Biofeedback und Elektrostimulation in der Therapie der - neurotech

Biofeedback und Elektrostimulation in
der Therapie der Beckenbodenschwäche
Elektrostimulation und EMG-gestützte Biofeedbacktrainer in der Beckenbodentherapie
Interdisziplinäres Expertentreffen zur konservativen, nicht-medikamentösen Therapie der Beckenboden-
Dysfunktion und Inkontinenz am 15./16. Januar 2010 in Frankfurt/Main.
R. Lange, G. Naumann, W. Theurer, T. Hagemeier, E. Heßdörfer, D. Marschall-Kehrel, D. Adler-Koch,
K. Saulheimer
Die Effizienz von Physiotherapie in der Behandlung
der Harninkontinenz ist hinreichend belegt (Cochrane-
Analyse). Während in praxi Reizstrom- und/oder
Biofeedbackgeräte von vielen Experten bei Problemen
der Beckenbodenmuskulatur primär und erfolgreich
eingesetzt werden, wird der zusätzliche Benefit dieser
Verfahren in der Literatur uneinheitlich gesehen. Der
MDK schlägt oft erst die alleinige Therapie mit
Beckenbodengymnastik ohne unterstützendes Gerät
vor. Ziel dieses Expertenmeetings war es, einen
Konsensus zu finden, in welchen Fällen Reizstromoder
Biofeedbackgeräte rezeptiert werden sollten.
Idealerweise wird die Behandlung von Patienten mit
Harn- und Stuhlinkontinenz von spezialisierten Physiotherapeuten
begleitet. Je nach Beckenbodenbefund und
Motivation, Zeit und Intellekt der Patienten kann ein
reines Elektrostimulationsgerät zur Wahrnehmungsschulung
und Aktivierung der Beckenbodenmuskulatur
eingesetzt werden. Bei schwachem bzw. mäßigem
Beckenbodenkontraktionsbefund ist auch ein kombiniertes
Reizstrom-/Biofeedbackgerät sinnvoll. Je besser die
Kontraktionsfähigkeit des Beckenbodenmuskels, desto
eher ist der Einsatz von Biofeedbackgeräten indiziert. Wo
keine Physiotherapie mit Spezialisierung in die Therapie
eingebunden werden kann, sind Arzt und ggf. entsprechend
weitergebildetes Praxispersonal verstärkt gefragt.
Diagnostik der Funktionalität der
Beckenbodenmuskulatur
Erforderlich und berechtigt von manchen Kassen gefordert
ist die differenzierte Diagnostik der Kontraktilität
der Beckenbodenmuskulatur. Hier stehen dem Gynäkologen/Urologen
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· neben der Tastuntersuchung
· die Darstellung der Cranioanteversionsbewegung des
Blasenhalses in der Perinealsonographie
· und das Vaginal-EMG zur Verfügung, dessen Summationspotential
ein gutes Kriterium für die Anzahl der
kontraktilen Fibrillen des Levators ist. Voraussetzung
hierfür ist die Kontrolle, dass keine Umgebungsmuskulatur
angespannt wird.
Leider können die Messwerte unterschiedlicher Geräte
nicht verglichen werden, da die Hersteller unterschiedliche
Skalierungen verwenden.
Neuere Studien konnten zeigen, dass die Hypofunktionalität
der Beckenbodenmuskulatur nicht durch Schwangerschaft
und Partus akquiriert, sondern eher angeboren
ist. Die Beckenbodengymnastik ist also in erster Linie
keine Reedukation sondern das Erlernen bisher nicht
oder nur schwach gekonnter Kontraktionen. Hier kann
Elektrostimulation nicht nur die Aktivierung der Beckenbodenmuskulatur,
sondern v.a. eine Wahrnehmungsschulung
bewirken. Anschließendes Biofeedback-gestütztes
Training sorgt dafür, dass die „neu lokalisierten“ Muskelgruppen
funktional richtig kontrahiert werden.
Aufgabe der Physiotherapie ist nicht nur die Kontraktilität
der Beckenbodenmuskulatur zu evaluieren sondern
festzustellen, ob diese korrekt in verschiedenen Belastungssituationen
angewandt wird. Erst durch diese
Untersuchung kann letztlich festgelegt werden, welches
zusätzliche Verfahren (Biofeedback/Elektrostimulation)
angewandt werden soll. Hieraus ergibt sich die Schlussfolgerung,
dass für die Beckenbodengymnastik nur eine
subspezialisierte Krankengymnastin geeignet ist. Entsprechende
Weiterbildungen werden von der AGGUP im
ZVK (Zentralverband Krankengymnastik) angeboten.

Elektrotherapie bei Belastungs-
inkontinenz
Die Effizienz von Pessartherapie bei der Belastungsinkontinenz
ist hinreichend belegt und wurde in die
Leitlinien der DGGG und der DGU aufgenommen. Unklar
ist der Nutzen weiterer medizinischer Hilfsmittel wie
Biofeedbackgeräte und Elektrostimulation des Beckenbodens.
Diese werden in der Literatur kontrovers diskutiert.
Dabei zeigen die meisten Arbeiten vier wesentliche Bias:
1. Die Kontraktionsfähigkeit der Beckenbodenmuskulatur
ist sehr unterschiedlich ausgeprägt. Die wenigsten
Arbeiten achten auf die Ausgangslage der Funktionalität
der Beckenbodenmuskulatur in den einzelnen,
meist kleinen Kollektiven.
2. Die Harninkontinenz ist eine multikausale Erkrankung,
die Funktionalität der Beckenbodenmuskulatur ist nur
eine von mehreren Faktoren und nicht der wesentlichste.
Trotzdem haben viele Studien als Endpunkt
die Reduktion der Harninkontinenz. Nur wenige
Autoren messen die Änderung der Muskelkontraktilität.
3. Im Gegensatz zu pharmakologischen Studien werden
in diesen Studien den Patientinnen physiotherapeutische
Übungen von einer Person gelehrt. Variablen
sind also die Methode und die Physiotherapeutin.
4. Beschrieben wurden nur Kontraktionsübungen. Aber
auch bei guter Funktionalität der Beckenbodenmuskulatur
gibt es Frauen, die die Beckenbodenmuskulatur
nicht richtig einsetzen, obwohl sie gut kontrahieren
können.
Um mit den gängigen Studiendesigns eine valide Aussage
treffen zu können wären große Kollektive notwendig.
Studien, die sowohl die Ausgangslage der Funktionalität
der Beckenbodenmuskulatur berücksichtigen und als
Endpunkte nicht nur die Harninkontinenzsymptomatik
sondern andere Symptome, insbesondere die Funktionalität
der Beckenbodenmuskulatur, haben, konnten zeigen,
dass die Physiotherapie bessere Ergebnisse bzgl. des
Miktionsverhaltens (Miktionsfrequenz) zeigt, Elektrostimulation
und Biofeedback aber die Kontraktilität mehr
fördern. Über die Hyperkontraktilität der Beckenbodenmuskulatur
wird in der Literatur extrem wenig berichtet.
Deshalb hat sich in praxi die Behandlung durch Physiotherapeutinnen
mit Zusatzqualifikation auf diesem
Gebiet in Kombination mit der begleitenden Anwendung
von Biofeedback- und Elektrostimulationsgeräten
bewährt.
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Die häufigste Form der Physiotherapie bei der Belastungsinkontinenz
ist in der BRD das Aushändigen von
Broschüren, in denen Übungen der Beckenbodenmuskulatur
angegeben werden. Viele dieser Broschüren lassen
vermuten, dass die Autoren noch nie die Funktionalität
der Beckenbodenmuskulatur untersucht, noch nie
vaginal exploriert haben. In der internationalen Literatur
konnte gezeigt werden, dass dieses unspezifische
Training einer professionellen Anleitung eindeutig
unterlegen ist und sogar z. T. schädigende Einflüsse auf
den Beckenboden hat.
Elektrotherapie bei überaktiver Blase
(OAB)
Die konservative, nicht medikamentöse Therapie der
überaktiven Blase umfasst Verhaltenstherapie, Elektrostimulation
bzw. Magnetfeldtherapie sowie Kontinenzhilfen.
Neben Lifestyleinterventionen (wie z. B. Trinkmengenanpassung)
und Blasentraining ist das Beckenbodentraining
ein wichtiger Bestandteil der Verhaltenstherapie; durch
willkürliche Kontraktion des Beckenbodens können
Detrusorkontraktionen gehemmt werden, wie Burgio
bereits 1985 anhand von Studien zeigen konnte. Mit Hilfe
richtig gemachter Beckenbodenkontraktionen ist es
möglich Strategien zur Unterdrückung bzw. Beherrschung
des Harndrangs zu lernen. Laut evidenzbasierter
Medizin (International Consultation on Incontinence ICI,
2008) ist Beckenbodentraining besser als keine Therapie,
Placebo oder eine nicht-aktive Kontrolltherapie in
der Therapie der überaktiven Blase. Desweiteren ist
Beckenbodentraining besser als Oxybutynin in der
First-line-Therapie der überaktiven Blase. Da mindestens
30% aller Frauen nicht in der Lage sind, ihren Beckenboden
richtig anzuspannen, reicht auch beim Blasentraining
eine schriftliche Anleitung zum Beckenbodentraining
ebensowenig aus wie eine Krankengymnastik ohne
vaginale Palpation. Eine zusätzliche Rückmeldung zur
Qualität der Muskelkontraktion – sei es mittels Trainingshilfe
oder Vaginal-EMG – ist für die Frauen hilfreich, da
damit der Therapieeffekt für die Patientin selbst kontrolliert
werden kann. Je nach Beckenbodenkontraktionskraft
ist für jeden Patienten ein individuelles Beckenbodenaufbauprogramm
aufzustellen (vgl. Kapitel
Elektrotherapie bei Belastungsinkontinenz).
Neben der Verhaltenstherapie ist bei der überaktiven
Blase als Alternative zur medikamentösen Therapie aber
auch eine vaginale Elektrostimulation als einfachste
Form der Neuromodulation ohne implantierbare Elektro-

den möglich. Hier hat sich laut ICI eine Frequenz von
4-10Hz 2x20 min pro Tag über 9-12 Wochen bewährt,
wobei die Stromstärke so hoch wie maximal tolerabel
eingestellt werden sollte. Bei gutem Ansprechen ist eine
Erhaltungstherapie sinnvoll. Die Therapieergebnisse sind
bei Frauen und Männern vergleichbar und gelten auch
für die Therapie der Mischinkontinenz.
Elektrotherapie bei Blasenentleerungsstörung
Die Häufigkeit und die Folgen von Blasenentleerungsstörungen
werden häufig unterschätzt. Neurogene Blasenentleerungsstörungen
(Blasenhals- und/oder Sphincter-
Detrusor-Dyssynergie) finden sich häufig bei Diabetes
mellitus (Cave: Auch bei leichten, diätetisch einstellbaren
Formen!). Die habituelle Form hat ihre Ursache in einer
Sphincter-Detrusor-Dyskoordination durch ein falsches
Miktionsverhalten im Kindesalter. Etwa 60% der enuretischen
Kinder haben eine Blasenentleerungsstörung. Die
(oft Jahrzehnte späteren) Folgen sind Staccatomiktion,
erhöhter Restharn mit rezidivierenden Harnwegsinfektionen,
sekundäre überaktive Blase, chronische Obstipation,
aber auch Pelvic Pain Syndrom.
In diesen Fällen hat sich die Therapie mit Biofeedback-
Trainern zur Relaxation der Beckenbodenmuskulatur
bestens bewährt. Häufig wird die Tatsache wenig beachtet,
dass viele Patientinnen (und Patienten!) mit Belastungsinkontinenz
kompensatorisch ihre Beckenbodenmuskulatur
permanent anspannen und daher zusätzlich
eine Blasenentleerungsstörung entwickeln. Bei Belastung
sind sie dann nicht mehr in der Lage, eine entsprechende
Kontraktionssteigerung hervorzubringen. Die üblicherweise
angewandte Beckenbodentherapie mit Anspannungsübungen
ist hier geradezu kontraindiziert. Dies
kann erst erfolgen, wenn die Patienten gelernt haben
ausreichend zu relaxieren.
Geräteanwendung
Die Anweisung im Gebrauch der Geräte sollte idealerweise
durch eine subspezialisierte Krankengymnastin
erfolgen. Auch speziell weitergebildetes Personal der
Arztpraxis kann diese Aufgabe zeitnah bei Diagnosestellung
übernehmen. Die Einweisung durch Mitarbeiter der
Vertriebsfirmen kann nur eine Notlösung sein, da
hierdurch lediglich die Kontraktilität und nicht die
komplexe Funktionalität der Beckenbodenmuskulatur
berücksichtigt wird. Es sollten in erster Linie Geräte zur
Heimanwendung rezeptiert werden. Einen Vorteil bieten
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Geräte, die die Anwendungen aufzeichnen, sodass eine
Supervision des Heimtrainings möglich ist.
Fazit
1. Die Physiotherapie muss dem komplexen pathophysiologischen
Geschehen der Inkontinenz durch Verhaltenstraining,
Verbesserung der Kontraktilität der
Beckenbodenmuskulatur und deren differenzierten
Anwendung in verschiedenen Alltagssituationen
gerecht werden.
2. Hierzu ist primär eine subtile Diagnostik der Funktionalität
der Beckenbodenmuskulatur durch den
behandelnden Gynäkologen/Urologen mittels Palpation,
Perinealsonographie und ggf. Vaginal-EMG nötig.
3. Neben einer vaginalen Evaluation muss die Krankengymnastin
den richtigen Einsatz der Beckenbodenmuskulatur
selbst durch vaginale Exploration diagnostizieren.
4. Biofeedback- und Elektrostimulationsgeräte sind eine
wertvolle Ergänzung der komplexen konservativen
Therapie der Inkontinenz und anderer Blasenentleerungsstörungen.
Sie haben sich in der Praxis bei
Hyper-, Hypo- und Akontraktilität der Beckenbodenmuskulatur
bewährt.
5. Bei normaler Kontraktionsfähigkeit der Beckenbodenmuskulatur
sind sie nicht indiziert.
6. Ob primär Biofeedback, Elektrostimulation oder eine
Kombination beider Therapien angewandt werden
sollte, kann am besten durch den behandelnden Arzt/
Physiotherapeuten entschieden werden.