug attraktive Frauen,<br />
Zeit für Spaß, Sex…<br />
Das lässt sich Gianni nicht<br />
zwei Mal sagen und macht<br />
sich daran, sein Leben<br />
zu ändern!
kino<br />
14<br />
EDITIoN SALZGEBEr<br />
texAS<br />
liegt Am<br />
meeR<br />
von paul Schulz<br />
Bavo Defurne hat zehn jahre gebraucht, um mit „Nordzee,<br />
Texas“ seinen ersten Spielfilm fertigzustellen. Das Warten hat<br />
sich gelohnt, denn die zarte Geschichte über die erste Liebe<br />
von zwei jungen ist ein echter Kinotraum geworden. Kinostart<br />
ist am 10. Mai, im April kann man ihn bereits in der Gay-<br />
Filmnacht träumen.<br />
kino<br />
s „Über Filme zu sprechen heißt über Träume zu sprechen, weil<br />
beide so viel gemein haben: Jahre vergehen in Sekunden und man<br />
springt räumlich frei assoziierend von einem Ort zum anderen. Beide<br />
sprechen in Bildern zu uns. Und in wirklich guten Filmen hat, genau<br />
wie in Träumen, jeder Gegenstand und jeder Lichtstrahl eine Bedeutung“,<br />
behauptet Fellini. Der gute Federico. Der eitle Fatzke. Darunter<br />
macht er es nicht: Das Kino, ein Traum. Er, ein Träumer für die Welt.<br />
Bavo Defurne hängt sein Licht da ein bisschen tiefer: „Ich mag<br />
Dialoge nicht besonders, weil ich in Bildern denke. Deswegen wird<br />
in meinen Filmen wenig gesprochen. Wenn ihnen deswegen eine<br />
traumhafte Qualität zugesprochen wird, freut mich das. Aber ich<br />
kann gar nicht anders.“ So geht es auch: Der Filmemacher als ein in<br />
seiner Ästhetik beschränkter Bilderbauer. Dabei hätte Defurne so viel<br />
Bescheidenheit gar nicht nötig. Er ist erst knapp 40 und wird doch<br />
jetzt schon weltweit gefeiert. Der junge Meister hat nach neun Kurzfilmen<br />
in zehn Jahren weitere zehn Jahre gebraucht um seinen ersten<br />
Spielfilm Noordzee, Texas fertig zu stellen. Seit 2000 hat er daran<br />
gearbeitet. Und es hat sich gelohnt. Bavos erster langer ist ein wunderbarer<br />
Film geworden, was nicht überrascht, kennt man sein Werk.<br />
Denn wenn man Fellinis Traumthese ernst nimmt, gibt es derzeit<br />
kaum einen größeren und besseren Träumer als Defurne im europäischen<br />
Kino: Farben, Licht, Stimmungen, Blicke, daraus baut er, seit er<br />
Anfang Zwanzig ist, eine ganz eigene, immer größer werdende Welt,<br />
die Zuschauern doch merkwürdig vertraut ist, weil sie den nächtlichen<br />
Bildern in ihrem Kopf nicht unähnlich ist. Und weil sie einen<br />
genauso anfasst.<br />
Das Grundgefühl in Defurnes Werk ist, auch wenn er das vielleicht<br />
nicht gerne hört, der Wunsch danach, die Welt durch Liebe<br />
zu heilen. Es geht immer um Schmerz und die Möglichkeit, dass er<br />
irgendwann aufhört, um Sehnsucht und den Wunsch danach, dass<br />
sie gestillt werden möge, um Schönheit und die wahnwitzige Vorstellung,<br />
sie könnte von Dauer sein. Schwule Träume eben. Ein großer<br />
Künstler ist er, weil er ein großartiger Querdenker ist und seine technischen<br />
Limitierungen zu filmischen Möglichkeiten macht: Wenn<br />
er sich kein anständiges Mikrofon leisten kann, wird dann eben gar<br />
nicht gesprochen, wenn man kein Geld für Schauspieler hat, arbeitet<br />
man mit talentierten Laien, wenn man alles an einem Film selber<br />
15
kino kino<br />
machen muss, entwickelt man „eine erotische Beziehung zum Filmmaterial,<br />
dessen Handhabung auch erregen kann.“ Er ist nicht mit<br />
Absicht kompromisslos, er kann einfach nicht anders.<br />
Federico weiß: „Es geht bei Film nicht so sehr um metaphysische<br />
Dinge wie Inspiration oder einen Kunstbegriff, es geht um Handwerk.<br />
Was wir erzählen, ist weniger entscheidend als das Wie. Ein Filmemacher<br />
muss sein Medium beherrschen, nicht umgekehrt.“ Jaja. So kann<br />
man vielleicht daherreden, wenn einem ganz Cinecittà zur Verfügung<br />
steht und die Welt einen mit Geld bewirft, sobald man ein Exposé fertig<br />
hat. Wenn man, wie Defurne, in Belgien Filme macht, muss man<br />
sich bescheiden. „Die Finanzierung für dieses Projekt auf die Beine zu<br />
stellen hat viele Jahre gedauert. Schließlich ist es mein erster langer<br />
Film. Und der Casting-Prozess war anstrengend, weil es erstens nur<br />
wenige Schauspieler gab, die überhaupt für die beiden Hauptrollen in<br />
Frage kamen und von denen dann wiederum viele diese Rollen nicht<br />
spielen wollten oder durften. Es gab einen Jungen, dem sein Vater<br />
gesagt hat, er dürfe keine anderen Jungen küssen, nicht mal für einen<br />
Film.“ Sowas passiert 2010 in einem der liberalsten Länder Europas.<br />
Man stelle sich vor, Giulietta Masinas Vater hätte ihr gesagt, sie dürfe<br />
nicht in La Strada mitspielen, weil sie sich dabei dreckig macht. Das<br />
ist nicht lustig.<br />
Geküsst wird jetzt in Noordzee, Texas aber trotzdem, Jungs küssen<br />
andere Jungs, und zwar reichlich. Eines von Defurnes Dauerthemen<br />
ist, wie ganz junge Männer ihre Sexualität entdecken. Das hat er<br />
mit anderen Filmemachern wie Gregg Araki gemeinsam. Im Gegensatz<br />
zu Araki geht es aber nicht um Sexualität als entspannte Freizeitgestaltung.<br />
Bei Defurne riskiert man immer gleich das Kippen der<br />
Welt, das ein Kuss mit sich bringen kann. Man ist ein anderer danach,<br />
für sich und oft auch für die anderen. Die Welt, die in Noordzee, Texas<br />
kippt, ist die von Pim, der mit seiner Mutter Yvette in einem windschiefen<br />
Haus in einem kleinen Ort an der Nordseeküste wohnt, demselben<br />
Kaff, in dem auch Defurne aufgewachsen ist. Yvette ist Akkordeonspielerin<br />
und benimmt sich wenig mütterlich. „Willst du wieder<br />
die ganze Nacht zeichnen? Normale Jungs sind in deinem Alter mit<br />
ihren Freunden unterwegs!“, belehrt sie ihren 15-jährigen, strohblonden<br />
Sohn. „Und normale Frauen schlagen sich in deinem Alter nicht<br />
mehr die Nächte in Kneipen um die Ohren“, antwortet der Sohn.<br />
Yvette ist eine fröhliche Schlampe. Und laut. Vielleicht ist ihr Kind<br />
deswegen so still. Sein bester Freund ist drei Jahre älter, heißt Gino<br />
und ist genau so, wie man sich jemanden vorstellt, der Gino heißt:<br />
Wildes schwarzes Haar über glühenden Augen, Lederjacke, Motorrad,<br />
kranke Mutter, die er sehr liebt, um die er sich aber wenig kümmert.<br />
Außerdem hat er eine Schwester, Sabrina. Sie ist ziemlich in Pim<br />
verliebt. Der merkt davon nichts, denn er hat nur Gino im Kopf, und<br />
wenn sie nachts im Zelt am Strand alleine sind oder mit dem Motorrad<br />
an einen abgelegenen Küstenstreifen fahren, hat er Gino auch noch<br />
ganz woanders. Jelle Florizone als Pim und Mathias Vergels als Gino<br />
sind ein hinreißendes Paar und Defurne gestattet ihnen nach allerlei<br />
Scherereien (eine Mutter rennt mit einem jungen Mann vom Rummelplatz<br />
weg, die andere stirbt, Gino hat zwischendurch eine Freundin,<br />
etc.) sogar ein angedeutetes Happy End. Was eher untypisch für ihn<br />
ist und daran liegen mag, dass er sich Noordzee, Texas nicht alleine<br />
ausgedacht hat. Der Film basiert auf dem Jugendbuch „Nooit gaat dit<br />
over“ von André Sollie. „Ich wollte diesen Film unbedingt machen,<br />
nachdem ich das Buch gefunden hatte. Und dazu gehörte auch das<br />
Ende. Ich finde es gut, dass es zum Schluss Licht am Ende des Tunnels<br />
gibt und man zwar im Zweifel, aber hoffnungsfroh entlassen<br />
wird“, erklärt Defurne in Interviews.<br />
Er wird eben auch älter und vielleicht auch ein bisschen glücklicher.<br />
Oder schlicht selbstbewusster. Denn Noordzee, Texas hält, was<br />
seine Kurzfilme seit vielen Jahren versprechen: Hier findet jemand zu<br />
seinem ganz eigenen Stil. Wo der Auteur in seinen Kurzfilmen noch<br />
Anleihen bei so unterschiedlichen Vorbildern wie Dreyer, Eisenstein,<br />
Leni Riefenstahl oder dem Fotografenpaar Pierre et Gilles erkennen<br />
ließ, mit denen er lustvoll spielte, ist sein erster Spielfilm nun ein in<br />
sich geschlossenes ästhetisches Universum, das eine völlig originäre<br />
Sprache hat. Deren Quelle ist eine gewisse Zeitlosigkeit. Von Kostümen<br />
über die Frisuren und Orte bis zum Licht ist man sich nie sicher,<br />
in welchem Jahr der Film denn nun spielt, Anfang der 70er, heute,<br />
irgendwo dazwischen? Ein gewollter Kunstgriff. „Wir haben nicht<br />
versucht, den Film zeitlich genau zu verorten, sondern uns eher überlegt,<br />
was man heute noch tragen, sagen oder tun würde.“ Der Effekt<br />
ist berauschend: Als Zuschauer betritt man eine Welt, in der zwar<br />
Referenzen an eine bestimmte Periode auftauchen, ist aber bei den<br />
Konflikten der Figuren immer hautnah dabei, weil man sie eben nicht<br />
historisieren und so von sich wegschieben kann. „Unsere Jungend,<br />
irgendwann in den letzten Jahren“, so beschreibt es Defurne selbst. Der Film scheint aus der<br />
Zeit gefallen und an jedem Ort, an dem es Meer gibt, spielen zu können. Wie in Träumen oder<br />
im Märchen, aber eben so, dass man nicht umhin kommt, die Parabel auch auf sich zu beziehen.<br />
Noordzee, Texas ist nicht Die fabelhafte Welt der Amélie, aber schon eher dem französisch<br />
magischen Realismus verhaftet als deutschen Sozialdramen, in denen nicht weniger, aber viel<br />
ernsthafter geschwiegen wird.<br />
Das ist bei Defurne immer so, weil all seine Protagonisten, vom heiligen Sebastian zu jungen<br />
Männern an Lagerfeuern, diese lose Perspektive zulassen. Schließlich befinden sich alle<br />
seine Charaktere auf einem Gleis irgendwo zwischen kindlicher Naivität und dem Ernst des<br />
Lebens. Dem Ort also, wo wir darauf hoffen, dass irgendjemand, zum Beispiel wir selbst, am<br />
richtigen Hebel zieht und es dann ab geht in eine schönere Zukunft, von der aus wir gelassen<br />
und voller sentimentaler Erinnerung auf die Zeit zurückblicken können, in der wir uns gerade<br />
befinden.<br />
Was nicht heißen muss, wir hätten gerade keinen Spaß. Defurne versteht es wie viele<br />
große schwule Regisseure vor ihm, seine schwebende Weltsicht durch seine Frauenfiguren<br />
zu verankern. Wie die wunderbare Eva van der Gucht ihre gesamte, beachtliche Körperlichkeit<br />
benutzt, um Pims Mutter Yvette eben nicht zu einem Monster zu machen, das<br />
letztendlich ihr Kind sitzen lässt, sondern zu einer Frau, die so viel mehr vorhat, als zu Hause<br />
herumzusitzen und auf den Tod zu warten, wie Katelijne Damen als Ginos Mutter Marcella<br />
ihr immer kleiner werdendes Lebenslicht nur aus ihren müden Augen hell scheinen lässt,<br />
wie Nina Marie Kortekaas ihrer Sabrina trotz deren enttäuschter Liebe keinerlei Bitterkeit<br />
mitgibt, dass alles braucht und hat einen Regisseur, der Frauen als mehr betrachtet, als als<br />
Stellschrauben für die Liebesgeschichte seiner beiden jungen Helden. Und das ist ein feministisches<br />
Fest, wie es im Kino in dieser leichtfüßigen Komplexität selten eines zu sehen gibt.<br />
Keine weiblichen Abziehbilder wie bei Ozon, echte Frauen in echten Körpern in einer traumhaften<br />
Umgebung.<br />
Bleibt noch der Sex. Der schwierig sein könnte, wenn man ihn ironisieren würde, oder<br />
anstrengend, wenn er zu voyeuristisch betrachtend inszeniert wäre. Aber auch hier macht<br />
Defurne wirklich alles richtig. Die erste Liebe zwischen Pim und Gino ist tapsig, ungeschickt,<br />
gierig und wird an den passenden Stellen ausgeblendet, weil sie sonst die Erzählung beschädigen<br />
würde. Auch die sexuelle Überinszenierung einiger seiner früheren Filme, die auch eine<br />
Scham im Umgang mit Körpern bedeuten kann, löst sich in Noordzee, Texas in liebevolles<br />
Wohlgefallen auf.<br />
Auf Defurnes nächsten Film werden wir wohl nicht wieder zehn Jahre warten müssen.<br />
Souvenir befindet sich, nachdem Noordzee, Texas ein weltweiter Festivalerfolg ist, schon in<br />
der Produktion. Er erzählt die Geschichte einer ehemaligen Teilnehmerin am Grand Prix de<br />
la Chanson, die sich mit Anfang 50 in einen 18-jährigen Boxer verliebt. Ein Traum, oder? Wir<br />
können es kaum erwarten. s<br />
EDITIoN SALZGEBEr (3)<br />
noordzee, Texas<br />
von Bavo Defurne<br />
BE 2011, 94 Minuten,<br />
flämische OF mit dt. UT<br />
Edition Salzgeber, www.salzgeber.de<br />
Im Kino<br />
Gay-Filmnacht im April<br />
www.gay-filmnacht.de<br />
Kinostart: 10. Mai 2012<br />
Kurzfilme von Bavo Defurne<br />
BE 1995–2000, 94 Minuten,<br />
flämische OF mit dt. UT<br />
Auf DvD bei der Edition Salzgeber,<br />
www.salzgeber.de<br />
16 17
kino<br />
geSchlechteRRiten<br />
im PRäliminARfRieDen<br />
von bIru DavID bInDer<br />
Die zehnjährige Laure ist mit ihrer Familie umgezogen und nutzt die Chance, sich ihren neuen Freunden als „Michael“<br />
vorzustellen. Die meisten halten sie ohnehin für einen jungen. Céline Sciammas („Waterlilies“) zweiter Spielfilm „Tomboy“ erhielt<br />
auf der 2011er Berlinale den Spezialpreis der Teddy-jury, kommt am 3. Mai ins Kino und läuft vorab in der April-Ausgabe der<br />
L-Filmnacht.<br />
s „Du bist nicht wie die andren …“, stellt Lisa (Jeanne Disson) in<br />
einer Mischung aus Ernst, Überraschung und Anerkennung fest, als<br />
sie mit dem neuen Nachbarsjungen Michael (Zoé Heran) am Rande<br />
des Fußballfeldes steht. „Ich spiele nicht, ich schaue lieber zu …“, hatte<br />
der zuvor gesagt.<br />
Für den zweiten Kinofilm nach ihrem Debut Naissance des pieuvres<br />
(Wasserlilien) im Jahr 2007 ging die 1978 geborene und in einem<br />
Pariser Vorort aufgewachsene Regisseurin und Drehbuchautorin<br />
Céline Sciamma gleich mehrere vermeintliche Schritte zurück: mit<br />
einem Budget von mickrigen 500.000 Euro, einer 15-köpfigen Crew,<br />
in einem Zwanzig-Tage-Dreh im August 2010, nachdem sie das Skript<br />
Ende März des selben Jahres begonnen hatte. ‚A philosophy‘, nannte<br />
Sciamma diese Radikalität ihres Projektes Tomboy, die dem Mythos<br />
vom zweiten und schwersten aller Filme einer Regiekarriere ein<br />
Schnippchen schlagen solle.<br />
Also vier zurück, um acht Schritte vorangekommen zu sein? Tomboy<br />
ist ein Film, der mit einer Handvoll von Erwachsenen in Nebenrollen<br />
auskommt – ob’s deshalb ein „Kinderfilm“ ist, sollten Kinder<br />
ALAMoDE FILM<br />
selbst entscheiden (dürfen). Und deshalb ergo wohl eher<br />
fünf Schritte zurück in einer auf Erwachsene(nrollen)<br />
fokussierten (Film-)Welt. Dabei ist Sciammas Regiearbeit,<br />
aber vor allem das Spiel der Kinder so atemberaubend,<br />
dass sich einem die Armhärchen aufstellen vor<br />
Erinnerung oder Schreck, ihnen beiwohnen zu dürfen<br />
und qua dieser Reaktion ein wenig schmerzhaft und<br />
schmollend erkennen zu müssen, wohl eben das: kein<br />
Kind mehr zu sein.<br />
„Das Kind“ – im Deutschen ein Neutrum – mag<br />
mensch sich bei Tomboy besinnen, hat zuvorderst keinen<br />
Schnipsel eines irgendwie „natürlich“ gearteten Bezugs<br />
zu den Erwartungen seiner nicht-kindlichen Umwelt<br />
an sein Verhalten aufgrund eines ihm bei der Geburt<br />
zugewiesenen Geschlechts. „Das Kind“ verhält sich<br />
zuvorderst wie’s ihm gefällt und mag damit, o glücksversprechender<br />
Zufall, ebensolchen Erwartungen gerecht<br />
werden, wofür es zumeist wiederholt und ausgiebig<br />
belohnt wird. Wurde „das Kind“ – so in Tomboy – von seinen<br />
Eltern Laure genannt, lautet demnach die Vereinbarung<br />
der allermeisten (Nicht-Kinder): Das Kind Laure hat<br />
sich Laure zu nennen und als Mädchen zu erkennen zu<br />
geben. Wie aber nur, wenn das Konzept „Mädchen“ dem<br />
Kind erst einmal so abstrakt ist wie, sagen wir, „Kapitalismus“?<br />
Nennt sich dieses Kind namens Laure aber selbst<br />
Michael und nennt es sich nicht „Mädchen“ vor den anderen<br />
Kindern, dann gibt’s Ärger mit, sprich: Bestrafung<br />
durch seine nicht-kindliche Umgebung. Wie sehr dieses<br />
etwas stumpf-simpel anmutende Belohnungs-/ Bestrafungsgebaren<br />
selbst bei Zehnjährigen bereits verinnerlicht<br />
sein kann und reproduziert wird, so und so sehr,<br />
dass diese selbst die an ihnen verübten oder zumindest<br />
vorgelebten Bestrafungsmechanismen an Gleichaltrigen<br />
ausüben, auch dies zeigt Tomboy in einer seiner grausamsten<br />
Sequenzen.<br />
Was aber soll das ganze „Spiel“ der nicht-kindlichen<br />
Umgebung? „Ich muss das tun!“, behauptet die Mutter<br />
(Sophie Cattani) Michaels/Laures, nachdem sie ihn in<br />
ein Kleid gezwungen und zur Nachbarschaft gezerrt hat,<br />
um in seiner Anwesenheit vor ausgesuchten Müttern mit<br />
ihren jeweiligen Kindern im von Foucault so eingehend<br />
beschriebenen, vorbildlichsten Sinne nicht etwa nur zu<br />
sagen, sondern zu gestehen, dass ihre Tochter ein Mädchen<br />
sei und sie keinen Sohn namens Michael habe [ah,<br />
zwei weiße Schimmel?]. Nee, klar … Was offenbar wird in<br />
diesen Sequenzen, ist eben nicht die „story of a lie“ als<br />
die Sciamma ihren Film zusammenfasste. Geschlecht<br />
„muss“ überhaupt und hier ganz konkret offensichtlich<br />
zurechtgerückt und „klar“ gestellt werden, damit es<br />
„wahr“ wird, damit die basale (kindlich-)geschlechtliche<br />
Tendenz zur Uneindeutigkeit vermeintlichen Eindeutigkeiten<br />
von Mädchen/Junge und richtig/falsch zugeführt<br />
werden kann. Gibt es sie, die Geschichte einer „Lüge“ in<br />
Tomboy? Wessen Lüge ist das? Gibt es sie, die „wahre“<br />
Geschichte? Falls ja, wessen Geschichte ist das?<br />
An dieser Stelle gesteht der Autor freimütig ein, sich<br />
für den Part der Mutter Michaels/Laures aufs Unangenehmste<br />
fremdgeschämt zu haben. Die mit einem weiteren<br />
Male in einer Ohrfeige physisch werdende Gewalt<br />
der Mutter wirft die Frage auf: Wie groß muss die Angst<br />
dieser Mutter gewesen sein? Womöglich panischen Ausmaßes,<br />
sei es aus Angst um ihr Kind, vor ihrem Kind<br />
und seiner „Tat“, vor deren Zeugen, vor sich selbst oder<br />
einer Gemengelage aus der Summe mindestens dieser<br />
einzelnen Teile. Die zur Herrschaft erstarrte, in physische<br />
Bestrafung geronnene (Ohn)Macht (im Angesicht)<br />
der binären Geschlechterordnung wird hier beispielhaft<br />
greifbar. Da wird auch nichts versöhnt durch einen<br />
Mutter-Liebesschwur samt „Ist doch für mich total okay,<br />
wenn du dich jungenhaft benimmst!“. Denn: Ist dieses<br />
erzwungen inszenierte Geständnis gleichermaßen „total<br />
okay“ für Michael? Ist tatsächlich kein anderer Umgang<br />
mit einem Kind denkbar, das offenbar erfolgreich (siehe<br />
Die geschichte eines<br />
geschlechtereigenwillig<br />
agierenden Kindes<br />
auch die ersten fast 15 Minuten für die Zuschauenden)<br />
wie glücklich als Michael über einen Sommer lang lebt?<br />
Mysteriös erscheint der filmtitelgebende Ausdruck<br />
„Tomboy“ selbst, auf den sich der Autor noch nie einen<br />
Reim machen konnte, auch nach diesem Film nicht – ein<br />
Tomboy, ein JungeJunge also? Noch mysteriöser wird<br />
der Ausdruck, denkt mensch an sein vermeintliches Pendant<br />
„<strong>Sissy</strong>boy“ – der Referenzpunkt scheint auf Gedeih<br />
und Verderb der Junge zu sein. Warum dann im ersten<br />
Fall nicht Tomgirl, wenn das (angebliche) Girl ein „falscher<br />
(?) Tom“ ist oder sein mag? Das kann sich kaum<br />
ein „Girl“ ausgedacht haben … Ganz grantig konsequent<br />
weitergedacht, mag der Begriff „Tomboy“ (und nicht<br />
Tomgirl) dann auf Tomboys Michael zutreffen, der spielt<br />
zwar „Mädchen“ mit Lisa und ganz famos Fußball mit<br />
den Jungs, nur Michael, den spielt er nicht.<br />
Durch Tomboys bewussten und auf diese Weise wohl<br />
bislang einzigartigen Fokus auf die Geschichte eines<br />
geschlechtereigenwillig agierenden Kindes (und, möchte<br />
mensch hinzufügen, seiner Schwester Jeanne, hinreißend<br />
gespielt von Malonn Lévana) wird eine Offenheit<br />
an Interpretationsfläche gespannt, die sich jeglichem<br />
Schablonieren in ‚weibliche Hete auf Abwegen‘ versus<br />
‚Butch-Lesbe‘ versus ‚Trans*‘ konsequent zu entziehen<br />
vermag. Die Hauptdarstellerin Zoé Heran, die laut Sciamma<br />
vor ihrer Rolle in Tomboy selbst mit ihren langen<br />
Haare Schwierigkeiten hatte, aufgrund ihrer Ausstrahlung<br />
gebucht zu werden, erhielt in New York den Newfest<br />
Best Actress Award [sic!].<br />
Und doch: Das Film-Ende erscheint banal-feige und<br />
wird aufgrund der impliziten Entlassung der Zuschauenden<br />
in die Harmlosigkeit einer kindlichen „Sommerlüge“<br />
die Angepasste(re)n, die rar Zweifelnden und die Gewalt<br />
des binären Geschlechterdispositivs leugnenden Gemüter<br />
auf- und ausatmen lassen. Auf den zweiten Blick erscheint<br />
die letzte Szene vielleicht aber als das, was sie wohl<br />
ebenso sein mag: als ein Präliminarfrieden. Denn, gezeigt<br />
zum Beispiel in Klassenzimmern, wird sich vielleicht die<br />
ein oder andere Stimme erheben und daran erinnern, dass<br />
die Hauptfigur erst zehn Jahre alt ist und darum gewiss<br />
geneigt, der Mutter hinterherzuplappern, was Muttern<br />
gefällt, denn ohne Ohrfeigen lebt’s sich schlicht unbeschwerter,<br />
ganz gleich welchen Geschlechts. Ob’s beim<br />
Hinterherplappern der Perlen mütterlicher Weisheit<br />
bleibt, ist wohl mehr als ungewiss. s<br />
Tomboy<br />
von Céline Sciamma<br />
FR 2011, 82 Minuten, dt SF<br />
Alamode, www.alamodefilm.de<br />
Im Kino<br />
L-Filmnacht im April<br />
www.l-filmnacht.de<br />
Kinostart: 3. Mai 2012<br />
Water lilies<br />
von Céline Sciamma<br />
FR 2006, 81 Minuten, französische<br />
OF mit dt. UT<br />
Auf DvD bei Pro-Fun Media,<br />
www.pro-fun.de<br />
18 19<br />
kino
kino kino<br />
Siehe da:<br />
ein Penis!<br />
von paul Schulz<br />
Müssen schwule Männer erst ihre Hosen<br />
ausziehen, um sich zueinander bekennen<br />
zu können? Ein kulturtheoretischer<br />
Diskurs über den Schwanz als Merkmal<br />
der Menschwerdung am Beispiel der<br />
Sexcomedy „Longhorns“ (Gay-Filmnacht<br />
im Mai).<br />
s Als ich noch Protestant war, so mit fünf,<br />
habe ich mich immer darüber gewundert,<br />
wie wenig Jesus meistens anhat. Links vom<br />
Taufbecken in unserer Dorfkirche hing ein<br />
Bild von seiner Geburt, auf dem Mama Maria<br />
den fröhlichen Säugling (später Weltenretter)<br />
so festhält, dass sie ihm dabei auf den<br />
Bauch drückt. Von meinen winzigen Cousins<br />
wusste ich schon: keine gute Idee. Nachdem<br />
dir ein grinsender Cherubin mal mit voller<br />
Wucht in dein interessiertes Kindergesicht<br />
gestrullt hat, lernst du ganz schnell, dass<br />
man Babys am Kopf und am Po, aber nicht in<br />
der Mitte anfasst. Nachdem ich einige langweilige<br />
Predigten damit zugebracht hatte,<br />
mir vorzustellen, wie Gottes Söhnchen sich<br />
vor der versammelten Gemeinde in hohem<br />
Bogen ins Taufbecken entleert und danach<br />
seine Mutter triumphierend anguckt, fiel<br />
mir auf: der Kleine war nackt, im Dezember,<br />
in Judäa: Maria war eine ganz schlechte<br />
Mutter. Nachdem ich unseren Pfarrer darauf<br />
aufmerksam gemacht hatte, bekam ich<br />
die Auskunft, das hätte schon Gründe, dass<br />
Jesus nichts anhat, ich würde das, wenn ich<br />
groß wäre, schon verstehen. Und so geschah<br />
es auch.<br />
Denn kaum 15 Jahre später, erklärte mir<br />
ein Professor für Kunstgeschichte in einem<br />
Seminar, das einer Predigt nicht unähnlich<br />
war, dass es sehr wichtig sei, dass man Jesus’<br />
„Männlichkeit“ sähe, nur so würde seine<br />
Menschwerdung veranschaulicht. Erwachsene<br />
Engel beispielsweise hätten, genau wie<br />
Barbies, keine primären Geschlechtsmerkmale.<br />
Der Sohn Gottes sei da anders. Er<br />
käme, um die Welt in Menschengestalt zu<br />
erlösen: „Und siehe da, ein Penis.“<br />
Ähnlich scheinen die Macher amerikanischer<br />
Sex-Comedys ihre Protagonisten<br />
zu sehen: Niemand scheint wirklich schwul<br />
zu sein, bevor er sich nicht untenrum frei<br />
macht. Angefangen damit hat 2004 Q. Allan<br />
Brocka in Eating Out, einer Reihe, die seitdem<br />
in sechs (!) fröhlichen Teilen postuliert:<br />
Zeig mir deinen Schwanz und ich sage dir,<br />
was du bist.<br />
Der aktuelle Beleg für diese Maxime heißt<br />
Longhorns, was sich entweder lose mit „Büffel“<br />
oder als Vorschlaghammermetapher mit<br />
„Langhörner“ übersetzen lässt. Erzählt wird<br />
die komplett nebensächliche, aber amüsante<br />
Geschichte von Kevin, der in den 1980ern an<br />
einem amerikanischen Provinz-College sein<br />
Coming-Out hat, weil er sich ganz furchtbar<br />
in einen Mitstudenten verliebt. Auf der<br />
Flucht vor seinem wahren Ich, zieht er sich<br />
kurzzeitig mit zwei Freunden auf eine Ranch<br />
im Nirgendwo zurück und masturbiert sehr<br />
unterhaltsam. Es gibt die üblichen Sprüche,<br />
die üblichen Komplikationen, und das filmemacherische<br />
Niveau der Angelegenheit liegt<br />
nicht spürbar über, aber auch nicht unter<br />
dem von Porgys oder American Pie, nur eben<br />
in schwul. Wer das subversive Potential dreckiger<br />
Witze schätzt, und wer täte das nicht,<br />
hat sehr unterhaltsame anderthalb Stunden<br />
mit Longhorns. Nur die Anzahl der gezeigten<br />
Schwänze liegt eben deutlich über dem ähnlich<br />
gelagerter heterosexueller Kost.<br />
Die Frage ist: Warum? Ich wage zu<br />
behaupten: Das ist wie bei Jesus. Schwule<br />
Sexualität, deren Ausleben enormen Anteil<br />
an der selbstbewussten Menschwerdung<br />
jedes schwulen Mannes hat, ihn eigentlich<br />
erst zu dem werden lässt, was er ist, und mit<br />
ihr das offensichtliche Begehren eines baugleichen<br />
Körpers, lässt sich eben am besten<br />
darstellen, indem man einen Schwanz zeigt<br />
oder zwei. So retten wir uns selbst die Welt,<br />
ganz ohne Hilfe von oben. Das ist bei Heteros<br />
nicht nötig, Küsse, okay, Hände, feine Sache,<br />
Ärsche, selbstverständlich, Brüste, wenn ihr<br />
euch das traut, aber Schwänze? Fehlanzeige.<br />
Man muss das gesellschaftlich dominierende<br />
Steckspiel nicht mehr en detail erklären, es<br />
ist in den letzten 5000 Jahren millionenfach<br />
erläutert worden.<br />
Für das sexuelle Vergnügen der Minderheit<br />
gilt das nicht. Und für Mainstreamschauspieler<br />
auch nicht. Jeder volle Frontalauftritt<br />
eines männlichen Stars lässt das<br />
Internet für ein paar Tage erzittern und es<br />
gibt Bücher, Webpages und jede Menge notgeiler<br />
Nerds, die sich mit nichts weiterem<br />
beschäftigen, als dem kanonischen Erfassen<br />
jedes künstlerisch gerechtfertigten Untenohne<br />
männlicher Darsteller. Und das ist gut<br />
so. Denn die scheinbar nutzlose und nur<br />
der Erotisierung des Publikums hinterhergeiernde<br />
Sexszene in schwulen Filmen ist<br />
eine echte Notwendigkeit. Weil der schwule<br />
Mann nach Ansicht vieler Filmemacher wohl<br />
wirklich erst dann zum schwulen Menschen<br />
wird, wenn er sich zu seinem Penis und dem<br />
anderer Männer bekennt, ihn betrachtet und<br />
offen begehrt. Und wenn Schwule in ihren<br />
30ern jesusgleich nur in eine Windel gehüllt<br />
an Kreuzen hängen, ist das freiwillig und<br />
eine zutiefst gottlose Angelegenheit.<br />
Longhorns fügt diesem zutiefst freiheitlichen<br />
Gedanken fünf weitere Belege hinzu.<br />
Und das ist doch prima. s<br />
longhorns<br />
von David Lewis<br />
US 2011, 74 Minuten, englische OF<br />
mit dt. UT<br />
Edition Salzgeber, www.salzgeber.de<br />
Im Kino<br />
Gay-Filmnacht im Mai<br />
www.gay-filmnacht.de<br />
EDITIoN SALZGEBEr<br />
Komm her, geh weg!<br />
von rIcharD Garay<br />
Mit der vielfach ausgezeichneten lesbischen Altersromanze „Hannah Free“ machte<br />
die regisseuren Wendy jo Carlton 2009 auf sich aufmerksam. Mit ihrem neuen Film<br />
„jamie und jessie sind nicht zusammen“ wagt sie sich auf leichteres Terrain und<br />
erzählt die Geschichte einer besonderen Freundschaft, die viel zu eng für Gefühle ist.<br />
Im Mai läuft der Film in der L-Filmnacht.<br />
s Zu viel Nähe kann ganz schön unangenehm<br />
sein. Mir war z.B. neu, dass es im<br />
Amerikanischen den Begriff „close talker“<br />
für Menschen gibt, die einem beim Reden<br />
zu nahe rücken („one who leaves little space<br />
in face-to-face chatter“, Urban Dictionary).<br />
Einander genug Raum lassen – das ist ohnehin<br />
nicht die Stärke von Close-Talkerinnen<br />
Jamie und Jessie, die sich in Chicago ein<br />
Apartment teilen. Jessie denkt, dass sie<br />
eigentlich in Jamie verliebt ist. Aber wie soll<br />
Liebe entstehen, geschürt und schließlich<br />
gestanden werden, wenn man die Mitbewohnerin<br />
sogar an der eigenen Wäsche riechen<br />
lässt, um zu entscheiden, ob ein Waschgang<br />
nötig ist? Was einem so nah ist, kann nicht<br />
mehr erobert werden.<br />
Ok, wir sind unter kreativen, hübschen,<br />
intelligenten Indie-Mädchen in Chicago,<br />
die sich zugute halten, ziemlich neurotisch<br />
zu sein. Die sich grundsätzlich zu nah sind<br />
und immer im entscheidenden Moment<br />
auf Abstand gehen. Die Angst vor Spinnen<br />
haben, allergisch auf Gras (also den natürlichen<br />
Bodenbelag) reagieren, sich begrüßen<br />
mit „You look like Shit!“, und schon mal nach<br />
einem Kuss (Vorsicht: Nähe!) angewidert<br />
feststellen: „Du rauchst ja!“<br />
Jessie ist da ein besonderes Exemplar,<br />
die um ihre Neurosen weiß und trotzdem<br />
instinktiv zwei Schritte nach vorne macht,<br />
wenn sie eigentlich zurückweichen will.<br />
Toll, wie Jessica London-Shields das spielt:<br />
einen Großstadt-Tolpatsch mit ständig verwirrtem<br />
Gesichtsausdruck und einer irritierend<br />
explosiven Lache, die ihre hysterischen<br />
Redeanfälle rhythmisch strukturiert.<br />
Jessies Eigentlich-Beziehung zu Jamie ist<br />
ziemlich gemein vom Drehbuch angelegt,<br />
denn ständig steht sie im Schatten ihrer<br />
burschikosen Freundin, ständig ist sie drei<br />
Schritte hinterher, ob es nun die Schauspielkarriere<br />
ist, der bevorstehende Umzug nach<br />
New York oder die sexuellen Affären. Aber<br />
da findet der Film auch sein Thema, denn es<br />
ist eine besondere Emanzipationgeschichte,<br />
die er erzählen will: von einer, die ihre große<br />
Liebe verlässt, um endlich selbst liebenswert<br />
zu werden.<br />
Jamie sitzt auf Umzugskartons und wird<br />
bald die Stadt verlassen. Jessie muss wissen,<br />
ob sie ihr fehlen wird. Jessie versucht,<br />
sich zu entziehen, um Nähe zu provozieren,<br />
stattdessen gelingt ihr endlich der Sprung<br />
aus dem Schatten und eigentlich alles, was<br />
sie sonst noch so will. Auf ganz tölpelhafte,<br />
EDITIoN SALZGEBEr<br />
neurotische und sehr witzige Weise. Wir<br />
freuen uns für sie, denn gelitten hat sie wirklich<br />
genug. Wie gemein ist das denn, wenn<br />
man zum Vorsprechen für eine Lieblingsrolle<br />
eingeladen wird, die Mitbewohnerin zur<br />
Unterstützung mitnimmt, diese aber dann<br />
ungewollt vom Fleck weg engagiert wird?<br />
Schon sehr gemein. Aber es geht noch gemeiner<br />
– als der Anruf mit dem Rollenangebot<br />
für Jamie kommt, kann sich die Kamera an<br />
Jessies Verletzung nicht sattsehen. Und als<br />
Jamie pflichtschuldig die Rolle ablehnt, klingelt<br />
Sekunden später Jessies Telefon mit den<br />
schönen Nachrichten. Und jetzt sehen wir die<br />
milde lächelnde Jamie. So sieht Erniedrigung<br />
aus … „Manche kriegen einfach alles, was sie<br />
wollen!“, stöhnt Jessie, kurz bevor sie selbst<br />
vom Drehbuch alles kriegt, was sie will.<br />
Jetzt können alle queer-aktivistischen<br />
Festivalkurator_Innen wieder stöhnen und<br />
sich fragen, was diese überdrehten Mädchen<br />
in einem Chicago, das so schön fotografiert<br />
ist und so viele schöne Frauen beherbergt<br />
(sehr sexy z.B. Fawzia Mirza als Jamies<br />
Freundin Rhonda), dass man gar nicht versteht,<br />
warum Jamie und Jessie nach New<br />
York abhauen wollen, eigentlich für Probleme<br />
haben. Die sie so ausgiebig diskutieren<br />
und gerne auch mal in plötzlichen Musical-<br />
Nummern vorsingen. Aber das ist ziemlicher<br />
Unsinn, denn warum darf man nicht<br />
90 Minuten mit süßen und etwas verwirrten<br />
Frauen verbringen, die wie alle anderen ihre<br />
kleinen Dramen durchstehen müssen und<br />
immer wieder auch ihr kleines Glück finden.<br />
Warum sollte man vor einer „lesbian Musical<br />
Romantic Comedy with a big fat heart!“<br />
(Webseite) davonlaufen? Hiergeblieben!<br />
Jamie und Jassie sind nicht zusammen ist<br />
eine filmische Naherholung. s<br />
Jamie und Jessie sind nicht<br />
zusammen<br />
von Wendy Jo Carlton<br />
US 2011, 95 Minuten, englische OF<br />
mit dt. UT<br />
Edition Salzgeber, www.salzgeber.de<br />
Im Kino<br />
L-Filmnacht im Mai<br />
www.l-filmnacht.de<br />
20 21
kino<br />
22<br />
EDITIoN SALZGEBEr<br />
Ostler<br />
In „Unter Männern“ macht sich der junge Filmemacher Ringo Rösener auf die Suche nach seinen Vorvätern: Schwulen<br />
in der DDR. Er findet sie und mit ihnen auch ein Stück von sich selbst. Der Film wurde nach der Uraufführung auf der<br />
Berlinale für den Teddy Award nominiert und startet am 26. April in den Kinos. Zwei Autoren, die als Schwule die DDR<br />
er-lebt haben, haben sich den Film angesehen und dazu positioniert.<br />
DAS ungeSAgte,<br />
AbeR mitgeDAchte<br />
von Paul Schulz<br />
s Will man Irgendetwas über persönliche Beziehungen<br />
in der DDR erfahren, gibt es dafür eigentlich nur zwei<br />
Quellen: Stasi-Akten und persönliche Gespräche mit<br />
denen, die dabei waren. Wobei die Stasi-Akten die verlässlicheren<br />
Auskünfte geben. Die Akribie und Wahllosigkeit,<br />
mit der der Apparat auch die kleinsten Details aus<br />
dem Leben seiner Beobachtungsobjekte katalogisierte,<br />
hilft hier, wenn man selbst in der Lage ist, eine Sortierung<br />
vorzunehmen – und ähnlich viel Zeit mitbringt wie<br />
die Sammler des Materials. Ansonsten gibt es wenig, was<br />
man gebrauchen könnte, um zu erfahren, wie es so war.<br />
Das ist so, weil sich über alles andere die staatstragend<br />
repressive Patina des Arbeiter- und Bauernstaates,<br />
die freundlich kolonialisierende Attitüde westdeutscher<br />
Berichterstattung über denselben oder der weichzeichnende<br />
Schleier der Erinnerung ans eigene Leben legt.<br />
Jedes Buch, jeder Artikel, jedes Foto, jeder Schnipsel<br />
Film, mit dem man heute historisch betrachtend arbeiten<br />
möchte, wurde in seinem Herstellungsprozess sanft oder<br />
unsanft auf seine Propaganda-Verwendbarkeit für die eine<br />
oder andere Seite abgeklopft. So ist das in Kriegen, zumal<br />
in kalten, die öffentlich eben hauptsächlich über Medien<br />
geführt wurden. Und die oft strikte Trennung zwischen<br />
privaten und öffentlichen Räumen im Bewusstsein von<br />
DDR-Bürgern ist zwar gut für die Reinerhaltung der einzelnen<br />
Auskünfte aus dem jeweiligen Gebiet, macht es für<br />
Außenstehende aber schwer, gedankliche Verbindungen<br />
zwischen ihnen herzustellen und zu belegen, wie genau<br />
sich staatliche Politik aufs Zwischenmenschliche ausgewirkt<br />
hat. Jeder, der in der DDR groß geworden ist, kennt<br />
das Phänomen des Ungesagten, aber Mitgedachten, das<br />
seine besten Ausdrücke deswegen in Metaphern, Witzen<br />
und Fabeln fand, weil man es umschreiben musste, um es<br />
überhaupt erfassen zu können. Aus diesem Grund reden<br />
Ostdeutsche und Westdeutsche auch 22 Jahre nach der<br />
Wende oft aneinander vorbei.<br />
Schwule in der DDR waren eine staatlich geduldete<br />
Untergrundkultur. Nicht so verfolgt wie andere, aber<br />
auch alles andere als gefördert. Die Artikel, Bücher und<br />
Filme über sie von vor 1989 passen bequem auf ein Regalbrett.<br />
Deswegen ist das Reden über sie und mit ihnen erst<br />
einmal eine Sammlung von Fakten, die sich wohl nicht<br />
einmal allen Interviewten in Unter Männern – Schwul in<br />
der DDR von Ringo Rösener und Markus Stein zu einem<br />
Gesamtbild erschließen wird, obwohl die beiden jungen<br />
„Unter der Dusche“ (Jürgen Wittdorf, 1964, Ausschnitt)<br />
kino<br />
Filmemacher ihr Möglichstes versuchen. Rösener wurde<br />
1983 in Anklam geboren, wusste nichts über schwules<br />
Leben in der DDR, wollte das ändern und begibt sich<br />
vor der Kamera auf die Suche nach seinen Vorvätern.<br />
Er bedient sich mit seinem filmisch autobiografischen<br />
Bericht über eigene Erkenntnisse eines im DDR-Kulturbetrieb<br />
gern genutzten Mittels, zu erzählen, was zu erzählen<br />
nicht erlaubt ist, weil man das Persönliche exemplarisch<br />
wiedergibt, während man parallel durch die postulierte<br />
„eigene“ Perspektive versucht, der politischen Instrumentalisierung<br />
des Gesagten zuvorzukommen. Was in<br />
Nachdenken über Christa T. geklappt hat, gelingt auch in<br />
Unter Männern hervorragend.<br />
Rösener und Stein lassen ihre völlig unterschiedlichen<br />
Protagonisten (vom punkig schillernden Star-<br />
Friseur bis zum verbitterten 80-Jährigen ist alles dabei)<br />
ihre eigenen Geschichten erzählen und so verdeutlichen:<br />
„Das schwule Leben“ in der DDR gab es gar nicht. Es<br />
gab eine Menge Einzelschicksale, die ihre Gemeinsamkeit<br />
nur daraus bezogen, anders als der Durchschnitt<br />
zu sein und so mit dem System in Konflikt zu geraten.<br />
Wenn Coiffeur Frank Schäfer fröhlich davon berichtet,<br />
wie er von einem Stasioffizier „quasi vergewaltigt“<br />
wurde, hat das mit der Biografie von Eduard Stapels,<br />
dem „Homopfarrer“ des wilden Ostens, der einer der<br />
ersten war, der innerhalb der Kirche Schwulengruppen<br />
gründete, in der persönlichen Wahrnehmung des jeweils<br />
Erzählenden nichts zu tun. Beide stehen aber für eine<br />
ganze Reihe ähnlicher Schicksale<br />
Die filmische Klammer, die Rösener für seine Suche<br />
findet, Ausschnitte aus Coming Out von 1989 mit seiner<br />
eigenen Perspektive des Spätgeborenen abzugleichen,<br />
funktioniert hinreichend, weil sie die Veränderung der<br />
letzten zwanzig Jahre gut illustriert, verdeutlicht aber<br />
auch, dass man den Film nicht einmal als Laser für die<br />
sechs Männer benutzen kann, die in Unter Männern<br />
beschrieben werden. Das Coming-out des ostdeutschen<br />
Schwulen wird durch diesen Widerspruch in seiner Verschiedenheit<br />
hübsch illustriert.<br />
Es wird spannend sein zu beobachten, wie Ost- und<br />
Westdeutsche den Film aufnehmen. Die Unterschiede<br />
werden groß sein, denn wo bei den einen ein Wiedererkennen<br />
möglich ist, bleibt den anderen immer noch und<br />
immer wieder nur ein Besuch im Zoo der Geschichte, in<br />
dem man den Tieren, die man betrachtet, mit größtmöglichem,<br />
aber beschränktem Einfühlungsgefühl begegnet.<br />
Dass klar zu erkennen ist, dass Rösener zur ersten<br />
Gruppe gehört, ist vielleicht das Spannendste an Unter<br />
Männern, weil es andeutet, dass es wohl eine Sehnsucht<br />
nach historisch stringenter Gemeinsamkeit gibt, die sich<br />
aus mehr als nur Sexualität speist. Das „Sehr wertvoll“<br />
für Unter Männern gab es schon während seiner Weltpremiere<br />
auf der Berlinale und zwar ganz zu Recht. s<br />
23
kino kino<br />
Friseur Frank Schäfer (links), Künstler Jürgen Wittdorf<br />
nAivität iSt ’ne<br />
gROSSe KRAft<br />
von Michael Sollorz<br />
s Zu Beginn sehen wir den Hauptdarsteller in Heiner Carows<br />
Coming Out 1989 auf seinem Fahrrad, und hineingeschnitten, dieselbe<br />
Strecke radelnd, kommt anno heute der junge Filmemacher. „Ich<br />
glaube, ich bin ein verhinderter Ossi.“ Sinnlicher, schöner Beginn, wie<br />
ein Versprechen. Beim Mauerfall war Rösener sechs, und angeblich<br />
will er nun wissen: „Wie hat man als Schwuler in der DDR leben können?“<br />
So strampelt er los, um ein paar Antworten einzusammeln, raus<br />
aufs Minenfeld Geschichte. Gerührt folgt ihm der Betrachter, und<br />
nach dem Abspann kommen die Fragen.<br />
Was bedeutet der Titel, geht’s auf ein Kriegsschiff? Was erhellt es,<br />
dass der privilegierte Prominenten-Sohn Frank Schäfer als schriller<br />
Szene-Friseur im vergleichsweise aufgeklärten Ostberlin der Vorwendezeit<br />
andere Erfahrungen machte als ein schüchterner Schullehrer<br />
im Sachsen der 70er? Soll hier Vielfalt vermittelt werden? Wenngleich<br />
das „Sammelgebiet“ als abgeschlossen gilt – empfähle sich nicht eine<br />
stärkere Fokussierung, um der Beliebigkeit Herr zu werden?<br />
Und wo streifte der Film, als DDR-Kennzeichen erster Güte, auch<br />
nur ein einziges Mal den Konflikt zwischen Individuum und Kollektiv,<br />
wie ihn westlich der Elbe nach dem Krieg keine Seele mehr<br />
vergleichbar auszutragen hatte? Waren nicht auch die Schwulen<br />
zunächst einmal Staatsbürger? Versprochen wurde ein besseres<br />
Leben, frei von Ausbeutung. Ganze Generationen glaubten daran,<br />
legten sich ins Zeug. Ein schwerer gemeinsamer Weg, die Mühen<br />
der Ebene, und als Lohn winkte eine radikal neue Gesellschaft, in<br />
der das Geld abgeschafft war und sich jede einzelne Persönlichkeit<br />
nach ihren Fähigkeiten frei entfalten würde. Bis dahin galt es, sich zu<br />
bescheiden, zurückzutreten hinter die Erfordernisse des Fortschritts.<br />
Bediente die Forderung nicht treffsicher das verheerende Muster<br />
schwuler Selbstablehnung, den Wunsch, wie jedermann zu sein?<br />
Wurden nicht andere ebenfalls unentwegt vertröstet, man werde sich<br />
ihrer Bedürfnisse annehmen, sobald erst vorrangigere Probleme des<br />
Aufbaus gelöst wären? Soufflierte nicht Hegel selbst der Einheits-<br />
Partei, Freiheit sei Einsicht in die Notwendigkeit?<br />
Etwas diesem Gemeinschafts-Pathos vergleichbar Wirkmächtiges<br />
existiert für den Westen heute nicht mehr und wird seit über 20<br />
Jahren in Betrachtung des sozialistischen Experiments als Drangsal<br />
dargestellt, als pathologisch diffamiert oder der Einfachheit halber<br />
völlig ausgeblendet. Im Ergebnis wird die DDR hinter dieser „Aufarbeitung“<br />
zunehmend unkenntlicher, und nicht erst Unter Männern<br />
provoziert die Frage, ob unter Verzicht auf die ideelle Dimension in<br />
der Lebenserfahrung des Einzelnen überhaupt irgendwas herausgefunden<br />
werden kann, das nicht ebenso anderswo zuträfe. Auf andere<br />
Leute. Zu anderer Zeit.<br />
Warum, ausgerechnet, findet der Film erst in der Gegenwart<br />
erzählerische Sicherheit, in seinem starken Schlussbild von der ewigen<br />
Provinz? Im thüringischen Glasbläser-Kaff Lauscha geht ein<br />
Mittvierziger im weißen Ballkleid seine steile Straße runter, aus<br />
ihren Fenstern glotzende Nachbarn grüßend. Priscilla im Landkreis<br />
Sonneberg, eine derbe Fee aus unser aller Hinterwald, bevölkert von<br />
immer den gleichen Zwergen.<br />
„Naivität ist ja auch ’ne große Macht und ’ne große Kraft“,<br />
erinnert sich der Grafiker Jürgen Wittdorf. Nimmt Rösener sie als<br />
Arbeits-Haltung für sich in Anspruch? Was eine Klappe sei, fragt<br />
er seinen mehr als doppelt so alten Interviewpartner. Meint er das<br />
ernst oder geht es um den O-Ton? Funktioniert Ahnungslosigkeit als<br />
produktives Prinzip? Was sollte man mitbringen, will man von Menschen<br />
etwas erfahren und Dritten mitteilen? Gegen Ende bekennt der<br />
alte Lehrer: „Ich denke, wenn ich mich geoutet hätte, wäre das besser<br />
gewesen. Da war ich zu feige.“ Ein Moment, der Stille verlangt, schon<br />
aus Respekt. „Aber weswegen ist man denn feige?“ kommt es prompt<br />
aus dem dem Off, und dem Betrachter verschlägt es die Sprache. Kann<br />
ein junger Mann 2012 wirklich schon so herausgewachsen sein aus<br />
der „Geschichte der eigenen Geschichte“? Erfüllt sie sich womöglich<br />
doch noch, die unausrottbare These vom Verschwinden der Homosexualität<br />
mit dem Verschwinden ihrer Verfolgung? Naht uns der Tag,<br />
da erstaunt gefragt wird, was das denn überhaupt sei, ein Schwuler?<br />
Sind wir nicht heute schon alle queer? s<br />
unter Männern –<br />
Schwul in der DDR<br />
von Ringo Rösener und<br />
Markus Stein<br />
DE 2012, 91 Minuten, dt. OF<br />
Edition Salzgeber,<br />
www.salzgeber.de<br />
Im Kino<br />
ab 26. April 2012<br />
Coming Out<br />
von Heiner Carow<br />
DDR 1989, 108 Minuten, dt. OF<br />
Auf DvD bei Icestorm<br />
Entertainment, www.icestorm.de<br />
Westler<br />
von Wieland Speck<br />
DE 1985, 96 Minuten, dt. OF<br />
Auf DvD bei der Edition<br />
Salzgeber, www.salzgeber.de<br />
EDITIoN SALZGEBEr (2)<br />
nostalgie und<br />
exorzismus<br />
IntervIeW: thomaS abeltShauSer<br />
Neben Chéreau, ozon, Lifshitz und Morel ist Christophe Honoré der wichtigste und<br />
unter ihnen wahrscheinlich unberechenbarste Filmemacher des französischen Queer<br />
Cinema. Demnächst erscheint seine jüngste große Kinoproduktion „Die Liebenden“,<br />
Abschlussfilm Cannes 2011 mit Cathérine Deneuve und Ludivine Sagnier, im Kino und<br />
kurz darauf der radikale No-Budget-Film „Man at Bath“ mit François Sagat auf DVD.<br />
SISSY hat mit ihm über beide und ihren notwendigen Zusammenhang gesprochen.<br />
SENATor<br />
sissy: In „Die Liebenden“ ist eine Nostalgie<br />
für eine Ära zu spüren, in der Sie noch nicht<br />
einmal geboren waren.<br />
Christophe Honoré: Oh, ich hoffe nicht, dass<br />
ich nostalgisch bin! Was mich interessiert<br />
hat, war die Epochenwende, die sich da<br />
vollzogen hat. Deshalb habe ich die Zeit,<br />
als meine Eltern jung waren, mit meiner<br />
eigenen Jugend verglichen. Anfangs wollte<br />
ich einen Film über die Liebe machen und<br />
was sie auszeichnet. Denn der große Unterschied<br />
zwischen meinen Eltern und mir ist<br />
nicht Politik oder Ideologie oder wie gut wir<br />
mit Computern umgehen können, sondern<br />
was wir unter Liebe verstehen. Für sie ist<br />
Liebe, Sex und Verlangen immer mit Hoffung<br />
verbunden. Denn Hoffnung gab es in<br />
den 1960er Jahren, selbst wenn es manchmal<br />
schwierig war, z.B. für Mädchen, die<br />
ungewollt schwanger wurden. Mitte der<br />
Achtziger dagegen, als ich ins Alter kam,<br />
mich für Liebe und Sex zu interessieren, war<br />
das Klima geprägt von Angst. Unsere Eltern<br />
haben uns vor anonymem Sex und ungeschütztem<br />
Geschlechtsverkehr gewarnt.<br />
Durch Aids hatte es alles Spielerische verloren,<br />
Sex wurde zu einer tödlichen Gefahr,<br />
man konnte davon sterben. Ich glaube<br />
unsere Generation, und ich rede nicht nur<br />
von den Schwulen, hat in ihrer Jugend Liebe<br />
und Tod sehr eng miteinander verknüpft.<br />
Und das haben wir immer noch im Kopf,<br />
auch wenn wir damit umzugehen gelernt<br />
haben. Deshalb kann man vielleicht den Eindruck<br />
gewinnen, dass mein Film nostalgisch<br />
ist, aber ich beschreibe nur.<br />
Sind Liebe und Beziehungen auch komplizierter<br />
geworden? Unser Klischee von den Sechzigern<br />
ist ja das der freien Liebe …<br />
Was natürlich eine Illusion ist! Aber ich male<br />
mir die Zeit, als meine Eltern jung waren, so<br />
schön aus. Es muss toll gewesen sein damals,<br />
schließlich haben sie mich gezeugt. Aber mir<br />
ist schon klar, dass es auch eine rückständige<br />
Zeit war und ich bin sehr froh, heute zu<br />
leben. Allerdings nicht als Filmemacher, die<br />
Goldene Ära des französischen Kinos waren<br />
die Sechziger. Ich bevorzuge die Nouvelle<br />
Vague gegenüber den Regisseuren meiner<br />
Generation. Da habe ich keine andere Wahl …<br />
Aber haben Sie heute nicht viel größere Freiheiten<br />
als Filmemacher?<br />
Ich glaube nicht. Wir sind in Frankreich<br />
natürlich sehr privilegiert, was unsere Filmindustrie<br />
und Filmförderung angeht. Aber<br />
als Künstler ist es doch viel anregender, einer<br />
Gruppe anzugehören, die man verehrt und<br />
auf die alle Welt schaut, weil von hier die<br />
Innovationen ausgehen. Das ist in Frankreich<br />
schon lange nicht mehr der Fall. Wenn<br />
wir pro Jahr zehn gute Filme produzieren,<br />
ist es schon viel. Und die heute erfolgreich<br />
24 25
kino<br />
„Die Liebenden“ (2011)<br />
sind, interessieren mich nicht. Damals machten Leute wie Godard,<br />
Chabrol und Rivette Filme, weil sie Cinephile waren. Wenn man sich<br />
heute auf sie bezieht, wird einem gleich Nostalgie vorgeworfen. Die<br />
Probleme draußen auf der Straße soll man filmen, aber dieser Realismus<br />
ist doch bloße Konvention. Realismus und Wahrheit sind nicht<br />
dasselbe!<br />
Sie nehmen sich doch aber zumindest die Freiheit, neben einem großen<br />
Mainstream-Film mit Starbesetzung auch einen kleinen Experimentalfilm<br />
wie „Man at Bath“ zu drehen.<br />
Ich wusste, dass mich Die Liebenden lange in Anspruch nehmen<br />
würde, deswegen wollte ich davor etwas ganz anderes machen. Ich<br />
habe Man at Bath in einer Woche gedreht, ohne Drehbuch und mit<br />
Darstellern, die ich auf der Straße oder in einer Homobar gefunden<br />
habe. Es stimmt, dass ich diese Freiheit nutze. Aber in dem Film steckt<br />
auch kein Geld, deswegen habe ich da auch keinen Druck. Man at Bath<br />
ist sehr viel näher an den Filmen der Sechziger, vielleicht ist der Film<br />
sehr viel nostalgischer als Die Liebenden, in der Art wie er gedreht<br />
wurde. Stell deine Freundin oder deinen Freund vor die Kamera und<br />
fang an zu drehen, das reicht. Das ist für mich das Ideal der Nouvelle<br />
Vague. Man braucht kein großes Thema, um einen guten Film zu<br />
machen. Aber viele haben Man at Bath nicht verstanden. Sie haben<br />
nach Chanson der Liebe einen anderen Film erwartet. Aber für mich<br />
ist es sehr wichtig, beide Arten von Filmen machen zu können. Ich<br />
brauche diese kleinen Filme als Exorzismus. Und es ist beruhigend zu<br />
wissen, dass, wenn ich nächstes Jahr kein Geld für einen neuen Film<br />
bekommen sollte, ich immer Filme wie Man at Bath machen kann.<br />
Und wer weiß, vielleicht bin ich damit sogar glücklicher. Verstehen<br />
Sie mich nicht falsch, ich mag Die Liebenden wirklich sehr, aber in<br />
Man at Bath steckt viel Risiko.<br />
Und auch in Bezug auf Liebe und Beziehungen ist „Man at Bath“ ein<br />
Gegenstück zu „Die Liebenden“. Er zeigt, dass Beziehungen heute sehr<br />
viel komplizierter, aber auch freier sind, was etwa Geschlechterrollen<br />
angeht.<br />
Stimme ich voll zu. Mir ging es bei Die Liebenden um einen Vergleich<br />
zwischen der Generation meiner Eltern und meiner. Und Man at Bath<br />
wiederum handelt von einer neuen Generation, in der François Sagat<br />
wie ein Dinosaurier ist, ein altmodisches Modell aus den Neunzigern<br />
mit seinem muskulös überdefinierten Körper. Die heute Zwanzigjährigen<br />
definieren sich ganz anders, sie haben ein anderes Verständnis<br />
davon, was männlich ist. Und sie gehen sehr offen mit ihrer Sexualität<br />
um, die Orientierung ist da eher zweitrangig. Ich war sehr überrascht,<br />
als ich Jungs auf der Straße für den Film ansprach. Ich sagte, er ist mit<br />
einem Pornostar als Hauptdarsteller und etlichen Nacktszenen und<br />
stieß damit gleich auf große Begeisterung.<br />
Ist der Filmemacher Omar in „Man at Bath“ Ihr alter Ego?<br />
Ich wäre gerne wie Omar, aber er hat definitiv mehr Glamour als ich.<br />
Ich habe die Figur auch als Filmemacher angelegt, um Aufnahmen,<br />
SENATor ALAMoDE FILM<br />
„Man at Bath“ (2010)<br />
die ich selbst in New York gedreht hatte, als eine Art Tagebuch in den<br />
Film einzubauen.<br />
Neben Ihren eigenen Filmen haben Sie auch die Drehbücher zu Gaël<br />
Morels Filme „Brüder Liebe“ und „Après lui“ verfasst. Wie würden Sie<br />
ihr Verhältnis beschreiben?<br />
Ich habe nicht viele Freunde in der Branche und Gaël ist einer von<br />
ihnen. Ich mag ihn sehr. Wir sind beide nicht ursprünglich aus Paris,<br />
wir kommen beide aus der Provinz und sind in recht einfachen Verhältnissen<br />
aufgewachsen. Wir teilen also das Gefühl, in der französischen<br />
Filmfamilie nie so richtig dazuzugehören. Wir machen ganz<br />
unterschiedliche Filme, schätzen einander und das Urteil des anderen<br />
aber sehr. Und ich glaube auch, dass Man at Bath Gaël ermutigt<br />
hat, Unser Paradies zu drehen.<br />
Sie schreiben auch Romane und Kinderbücher. Gibt es einen roten<br />
Faden, der Ihre unterschiedlichen Werke zusammenhält?<br />
Literatur spielt auch in meinen Filmen eine große Rolle. Chanson der<br />
Liebe etwa habe ich basierend auf Liedtexten geschrieben, Ma mère<br />
ist nach einem Roman von George Bataille, Dans Paris von Salinger<br />
beeinflusst und auch in Die Liebenden sind Lieder sehr wichtig.<br />
Umgekehrt vergesse ich beim Schreiben eines Romans ganz den Filmemacher,<br />
weil es mir nicht weiterhilft. s<br />
Die liebenDen<br />
Von 1963 bis 2008 geht der reigen<br />
der Liebesaffären mehrerer Figuren<br />
in Honorés aktuellstem Spielfilm.<br />
Gegenübergestellt werden die<br />
elterngeneration, die sich in den<br />
1960ern sexuell emanzipiert,<br />
und die Generation des Autors<br />
und regisseurs, deren sexuelles<br />
erwachen unter dem Fanal von Aids<br />
stattfand. Honoré lässt Motive aus<br />
vielen seiner Filme zusammenfließen<br />
und variiert sie neu: Der Umgang<br />
mit Aids war schon das thema<br />
seines ersten Spielfilms „Mein<br />
Bruder Leo“, Gesangseinlagen<br />
gab es schon in „Chansons der<br />
Liebe“, die Beziehungen von<br />
Frauen zu schwulen Männern<br />
interessierte Honoré bereits in<br />
„17 Mal Cécile Cassard“. Auch<br />
in „Die Liebenden“ glaubt er<br />
an die Kraft des Kinos, nicht an<br />
sozialrealistische Beschreibungen.<br />
nur so kann er die disparaten<br />
elemente seiner erzählung in einen<br />
einzigen Film einfließen lassen.<br />
Die liebenden<br />
von Christophe Honoré<br />
FR 2011, 139 Minuten, deutsche SF<br />
Senator, www.senator.de<br />
Im Kino<br />
ab 3. Mai 2012<br />
mAn At bAth<br />
Der Film schildert in losen<br />
Bruchstücken das nachspiel einer<br />
zu Bruch gegangenen Beziehung<br />
zweier Männer, die sich beide<br />
beweisen müssen, dass sie auch<br />
ohne den anderen leben können.<br />
Während der eine (Omar Ben<br />
Sellem) nach new York fliegt, um<br />
seinen Film dort zu präsentieren, hat<br />
sein Partner (François Sagat) Zeit,<br />
aus der gemeinsamen Wohnung<br />
auszuziehen. In nebenrollen sind<br />
u.a. Chiara Mastroianni und die<br />
Ikone der US-amerikanischen Queer-<br />
Literatur Dennis Cooper zu sehen.<br />
Man at Bath<br />
von Christophe Honoré<br />
FR 2010, 72 Minuten, OmU<br />
Auf DvD ab 22. Juni 2012 bei Pierrot<br />
Le Fou, www.alamodefilm.de.<br />
Mehr dazu im nächsten Heft.<br />
26 27<br />
kino
kino kino<br />
Der kalte blick<br />
von anDré WenDler<br />
Im ohnehin schon etwas schrägen Milieu der konservativen weißen oberschicht<br />
Südafrikas spielt olivier Hermanus’ Spielfilm „Beauty“, der im letzten jahr in Cannes<br />
die „Queer Palm“ gewann. Noch schräger ist der Verlauf der Geschichte, in der ein<br />
voyeuristisch auf einen jungen Mann fixierter Familienvater kein Ventil für Begierde<br />
und Aggression findet. Die handgreifliche Tod-in-Venedig-Variante startet am 8. März<br />
in den Kinos.<br />
s Alles beginnt auf einer unauffälligen Hochzeit: schön gekleidete<br />
Gäste, Blumensträuße, Sektgläser, Frauen mit etwas ausgefalleneren<br />
Frisuren, Männer in belanglos-feierlichen Krawatten, ein Brautpaar,<br />
Geschenke, Küsschen. Es könnte alles ganz normal sein, das Glück der<br />
heterosexuellen Mittelschicht. Noch bevor ich aber weiß, in welchen<br />
Abgrund mich der Film gleich schauen lässt, ahne ich, dass es mit der<br />
Normalität hier nicht so weit her sein kann, wie es auf den ersten Blick<br />
scheint. Die Farben sind, wie später im ganzen Film, auffällig matt,<br />
ertränkt in einem hoffnungslosen Beige und verwaschenem Taubenblau.<br />
All das Lächeln, all die zauberhaften Kleider sehen irgendwie<br />
falsch aus. Die Kamera schwenkt sehr langsam und sehr gleichmäßig<br />
nach links, überblickt die ankommenden Gäste und kommt auf einer<br />
geöffneten Doppeltür zum stehen, vor der das Hochzeitspaar Glückwünsche<br />
entgegen nimmt. Kurz bleibt das symmetrische Bild mit der<br />
Tür in der Mitte stehen, bevor ein Zoom sehr langsam auf die Mitte des<br />
Bildes zielt. Gleichzeitig verlagert sich die Schärfe hinter all die fröhlichen<br />
Menschen, die das schrumpfende Bildfeld bevölkern. Immer<br />
weniger beige Menschen sind in diesem Bild und wir sehen, was sich<br />
in dem Mittelpunkt befindet, auf den sich das Bild zu bewegt. Es ist<br />
ein etwas pausbäckiger und ziemlich gutaussehender junger Mann,<br />
der gerade mit zwei blonden Frauen spricht und scherzt. Er sieht sich<br />
um, grüßt hierhin und zwinkert dorthin. Schnitt. Ein anderer, älterer<br />
Mann in Nahaufnahme blickt ebenfalls in die Richtung der Kamera<br />
und ich bin genötigt, die vorherige Einstellung als seinen Blick zu<br />
interpretieren. Schnitt zurück. Der junge Mann schaut nach rechts,<br />
nach links und plötzlich direkt in die Kamera. Sofort Schnitt auf den<br />
anderen Mann. Dieser wendet sich unmittelbar ab und vermeidet es,<br />
wieder in die Richtung der Kamera, in die Richtung dieser anderen<br />
Einstellung und also in Richtung des jungen Mannes zu blicken.<br />
Ich weiß nach diesen knappen vier Minuten noch nicht, was der<br />
ältere François dem jüngeren Christian später antun wird, aber ich<br />
weiß aus den präzise gefilmten Bildern, dass alles an dieser Begegnung<br />
vom ersten Moment an falsch ist und bis zum letzten Augenblick<br />
falsch bleiben wird. Ich weiß, dass es mit Liebe nichts zu tun hat,<br />
ich weiß, dass es mich schrecklich peinigen wird und ich weiß, dass<br />
ich vor diesen Bildern am liebsten flüchten würde, so wie Christian<br />
das unbedingt tun sollte. Die maschinenhafte Gleichförmigkeit des<br />
Schwenks und des Zooms, die im Schnitt als Blick eines Menschen<br />
ausgegeben werden, haben nichts Menschliches an sich, so wie François<br />
jede Menschlichkeit verlieren wird. Die Vorstellung, ein so präzise<br />
geführter Kamerablick sei eine menschliche Wahrnehmung, ist<br />
eine so offensichtliche und mit Ruhe vorgetragene Lüge, wie François<br />
sie ständig an seine Mitmenschen verteilt.<br />
Immer wieder verknüpft der Film ähnliche Überwachungsbilder<br />
mit dem Blick von François: am Strand, an dem Christian mit einer<br />
jungen Frau liegt, in einem Restaurant, wo zwei Männer miteinander<br />
sprechen und sich küssen. Die Kamera bleibt jederzeit kalt und unbe-<br />
teiligt. Sie nimmt den verrauschten Porno, in dem zwei gut aussehende<br />
Boys mechanisch miteinander ficken, mit der selben Gleichgültigkeit<br />
zur Kenntnis wie die animalisch grunzenden Männer, die es vor dem<br />
Fernseher miteinander treiben. Bevor die Figuren des Films irgendeinen<br />
Ort in einen Schauplatz von Gefühlen, Hoffnungen, Ängsten<br />
verwandeln, ist die Kamera oft schon da: sie liegt in einem Auto, in<br />
das gleich jemand einsteigen wird, sie steht in einem Büro, das gleich<br />
einer betritt, sie hat sich schon in einem noch leeren Hotelzimmer<br />
niedergelassen. Und wenn die Filmfiguren längst schon wieder weg<br />
sind, glotzt die Kamera mit der gleichen Neutralität in die Gegend: ob<br />
hier gerade etwas geschehen ist, oder ob gleich etwas geschehen wird,<br />
spielt für automatische Bildaufzeichnung keine Rolle. Die erfüllten<br />
oder enttäuschten Konventionen der Montage und die erfüllten oder<br />
enttäuschten Erwartungen der Zuschauer_innen sind es, die all das<br />
mit Sinn überfluten.<br />
Dem Film gelingt es, beide Seiten dieses sehr schmalen Grades<br />
gleichermaßen zu denken und zu erfüllen. Während man ihn nämlich<br />
oberflächlich als eine jener schlimmsten filmischen Katastrophen<br />
sehen könnte, die ihre Zuschauer_innen dazu nötigt, sich mit<br />
den Motiven und Gedanken eines Vergewaltigers zu identifizieren<br />
oder sie nachzuvollziehen, tut er genau das Gegenteil. Man glaubt<br />
nur, seine Blicke zu teilen. Was wie Point-of-View-Shots aussieht, sind<br />
in Wirklichkeit die Bilder einer Kamera und eine Montage, die nur<br />
deshalb den Mut und die Kraft finden, das Schrecklichste festzuhalten,<br />
weil sie dem blutenden und fast toten Gesicht Christians mit der<br />
selben Kälte begegnen, wie den Maschinen eines Sägewerks, Wassertanks<br />
vor einem Farmhaus oder Tankern in der Bucht von Kapstadt.<br />
Die filmisch falsche Nähe zu den Blicken und dem leeren Starren des<br />
Täters erlaubt uns, ihn zu sehen, ohne uns unfreiwillig mit ihm zu<br />
verbünden. Man kann in diesem Film etwas verstehen: dass sich das<br />
Unmenschliche, was sich dort auf der Leinwand abspielt, nicht allein<br />
mit Menschlichkeit begreifen lässt. Dass die Unterschiede winzig<br />
klein werden, wenn wir es dennoch versuchen, und dass wir die Hilfe<br />
des Kinos dankbar annehmen sollten bei dem Versuch, zu verstehen,<br />
was Menschen allein nicht begreifen können. s<br />
Beauty<br />
von Oliver Hermanus<br />
ZA/FR 2011, 105 Minuten,<br />
Englisch-Afrikaans mit dt. UT<br />
Pro-Fun Media, www.pro-fun.de<br />
Im Kino<br />
ab 8. März 2012<br />
Pro-FuN MEDIA<br />
28 29
kino<br />
Muttis Berliner<br />
Bergtour<br />
von manuel Schubert<br />
Lange Texte über kurze Filme, in diesem Fall zügige 64 Minuten, sind eine Herausforderung.<br />
unser SISSY-Autor stellt sich ihr. Denn „Mommy Is Coming“, der neue Film<br />
von Cheryl Dunye, startet am 8. März in den Kinos und muss empfohlen werden.<br />
s voluptuous Panic. Über die Story von<br />
Mommy Is Coming gibt’s nur wenig zu schreiben.<br />
Ein junges Lesben-Paar streunt getrennt<br />
voneinander durch Berlin auf der Suche nach<br />
sexueller Selbsterfahrung. Die Mutter einer<br />
der beiden Frauen reist überraschend an,<br />
nur vordergründig besorgt um das seelische<br />
Wohl ihrer Tochter. Sie sucht eigentlich nach<br />
jener sexuellen Erfüllung, die sie von ihrem<br />
Ehemann nicht mehr bekommt. Es gibt ein<br />
schrilles Finale und Happy End. Abspann.<br />
Ok, ein bisschen mehr passiert doch noch.<br />
Aber erzählen wir stattdessen besser andere<br />
Geschichten.<br />
Mommy is coming. Ich sah einige Szenen dieses<br />
Films erstmals im August 2011. Der Regisseur,<br />
Schauspieler und Sektionsleiter des<br />
Berlinale-Panoramas, Wieland Speck, feierte<br />
im Berliner Kino Arsenal seinen Geburtstag<br />
nach. Einen Monat lang „Speck-Schau“. Private<br />
Memorabilien, Gespräche, Filme. Sogar<br />
jene Pflanzen, die Speck 30 Jahre zuvor an<br />
derselben Stelle ausgegraben und anschließend<br />
auf seinem Balkon kultiviert hatte,<br />
schleppte er ins Foyer des Arsenals. Zu erleben<br />
war auch ein Filmschnipsel-Vortrag über<br />
die kurze Vita des Schauspielers Speck. Unter<br />
anderem spielte er Nebenrollen für Ulrike<br />
Ottinger und im letzten Film von Marlene<br />
Dietrich. Es blieb bei Nebenrollen. Die amerikanische<br />
Underground-Regisseurin Cheryl<br />
Dunye bat Speck, nun einen Part in ihrem<br />
neuen Film zu übernehmen. In Mommy Is<br />
Coming erscheint er in der (Neben-)Figur des<br />
Hans Eberhardt. Ein heterosexueller Mann,<br />
der Wert auf die Feststellung legt, erst 59<br />
Jahre alt zu sein. Der seiner Frau sexuelle<br />
Apathie simuliert und heimlich mit zwei<br />
Geliebten davon fährt. Paraderolle.<br />
Fuck london. Mommy Is Coming ist eine Art<br />
moderner <strong>Heimatfilm</strong>. <strong>Heimatfilm</strong>e kommen<br />
qua Definition nicht ohne Klischees und<br />
Berge aus. Hier heißen die Berge Kreuzberg<br />
und Schöneberg. Die Klischees sind jene des<br />
billigen, dreckigen, wilden Berlin – in dem<br />
natürlich alles geht. „Berlin is where your<br />
dreams come true“, sagt Regisseurin Cheryl<br />
Dunye in ihrer Rolle als alles verbindende<br />
Taxifahrerin. „Berlin ist wie San Francisco,<br />
nur besser“, heißt es in einer der inszenierten<br />
Interview-Sequenzen, die diesen Film narrativ<br />
durchsetzen. Too much Berlin, möchte<br />
man ihnen antworten. Zu ihrer Verteidigung<br />
könnte man aber auch behaupten, der Film<br />
GM-FILMS / jürGEN BrüNING FILMProDuKTIoN / EMILIE jouVET<br />
spiele lediglich lustvoll mit dem Berlin-Hype.<br />
Dieses Werk ist jedenfalls auf beiden Seiten<br />
der Kamera ein Mikrokosmos der nicht-heterosexuellen<br />
Underground-Szene der Stadt.<br />
Interstellar love. Kaum Innovationskraft,<br />
das Internet, Amateure und ihre Smartphones.<br />
Der schwule Porno ist vor einigen Jahren<br />
zugrunde gegangen. Die explizite Darstellung<br />
von Männersex zählt heute zu den<br />
abgekautesten Formen des Bewegtbilds. Die<br />
festgefahrenen Rollenklischees des schwulen<br />
Pornos wurden inzwischen von progressiven<br />
lesbischen Regisseurinnen wie Courtney<br />
Trouble oder hier Cheryl Dunye in die<br />
sexuelle Performance on screen transferiert.<br />
Das ist nur auf den ersten Blick ein Paradox.<br />
Zwar ähnlich im Erscheinungsbild, verfügt<br />
lesbischer und genderqueerer Porno über<br />
eine komplett andere Energie. Es scheint<br />
sichtbar mehr Aktionsfreude bei den Darstellerinnen<br />
zu geben und fühlbaren Spaß an<br />
der Zitierung und Überzeichnung von Rollen<br />
und Geschlechternormen des Genres. Lesbischer<br />
Porno brodelt und begeistert, auch in<br />
Mommy Is Coming.<br />
Das ende kommt zum Schluss. Trash, zentrales<br />
Element des nicht-heterosexuellen<br />
Filmschaffens. Dieser Streifen reiht sich<br />
ein in eine endlose Liste von Filmen, deren<br />
Hauptmerkmal ihr hoher Gehalt an gezielter<br />
Überzeichnung von allem ist, Ernsthaftigkeit<br />
oder Talent ausgenommen. Logisch: Auch<br />
Wieland Specks Performance ist ganz dem<br />
Trash verpflichtet. Und selbstverständlich<br />
ist der Filmtitel doppeldeutig zu lesen. In<br />
diesem Sinne und als Abschluss eine Frage:<br />
Wann haben Sie, liebe Leser und Leserinnen,<br />
zuletzt über Sex mit ihrer Mutter nachgedacht?<br />
Mommy Is Coming – schrille Absurdität.<br />
Wunderbar. s<br />
Mommy Is Coming<br />
von Cheryl Dunye<br />
DE 2012, 65 Minuten, englische<br />
OF mit dt. UT<br />
GMFilms, www.gmfilms.de<br />
Im Kino<br />
ab 8. März 2012<br />
The Watermelon Woman<br />
von Cheryl Dunye<br />
US 1996, 80 Minuten, englische OF<br />
mit dt. UT<br />
Auf DvD bei der Edition Salzgeber,<br />
www.salzgeber.de<br />
Der Prototyp<br />
von Jan künemunD<br />
„König des Comics“ ist ein dokumentarisches Porträt von rosa von Praunheim über<br />
ralf König. Nicht mehr, nicht weniger. Ein schwuler Promi, der was geleistet hat,<br />
wird der Filmgeschichte hinzugefügt. Das lief selbstverständlich im Panorama der<br />
Berlinale. und gleich anschließend (seit 23. Februar) im Kino. und selbstverständlich<br />
wird das von uns empfohlen.<br />
s Das erste Bild dauert gerade mal 9 Sekunden:<br />
Ralf König zeichnet. Das reicht nicht,<br />
um zu sehen, wie er zeichnet. Es reicht nur<br />
für die Information: Ralf König zeichnet.<br />
In Rosas Dokumentarfilmen kann man sich<br />
das Beobachten wie üblich abschminken.<br />
Information, intimpersönlichprivate Frage,<br />
weiter geht’s. Zack, Schnitt, Dom: ah, Köln.<br />
Ralf Morgenstern sagt was, Hella von Sinnen<br />
sagt was. Die Kölner Szene hat eine<br />
Meinung zum Kölner Szenemitglied König.<br />
Der Ralf. Mal gleich vorwegschicken, dass<br />
der bewegte Mann ein schwuler Comic war,<br />
der zum Mainstream-Hetenfilm verbogen<br />
wurde. Der „Producer“ von der Ufa sieht das<br />
anders. Ralf Königs schöne Leseperformances<br />
(eine Diashow der Panels mit Sprechblasenvortrag)<br />
sind Rosas Steilvorlage, auch die<br />
Comics filmisch einzusetzen. Naheliegend<br />
und gut. Zuschauer werden befragt und ein<br />
Comicladenbesitzer. Rosa fragt nicht: Welche<br />
Bedeutung hat das Werk Ralf Königs?<br />
Rosa fragt den Comicladenbesitzer: Kannst<br />
du darüber auch als Hete lachen? Und den<br />
Heterozuschauer fragt er: Machen Ralf<br />
Königs Zeichnungen schwul? (Nach rasanten<br />
15 Minuten:) Jetzt aber mal Biografie.<br />
Als ich gehört habe, Rosa macht einen<br />
Film über Ralf König, im Auftrag von ZDF/<br />
Arte, dachte ich: naja. Alle mögen Ralf<br />
König, Ralf König ist schwul. Reicht das?<br />
Das Übliche also: aufgewachsen in, gelebt<br />
in, erster Erfolg durch, Krise während, Geld,<br />
Freunde, Karriere, zurückblickend heute …<br />
Alte Schulfreundinnen werden besucht,<br />
Joachim Król hat bewegte Dreharbeiten<br />
erlebt, dann kommen die besten König-<br />
Pointen (Suck my Duck!), Knollennase und<br />
Prototyp, der 50. Geburtstag wird gefeiert,<br />
der neue Beziehungspartner darf „Ich liebe<br />
dich“ sagen, Abspann. Steht irgendwie alles<br />
auch auf Wikipedia. Rosa hat die rosa Brille<br />
auf: Und, wie war DEIN Coming-Out, warst<br />
AUCH DU schwulenbewegt, wie war das in<br />
DEINEM Freundeskreis mit Aids, und findest<br />
du die katholische Kirche und die Islamisten<br />
nicht AUCH bescheuert? Und wie<br />
hast du mit deinen Zeichnungen auf all das<br />
reagiert? (Mutig, selbstbewusst, kontrovers,<br />
mit Humor.) Ein bewegtes schwules Familientreffen.<br />
Und dann kommen sie doch, die Bilder. Im<br />
Kopf. Der „Sauerkrautbach“ (ein stinkendes<br />
Rinnsaal in Westönnen, in das die nahe Fabrik<br />
was einleitet und wo Ralf die ersten sexuellen<br />
Erfahrungen macht). „Elvira Brunftschrei“<br />
im „Kommunikationszentrum Ruhr“<br />
(erste Theatererfahrungen in Dortmund).<br />
BASIS-FILM VErLEIH<br />
König des Comics<br />
von Rosa von Praunheim<br />
DE 2012, 80 Minuten, deutsche OF<br />
Basis-Film, www.basisfilm.de<br />
Im Kino<br />
seit 23. Februar 2012<br />
Die Düsseldorfer Kunstakademie-Lehrer, die<br />
drei ungeordnete Knollennasen sehen und<br />
den jungen Bewerber sofort annehmen. Die<br />
spitzen Finger der Rowohlt-Sekretärin, die<br />
ihrem Chef angewidert das erste Manuskript<br />
überreicht. „Der Brasilianer“ (kein Name<br />
und kein Bild) und die leidenschaftlichsten<br />
Jahre. Der Karikaturenstreit, gerade, als<br />
„Dschinn Dschinn“ in Vorbereitung ist. Das<br />
größte Kompliment: „Ich habe mir auf deinen<br />
Comic einen runtergeholt.“<br />
Und dann ein typischer Rosa-Einfall:<br />
Statt selbst zu fragen, setzt er Ralf König<br />
einen Fan aufs Sofa, einen promisken Zahnarzt<br />
aus Zürich, der ein knappes T-Shirt<br />
angezogen hat und den Herrn König nach<br />
seinem „Männertyp“ ausfragt. Der Herr<br />
König ist charmant verlegen. Und nach 80<br />
Minuten ist einem das Familienmitglied sehr<br />
ans Herz gewachsen.<br />
Ende der 70er entdeckt Herr König aus<br />
Westönnen bei seinem Sohn im Buchregal<br />
„Sex & Karriere“ von Rosa von Praunheim.<br />
Konflikt, Coming-Out und erzwungene<br />
Nestflucht waren die Folge. 2012 fragt Rosa<br />
den Ralf über Sex & Karriere aus. Auf Rosa<br />
ist eben Verlass. Findet auch Arte. So habe<br />
ich das schon öfters gesehen. Macht aber<br />
nichts. s<br />
30 31<br />
kino
dvd dvd<br />
Der Schmutz<br />
von außen<br />
von FrItz Göttler<br />
Vielleicht im Fahrwasser des Erfolgs von „Das weiße Band“<br />
ist nun endlich „jagdszenen aus Niederbayern“ auf DVD<br />
erschienen, Peter Fleischmanns 1969er Verfilmung des<br />
berühmten Stücks von Martin Sperr, über die Ausgrenzung<br />
eines jungen Schwulen aus der heilen Welt eines<br />
selbstgefälligen süddeutschen Dorfs. „Eine Schande für<br />
Niederbayern“ war das damals für viele – nicht die Handlung,<br />
sondern der Film.<br />
s Ein Erfolgsrezept, gleich zu Beginn des Films: Wir stehen früh auf<br />
und leben gesund … So erklärt einer der gstandenen niederbayerischen<br />
Mannsbilder gleich zu Beginn des Films den Drive seines Dorfes, und<br />
dann legt er gleich noch einen ganz konkreten Tipp drauf: Nicht so<br />
viel in der Horizontale arbeiten! Die Sinnenlust wird groß geschrieben,<br />
das Derblecken und der Sex, und keiner kann sicher sein, dass<br />
er im nächsten Augenblick nicht das Opfer von Spottlust, Vorurteilen<br />
und geilem Begehren wird.<br />
Eins der begehrtesten Opfer ist die junge Hannelore, gespielt von<br />
Angela Winkler, ein Mädel, das unbedarft und frech ist, von einer<br />
koketten Naivität, der keiner widerstehen kann. Sie hat ein Kind vom<br />
spröden Abram, sagt sie, der nach einiger Zeit zurück ist im Dorf, er<br />
sei im Gefängnis gewesen in Landshut, heißt es, er hätte merkwürdige<br />
Sachen gemacht, er sei anders, ein Schwuler.<br />
Eine Sauerei sei der Film, eine Schande für Niederbayern, hieß<br />
es damals nach der Uraufführung, Juni 1969, in Leserbriefen in der<br />
Landshuter Zeitung. Begriffe wie heiliger Zorn und Entartung,<br />
gesundes Empfinden und Vätersitte fanden spontan ihren Weg in die<br />
Diskussion zurück. Er habe den Film aus Liebe zu Bayern gemacht,<br />
sagt dagegen der Produzent Rob Houwer.<br />
Es sind Lausbubengeschichten der bösen Art, die der Film präsentiert.<br />
Verachtung und Diskriminierung, Stichelei und Denunziation,<br />
Lynchmobstimmung und Menschenjagd. Die Mobilisierung der<br />
Gesellschaft. Gewaltige Mähdrescher drücken sich bedrohlich durch<br />
die engen Dorfstraßen. Starfighter durchschneiden regelmäßig den<br />
Himmel über dem Dorf.<br />
Der Film sei Kitsch, hieß es in einem der Leserbriefe, „größerer<br />
Kitsch als der kitschigste <strong>Heimatfilm</strong> seligen Angedenkens“. Auch<br />
das Dumpfe und Derbe hat seinen Kitsch, die Geilheit und der Dreck.<br />
Ein Begriff, mit dessen Hilfe in der ästhetischen Diskussion der Nach-<br />
EuroVIDEo<br />
kriegszeit Diskriminierung an die Stelle der Analyse gesetzt wurde.<br />
Kitsch, das Gegenstück zur echten, wahren, tiefen Kunst. Kitsch ist<br />
nicht der Rede, des Nachdenkens wert, der Intellekt ist nicht gefordert.<br />
Mit der Kitsch-Blindheit hat dann in den Siebzigern das junge<br />
deutsche Kino Schluss gemacht, das auf die Oberflächen schaut und<br />
auf die Emotionen. Kurz nach den Jagdszenen fingen Schlöndorff,<br />
Kitsch ist nicht der Rede, des nachdenkens wert,<br />
der intellekt ist nicht gefordert.<br />
Hauff, Vogeler, Brandner mit ihren neuen <strong>Heimatfilm</strong>en an, andere<br />
Jagdszenen, mit Outlaws, am Western orientiert.<br />
Auch bei Fleischmann schimmern amerikanische Muster durch,<br />
die Provinzmelodramen der Fünfziger, von Picnic bis Some Came<br />
Running – der Bus, der in das Dorf einfährt und auf dem Marktplatz<br />
Station macht, das ist eine klassische Szene des Genres. Der Junge,<br />
der von draußen zurückkommt und nicht mehr in die Gemeinschaft<br />
zurückfindet.<br />
Der Außenseiter, der bestraft wird für sein Anderssein, für das<br />
Wagnis, anders zu sein – und die Lust, die das bedeutet. Beim Wiedersehen<br />
wird Abrams Schicksal von dem Martin Sperrs überlagert,<br />
der das Stück schrieb und im Film selbst den Abram spielt. Er hatte<br />
innerhalb weniger Jahre eine aufregende Karriere gestartet, die jäh<br />
abgebrochen wurde nach einer Gehirnblutung, von der er sich nie<br />
wieder restlos erholte.<br />
Die Jagdszenen sind in Schwarzweiß gedreht, mit einem sanften,<br />
liebevollen Blick fürs Detail, ein Stillleben, in dem jedes Fenster ein<br />
feines Blumengesteck aufweist. Das Natürliche und das Künstliche<br />
sind manchmal nicht mehr zu unterscheiden, das Normale und das<br />
Abartige – so wie man es aus den Filmen von Buñuel kennt, Las Hurdes,<br />
aber auch den Spielfilmen. Die Bewohner des Dorfes Unholzing<br />
im Landkreis Landshut spielen mit, und selbst in den hässlichsten<br />
Momenten – das hebt den Film dann doch über simple Denunziation<br />
hinaus – meint man irgendwie den Geist der Commedia dell’arte zu<br />
spüren.<br />
In langen Kamerafahrten bringt der Film seine Figuren zusammen,<br />
beim Kirchgang, beim Sauschlachten, beim Erntefest, dabei<br />
kriegt das Dorf einen gemeinsamen Körper, wird community. Die<br />
Bösartigkeit, Grausamkeit, Gemeinheit, die hier sich auswirken, wurzeln<br />
in einer urtümlichen Anarchie, die Peter Fleischmann in seinen<br />
weiteren Filmen immer stärker beschworen hat. Sie mag eine Gesellschaft<br />
degenerieren lassen, aber sie garantiert ihr auch einen Rest an<br />
Vitalität. s<br />
Jagdszenen aus niederbayern<br />
von Peter Fleischmann<br />
DE 1969, 85 Minuten,<br />
deutsche OF<br />
Auf DvD bei EuroVideo,<br />
www.eurovideo.de<br />
32 33<br />
EuroVIDEo (2)
dvd<br />
Sex und gewalt und die<br />
Sehnsucht nach liebe<br />
von Jan Gympel<br />
Eigentlich ist Peter Kern seit jahrzehnten eine feste Größe im deutschsprachigen Kino. Als Schauspieler,<br />
aber in mindestens dem gleichen Maße auch als Filmemacher. Doch wie viele seiner Werke sind wirklich<br />
präsent, zumal außerhalb seiner österreichischen Heimat? Sind seine Arbeiten zu quer und vielleicht auch<br />
zu queer, um in die Kinos zu kommen und im Fernsehen zu laufen? überprüfen kann man dies an Hand<br />
einiger von Peter Kerns Filmen, die immerhin auf DVD verfügbar sind.<br />
s Es gibt Regisseure, die drehen fleißig Filme, und dies nicht unter<br />
komfortablen Bedingungen, denn sie sind Außenseiter geblieben. Sie<br />
erhalten nicht leicht eine Förderung nach der anderen und einen Fernsehauftrag<br />
nach dem nächsten, haben keine Aufnahme gefunden in<br />
jene Branchenzirkel, wo man sich gern gegenseitig Preise verleiht –<br />
und dennoch bekommen sie nicht einmal als Exoten die ihnen gebührende<br />
Aufmerksamkeit.<br />
Einer dieser ebenso unermüdlichen wie unabhängigen Außenseiter<br />
ist Peter Kern. In den Siebzigern hinterließ der 1949 geborene<br />
Wiener schon dank seines leicht wiedererkennbaren Äußeren – (sehr)<br />
runde Körperformen, rundes Gesicht, Kulleraugen – in vielen Filmen<br />
einen bleibenden Eindruck, ob mit kurzen Auftritten wie als übertölpelter<br />
Blumenhändler in Fassbinders Schwulendrama Faustrecht<br />
der Freiheit oder mit Hauptrollen wie in Walter Bockmayers und Rolf<br />
Bührmanns Frühwerk Flammende Herzen, wo er 1977 an der Seite<br />
von Barbara Valentin – und einer echten Kuh – agierte. Für Letzteres<br />
und für seine Mitwirkung in Hans-Jürgen Syberbergs Hitler – Ein<br />
Film aus Deutschland erhielt Peter Kern den Bundesfilmpreis in Gold.<br />
1975 war er damit bereits als Mitglied des Ensembles von Wim Wenders’<br />
Goethe-Adaption Falsche Bewegung ausgezeichnet worden.<br />
In den Achtzigern begann Kern, der auch bei Hans W. Geißendörfer,<br />
Daniel Schmid oder Helmut Dietl spielte – sehr schön sein Part in<br />
der ersten und wohl besten Kir Royal-Folge als Wirt des einfallslosen<br />
Nouvelle-Cuisine-Restaurants, das von Baby Schimmerlos am Ende<br />
notgedrungen zum neuen In-Lokal hochgeschrieben wird –, selbst<br />
Filme zu drehen. Was bei ihm seither meist bedeutete: Er schrieb,<br />
produzierte und inszenierte sie.<br />
Eine Handvoll Vergnügen – Crazy Boys, 1987 im Berlinale-Panorama<br />
gezeigt, war seine erste Spielfilmregie. Nach eigenem Drehbuch schilderte<br />
Kern die Rettung der angeschlagenen Hamburger Szenebühne<br />
„Pulverfass“ durch eine damals noch relativ neuartige und originelle<br />
Idee: Beim Striptease mal die Rollen zu vertauschen und schmucke<br />
Männer sich zum Vergnügen von Frauen entblättern zu lassen.<br />
In diesem Streifen fanden sich bereits viele Elemente, die für Peter<br />
Kerns Filmschaffen typisch werden sollten. Etwa die Vermischung<br />
von Realität und Fiktion: Kerns Spielfilme spielen gern mit der Wirklichkeit<br />
(allen voran bei der Polit- und Medienfarce Haider lebt, die<br />
Jahre vor dem tatsächlichen Unfalltod des Titelhelden entstand) und<br />
beinhalten oft nahezu phantastische Elemente, die nicht zuletzt aus<br />
einer gewissen Stilisierung oder dem Unwillen zur naturalistischen<br />
Nachinszenierung von Geschichte oder Gegenwart entstehen – so die<br />
Szenen aus der NS-Zeit in Blutsfreundschaft oder die umfangreichen<br />
Sequenzen aus den Kinder- und Jugendjahren der einstigen Starhure<br />
und späteren Huren-Aktivistin Domenica Niehoff in Domenica, die<br />
Kern 1994 einfach im Ambiente der damaligen Gegenwart drehte.<br />
Zugleich inszeniert er bei seinen Dokumentationen auch manches –<br />
mal mehr, mal weniger deutlich. Eigentlich haben alle Regiearbeiten<br />
Peter Kerns etwas Essayistisches, sind souveräne Äußerungen eines<br />
„Blutsfreundschaft“ (2009)<br />
engagierten, da über die Zustände empörten Künstlers, der sich an<br />
Kino- wie andere Konventionen nicht halten mag.<br />
Für gewöhnlich wird in seinen Filmen eine Handlung denn auch<br />
nicht „ordentlich“ – also im gewohnten Ablauf – erzählt, und auch<br />
Portraits oder Biopics zeichnen kein vollständiges Bild der im Fokus<br />
stehenden Personen, ihres Charakters und Schicksals. Peter Kern hat<br />
den Mut zur Lücke, welche die Zuschauer durch ihr eigenes Denken<br />
und ihre eigene Phantasie füllen dürfen, seine Filme lassen Fragen<br />
offen. Die Schilderung eines bedeutenden Moments scheint ihm meist<br />
wichtiger als eine Geschichte detailliert darzustellen.<br />
Eine inhaltliche Konstante in Peter Kerns Filmschaffen ist sein<br />
Interesse für das, was gern – im weitesten Sinne – als „Rotlichtmilieu“<br />
bezeichnet wird: Immer wieder fungieren der Straßenstrich und<br />
gewisse „Etablissements“ als Schauplätze, spielen Stricher, Huren,<br />
Freier, Transvestiten und Transsexuelle wichtige Rollen.<br />
Aber darf man Transvestiten und Transsexuelle denn so einfach<br />
zum „Rotlichtmilieu“ zählen? Natürlich nicht. Doch für Kern sind<br />
diese wie andere Menschen, die sich eher freiwillig oder auch unfreiwillig<br />
im „Milieu“ aufhalten, nicht aus voyeuristischen Gründen von<br />
Interesse, sondern als Außenseiter, dramatischer ausgedrückt: Ausgestoßene<br />
der Gesellschaft. Dies gilt für die schon erwähnte Domenica<br />
Niehoff, die aus desolaten familiären Verhältnissen kam und aus<br />
blanker finanzieller Not ihre Tätigkeit als Sexarbeiterin begann. Es<br />
gilt für die alternden oder bereits alten Kölner Schwulen, die sich rund<br />
um das Szene-Original Mutter Colonia ein Biotop – oder genauer: eine<br />
Ersatzfamilie – geschaffen haben und in Knutschen, kuscheln, jubilieren<br />
portraitiert werden. Und es gilt für den halbwüchsigen Titelhelden<br />
von Gossenkind, der von seiner Mutter beschimpft und verstoßen,<br />
von seinem Stiefvater geschlagen, bestohlen und sogar vergewaltigt<br />
wird, und auf der Straße und dem Straßenstrich eine nicht gute, aber<br />
bessere Heimat gefunden zu haben scheint.<br />
Zwischen diesem Film, den Peter Kern 1991 in seiner damaligen<br />
Wahlheimat Düsseldorf drehte, und dem 2009 in Wien entstandenen<br />
Blutsfreundschaft gibt es einige bemerkenswerte Parallelen: In beiden<br />
Fällen heißt der jugendliche Protagonist Axel und findet Zuflucht<br />
bei einem biederen Mann – in einigen Szenen ähneln die Kleidung<br />
und der Habitus des von Winfried Glatzeder in Gossenkind gespielten<br />
Familienvaters mittleren Alters mit heimlicher Neigung zu Minderjährigen<br />
sogar der Erscheinung des von Helmut Berger verkörperten<br />
betagten Schwulen in Blutsfreundschaft. In beiden Fällen ist das<br />
Glück zwischen dem Jungen und dem Älteren brüchig und daher nur<br />
von kurzer Dauer, letzterer zeigt suizidale Tendenzen, und auch dem<br />
Heranwachsenden winkt kein Happy End.<br />
Den wesentlichsten Unterschied zwischen den beiden Filmen bildet<br />
die „Nazi-Komponente“: Während Rechtsradikale – trotz des Aufflammens<br />
fremdenfeindlicher Gewalt in den frühen Neunzigern und<br />
obwohl jenes Axels bester Freund farbig ist – in Gossenkind gar keine<br />
Rolle spielen, nehmen sie in Blutsfreundschaft eine zentrale Position<br />
34 35<br />
dvd<br />
FILMGALErIE 451
dvd wir verreisen<br />
„Gossenkind“ (1991, links), „Knutschen kuschlen jubilieren“ (1998)<br />
ein. Das Schwanken des entwurzelten, desorientierten dortigen Axels<br />
zwischen seinen Neonazifreunden und dem alten Reinigungsbesitzer,<br />
den er eigentlich für sie ausspionieren soll, wird gespiegelt durch die<br />
Erinnerungen dieses Mannes an seine erste Liebe im „Dritten Reich“,<br />
die mit Entdeckung, Verrat, drakonischer Bestrafung und Tod endete.<br />
Dank des nun bereits mehr als zwei Jahrzehnte währenden Erfolgs<br />
der FPÖ und ihrer Abspaltungen mag die Auseinandersetzung mit der<br />
extremen Rechten für den politisch engagierten Österreicher Peter<br />
Kern naheliegen. Sie findet sich denn auch schon in seinem 2003 entstandenen<br />
Film Haider lebt – 1. April 2020, wo ein bizarres Zukunftsbild<br />
entworfen wird: Der (nur angeblich?) tote Ex-Bundeskanzler Jörg<br />
Haider avanciert zum Idol all jener Österreicher, die sich gegen die<br />
umfassende Übernahme ihres Landes durch die Amerikaner wehren;<br />
ein TV-Journalist (August Diehl) geht Hinweisen nach, Haider sei<br />
noch am Leben. Und der ein Jahr ältere Hamlet – This is your family<br />
ist die filmische Dokumentation oder eher Ergänzung von Christoph<br />
Schlingensiefs Projekt um Neonazis und vor allem – womöglich nur<br />
vorgebliche? – Aussteiger aus der Neonaziszene (womit sich der Film<br />
wiederum um, glücklicherweise, Außenseiter dreht).<br />
Bedenkt man, wie schwer es der Produzent und Regisseur Peter<br />
Kern zumindest in der bundesdeutschen Filmszene hat, wie relativ<br />
wenig Anerkennung er hier genießt, so erstaunt, wie viele Prominente<br />
sich immer wieder in den Besetzungslisten seiner Werke<br />
finden. Christoph Schlingensief beispielsweise, der bereits in Gossenkind<br />
einen geistig zurückgeblieben wirkenden Knecht spielte,<br />
arbeitete vor wie hinter der Kamera häufiger mit Kern zusammen,<br />
der auch unter Schlingensiefs Regie agierte. Beide schätzten einander<br />
sehr. Es gibt einige Ähnlichkeiten hinsichtlich der Art, wie sie<br />
auf politische und gesellschaftliche Entwicklungen reagierten und<br />
diese in ihren Arbeiten reflektierten. Allerdings wird kaum jemand<br />
auf die Idee kommen, Kern vorzuwerfen, er führe seine Außenseiter<br />
vor oder beute sie in anderer Weise aus. Dazu dürften auch zu viel<br />
eigene Betroffenheit, zu viele eigene Erfahrungen in seine Filme eingeflossen<br />
sein – als von je her stark übergewichtiger Schwuler konnte<br />
er sich bestimmt auch innerhalb der so gern gepriesenen „Community“<br />
Ausgrenzung sicher sein und erleben, wie gern Diskriminierte<br />
einmal selbst diskriminieren.<br />
Deutlich kreisen Peter Kerns Filme letztendlich auch immer um<br />
Sex und Gewalt und – kann man sagen: „andererseits“? – um Einsamkeit<br />
und die Sehnsucht nach Liebe. Wobei offen bleibt, inwieweit sich<br />
manch einer seine Hölle selbst kreiert: Zumindest die älteren Schwulen<br />
scheinen die so dringend begehrte Zuneigung nur von jungen bis<br />
sehr jungen Männern erhalten zu wollen, gleichaltrige betrachten sie<br />
als so unattraktiv wie sie selbst – zu ihrem Schmerz – als unattraktiv<br />
betrachtet werden. Und es geht immer wieder um die Irrwege, auf die<br />
fehlgeleitete oder falsch verstandene Liebe führen kann – was wiede-<br />
rum als ein Thema erscheinen mag, das sich einem österreichischen<br />
Filmemacher aufdrängt, nachdem aus alpenländischen Kellern manch<br />
Ungeheuerliches bekannt geworden ist. Peter Kerns vorletztes Werk<br />
Mörderschwestern, das erst kürzlich seine bundesdeutsche Erstaufführung<br />
erlebte, wurde von den authentischen Fällen österreichischer<br />
Krankenschwestern inspiriert, die Patienten „aus Mitleid“ töteten.<br />
Es sind sehr grundlegende Dinge, die Peter Kern in seinen Filmen<br />
behandelt, auch wenn dies zuweilen von manch grellen Elementen<br />
und Tabubrüchen verdeckt zu werden droht. Filme, die der Entdeckung<br />
wert sind und zu denen sich ständig weitere gesellen. Nach<br />
dem 2009 entstandenen Blutsfreundschaft hat der höchst Produktive<br />
schon wieder drei weitere Werke fertiggestellt: King Kongs Tränen,<br />
die erwähnten Mörderschwestern und – jüngst im Berlinale-Panorama<br />
zu sehen gewesen – Glaube, Liebe, Tod, in dem er selbst einen alten,<br />
kranken Schwulen spielt, der um die Liebe seiner Mutter kämpft. Mal<br />
sehen, ob der Film in die deutschen Kinos kommen wird. s<br />
Blutsfreundschaft<br />
von Peter Kern<br />
AU 2009, 95 Minuten,<br />
deutsche OF<br />
Knutschen kuscheln jubilieren<br />
von Peter Kern<br />
DE 1998, 87 Minuten,<br />
deutsche OF<br />
Haider lebt - 1 April 2021<br />
von Peter Kern<br />
AU 2002, 74 Minuten,<br />
deutsche OF<br />
gossenkind<br />
von Peter Kern<br />
DE 1991, 85 Minuten, deutsche OF<br />
Beide auf DvD bei Pro-Fun Media,<br />
www-pro-fun.de<br />
Hamlet – This Is Your Family<br />
von Peter Kern<br />
AU 2002, 80 Minuten,<br />
deutsche OF<br />
Alle drei auf DvD bei der<br />
Filmgalerie 451,<br />
www.filmgalerie451.de<br />
Pro-FuN MEDIA (2)<br />
Queer und<br />
erwachsen<br />
von anDré WenDler<br />
Die schönsten Entdeckungen des Berlinale-Queer-Programms<br />
– und ein paar grundsätzliche überlegungen.<br />
s Es kommt die Zeit im Leben der meisten queeren Menschen, wo<br />
Coming-Out und erste nicht-heterosexuelle Erfahrungen lange vorbei<br />
sind und die damit verbundenen Fragen und Probleme ihre Dringlichkeit<br />
verlieren. Das queere Kino befasst sich gern mit solchen Erweckungsszenarien,<br />
vielleicht, weil sich dann das straighte Publikum<br />
einreden kann, es habe für alle eine Zeit des Normal-Seins gegeben.<br />
Mit großer Genugtuung und auch Überraschung habe ich im diesjährigen<br />
Berlinale-Programm eine Reihe queerer Filme gesehen, in<br />
denen keine Gründungsmythen diverser Identitäten heruntergebetet<br />
werden, sondern in denen erwachsene queere Menschen erwachsene<br />
Probleme haben, die auch jede_r andere haben könnte, die aber eine<br />
spezifisch queere Farbe bekommen. Jaurès ist einer dieser Filme, der<br />
glücklicherweise und völlig zu Recht den Spezialpreis der Teddy-<br />
Jury bekommen hat. Der Regisseur zeigt einer Kollegin einen Film,<br />
den er in der Wohnung seines ehemaligen Geliebten Simon gedreht<br />
hat. Zu sehen sind afghanische Flüchtlinge, die vor dem Fenster am<br />
Kanal kampieren müssen, weil sie illegal in Frankreich sind und ein<br />
Ende ihrer Illegalität nicht in Sicht ist. Gleichzeitig erzählt er ihr von<br />
seinem Geliebten, dem Schmerz und der Freude, die ihre in vielerlei<br />
Hinsicht besondere Beziehung produziert hat. Die Spannung, die sich<br />
zwischen den intimen Überlegungen zur Liebe zweier Männer, von<br />
denen einer schon Opa ist, und der distanzierten Beobachtung der<br />
Flüchtlinge ergibt, ist nicht immer leicht zu ertragen. Sie zeigt aber,<br />
das queeres Begehren niemals jenseits der räumlichen und zeitlichen<br />
Zufälle urbanen Lebens existiert und fortwährend mit Dingen konfrontiert<br />
ist, die vordergründig scheinbar wenig miteinander zu tun<br />
haben. Jaurès verkneift sich dabei Plattitüden über das Politische der<br />
persönlichen Beziehungen und fordert seine Zuschauer_innen dazu<br />
auf, sich zu den Zutaten seines filmischen Experimentierkastens<br />
selbst in Beziehung zu setzen.<br />
Der Gewinner des Teddy Awards, Keep the Lights on, weiß von<br />
derartigen formalen Experimenten nichts. Es ist ein ziemlich geradeheraus<br />
erzählter Spielfilm über die Beziehung zweier Männer, die<br />
über etwa zehn Jahre begleitet wird. Die beiden gehen durch alle<br />
Phasen, die sich in einer Beziehung denken lassen. Vieles von dem,<br />
was den beiden begegnet, von der Frage nach Treue oder Polyamorie,<br />
Verbindlichkeit, Lachen und Leiden, könnte in ähnlicher Form in fast<br />
jeder Beziehungskonstellation auftauchen. Der Film schafft es aber,<br />
diese generellen Beziehungsfragen immer wieder um spezifisch<br />
großstädtisch-schwule Belange zu ergänzen. An der komischen und<br />
unerträglich traurigen Beziehung von Eric und Paul ist alles allgemein<br />
und spezifisch zugleich. Beziehungsarbeit ist damit immer<br />
auch die Justierung der spezifischen Situation am jeweiligen Erwartungshorizont.<br />
Im Kino bilden die klassischen Beziehungsnarrative<br />
noch immer diesen Horizont. Keep the Lights on hat diese Erzählungen<br />
immer im Hinterkopf und serviert sie einmal in Reinform,<br />
„Keep The Lights On“ von Ira Sachs (2012)<br />
um ihnen beim nächsten Mal in einer gewitzten Volte auszuweichen.<br />
Im Forum der Berlinale haben zwei Filme, die man unbedingt<br />
zusammen sehen muss, einmal dem Zustand heterosexueller Ehen<br />
und Beziehung auf den Zahn gefühlt. What is Love und Beziehungsweisen<br />
haben offenbar bis ins Letzte verstanden, was daraus folgt,<br />
wenn eine éducation sentimentale unter den Bedingungen des Kinos<br />
absolviert wird. In beiden Filmen werden Paarbeziehungen durch<br />
das Kinoauge betrachtet: Einmal sitzen Schauspieler_innen als Paare<br />
in Paartherapien, einmal spielen Familien Szenen aus ihrem Leben,<br />
als seien sie darin nur die Statisten. Die Begegnung der beiden Filme<br />
ist spannend: An den echten Personen hängen ihre realen Probleme<br />
wie ausgetragene übergroße Kleidungsstücke. Die Schauspieler<br />
hingegen stecken in ihren Rollen wie in Maßanzügen. Die Liebes-<br />
und Beziehungskonzepte, die in beiden Filmen vorgeführt werden,<br />
bleiben immer auf Film und Kino bezogen. Calle Overweg hat die<br />
Geschichten, die den Improvisationen seiner Schauspieler_innen als<br />
Grundlage dienen, von ihm geschätzten Filmen entnommen. Die Bilder<br />
von Ruth Mader sehen aus wie neueste Berliner Schule. Wir können,<br />
so scheinen sich beide Filme gegenseitig zu kommentieren, jenseits<br />
kinematografischer Techniken und Repräsentationen gar nicht<br />
mehr verstehen, was Pärchen sind und wie sie funktionieren. Das<br />
wäre nun aber, bei aller Konventionalität der Anordnungen in beiden<br />
Filmen, eine ziemlich weitreichende These. In jedem Darkroom, in<br />
jedem Ehebett, bei jedem Date, bei jeder Trennung, schliefen, stritten,<br />
küssten, fickten, weinten Kinobilder, Kinofiguren, Kinokonzepte,<br />
Kinoliebhaber_innen mit.<br />
In anderen Filmen der diesjährigen Berlinale finden wir ähnliche<br />
Konstellationen: Die Beziehung der beiden Jungs in Westerland lässt<br />
sich nur verstehen, wenn man sie nicht nur vor dem Hintergrund der<br />
gleichnamigen Landschaft begreift. Man muss das ganze Repertoire<br />
affektiver Liebeslandschaften des amerikanischen Western oder des<br />
<strong>Heimatfilm</strong>es mitdenken, um zu verstehen, warum Beziehungen in<br />
den Tönen der gefrorenen Nordsee etwas anderes sind als solche aus<br />
der Glut des Südens. Die Wiederaufführung von Tom Kalins Swoon<br />
hat uns daran erinnert, wie untrennbar bestimmte Paarbeziehung an<br />
die Kinobilder ihrer Zeit gebunden sind. Der Film reflektiert nämlich<br />
nicht nur die politischen Fragen seiner Entstehungszeit, sondern mindestens<br />
genauso intensiv die Konventionen schwuler Beziehungsbilder<br />
der 1920er Jahre, in denen er spielt. Filme wie diese haben uns in<br />
diesem Jahr daran erinnert, dass mit queeren Inhalten und Figuren<br />
allein kein queeres Kino zu machen ist. Queeres Kino muss immer<br />
beiden gerecht werden: den Queers und dem Kino. Filme, die beide<br />
Register ziehen können, sind für mich erwachsenes queeres Kino.<br />
Daran sollten sich nicht nur die Filmemacher_innen von Zeit zu Zeit<br />
erinnern, sondern auch die Auswahlkommissionen der Filmfestivals<br />
mit verstärkt queeren Ansprüchen. s<br />
36 37<br />
BErLINALE / jEAN CHrISToPHE HuSSoN
film-flirt<br />
valeska gert –<br />
Ästhetik der Präferenzen<br />
von Wolfgang Müller<br />
Martin Schmitz Verlag, Berlin 2010<br />
Subkultur West-Berlin 1979–1989<br />
von Wolfgang Müller<br />
Philo Fine Arts, Hamburg 2012<br />
Kosmas<br />
von Wolfgang Müller<br />
Verbrecher Verlag, Berlin 2011<br />
Die elfe im Schlafsack<br />
von Wolfgang Müller<br />
Verbrecher Verlag, Berlin 2011<br />
38<br />
Der moment<br />
SchriftSteller Sehen filme: Wolfgang müller<br />
Wolfgang Müller, Autor, Künstler, Musiker und Elfenfachmann, nimmt den „protoqueeren“<br />
„Kiss“ von Andy Warhol und das Homo-Mahnmal in Berlin zum Anlass,<br />
über den Film-Moment des Kusses nachzudenken. Genauer: über die Verbindung von<br />
Schönheit und Ekel.<br />
s Im Homo-Mahnmal von Künstlerduo Elmgreen und Dragset ist ein Film integrierter Teil<br />
des Gesamtkonzeptes. In einer Betonauslassung sollten, so plante das Künstlerduo, die Videoaufnahmen<br />
zweier küssender Männer erscheinen. Nachdem die Entscheidung zum Bau des<br />
Homo-Mahnmals gefallen war, erhob sich Streit: Emma-Chefredakteurin Alice Schwarzer<br />
und andere wiesen darauf hin, dass lesbische Frauen als Opfer des Naziterrors durch diese<br />
Entscheidung vollkommen ausgeblendet seien. Unterstützung erhielt ihre Kritik von Comiczeichner<br />
Ralf König und weiteren schwulen und lesbischen Prominenten. Der heftige Streit<br />
führte dazu, dass nach einer Bundestagsdebatte beschlossen wurde, den Videoclip im Inneren<br />
des Mahnmals alle zwei Jahre durch einen neu zu produzierenden Film auszuwechseln.<br />
Natürlich gilt die Autonomie der Kunst noch weniger für Denkmäler und Mahnmale als für<br />
„reine“ Kunst. Bei Denkmälern besteht ganz generell die Problematik, dass ausführende<br />
Künstler gezwungen sind, zahlreiche Stimmen, Ansichten und Interessen von vorneherein<br />
mit zu berücksichtigen – von den zu gedenkenden Opfern und Toten, die nicht gefragt werden<br />
können, bis hin zu Baustadträten und Gleichstellungsbeauftragten, die ebenfalls ihre aktuellen<br />
politischen Interessen geltend machen wollen. Weigern sich Künstler, auf all diese Änderungswünsche<br />
einzusteigen, endet die Forderung nach ständiger Nachbesserung des Mahnmals<br />
keineswegs automatisch. Der von Elmgreen und Dragset geplante „Schwulenkuss“ (Sirko<br />
Salka in der „Siegessäule“) wurde also in einer parlamentarischen Diskussion durch einen<br />
„Lesbenkuss“ erweitert (angeglichen? vervollständigt?). Eine „ExpertInnenjury“ entscheidet<br />
nun über die Auswahl der zwei Jahre gezeigten Kusssequenzen. Das klingt sehr demokratisch,<br />
aber vielschichtige Kunst ist weder demokratisch, noch kann sie Mehrheitsentscheidungen<br />
berücksichtigen. Da miteinander küssenden Frauen in den bestehenden gesellschaftlichen<br />
Hierarchien und den ihr innewohnenden Ästhetiken eine völlig andere Stellung zugewiesen<br />
wird als zwei küssenden Männern, werden die Normalitätsregime der Mehrheit durch diese<br />
Inklusion keineswegs irritiert, sondern weiterhin bestätigt. Die Unterdrückung von Frauen<br />
ist völlig anders strukturiert als die von Schwulen, die immerhin das Privileg genießen, zur<br />
bevorzugten Gruppe „Mann“ zu zählen. Extrem zwiespältig klingt der Wunsch des Regisseurs<br />
des aktuellen Videos, Gerald Backhaus: „Schön wäre es, wenn sich andere Leute an den<br />
Küssen erfreuen würden (…)“, da es genau das bedient, was andere als Homonationalismus<br />
oder queere Rassifizierungspolitiken zu diskutieren versucht haben. Denn der Appell an den<br />
normalen Geschmack manövriert genau von der Schwelle Normalität/Perversion wie selbstverständlich<br />
zur Affirmation bestehender Geschmackshierarchien. Die große Differenz zwischen<br />
„homosexuell“ und „homosozial“, zwischen „privat“ und „öffentlich“, zwischen „Männerküssen“<br />
und „Frauenküssen“ lässt sich gut an den politischen Bruderküssen zwischen<br />
Honecker/Gorbatschow, aber auch aktuell Sarkozy/Merkel beobachten. Es wäre natürlich<br />
schön, wenn dieses neo-individual-liberale Einerlei irgendwie ausgrenzende Diskriminierungsstrukturen<br />
irritieren würde. Denn wenn dem so einfach wäre, hätte das ganze Denkmal<br />
einen rein nostalgischen Zweck.<br />
Auf unübertreffliche Weise gelingt es mit ganz ähnlichen Kussmotiven, Andy Warhols Film<br />
Kiss von 1963, die ganze Ambivalenz zwischen Intimität und normalen Geschmackspolitiken<br />
in einem Raum ins Spiel zu bringen. Schönheit und Ekel garantiert inklusive. In diesem 16mm-<br />
Schwarzweiß-Stummfilm küssen sich über fünfzig Minuten lang Paare unterschiedlichster<br />
sexueller Orientierung. Oft ist wegen der Schwarz-Weiß-Kontraste und der bewegten Kamera<br />
nicht ohne Weiteres erkennbar, wer da welches Geschlecht aufweist. Unter den Küssenden<br />
befinden sich der 1923 geborene, schwule Popart-Künstler Robert Indiana, dessen „LOVE“ allseits<br />
bekannt ist, als auch Warhol-Superstar Baby Jane Holzer, Jahrgang 1940 – benannt nach<br />
Robert Aldrichs gleichnamigen Film Baby Jane. Sie betreibt heute einen Eisladen in Florida<br />
und arbeitet als Immobilienmaklerin. Warhols Küsse sind revolutionär – bis heute. Sie sind<br />
film-flirt<br />
Blixa Bargeld (rechts im Bild) überraschte den Autor Wolfgang Müller im Westberlin von<br />
1980 mit einem Zungenkuss.<br />
in unterschiedlichster Hinsicht proto-queer und übertreffen fünfzig<br />
Jahre nach ihrer Aufnahme noch jeden bisher im Mahnmal von<br />
Elmgreen und Dragset integrierten Kussfilm. Zum einen findet sich<br />
in Kiss das genaue Gegenstück zum perfekt inszenierten Hollywood-<br />
Filmkuss, in dem kein Speichelfaden oder gequetschte Gesichtsteile<br />
die Ästhetik irritieren sollen. Und – sehr wichtig – sie kümmern sich<br />
nicht einmal darum, ob der jeweilige Kuss nun auf allgemeines Gefallen<br />
stößt oder ob er es nicht tut. Trotzdem tut Kiss beileibe nicht so,<br />
als ob die angestrebte Utopie bereits verwirklicht wäre, also es völlig<br />
egal sei, ob Frauen Frauen oder Männer Männer körperlich berühren<br />
und begehren. Mancher Kuss in Kiss sieht vielleicht lecker aus, mancher<br />
eher komisch oder gar abstoßend – aber die Ästhetik des Kusses<br />
spielt keine Rolle. Vielleicht macht den Küssenden ja viel Spaß, was<br />
für die Betrachter so aussieht, als schnappe ein kranker Karpfen nach<br />
Luft? In seiner Entstehungszeit 1963 stellt Kiss eine zusätzliche Provokation<br />
dar, eben dadurch, dass er gesellschaftlich eine Attacke auf<br />
Mehrheitsregime und ihre Ästhetik war, in vielerlei Hinsicht. Die weißen<br />
Punkte am Ende jeder auslaufenden Filmrolle, die Andy Warhol<br />
deutlich sichtbar in seinen Filmen beließ, sind das Signal für Filmvorführer<br />
zum Wechsel bei der Vorführung. Andy Warhol outet damit<br />
außerdem den Wechsel der Rollen, er macht sichtbar, was eigentlich<br />
nur der Vorführer wissen soll, nicht aber die Zuschauer – das offene<br />
Geheimnis, das eigentlich im Verborgenen bleiben soll. Und dadurch,<br />
dass er die sexuelle Orientierung der jeweils Küssenden zur zweitrangigen<br />
Angelegenheit macht – Homosexualität war 1963 sicherlich<br />
absolut keine „Nebensache“, schon gar nicht für die Empfindungen<br />
und Gefühle der Mehrheit – entfaltet Andy Warhols Kiss über diesen<br />
Umweg der Wahrnehmungen seine bis heute unübertroffene subversive<br />
Energie. s<br />
39<br />
WoLFGANG MüLLEr / ANNo DITTMEr
frisch ausgepackt frisch ausgepackt<br />
neu auf DvD<br />
von chrIStoph meyrInG (cm), paul Schulz (pS) unD Jan künemunD (Jk)<br />
das TraurIge LeBeN der gLorIa s.<br />
DE 2011, regie: ute Schall & Christine Groß, Edition<br />
Salzgeber<br />
Eine bitterböse, rabenschwarze<br />
Komödie über<br />
zwei starke Frauen, die<br />
sich gegenseitig verdient<br />
haben: Die eine ist Schauspielerin<br />
und braucht<br />
dringend einen Job; die<br />
andere ist Regisseurin<br />
und muss dringend einen<br />
Film über prekär lebende Frauen machen.<br />
Christine Groß und Ute Schall haben daraus<br />
eine durchgeknallte Farce über das falsche Bild<br />
vom wahren Leben und über glamouröse Überlebensstrategien<br />
gemacht.<br />
„Bevor das Spiel mit der Inszenierung von Realität<br />
in Gang kommt, sei zumindest noch der<br />
Vollständigkeit halber darauf hingewiesen,<br />
dass der Film zumindest skizzenhaft versucht,<br />
noch eine weitere Realitätsebene einzubauen,<br />
die auf die konkrete Realität der Figuren verweist.<br />
Auf dieser Ebene ist Das traurige Leben<br />
der Gloria S. weitgehend ein Frauenfilm. Da ist<br />
die erfolglose, unter prekären Bedingungen lebende<br />
Schauspielerin Gloria, die, wiewohl sie<br />
in einer nicht unproblematischen lesbischen<br />
Beziehung lebt, sich als integraler Bestandteil<br />
einer zwar kaputten, aber strukturell der<br />
Norm entsprechenden Kleinfamilie inszenieren<br />
muss/will. Charlotte, die Filmemacherin,<br />
sucht wiederum den Kontakt zur sozialen<br />
Realität aufgrund einer diffusen Krisenerfahrung,<br />
weil ihre Parameter einer Erfahrung des<br />
Politischen nicht mehr zu greifen scheinen. Als<br />
‚Realitätsprinzip‘ fungiert die toughe Filmproduzentin<br />
von Lösch, die das fadenscheinige<br />
Spiel früh und instinktiv durchschaut. (Ulrich<br />
Kriest in SISSY 4/2011)<br />
LoLLIPoP MoNsTer<br />
DE 2010, regie: Ziska riemann, Edition Salzgeber<br />
Die quietschbunte Ari<br />
und die düstercoole Oona<br />
werden Freundinnen, die<br />
sich gegen ihre Familien<br />
wehren und gemeinsam<br />
explodieren. „Unstet wie<br />
pubertäre Stimmungsschwankungen<br />
wechselt<br />
der Film von der Story in<br />
Musikclips, vom Spielfilm über Super8 in eine<br />
Comicästhetik. Egal, wann man jung war, ob<br />
zu Tolle-, Flattop-, Föhnwelle- oder Stachelfrisurzeiten,<br />
egal, ob die Eltern einem Rolling<br />
Stones, Joy Division oder Chicago House verbieten<br />
wollten: Riemanns Film, bei dem die<br />
Berliner Comiczeichnerin, Autorin und Musikerin<br />
erstmalig Regie führte, versucht, das globale<br />
Pubertistinnengefühl einzufangen, und es<br />
in der gleichen Windstärke bildlich umzusetzen,<br />
in der es subjektiv empfunden wird. Sie<br />
hat dazu Musik er- und gefunden, die das Außenseitermotiv<br />
illustriert: Die imaginäre<br />
Oona- und Ari-Lieblingsband ‚Tier‘, deren Sänger<br />
aussieht wie der Voodoo-Priester Baron Samedi<br />
(aus James Bonds Leben und sterben lassen),<br />
und die in Rammstein-Manier rocken, nur<br />
mit mehr Gitarre, besingen ‚Trieb, Lust und<br />
Instinkt‘. Eine andere der vielen Musikeinlagen<br />
zeigt strippende Barbiemädchen beim Teddypeitschen.<br />
Wer das ein bisschen protzig und<br />
übertrieben findet, hat Recht. Aber es geht hier<br />
schließlich um Aufruhr im Hypothalamus.“<br />
(Jenni Zylka in SISSY 2/2011)<br />
HerBsTgefÜHLe – 80 eguNeaN<br />
ES 2010, regie: jose Garaño & josé María Goenaga,<br />
Edition Salzgeber<br />
Zwei Damen um die 70<br />
fragen sich, ob sie ihre<br />
Gefühle füreinander endlich<br />
zulassen wollen.<br />
„Maite küsst Axun in einem<br />
Arrangement wie<br />
damals in der Sepia-Erinnerung.<br />
Axun küsst sekundenlang<br />
zurück, entschließt<br />
sich dann zur Abwehr. Der<br />
dramatische Ausbruch der lange verschlossen<br />
gehaltenen Gefühle findet auch metaphorische<br />
Entsprechungen: Das Boot der beiden<br />
hängt seeuntüchtig in den Seilen, als sie zum<br />
Steg zurück kommen, Axun schließlich fällt<br />
ins Wasser und Maite springt hinterher. Die<br />
sexuelle Konnotation der klatschnassen Körper,<br />
der unmittelbare physische Kampf zwischen<br />
beiden nach all den Gesprächen, Berichten,<br />
Diskussionen wirkt befreiend. Gefragt,<br />
wie sie auf die Idee für einen lesbischen Liebesfilm<br />
über 70-jährige Frauen gekommen<br />
seien, sagten die beiden Regisseure, die einzige<br />
Vorgabe für sie wäre gewesen, es sollte von<br />
älteren Menschen handeln und Baskisch sollten<br />
sie sprechen. Ansonsten hätten sie keine<br />
Randgeschichte, auch keine kämpferische<br />
Emanzipationsgeschichte erzählen oder ein<br />
Coming-Out beschreiben wollen, sondern eine<br />
universale Geschichte. Ein Stück Normalität.“<br />
(Angelika Nguyen in SISSY 4/2011)<br />
scHLafKraNKHeIT<br />
DE/Fr/NL 2011, regie: ulrich Köhler, Lighthouse<br />
Ein Arzt geht in Afrika<br />
verloren. Ein anderer<br />
kommt gar nicht erst an.<br />
Letzterer ist „eine Identifikationsfigur,<br />
findet Regisseur<br />
Ulrich Köhler:<br />
Alex Nzila, der schwule,<br />
schwarze WHO-Bürokrat<br />
aus Paris, dessen erster<br />
Auftrag eine Reise nach Afrika ist, das er nur<br />
soweit wahrnimmt wie der Schein seiner kleinen<br />
Taschenlampe reicht. Tatsächlich ist das<br />
eine originelle Figur, unbeholfen, ängstlich,<br />
schwach – so ganz anders als die kolonialen<br />
und postkolonialen Herren, die sich die Fremde<br />
verständlich machen und dann aneignen<br />
wollen, in den kolonialkritischen Erzählungen<br />
aber schließlich scheitern und degenerieren,<br />
zu Nicht-Afrikanern und Nicht-mehr-Europäern<br />
werden. Auch diese Figur gibt es in Schlafkrankheit,<br />
Ebbo, der andere Mediziner, der natürlich<br />
auch weiß, was man bei Schwulsein in<br />
Afrika verschreibt (‚bloß keinem erzählen‘).<br />
Der Film hat seine zwei Teile um diese zwei Figuren<br />
herum aufgebaut, weniger, um Thesen<br />
kultureller Fremdheiten gegeneinander auszuspielen,<br />
sondern eher, um undurchdringliche<br />
Bilder zu setzen und vom Scheitern der Strategien<br />
zu erzählen, Fremdheit aufzulösen, die<br />
eigentlich selbstgemacht ist.“ (Jan Künemund<br />
in SISSY 2/2011)<br />
VIer MÄNNer uNd eINe HocHZeIT<br />
GB 2011, regie: Trevor Garlick, Pro-Fun Media<br />
Wenn Danny Weatherill<br />
sein Erbe nicht verlieren<br />
möchte, dann sollte er<br />
möglichst bald vom Single-Markt<br />
verschwunden<br />
sein. Eine Klausel im Testament<br />
seines verstorbenen<br />
Vaters bestimmt nämlich,<br />
dass er bis zu einem<br />
nicht mehr allzu fernen Termin verheiratet sein<br />
muss, um es antreten zu dürfen. Ob mit einer<br />
Frau oder einem Mann, lässt der entsprechende<br />
Passus offen. Gott sei dank, denn Danny hat sich<br />
nach seiner ersten gescheiterten Ehe mit einer<br />
Frau sexuell umorientiert. Um nun auf die<br />
Schnelle einen geeigneten Lebenspartner zu<br />
finden, setzt er einen ausgeklügelten Dating-<br />
Masterplan in die Tat um. Die letzten drei sorgsam<br />
ausgesiebten Kandidaten werden am Abend<br />
vor der Hochzeit in ein Schlosshotel eingeladen,<br />
wo anderntags einer von ihnen vor den Traualtar<br />
geführt werden soll … Die Grundidee für diese<br />
britische Komödie scheint indessen, wie unschwer<br />
zu erkennen ist, von TV-Casting-Shows<br />
á la Der Bachelor vorgezeichnet worden zu sein.<br />
Nach der Zugabe von einigen auch nicht mehr<br />
ganz taufrischen Zitat-Zutaten aus Kino-Vorbildern,<br />
allerdings ohne würzenden und bindenden<br />
Schuss Witz, ist aus dem Homo-Lustspiel<br />
leider etwas eher Fades von bröckelig-heterogener<br />
Konsistenz geworden. Dies betrifft leider<br />
auch die Leistung der Darsteller − nicht zuletzt<br />
die des Hauptdarstellers, dessen enervierende<br />
Dauer-Aufgeräumtheit zuweilen abrupt von einer<br />
ebenso aufgesetzten Gefühligkeit unterbrochen<br />
wird. Und zuletzt sei noch an den Haager<br />
Gerichtshof appelliert, den unsäglichen (Speed-)<br />
Dating-Gag (Held sitzt im Café, trifft skurrile<br />
Type Nr. 1, Schnitt, skurrile Type Nr. 2, Schnitt,<br />
Nr. 3 etc. pp.), ohne den seit gefühlten drei Jahrzehnten<br />
kaum noch eine Beziehungskomödie<br />
auszukommen meint, endlich als Menschenrechtsverletzung<br />
anzu erkennen und dafür empfindliche<br />
Strafen in Aussicht zu stellen! cm<br />
ToasT<br />
GB 2011, regie: S.j. Clarkson, Ascot Elite<br />
Toast ist ein Film über die<br />
Kindheit und Jugend von<br />
Nigel Slater, Englands berühmtestem<br />
Fernsehkoch.<br />
Ja, es gibt auch in England<br />
berühmte Köche. Sollte<br />
man nicht denken, wenn<br />
man mal versucht hat, die<br />
englische Küche zu genießen,<br />
ist aber so. Dazu kommt: Toast ist ein toller<br />
Film, weil er nicht in den Küchen von Nobelrestaurants,<br />
sondern in einer Arbeitersiedlung<br />
spielt. Hier wächst der kleine Nigel auf. Als seine<br />
Mutter stirbt, holt sich sein Vater eine neue Frau<br />
ins Haus: Mrs. Potter, die sich vor allem dadurch<br />
auszeichnet, kochen und exzellent putzen zu<br />
können und Mr. Slater die Einsamkeit zu vertreiben.<br />
Sie wird es sein, die den Jungschwulen<br />
Nigel anspornt, ein Spitzenkoch zu werden, allerdings<br />
indirekt: Der Kleine hasst den ordinären<br />
Mutterersatz und versucht einfach, in der<br />
Küche besser zu sein als sie, um sie wieder los zu<br />
werden. Freddie Highmore und Helena Bonham-Carter<br />
liefern sich in den beiden Rollen<br />
nicht nur in der Küche, sondern auch auf der<br />
Leinwand eine leise Schlacht, die man gesehen<br />
haben sollte. Das ist großes, wunderbares<br />
Schauspielerkino, das von Regisseurin S.J. Clarkson<br />
gekonnt umgesetzt wird. Als Nigel, nachdem<br />
Mrs. Potter seinen Vater mit zu viel guter<br />
Kost zu Grunde gerichtet hat, in den letzten<br />
Filmminuten seinen ersten Mann küsst, weiß<br />
man, ab hier geht es aufwärts mit ihm. ps<br />
sTory of a Bad Boy<br />
uSA 1999, regie: Tom Donaghy, Edition Salzgeber<br />
Pauly ist notgeil wie alle<br />
17-Jährigen. Sein Leben<br />
kreist um seine Körpermitte<br />
und um die nächste<br />
Gelegenheit, seinen Hormonstau<br />
zu beheben. Dabei<br />
flirtet er mit Nonnen,<br />
Messdienern und seinem<br />
verschreckten Schauspiellehrer<br />
Noel, der nicht so Recht weiß, wohin mit<br />
sich oder seinem Zögling. Dass sein Leben so<br />
schwanzgesteuert ist, ist nicht gut für Pauly,<br />
denn so kommt er permanent in Schwierigkeiten.<br />
Story Of A Bad Boy ist ein erfreulicher kleiner<br />
Film, der gut gealtert ist und der, obwohl er<br />
schon 13 Jahre auf dem schmalen Buckel hat,<br />
nichts von seiner amüsanten Frische verloren<br />
hat. Was auch an seinem 1980er Setting liegen<br />
mag, das ihm einige Witze gestattet, die man in<br />
der Gegenwart so nicht machen würde. Der<br />
Film verschwand, nachdem er kurz nach seiner<br />
Entstehung auf vielen Festivals lief und paar<br />
Mal im deutschen Fernsehen zu sehen war,<br />
spurlos von der Bildfläche. Dass Salzgeber die<br />
überdrehte Komödie dem Publikum nun auf<br />
DVD wieder zugänglich macht, ist schön. ps<br />
augusT<br />
uSA 2011, regie: Eldar rapaport, Pro-Fun Media<br />
Als Troy nach Jahren aus<br />
Spanien nach Los Angeles<br />
zurückkehrt, versucht er<br />
da anzuknüpfen, wo er<br />
aufgehört hat – vor allem<br />
bei seinem Exfreund Jonathan.<br />
Dass der längst<br />
einen neuen Freund hat,<br />
ist für Troy aber kein<br />
wirkliches Hindernis. Das Ergebnis ist eine<br />
Dreiecksgeschichte mit explosivem Ausgang.<br />
Regisseur und Drehbuchautor Eldar Rapaport<br />
liefert mit August die Langfassung seines guten<br />
ersten Kurzfilms Postmortem von 2005 ab,<br />
und hat dabei viel richtig gemacht. August ist<br />
eine Geschichte über heiße Leidenschaft, die<br />
er in eiskalte Bilder wickelt. Das ergibt einen<br />
reizvollen Widerspruch, den er erzählerisch zu<br />
nutzen versteht. Auch seine beiden Hauptdarsteller<br />
Daniel Dugan (Jonathan) und Murray<br />
Bartlett als Troy waren schon in der Kurzfassung<br />
dabei und haben sichtlich Freude daran,<br />
ihren Charakteren jetzt mehr Hintergrund<br />
und Tiefe zu geben. Das, was einige an August<br />
allerdings am aufregendsten finden werden, ist<br />
die nicht-lineare Erzählweise und der Schnitt.<br />
Modern oder anarchisch? Geschmackssache,<br />
ich fand’s super. ps<br />
sWaNs – HuNger NacH LeBeN<br />
PT/DE 2010, regie: Hugo Vieira da Silva, Edition Salzgeber<br />
„Aus Portugal kommen<br />
sie. Der Vater, Tarso, arbeitet<br />
im Import-Export-<br />
Gewerbe, kauft Autos in<br />
Deutschland, die er in<br />
Portugal mit Gewinn wieder<br />
verkauft. Der Sohn,<br />
Manuel, ist ein Skater, ein<br />
sehr virtuoser, von einem<br />
Sponsor ist die Rede, auch davon, dass es der<br />
Vater ist, der seine Miete bezahlt. Im Zentrum<br />
des Films jedoch steht die Ex-Frau des Vaters,<br />
die Mutter des Sohnes, der jedoch keine Erinnerung<br />
an sie hat. Man muss genauer auch sagen:<br />
Die Mutter steht nicht, sondern liegt. Sie<br />
ist nach einer aggressiven Krebs-Chemotherapie<br />
ins Koma gefallen; nicht bei Bewusstsein,<br />
komplett immobil. (…) Swans ist ein Körperhorrorfilm.<br />
Das Koma als vollständiger Kontrollverlust,<br />
der in die Bewegungs- und Leblosigkeit<br />
führt. Die totale Kontrolle des Skaters beim<br />
Skaten. Einmal macht der Vater Meditationsübungen<br />
und überlässt sich dabei ganz den Anweisungen<br />
der von ihrem Körper dissoziierten<br />
Stimme von der CD. Wie Sonden sind die Figuren<br />
in der Stadt unterwegs, auf einer Suche, sie<br />
wissen nur nicht, wonach. Reinhold Vorschneiders<br />
Kamera liegt mit ihren virtuosen Fahrten<br />
und Eigenbewegungen, das Berührungs- als<br />
Abbildungsbegehren verdoppelnd, noch einmal<br />
quer dazu. Der Film selbst nimmt zu alledem<br />
die einzig plausible Position ein: Er hält es<br />
konsequent fest, unter enigmatischem Titel,<br />
und mobilisiert den Betrachter, indem er sich<br />
seinem schnellen Begreifen entzieht.“ (Ekkehard<br />
Knörer in SISSY 2/2011)<br />
My LasT rouNd<br />
CHI/ArG 2011, regie: julio jorquera Arriagada, Bildkraft<br />
Kurz nachdem er seine<br />
Großmutter beerdigt hat,<br />
lernt der junge Restaurantmitarbeiter<br />
Hugo in<br />
der chilenischen Provinz<br />
den etwas älteren Boxer<br />
Octavio kennen, der ebenfalls<br />
mit einem Verlust<br />
fertig werden muss. Denn<br />
gesundheitliche Probleme zwingen ihn, seine<br />
Boxhandschuhe endgültig an den Nagel zu<br />
hängen. Aus schüchterner Annäherung wird<br />
unversehens Liebe. Und da die beiden ohnehin<br />
kaum mehr etwas zu verlieren haben, beschließen<br />
sie einen gemeinsamen Neuanfang in der<br />
Hauptstadt Santiago, wo der gelernte Friseur<br />
Octavio schnell eine Anstellung in einem Herrensalon<br />
findet. Hugo kommt als Fahrer in einer<br />
Tierhandlung unter. Doch das Zusammenleben<br />
„wie Mann und Frau“ in der kleinen,<br />
ärmlichen Wohnung ist nicht nur mit einem<br />
41
frisch ausgepackt frisch ausgepackt<br />
Versteckspiel vor der homophoben Umwelt verbunden,<br />
es mutet auch irritierend an, da es klassisch<br />
männliche Rollenvorstellungen in Frage<br />
stellt. Problemverschärfend kommt noch hinzu,<br />
dass die Tochter des Tierhändlers Hugo<br />
schöne Augen macht, während Octavio mit einem<br />
lebensgefährlichen Comeback im Ring<br />
liebäugelt … Der Umstand, dass die an Rocky,<br />
Wie ein wilder Stier, The Wrestler und unzählige<br />
andere Kinovorbilder erinnernde Lebenskampf-Metapher<br />
mithin selbst reichlich abgekämpft<br />
erscheint, sollte für das potenzielle Publikum<br />
kein K.o.-Kriterium darstellen. Denn<br />
nicht nur die in regenschleierverhangenen, melancholischen<br />
Schlechtwetterbildern schwelgende,<br />
überraschend kunstsinnige Kamera<br />
sorgt dafür, dass Julio Jorqueras Regie-Debüt<br />
mit weit weniger als einem blauen Auge davonkommt.<br />
Auch − und vor allem − das reduzierte<br />
und in jeder Situation glaubwürdige Spiel der<br />
beiden hervorragenden Hauptdarsteller beschert<br />
diesem Film schließlich einen eindeutigen<br />
Sieg nach Punkten. cm<br />
I WaNT To geT MarrIed<br />
uS 2011, regie: William Clift, Pro-Fun Media<br />
Nachdem er in seiner<br />
quietschbunten Wohnung<br />
die Hochzeit seiner<br />
lesbischen Freundinnen<br />
Rebecca und Susan ausgerichtet<br />
hat, fasst Paul<br />
Roll, Inhaber einer Werbagentur,<br />
den festen Entschluss,<br />
demnächst auch<br />
selbst mit dem Mann seiner Träume die Ringe<br />
zu tauschen. Es gibt dabei nur ein paar Probleme:<br />
Da die Homoehe in Kalifornien aufgrund<br />
eines bevorstehenden Volksentscheids (Proposition<br />
8) bald wieder abgeschafft werden<br />
könnte, steht dafür − erstens − mitunter nur<br />
ein sehr kleines Zeitfenster offen. Zweitens ist<br />
noch überhaupt gar kein Traummann in Sicht.<br />
Und drittens ist Paul zwar im Job ein Genie,<br />
abgesehen davon aber extrem schüchtern,<br />
nicht sonderlich attraktiv und so schrullig,<br />
dass ihn die Weltvereinigung aller Nerds einstimmig<br />
zu ihrem Vorsitzenden wählen würde.<br />
Jetzt ist Zweck optimismus gefragt … Regisseur<br />
William Clift begibt sich mit seiner<br />
schwulen Heiratskomödie, die auch als kritischer<br />
Kommentar zum zeitgleich mit Obamas<br />
Wahlsieg vollzogenen kalikornischen Rollback<br />
in Sachen Homoehe zu verstehen ist, eindeutig<br />
auf das Gebiet des Trash, wo man sich<br />
fast alles herausnehmen kann. Das Wenige,<br />
das man sich nicht herausnehmen darf, was<br />
sich dieser Film aber leider nicht verkneift, besteht<br />
− erstens − darin, sich nicht genug herauszunehmen,<br />
also zu wenig absurd, überdreht<br />
und geschmacklos daherzukommen.<br />
Zweitens verträgt ein Trash-Machwerk weder<br />
Sentimentalität noch vernunftbegabte, ganz<br />
42<br />
„normal“ agierende Charaktere, die hier einmal<br />
mehr lesbisch sein müssen. Und drittens<br />
reicht es nicht, sich eine Woody-Allen-Brille<br />
auf die Nase zu setzten, um auf so witzige Weise<br />
tollpatschig zu wirken wie Besagter in seinen<br />
frühen Slapstick-Komödien. Matthew<br />
Montgomerys Darstellung lässt zuweilen sogar<br />
an die mütterliche Ermahnung „Darüber<br />
lacht man nicht!“ erinnern. Zu lachen gibt es<br />
zwar manchmal schon etwas, aber eindeutig<br />
zu wenig für einen lustigen DVD-Abend. cm<br />
dIe MIssIoN<br />
uSA 2009, regie: Peter Bratt, Pro-Fun Media<br />
Die Mission ist eine Familienangelegenheit:Hollywoodstar<br />
Benjamin Bratt<br />
spielt die Hauptrolle in einem<br />
Film, den sein Bruder<br />
Peter geschrieben und als<br />
Regisseur betreut hat. Das<br />
ist keine Gefälligkeit unter<br />
Geschwistern, sondern<br />
ein geschickter Karriereschritt auf beiden Seiten.<br />
Benjamin kann als Raubein, das im Hispanic-Viertel<br />
von San Francisco einen schwulen<br />
Sohn großziehen und dabei seine eigenen Vorurteile<br />
überwinden muss, eine Glanzleistung<br />
abliefern, die ihm viel mehr abverlangt als sein<br />
schönes Gesicht – und Peter hat einen großen<br />
Namen über dem Titel. Der Film ist das feinfühlige<br />
Porträt einer gespaltenen Figur und eine<br />
Studie darüber, wie weit sich eine in Machismo<br />
getränkte Kultur von ihren Wurzeln entfernen<br />
kann, ohne in der Luft zu hängen. Die Antwort<br />
lautet: sehr weit, aber langsam. Fein beobachtet,<br />
noch besser geschrieben und brillant gespielt:<br />
Mehr kann man von einem Film nicht<br />
wollen. Dass Die Mission daneben stellenweise<br />
auch noch sehr witzig und hochgradig unterhaltsam<br />
ist, sind feine Zugaben. ps<br />
PrIVaTe roMeo<br />
uS 2010, regie: Alan Brown, Edition Salzgeber<br />
Private Romeo liebt Private<br />
Juliet – quatsch: Private<br />
Glenn. Die größte<br />
Liebesgeschichte aller<br />
Zeiten in schwul, unter<br />
Soldaten und im Originaltext<br />
von Shakespeare. „Du<br />
bist in diesem verlassenen<br />
Militärstützpunkt gefangen<br />
und außer ein paar merkwürdig poetisch<br />
veranlagten Soldaten gibt es da auch nicht viel.<br />
Aber trotzdem wäre ich jetzt gerne bei dir und<br />
würde dafür auch Shakespeare auswendig lernen.<br />
Das machen diese merkwürdig poetisch<br />
veranlagten Soldaten ja auch die ganze Zeit.<br />
Die habe ich echt falsch eingeschätzt. Sitzen da<br />
wie die letzten Macker in diesem Army-Klassenzimmer<br />
und zitieren fleißig aus Reclam-<br />
heftchen, oder wie die bei euch in den Staaten<br />
heißen. ‚Reclaim‘-Heftchen vielleicht. Reclaim<br />
the classics – Erobere die Klassiker zurück.<br />
Naja, egal. Erst sitzen sie da wie die Obermachos<br />
und plötzlich wird der ganze Stützpunkt<br />
zur magischen Bühne und du natürlich in der<br />
Mitte.“ (Tobias Rauscher in SISSY 3/2011)<br />
gIgoLa<br />
Fr 2010, regie: Laure Charpentier, Pro-Fun Media<br />
Laure Charpentiers<br />
schwelgerische Ode an die<br />
Pariser Garçonnes der<br />
frühen 60er Jahre beruht<br />
auf ihrem eigenen Roman<br />
– und auf ihren eigenen<br />
Erinnerungen. „Es gibt<br />
Momente von ungeheuerer<br />
Kälte und verstörender<br />
Härte in Gigola. Wenn Georges zum ersten Mal<br />
der reichen Odette begegnet, sich ihr anbietet<br />
und sie dabei zugleich unterwirft, ist ihr Triumph<br />
und Odettes Niederlage schon beim ersten<br />
Tanz besiegelt – Camillo Felgen singt ‚Sag<br />
warum‘ und erzählt dabei eben auch von der<br />
unendlichen Einsamkeit der älteren Frau. Wie<br />
das ‚Ich‘ des Lieds stürzt auch sie durch die Liebe<br />
in eine noch tiefere Einsamkeit. Sie verfällt<br />
Gigola und wird sie nie besitzen … sag warum.<br />
Aber selbst eine Antwort auf diese Frage wäre<br />
kein Trost. Die Liebe und das Begehren treiben<br />
alle Figuren Laure Charpentiers an, aber Erfüllung<br />
oder gar Erlösung findet keine von ihnen.<br />
Die Nacht ist und bleibt die einzige Antwort. Sie<br />
ist die Zeit des Dahin-Treibens, des Vergessens,<br />
der Lust und der Schönheit.“ (Sascha Westphal<br />
in SISSY 3/2011)<br />
MeIN soMMer MIT MarIo<br />
Ar/Fr/ES 2009, regie: julia Solomonoff, GMFilms<br />
Es ist der Sommer der Abschiede<br />
und Neuanfänge,<br />
des Erwachsenwerdens,<br />
der Emanzipation. Zwischen<br />
Mario und Jorgelina<br />
entsteht einen Urlaubsfreundschaft<br />
in der<br />
argentinischen Pampa: Sie<br />
reiten, baden an schlammigen<br />
Flussufern, sammeln Schlangenhäute.<br />
Doch was so unbeschwert aussieht, hat viel zu<br />
unterschiedliche Voraussetzungen: Jorgelina<br />
ist eine etwas verwöhnte Arzttochter, die das<br />
Problem hat, dass ihre Schwester jetzt mehr an<br />
Jungs interessiert ist als daran, mit dem kleinen<br />
„Tomboy“ zu spielen. Mario dagegen ist das<br />
Kind von Farmarbeitern, der die Schule schmeißen<br />
musste, um seinem Vater zu helfen, ein von<br />
den anderen Jungs argwöhnisch beobachtetes<br />
Reitertalent. Als Jorgelina entdeckt, dass mit<br />
Marios Körper ähnliche Dinge ablaufen wie bei<br />
ihrer Schwester, greift sie zum Anatomiebuch<br />
ihres Vaters und deckt ein gut gehütetes Geheimnis<br />
auf. Ihr Vater, der Arzt, drängt auf<br />
Klarheit. Die Menschen vom Land regeln das<br />
pragmatisch. Jorgelina hört auf ihre Gefühle<br />
und wird dadurch erwachsen.<br />
Feinfühlig erzählt das der Film, etwas hastig<br />
vielleicht und sehr problemfixiert, womit den<br />
jungen Darsteller etwas zu viel aufgebürdet<br />
wird. Seit XXY ist das Intersexualitätsthema<br />
im argentinischen Kino etabliert. Problematisiert<br />
werden sollten aber vielleicht eher die<br />
‚normalen‘ Männlichkeitskonzepte. Mario jedenfalls,<br />
der ein Pferderennen gewinnen soll,<br />
um zu zeigen, dass er ein Mann ist, macht das<br />
mit links und reitet dann noch ein Stück weiter.<br />
Hier würde auch mal ein Film anfangen. jk<br />
KLeINe WaHre LÜgeN<br />
Fr 2010, regie: Guillaume Canet, universal<br />
Sommerurlaub mit Freunden<br />
in einem schwierigen<br />
Alter (Mitte 30). Einer ist<br />
darunter, der einem anderen<br />
nach vielen Jahren<br />
plötzlich die Liebe gesteht.<br />
Für den bourgeoisen Reigen<br />
wohlhabender Franzosen<br />
in der Lebenskrise<br />
ist Schwulsein eine ernsthafte Überforderung.<br />
„Gemeinsam mit einigen der angesagtesten<br />
Darsteller des aktuellen fran zö sischen Kinos<br />
gelingt es Schauspieler-Regisseur Guillaume<br />
Canet mit seiner dritten Regie-Arbeit, dem strapazierten<br />
Begriff der Tragi komödie insofern<br />
eindrucksvoll gerecht zu werden, als man an<br />
vielen Stellen nicht mehr weiß, ob man noch lachen<br />
kann oder schon weinen möchte. Der überdies<br />
meisterlich fotografierte und erklärtermaßen<br />
an Erfolge wie Lawrence Kasdans Der<br />
große Frust und Kenneth Branaghs Peter’s<br />
Friends anknüpfende Film avancierte in Frank-<br />
reich mit mehr als 5,3 Mio. Besuchern zum<br />
zweiterfolgreichsten des Kinojahres 2010.“<br />
(Christoph Meyring in SISSY 2/2011).<br />
THe oNe − MeINe WaHre LIeBe<br />
uS 2011, regie: Caytha jentis, Pro-Fun Media<br />
Wir freuen uns auf Euch!<br />
Der New Yorker Tommy,<br />
von Beruf − richtig geraten!<br />
− Anwalt, trifft seinen<br />
Jugendfreund David<br />
− ganz genau: Typ athletisch<br />
gebauter Kapitän irgendeiner<br />
High-School-<br />
Mannschaft aus gutem<br />
Hause − zufällig wieder<br />
und verbringt mit ihm eine Liebesnacht. David<br />
ist aber − schon wieder richtig geraten! − „eigentlich<br />
hetero“ und will in Kürze − volle<br />
Punktzahl erreicht! − seine Verlobte Jen ehelichen,<br />
was er aus Pflichtgefühl und Familienrücksichten<br />
dann auch tut. Die Frage, ob das<br />
wohl gut gehen kann, zählt nun nicht mehr<br />
zum Ratespiel, da offensichtlich von rhetorischer<br />
Natur. Der Rest − „Ich bin schwanger“,<br />
„Liebst du ihn?“, „Wie konntest du mir das antun“<br />
− ist dementsprechend vorprogrammiert.<br />
Wer nun schon angesichts dieser preisgünstigen,<br />
weil mithilfe des inneren Klischeebaukastens<br />
für US-amerikanisches Mainstream-Gay-<br />
Kino weitgehend selbständig zu montierenden<br />
Inhaltsangabe meint, diesen Film so oder so<br />
ähnlich bereits dreißigmal gesehen zu haben,<br />
wird in dieser Empfindung aufs Eindrucksvollste<br />
bestärkt, wenn er der wunderlichen Caprice<br />
nachgeben sollte, sich ihn tatsächlich<br />
anzusehen. Denn die Dialoge lassen sich nicht<br />
nur mühelos mitsprechen, auch der Tonfall, in<br />
dem sie vorgebracht werden, und die Mimik,<br />
die sie begleitet, verschaffen dem geschulten<br />
Zuschauer das behagliche Gefühl jahrzehntelanger<br />
Vertrautheit. Von daher ist The One aus<br />
voller Überzeugung, ohne Einschränkung und<br />
mit Nachdruck zu empfehlen − und zwar all<br />
denjenigen, die bereits kleinsten Überraschungen<br />
mit tiefer Abscheu begegnen und Malen<br />
nach Zahlen für ein Hochamt künstlerischer<br />
Kreativität halten. cm<br />
VIer WeITere JaHre −<br />
WaHLKaMPf ’MaL aNders<br />
S 2010, regie: Tova Magnusson-Norling, Pro-Fun Media<br />
„Viel los am rechten Flügel?“<br />
− „Und selbst, wie<br />
geht’s in der Regierung?“<br />
Mit diesen Sätzen beginnt<br />
eine belanglose erste<br />
Fahrstuhlplauderei zwischen<br />
zwei politischen<br />
Gegnern, nämlich dem offen<br />
schwulen Sozialdemokraten<br />
Martin Kovac und dem konservativen<br />
David Holst, der soeben die Ernennung zum<br />
schwedischer Ministerpräsidenten in letzter<br />
Minute verpasst hat. Gut so, denn David verbirgt<br />
hinter der Maske des aalglatten Berufspolitikers<br />
eine schlaffe Marionette, die mehr oder<br />
weniger willenlos an den Fäden seiner ehrgeizigen<br />
Ehefrau und seines persönlichen Referenten<br />
über das glitschige Parkett des Parlamentsbetriebes<br />
gelotst und von ihnen<br />
pünktlich mit Vorlagen, Reden und den aktuell<br />
opportunen Meinungen versorgt wird. Nach<br />
seinem Wahldebakel agiert David noch lustloser<br />
als sonst. Allein für den frechen Sozi Martin,<br />
der ihm in der Parlamentskantine zufällig<br />
wieder über den Weg läuft, zeigt er ein bald<br />
schon auffälliges Interesse. Und der andere −<br />
überraschender Weise − auch für ihn …<br />
Tova Magnusson-Norlings Screwball-Komödie<br />
überrascht ebenso − und zwar durch eine<br />
hochprofessionelle, temporeiche Erzählweise,<br />
durch ein wirklich witziges Drehbuch und<br />
Unser Paradies von Gaël Morel · Sharayet – Eine Liebe<br />
in Teheran von Maryam Keshavarz · Noordzee, Texas<br />
von Bavo Defurne · Tomboy von Céline Sciamma ·<br />
Longhorns von David Lewis · Jamie uns Jessie sind<br />
nicht zusammen von Wendy Jo Carlton<br />
Mit freundlicher<br />
Unterstütung durch<br />
www.L-Filmnacht.de<br />
43<br />
www.Gay-Filmnacht.de
frisch ausgepackt<br />
durch wunderbare Hauptdarsteller, die den<br />
Wortwitz mit staubtrockener Lakonie auch<br />
zünden lassen − und außerdem einmal nicht<br />
aussehen wie im Sportstudio geformte Marzipanschweinchen.<br />
Vor allem Björn Kjellman<br />
versteht es, so verzweifelt-melancholisch<br />
dreinzublicken, sich so lustvoll im eigenen Unglück<br />
zu suhlen, sich zuweilen so linkisch daneben<br />
zu benehmen und dann wieder einen so<br />
kindlich-anrührenden Charme zu versprühen,<br />
dass man ihm bis zum Ende gerne dabei zusieht.<br />
Und an diesem Ende verzichtet der Film<br />
wohltuender Weise darauf, schließlich doch<br />
noch in Sentimentalität abzugleiten, sondern<br />
präsentiert eine schöne Schlusspointe. cm<br />
raBBIT HoLe<br />
uS 2010, regie: john Cameron Mitchell, Ascot Elite<br />
Things ain’t nice anymore.<br />
Der vierjährige Sohn von<br />
Becca und Howie ist bei<br />
einem Unfall ums Leben<br />
gekommen und sie kommen<br />
nicht darüber hinweg.<br />
Das ist eigentlich alles,<br />
was der Film erzählen<br />
will. Ein Schwebezustand<br />
um eine Leerstelle herum, mit kleinen Fluchten,<br />
unvermeidbaren Diskussionen, hilflosen Entscheidungen.<br />
Es trifft einen Mr. und eine Mrs.<br />
Perfect, weiß, intellektuell, gutaussehend, deren<br />
Vororttraum eines selbstgemachten Glücks<br />
mit einem Schlag ausgeträumt ist. Aber der Film<br />
denunziert sie nicht, er hat Mitleid mit ihnen.<br />
Wie überhaupt jede Figur hier zu ihrem Recht<br />
kommt, menschlich zu sein, auch in den kleinsten<br />
Nebenrollen. Das also ist der langerwartete<br />
neue Film von John Cameron Mitchell, der sich<br />
in Hedwig And The Angry Inch und Shortbus<br />
eher für Alternativen zu dieser Welt interessiert<br />
hatte. Man mag trotzdem in der Art und Weise,<br />
wie Mitchell hier den Finger auf die verwundete<br />
Normalität legt, eine Handschrift erkennen. Realistischerweise<br />
muss man den Film aber als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme<br />
für einen talentierten<br />
Hollywood-Außenseiter sehen: ein<br />
Auftrag von Nicole Kidman (mach mir eine Oscar-Rolle<br />
– was auch beinahe geklappt hätte),<br />
ein pulitzerpreisgekröntes Theaterstück, das<br />
der Autor selbst umgeschrieben hat, eine gut<br />
ausgestattete Produktion von Fox Searchlight.<br />
Und doch stimmt alles an diesem Film: Nicole<br />
Kidman ist großartig, die Dialoge auch, jedes<br />
Bild sitzt. Und das alles, um das schwarze Loch<br />
einer Traurigkeit einzufangen, aus dem es keinen<br />
Ausweg gibt. Traurige Filme erscheinen<br />
hierzulande auf DVD und kommen gar nicht<br />
erst ins Kino. Die Parallelwelt, die Beccas jugendlicher<br />
Freund im Film in seine Comics<br />
zeichnet, ist den Bedürfnissen des deutschen<br />
Kinopulikums offensichtlich sehr ähnlich: „Irgendwo<br />
da draußen existieren andere Versionen<br />
von uns, die nicht traurig sind.“ jk<br />
44<br />
ÜBerLeBeN IN NeW yorK<br />
NeW yorK MeMorIes<br />
dIe JuNgs VoM BaHNHof Zoo<br />
DE 1989/2010/2011, regie: rosa von Praunheim, basis dvd<br />
Die dokumentarische<br />
Methode Rosa von Praunheims<br />
ist nichts für Feingeister:<br />
Hektisch geschnitten<br />
sind diese<br />
Filme, plakativ bebildert,<br />
laut in der Wahl von Orten,<br />
Szenen und Protagonisten,<br />
mit einer manchmal<br />
ehrlichen, manchmal eitlen Anwesenheit<br />
des Regisseurs in ihnen, das Ganze ungeheuer<br />
produktiv herausgehauen, mindestens ein<br />
Film pro Jahr, fast schon in fassbinderschen<br />
Dimensionen. Das hat Vor- und Nachteile –<br />
führt aber auch, was die einzelnen Filme angeht,<br />
zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen.<br />
Einzigartig ist das Projekt, das dahintersteht:<br />
eine oft schwule, manchmal tatsächlich queere<br />
filmische Geschichtsschreibung über Erinnerungen,<br />
Sichtweisen und Menschen, die im<br />
‚offiziellen‘ Bewusstsein nicht dazu gehören,<br />
oder nicht „so“ dazugehören, wie Praunheim<br />
sie zeigt. Überleben und Erinnern sind die beiden<br />
Achsen dieses Konzepts. Überleben als alleinstehende<br />
deutsche Frau in New York während<br />
der Hochphase von Crack. Oder als Junge<br />
auf dem Berliner Strich. Erinnern an queere<br />
Kämpfe, wilde Zeiten, die eigene Jugend, an<br />
vergessene Stars. Ob das einen eigenen Drive<br />
kriegt, hängt vor allem von den Protagonisten<br />
ab, die Praunheim findet: Seine drei Frauen in<br />
New York sind nach wie vor unschlagbar, auch<br />
als Wiedergefundene im NY-Erinnerungsfilm.<br />
Ihre fremden Perspektiven, ihre ganz unterschiedlichen<br />
Strategien verbinden sich in Rosas<br />
Erfolgsfilm von 1989 mit der experimentellen<br />
Jazzmusik und den grenzgenialen Bildern<br />
des jungen Kameramanns Jeff Preiss zu einem<br />
atmosphärischen Gewebe, das einer Stadt,<br />
aber auch den Protagonistinnen in jedem Moment<br />
gerecht wird. Das gelingt in anderen Filmen<br />
nicht immer – den Berliner Strichern<br />
kommt man nicht nah, weil sie gar nicht genug<br />
Raum bekommen, weil ihre Geschichten von<br />
Initiativen und Hilfsprojekten vermittelt bzw.<br />
in den Film eingespeist werden, weil den Roma-Jungs<br />
sogar das Wort entzogen und durch<br />
eine Übersetzerstimme ersetzt wird. Und<br />
nicht alle Protagonisten in den eher persönlichen<br />
Filmen haben wirklich etwas zu sagen<br />
(die nervigen Geschwister Pohl im Memories-<br />
Film z.b., die wohl jede Kamera nehmen, die<br />
sie kriegen), manchmal auch er selbst nicht.<br />
Wie das Ganze zusammengeschnitten wird,<br />
ist oft bestürzend wirr und planlos – was<br />
manchmal passt (zur komplexen Recherche in<br />
Meine Mütter z.b., in der ja selbst irgendwann<br />
der Überblick verloren geht), manchmal aber<br />
auch schade ist, vor allem, wenn Menschen<br />
nur noch auf einzelne Statements reduziert<br />
werden wie die Berliner Stricher.<br />
Trotzdem wird man und muss man auf jeden<br />
neuen Praunheimfilm gespannt bleiben.<br />
So viele FilmemacherInnen gibt es nicht, die<br />
konsequent ‚unsere‘ Geschichte(n) erzählen.<br />
Vielleicht bräuchten die Projekte im Einzelnen<br />
mehr Zeit, um in die Tiefe zu gehen. Aber das<br />
könnten ja auch mal andere machen. Der Punk<br />
der schnellen Praunheimproduktionen steht<br />
für sich. jk<br />
VeruscHKa – INsZeNIeruNg<br />
(M)eINes KÖrPers<br />
DE 2005/11, regie: Paul Morissey & Bernd Böhm, Missing-<br />
Films / PF Media<br />
Wie üblich macht Vera<br />
von Lehndorff alles selbst.<br />
Auch den Veruschka-Karriererückblick.<br />
Dass der<br />
seit den 1970ern in die Obskurität<br />
gerutschte Paul<br />
Morissey (Flesh usw.) hier<br />
als Regisseur firmiert,<br />
darf nicht darüber hinwegtäuschen,<br />
dass das „erste deutsche Topmodel“,<br />
die „schönste Frau der Welt“ (Richard<br />
Avedon), die große Verwandlungskünstlerin<br />
hier selbst alles geschrieben, vorgelesen, erzählt<br />
hat, was sie zum Thema „Ich“ für relevant<br />
hält. Nichts Privates natürlich, sondern<br />
Prinzipien, Tricks, Werkberichte einer Künstlerin,<br />
die mit ihren vielen Identitäten spielt,<br />
wie sie lustig ist. Obwohl … lustig ist sie eigentlich<br />
nicht. Wenn sie ein Kinderfoto zeigt, sagt<br />
sie dazu: „Arischer Babyspeck im Schloss“.<br />
Ihre Model-Tätigkeit war für sie „Kleiderständer<br />
sein“. Und sie gibt nur zögerlich zu:<br />
„Manchmal war auch ich ein Fan von Veruschka<br />
– manchmal …“<br />
Ein toller und verrückter Bilderbogen ist das<br />
hier, von einem Musikteppich zugedeckt wie<br />
eine Modenschau, von der knarzenden Stimme<br />
der Erzählerin angetrieben. Die tausend<br />
Verwandlungen der Vera von L. nehmen einem<br />
ohnehin den Atem, diese 1,83m „Storchensalat“<br />
(Spitzname als Kind) mit Big Hair und<br />
Bodypaint, dessen Leitmotiv laut Susan Sontag<br />
war, „das Selbst in der Welt aufzulösen“. Kein<br />
Wunder, wenn man schon als Kind Model für<br />
Nazi-Inszenierungen war, wenn die Mutter<br />
die Rechnung für die Hinrichtung des Vaters<br />
bekam, wenn man in Sippenhaft genommen<br />
und vertrieben wurde, nie nur ein Körper, sondern<br />
Künstlerin war, in Deutschland aber vorzugsweise<br />
als „die nackte Gräfin“ bezeichnet<br />
wurde. Gerne hätte man mehr über Jet, ihren<br />
afghanischen Windhund erfahren. Oder ob sie<br />
noch andere Affären hatte als mit den vielen<br />
Kameras. Aber als Lehrstunde in Stil & Queerness<br />
reicht das. jk<br />
s Immer, wenn man Bernhard Reuther als<br />
Print-Journalist gegenübersitzt, ist man auf<br />
eine Art froh, nicht beim Hörfunk oder Fernsehen<br />
zu arbeiten. Denn er ist ein Zurückhaltender<br />
seiner Zunft, ja fast schon ein Stiller.<br />
Einer, der es partout nicht mag, sich zu produzieren.<br />
Der das gar nicht kann. Und das,<br />
wer wüsste es nicht, ist wunderbar! Wäre er<br />
anders, hätte er alles, nur nicht seit über zwölf<br />
Jahren ein kleines Kino im Osten von Dresden.<br />
Das k.i.d steht für „kino im dach“ – es ist<br />
Bernhard Reuthers kid.<br />
Reuther ist Dresdner, geboren in der Elbestadt,<br />
die eine einzigartige Infrastruktur in<br />
Sachen Kino aufzuweisen hat. 18 Spielstätten<br />
für 510.000 Einwohner gibt es hier, 55<br />
Säle mit über 10.000 Sitzen. Auch Bernhard<br />
Reuther freilich sieht „seine“ 98 am liebsten<br />
besetzt oder zumindest gut gefüllt. „Für<br />
den Zuschauer“, so der 33-Jährige, „kann<br />
es eigentlich nichts Besseres geben, als in<br />
einer solchen Stadt zu leben.“ Das bedeutet<br />
zudem ein nachgerade üppiges Angebot im<br />
Arthaus-Sektor, das über Jahre hinweg stabil<br />
und selbstredend umkämpft ist. Trotz einer<br />
erstaunlich grundsolidarischen Haltung der<br />
Betreiber untereinander.<br />
Reuther als Ein-Saal-Chef am Stadtrand<br />
bekommt seit jeher den rauen Wind der Branche<br />
zu spüren. Jammern aber hört ihn keiner.<br />
Denn seine Meinung, dass „es immer wieder<br />
kleine Filme geben wird, für die es sich zu<br />
kämpfen lohnt“, ist keine Attitüde, sondern<br />
Überzeugung.<br />
Oft spricht er dabei von der Balance, die<br />
es im Programm zu finden gilt. Bernhard<br />
Reuther balanciert seit 1999 im obersten<br />
Stockwerk eines Gebäudes, das von der Stadt<br />
als „Medienkulturhaus“ aufgebaut wurde<br />
und Initiativen, Vereine, Firmen dieser Richtung<br />
beherbergt. Er balanciert vor allem auch<br />
für „50 oder 80 glückliche Besucher in der<br />
Woche bei schwierigen oder eigenwilligen<br />
Filmen“. Dokumentarfilme gehören immer<br />
wieder dazu, sind gar zu einem inhaltlichen<br />
Schwerpunkt geworden. Ebenso Nachwuchsproduktionen<br />
und kleine, eher vernachlässigte<br />
deutsche Erstaufführungen, darunter –<br />
aus reinem Selbstverständnis – jene aus dem<br />
schwul-lesbischen Bereich. Reuther hat sie<br />
Bernhard The Kid<br />
von anDreaS körner<br />
Dresdens erste Kinoadresse für nicht-heterosexuelle und auch sonst besondere<br />
‚kleine‘ Filme ist das „Kino im Dach“ (k.i.d), das Bernhard reuther seit 1999 mit<br />
großer Leidenschaft führt. Für diese Leidenschaft bekam er im rahmen der Berlinale<br />
2012 den Manfred-Salzgeber-Preis.<br />
seit jeher ins Programm integriert, er braucht<br />
dafür keine ausgestellte Themenreihe oder<br />
ein „Extra“ wie die Konkurrenz. Er macht<br />
daraus gleich gar kein „Event“, was ihm, einer<br />
zwielichtigen Zeitströmung folgend, vielleicht<br />
sogar mehr Gäste bringen würde. Doch,<br />
will er das wirklich? Auf diese Weise?<br />
Jeder, der Bernhard Reuther kennt, weiß<br />
um die Antwort und seine Sehnsucht nach<br />
echten Überraschungen, wie es in den letzten<br />
Jahren Filme wie Kinshasa Symphony,<br />
Rubljovka – Straße zur Glückseligkeit, Die<br />
Frau mit den 5 Elefanten oder Kaboom gewesen<br />
sind. Dafür lohnt sich jedes Detail seiner<br />
Arbeit, die bei einem Kino dieser Größe und<br />
Stellung streng personenbezogen ist, immer<br />
den selbstausbeuterischen Aspekt der freien<br />
Szene in sich trägt, aber eben auch – und so<br />
unendlich hoch im Wert – die Silbe „frei“.<br />
Reuther will die Reaktionen der Besucher<br />
sehen und spüren, an 80 Prozent der Abende<br />
im Jahr ist er selbst im k.i.d. Wo sonst? Film<br />
war immer für ihn wichtig. In den bewegten<br />
90ern war er eine Art Springer beim „Filmfest<br />
Dresden“, aus dem längst das Internationale<br />
Festival für Animations- und Trickfilm<br />
gewachsen ist. Die Chance einer Spielstätte<br />
profil<br />
im Eigenbetrieb war zugleich eine Herausforderung,<br />
denn die altdeutsche Idee eines kommunalen<br />
Kinos wurde aus guten Gründen<br />
für Dresden sehr zeitig begraben. Und: „Zauberland“<br />
heißt Reuthers eigener Filmverleih,<br />
den er in besseren Zeiten gegründet und dort<br />
kleine Feine wie SommerHundeSöhne, Wir,<br />
Jena Paradies oder Jagdhunde herausgebracht<br />
hat. Doch er weiß auch genau, wann er Nein<br />
sagen muss. Das traut man ihm gar nicht zu …<br />
Eigene Rechnung – eigenes Risiko –<br />
eigene Freude. Seit 1999 ging es im k.i.d um<br />
über 1.000 Filme, über 9.000 Vorstellungen<br />
für über 170.000 Besucher. Es ging nicht<br />
um Programmpreise von Institutionen, die<br />
Bernhard Reuther natürlich bekommen hat.<br />
Es geht sicher auch nicht um den „Manfred-<br />
Salzgeber-Preis“, der ihm gerade verliehen<br />
wurde. Nie vordergründig. Und doch sieht<br />
man Reuther an, wenn er sich darüber freut.<br />
„Zähne zusammenbeißen und durch!“.<br />
So treibt er sich selbst an, wenn es Durststrecken<br />
gibt. Man glaubt, er würde es nur<br />
flüstern … s<br />
Kino im Dach, Schandauer Str. 64, Dresden<br />
www.kino-im-dach.de<br />
45<br />
BLEND3/FrANK GräTZ
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Autoren Thomas Abeltshauser, Biru David Binder, Richard Garay, Fritz Göttler, Jan<br />
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