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Alter – Schicksal oder Gnade?

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Gunda Schneider-Flume<br />

<strong>Alter</strong> <strong>–</strong><br />

<strong>Schicksal</strong> <strong>oder</strong> <strong>Gnade</strong>?<br />

Vandenhoeck & Ruprecht


Gunda Schneider-Flume, <strong>Alter</strong> <strong>–</strong> <strong>Schicksal</strong> <strong>oder</strong> <strong>Gnade</strong>?<br />

© 2010; 2008 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen<br />

ISBN Print: 978-3-525-62404-3


Gunda Schneider-Flume, <strong>Alter</strong> <strong>–</strong> <strong>Schicksal</strong> <strong>oder</strong> <strong>Gnade</strong>?<br />

© 2010; 2008 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen<br />

ISBN Print: 978-3-525-62404-3


Gunda Schneider-Flume, <strong>Alter</strong> <strong>–</strong> <strong>Schicksal</strong> <strong>oder</strong> <strong>Gnade</strong>?<br />

Gunda Schneider-Flume<br />

<strong>Alter</strong> <strong>–</strong><br />

<strong>Schicksal</strong> <strong>oder</strong> <strong>Gnade</strong>?<br />

Theologische Überlegungen<br />

zum demographischen Wandel<br />

und zum <strong>Alter</strong>(n)<br />

2. Auflage<br />

Vandenhoeck&Ruprecht<br />

© 2010; 2008 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen<br />

ISBN Print: 978-3-525-62404-3


Gunda Schneider-Flume, <strong>Alter</strong> <strong>–</strong> <strong>Schicksal</strong> <strong>oder</strong> <strong>Gnade</strong>?<br />

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek<br />

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der<br />

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind<br />

im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.<br />

ISBN 978-3-525-62404-3<br />

© 2010, 2008, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen /<br />

Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Oakville, CT, U.S.A.<br />

Internet: www.v-r.de<br />

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Printed in Germany.<br />

Satz: weckner media+print GmbH, Göttingen<br />

Druck und Bindung: e Hubert & Co, Göttingen<br />

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.<br />

© 2010; 2008 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen<br />

ISBN Print: 978-3-525-62404-3


Gunda Schneider-Flume, <strong>Alter</strong> <strong>–</strong> <strong>Schicksal</strong> <strong>oder</strong> <strong>Gnade</strong>?<br />

Inhalt<br />

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9<br />

1. KAPITEL<br />

<strong>Schicksal</strong> und <strong>Gnade</strong> . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13<br />

1. Abraham und Simeon <strong>–</strong> Leben in Gottes Geschichte . . 13<br />

2. Integration <strong>oder</strong> Ausgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15<br />

3. Demographische Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17<br />

4. Die negative Bewertung des <strong>Alter</strong>s . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19<br />

5. <strong>Schicksal</strong> und <strong>Gnade</strong> <strong>–</strong> <strong>Schicksal</strong> und Führung . . . . . . 21<br />

<strong>Schicksal</strong> und <strong>Gnade</strong> . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24<br />

2. KAPITEL<br />

Bild <strong>oder</strong> Geschichte <strong>–</strong> Was ist der Mensch? . . . . . . . 25<br />

1. Die Dynamik der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25<br />

2. Missverstandene Gottebenbildlichkeit <strong>–</strong><br />

Selbstverwirklichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27<br />

3. Der Mensch <strong>–</strong> eine Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31<br />

4. Mehr als Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32<br />

5. Gottes Ebenbild und Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . 34<br />

Bild <strong>oder</strong> Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37<br />

3. KAPITEL<br />

<strong>Alter</strong> <strong>–</strong> Generation „Nicht-Mehr“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 39<br />

1. Nicht mehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39<br />

2. Was ist <strong>Alter</strong>? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42<br />

3. „Das Methusalem-Komplott“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45<br />

<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong> 5 <strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />

© 2010; 2008 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen<br />

ISBN Print: 978-3-525-62404-3


Gunda Schneider-Flume, <strong>Alter</strong> <strong>–</strong> <strong>Schicksal</strong> <strong>oder</strong> <strong>Gnade</strong>?<br />

4. Komplott <strong>oder</strong> Partnerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48<br />

„Uneigentlich“ <strong>oder</strong> kostbar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50<br />

4. KAPITEL <strong>–</strong><br />

Zauberformel Produktivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51<br />

1. Integration durch Produktivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51<br />

2. „Erfolgreiches“ <strong>Alter</strong>n . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53<br />

3. Die Bedrohung durch schwindende Produktivität . . . . 58<br />

4. „Hoffnung mit Trauerflor“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59<br />

5. Der „Wert“ des Menschen und seine Produktivität . . . 60<br />

Produktivität als Sinn des Lebens? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62<br />

5. KAPITEL <strong>–</strong><br />

Sinnproduktion am Lebensende . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65<br />

1. Abnehmende Kräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65<br />

2. Reife und Selbstwerdung der Persönlichkeit . . . . . . . . . 66<br />

3. Der Mensch als Fragment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68<br />

4. Die Vollendung der Persönlichkeit im Sterben . . . . . . . 70<br />

5. „Gelingendes“ Sterben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71<br />

6. „Den Tod ins Leben holen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75<br />

Sinnproduktion <strong>oder</strong> Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77<br />

6. KAPITEL <strong>–</strong><br />

<strong>Alter</strong> in der Geschichte des Erbarmens<br />

und Gedenkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79<br />

1. <strong>Alter</strong> <strong>–</strong> zum Leben gehörend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79<br />

2. Erwählt und gewollt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80<br />

3. Erbarmen und Gedenken als Grundstrukturen<br />

des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82<br />

4. Erbarmen schafft Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84<br />

5. Erbarmen <strong>–</strong> das Mehr an Lebenschancen . . . . . . . . . . . . 87<br />

6. Lebensschöpferisches Gedenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88<br />

7. Sinnstiftendes Gedenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90<br />

Erbarmen und Gedenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91<br />

<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong> 6 <strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />

© 2010; 2008 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen<br />

ISBN Print: 978-3-525-62404-3


Gunda Schneider-Flume, <strong>Alter</strong> <strong>–</strong> <strong>Schicksal</strong> <strong>oder</strong> <strong>Gnade</strong>?<br />

7. KAPITEL <strong>–</strong><br />

Gerechtigkeit und Stellvertretung . . . . . . . . . . . . . . . . . 93<br />

1. Gerechtigkeit <strong>–</strong> die Fülle des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . 93<br />

2. Die befreiende Botschaft der Rechtfertigung . . . . . . . . . 95<br />

3. Das Recht des Erbarmens als gesellschaftliche<br />

Herausforderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97<br />

4. Menschlichkeit und Stellvertretung . . . . . . . . . . . . . . . . . 99<br />

Nichts mehr <strong>–</strong> nur <strong>Gnade</strong> . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103<br />

8. KAPITEL <strong>–</strong><br />

Lebensfreude und Leiden am Leben . . . . . . . . . . . . . . . 105<br />

1. Leben und Freude . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105<br />

2. Freude und Loben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106<br />

3. Entdecken von Freude . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108<br />

4. Freude und Genießen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109<br />

5. Die notwendige Klage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111<br />

6. Gott in der Klage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113<br />

7. Klage und Hoffnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116<br />

Freude und Lob, Klage und Not . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117<br />

9. KAPITEL <strong>–</strong><br />

Der Tod: <strong>Schicksal</strong> <strong>oder</strong> gnädige Grenze . . . . . . . . . . 119<br />

1. Die Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119<br />

2. Der Tod als Verletzung der Autonomie . . . . . . . . . . . . . . 121<br />

3. „Schluss machen“ statt Sterben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122<br />

4. Ärztlicher Beistand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123<br />

5. Die Inszenierung des Sterbens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125<br />

6. „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen“ . . . . . . 126<br />

7. Menschenwürdig sterben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130<br />

Gnädige Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133<br />

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Gunda Schneider-Flume, <strong>Alter</strong> <strong>–</strong> <strong>Schicksal</strong> <strong>oder</strong> <strong>Gnade</strong>?<br />

10. KAPITEL <strong>–</strong><br />

Zeit und Ewigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135<br />

1. Was ist Zeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135<br />

2. Die Flucht der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136<br />

3. Zeit und Ewigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137<br />

4. Die Ewigkeit in der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139<br />

5. Die „Zeit für“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140<br />

6. Die Weltlichkeit Gottes in der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143<br />

7. Spiritualität des Harrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146<br />

Zeit und Ewigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147<br />

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149<br />

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Gunda Schneider-Flume, <strong>Alter</strong> <strong>–</strong> <strong>Schicksal</strong> <strong>oder</strong> <strong>Gnade</strong>?<br />

Vorwort<br />

Nach der Statistik werden im Jahr 2050 mehr als ein Drittel<br />

der Bevölkerung in Deutschland älter als 60 Jahre sein. Es<br />

wird mehr alte Menschen als Kinder und Jugendliche geben.<br />

Man spricht im Blick auf diese Entwicklung von Überalterung<br />

der Gesellschaft. Dieser Begriff ist ganz negativ getönt, er<br />

ruft alle schlechten Vorurteile gegenüber den Alten hervor.<br />

„<strong>Alter</strong>srassismus“ hat Frank Schirrmacher diesen Sachverhalt<br />

genannt. Der Jugendlichkeitskult, nach dem nur etwas gilt,<br />

wer jung, fit und leistungsfähig ist, und die Anti-Aging-<br />

Bewegung verstärken diesen Trend. Wie werden Gesellschaften<br />

mit diesem Phänomen umgehen?<br />

Theologische Überlegungen können kein Rezept anbieten,<br />

um die demographischen und gesellschaftlichen Probleme<br />

der Überalterung zu lösen, aber sie können Perspektiven in<br />

die Debatte bringen, die das Lebensverständnis des christlichen<br />

Glaubens und damit auch eine neue Sicht auf das<br />

<strong>Alter</strong> als Lebensphase ermöglichen. Die christliche Tradition<br />

enthält ein Verständnis des Lebens, das allen Menschen<br />

Lebensspielräume auch jenseits des Berufslebens eröffnet.<br />

Leben ist nicht nur Leistung, Leben-Müssen, sondern auch<br />

Leben-Dürfen, <strong>Gnade</strong>.<br />

Von Abraham heißt es in den biblischen Schriften: „Und<br />

Abraham verschied und starb in einem guten <strong>Alter</strong>, als er alt<br />

und lebenssatt war, und wurde zu seinen Vätern versammelt.“<br />

(1. Mose 25,8) Abrahams <strong>Alter</strong> wurde ebenso wie sein gesamtes<br />

Leben im Zusammenhang der Geschichte seiner Väter, der<br />

Geschichte der <strong>Gnade</strong>, des Wohlwollens und der Güte Gottes<br />

gedeutet. <strong>Alter</strong> ist danach eine zum menschlichen Leben<br />

gehörende Phase, die ihre besondere Würde und ihre besonderen<br />

Möglichkeiten hat.<br />

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Gunda Schneider-Flume, <strong>Alter</strong> <strong>–</strong> <strong>Schicksal</strong> <strong>oder</strong> <strong>Gnade</strong>?<br />

Die Integration des <strong>Alter</strong>s und des <strong>Alter</strong>ns in das Leben ist<br />

schon vom biologischen Lebensprozess aus gegeben: Leben<br />

altert vom Beginn des Zellprozesses an. Gleichwohl wird in<br />

Gesellschaften, deren Überalterung voranschreitet, gerade die<br />

Zugehörigkeit des <strong>Alter</strong>s zum Leben verdrängt. Das Urteil<br />

Simone de Beauvoirs: „Und tatsächlich muss man das <strong>Alter</strong><br />

mehr noch als den Tod, als Gegensatz zum Leben betrachten.<br />

Es ist die Parodie des Lebens.“* ist der geheime gesellschaftliche<br />

Stimmungsmacher. <strong>Alter</strong> wird ausgegrenzt als defizitäres<br />

Minderleben. Der Reichtum einer ganzen Lebensphase wird<br />

damit verspielt, und ein Verständnis des Lebens wird leitend,<br />

das <strong>Alter</strong> zumindest als „uneigentliches“ Leben abqualifiziert<br />

und die Beschreibung des Patriarchenlebens als für heute<br />

irrelevant gelten lässt.<br />

Das Urteil Simone de Beauvoirs beruht auf der Konstruktion<br />

des Gegensatzes von Leben und <strong>Alter</strong>. Dieser Gegensatz wird<br />

heute verstärkt durch die gesellschaftliche Ausgrenzung der<br />

Alten aus dem Berufs- und Produktionsprozess sowie durch<br />

die gleichzeitige Beurteilung alter Menschen nach den Maßstäben<br />

der Arbeits- und Leistungsgesellschaft. Alte Menschen<br />

gelten demnach als nicht mehr produktiv und leistungsfähig.<br />

Sie sind die Generation „Nicht-Mehr“. Das ist ihr <strong>Schicksal</strong>.<br />

Oft sind es die älteren Menschen selbst, die die Perspektive<br />

des „Nicht-Mehr“ auf ihr Leben einnehmen und damit die<br />

negative Bewertung des <strong>Alter</strong>s und ihrer selbst verstärken.<br />

Sie pflegen eine Schlussstrichmentalität, nach der das Leben<br />

war, und jetzt allenfalls noch ein „wohlverdienter Ruhestand“<br />

bevorsteht, der entweder etwas resigniert abgelebt, <strong>oder</strong> so<br />

weit wie möglich durch Konsum und Wellnessübungen<br />

erträglich gehalten wird. Das „eigentliche“ Leben ist vorbei.<br />

Demographen und Gerontologen versuchen aus unterschiedlichen<br />

Gründen gegenzusteuern. Einerseits wird in<br />

Gesellschaften, in denen aufgrund der steigenden Lebenserwartung<br />

immer mehr alte und hoch betagte Menschen leben,<br />

die Produktivität der Alten dringend gebraucht, da die<br />

jugendlichen Leistungsträger die vielfältigen Versorgungs-<br />

* Beauvoir, <strong>Alter</strong>, 706.<br />

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Gunda Schneider-Flume, <strong>Alter</strong> <strong>–</strong> <strong>Schicksal</strong> <strong>oder</strong> <strong>Gnade</strong>?<br />

aufgaben nicht mehr bewältigen können. Schon aus ökonomischen<br />

Gründen muss man für eine altersintegrierte Gesellschaft<br />

plädieren. Andererseits haben Gerontologen und Psychologen<br />

herausgefunden, dass sinnvolle Produktivität und<br />

Aktivität eine wesentliche Ursache für bessere Gesundheit im<br />

höheren <strong>Alter</strong> sind. Beide Gesichtspunkte sind von großer<br />

Bedeutung. Gleichwohl schränkt die Zauberformel Produktivität<br />

das Leben alter Menschen und die Zugehörigkeit des<br />

<strong>Alter</strong>s zum gesellschaftlichen Leben schwerwiegend ein,<br />

denn die Produktivität der Alten wird immer abfallen gegenüber<br />

jüngeren Menschen.<br />

Erfolg und Gelingen gehören zum Leben, ebenso aber<br />

Schwächer Werden, Scheitern und Abnehmen der Kräfte. Auch<br />

im <strong>Alter</strong> darf die Tyrannei von Erfolg und Gelingen nicht<br />

beherrschend werden. Eine ganze Dimension des Lebens geht<br />

verloren, wenn das nicht anerkannt und die Bewertung alter<br />

Menschen lediglich an die Bedingung ihrer Produktivität<br />

geknüpft wird.<br />

In den vorliegenden Ausführungen wird der Versuch unternommen,<br />

das <strong>Alter</strong> im Zusammenhang der gesamten Lebensgeschichte<br />

von Menschen aus der Perspektive des Lebensverständnisses<br />

der theologischen Anthropologie als kostbare<br />

Lebensphase zu verstehen. Es gibt keine spezielle <strong>Alter</strong>santhropologie.<br />

<strong>Alter</strong> ist <strong>Schicksal</strong> mit vielen Beschwerlichkeiten<br />

und dennoch zugleich <strong>Gnade</strong>, Leben, das sich als Geschenk<br />

ohne Bedingungen, als Leben-Dürfen erschließen kann. Man<br />

kann sich eine altersintegrierte Gesellschaft vorstellen, in<br />

der Leben im Kontext des Realismus der Barmherzigkeit verstanden<br />

wird.<br />

Erbarmen gewährt Raum und Zeit vor aller Leistung. Gottes<br />

Geschichte trägt menschliches Leben in allen Stadien und in<br />

allen Phasen von Kraft <strong>oder</strong> Schwäche vom ersten bis zum<br />

letzten Atemzug. Menschen leben davon, dass jemand ihrer<br />

gedenkt und für sie eintritt, aus diesen Beziehungen folgt die<br />

Fülle des Lebens und schließlich auch die Fähigkeit zu neuer<br />

Kreativität und Produktivität. Dadurch wird die Perspektive<br />

des „Nicht-Mehr“ überwunden. Zum Leben gehören Freude<br />

und Leiden, Einschränkung und Genuss. In Lob und Klage<br />

kommt das zur Sprache.<br />

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Gunda Schneider-Flume, <strong>Alter</strong> <strong>–</strong> <strong>Schicksal</strong> <strong>oder</strong> <strong>Gnade</strong>?<br />

Die Würde von Menschen ist nicht auf Autonomie<br />

beschränkt. Die Würde bleibt auch dann gewahrt, wenn<br />

Menschen nicht mehr autonom sind und sich nicht mehr<br />

selbst verwirklichen können. Die endliche Grenze des Lebens<br />

ist unverfügbar, aber gleichwohl nicht ohne Hoffnung.<br />

Für das Verstehen des <strong>Alter</strong>s als <strong>Schicksal</strong> und <strong>Gnade</strong> ist<br />

von besonderer Bedeutung die Erfahrung der Zeit. Zeit läuft<br />

nicht nur ab wie im Stundenglas. Zwar ist menschliche<br />

Lebenszeit endlich und begrenzt, aber sie ist offen auf die<br />

Zukunft Gottes hin. Die Spiritualität des Harrens lässt das im<br />

Glauben erfahren.<br />

Frau Diplom-Theologin Annegret Mildner hat die Zitate<br />

überprüft und Korrektur gelesen, Herr Vikar Christoph Herbst<br />

hat das Literaturverzeichnis erstellt. Ihnen sei an dieser Stelle<br />

gedankt. Dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht danke ich für<br />

die Aufnahme des Buches in das Verlagsprogamm.<br />

Leipzig, im März 2008<br />

Gunda Schneider-Flume<br />

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© 2010; 2008 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen<br />

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Gunda Schneider-Flume, <strong>Alter</strong> <strong>–</strong> <strong>Schicksal</strong> <strong>oder</strong> <strong>Gnade</strong>?<br />

1. Kapitel<br />

<strong>Schicksal</strong> und <strong>Gnade</strong><br />

1. Abraham und Simeon <strong>–</strong><br />

Leben in Gottes Geschichte<br />

„Und Abraham verschied und starb in einem guten <strong>Alter</strong>, als<br />

er alt und lebenssatt war, und wurde zu seinen Vätern versammelt.“<br />

(1. Mose 25,8) So wird der Tod des Patriarchen vor<br />

ca. 3000 Jahren im Alten Testament berichtet. Abraham starb<br />

lebenssatt. Das, was ihm zugemessen war, hatte sich erfüllt.<br />

Aber mit seinem Tode ist er nicht ausgelöscht, spurlos verschwunden.<br />

„Er wurde versammelt zu seinen Vätern.“ Dahinter<br />

steht wohl die Vorstellung vom Familiengrab. Mag sein,<br />

dass die Wendung in ganz abgegriffenem Sinne gebraucht<br />

ist, wörtlich kann sie hier nicht gemeint sein. Räumlich war<br />

Abraham weit entfernt von dem Grab der Väter. Aber das<br />

Versammelt-Werden zu seinen Vätern verweist darauf, dass<br />

Abraham aufgehoben ist in der Geschichte der Väter. Er war<br />

von Beginn seines Lebens an nicht nur einsamer Einzelner,<br />

vielmehr ist der Patriarch von Anfang an getragen in einer<br />

größeren Geschichte, die ihn umfängt.<br />

Die individuelle, endliche Geschichte des Menschen Abraham<br />

ist nicht isoliert, und sie bricht nicht spurlos ab nach<br />

dem Motto: Das war’s. Abrahams Endlichkeit ist eingebettet<br />

in eine Geschichte von weit her. Mit der Bestattung bekräftigen<br />

seine Söhne dieses Wissen. Deshalb ist Abraham nicht<br />

dem Nichts der Anonymität und des Vergessens preisgegeben.<br />

Sein Name ist aufgehoben in der Geschichte der Väter.<br />

„In einem guten <strong>Alter</strong>“ starb Abraham, nicht vorzeitig <strong>oder</strong><br />

zur Unzeit, so kann die Endlichkeit des Patriarchen geradezu<br />

als heilvoll erzählt werden. Ein ins Unendliche verlängertes,<br />

unbegrenztes Leben ist nicht vorstellbar, nicht wünschenswert<br />

und nicht heilsam. Einmal ist irdisches Leben genug. Da<br />

<strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong> 13 <strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><strong>–</strong><br />

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Gunda Schneider-Flume, <strong>Alter</strong> <strong>–</strong> <strong>Schicksal</strong> <strong>oder</strong> <strong>Gnade</strong>?<br />

ist kein Gedanke daran, dass die Befristung des Lebens ein<br />

„Mangel“ des Geschenks des Lebens sei. 1 Ein solches Urteil<br />

verdankt sich eher der philosophischen Unendlichkeitsvorstellung.<br />

Endlichkeit nach biblischem Verständnis ist gnädige<br />

Begrenzung in Gottes Geschichte, die das Leben trägt.<br />

Im Neuen Testament wird erzählt von dem alten Mann<br />

Simeon, der auf die Erfüllung einer Verheißung wartete: „Er<br />

solle den Tod nicht sehen, er habe denn zuvor den Christus<br />

des Herrn gesehen.“ (Lukas 2,26) Aus der Kraft der Verheißung,<br />

getrieben von der Erwartung kam er in den Tempel<br />

und sah die Eltern und das Kind Jesus. Er nahm das Kind auf<br />

seine Arme, „lobte Gott und sprach: Herr, nun lässt du deinen<br />

Diener in Frieden fahren, wie du gesagt hast; denn meine<br />

Augen haben deinen Heiland gesehen.“ (Lukas 2,28<strong>–</strong>30) Der<br />

Greis mit dem Kind auf den Armen erkennt, dass die<br />

Geschichte der Verheißung sich erfüllt hat. Die Kraft des<br />

Wartens <strong>–</strong> im Evangelium heißt es: der heilige Geist war mit<br />

ihm <strong>–</strong> hatte seinem Leben Ausrichtung und Halt gegeben;<br />

nun, nach der Erfüllung der Verheißung kann er in Frieden<br />

sterben. Auch das Leben Simeons ist aufgehoben in einer<br />

größeren Geschichte. Die Kraft des Wartens fügt sein endliches<br />

Leben ein in den Horizont der Geschichte Gottes. Da<br />

heißt es nicht „aus und vorbei“, die Perspektive über das<br />

eigene Leben hinaus lässt den alten Mann in Frieden sterben.<br />

Weder zur Zeit Abrahams noch in der neutestamentlichen<br />

Zeit des Simeon war <strong>Alter</strong> als eine besondere Lebensphase<br />

ausgegrenzt aus dem gesellschaftlichen Lebenszusammenhang.<br />

Es gab keine lange, „nachberufliche“ <strong>Alter</strong>sphase, und<br />

die Probleme des demographischen Wandels mit der so genannten<br />

Überalterung der Gesellschaft waren fern. Wohl<br />

wusste man um die Beschwerlichkeit der Tage am Lebensende.<br />

Mahnend erinnert der Prediger daran: „Denk an deinen<br />

Schöpfer in deiner Jugend, ehe die bösen Tage kommen und<br />

die Jahre sich nahen, da du wirst sagen: ‚Sie gefallen mir<br />

1 Auer, Geglücktes <strong>Alter</strong>n, 271.<br />

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nicht‘“. (Prediger Salomo 12,1) Aber auch diese Tage waren<br />

noch in den Zusammenhang des Lebens eingefügt. <strong>Alter</strong><br />

gehörte zum Leben, und dieses wurde in einem Zusammenhang<br />

erfahren, der über den Einzelnen hinausging.<br />

Die alte Weisheitsliteratur lehrte die Flüchtigkeit und Hinfälligkeit<br />

des menschlichen Lebens: „Unser Leben währet<br />

siebzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig<br />

Jahre, und was daran köstlich scheint, ist doch nur vergebliche<br />

Mühe; denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon.“<br />

(Psalm 90,10) In dem Lobpsalm, in dem Gottes Barmherzigkeit<br />

gepriesen wird, heißt es vom Menschen: „Ein Mensch ist<br />

in seinem Leben wie Gras, er blüht wie eine Blume auf dem<br />

Felde; wenn der Wind darüber geht, so ist sie nimmer da, und<br />

ihre Stätte kennt sie nicht mehr.“ (Psalm 103,15f.) Aber diese<br />

im Alten Testament öfter erinnerte „realistische“ Perspektive<br />

der Weisheit ist eingefügt in das Bekenntnis der Beständigkeit<br />

von Barmherzigkeit und <strong>Gnade</strong>: „Wie sich ein Vater über<br />

Kinder erbarmt, so erbarmt sich der Herr über die, die ihn<br />

fürchten.“ (Psalm 103,13), heißt es im selben Psalm, und:<br />

„Die <strong>Gnade</strong> aber des Herrn währt von Ewigkeit zu Ewigkeit<br />

über denen, die ihn fürchten…“ (V17) Mit der Erwähnung der<br />

Hinfälligkeit ist nicht alles gesagt. Auch der hinfällige<br />

Mensch ist getragen von der größeren Geschichte der <strong>Gnade</strong><br />

Gottes. Wie ein cantus firmus zieht sich die Geschichte der<br />

<strong>Gnade</strong> Gottes vertrauengründend durch menschliches Leben<br />

und bestimmt es trotz der Hinfälligkeit.<br />

2. Integration <strong>oder</strong> Ausgrenzung<br />

Alte Menschen mit schwindenden Kräften und mit dem Blick<br />

auf das Lebensende gehörten zur Zeit der Schriften des Alten<br />

und Neuen Testaments mit in den Lebenskreis der Gemeinschaft.<br />

Man könnte geradezu mit einem m<strong>oder</strong>nen Begriff<br />

von „altersintegrierter“ Lebensgemeinschaft sprechen. Vertrauensvoll<br />

formuliert das der Beter: „Auch im <strong>Alter</strong>, Gott,<br />

verlass mich nicht, und wenn ich grau werde, bis ich deine<br />

Macht verkündige Kindeskindern und deine Kraft allen, die<br />

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noch kommen sollen.“ (Psalm 71,18) Im Gebet spricht hier<br />

ein Mensch die Bitte um Gemeinschaft aus, um Gottesgemeinschaft<br />

und Gemeinschaft mit Menschen bis zum Ende<br />

des Lebens. Allerdings musste auch im ersten Jahrtausend<br />

v.Chr. die ökonomische Integration der Alten durch ein Gebot<br />

Gottes gesichert werden. Das vierte Gebot <strong>–</strong> „Du sollst deinen<br />

Vater und deine Mutter ehren, auf dass du lange lebest in<br />

dem Lande, das dir der Herr, dein Gott, geben wird.“ (2. Mose<br />

20,12) <strong>–</strong> fordert nicht jugendliche Kinder auf zum Gehorsam<br />

gegenüber den Eltern, vielmehr verlangt es die Achtung und<br />

Versorgung der alt gewordenen Eltern. Die Alten gehören<br />

dazu und können und dürfen nicht abgeschoben werden.<br />

Sowohl im Blick auf Abraham wie im Blick auf Simeon<br />

kann man sagen: Sie sind auch als alte Menschen eingefügt<br />

in den Lebenszusammenhang einer größeren Gemeinschaft<br />

und einer größeren Geschichte. Nur in einem solchen Zusammenhang<br />

kann das <strong>Schicksal</strong> von <strong>Alter</strong> und Endlichkeit auch<br />

als gnädige Fügung erfahren werden. Die Frage, ob <strong>Alter</strong>(n)<br />

<strong>Schicksal</strong> <strong>oder</strong> <strong>Gnade</strong> sei, bezieht sich auf die gesamte<br />

Lebensgeschichte eines Menschen. Das Lebensverständnis<br />

einer Gemeinschaft im Ganzen steht in Frage, wenn es um<br />

<strong>Schicksal</strong> <strong>oder</strong> <strong>Gnade</strong> des <strong>Alter</strong>(n)s geht.<br />

Das ist heute nicht anders als vor zwei- <strong>oder</strong> dreitausend<br />

Jahren, wenngleich sich unsere Lebenssituation in vielen<br />

Punkten dramatisch verändert hat gegenüber den Zeiten von<br />

Simeon und gar von Abraham. <strong>Gnade</strong>, dieses Aufleuchten<br />

von Wohlwollen und Güte in einem Leben, ereignet sich in<br />

Beziehungen zwischen Gott und Menschen und zwischen<br />

Menschen untereinander. Es geht dabei nicht um die Erfahrung<br />

von einsamen Einzelnen, so als bestünde menschliches<br />

Leben in der Einzigkeit eines Individuums, vielmehr ereignet<br />

sich <strong>Gnade</strong> in den Beziehungen von Menschen, die mehr<br />

erfahren, als sie mit den Worten „ich bin ich“ ausdrücken<br />

können. Die Deutung und das Verstehen eines menschlichen<br />

Lebens <strong>oder</strong> einer Phase des Lebens wie des <strong>Alter</strong>s können<br />

nicht lediglich im Blick auf einen Einzelnen und seine letzte<br />

Lebensphase geschehen.<br />

Aber die gesellschaftliche Situation alter Menschen hat<br />

sich verändert. Heute drängt die Ausgrenzung des <strong>Alter</strong>s als<br />

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Nach-Berufs-Phase alte Menschen in die Position des „Nicht<br />

Mehr“. Dieses „Nicht Mehr“ ist Ausdruck der abwertenden<br />

Beurteilung des <strong>Alter</strong>s. Dadurch verliert die Lebensphase des<br />

<strong>Alter</strong>s ihren Lebens- und Geschichtszusammenhang. Das<br />

führt zu Vereinzelung und Isolierung, gnadenlos.<br />

3. Demographische Daten<br />

Neben der Ausgrenzung aus dem Berufsleben hat eine nie<br />

dagewesene, rasante demographische Entwicklung die Situation<br />

des <strong>Alter</strong>s gewandelt. Aufgrund des medizinischen Fortschritts<br />

steigt die Lebenserwartung aller Menschen weltweit.<br />

Zwischen 1850 und 2000 stieg die Lebenserwartung in<br />

Deutschland von durchschnittlich 37 Jahren auf 78 Jahre, mit<br />

weiter steigender Tendenz. Bei weiterer Verbesserung der<br />

medizinischen Entwicklung und Versorgung wird voraussichtlich<br />

mehr als die Hälfte der Kleinkinder von heute den<br />

hundertsten Geburtstag erleben. 2 Diese Entwicklung vollzieht<br />

sich, mit einer gewissen Verzögerung in den so genannten<br />

Entwicklungsländern, weltweit. Das bringt Veränderungen<br />

mit sich: Als Folge der Zunahme der Lebenserwartung ändert<br />

sich der Bevölkerungsaufbau. 3<br />

Es gibt immer mehr ältere, alte und sehr alte Menschen.<br />

Bei gleichzeitig abnehmenden Geburtenzahlen ändert sich<br />

auf diese Weise der Anteil der <strong>Alter</strong>sgruppen an der Gesellschaft<br />

und das Verhältnis der Generationen zueinander. Man<br />

spricht von Überalterung der Gesellschaft bzw. der Gesellschaften.<br />

Diese Entwicklung ist global und irreversibel,<br />

wenngleich sie in den Entwicklungs- und Schwellenländern<br />

verzögert einsetzt. Anteilig an der Gesamtgesellschaft beherrschen<br />

in Zukunft immer mehr alte und sehr alte Menschen<br />

das tägliche Leben.<br />

2 Vgl. Vaupel/Kistowski von, Die Plastizität menschlicher Lebenserwartung,<br />

67.<br />

3 Vgl. Schimany, Die <strong>Alter</strong>ung der Gesellschaft, besonders 81<strong>–</strong>93 und<br />

101<strong>–</strong>118.<br />

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Eindrücklich wird das dargestellt mit den Graphiken der so<br />

genannten Pagode, des Bienenkorbes und der Urne. Die Verbreiterung<br />

des Sockels der Bevölkerung aufgrund gestiegener<br />

Geburten- und Überlebensziffern von Kindern, die für die<br />

Entwicklungsländer noch typisch ist, und die gleichzeitige<br />

höhere Lebenserwartung schlagen sich nieder in einer die<br />

Statistik darstellenden Pagodenform. Viele Kinder, die überleben,<br />

tragen alt werdende Menschen. Wenn dann neben dem<br />

Anstieg der Lebenserwartung auch eine Reduktion der Geburtenzahlen<br />

einsetzt, kippt die <strong>Alter</strong>spyramide und nimmt<br />

die Form eines Bienenkorbes an. Eine breite Berufsgeneration<br />

trägt eine schmalere „Jugendlastquote“ und eine steigende<br />

„Altenlastquote“. Schließlich setzt das ein, was man im Blick<br />

auf eine Gesellschaft „<strong>Alter</strong>ung von oben“ nennt. Demographisch<br />

stellt sich das in der Form einer Urne dar, wie man<br />

etwas drastisch klingend sagt. Es gibt nicht mehr den breiten<br />

Sockel der Kinder und Jugendlichen, vielmehr steht eine kleinere<br />

Anzahl von Kindern und Jugendlichen einer zunächst<br />

noch breiteren Berufsgeneration und einer immer noch zahlenmäßig<br />

stark vertretenen Zahl von Älteren und Alten entgegen.<br />

Nach Hochrechnungen werden 2050 16,3% der Bevölkerung<br />

in Deutschland zwischen 0 und 19 Jahren alt sein,<br />

28,7% werden 65 und älter sein, 55% umfasst das <strong>Alter</strong> von<br />

20<strong>–</strong>64. 4 D.h. also, dass 2050 mehr als ein Drittel der Bevölkerung<br />

älter als 60 Jahre alt sein wird.<br />

Pagode Bienenkorb Urne<br />

1950 2000 2050<br />

Grafik: Populations Pyramide.<br />

Population Division, DESA, Vereinte Nationen<br />

4 Schimany, Die <strong>Alter</strong>ung der Gesellschaft, 241<strong>–</strong>245.<br />

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Folge der demographischen Entwicklung ist eine völlige Veränderung<br />

der Familienstrukturen und der Verwandtschaftsbeziehungen.<br />

Man spricht von der „Bohnenstangenfamilie“<br />

als dem historisch neuen Familientyp, der gekennzeichnet ist<br />

durch eine vertikalisierte Familienstruktur und eine Abnahme<br />

der horizontalen Verwandtschaftsbeziehungen. 5 Die Verwandtschaftsbeziehungen<br />

reichen über mehrere Generationen, aber<br />

die Geschwister und die weiteren Verwandten auf der je eigenen<br />

<strong>Alter</strong>sebene fehlen.<br />

4. Die negative Bewertung des <strong>Alter</strong>s<br />

Zur Zeit des Alten Testaments und seiner religionsgeschichtlichen<br />

Umwelt, zu einer Zeit also, da es sehr wenige alte<br />

Menschen gab, wurde im Alten Testament das <strong>Alter</strong> zwar nicht<br />

ausschließlich, aber vorwiegend positiv gewertet. In Erinnerung<br />

an die erzählte Heilszeit wurde die außerordentliche<br />

Länge des Lebens noch als Nähe zu den Kräften der ursprünglichen<br />

Schöpfung verstanden. Ein mythisches <strong>Alter</strong>sverständnis<br />

maß Adam noch 930 Lebensjahre zu. (1. Mose<br />

5,3<strong>–</strong>5) Heute dagegen wird das massenhafte Erreichen eines<br />

sehr hohen <strong>Alter</strong>s vielfach als ein <strong>Schicksal</strong> von ambivalenter<br />

Qualität beurteilt. Mag der Zuwachs an Lebenszeit für den<br />

Einzelnen wünschenswert sein, solange er Herr seiner Kräfte<br />

ist, so ist andererseits <strong>Alter</strong> oft beschwerlich und für die<br />

Gesellschaft unproduktiv und teuer. Wie aber wird eine<br />

Gesellschaft, die ganz und gar vom Ideal der Jugendlichkeit<br />

und Leistung geleitet ist, mit immer mehr alten und sehr<br />

alten Menschen umgehen?<br />

Die heutige oft eher negative Bewertung des <strong>Alter</strong>s <strong>–</strong> der<br />

Begriff Überalterung ist ganz negativ getönt <strong>–</strong> hat ihren<br />

Grund nicht nur im demographischen Wandel, also in der<br />

Tatsache, dass es viel mehr alte und sehr alte Menschen gibt,<br />

sondern auch und vor allem darin, dass das <strong>Alter</strong> gesellschaftlich<br />

ausgegrenzt wird. Alte Menschen gehören nicht<br />

5 Schimany, Die <strong>Alter</strong>ung der Gesellschaft, 356.<br />

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mehr zum Produktionsprozess. Sie werden gesellschaftlich<br />

zwar als Wähler noch berücksichtigt, aber im Übrigen werden<br />

sie in der Regel mehr abseits gehalten. Die lange Phase<br />

des <strong>Alter</strong>s, die man bei einem Renteneintrittsalter von 60 bis<br />

67 Jahren mit durchschnittlich 15 bis 20 Jahren veranschlagen<br />

kann, gilt als Verlustgeschehen. Diese Lebensphase ist<br />

gekennzeichnet durch die ihr zugesprochenen Defizite, den<br />

Verlust an Produktivität und gesellschaftlichen Funktionen.<br />

Es ist die Generation des „Nicht Mehr“. Zwar wird die Lebensphase<br />

des <strong>Alter</strong>s inzwischen differenziert in ein drittes und<br />

viertes Lebensalter, die jungen Alten von 60 bis 80 <strong>oder</strong> 85<br />

Jahren und die alten Alten von 80 <strong>oder</strong> 85 Jahren an aufwärts;<br />

gleichwohl wird das <strong>Alter</strong> insgesamt aber insofern aus<br />

dem gesellschaftlichen Leben ausgegrenzt, als dieses vornehmlich<br />

vom Beruf bestimmt und von ihm aus bewertet wird.<br />

Ausgegrenzt aus der Gesellschaft wird das <strong>Alter</strong> zu einem<br />

lästigen, beschwerlichen Überhang. Dem werden einzelne<br />

Familien kaum entgegenwirken können. Wenn <strong>Alter</strong> vorrangig<br />

<strong>oder</strong> gar ausschließlich an der Produktivität der Berufstätigen<br />

gemessen wird, gilt lediglich die Leistung alter Menschen. Die<br />

Dimension des Lebens als Geschenk <strong>oder</strong> des Leben-Dürfens<br />

fällt weg. Außerhalb des Produktionsprozesses und isoliert<br />

vom Gemeinschaftsleben wird <strong>Alter</strong> zu einer Lebensphase, im<br />

Blick auf die gefragt wird: „Wozu?“ Weitere Bedenken und<br />

Fragen drängen sich auf: Angesichts des demographischen<br />

Wandels, der immer höheren Lebenserwartung und der<br />

immer größeren Anzahl von sehr alten Menschen kann der<br />

Hinweis auf die <strong>Gnade</strong> des Lebens möglicherweise zynisch<br />

klingen. Viele, manche sagen: zu viele alte und sehr alte<br />

Menschen, die nicht mehr leistungsfähig und produktiv sind <strong>–</strong><br />

was heißt da <strong>Gnade</strong>? Kann man von <strong>Gnade</strong> sprechen angesichts<br />

der Hilfsbedürftigkeit und Gebrechlichkeit sehr alter<br />

Menschen? Kann man von <strong>Gnade</strong> sprechen angesichts des<br />

Zugehens auf die endliche Grenze menschlichen Lebens?<br />

Nicht nur die nur noch gelegentlich gepriesene Weisheit des<br />

<strong>Alter</strong>s, sondern auch die Phase der Gebrechlichkeit und das<br />

Sterben müssen im Blick sein, wenn nach <strong>Schicksal</strong> <strong>oder</strong><br />

<strong>Gnade</strong> des <strong>Alter</strong>s gefragt wird. Vieles nimmt sich eher wie<br />

Fluch aus, wenn man auf die Lebenswirklichkeit blickt. Kann<br />

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man angesichts der Überalterung der Gesellschaft noch<br />

davon sprechen, dass Leben Geschenk sei? Man muss wohl<br />

sagen: Daran, wie Menschen mit diesen Fragen umgehen,<br />

entscheidet sich die Menschlichkeit einer Gesellschaft.<br />

5. <strong>Schicksal</strong> und <strong>Gnade</strong> <strong>–</strong> <strong>Schicksal</strong> und Führung<br />

Können <strong>Schicksal</strong> und <strong>Gnade</strong> Deutekategorien für das <strong>Alter</strong><br />

sein? Dietrich Bonhoeffer teilt in seinen Briefen aus der<br />

Gefängniszelle Überlegungen darüber mit, wie <strong>Schicksal</strong> als<br />

Führung erfahren werden könne. Das lässt sich analog auch<br />

im Blick auf die Frage nach <strong>Schicksal</strong> <strong>oder</strong> <strong>Gnade</strong> im <strong>Alter</strong><br />

sagen.<br />

Ich habe mir hier oft Gedanken darüber gemacht, wo die Grenzen<br />

zwischen dem notwendigen Widerstand gegen das „<strong>Schicksal</strong>“ und<br />

der ebenso notwendigen Ergebung liegen … Ich glaube, wir müssen<br />

das Große und Eigene wirklich unternehmen und doch zugleich das<br />

selbstverständlich<strong>–</strong> und allgemein<strong>–</strong>Notwendige tun, wir müssen<br />

dem „<strong>Schicksal</strong>“ <strong>–</strong> ich finde das „Neutrum“ dieses Begriffes wichtig<br />

<strong>–</strong> ebenso entschlossen entgegentreten wie uns ihm zu gegebener<br />

Zeit unterwerfen. Von „Führung“ kann man erst jenseits dieses<br />

zweifachen Vorgangs sprechen, Gott begegnet uns nicht nur als Du,<br />

sondern auch „vermummt“ im „Es“, und in meiner Frage geht es<br />

also im Grunde darum, wie wir in diesem „Es“ („<strong>Schicksal</strong>“) das „Du“<br />

finden, <strong>oder</strong>, m.a.W. … wie aus dem „<strong>Schicksal</strong>“ wirklich „Führung“<br />

wird. 6<br />

Bonhoeffer skizziert das Nebeneinander von Widerstand und<br />

Ergebung gegenüber dem <strong>Schicksal</strong>. Die eigene Aktivität,<br />

u.U. große Unternehmungen, stehen neben Selbstverständlich-Notwendigem.<br />

Es geht um Gegnerschaft und Unterwerfung.<br />

In dieser Verquickung widerfahren Geschichte und<br />

Lebensgeschichte als <strong>Schicksal</strong>. In dieser Verquickung kann<br />

6 Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, 333f (Hervorhebung im Original).<br />

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und muss man auch Gott ins Spiel bringen mit dem Begriff<br />

Führung. Er hebt weder die menschliche Aktivität noch die<br />

Unterwerfung, weder das <strong>Schicksal</strong> noch das Notwendige<br />

auf, kurz: Gott hebt die Kontingenz, die Zufälligkeit nicht<br />

auf.<br />

Die Ausführungen Bonhoeffers gelten nicht nur für die<br />

Erfahrungen in der Gefangenschaft, sondern auch grundsätzlich<br />

im Leben, das als <strong>Schicksal</strong> widerfährt. <strong>Alter</strong> ist <strong>Schicksal</strong>,<br />

genetisch, sozial und durch Umwelt bedingt. Dieses<br />

<strong>Schicksal</strong> muss akzeptiert und aktiv gestaltet werden, ohne<br />

dass man es beschönigen könnte <strong>oder</strong> dürfte. Aber der Glaube<br />

bekennt dennoch: Leben ist Geschenk, <strong>Gnade</strong>. Es geht um<br />

das Ineinander der Zufälligkeiten im Leben, die auch als<br />

<strong>Schicksal</strong>(sschlag) gedeutet werden können und die Widerstand,<br />

aktive Gestaltung, Akzeptanz <strong>oder</strong> Ergebung verlangen<br />

und schließlich auch als Führung <strong>oder</strong> <strong>Gnade</strong> angenommen<br />

werden können.<br />

Aber diese Erfahrungen können ganz und gar verstellt<br />

werden, wenn sie gesetzlich formuliert werden mit der Forderung,<br />

jede Lebensform müsse als Geschenk erkannt und<br />

gelebt werden. Diese Forderung wirkt geradezu zynisch.<br />

Nicht nur Hiob hat erfahren, dass Leben auch als Fluch<br />

widerfährt. Es ist unwahr, dass wir jede Lebensform als Geschenk<br />

erkennen könnten und als solches annehmen müssten.<br />

Es gibt im Leben und zumal im <strong>Alter</strong> Widerfahrnisse, die als<br />

<strong>Schicksal</strong>sschlag begegnen. Ihnen gegenüber muss Widerstand<br />

geübt werden. Wenn Unglück und Leid Menschen nicht<br />

die Sprache verschlagen, provozieren sie immer wieder die<br />

Klage: „Warum?“ <strong>Schicksal</strong>sschläge fordern Widerstand, aber<br />

sie können zu Ergebung führen <strong>–</strong> „wir müssen dem ‚<strong>Schicksal</strong>‘<br />

<strong>–</strong> ich finde das Neutrum dieses Begriffes wichtig <strong>–</strong> ebenso<br />

entschlossen entgegentreten wie uns ihm zu gegebener<br />

Zeit unterwerfen.“ <strong>–</strong> Dass auch solche Widerfahrnisse sich<br />

nicht außerhalb Gottes ereignen, ist die Erfahrung des Glaubens,<br />

die dazu ermutigt, im <strong>Schicksal</strong> und trotz des <strong>Schicksal</strong>s<br />

Gottes gnädige Führung zu erwarten.<br />

Das ist keine Spekulation über den Willen Gottes, der<br />

angeblich alles, auch das unerklärliche Unglück determiniert<br />

hat. Über den Willen Gottes kann man nicht spekulieren, er<br />

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ist in Jesus Christus ganz klar als Liebe erschlossen. Dennoch<br />

wissen wir in der Regel nicht, warum ein <strong>Schicksal</strong> uns widerfährt<br />

und warum es uns so trifft, wie wir es erfahren. Gewiss<br />

suchen Menschen immer Erklärungen, und wenn unsere<br />

Erklärungen am Ende sind, setzen wir schließlich einen unerklärlichen,<br />

alles verursachenden Willen Gottes an. Der Verursachergott<br />

wird so als Lösung aller Rätsel aufgeboten. Das ist<br />

die billige Erklärung, die menschliches Nichtwissen durch<br />

einen „Lückenbüßer-Gott“ ersetzen soll.<br />

Aber Menschen können auch das Nichtwissen akzeptieren,<br />

weil sie sich darauf verlassen können, dass trotz des <strong>Schicksal</strong>s<br />

eine gnädige Führung sie leitet. „Glaube ist der Vogel,<br />

der singt, wenn es noch dunkel ist“, steht an der Turmwand<br />

der im Zweiten Weltkrieg schwer zerstörten Dresdner Kreuzkirche.<br />

Gnädige Führung lässt sich nicht aus widrigem <strong>oder</strong><br />

auch glücklichem <strong>Schicksal</strong> ablesen, aber sie lässt sich in<br />

dem als <strong>Schicksal</strong> möglicherweise unverstanden Angenommenen,<br />

dem man sich unterworfen hat, erhoffen. Erfahrungen<br />

von Wohlwollen und Güte erschließen sich trotz widrigem<br />

<strong>Schicksal</strong>. Die Frage nach <strong>Schicksal</strong> <strong>oder</strong> <strong>Gnade</strong> muss also<br />

beantwortet werden mit einer Umformulierung. Es geht nicht<br />

um eine <strong>Alter</strong>native, vielmehr widerfährt <strong>Gnade</strong> im <strong>Schicksal</strong>.<br />

<strong>Gnade</strong> und <strong>Schicksal</strong> sind <strong>–</strong> wie auch immer <strong>–</strong> verbunden.<br />

Gottes <strong>Gnade</strong> widerfährt im <strong>Schicksal</strong>, <strong>Schicksal</strong> ereignet<br />

sich nicht außerhalb Gottes.<br />

Von daher stellt sich die Frage, was Theologie zum <strong>Alter</strong><br />

und zum demographischen Wandel zu sagen habe. Wie<br />

nimmt sie Stellung zum irreversiblen <strong>Schicksal</strong> der alternden<br />

Weltgesellschaft? Kann Theologie aufgrund der biblischen<br />

Tradition Orientierung geben in den Fragen des <strong>Alter</strong>s und<br />

der <strong>Alter</strong>ung? Theologie kann nicht mit Normen von „du<br />

darfst“ und „du darfst nicht“ die Probleme des globalen <strong>Alter</strong>ungsprozesses<br />

der Menschheit lösen. Sie hat nicht die<br />

Regeln aufzustellen für „erfolgreiches <strong>Alter</strong>n“, und sie kann<br />

nicht vorschreiben, wie eine gealterte Gesellschaft funktionieren<br />

soll. Um des Lebensverständnisses der biblischen<br />

Tradition und des christlichen Glaubens willen darf von<br />

theologischer Seite aus nicht moralisch mit Gebot und Verbot<br />

<strong>oder</strong> mit Handlungsvorschriften eingesetzt werden, wenn-<br />

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Gunda Schneider-Flume, <strong>Alter</strong> <strong>–</strong> <strong>Schicksal</strong> <strong>oder</strong> <strong>Gnade</strong>?<br />

gleich das vierte Gebot durchaus noch von aktueller Bedeutung<br />

ist. Theologie kann aber die demographische Situation<br />

der Gesellschaft ebenso wie die biographischen Erfahrungen<br />

alter Menschen einzeichnen in den Horizont der Geschichte<br />

Gottes und des Evangeliums. Im Zentrum steht dabei das<br />

Lebensverständnis der biblischen Tradition und des christlichen<br />

Glaubens, dass Leben <strong>Gnade</strong> ist, Geschenk, ohne Bedingungen.<br />

<strong>Alter</strong> darf nicht gedeutet werden als ausgegrenzte<br />

Lebensphase, es muss im Kontext des gesamten Lebens eines<br />

Menschen und des Lebensverständnisses der biblischen Tradition<br />

gedeutet werden. Das soll in den folgenden Kapiteln<br />

entfaltet werden.<br />

<strong>Schicksal</strong> und <strong>Gnade</strong><br />

Leben ist <strong>Schicksal</strong>,<br />

<strong>Alter</strong> ist gefügt.<br />

Du willst dich wehren,<br />

<strong>oder</strong> nimmst es an,<br />

Ergebung. <strong>–</strong><br />

Bald ist es aus,<br />

gewesen, abgelaufen.<br />

Sei es denn.<br />

Doch leuchtet etwas auf,<br />

du kannst noch Tage leben,<br />

Stunden auch genießen,<br />

denn in dem <strong>Schicksal</strong><br />

erschließt sich <strong>Gnade</strong>,<br />

Güte, Wohlwollen und Fülle.<br />

Leben ist Leben-Dürfen<br />

bis zu dem Ende,<br />

das in Liebe dir bestimmt.<br />

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ISBN Print: 978-3-525-62404-3


Gunda Schneider-Flume, <strong>Alter</strong> <strong>–</strong> <strong>Schicksal</strong> <strong>oder</strong> <strong>Gnade</strong>?<br />

2. Kapitel<br />

Bild <strong>oder</strong> Geschichte <strong>–</strong><br />

Was ist der Mensch?<br />

1. Die Dynamik der Geschichte<br />

Im Blick auf die Beurteilung des <strong>Alter</strong>s mag man nach einem<br />

biblischen Menschenbild suchen, um damit möglicherweise<br />

normativ zu bestimmen, wie alte Menschen leben können<br />

<strong>oder</strong> gar sollen. Aber ein biblisch begründetes christliches<br />

Menschenbild gibt es nicht, obwohl sich jede Zeit ihr christliches<br />

Menschenbild konstruiert. 1 Dass aus der biblischen<br />

Tradition kein einheitliches Menschenbild erhoben werden<br />

kann, ergibt sich schon aus der historischen und religionsgeschichtlichen<br />

Differenz der Texte: Wie sollen die anthropologischen<br />

Vorstellungen der Nomaden, die mit dem Gott der<br />

Väter zogen, in Einklang gebracht werden mit dem Denken<br />

der Bürger des römischen Weltreichs im ersten Jahrhundert<br />

n.Chr.? Oder, um nur innerhalb des Neuen Testaments zu<br />

fragen: Wie lässt sich ein Bild erheben, das Elemente der Predigt<br />

des Wanderpredigers aus Nazareth vereint mit der Kreuzestheologie<br />

des Apostels Paulus? Freude über den Anbruch<br />

des Gottesreiches und Sühnopfervorstellung <strong>–</strong> ein Menschenbild?<br />

Aus anthropologischer Perspektive kann man das nicht<br />

behaupten. Nicht ein Bild, sondern viele Menschen in unterschiedlichen<br />

Lebenswelten finden wir in der biblischen Tradition.<br />

Hinzu kommt, dass das Lebensalter der Menschen vor<br />

2000 Jahren durchschnittlich etwa bei 30 bis 40 Jahren lag,<br />

was für die Beurteilung des <strong>Alter</strong>s ebenfalls einen gewaltigen<br />

Unterschied gegenüber dem 21. Jahrhundert bedeutet.<br />

1 Vgl. zum Thema: Herms (Hg.), Menschenbild; Härle, Der Mensch<br />

Gottes; Schneider-Flume, Zur Frage nach dem christlichen Menschenbild.<br />

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© 2010; 2008 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen<br />

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Vandenhoeck & Ruprecht<br />

9 783525 624043<br />

Die Integration des <strong>Alter</strong>s und des <strong>Alter</strong>ns in das<br />

Leben ist schon vom biologischen Lebensprozess<br />

aus gegeben. Gleichwohl wird in Gesellschaften,<br />

deren Überalterung voranschreitet, gerade das <strong>Alter</strong><br />

vielfach aus dem Leben verdrängt.<br />

2050 wird mehr als ein Drittel der Bevölkerung in<br />

Deutschland älter als 60 Jahre sein <strong>–</strong> das Problem<br />

der Überalterung kommt auf uns zu. Dieser Begriff<br />

ruft Vorurteile gegenüber alten Menschen hervor.<br />

Die christliche Tradition jedoch gibt allen Menschen<br />

Lebensspielraum auch und gerade jenseits des<br />

Berufslebens. Leben ist nicht nur Leistung, sondern<br />

auch <strong>Gnade</strong>.<br />

Die Autorin<br />

Dr. theol. Gunda Schneider-Flume ist emeritierte<br />

Professorin für Systematische Theologie an der<br />

Theologischen Fakultät der Universität Leipzig.<br />

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