Vor zweihundert JahrenDie Schweiz und Zürich zur Franzosenzeitvon Hans Frei-HadornIm Louvre, der weltberühmten Bildersammlung mitten inParis, hängt ein grosses Gemälde, das eine Ansicht derStadt Zürich vom Käferberg aus zeigt. Das Bild erinnertuns nicht nur an die einst liebliche Landschaft am unteren Ende des Zürichsees, sondern auch an die Besetzungder Schweiz durch französische Truppen. Das war vor bald200 Jahren. Die Franzosen kamen im Jahr 1798 in dieSchweiz und blieben — mit Unterbrüchen — bis gegen Endedes Jahres 1802. Wegen dieser Besetzung wurde 1799die Umgebung von Zürich zweimal zum Schlachtfeld. Vorausgegangen war die französische Revolution. Mit ihr wurde die alte Ordnung, die während einigen hundert JahrenGültigkeit gehabt hatte, hinweggefegt. Es entstand eineneue Zeit; die hat sich in wesentlichen Punkten bis heutedurchgesetzt.Angesichts des Umbruchs, der uns zur Zeit beunruhigt,dürfte es von Interesse sein, zu erfahren, wie unsere Vorfahren die gesellschaftlichen Veränderungen von damalserlebt und durchgestanden haben. Die Kenntnis der Vergangenheit — in grösserem Zeitraum betrachtet — ermöglicht uns die Gegenwart besser zu verstehen.Zwei historische Ereignisse mit grosser WirkungIm zweiten Jahrtausend der christlichen Zeitrechnung,dessen Ende unmittelbar bevorsteht, ereigneten sich zweifundamentale geschichtliche Veränderungen. In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts war es die Reformation,die innnert wenigen Jahren vielen Völkern Europas einneues Gesicht gab. Was bis dahin für sakrosankt gehalten wurde, erschien plötzlich in einem anderen Licht undwurde für nichtig erklärt. Eigenständiges Denken hielt Einzug. Dem Umsturz folgten lange kriegerische Auseinandersetzungen; nur knapp konnte sich die damals 13 örtige Eidgenossenschaft aus dem fast ganz Deutschlandzerstörenden Dreissigjährigen Krieg heraushalten. Nur langsam legten sich die Wellen der Glaubensspaltung.Es bahnte sich unter dem, was man als Aufklärung bezeichnet, fortschrittliches Denken an. Die Lebensumständeverbesserten sich. Die verbreitete Zuversicht verhalf zumallgemeinen Aufschwung, der am besten an der Entwicklung der Künste abgelesen werden kann. Man denke fürdie Malerei an Namen wie Rembrandt und Rubens, für dieMusik an Bach und Händel, Vivaldi, Beethoven, Mozartund Haydn, für die Literatur an Voltaire und Rousseau,Goethe und Schiller. In den Städten schufen die Architekten viele noch heute berühmte Bauwerke. Ludwig XIV, derKönig von Frankreich, verwirklichte mit dem monumentalenSchloss von Versailles seinen Traum eines Herrschaftssitzes, der alle anderen an Ausdehnung und Ausstattungübertraf. Die Phantasie in der Gestaltung der Verzierungenwar grenzenlos. Auch in der Schweiz profitierte man vomGlanz des Königreichs. Viel Geld floss in die Taschen der inFrankreich dienenden Offiziere und in die für die Truppenkontingente verantwortlichen Ratsherren. DieAuswirkungenmanifestierten sich sogar bis in unserer bäuerlichen Kultur,die — vor allem im Bernbiet — überdimesionierte Bauernhäuser hervorbrachte.Was aber in der Reformation weder Luther, Zwingli nochCalvin und im grossen Zeitalter der Aufklärung weder derfranzösische König noch der Kaiserzu schaffen vermochten,war die Befreiung der Menschen von der materiellen Abhängigkeit. Der Wohlstand blieb ungleich verteilt, es gabüberall Reiche und Arme, mehr und minder Berechtigte.Weder die Glaubensspaltung noch dieAufklärung brachteneine ausgleichende Landreform, noch eine allgemeine Mitbestimmung, geschweige denn eine Gleichstellung derBürger vor dem Gesetz. Dem einfachen Mann blieb weiterhin vieles verwehrt, und Abgaben machten ihm das Lebensauer. Wer als Untertan zur Welt kam, blieb Untertan.Der Einstieg in die RevolutionDie Philosophen des Anden Rögime schrieben, dass nichtmehr die Religion, sondern die Vernunft der Prüfstein allerWahrheit sei. Im Volk wurde das nicht nur als neue Erkenntnis, sondern auch als Aufmunterung verstanden; esbegehrte Veränderungen. Die Potentaten dachten jedochnicht daran, solche Bestrebungen zu dulden. Ludwig XIVsonnte sich in seinem Glanz und gedachte davon nichtsabzutreten, er nannte sich «Sonnenkönig» und herrschteuneingeschränkt. Von ihm stammt die Aussage: «Gott, derdie Könige über die Menschen gesetzt hat, wollte dass manmich als Gottes Stellvertreter auf Erden achte. Nur mir istdas Recht vorbehalten, über die Taten der Menschen zuurteilen. Es ist Gottes Wille, dass alle, die als Untertanengeboren sind, willenlos dem König zu gehorchen haben«.Es wardieZeitdesAbsolutismus.Alleswardem König untergeordnet, und niemand durfte sein Finanzgebahren hinterfragen.Die 28 Millionen Franzosen wurden von des KönigsGünstlingen regiert. Nicht die Gerechtigkeit, sondern alleinder Gehorsam war Richtschnur für alle Handlungen. Mit hohen Beträgen aus der Staatskasse hielten Ludwig XIV undseine Nachfolger Ludwig XV. und Ludwig XVI. das Regimeaufrecht, bis der von ihnen geplünderte Staat bankrott war.Der König versuchte, die verfahrene Situation zu retten.Der Adel, der vom Fiskus noch verschont war verweigerteihm die Unterstützung. Am 25. Mai 1787 wurde eine Sitzung des Notabelnrates der «Etats privilögiös» aufgelöst.Der König gab später deren Wunsch nach Einberufungder «Etats Gönöraux« auf den 5. Mai 1789 nach Versaillesnach, wobei die gewählten Abgeordneten ihre Beschwerdenin sogenannten «Cahiers de Dolöances» einreichen konnten.Zu den «Etats G~n~raux« gehörte neben dem Klerus unddem Adel auch der «Tiers Etat», d.h. der Dritte Stand, dienicht privilegierte Bürgerschaft. Das geplagte Volk sahMorgenröte, erkannte seine Chance und begehrte nunmehr als nur eine Steuerreform. Zum Schrecken des Königsdeklarierten sich die «Etatsgönöraux« aus der Erkennnis ihrerMachtüberlegenheit schon am 17. Juni als «konstituierende