Der virtuelle Raum in Vermeers Gemälde »Brieflesendes ... - M10
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5. Tagung der DGfGG 2009 D. Lordick<br />
<strong>Der</strong> <strong>virtuelle</strong> <strong>Raum</strong> <strong>in</strong> <strong>Vermeers</strong> <strong>Gemälde</strong><br />
<strong>»Brieflesendes</strong> Mädchen am offenen Fenster«<br />
Daniel Lordick (TU Dresden)<br />
Für e<strong>in</strong> museumspädagogisches Projekt der <strong>Gemälde</strong>galerie Alte Meister Dresden wurde die räumliche Situation<br />
rekonstruiert, die <strong>in</strong> <strong>Vermeers</strong> <strong>Gemälde</strong> <strong>»Brieflesendes</strong> Mädchen am offenen Fenster« wiedergegeben ist. Das Bild<br />
bietet für e<strong>in</strong>e Rekonstruktion der Perspektive vergleichsweise wenige und auch nicht sehr genaue Anhaltspunkte.<br />
Um trotzdem möglichst präzise Aussagen machen zu können, wurde e<strong>in</strong>e spezielle Methode entwickelt. Es geht<br />
im Wesentlichen um e<strong>in</strong>e dynamische, perspektivische Zeichnung mit <strong>in</strong>teraktiv justierbaren Parametern, die am<br />
Computerbildschirm mit e<strong>in</strong>em Messfoto des <strong>Gemälde</strong>s <strong>in</strong> maximale Übere<strong>in</strong>stimmung gebracht werden kann.<br />
Keywords: Vermeer, Zentralperspektive, Rekonstruktion, Rh<strong>in</strong>oceros, Grasshopper<br />
1 E<strong>in</strong>leitung<br />
Die <strong>Gemälde</strong>galerie Alte Meister Dresden plant<br />
für 2010 e<strong>in</strong>e Ausstellung zum Frühwerk von Johannes<br />
Vermeer. In diesem Zusammenhang und<br />
für e<strong>in</strong> Weiterbildungsprogramm der Volkshochschule<br />
Dresden soll die räumliche Situation aus<br />
dem berühmten Dresdner <strong>Gemälde</strong> <strong>»Brieflesendes</strong><br />
Mädchen am offenen Fenster« (Abb. 1) <strong>in</strong> Orig<strong>in</strong>algröße<br />
nachgebaut werden. In den Werkstätten<br />
der Hochschule für Bildende Künste Dresden entstehen<br />
Fenster, Wände, Möbel und sogar das Mädchen<br />
– als Puppe mit Kostüm. Die verschiedenen<br />
Komponenten des E<strong>in</strong>s-zu-e<strong>in</strong>s-Modells sowie<br />
Augpunktmarkierung und Bilderrahmen werden<br />
beweglich ausgebildet. So kann der Besucher die<br />
Situation verändern und durch Schauen aus dem<br />
Augpunkt selbst überprüfen, wann e<strong>in</strong>e möglichst<br />
genaue Übere<strong>in</strong>stimmung mit dem <strong>Gemälde</strong> erreicht<br />
wird.<br />
Für e<strong>in</strong> derartiges Projekt s<strong>in</strong>d natürlich möglichst<br />
exakte Maßangaben zu den fraglichen Objekten<br />
und deren jeweiligen Position im <strong>Raum</strong> wünschenswert.<br />
Um die Gew<strong>in</strong>nung dieser Angaben<br />
aus dem <strong>Gemälde</strong>, <strong>in</strong> Abstimmung mit der Konservator<strong>in</strong><br />
Dr. Uta Neidhardt und dem Restaurator<br />
Christoph Schölzel von den Staatlichen Kunstsammlungen<br />
Dresden, geht es <strong>in</strong> der vorliegenden<br />
Untersuchung. Bekanntlich kann e<strong>in</strong>e Rekonst-<br />
ruktion der Maßangaben nur gel<strong>in</strong>gen, wenn dem Bild e<strong>in</strong>e entsprechende Projektion zu Grunde liegt.<br />
Inwiefern diese Voraussetzung erfüllt ist, wird im folgenden Abschnitt erörtert.<br />
2 Abbildungsqualität des <strong>Gemälde</strong>s<br />
Abb. 1: Johannes Vermeer (1632-1675):<br />
Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster.<br />
Um 1659, Öl auf Le<strong>in</strong>wand, 83 x 64,5 cm,<br />
<strong>Gemälde</strong>galerie Alte Meister Dresden.<br />
Foto: Elke Estel/ Hans-Peter Klut<br />
Die berühmten Interieurs von Johannes Vermeer haben schon viele Betrachter dazu verführt, die dargestellten<br />
Räume als wirkliche Orte zu begreifen und diese mit den Methoden der Zentralperspektive zu<br />
rekonstruieren. E<strong>in</strong>e umfangreiche Arbeit zum Thema hat Philip Steadman mit dem Buch »Vermeer’s<br />
Camera – Uncover<strong>in</strong>g the Truth Beh<strong>in</strong>d the Masterpieces« [3] vorgelegt.<br />
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5. Tagung der DGfGG 2009 D. Lordick<br />
Auch hier gehen wir davon aus, <strong>Vermeers</strong> Bildschöpfung<br />
mit dem brieflesenden Mädchen folgt<br />
den Gesetzen der Zentralperspektive. Hervorzuheben<br />
ist jedoch, dass im <strong>Gemälde</strong> und unter den<br />
Farbschichten – nach e<strong>in</strong>gehenden Untersuchungen<br />
mit Mikroskop, Röntgenbild und Infrarotreflektografie<br />
– ke<strong>in</strong>erlei H<strong>in</strong>weise auf zeichnerische<br />
Konstruktionen gefunden werden können.<br />
Außerdem liegt von den nützlichen Fluchtpunkten<br />
nur der Hauptpunkt auf der Bildfläche, die anderen<br />
s<strong>in</strong>d fast unerreichbar (Abb. 2). Das macht<br />
die Konstruktion der Perspektive zwar nicht unmöglich,<br />
aber, vor allem im Vergleich mit zeitgenössischen<br />
Zeichnungen und <strong>Gemälde</strong>n [2], doch<br />
unwahrsche<strong>in</strong>lich. Darüber h<strong>in</strong>aus verstärken<br />
gewisse Ungenauigkeiten <strong>in</strong> der Ausführung den<br />
E<strong>in</strong>druck, das <strong>Gemälde</strong> sei ohne detaillierte Perspektivezeichnung<br />
entstanden. So s<strong>in</strong>d etwa die<br />
vertikalen Fenstersprossen ke<strong>in</strong>eswegs zue<strong>in</strong>ander<br />
parallel, sondern schneiden e<strong>in</strong>ander e<strong>in</strong> gutes<br />
Stück jenseits des oberen Bildrandes.<br />
Wenn also ke<strong>in</strong>e zeichnerische Konstruktion<br />
zugrunde liegt, wie wurde dann die Perspektive<br />
produziert? Nach den Untersuchungen von Philip<br />
Steadman [3] sche<strong>in</strong>t es evident, Vermeer habe<br />
e<strong>in</strong>e Camera obscura benutzt. Auch andere zu<br />
jener Zeit bereits bekannte Hilfsmittel kann er<br />
h<strong>in</strong>zugezogen haben, um die exakte Projektion zu<br />
gewährleisten. Tatsächlich wissen wir sehr wenig<br />
über Vermeer. Aus der dünnen Quellenlage kann<br />
der E<strong>in</strong>satz e<strong>in</strong>er Camera obscura weder be- noch<br />
widerlegt werden. Aber es gibt e<strong>in</strong>e Reihe von<br />
Indizien <strong>in</strong> <strong>Vermeers</strong> <strong>Gemälde</strong>n, die Steadmans<br />
These stützen.<br />
So hat bereits Joseph Pennell 1891 die Theorie<br />
vertreten, das <strong>Gemälde</strong> »Soldat mit lachendem<br />
Mädchen« (Abb. 3), etwa aus der selben Zeit wie<br />
das brieflesende Mädchen und wahrsche<strong>in</strong>lich im<br />
selben <strong>Raum</strong> gemalt, sei mit Hilfe e<strong>in</strong>er Camera<br />
obscura entstanden. <strong>Der</strong> markante Größenunterschied<br />
von Offizier und Mädchen und die radikale<br />
Perspektive s<strong>in</strong>d für jene Zeit revolutionär und e<strong>in</strong>er<br />
Aufnahme mit e<strong>in</strong>er Fotokamera vergleichbar.<br />
Auch die m<strong>in</strong>uziöse Wiedergabe der Landkarten,<br />
die den Bildh<strong>in</strong>tergrund e<strong>in</strong>iger <strong>Gemälde</strong> <strong>Vermeers</strong><br />
schmücken, legen die Vermutung nahe, er habe<br />
e<strong>in</strong> technisches Hilfsmittel e<strong>in</strong>gesetzt (vgl. z.B.<br />
Abb. 3). Wenn das Hilfsmittel e<strong>in</strong>e Camera obscura<br />
war, so muss Vermeer durch e<strong>in</strong>e L<strong>in</strong>se geschaut<br />
haben. Die Unschärfen und Lichtreflexe <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em<br />
<strong>Gemälde</strong> »Mädchen mit rotem Hut« sche<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>e<br />
derartige Seherfahrung wiederzugeben.<br />
75<br />
H<br />
D o<br />
Abb. 2: Rekonstruktionsversuch durch Nachzeichnen;<br />
Zonen, <strong>in</strong> denen sich Fluchtpunkte bef<strong>in</strong>den; Fluchtpunkte<br />
außerhalb der Bildfläche<br />
Abb. 3: Johannes Vermeer (1632-1675):<br />
Soldat mit lachendem Mädchen<br />
ca. 1655-1660, Öl auf Le<strong>in</strong>wand, 50,5 x 46 cm<br />
Frick Collection, New York<br />
F
5. Tagung der DGfGG 2009 D. Lordick<br />
Steadmans erstaunlichste Entdeckung beruht aber auf dem Vergleich von zehn <strong>Gemälde</strong>n <strong>Vermeers</strong>, die<br />
ansche<strong>in</strong>end denselben <strong>Raum</strong> darstellen, <strong>in</strong> dem lediglich die Gegenstände je nach Bild neu arrangiert<br />
wurden [5]. In sechs der Bildkompositionen trifft die Sehpyramide durch den Augpunkt die Wand h<strong>in</strong>ter<br />
dem Betrachter genau <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Rechteck, das dem Format des jeweiligen <strong>Gemälde</strong>s entspricht. Vermeer<br />
könnte also e<strong>in</strong>e Trennwand mit e<strong>in</strong>er L<strong>in</strong>se benutzt haben, um an der Rückwand das Bild – auf dem<br />
Kopf stehend und seitenverkehrt – auf e<strong>in</strong>er gespannten Le<strong>in</strong>wand zu entwerfen.<br />
Das Dresdner <strong>Gemälde</strong> mit dem brieflesenden Mädchen gehört zu den ersten Bildern, <strong>in</strong> denen Vermeer<br />
se<strong>in</strong>e charakteristische Darstellung von Interieurs entwickelt hat. <strong>Der</strong> E<strong>in</strong>satz e<strong>in</strong>er Camera obscura ist<br />
wahrsche<strong>in</strong>lich. In jedem Fall hatte Vermeer e<strong>in</strong>e starke Leidenschaft für Fragen der Projektion und es<br />
darf angenommen werden: Das <strong>Gemälde</strong> besitzt im Wesentlichen die geometrischen Qualitäten e<strong>in</strong>er<br />
fotografischen Darstellung, es folgt den Gesetzen e<strong>in</strong>er Zentralperspektive und ist somit für e<strong>in</strong>en Rekonstruktionsversuch<br />
geeignet.<br />
3 Annahmen<br />
Im Allgeme<strong>in</strong>en können räumliche Objekte nur mit (m<strong>in</strong>destens) e<strong>in</strong>em Zweibildersystem e<strong>in</strong>deutig abgebildet<br />
und nur aus e<strong>in</strong>em solchen rekonstruiert werden. Versucht man die Rekonstruktion aus nur e<strong>in</strong>em<br />
Bild, so muss man e<strong>in</strong>ige Annahmen treffen, die das Fehlen des zweiten Bildes kompensieren. Diese<br />
Strategie läuft unterbewusst und <strong>in</strong>tuitiv bei jeder Bildbetrachtung ab. Gewisse optische Täuschungen<br />
(Impossibles) rücken das <strong>in</strong>s Bewusstse<strong>in</strong>. Die zu treffenden Annahmen beruhen <strong>in</strong> anschaulicher Weise<br />
auf dem kollektiven Erfahrungsschatz und auf Beobachtungen <strong>in</strong> anderen <strong>Gemälde</strong>n <strong>Vermeers</strong>.<br />
Die erste Annahme ist, es handelt sich um e<strong>in</strong>e Frontalperspektive. Das heißt die Wand h<strong>in</strong>ter dem<br />
Mädchen ist parallel zur Bildebene und die Wand mit dem Fenster dazu orthogonal. Die horizontalen<br />
L<strong>in</strong>ien <strong>in</strong> der Fensterwand s<strong>in</strong>d also Tiefenl<strong>in</strong>ien und ihre Bilder schneiden e<strong>in</strong>ander im Hauptpunkt H<br />
der Perspektive. Die zwei im Hellen liegenden Kanten <strong>in</strong> der Fensterlaibung s<strong>in</strong>d zur Bildebene parallel<br />
und im Bild horizontal. Diese Aufstellung ist für e<strong>in</strong>e konstruierte Perspektive beliebt und günstig. Für<br />
die Abbildung mit e<strong>in</strong>er Camera obscura ist sie aber ke<strong>in</strong>eswegs zw<strong>in</strong>gend. Es handelt sich also um e<strong>in</strong>e<br />
bewusste Setzung, mit der e<strong>in</strong>e strenge Bildkomposition erreicht wird.<br />
Die zweite Annahme betrifft das Fenster. Es ist regelmäßig unterteilt, sechzehn der Gläser haben dasselbe<br />
Format, die horizontalen L<strong>in</strong>ien führen zu e<strong>in</strong>em Fluchtpunkt F auf dem Horizont und die Diagonalen<br />
haben je e<strong>in</strong>en Fluchtpunkt D und D im selben Abstand über und unter F (Abb. 2).<br />
o u<br />
Im Vordergrund bef<strong>in</strong>det sich e<strong>in</strong> Tisch, über den nach dem Geschmack der Zeit e<strong>in</strong> prächtiger Teppich<br />
geworfen ist. Darauf lagert e<strong>in</strong>e Obstschale. Für den Tisch werden gebräuchliche Maße angenommen.<br />
<strong>Der</strong> Stuhl ist zwar nur zu e<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>en Teil zu sehen, bildet aber die beste Referenz für die übrigen<br />
Maße. Er ist auch auf anderen Bildern <strong>Vermeers</strong> verewigt und entsprechende Möbel s<strong>in</strong>d etwa im Rijksmuseum<br />
Amsterdam erhalten.<br />
Die <strong>in</strong>time Stimmung des <strong>Gemälde</strong>s wird unter anderem durch den grünen Vorhang am rechten Bildrand<br />
erzeugt. Es handelt sich um e<strong>in</strong> Trompe-l’œil, das die zu <strong>Vermeers</strong> Zeit durchaus gebräuchliche<br />
Angewohnheit aufgreift, <strong>Gemälde</strong> mit e<strong>in</strong>em Vorhang zu verdecken. <strong>Der</strong> Vorhang gehört also nicht zum<br />
<strong>Raum</strong>, <strong>in</strong> dem das Mädchen steht.<br />
4 Klassische Rekonstruktion<br />
Üblicherweise wird man die Rekonstruktion e<strong>in</strong>es Interieurs von Vermeer laut Steadman nur versuchen,<br />
wenn man zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong>en Teil der Bodenfliesen sehen kann [5]. Auf den ersten Blick sche<strong>in</strong>t es<br />
also unwahrsche<strong>in</strong>lich, dass die Angaben im <strong>Gemälde</strong> <strong>»Brieflesendes</strong> Mädchen am offenen Fenster«<br />
ausreichend s<strong>in</strong>d. Tatsächlich genügen aber der geöffnete Fensterflügel und e<strong>in</strong> fundiertes Wissen über<br />
Perspektivkonstruktionen für die Lösung.<br />
Die eigentliche Schwierigkeit besteht <strong>in</strong> der bed<strong>in</strong>gten Genauigkeit der Vorlage. E<strong>in</strong> <strong>Gemälde</strong> ist ke<strong>in</strong>e<br />
Fotografie und gehorcht eher der freien künstlerischen Gestaltung denn der Perspektive. Im langwieri-<br />
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5. Tagung der DGfGG 2009 D. Lordick<br />
gen Malprozess gab es e<strong>in</strong>e Fülle von Änderungen, die zum Teil <strong>in</strong> den Röntgenbildern sichtbar werden.<br />
Folglich s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>zelne L<strong>in</strong>ien von ger<strong>in</strong>ger Zuverlässigkeit. Letztlich ist nur e<strong>in</strong>e möglichst gute Annäherung<br />
im Ganzen möglich. Besonders mühsam ist deshalb, wenn man lediglich durch Nachzeichnen<br />
der vorhandenen Kanten zum Erfolg kommen will. Die verlängerten Kanten schneiden e<strong>in</strong>ander ke<strong>in</strong>eswegs<br />
e<strong>in</strong>deutig <strong>in</strong> den jeweiligen Fluchtpunkten. Stattdessen zeigen sich mehr oder weniger große<br />
Zonen, <strong>in</strong> denen die Fluchtpunkte vermutet werden müssen (Abb. 2). Durch wiederholtes Anpassen und<br />
Neuzeichnen kann man sich der Lösung iterativ nähern, läuft aber Gefahr, durch willkürliche Setzungen<br />
die Gesamtheit aus dem Blick zu verlieren.<br />
5 Dynamische Rekonstruktion<br />
An Stelle des traditionellen Vorgehens kommt für dieses <strong>Gemälde</strong> e<strong>in</strong>e speziell entwickelte Methode<br />
zum E<strong>in</strong>satz. Zunächst werden die offensichtlich im <strong>Gemälde</strong> vorhandenen und bereits beschriebenen<br />
Zusammenhänge <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e ideale zentralperspektivische Konstruktion übersetzt. In dieser bleiben alle<br />
relevanten und geschätzten Maße variabel und können nachträglich so lange angepasst und gegene<strong>in</strong>ander<br />
ausbalanciert werden, bis die Geraden der idealen Konstruktion e<strong>in</strong>e maximale Übere<strong>in</strong>stimmung mit<br />
den L<strong>in</strong>ien im Messbild des <strong>Gemälde</strong>s haben. Die »maximale Übere<strong>in</strong>stimmung« liegt <strong>in</strong> re<strong>in</strong> visuellem<br />
Ermessen. Methoden der automatischen Bilderkennung werden nicht benutzt.<br />
Die zentralperspektivische Konstruktion wurde mit der Software Rh<strong>in</strong>oceros und dort im Wesentlichen<br />
mit dem PlugIn Grasshopper realisiert. Grasshopper ist e<strong>in</strong> relativ leicht erlernbares Werkzeug für<br />
parametrisches Konstruieren. Die Zeichenschritte werden <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Art Schaltung übersetzt und für jede<br />
Maßangabe wird e<strong>in</strong> Schieberegler mit geeignetem Wertebereich angelegt (Abb. 4).<br />
Abb. 4: Überlagerung der algorithmisch erzeugten idealen Perspektivekonstruktion (helle L<strong>in</strong>ien) mit den L<strong>in</strong>ien im<br />
<strong>Gemälde</strong>, l<strong>in</strong>ks frontale Kontrollzeichnung des Fensters, rechts Regler und Parameter <strong>in</strong> Grasshopper (Ausschnitt)<br />
Startpunkt für die Festlegung der Maße ist die Annahme, das Mädchen sei 155 cm groß und befände<br />
sich mittig vor dem offenen Fenster. Da die Füße des Mädchens nicht zu sehen s<strong>in</strong>d, wird für die Statur<br />
e<strong>in</strong> Vergleich mit dem Mädchen <strong>in</strong> <strong>Vermeers</strong> <strong>Gemälde</strong> »Die Malkunst« herangezogen. Daraus leitet sich<br />
e<strong>in</strong>e erste Schätzung für die Höhe des Fensterflügels ab. Alle anderen Maße beziehen sich darauf. Durch<br />
das Drehgelenk des Fensters wird die Bildebene p der Zentralperspektive gelegt.<br />
<strong>Der</strong> Abgleich der idealen Konstruktion mit dem <strong>Gemälde</strong> geschieht durch Regeln der Parameter <strong>in</strong> mehren<br />
kontrollierten Schritten. An erster Stelle steht die Festlegung des Hauptpunktes H. Dazu werden die<br />
Variablen »Aughöhe« und »Abstand zur Fensterwand« mite<strong>in</strong>ander <strong>in</strong> E<strong>in</strong>klang gebracht. <strong>Der</strong> Hauptpunkt<br />
bef<strong>in</strong>det sich demnach h<strong>in</strong>ter dem Mädchen fast am Rand des Vorhangs und etwas oberhalb se<strong>in</strong>er<br />
Aughöhe. <strong>Der</strong> Betrachter ist also größer als das Mädchen. Im nächsten Schritt wird der Fluchtpunkt F<br />
der horizontalen Sprossen des geöffneten Fensters so lange auf dem Horizont verschoben, bis die Sprossen<br />
möglichst genau getroffen s<strong>in</strong>d.<br />
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5. Tagung der DGfGG 2009 D. Lordick<br />
Nun folgt der entscheidende Schritt der Rekonstruktion: Die Frage nach dem Abstand des Malers von<br />
der Bildebene (Distanz). Sie kann beantwortet werden, wenn man <strong>in</strong> nahe liegender Weise annimmt, der<br />
geöffnete Fensterflügel passt <strong>in</strong> die Fensterlaibung. Die Proportionen von Fensterflügel und Öffnung<br />
müssen also übere<strong>in</strong>stimmen. Unter dieser Voraussetzung balancieret man »Proportion des Fensterflügels«<br />
mit »Distanz« gegene<strong>in</strong>ander aus. Zeichnerisch s<strong>in</strong>d die Proportionen über die Rechteckdiagonalen<br />
und die zugehörigen Fluchtpunkte gekoppelt. E<strong>in</strong>e überzeugende Übere<strong>in</strong>stimmung von <strong>Gemälde</strong><br />
und Konstruktion ergibt sich bei e<strong>in</strong>em Seitenverhältnis von 2 zu 3 für den Fensterflügel. Das kann auch<br />
unter Berücksichtigung gebräuchlicher Fenstermaße mit großer Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit als treffendes Ergebnis<br />
gewertet werden. Die zugehörige Distanz zur Bildebene p ist ca. 4 m, der Abstand zum Mädchen<br />
etwas ger<strong>in</strong>ger. Zugleich liegt der Öffnungsw<strong>in</strong>kel des Fensters bei ca. 132°.<br />
Die übrigen Maße folgen auf analoge Weise. Die Rekonstruktionsschritte mithilfe der <strong>in</strong> der Grasshopper-Schaltung<br />
verpackten Algorithmen s<strong>in</strong>d hier im Überblick skizziert:<br />
1. F<strong>in</strong>den des Hauptpunktes<br />
2. F<strong>in</strong>den des Fensterflügelfluchtpunktes<br />
3. Fensterrahmen als rundum gleich stark annehmen<br />
4. Proportion des Fensterflügels mit der Distanz ausbalancieren<br />
5. Ornament im Fenster bestimmen<br />
6. Profil des Fensterrahmens angeben, Laibung messen<br />
7. Stuhllehne e<strong>in</strong>messen, im Rückgriff Maßannahmen prüfen<br />
8. Größe des Mädchens gegebenenfalls korrigieren (160 cm)<br />
9. Lage des Tisches ermitteln, Schale manuell e<strong>in</strong>messen<br />
10. Bilderrahmen festlegen und <strong>Gemälde</strong>ebene ermitteln<br />
Die ermittelten Maße werden <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Tabelle übertragen und gegebenenfalls maßstäblich umgerechnet.<br />
Anschließend wird e<strong>in</strong> 3-D-Modell erzeugt und entsprechend den perspektiven Angaben gerendert, um<br />
die Übere<strong>in</strong>stimmung nochmals zu prüfen. Zuletzt entstehen die Pläne für die Projektpartner (Abb. 5).<br />
Augpunkt<br />
(verschieblich)<br />
152.2<br />
105.8<br />
Augpunkt<br />
Bilderrahmen<br />
zum Verschieben<br />
Wand z.B. 30 cm stark, m<strong>in</strong>. 23 cm<br />
Verschiebebereiche von<br />
Augpunkt und Bilderrahmen<br />
Wand z.B. 350 cm hoch, m<strong>in</strong>. 320 cm<br />
60.7<br />
64.5<br />
137.7 122.6<br />
85.0<br />
16.8<br />
z.B.<br />
150<br />
450.5<br />
10.1<br />
100.2 14.8 93.4<br />
Tisch<br />
2.4<br />
Tisch<br />
75.0<br />
2.1 57.9 2.1<br />
14.8<br />
62.2<br />
14.8<br />
132°<br />
65.1 50.1<br />
115.2<br />
30°<br />
Sehstrahl durch Spiegelbild<br />
trifft Mädchen so nicht!<br />
73.7<br />
105.8<br />
Rahmenprofil ca. 12 cm<br />
5.2<br />
12.6<br />
Bild mit Amor<br />
(ca. 88 x 120 cm)<br />
8.2<br />
16.3<br />
93.4<br />
Tisch<br />
62.2<br />
160.0<br />
5.9 50.4 5.9<br />
Abb. 5: Bemaßte Risse; im Grundriss Darstellung des Sehstrahls durch die Spiegelung des Mädchenkopfes<br />
78<br />
5.9<br />
81.6<br />
5.9
5. Tagung der DGfGG 2009 D. Lordick<br />
6 Anmerkungen<br />
Bei der <strong>in</strong>tensiven Beschäftigung mit dem <strong>Gemälde</strong> s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>ige bemerkenswerte D<strong>in</strong>ge zu Tage getreten,<br />
die hier kurz erläutert werden sollen.<br />
<strong>Der</strong> Horizont, das heißt die Aughöhe des Betrachters, teilt die Bildfläche <strong>in</strong> zwei nahezu gleich große<br />
Teile. <strong>Der</strong> Hauptpunkt teilt den Horizont nahezu <strong>in</strong> das Teilverhältnis 2 zu 1. Sehr exakt fällt die Schwerel<strong>in</strong>ie<br />
des Mädchens (Ohr) <strong>in</strong> die Mittelsenkrechte des Bildes.<br />
Die Position des Mädchens im <strong>Raum</strong> kann nur geschätzt werden. Allerd<strong>in</strong>gs ist der für sie zur Verfügung<br />
stehende <strong>Raum</strong> durch Tisch, Fenster und Stuhl stark e<strong>in</strong>geschränkt. So wird sich ihr Standpunkt womöglich<br />
<strong>in</strong> natürlicher Weise mittig zwischen den Objekten bef<strong>in</strong>den. Diese Annahme steht allerd<strong>in</strong>gs im<br />
Widerspruch zur Spiegelung des Mädchenkopfes im Fensterglas. Verfolgt man nämlich den Sehstrahl<br />
durch die Spiegelung, so stellt man fest, dass er das Mädchen ke<strong>in</strong>esfalls trifft (Abb. 5). Das legt die<br />
Vermutung nahe, das Mädchen stand <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er ersten Fassung nicht nur mit dem Rücken zum Betrachter<br />
gedreht, wie das Röntgenbild offenbart, sondern auch deutlich näher an der Wand. Das könnte erklären,<br />
warum das Mädchen <strong>in</strong> der ersten Fassung kle<strong>in</strong>er ersche<strong>in</strong>t als <strong>in</strong> der endgültigen. Das Spiegelbild<br />
wurde der neuen Fassung nicht angepasst.<br />
Das im Röntgenbild schemenhaft erkennbare <strong>Gemälde</strong> e<strong>in</strong>es Amors ersche<strong>in</strong>t auch <strong>in</strong> <strong>Vermeers</strong> <strong>Gemälde</strong>n<br />
»Unterbrochene Musikstunde« und »Stehende Virg<strong>in</strong>alspieler<strong>in</strong>«. Allerd<strong>in</strong>gs kann es mit diesen<br />
nicht befriedigend zur Deckung gebracht werden. Es handelt sich also sche<strong>in</strong>bar nicht um e<strong>in</strong>e orig<strong>in</strong>algetreue<br />
<strong>Gemälde</strong>kopie.<br />
Den markanten Schatten an der Wand h<strong>in</strong>ter dem Kopf des Mädchens muss man als malerische Erf<strong>in</strong>dung<br />
deuten, die den Kopf des Mädchens mit großer Plastizität hervortreten lässt. <strong>Der</strong> Schatten ist durch<br />
die Gegebenheiten im <strong>Raum</strong>, die Lage des Fensters und die Lichtverhältnisse nicht zu erklären.<br />
E<strong>in</strong> Vergleich des Fensters mit jenem im »Soldaten mit dem lachenden Mädchen« (Abb. 3) legt den<br />
Schluss nahe, von e<strong>in</strong>er ursprünglich zweiflügeligen Anlage ist der l<strong>in</strong>ke Teil verdeckt worden. Die<br />
Folge ist e<strong>in</strong>e ungleich <strong>in</strong>timere Lichtführung. Zu den Unterschieden gehört auch, dass beim »Brieflesenden<br />
Mädchen« im oberen Fensterteil die Mündung des geschwungenen Laibungsprofils nicht zu<br />
sehen ist. Rechts ist sie vom roten Vorhang verdeckt, während l<strong>in</strong>ks e<strong>in</strong>fach e<strong>in</strong>e gerade Kante steht, wo<br />
eigentlich die gekurvte Mündung se<strong>in</strong> müsste. Aufgrund der Manipulationen an der Gestalt der Fensteröffnung<br />
durch den Maler können wir nicht mit letzter Gewissheit sagen, ob die Fensteröffnung <strong>in</strong> ihrer<br />
dargestellten Breite dem geöffneten Fensterflügel entspricht. Das ist aber die notwendige und zentrale<br />
Annahme für die Rekonstruierbarkeit der Distanz. E<strong>in</strong>e hohe Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit für die Richtigkeit der<br />
Rekonstruktion ergibt sich letztlich aber doch durch das gute Ine<strong>in</strong>andergreifen aller Maße und Parameter.<br />
Literatur<br />
[1] Menzel, G. W.: Vermeer. VEB E. A. Seemann, Buch und Kunstverlag Leipzig, Leipzig, 1977<br />
[2] Schölzel, Ch.: Die Konstruktion unter der Farbe. Zu den Unterzeichnungen der Dresdener<br />
<strong>Gemälde</strong> von Gerrit Adriaensz. Berckheyde. Deutscher Kunstverlag Berl<strong>in</strong> München / Edition<br />
Imorde, Emsdetten/Berl<strong>in</strong>, 2009,106-113<br />
[3] Steadman, Ph.: Vermeer‘s Camera. Uncover<strong>in</strong>g the Truth Beh<strong>in</strong>d the Masterpieces. Oxford<br />
University Press Inc., New York, 2001<br />
[4] Essential Vermeer Resources. Homepage: http://www.essentialvermeer.com<br />
[5] Website zu Philip Steadmans Buch. Homepage: http://www.vermeerscamera.co.uk<br />
Anschrift des Autors<br />
Dr. Daniel Lordick E-Mail: daniel.lordick@tu-dresden.de<br />
Institut für Geometrie URL: www.daniellordick.de<br />
Technische Universität Dresden<br />
01062 Dresden<br />
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