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Hans Josephsohn - Zeit Kunstverlag

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<strong>Hans</strong><strong>Josephsohn</strong>6 72 Relief, ohne Titel, um 1999-2001Bronze73 x 79 x 34 cmKesselhaus <strong>Josephsohn</strong>, St. Gallen3 Halbfigur, 1990Bronze140 x 75 x 55 cmMuseum zu Allerheiligen, Schaffhausen4 Relief, ohne Titel (Figur und Kreuz), 2002Bronze63 x 62 x 24 cmKesselhaus <strong>Josephsohn</strong>, St. Gallen5 Halbfigur, ohne Titel, um 1991-1993Bronze136 x 84 x 46 cmKesselhaus <strong>Josephsohn</strong>, St. Gallen6 Relief, ohne Titel, um 2000Bronze59 x 56 x 19 cmKesselhaus <strong>Josephsohn</strong>, St. Gallen7 Relief, ohne Titel, um 1972Bronze75 x 57 x 20 cmAargauer Kunsthaus, Aarau8 Halbfigur, ohne Titel, um 1986Bronze124 x 67 x 45 cmKesselhaus <strong>Josephsohn</strong>, St. Gallen85


sich der junge Bildhauer langsam absetzt. In der zweiten Hälfteder 1940er Jahre reduziert er die Figur, bis sie geometrischeFormen annimmt, im Extremfall zur kantigen Stele wird und wieeine Reaktion auf die Durchsetzung der Abstraktion als universalerKunstsprache des Westens erscheint. Die behutsame,über viele Jahre andauernde Entwicklung zeigt jedoch, dassdieser Eindruck trügt. Die merkwürdige Mischung aus Geometrisierungder Volumen und Vermeidung einer korrekten Geometriezielt auf eine Zusammenfassung des Körpers, auf eine Konzentration,die, wenn überhaupt, einen Nachhall auf diefrühägyptische Skulptur in sich trägt.Reduzierte FigurViel näher als den Wendungen der internationalen Kunstentwicklungsteht die Reduktion der Figur dagegen den Reliefs, mitdenen <strong>Josephsohn</strong> ganz aus dem zeitgenössischen Kunstkontextheraustritt. Eine Sitzende liest ein Buch oder hält ein Kindauf dem Schoss. Mal befindet sich die Figur alleine im Reliefraum,mal hat sie Kommode und Spiegel als Gegenüber. Oderein Paar sitzt in prekärer Gemeinsamkeit an einem Tisch. Essind schlichte zwischenmenschliche Szenen, die durch die Reduktionder Gestaltung ihre Intensität gewinnen. Flächen werdenmit den Figuren in dialogische Verhältnisse und Balancengebracht. Eine Gruppe von teilweise sehr grossen Reliefs gibtmit Chiffren für Häuser, Vögel, Gefahrenpfeile und (teilweise tote)Menschen der allgemein spürbaren Angst vor einem Übergreifendes Koreakriegs auf Westeuropa sowie dem Aufatmennach dessen Beendigung Ausdruck und stellt eine singuläre Reaktiondes Bildhauers auf ein zeitgeschichliches Ereignis dar.Mit ihr kommt die Phase der Reduktion 1953 zu ihrem Ende.Bevor die gefundene Bildsprache ins Dekorative abrutscht undendlos vervielfältigbar wird, wendet <strong>Hans</strong> <strong>Josephsohn</strong> sich erneutder vollen Plastizität zu und schafft eine Reihe von bekleidetenFiguren. Zu ihnen zählt die überlebensgrosse Skulpturnach einem Arbeiter in zerbeulten Hosen, die einen Typus desgelassen und still Vereinzelten schafft, der ganz ohne existentialistischesPathos auskommt. 1959 beginnt <strong>Josephsohn</strong> damit,gestalterische Entwicklungen, die er in der freistehenden Plastikvollzogen hat, ins Relief umzusetzen.Dabei entwickelt <strong>Hans</strong> <strong>Josephsohn</strong> eine räumliche Bildspracheaus möglichst einfachen Elementen. Eine kleinere Figur ist unwichtigerals eine, die mehr Raum beansprucht, oder sie ist innerhalbeiner anderen Figur situiert; eine Person kann im selbenRelief mehrere Positionen einnehmen, ein Sockel erhöht jemanden,wie es auch der Volksmund weiss. Die Platte des Reliefssetzt die Grenzen der jeweiligen Welt, die gelegentlich überschrittenwerden. Wie die Akteure im Raum positioniert sind,formuliert ihr Verhältnis zueinander. Wer also näher beieinanderist, hat mehr miteinander zu tun; wer sich auf Augenhöhe befindet,tritt dem anderen auch so gegenüber; wer allein steht, istoder fühlt sich isoliert. Eine Figur, die angeschnitten am Randsteht, ist nicht ganz präsent, physisch und in ihrer Wirkung. Werwegschaut, wendet sich ab; es gibt Figuren, die handeln, solche,die schauen, und solche, die auf einem Relief beide Haltungeneinnehmen; ein Kopf am unteren Rand ist fast immer einBeobachter, der sich gerade noch in Bezug zum Geschehenbefindet. Eine Figur, die auf dem Kopf steht, hat getäuscht. Hatjemand wenig Platz, so ist sein Spielraum beengt, vielleichtdurch die Situation, weil architektonische Elemente, insbesonderehorizontale oder vertikale Balken, einen Gutteil der Flächein Anspruch nehmen, vielleicht von Figuren, die grösser sindoder den Raum abschneiden. Und wenn es ganz eng wird, kannschon einmal eine quaderähnliche Form oder eine Art Pfeil aufjemandem lasten, wie er zuerst in den flachen Reliefs aus der<strong>Zeit</strong> des Koreakriegs Verwendung fand, oder eine Person kannsich unterhalb eines Balkens befinden, auf dem eine grosse Figursteht, wie auf einem ungegossenen Relief aus den spätensechziger Jahren. Allein eine solche Aufteilung des Raumsmacht die Last physisch spürbar, die der unten trägt, die Enge,die Luftnot, unter der er leidet, wie in einem Verliess, dessenDecke sich langsam herabsenkt. Wenn bei einer anderen Variantedieser Anordnung unten nurmehr der Kopf als runde Formzu sehen ist, hört man fast schon den Schädel splittern, wennein grosser Block sich auf die Liegende herabsenkt, die ihrerseitsauf diesem Kopfrund aufliegt. In einer Reihe kleinerer Formateerprobt <strong>Josephsohn</strong> ab 2002 das räumliche Vokabular ineinem Dialog aus Kreuz und einer Figur. In den Reliefs der letztenJahre gewinnen die Formen eine zunehmend massigere,fast barocke Dynamik.Prekäre BeziehungenÄhnlich wie die Elemente kehren auch die Themen dieser Reliefswieder und geben Gelegenheit zu vielfältiger Variation,nicht nur weil der Anspruch des eigenen Erlebens dem BildhauerGrenzen setzt, sondern weil die Möglichkeiten plastischerGestaltung am besten am überschaubaren Material verdeutlichtwerden können. Waren es bei den Relieffriesen der Assyrer undder Griechen die immer gleichen Sujets des Herrscherlobs undder Mythologie, so sind es nun die Situationen privater Begegnung.Badezimmerszenen kehren über die Jahrzehnte immerwieder, jedesmal mit anderem Gehalt, in anderer plastischerGestalt. Da steht eine Figur im Bad, eine andere zieht sichzurück, weil ihr die, die den Raum besetzt hält, zu gross ist, undeine dritte wendet sich ab, vielleicht weil sie diese Verdrängungnicht mit ansehen möchte, aus Schuldbewusstsein, aus Mitgefühl,aus Ratlosigkeit. Motive und somit Geschichten sind gera-6


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<strong>Hans</strong><strong>Josephsohn</strong>139 Relief, ohne Titel, um 1974Bronze107 x 64 x 37 cmLa Congiunta, Giornico10 Relief, ohne Titel (Paar und Toter), um 1952/53Bronze198 x 152 x 10 cmLa Congiunta, Giornico und Erzbischöfliches DiözesanmuseumKolumba, Köln11 La Congiunta, GiornicoBlick in den dritten Ausstellungsraum mit drei Halbfiguren12 Relief, ohne Titel (Figuren und Vögel), 1952/53Bronze200 x 154 x 10 cmLa Congiunta, Giornico13 Relief, ohne Titel (Sitzende vor Gegenstand), um 1948/49Bronze78 x 87 x 12 cmPrivatbesitz14 Relief, ohne Titel (Sitzende mit Kind), um 1948/49Bronze85 x 64 x 11 cmPrivatbesitz149


<strong>Hans</strong><strong>Josephsohn</strong>Dass dabei <strong>Josephsohn</strong>s Werk die Unruhe des Misslingens insich enthält, ist kaum verwunderlich. Der Bildhauer arbeitet ausdem grundlegenden Dilemma der Moderne: der Handlungsverhinderung,etwas zu wissen und es nicht zu tun, etwas zu wollenund es mit dem eigenen Handeln zu unterbinden. Er hat das gebrocheneBewusstsein der Moderne, die nicht schliessbare Kluftder Selbstentfremdung mit lapidaren Worten selbst formuliert:Sein Paradox als Bildhauer sei es, »einem geliebten Menschenin fünf Metern Entfernung gegenüberzustehen und nicht zu handeln,sondern Plastiken zu machen«. Kunst ist da dem Verzichtauf Leben abgerungen, sie nutzt es als Startrampe, um in ihreneigenen Bereich zu gelangen. Das Werk löst sich vom Leben ab,begibt sich in eine eigene, vielleicht parallele, vielleicht elliptischeUmlaufbahn, von der aus es nicht aufhören kann, über dasLeben zu sprechen.Diese Differenz lässt sich nur überbrücken in der fortgesetztenInteraktion einer Wahrnehmung. Dem Bildhauer wie dem Betrachterzeigt sich die Figur als eine Vielfalt aus Blickbeziehungen,aus Gleichgewichtsverschiebungen und prekären Balancen,als ein Versuch, den Fluss der Vorstellungen von Figur, denein Gegenüber auslöst, in die Form einer Skulptur zu bringenund dabei all das zu bewahren, was diese reale Begegnung ausmacht:das Vorläufige, Augenblickhafte, das ständige Wechselndes Fokus und der Randzonen des Blicks, die Bewegungen derAugen, die Gefühle, die sich mit jeder neuen Sicht verändern,differenzieren, präzisieren oder ermüden, die Assoziationen, diesie wachrufen und die sich ihrerseits mit Erinnerungen verbinden,welche wiederum ihre eigenen Stimmungen tragen. All dieseschnellen, leichten Bewegungen der Sinne und des Bewusstseinssuchen nach einem Ausdruck, nach einem Äquivalent inder scheinbar doch so statischen Skulptur. Jede von ihnenüberbrückt den Spalt im Bewusstsein und hält ihn zugleichwach. Versöhnung und Gefährdung geben sich gewissermassendie Hand. Jeder Blick ordnet diese irritierenden Volumen undOberflächen für sich neu, setzt andere Partien und Linien zueinanderin Bezug, gleicht Verschiebungen anders aus, findet weitereKorrespondenzen, die sich von früheren abheben, lässt einGesicht, einen Körper, eine Haltung noch einmal auf überraschendeWeise erstehen und zu uns sprechen.Je unendlicher diese Möglichkeiten sind, je unabschliessbarerdieser Vorgang des Sehens wird, desto mehr entziehen sichmerkwürdigerweise diese Figuren, desto mehr verdichten siesich, desto unnahbarer, geheimnisvoller werden sie. Sie verweigerneine schnelle Festlegung, je länger wir sie betrachten, destomehr fordern sie von uns Qualitäten wie Geduld, Sorgsamkeit,Unsicherheit, die wir ansonsten vielleicht nicht gern zeigen.In der Wahrnehmung dieser Menschenbilder können wir erfahren,wie wir einander auch noch wahrnehmen könnten. Es istnicht zuletzt diese Fragilität, diese Verweigerung von These undBelehrung, dieses Zurückverwiesensein auf die eigenen, endlichenFähigkeiten, das heute an diesem Werk fasziniert.Anmerkungen1 Alle Zitate stammen, soweit nicht anders gekennzeichnet,von <strong>Hans</strong> <strong>Josephsohn</strong>. Er hat siein Gesprächen geäussert, die der Verfasser mitdem Bildhauer geführt hat.2 <strong>Josephsohn</strong>, Monografie mit Aufnahmen vonJürg Hassler, ABC Verlag, Zürich 1981.3 Vgl. etwa Rosalind Krauss, die in diesem Zusammenhangin Passages in Modern Sculpture, NewYork 1977, die transitorischen Aspekte zwischenräumlicher und temporaler Dimension zum zentralenKriterium für die Skulptur der Moderne des20. Jahrhunderts macht. Oder im Hinblick aufdie verwendeten Materialien Monika Wagner,Das Material der Kunst. Eine andere Geschichteder Moderne, München 2001.4 Erich Brändle, „<strong>Hans</strong> <strong>Josephsohn</strong>. Bemerkungenzu seinem Werk“ in: <strong>Hans</strong> <strong>Josephsohn</strong>, KatalogHelmhaus Zürich, 1997.FotonachweisAbb. 15Alle anderen AbbildungenKunsthaus Aarau/Fotostudio Jörg MüllerGeorg GiselGerhard Mack, geboren 1956,Redakteur für Kunst und Architekturbei der NZZ am Sonntag,Zürich. Verschiedene Publikationenzu Architektur, Kunst, Literaturund Theater. Unter anderem:»Kunstmuseen: Auf dem Weg ins21. Jahrhundert«, Oeuvres complètesder Architekten Herzog &de Meuron, bisher 3 Bände, sowieMonografien zu <strong>Hans</strong> <strong>Josephsohn</strong>und Rémy Zaugg.11


15 1615 Stehender, ohne Titel (Grosser Arbeiter), 1962/63Bronze212 x 72 x 48.5 cmAargauer Kunsthaus, Aarau16 Kopf, ohne Titel (Angela), um 2000Bronze63 x 37 x 38 cmPrivatbesitz18 Liegende, ohne Titel, 1995-2001Bronze60 x 220 x 62 cmErzbischöfliches Diözesanmuseum Kolumba, Köln19 Sitzende, ohne Titel, 1954/55Bronze57 x 25 x 28 cmPrivatbesitz17 Reliefskizze, ohne Titel, um 1980Bronze32 x 8 x 6 cmKesselhaus <strong>Josephsohn</strong>, St. Gallen12


<strong>Hans</strong><strong>Josephsohn</strong>17191813


Martin SchneiderANLÄUTEN – Aus Telefongesprächen mit <strong>Hans</strong> <strong>Josephsohn</strong>Kindermädchen und KakteenMartin Schneider: Wie und wann ist eigentlich Ihre Liebe zurKunst und zur Bildhauerei geweckt worden?<strong>Hans</strong> <strong>Josephsohn</strong>: Als mein Bruder auf die Welt gekommen ist,haben meine Eltern ein Kindermädchen engagiert, das hat sichmit dem Kleinen, dem Säugling, beschäftigt. Ich sehe mich nochauf dem Sofa hin- und herhüpfen, wie einen Ball rauf und runterund höre mich schreien, dass ich mich langweile. In Wirklichkeitwar ich natürlich eifersüchtig. Das Kindermädchen hat mir dannPlastilin gebracht und seitdem ist Friede eingekehrt.M. S.: Wie alt waren sie damals?H. J.: Vier. Und dann hab ich Kakteen modelliert.M. S.: Was haben Sie modelliert?H. J.: Kakteen! Es gibt doch Kakteen, die solche Flächen haben.Später, weil ich immer in den Zoo gegangen bin, Elefanten. Diehatten so schöne dicke Beine, da hab ich kein Gerüst gebraucht,die sind einfach so stehen geblieben. Schließlich habeich einen ganzen Zoo modelliert und später, bei meinem preußischenPatriotismus, Soldaten und den Hindenburg und, zumEntsetzen meines Vaters, den Hitler, als er an die Macht gekommenist, weil ich den in der <strong>Zeit</strong>ung gesehen hab. So ist das weitergegangen.M. S.: Wann hat sich das bei Ihnen verfestigt?H. J.: Wahrscheinlich hängt das schon auch mit der ganzen Nazigeschichtezusammen, wenigstens auf indirekte Weise, halteich das für gut möglich. Ich konnte ja nicht nach außen gehendamals und mich wehren. Vielleicht habe ich deshalb, weil ichnicht zuschlagen konnte, alles nach Innen nehmen und den Widerstandinnen aufbauen müssen.Immer das SchlimmsteH. J.: Ich stell mir immer das Schlimmste vor. In jeder Situationkomm ich immer auf das Unbequemste oder Schlimmste unddenke nicht, es wird schon gehen.M. S.: Wie kommt das?H. J.: Entweder ist das einfach so von Natur aus, vererbt, oder,das nehme ich an, es kommt vom Abstieg meiner Familie in derNazizeit. Der soziale Abstieg war für einen jungen Mann fast unerträglich.Immer noch ein Zimmer mehr musste vermietet werden– und noch ein Zimmer.M. S.: Die Eltern hatten ein Haus?H. J.: Nein, eine große Wohnung mit sechs Zimmern und amSchluss sind alle im Schlafzimmer gehockt. Da bin ich dannnach Florenz gegangen. Das war natürlich eine wahnsinnige Befreiungaus dieser Situation. Vor allem die Hilflosigkeit meiner Eltern,das ist ganz schlimm gewesen, ganz schlimm.M. S.: Das haben Sie noch gar nicht erzählt.H. J.: Das ist losgegangen 1932/33. Fünf Jahre lang hab ich dasmit angesehen. Mein Vater hat einfach keine Ware zum Verkaufenmehr zugeteilt bekommen. Es gab immer scheinbar solchkleine Lichtblicke, und die erloschen dann gerade wieder. Dashat mich sicher weitgehend geprägt. Die Hilflosigkeit der Leutedurch den sozialen Abstieg und der moralische Zusammenbruch,der damit einherging, das war schlimm.Ich erinnere mich, als die Deportationen waren, hab ich gedacht:Wenn ich einmal umgebracht werden sollte, will ich wenigstenswissen warum. Die Leute sind damals in Deutschland, soweitich das gesehen habe, einfach von Unglück zu Unglück gestoßenworden und haben gar nicht versucht, diesen Vorgangzu kapieren. Damals hab ich mir geschworen, dass ich wenigstensein bisschen um mich schau.ItalienH. J.: Loro Ciuffenna in der Toskana, wo ich im Sommer 1938drei Monate war, empfinde ich heute noch mehr als meine Heimatals Königsberg. Da war ich eben einfach daheim, da war ichglücklich. Ich wurde sehr freundlich angeschaut, und es gab garkeine Unterschiede, wenigstens so weit ich es verstanden habe.M. S.: Wann ist es mit der Bildhauerei ernst geworden?H. J.: Erst, als ich hier in Zürich zu Otto Müller gekommen bin,dem hab ich das schon zu verdanken. Ich hab damals immergeschrieben, Gedichte im Stil Stefan Georges. UnglaublichesZeugs. Ich hab das alles vernichtet. Dann bin ich zu Müller gekommen,und der hat lange <strong>Zeit</strong> erzählt, wie ich erschienen binmit einer Bäckerhose, das war damals modern, schwarz-weißgestreift und mich tief verbeugt habe, so wie wir das in Deutschlandgelernt haben, und ihm irgendein Empfehlungsschreibenüberreicht habe. Kurze <strong>Zeit</strong> später hätte ich eigentlich ein Stipendiumnach Paris gehabt. Ich hab in Paris weitermachen wollen.Aber das Visum ist nicht rechtzeitig angekommen vorKriegsausbruch. Wenn der Krieg einen Monat später ausgebrochenwäre, wäre ich nach Paris gegangen. Dann habe ich für einenVerein, nach einem Foto in einem Buch, überlebensgroßden Kopf von Augustin Keller machen müssen, einem Mann, derbei der Judenemanzipation eine Rolle gespielt hat. Und bei dieserArbeit hat Otto Müller plötzlich gesagt: Hören Sie zu, werdenSie Bildhauer. Es war einer der großen Momente in meiner Jugend,dass einer so eindeutig so was gesagt hat.Man hat unbemerkt Vorbilder gehabt, die man geschätzt hat. Beimir war es vor allem Maillol, der französische Bildhauer. Der hathier in der Schweiz eine große Bedeutung gehabt, sicher auchnoch der Deutsche Lehmbruck und einige andere, vor allem aberMaillol. Es war damals einfach so: Wenn eine Frau üppig war,war sie ein gutes Modell. Das ist natürlich Unsinn. Es kommt aufdie Maße an und eine schlanke Frau kann genauso interessantsein für einen Bildhauer. Ich habe mir dann archäologischeSammlungen angeschaut, habe viel probiert, viel gezeichnet.Das ist ein ganz langsamer Prozess gewesen. Aber es geht nurdurch die Arbeit selber. Von außen kann man gar nichts machen.14


<strong>Hans</strong><strong>Josephsohn</strong>ThemenM. S.: Sie haben gesagt, die Kunst bleibt zeitlos jung.H. J.: Nicht in jedem Fall, aber bis jetzt ist das bei mir noch so,oder? Möglicherweise gibt es schon einen Abfall, den ich selbstnicht feststellen kann, das nehme ich an, aber, wenn ich arbeite,empfinde ich keinen Unterschied zu früher, als ich dreissig odervierzig war.M. S.: Ändern sich die Themen?H. J.: Nein. Ein bisschen vielleicht. Aber die Reliefs kreisen eigentlichimmer um das Gleiche.M. S.: Mehr oder weniger um Beziehungen?H. J.: Ja, sicher. Und immer ist irgendeine Figur dabei, aus demBild wegzugehen, das ist mir aufgefallen. Eine kleine Figur, dieam wenigsten formuliert ist, ist dabei, das Bild zu verlassen.Aber genau weiß ich das selbst nicht.M. S.: Über so was redet ein Künstler nicht?H. J.: (lacht) Nein! Ich weiß das bestenfalls vage und wenn ich eswissen würde, würde ich vielleicht gar keine Plastiken machen.Ich schaffe, so lange meine Vorstellung reicht. Mein Ideal istnicht, eine fixfertige Figur zu machen. Ich kenne nur einen, derdas ähnlich gemacht hat – also jetzt reden wir nicht vom künstlerischenFormat – das ist Cézanne. Der hat das sehr ähnlichgemacht und manchmal auf Bildern Stellen leer gelassen, weildas gestimmt hat im Ganzen, und er nicht gewusst hat, wie erdas füllen soll. Er ist immer ausgegangen von der Gesamtheit.Wenn ich versuche, die Vorstellung zu überschreiten, weil ichweiß, wie man eine Nase, einen Mund oder ein Ohr macht, dannwird’s nicht gut.M. S.: Glückt die Umsetzung einer Vorstellung manchmal auchschlagartig?H. J.: Nur bei kleinen Arbeiten. Das hängt mit der Intensität derVorstellung zusammen. Ich bin manchmal schon dagelegen undhabe eine Vorstellung gehabt und gedacht, ach, wie schön! Dassind ja wunderschöne Momente, wenn einem das vor Augensteht. Doch dann hab ich einfach zu lang gewartet und nachhernicht mehr die Intensität gehabt. Aber bei kleinen Reliefs, wennman eine Vorstellung hat und nimmt den Gips oder Lehm in dieHand, dann kann es gelingen, weil der Prozess nicht lange dauert,eine halbe Stunde oder so. Deswegen sag ich immer: Diekleinen Reliefs soll man nicht unterschätzen, weil in ihnen am direktestendie Vorstellung drin ist.LichtH. J.: Einmal sehe ich eine Halbfigur in einem bestimmten Lichtund denke, ja, die ist eigentlich recht gut. Dann komme ich wieder,und dieselbe Figur steht in einem anderen Licht, und ichdenke, ich hab mich getäuscht, die ist gar nicht gut. Mit einemWort: Meine Plastiken sind sehr abhängig vom Licht. Das verunsichertmich manchmal. Eine Plastik von Brancusi etwa ist in jedemLicht mehr oder weniger gleich. Aber meine Oberflächensind sehr anfällig für Licht. Und das ist im Grunde, woran ich immerherumnage. Damit man überhaupt versteht, um was es mireigentlich geht.M. S.: Sie lichtunabhängig zu machen?H. J.: Sie möglichst lichtunabhängig zu machen, ja, das würdeich mir wünschen. Wissen sie, die Sachen von mir kann manwirklich in einem gewissen Licht vernichten.DauerMan arbeitet doch, damit etwas über einen hinaus weiterlebt.Man wünscht jedenfalls, dass es dauert. Ob es dann dauert, istja wieder eine andere Sache. Aber dass man wünscht, dass esdauert auch über das eigene Leben hinaus, ist meiner Meinungnach ein Grundprinzip, ein Grundgefühl fürs Schaffen.<strong>Hans</strong> <strong>Josephsohn</strong> hat eine unverwechselbare Art zu erzählen. Satzbau,Sprachmelodie und Stimmfärbung ergeben einen ganz eigenenunverwechselbaren Klang. Ich habe mich bemüht, diesen Klangweitgehend zu erhalten, auch, wenn ich aus Gründen der besserenLesbarkeit meine wörtlichen Mitschriften leicht überarbeitet habe.Alle Gesprächsnotizen stammen aus Telefonaten, die zwischenFebruar und September 2002 geführt wurden. Auswahl, Collage undTitel stammen von mir. M. Sch.KünstlerKritisches Lexikon derGegenwartskunsterscheint viermal jährlich mit insgesamt28 Künstlermonografien auf über 500 Text- undBild-Seiten und kostet im Jahresabonnementeinschl. Sammelordner und Schuber € 148,–,im Ausland € 158,–, frei Haus.www.weltkunst.dePostanschrift für Verlag und Redaktion<strong>Zeit</strong>verlag Beteiligungs GmbH & Co. KGNymphenburger Straße 84D-80636 MünchenTel. 0 89/12 69 90-0 · Fax 0 89/12 69 90-11Bankkonto: Commerzbank StuttgartKonto-Nr. 525 55 34, BLZ 600 400 71›Künstler‹ erscheint in der<strong>Zeit</strong>verlag Beteiligungs GmbH & Co. KGGründungsherausgeberDr. Detlef BluemlerProf. Lothar Romain †Redaktion<strong>Hans</strong>-Joachim MüllerDokumentationAndreas GrönerGeschäftsführerDr. Rainer EsserVerlagsleiterBoris Alexander KühnleGrafikMichael MüllerAbonnement und Leserservice<strong>Zeit</strong>verlag Beteiligungs GmbH & Co. KGNymphenburger Straße 84 · Postfach 19 09 18D-80609 MünchenTel. 0 89/12 69 90-0›Künstler‹ ist auch über denBuchhandel erhältlichPrepressFranzis print & media GmbH,MünchenDruckAumüller Druck KG,RegensburgDie Publikation und alle in ihrenthaltenen Beiträge und Abbildungensind urheberrechtlich geschützt. JedeVerwertung, die nicht ausdrücklich vomUrheberrechtsgesetz zugelassen ist,bedarf der vorherigen Zustimmung desVerlages. Dies gilt insbesondere fürVervielfältigungen, Bearbeitungen,Übersetzungen, Mikroverfilmungen unddie Einspeicherung und Verarbeitungin elektronischen Systemen.© <strong>Zeit</strong>verlag Beteiligungs GmbH & Co. KG,München 2007ISSN 0934-173015


<strong>Hans</strong><strong>Josephsohn</strong>20 Blick ins Kesselhaus <strong>Josephsohn</strong>, St. Gallen, 200516

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