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INFORMATIONSDIENST GESUNDHEITSWESEN DES SOZIALISTISCHEN BÜROSSon<strong>de</strong>rheft, Oktober 1975DAS GESUNDHEITSWESEN IN PORTUGALWarum Portugal? Warum Po<strong>de</strong>r Popular? Seite 3Organisation <strong>de</strong>s Gesundheitswesens vor <strong>de</strong>m 25.April Seite 7Bisherige strukturelle Än<strong>de</strong>rungen<strong>de</strong>s Gesundheitswesens durch <strong>de</strong>n Staat Seite 13Beschreibung <strong>de</strong>r Initiativen, die wir kennengelernt haben:COIMBRA, AVEIRAS DE CIMA, FIGUEIRA, DYNAMISIERUNGSKAMPAGNE, MUSGEIRA, COVA DAPIEDADE, FRAUENZENTRUM LISSABON, HOSPITAL CAPUCHOS, CLINICA ST.CRUZZusammenfassung Seite 47Autor <strong>de</strong>r Broschüre über das Gesundheitswesen in Portugal ist die Portugal-Gruppe <strong>de</strong>r Frankfurter Gesundheitsgruppe. Sie besteht seit Mai 1975. Die Arbeit<strong>de</strong>r Portugal-Gruppe besteht darin, die Entwicklung <strong>de</strong>s Gesundheitswesens imRahmen <strong>de</strong>s revolutionären Prozesses in Portugal zu erfahren. Dabei versuchenwir, diejenigen Initiativen, die es benötigen, materiell, d.h. mit Medikamenten,Instrumenten, Apparaten und an<strong>de</strong>rem medizinischen Material zu unterstützen(in Ausnahmefällen auch direkt mit Geld). Wir haben bei <strong>de</strong>r Bank für Gemeinwirtschaftein Spen<strong>de</strong>nkonto eingerichtet.Die einzelnen Artikel in dieser Broschüre sind auf sehr verschie<strong>de</strong>ne Weisezustan<strong>de</strong> gekommen: Die wichtigste Informationsquelle war für uns zunächsteine Reise, die 10 Mitglie<strong>de</strong>r unserer Gruppe im September 1975 nach Portugalgemacht haben. In vielen Gesprächen mit Ärzten, Stu<strong>de</strong>nten, Pflegern und Krankenschwesternund <strong>de</strong>r Bevölkerung haben sich die Informationen gesammelt.Der Artikel über die Organisation <strong>de</strong>s Gesundheitswesens vor <strong>de</strong>m 25. April undüber die bisherigen Än<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>s Gesundheitswesens durch <strong>de</strong>n Staat ist vonHamburger Ärzten, die ebenfalls in Portugal waren, durchgesehen und korrigiertwor<strong>de</strong>n. Gänzlich auf Informationen <strong>de</strong>r Hamburger Ärzte beruht <strong>de</strong>r Bericht aus<strong>de</strong>m Hospital Capuchos. Bei <strong>de</strong>r Vorbereitung <strong>de</strong>s Berichts über die Volksklinik inCova da Pieda<strong>de</strong> hat ein Berliner Arzt mitgearbeitet. Der Bericht über dieDynamisierungskampagne beruht auf einer Übersetzung aus <strong>de</strong>r französischenZeitschrift ‚Liberation’. Den Bericht über das Projekt in Figueira an <strong>de</strong>r Algarvehaben wir aus <strong>de</strong>m ‚Informationsdienst zur Verbreitung unterbliebener Nachrichten’übernommen. Der Bericht aus Aveiras <strong>de</strong> Cima ist vervollständigt durcheinige Absätze aus <strong>de</strong>r Broschüre „Portugal - auf <strong>de</strong>m Weg zum Sozialismus?“,die das Sozialistische Büro herausgegeben hat. Der Bericht aus St. Cruz istebenfalls von <strong>de</strong>n Hamburgern durchgesehen wor<strong>de</strong>n.
WARUM PORTUGAL -WARUM PODER POPULAR?Als auf <strong>de</strong>m Treffen <strong>de</strong>r Frankfurter Gesundheitsgruppe im Mai 1975 <strong>de</strong>rVorschlag gemacht wur<strong>de</strong>, eine Portugal-Gruppe zur Unterstützung <strong>de</strong>rVolksinitiativen im Gesundheitswesen Portugals einzurichten, fan<strong>de</strong>n sichspontan 15 Leute, in <strong>de</strong>r Mehrzahl Ärzte, bereit, in dieser Gruppemitzuarbeiten. Es ist sicher, dass je<strong>de</strong>r dabei unterschiedliche Motivationenhatte. Warum Portugal?Noch nie ist die Realität einer Revolution <strong>de</strong>r bun<strong>de</strong>s<strong>de</strong>utschen Wirklichkeitgeographisch so nahe gerückt. Vietnam, Cuba, Chile, sie warenalle weit weg. Portugal hat Hoffnungen gemacht für die Entwicklung inEuropa!Der eigentliche ‚Staatsstreich’, <strong>de</strong>r Putsch, ist vom Militär in geheimerVorbereitung am 25. April 1974 durchgeführt wor<strong>de</strong>n. Waren wir alledaran ‚gewöhnt’, dass dies zur Errichtung einer Militärdiktatur führt, so istdie Entwicklung doch an<strong>de</strong>rs gelaufen. Zunächst wusste das Volk Portugalsnichts. Salazar und Caetano hatten gera<strong>de</strong> mit <strong>de</strong>n sogenannten‚vorsichtigen Liberalisierungen’ begonnen, so dass die reine Nachricht voneinem Militärputsch es durchaus wahrscheinlich machte, dass Ultrarechte,die mit dieser Politik nicht einverstan<strong>de</strong>n waren, die Macht ergriffenhätten.Zunächst also blieb das Volk in <strong>de</strong>n Häusern und wartete ab. Erstallmählich wur<strong>de</strong> klar, welche politische Richtung diese Militärs, das MFA,vertraten: Es sollte <strong>de</strong>m Volk Portugals die Freiheit zurückgegebenwer<strong>de</strong>n. Nach 50 Jahren Faschismus war es ein gewaltiger Freu<strong>de</strong>nausbruch:das Volk war auf <strong>de</strong>r Straße, es wur<strong>de</strong> getanzt und gesungen,es wur<strong>de</strong> aber auch sofort damit begonnen, die letzten Bastionen<strong>de</strong>r faschistischen Diktatur, das Hauptquartier <strong>de</strong>r Geheimpolizei PIDE unddie Gefängnisse, zu zerschlagen. Die Faschisten mussten fliehen, nachSpanien, nach Brasilien.War sich das faschistische System immer <strong>de</strong>r stillschweigen<strong>de</strong>n Duldungund Unterstützung durch die westliche Welt, die ‚freie’ Welt, sichergewesen, so wur<strong>de</strong> das befreite Portugal von eben dieser Welt sehr schnellin große ökonomische Schwierigkeiten gestürzt. Die westeuropäischensozial<strong>de</strong>mokratischen und konservativen Regierungen verhängten überPortugal <strong>de</strong>n unausgesprochenen Wirtschaftsboykott. Die westeuropäische
Presse malte ein Bild <strong>de</strong>s absoluten Chaos, in <strong>de</strong>m zu investieren einhohes Risiko be<strong>de</strong>ute: <strong>de</strong>r vorher recht muntere Kapitalstrom versiegte.Die westeuropäische Sozial<strong>de</strong>mokratie knüpfte an je<strong>de</strong> weitere ökonomischeHilfe die Bedingung, dass ein bürgerlich-parlamentarisches Systemaufgebaut wer<strong>de</strong>n muss. Die sozialistischen Staaten <strong>de</strong>s Ostblocksmachten viele Worte, aber eine echte ökonomische Unterstützung erhieltPortugal von ihnen nicht. In dieser Situation entstand in Portugal dieBewegung <strong>de</strong>r Po<strong>de</strong>r Popular. Po<strong>de</strong>r Popular heißt einfach übersetztVolksmacht. An vielen Stellen <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s, zunächst vollkommenunkoordiniert, nahm das Volk seine Probleme selbst in die Hand. Fabrikenwur<strong>de</strong>n besetzt und in die Verwaltung von Arbeiterräten übernommen; <strong>de</strong>rGroßgrundbesitz im Sü<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong> von <strong>de</strong>n Landarbeitern übernommen,manchmal schon zu spät, <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Großgrundbesitzer hatte oft inErwartung <strong>de</strong>r Enteignung die Ernte vernichtet, die Maschinen zerstört undwar ‚abgereist’, nach Spanien o<strong>de</strong>r Brasilien. In <strong>de</strong>n Stadtteilen bil<strong>de</strong>tensich Bewohnerkommissionen, im Militär entstan<strong>de</strong>n Soldatenräte, die dieMFA von einer Bewegung <strong>de</strong>r Offiziere für das Volk zu einer Bewegung <strong>de</strong>rSoldaten <strong>de</strong>s Volkes verän<strong>de</strong>rn wollten.Neben <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen Gruppen <strong>de</strong>r Rechten (CDS, PPD usw.) ist dieLinke heute in drei große Gruppen gespalten (wenn man die PS dazuzählen will).Die Sozialistische Partei (PSP) vertritt <strong>de</strong>n Standpunkt <strong>de</strong>r Errichtung einerbürgerlichen Demokratie nach westlichem Vorbild, sie ist sich dabei <strong>de</strong>rUnterstützung <strong>de</strong>r westlichen Sozial<strong>de</strong>mokratie sicher. Die sozialistischeInternationale hat sogar ein Unterstützungskomitee unter <strong>de</strong>r Führung vonWilly Brandt gegrün<strong>de</strong>t, um Mario Soares, <strong>de</strong>m Führer <strong>de</strong>r PSP, je<strong>de</strong> nurmögliche Hilfe zu leisten. Die PSP lehnt die Po<strong>de</strong>r Popular als illegal,gesetzesbrechend, putschistisch, abenteuerlich und wie die Denunziationennoch alle heißen, ab, da die Po<strong>de</strong>r-Popular-Bewegung nicht auf einebürgerliche Demokratie im Zusammenspiel mit Westeuropa und <strong>de</strong>r EWG,son<strong>de</strong>rn auf die konsequente Errichtung einer Räte<strong>de</strong>mokratie in einemunabhängigen Portugal abzielt.Die Kommunistische Partei (PCP) hat hier eine flexiblere Positioneingenommen: Im Alentejo beispielsweise, wo die riesigen Län<strong>de</strong>reien <strong>de</strong>rGroßgrundbesitzer lagen, hatte sie unter <strong>de</strong>n Landarbeitern schon unter
<strong>de</strong>m Faschismus eine große Basis. Die Kommunistische Partei unterstütztPo<strong>de</strong>r-Popular-Initiativen, solange sie die politische Führung dabei behält.Man muss besser sagen, sie bekämpft sie nicht so offen und drohend wiedie Sozialistische Partei. Der politische Wille <strong>de</strong>r PCP, bei all diesenBewegungen die Führung zu beanspruchen, wi<strong>de</strong>rspricht allerdings <strong>de</strong>mGedanken <strong>de</strong>r Po<strong>de</strong>r Popular: nicht eine Partei, son<strong>de</strong>rn das Volk, dieBetroffenen, die Selbstorganisation, die Räte sind die Bewegung <strong>de</strong>sVolkes.Die dritte Gruppe bietet ein viel uneinheitlicheres Bild: Da ist zunächst dieFUR, eine erst im Sommer 1975 gelungene Vereinigung aller linksradikalenGruppen. Die zusammengeschlossenen Gruppen vertreten verschie<strong>de</strong>nepolitische Richtungen: die FSP ist <strong>de</strong>r abgespaltene linke Flügel <strong>de</strong>rSozialistischen Partei; die MDP/CDE steht in historischer Verbindung zurKommunistischen Partei, sie war vor <strong>de</strong>m 25. April die Sammelbewegung<strong>de</strong>s <strong>de</strong>mokratischen antifaschistischen Wi<strong>de</strong>rstands; die LCI ist einetrotzkistische Gruppe; die MES ist eine Gruppe revolutionärer Intellektueller,die ‚zum Aufbau <strong>de</strong>r Partei’ beitragen soll; die PRP/BR, die ‚RotenBriga<strong>de</strong>n’ sind die Fraktion, die am <strong>de</strong>utlichsten für die Volksbewaffnungeintritt; die LUAR ist die aus <strong>de</strong>m antifaschistischen Wi<strong>de</strong>rstand bekanntesteGruppe, sie organisiert und schützt die Besetzungen, um sie dann<strong>de</strong>n Bewohnerkommissionen zu übergeben.Neben <strong>de</strong>r FUR ist die SUV, die Vereinigung <strong>de</strong>r revolutionären Soldaten,die eine große Basis unter <strong>de</strong>n Soldaten hat, zu erwähnen. Im Kontextdieser Organisationen steht die Selbstorganisation <strong>de</strong>s Volkes, die Po<strong>de</strong>rPopular.Wir unterstützen die Initiativen, die zur Po<strong>de</strong>r Popular zählen. Weil Po<strong>de</strong>rPopular <strong>de</strong>n Aufbau von Räteorganisationen, die Mobilisierung <strong>de</strong>r Basisbe<strong>de</strong>utet, heißt das, dass eine starke Po<strong>de</strong>r Popular verhin<strong>de</strong>rn kann, dasseine Gesellschaft entsteht, in <strong>de</strong>r eine o<strong>de</strong>r mehrere Parteien gegen dieInteressen <strong>de</strong>s Volkes herrschen können. Die verschie<strong>de</strong>nen Projekte, von<strong>de</strong>nen wir in dieser Broschüre berichten, stehen alle in einem Zusammenhangmit Po<strong>de</strong>r Popular, in <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nsten Bereichen: Klinikbesetzung,Hausbesetzung, Krankenhausräte, Selbstorganisation <strong>de</strong>r Frauen,Bewohnerkommissionen usw. Unsere politische Unterstützung hier in <strong>de</strong>rRRD ist z.B. die Veröffentlichung dieser Broschüre, ist die Durchführungvon Informationsveranstaltungen, die Verteilung von Flugblättern. Wir
versuchen mit unserer medizinischen Hilfe zu erreichen, dass die Po<strong>de</strong>rPopular, soweit sie mit Gesundheitsinitiativen verknüpft ist (und das istsie sehr oft) nicht an materiellen Problemen scheitert, die in Portugalimmer größer wer<strong>de</strong>n: Medikamente wer<strong>de</strong>n rar, Ärzte verlassen zu Häufdas Land, die Multis verlangsamen <strong>de</strong>n medizinischen Nachschub usw.Bei all <strong>de</strong>m bleibt <strong>de</strong>r Ort unserer politischen Arbeit aber das Land, in <strong>de</strong>mwir sind, auch wenn Portugal noch so fasziniert. Die politische Flucht nachPortugal aus <strong>de</strong>r frustrieren<strong>de</strong>n eigenen Realität darf nicht das fataleErgebnis <strong>de</strong>r Solidarität mit Portugal sein.
ORGANISATION DES GESUNDHEITSWESENS VOR DEM 25. APRILVersicherungen und FinanzsystemVersichert ist je<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r lohnabhängig in einer Fabrik arbeitet, durchautomatischen Einzug von 10 % <strong>de</strong>s Lohnes. Von <strong>de</strong>n 9 MillionenEinwohnern Portugals sind hiervon etwa zwei Drittel erfasst. Die Versicherungbezahlt im Falle <strong>de</strong>r Inanspruchnahme medizinischer Leistungendrei Viertel <strong>de</strong>r Kosten, ein Viertel ist Selbstbeteiligung. Die Versichertensind allerdings nur berechtigt, sich in <strong>de</strong>n Versorgungsstellen <strong>de</strong>rVersicherung, die staatlich ist, behan<strong>de</strong>ln zu lassen, in <strong>de</strong>n sogenannten„Caixas“. Gehen sie woan<strong>de</strong>rs hin, so ist dies eine Privatbehandlung,<strong>de</strong>ren Kosten sie gänzlich selbst tragen müssen.Die restlichen Nichtversicherten müssen alles selbst bezahlen. Es gibtauch keine Sozialämter, die bei Zahlungsunfähigkeit einspringen o.ä., sodass arme Leute quasi gezwungen sind, zwischen <strong>de</strong>m Risiko <strong>de</strong>sfinanziellen Ruins o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m <strong>de</strong>s Siechtums/Sterben zu wählen.Arbeitsorganisation <strong>de</strong>r ÄrzteSämtliche Ärzte arbeiten ausnahmslos in einem staatlichen Krankenhaus.Das tun sie allerdings nur täglich 2 bis 3 Stun<strong>de</strong>n am Vormittag, für einMonatsgehalt von ca. 1000 DM. Danach arbeiten sie meistens in einer‚Caixa’. Diese Arbeit, die eine bis eineinhalb Stun<strong>de</strong>n dauert, bringt 3000DM im Monat. Jüngere Ärzte arbeiten je<strong>de</strong>n Tag in zwei bis drei Caixas,ältere, die schon genug Geld gemacht haben, machen eine Privatpraxis(Clinica) o<strong>de</strong>r später ein Privatkrankenhaus (Hospital) auf. In <strong>de</strong>rPrivatpraxis muss je<strong>de</strong>r Patient ca. 40 bis 50 DM pro Konsultation bar auf<strong>de</strong>n Tisch legen, so dass ein Arzt, <strong>de</strong>r morgens in einem staatlichenKrankenhaus, mittags in einer Caixa und nachmittags in seiner Privatpraxisarbeitet, leicht auf 50 - 60 000 DM im Monat kommt.Die Privatpraxen haben eine enorme Be<strong>de</strong>utung. Die Behandlung in <strong>de</strong>nCaixas ist nämlich <strong>de</strong>rart schlecht und oberflächlich, dass man sie auchgleich lassen könnte. Die Patienten müssen meist vier bis fünf Stun<strong>de</strong>nwarten und haben dann schon ein Rezept in <strong>de</strong>r Hand, bevor sie dasBehandlungszimmer überhaupt richtig betreten haben. Daher versuchtje<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r es sich irgendwie leisten kann, in eine Privatpraxis zu gehen.
Im staatlichen Gesundheitsdienst beträgt die Wartezeit auf eineRöntgenaufnahme drei Monate, auf ein EKG ein halbes Jahr, auf ein Bettim Krankenhaus min<strong>de</strong>stens ebenso lange. Für Landbewohner kann mandie Zeiten durchweg verdoppeln. Wer sich privat behan<strong>de</strong>ln lässt, mussüberhaupt keine Wartezeit in Kauf nehmen. Es wird also nicht nur dieBourgeoisie privat behan<strong>de</strong>lt. So erklärt sich auch, dass 50 % allerKrankenhausbetten Portugals in Privatkliniken stehen. Das staatlicheGesundheitswesen ist auch sehr durcheinan<strong>de</strong>r organisiert, mit vielenverschie<strong>de</strong>nen Kompetenzen in ganz verschie<strong>de</strong>nen Ministerien: Es gibteinige öffentliche Gesundheitsposten, vielleicht vergleichbar mit <strong>de</strong>nhiesigen Gesundheitsämtern, die sich um die TBC-Versorgung, dieSchwangerenberatung u.a. kümmern. Diese Gesundheitsposten sind <strong>de</strong>mGesundheitsministerium unterstellt, ebenso wie fast alle staatlichenKrankenhäuser. Dagegen ist die Versicherung und das System <strong>de</strong>r Caixas<strong>de</strong>m Sozialministerium unterstellt.Dazu unterhält das Ministerium für Ausbildung die drei Universitätskrankenhäuserin Lissabon (St. Maria), Coimbra und Porto. Neben <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>nMinisterien und <strong>de</strong>n privaten Trägern unterhält noch die StiftungMiseocordier Krankenhäuser auf <strong>de</strong>m Land, die total überaltert sind. DieseStiftung finanziert sich durch Lotto und Toto.Das portugiesische Gesundheitswesen entspricht wie im Bil<strong>de</strong>rbuch <strong>de</strong>meines kapitalistischen Ausbeuterstaates ohne die mo<strong>de</strong>rnen Agenturen <strong>de</strong>rsozialen Sicherung.Das ganze System wird getragen von einer durchweg reaktionärenÄrzteschaft, bei <strong>de</strong>r eine absolute Einheit zwischen eben beschriebenerökonomischer Lage und Klassenherkunft besteht. Dies ist verursacht durchdas Bildungswesen.Bildungswesen und Ausbildung <strong>de</strong>r Ärzte und SchwesternEs gibt in Portugal die allgemeine Schulpflicht nur für die Grundschule undnur auf <strong>de</strong>m Papier. Man kann davon ausgehen, dass ca. 40 % <strong>de</strong>rLandkin<strong>de</strong>r nie auf einer Schule waren, weil es dort gar keine Schulengibt. In <strong>de</strong>r Stadt betrifft das in gleicher Weise die Bewohner von Slums(in Lissabon z.B. wohnen von 1,6 Mio. Einwohnern 200.000 in Slums).Auch wenn es Schulen gibt, so können die Familien im allgemeinen nicht
das Schulgeld für die 10 bis 12 Kin<strong>de</strong>r aufbringen. Die Grundschule istaußer<strong>de</strong>m erst seit 1960 obligat, sie umfasst 4 Klassen und damit dieKin<strong>de</strong>r im Alter von ca. 7 bis 11 Jahren. Dies zunächst ist die Basis füreinen Analphabetismus, <strong>de</strong>r 40 % <strong>de</strong>r portugiesischen Bevölkerung über11 Jahre umfasst. Nach <strong>de</strong>r Grundschule gibt es zwei Möglichkeiten:entwe<strong>de</strong>r sofort einen Beruf ergreifen o<strong>de</strong>r die weiterführen<strong>de</strong> Schule. Dasist aber natürlich keine echte Alternative, die sich je<strong>de</strong>m stellt. In <strong>de</strong>n Berufgehen be<strong>de</strong>utet, keine weitere Ausbildung zu haben und einen völligunqualifizierten Status als Arbeiter o<strong>de</strong>r Landarbeiter einnehmen.Berufsschulen o<strong>de</strong>r ähnliches gibt es nicht. Normalerweise heißt dieAlternative aber nicht: Beruf o<strong>de</strong>r weiterführen<strong>de</strong> Schule, son<strong>de</strong>rn Berufo<strong>de</strong>r Arbeitslosigkeit. Heute sind in Portugal ca. 10 % <strong>de</strong>r werktätigenBevölkerung arbeitslos, also etwa 300.000.Der Besuch <strong>de</strong>r weiterführen<strong>de</strong>n Schule, <strong>de</strong>s LIZEUMS, ist <strong>de</strong>r normalenBevölkerung absolut verschlossen. Auf <strong>de</strong>m Land gibt es schon mal garkein Lizeum, außer<strong>de</strong>m kostet es 100 DM Schulgeld im Monat, alleSchulbücher müssen selbst gekauft wer<strong>de</strong>n usw., das alles ist so viel wie<strong>de</strong>r gesamte Monatslohn eines Arbeiters. Der Besuch einer Privatschulekostet das Dreifache. Das Lizeum dauert insgesamt sieben Jahre. Dieersten zwei Jahre sind für alle gleich, dann kommt eine Art Prüfung un<strong>de</strong>inige gehen jetzt ab in einen Beruf. (Hier ist z.B. auch normalerweise <strong>de</strong>rAbgang einer wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Krankenschwester).Danach folgen weitere drei Jahre, wie<strong>de</strong>r ein Examen, wie<strong>de</strong>r gehen einigeab. Dieser Einschnitt entspricht von <strong>de</strong>r Qualifikation her etwa unserermittleren Reife, ist aber in Portugal wesentlich mehr wert, da ja nur sehrwenige überhaupt bis hierher kommen. Wer jetzt immer noch bezahlenkann, <strong>de</strong>r bleibt noch zwei Jahre auf <strong>de</strong>m Lizeum und zwar in einemspezialisierten Zweig (sprachlich, naturwissenschaftlich, ökonomisch,philosophisch-geschichtlich), macht dann eine Prüfung, vielleichtvergleichbar mit <strong>de</strong>m Abitur, und kann jetzt studieren o<strong>de</strong>r auch nicht.Nicht studieren kann <strong>de</strong>rjenige, <strong>de</strong>r nicht 1000 DM im Jahr Hörergeld andie Uni zahlen kann, <strong>de</strong>r nicht ein Zimmer in einer <strong>de</strong>r drei Universitätsstädte(Lissabon, Porto, Coimbra) bezahlen kann, <strong>de</strong>r sich seineLehrbücher nicht selbst finanzieren kann (die medizinischen Lehrbücherbeispielsweise kosten etwa das Dreifache wie hier und sind nur in englischo<strong>de</strong>r französisch zu haben).
So kommt es, dass Medizinstu<strong>de</strong>nten fast nur Söhne und Töchter vonÄrzten sind, sonst nur noch die an<strong>de</strong>re Top-Bourgeoisie vertreten ist.Bezeichnen<strong>de</strong>rweise haben bis jetzt ca. 600 Ärzte das Land verlassen,obwohl ihre ökonomischen Privilegien noch in keiner Weise beschnittenwor<strong>de</strong>n sind. Die 6 Jahre Medizinstudium sind im wesentlichen gleichorganisiert wie hier: zunächst drei Jahre Basisstudium, entspricht etwa<strong>de</strong>r Vorklinik, dann drei Jahre klinisches Studium. Nach je<strong>de</strong>m Studienjahrist eine obligatorische Prüfung. Nach abgeschlossenem Studium kommt einInternatsjahr, danach Approbation und Facharztausbildung wie hier,allerdings von Anfang an nur mit <strong>de</strong>r kurzen morgendlichen Arbeitszeit imKrankenhaus, sonst in Caixas und Privatpraxen.Die Krankenschwesternausbildung war bis vor drei Jahren ein völligesChaos und gänzlich in privater Hand. Unter <strong>de</strong>n Schwestern gibt es einestrenge Hierarchie in Schwesternhelferinnen, Schwestern und Oberschwestern.Die Schwesternhelferinnen machen die normale ‚Dreckarbeit’ und dieArbeit am Kranken direkt. Die Schwestern machen die Büro- undVerwaltungsarbeit, und die Oberschwestern schweben über allem. Diesaber ist nicht begrün<strong>de</strong>t in unterschiedlicher Qualifikation, son<strong>de</strong>rn in <strong>de</strong>runterschiedlichen Exklusivität <strong>de</strong>r besuchten Privat-Schwesternschule. AlleSchwestern sind im Allgemeinen nach <strong>de</strong>m zweiten Jahr <strong>de</strong>s Lizeums ineine solche Schule gegangen. Erst seit drei Jahren gibt es in Lissabon einestaatliche Schwesternschule, allerdings mit <strong>de</strong>r gleichen, nach Schulgeldgestaffelten Ausbildung zur Hierarchie. In einer Privatklinik, die wirbesucht haben, war <strong>de</strong>r normale Monatsverdienst einer Schwesternhelferin130 DM, <strong>de</strong>r einer Schwester 400 DM. Die staatlichen Krankenhäuserbezahlten noch schlechter. Auch wenn sich die ökonomische Lage <strong>de</strong>rSchwestern infolge<strong>de</strong>ssen nicht von <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Arbeiter unterschei<strong>de</strong>t, habensie aber <strong>de</strong>nnoch einen subjektiven Eindruck von sich als etwas Besserem,da sie ja immerhin durch die zwei Jahre Lizeum gegangen sind.Die Entwicklung in <strong>de</strong>r ÄrztekammerDie Kammer gleicht bis aufs i-Tüpfelchen <strong>de</strong>r unsrigen. Es gab Ärztekammern,‚Or<strong>de</strong>m dos Medicos’, mit Stan<strong>de</strong>sgerichtsbarkeit, Approbationsvergabeund -entzug, hohen Beiträgen, Zwangsmitgliedschaft usw. Ebenfallsabsolut i<strong>de</strong>ntisch, dass diese Ärztekammern die faschistische Politikgetragen und unterstützt haben, soweit das in ihrer Macht stand.
Nach <strong>de</strong>m 25. April sind die Ärztekammern aller Funktionen enthobenwor<strong>de</strong>n. Sie existieren höchstwahrscheinlich im Moment noch, sind aberohne politische Funktion. Sie sind ersetzt wor<strong>de</strong>n durch Gewerkschaften,‚Sindicatos dos Medicos’. Nach <strong>de</strong>m neuen Gewerkschaftsgesetz, dasAnfang dieses Jahres gültig wur<strong>de</strong>, ist niemand verpflichtet, Mitglied zusein, son<strong>de</strong>rn es han<strong>de</strong>lt sich um einen freiwilligen Zusammenschluss. AlleStan<strong>de</strong>sfunktionen sind auf <strong>de</strong>n Staat übergegangen, die Stan<strong>de</strong>sgerichtsbarkeitwird jetzt vor normalen staatlichen Gerichten verhan<strong>de</strong>lt, dieApprobation vom Staat vergeben und entzogen, die Aus- und Weiterbildungsvorschriftenvom Staat erlassen. Die Ärztegewerkschaft hat dieAufgabe, die Interessen <strong>de</strong>r Ärzte zu vertreten, weiter nichts. Es erscheintdabei sehr sinnvoll, dass die Ärzte eine eigene Gewerkschaft haben undnicht z.B. mit <strong>de</strong>n Schwestern als ‚Gesundheitsarbeiter’ in einen Topfgeworfen wor<strong>de</strong>n sind. Dadurch nämlich, dass die ökonomische Organisation<strong>de</strong>s Gesundheitswesens noch die gleiche ist, die Ärzte also nach wievor höchstens die Hälfte ihrer Zeit lohnabhängig arbeiten, unterschei<strong>de</strong>nsie sich in ihren ökonomischen Interessen von vorneherein viel zu starkvon allen an<strong>de</strong>ren Berufsgruppen.In Lissabon selbst ist die Entwicklung so gelaufen, dass es bereits vor <strong>de</strong>m25. April einige Unruhe wegen <strong>de</strong>r profaschistischen-kolonialistischenPolitik <strong>de</strong>r Ärztekammer gegeben hat, da dies beson<strong>de</strong>rs für die jungenÄrzte be<strong>de</strong>utet hat, dass sie zum Militär mussten und in die Kolonien, ineinem Krieg also arbeiten mussten. Diese Unruhe führte dazu, dass dieGewerkschaftswahlen in <strong>de</strong>r Sektion Lissabon <strong>de</strong>r Medizinergewerkschaftvon einer (damals noch möglichen) Koalitionsliste von PS und PCgewonnen wur<strong>de</strong>, gegen eine konservative und eine unabhängige Liste.Diese Son<strong>de</strong>rverhältnisse in Lissabon dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen,dass die alten Funktionäre <strong>de</strong>r Ärztekammern mit allen Mittelnversuchen, <strong>de</strong>n alten Zustand wie<strong>de</strong>rherzustellen. Die bei<strong>de</strong>n Sindicatosdos Medicos in Mittel- und Nordportugal haben sich inzwischen schonwie<strong>de</strong>r in Ärztekammern umbenannt. Nur in <strong>de</strong>r Kammer Süd (Lissabon)haben die Linken <strong>de</strong>n erwähnten Einfluss, aber auch hier ist <strong>de</strong>r Kampfnoch lange nicht entschie<strong>de</strong>n.
Die Lage <strong>de</strong>r GesundheitsindustrieEs gibt keine nationale Apparateindustrie. Alle Geräte wer<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>nauch bei uns bekannten Konzernen aus Deutschland, England, USA undItalien bezogen. Diese haben alle Distributions- und Wartungsnie<strong>de</strong>rlassungenin Portugal, aber keine Produktion. Etwas an<strong>de</strong>rs ist es mit <strong>de</strong>rpharmazeutischen Industrie. Alle großen Konzerne sind in Portugalvertreten. Zunächst sind auch das nur Distributions- und Public-Relations-Nie<strong>de</strong>rlassungen. Einige aber unterhalten auch Zweigwerke, nicht zuletzt,da die Ware Arbeitskraft in Portugal enorm billig ist. Dazu gibt es nocheine nationale pharmazeutische Fabrik, die VITORIA. Diese Fabrikallerdings produziert nur auf ausländische Lizenz, selbst für Aspirin erhältBayer Lizenzgebühren.Die Frage nach einer möglichen Autonomie bei einer Verstaatlichung alldieser Dinge muss absolut verneint wer<strong>de</strong>n. Mit einem Nachschubstoppaus <strong>de</strong>m Ausland wür<strong>de</strong> die medizinische Versorgung in Portugal inkürzester Zeit zusammenbrechen.Häufigkeit von Krankheiten und Art <strong>de</strong>r MedizinSoweit wir erfahren haben, gibt es keine beson<strong>de</strong>re Häufigkeit vonKrankheiten, etwa größere Epi<strong>de</strong>mien o.ä. Immer wie<strong>de</strong>r erwähnt wur<strong>de</strong>die schlechte Ernährungslage <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r, weswegen Babynahrung undVitamine sowie die gängigen Medikamente in pädiatrischer Aufbereitungbenötigt wer<strong>de</strong>n. Ferner ist <strong>de</strong>r Alkoholismus ein großes Problem.Beson<strong>de</strong>rs auf <strong>de</strong>m Land haben die Gutsbesitzer sich früher die sozialeFriedhofsruhe offensichtlich dadurch erkauft, dass sie die Landarbeiterüber Jahre systematisch unter Alkohol gesetzt haben (anstelle von Lohn!).Die ohne großen Stadt/Land-Unterschied relevanten Krankheiten unterschei<strong>de</strong>nsich ansonsten überraschen<strong>de</strong>rweise nur quantitativ von <strong>de</strong>r unsbekannten Lage hier:- Herz- Kreislaufkrankheiten, wobei Hochdruck scheinbar eine Volkskrankheitist,- rheumatische und arthritische Gelenkverän<strong>de</strong>rungen,- Tuberkulose ist in letzter Zeit durch staatliche Maßnahmen (Reihenuntersuchungenetc.) zurückgegangen,- periphere Zirkulationsstörungen.
Einige Ärzte, mit <strong>de</strong>nen wir gesprochen haben, sprachen von einem Anteilvon 50 Prozent <strong>de</strong>ssen, was man geheimhin unter psychosomatischenKrankheiten versteht, sprachen von vegetativer Dystonie, hysterischenSymptomen usw. Beim Versuch einer Klärung dieses Phänomens zeigtesich aber, dass auch revolutionäre Ärzte sich mit uns im allgemeinen nurschlecht über dieses Problem verständigen konnten, sie sind starkorganmedizinisch orientiert. Vielleicht kann man sich das so erklären: Ineinem Land wie <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>srepublik Deutschland zum Beispiel haben diepsychosozialen Krankheiten eine enorme Be<strong>de</strong>utung. Fortschrittliche Ärztein <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>srepublik sind in <strong>de</strong>n allermeisten Fällen auch solche, die sichintensiv mit dieser Materie auseinan<strong>de</strong>rgesetzt haben. So ergibt sich beiuns eine Verbindung zwischen <strong>de</strong>r psychosozialen Einstellung und <strong>de</strong>rFortschrittlichkeit <strong>de</strong>r Ärzte. In Portugal, nach einem halben Jahrhun<strong>de</strong>rtfaschistischer Herrschaft, hat es nie einen Raum für solche Diskussionenan <strong>de</strong>n Universitäten o<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n Krankenhäusern gegeben, <strong>de</strong>nn einepsychosoziale Betrachtung <strong>de</strong>r Entstehung von Krankheiten stellt immerzugleich das soziale System in Frage; also dort <strong>de</strong>n Faschismus.Speziell über Arbeitsunfälle haben wir nichts in Erfahrung gebracht, mankann allerdings mit Sicherheit davon ausgehen, dass die Situation hiersehr <strong>de</strong>solat ist.Die Suche nach einer irgendwie entwickelten Volksmedizin, wie wir sie ausBüchern über China z.B. kennen, war in Portugal völlig ergebnislos. Esgibt entwe<strong>de</strong>r westliche Organmedizin, die je nach finanziellen Möglichkeiten<strong>de</strong>s Trägers auf einem verschie<strong>de</strong>n hohen apparativen Stand ist, o<strong>de</strong>res gibt gar keine Medizin, wie auf <strong>de</strong>m Land und in <strong>de</strong>n Slums.Auf Fragen nach Naturheilkun<strong>de</strong> o.ä. bekamen wir nur Schauergeschichten,die an die Hexen- und Medizinmänner-Horrorstories erinnern, zuhören.
BISHERIGE STRUKTURELLE ÄNDERUNGEN DES GESUNDHEITSWE-SENS DURCH DEN STAATDie Organisation <strong>de</strong>s Gesundheitswesens hat sich in ökonomischer Hinsichtbis heute nicht geän<strong>de</strong>rt. Insbeson<strong>de</strong>re sind die Privilegien <strong>de</strong>r Ärztebisher in keiner Weise beschnitten wor<strong>de</strong>n. Mitte September hörten wirzum ersten Mal von einem Gesetz, das <strong>de</strong>n Ärzten vorschreibt, min<strong>de</strong>stensvier Stun<strong>de</strong>n täglich an einem Krankenhaus zu arbeiten. Nach wie vorunverän<strong>de</strong>rt ist auch die absolute Abhängigkeit von Importen, beson<strong>de</strong>rsaus <strong>de</strong>m westlichen Ausland, bei medizinischen Apparaten und Pharmazeutika.Von einer Gruppe an <strong>de</strong>r Universitätsklinik Coimbra wird die Än<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>rmedizinischen Ausbildung im Interesse <strong>de</strong>s Volkes vorangetrieben.Ebenfalls Mitte September hörten wir, dass ihre Vorschläge vomGesundheitsministerium akzeptiert wor<strong>de</strong>n sind (siehe Bericht ausCoimbra).Bei einem Gespräch mit einem Arzt von <strong>de</strong>r MedizinergewerkschaftLissabon erklärte uns dieser, dass eine Än<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s bestehen<strong>de</strong>n Gesundheitswesensper staatlichem Dekret nicht erstrebenswert sei. Wür<strong>de</strong><strong>de</strong>r Staat z.B. augenblicklich verfügen, dass die Privatkliniken und -praxengeschlossen wer<strong>de</strong>n müssten, so wür<strong>de</strong> das zu einem völligen Versorgungsvakuumführen. Vielmehr muss man <strong>de</strong>n staatlichen Gesundheitsdienstselbst verän<strong>de</strong>rn, verbessern und ausbauen, so dass diePrivatpraxen automatisch ausgetrocknet wer<strong>de</strong>n. Dieses Verän<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>sstaatlichen Gesundheitsdienstes ist allerdings eine Größe, über die imMoment noch wenig gesagt wer<strong>de</strong>n kann.Das Verän<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>s Gesundheitsdienstes von oben ist bisher nur sehrgering o<strong>de</strong>r schlecht angegangen wor<strong>de</strong>n. Ein Beispiel dafür wur<strong>de</strong> immerwie<strong>de</strong>r erzählt:Das Gesundheitsministerium hat Hygienekampagnen auf <strong>de</strong>m Land organisiertund Desinfektionsmittel für das Trinkwasser verteilt. Dieses aberwur<strong>de</strong> letzten En<strong>de</strong>s als Wäschewaschmittel benutzt, da die begleiten<strong>de</strong>Aufklärung nur sehr mangelhaft war.Die wohl relevanteste Än<strong>de</strong>rung von Seiten <strong>de</strong>s Staates war die Schaffung<strong>de</strong>mokratischer Strukturen in <strong>de</strong>n staatlichen Krankenhäusern. Allestaatlichen Krankenhäuser wer<strong>de</strong>n heute nach <strong>de</strong>m gleichen Schema
verwaltet:Je<strong>de</strong> Abteilung wählt einen Abteilungsrat je nach Größe <strong>de</strong>r Abteilung.Hierbei hat je<strong>de</strong>r eine Stimme (Putzfrau bis Chefarzt), es ist keinebestimmte Zusammensetzung dieses Abteilungsrates vorgeschrieben. Diesist erst <strong>de</strong>r Fall beim Krankenhausrat, <strong>de</strong>r von allen Angestellten undArbeitern <strong>de</strong>s Krankenhauses gewählt wird: Im Krankenhausrat ist eineparitätische Zusammensetzung zwischen <strong>de</strong>n Ärzten, <strong>de</strong>n Schwestern und<strong>de</strong>n Arbeitern vorgeschrieben. Als höchstes Organ fungiert die Krankenhausvollversammlung.Die einzigen Direktiven, die <strong>de</strong>r Krankenhausrat andie Abteilungsräte nach unten weitergeben kann, sind solche, die von <strong>de</strong>nBeschlüssen <strong>de</strong>r Vollversammlung abge<strong>de</strong>ckt sind. Ansonsten hat <strong>de</strong>rKrankenhausrat das zu tun, was die Abteilungsräte von unten verlangenund beschließen.Die uns bekannten strukturellen Än<strong>de</strong>rungen, die bisher durchgeführt sind,beschränken sich also auf 4 Punkte:1.Die Arbeitszeit <strong>de</strong>r Ärzte in <strong>de</strong>n staatlichen Krankenhäusern ist erhöhtwor<strong>de</strong>n2.Die Ausbildung <strong>de</strong>r Medizinstu<strong>de</strong>nten ist vollkommen reorganisiertwor<strong>de</strong>n3.In <strong>de</strong>n Krankenhäusern sind <strong>de</strong>mokratische Strukturen geschaffenwor<strong>de</strong>n4.Die Ärztekammern sind zunächst entmachtet, es sind Gewerkschaftengeschaffen wor<strong>de</strong>n.
ZUSAMMENFASSUNGIn <strong>de</strong>n bisherigen Beiträgen, soweit das bestehen<strong>de</strong> portugiesischeGesundheitswesen und die uns bekannt gewor<strong>de</strong>nen verschie<strong>de</strong>nen Basisinitiativenbetroffen sind, haben wir uns möglichst darauf beschränkt, zubeschreiben und wie<strong>de</strong>rzugeben, was wir an <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen Orten anInformationen und Eindrücken kriegen konnten. Natürlich stellen wir unsdie Frage, warum wir uns praktisch mit <strong>de</strong>r Entwicklung in Portugalbeschäftigen, warum wir uns mit bestimmten Basisbewegungen undpolitischen Kräften solidarisieren, die <strong>de</strong>n revolutionären Prozess inPortugal bisher wesentlich bestimmten.Wir meinen Po<strong>de</strong>r Popular, wie sie eingangs schon angeführt ist; wo Po<strong>de</strong>rPopular heute, nach<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Faschismus ein für unsere Maßstäbe in vielerHinsicht unterentwickeltes, dazu in sich noch ungleichzeitig entwickeltesLand und ein Machtvakuum hinterlassen hat, in Portugal die Chance hat,die Entwicklung <strong>de</strong>r ökonomischen und gesellschaftlichen Produktivkräftezu bestimmen; wo Fabrik- und Wohnviertelräte, wo selbstverwalteteLandkooperativen und Soldatenräte und selbstverwaltete Organe in <strong>de</strong>nverschie<strong>de</strong>nen gesellschaftlichen Bereichen <strong>de</strong>r organisierte Ausdruckdafür wer<strong>de</strong>n können, dass und wie sich die portugiesischen Massen dieEntwicklung und Ordnung ihrer Gesellschaft in allen Bereichen vorstellenund schaffen.Zeugnis, dass hier eine revolutionäre Perspektive Wirklichkeit zu wer<strong>de</strong>ndroht, die <strong>de</strong>n ökonomischen und Herrschaftsprinzipien westlicherkapitalistischen Demokratien aber auch <strong>de</strong>r sogenannten Volks<strong>de</strong>mokratienosteuropäischer Prägung eine Alternative entgegensetzt, gibtdie Internationale Szene tagtäglich; sei es in Form versteckter o<strong>de</strong>roffener Gewaltandrohung, ökonomischen Boykotts bzw. Erpressungsmanövern,sei es in Form i<strong>de</strong>ologischer Kampagnen <strong>de</strong>r bürgerlichenPresse- und Medienpolitik, o<strong>de</strong>r aber hinter <strong>de</strong>n Kulissen <strong>de</strong>r Geheimdienstaktivitäten.Das Spannungsfeld von Groß-, Super- o<strong>de</strong>r Blockpolitikbelässt <strong>de</strong>m nationalen revolutionären gesellschaftlichen Prozess einen in<strong>de</strong>r Tat schmalen Weg; dabei verstellt sich einem <strong>de</strong>r Blick für dieSchwierigkeiten und Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong>, die einer revolutionären Entwicklungaus <strong>de</strong>n Wi<strong>de</strong>rsprüchen und Ungleichzeitigkeiten <strong>de</strong>r portugiesischen
Gesellschaft selber entgegenstehen.Das politische Kalkül beson<strong>de</strong>rs <strong>de</strong>r west<strong>de</strong>utschen Sozial<strong>de</strong>mokratie setztan diesen innerportugiesischen Wi<strong>de</strong>rsprüchen an, in ihrer propagandistischenwie nun auch finanziellen Unterstützung. Sie zielt auf eineDurchsetzung <strong>de</strong>r ihr genehmen Kräfte ab, die eine Neutralisierung <strong>de</strong>rrevolutionären Bewegung bewirken soll; das Beispiel Chiles, also dass erstdie blutige Nie<strong>de</strong>rschlagung <strong>de</strong>r revolutionären Bewegung <strong>de</strong>m Kommandokapitalistischer Produktivitätsmaximen, Hierarchie und Fabrikdisziplin Platzmacht und danach nichts als Repression in allen gesellschaftlichenBereichen und kapitalistische Ausbeutungsverhältnisse übrig bleiben, ist indiesem Kalkül durchaus angelegt.Nur die politische Stärke <strong>de</strong>r revolutionären Bewegung, auch im Militär,hat eine zur Zeit offene machtpolitische Situation bewirkt und damitvielleicht die Voraussetzung für ihre weitere Entwicklung geschaffen. Hierkönnen wir nur spekulieren, hoffen o<strong>de</strong>r befürchten, <strong>de</strong>shalb brechen wirda ab.Der kurze Ausflug in "außermedizinische" Bereiche (Überlegungen) istfür uns aus 2 Grün<strong>de</strong>n wichtig:1. be<strong>de</strong>utet es, gera<strong>de</strong> wenn wir von <strong>de</strong>r unterschiedlichen Situation hiernach Portugal schauen, eine neue Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit unserereigenen Realität unter <strong>de</strong>r Sozial<strong>de</strong>mokratie;2. in Portugal wird beson<strong>de</strong>rs <strong>de</strong>utlich erfahrbar, dass es nicht reicht, sichein paar medizinische Projekte anzuschauen, ob <strong>de</strong>nn dort auch einehalbwegs or<strong>de</strong>ntliche Medizin gemacht wird, gemessen an <strong>de</strong>n Standardseiner hochtechnisierten, kurativen Medizin; auch nicht ein psychosomatischerweitertes Krankheitsverstehen, solange es in sozial isoliertenInstitutionen umgesetzt wird. In Portugal, wo es nicht nur um eineVerän<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Bestehen<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn noch überhaupt um die Schaffungeines Gesundheitswesens geht, wird beson<strong>de</strong>rs <strong>de</strong>utlich, was wir immerdie soziale bzw. gesellschaftliche Dimension von Krankheit nennen.Deutlich wird dies in einem positiven Sinn, wenn in Basisbereichen, wo dieportugiesischen Massen um Bedingungen kämpfen, die ein besseres Lebenbe<strong>de</strong>uten - sei es in Fabriken, <strong>de</strong>n Wohnvierteln <strong>de</strong>r Städte, <strong>de</strong>nElendsvierteln, <strong>de</strong>n Dörfern und Landkooperativen - und hier wesentlicheEntscheidungen darüber fallen, wieweit Krankheit in ihren ökonomischen
und sozialen Wurzeln vermie<strong>de</strong>n bzw. ein "gesun<strong>de</strong>s Leben" auch daanzufangen hat.Das heißt negativ, ein Gesundheitswesen, welches mit seinen Institutionen<strong>de</strong>n ökonomischen und sozialen Verhältnissen seines Volkes immerhinterherläuft, kann eben nur kurieren, und sei es noch so "entwickelt".Sehr komplex, weil ungleich entwickelter, aber im Prinzip genauso, stelltsich das Problem hier für uns in <strong>de</strong>r BRD.Einen Gesundheitsdienst, <strong>de</strong>r sich an <strong>de</strong>n Lebensbedingungen (Arbeit,Wohnen und Zusammenleben) orientiert und in unmittelbarem Kontakt dieBetroffenen beteiligt, gibt es in Portugal noch nicht. Was <strong>de</strong>r Faschismushinterlassen hat an Gesundheitsinstitutionen, die in einem erst zuschaffen<strong>de</strong>n Gesundheitswesen eine Rolle spielen wer<strong>de</strong>n, ist <strong>de</strong>nkbarwenig. Mit <strong>de</strong>n privaten Luxusklitschen und <strong>de</strong>n sie betreiben<strong>de</strong>n Parasitenwird nicht zu rechnen sein.Ob Basisinitiativen, wie wir sie kennenlernten, sich weiterentwickeln,an<strong>de</strong>rnorts neue entstehen und mo<strong>de</strong>llhaften Charakter annehmenkönnen, wird darüber entschei<strong>de</strong>n. Die intellektuelle Anstrengung, dieseProjekte jetzt und von hier aus einzuschätzen, sparen wir uns.WIR WERDEN SIE WEITER UNTERSTÜTZEN!