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Marxismus_und_Tierbefreiung_Antidot

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Dem Schlachten ein Ende setzen<strong>Marxismus</strong> <strong>und</strong> <strong>Tierbefreiung</strong>No. 19 I 2014<strong>Marxismus</strong>Ein Leitfaden für eine zeitgemässeKritik an der Ausbeutungvon Tieren Seite 4RevolutionäreMoralOhne eine revolutionäreMoral ist der Kampf füreine freie Gesellschaft nichtzu gewinnen Seite 12Das SchlachthausEuropasDie Macht der deutschenFleischindustrie bestimmtdie Ausbeutung der Tierein ganz Europa Seite 16Vegan for ProfitÜber vegane Wachstumsmärkte<strong>und</strong> Pop-VeganismusSeite 22Vom WiderstandzumKlassenkampfZur Notwendigkeit einerpolitischen Strategiefür die Befreiung der TiereSeite 27


02 ― 03EditorialHaben Sie sich schon einmal überlegt, wie Sie denAufbau der heutigen, kapitalistischen Gesellschaftim Querschnitt illustrieren würden? Max Horkheimerwählte einst den «Wolkenkratzer» als bildliche Darstellung– alle oberen Stockwerke sind besetzt durchdie (mit <strong>und</strong> ohne Waffengewalt) Herrschenden inWirtschaft <strong>und</strong> Politik. Unten haben die Ausgebeuteten<strong>und</strong> Marginalisierten ihren Platz. Den Keller be -schrieb der kritische Theoretiker als Schlachthof, indem «das unbeschreibliche, unausdenkliche Leidender Tiere» darzustellen wäre. Mit seiner Metapherverwies er nicht nur darauf, dass die Ausbeutungder Tiere zum F<strong>und</strong>ament des Kapitalismus gehört,sondern auch darauf, dass «der Schweiss, das Blut,die Verzweiflung der Tiere» unsichtbar gemacht –im Keller der Gesellschaft versteckt – wird.Zahlreiche linke Bewegungen haben bis heute dafürgekämpft, dass der Wolkenkratzer zusammenbricht,damit an seiner Stelle ein neues Haus entstehenkann, in dem um des Lebens willen gelebt<strong>und</strong> nicht für Profite, sondern nach Bedürfnissenproduziert wird. Dabei haben sie allerdings denKeller übersehen <strong>und</strong> das gesellschaftlich produzierteLeiden der Tiere <strong>und</strong> dessen Aufhebung oftmit ideologischen Argumenten von ihrer Agendaverbannt.Die Tierrechts- <strong>und</strong> <strong>Tierbefreiung</strong>sbewegung versuchthingegen seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrh<strong>und</strong>ertsans Tageslicht zu befördern, was in denUntiefen des Wolkenkratzers geschieht. Ihr Ziel istes, das Schlachten – sinnbildlich für das Leiden derTiere schlechthin – zu beenden. Das Problem istnur: In weiten Teilen ignoriert sie den Rest des Wolkenkratzers.Die historisch noch junge Bewegungmacht sich bis dato nicht bewusst, dass die Tierausbeutungihre Ursache in der kapitalistischen Klassengesellschafthat.Als revolutionäre Linke <strong>und</strong> TierbefreierInnen sitzenwir zwischen den Stühlen. Am Anfang dieser Zeitungsteht das Anliegen, die Kluft zwischen <strong>Marxismus</strong><strong>und</strong> <strong>Tierbefreiung</strong> zu verringern. Längst ist esan der Zeit, den ursächlichen Zusammenhängendes heutigen Wirtschaftssystems einerseits <strong>und</strong>der Ausbeutung von Menschen <strong>und</strong> Tieren andererseitsanalytisch <strong>und</strong> politisch zu begegnen. Wirwollen Denkanstösse geben, warum man sich fürdie Befreiung der Tiere <strong>und</strong> die Abschaffung desKapitalismus gleichermassen einsetzen sollte.Unsere AutorInnen argumentieren, warum die Befreiungvon Mensch <strong>und</strong> Tier ohne eine historischmaterialistischeAnalyse <strong>und</strong> Kritik des Kapitalismusnicht möglich ist <strong>und</strong> warum andersherum dasVerhältnis der gegenwärtigen Gesellschaft zurNatur <strong>und</strong> zu den Tieren in den Blick genommenwerden muss. Sie zeigen auf, wer in den oberenStockwerken des Wolkenkratzers von der Ausbeutungder Tiere profitiert <strong>und</strong> auf wessen Kosten dieProfitmacherei in den unteren Stockwerken geht.In ihren Beiträgen denken sie darüber nach, warumsowohl Mitgefühl <strong>und</strong> Moral als auch realpolitischeSchritte unverzichtbar sind auf dem Weg hin zuVerhältnissen, in denen weder Menschen nochTiere gesellschaftlich produziertes Leid ertragenmüssen. Gleichwohl machen sie deutlich: Soll dasmoralische Mitgefühl nicht anästhesiert <strong>und</strong> sollenpolitische Errungenschaften nicht etwa über Angebotefür einen «vegan-lifestyle» oder durch einen«Green New Deal» in die Profitlogik integriert werden,bedürfen sie einer revolutionären Ausrichtung.Auf der Suche nach Spuren historischer Vorbilderlegen sie Beispiele für eine umfassende Solidaritätmit allen leidensfähigen Wesen frei.Last but not least wenden sie sich der Frage zu,welche Rolle Kunst <strong>und</strong> Musik für gesellschaftlicheBefreiung (nicht) spielen können.Die Frage nach der richtigen politischen Praxis istnicht leicht zu beantworten – viele Fragen müssenindes erst noch gestellt werden. Mit unseren Beiträgenwollen wir deshalb zur Diskussion darüberanregen, wie die Tierrechts- <strong>und</strong> <strong>Tierbefreiung</strong>sbewegungkämpft, welche Veränderungen in ihrerpolitischen Ausrichtung notwendig wären – aberauch darüber, wie <strong>und</strong> warum ihr mit Repressionbegegnet wird, wenn sie es schafft, zugunsten derTiere die Gewinne in den oberen Etagen des Wolkenkratzeszu schmälern.Die Bef<strong>und</strong>e der AutorInnen sind aufschlussreichaber nicht nur erfreulich, wie Sie, liebe LeserInnen,bei der Lektüre der folgenden Seiten feststellenwerden. Die gute Nachricht ist: das Potenzial fürfruchtbare Debatten <strong>und</strong> die Perspektive für einegesellschaftsverändernde Praxis sind jedenfallsvorhanden.Tierrechtsgruppe ZürichIMPRESSUM


04 ― 05<strong>Marxismus</strong> <strong>und</strong> <strong>Tierbefreiung</strong>Die originäre marxistische Theorie – der historische Materialismus <strong>und</strong> die Analyse der kapitalistischenProduktionsweise in ihrem idealen Durchschnitt – ist nicht nur unerlässlich für die richtige Erkenntnis derheutigen Gesellschaft. Sie ist auch ein Leitfaden für eine zeitgemässe Kritik der Tierausbeutung.In den Gr<strong>und</strong>rissen, den erst post mortem ver öffentlichtenVorarbeiten zu seinem ökonomietheoretischenHauptwerk, behauptet KarlMarx: «Zum Tier, Boden etc. kann au fondkein Herrschaftsverhältnis stattfinden durch dieAneignung, obgleich das Tier dient. Die Aneignungfremden Willens ist Voraussetzung desHerr schaftsverhältnisses. Das Willenlose also,wie Tier z.B., kann zwar dienen, aber es machtden Eigner nicht zum Herren.» Zwar revidiertMarx diese Position im Kapital ausdrücklich,indem er feststellt, dass z.B. Pferde sehr wohleinen «eignen Kopf» haben. Als Theoretiker,der nach der Einheit von Natur- <strong>und</strong> Geisteswissenschafttrachtete, hätte er sich gewiss auchvon den Erkenntnissen der naturwissenschaftlichenForschung belehren lassen, die – nachseinem Tod – seine Hypothese falsifizierten.Das hindert jedoch ApologetInnen der Ausbeutungvon Tieren bedauerlicherweise nicht daran,sie bis heute zu bemühen.Marx <strong>und</strong> Engels waren als Personen keine Anhängerder zeitgenössischen «Abschaffer derTierquälerei», die sie im Manifest der KommunistischenPartei als Vertreter des «Bourgeoisie ­so zialismus» abkanzeln. Angesichts der Positionenkaritativer TierschützerInnen besitzt diesepolitische Einschätzung, abgesehen von derheute relativ unüblichen Wortwahl, durchausnoch immer eine Berechtigung.Trotz alledem: Marx’ <strong>und</strong> Engels’ Werke, ihreTheorien, Thesen <strong>und</strong> Gedanken bieten fürTierbefreierInnen <strong>und</strong> Menschen, die Argumentefür die Befreiung der Tiere zumindestprüfen wollen, weitaus mehr als ein paar fehlinterpretierteSentenzen.In ihrem Werk geht es im Wesentlichen umzwei erlei: Zum einen entwickeln sie aus der Kritikan den idealistischen Interpretationen derGeschichte menschlicher Gesellschaften einVerständnis von der Art <strong>und</strong> Weise, wie die Geschichteder Gesellschaft, der Natur <strong>und</strong> die dazugehörigenDenkformen interpretiert werdenmüssen. Ihre Lesart der Geschichte als Einheitvon Gesellschafts-, Natur- <strong>und</strong> Denkformenwird für gewöhnlich als «historischer Materialismus»bezeichnet. Der historische Materialismusist aber, wie Engels mehrfach in Briefen anseine Weggefährten betont hat, keine «fertigeSchablone, wonach man sich die historischenTatsachen zurechtschneidet» <strong>und</strong> «kein Hebelder Konstruktion à la Hegelianertum», sondernein «Leitfaden beim historischen Studium».Zum anderen haben Marx <strong>und</strong> Engels vor allemdie historisch besondere Form der kapitalistischenOrganisation gesellschaftlicher Arbeit,Karl Marx <strong>und</strong> sein kongenialer Partner Friedrich Engels.d.h. das Verhalten der Menschen zueinander<strong>und</strong> zur Natur in der kapitalistischen Produktionsweisein Abgrenzung zu anderen vorkapitalistischen,wie etwa der feudalistischen, <strong>und</strong>nachkapitalistischen Formen, wie der kommunistischen,untersucht. Die wissenschaftlicheDarstellung <strong>und</strong> Kritik der kapitalistischenProduktionsweise hat Marx nach umfassendenVorarbeiten, an denen sich auch Engels beteiligthat, vor allem mit seinem dreibändigenOpus magnum Das Kapital – Zur Kritik der politischenÖkonomie geleistet.Der historische Materialismus … Der Ausgangspunktfür die Entwicklung des historischenMaterialismus ist die Kritik an idealistischenInterpretationen der Geschichte, wieetwa an Hegels Philosophie oder der christlichabendländischenReligion. Diese werden aufgr<strong>und</strong>ihres Idealismus' als bürgerliche Ideologienverworfen. Weder Gott oder der menschlicheGeist noch die Sprache bestimmen dieGeschicke der menschlichen Geschichte, sonderndie politisch-ökonomische Praxis der Gesellschaft.Marx <strong>und</strong> Engels zufolge hat nicht nur diemenschliche Gesellschaft, sondern auch die Natureine Geschichte. Die Menschen haben sichaber durch die gesellschaftliche Produktion <strong>und</strong>Reproduktion sukzessive aus der direkten Einheitmit der Natur herausgearbeitet. Die Gesellschaftsgeschichtebeginnt damit, dass dieMenschen Verhältnisse untereinander <strong>und</strong> zurNatur eingehen, die dazu dienen, ihre Bedürfnissezu befriedigen.Allerdings hat dieser Prozess keineswegs einenabsoluten Bruch zwischen Natur- <strong>und</strong> Menschengeschichteerzeugt. Vielmehr haben sichdie Natur <strong>und</strong> die menschliche Gesellschaft inbeständig sich fortentwickelnden Prozessen derKoevolution, deren Ziele <strong>und</strong> Zwecke keineswegsim Vorhinein feststanden oder -stehen, gegeneinanderverselbständigt, ohne jemals dieBeziehung zueinander aufgegeben zu haben.Natur <strong>und</strong> Gesellschaft sind also voneinandergeschieden, relativ unabhängig voneinander<strong>und</strong> gleichzeitig unterhalten sie weiterhin Beziehungenzueinander.Die politisch-ökonomischen Beziehungen allerbisherigen Gesellschaftsformationen, einschliesslichder gegenwärtigen kapitalistischenGesellschaft, haben immer zwei grosse Klassenhervorgebracht, die sich antagonistisch gegenübergestanden haben. Der Konflikt zwischenihnen, der sich aus ihren widerstreitenden Interessenergibt, ist bis heute der Motor der historischenEntwicklung. Daher heisst es auchbei Marx <strong>und</strong> Engels an einer bekannten Stelleim Manifest der Kommunistischen Partei: «Die Geschichtealler bisherigen Gesellschaft ist dieGeschichte von Klassenkämpfen.»In jeder der verschiedenen Gesellschaftsformationen,wie etwa der antiken, der feudalistischenoder der kapitalistischen, bestimmt das


Sein das Bewusstsein <strong>und</strong> nicht umgekehrt,d.h. die politisch-ökonomische Basis bestimmtden politisch-kulturellen Überbau. Das «in letzterInstanz bestimmende Moment» der gesellschaftlichenEntwicklung ist also die politischeÖkonomie einer jeden Gesellschaftsformation.Sie weist allen anderen Produktionsweisen <strong>und</strong>den Elementen des Überbaus ihren Platz innerhalbeiner Gesellschaft zu. Allerdings handeltes sich dabei nicht um ein deterministischesVerhältnis, wie Engels hervorhebt: «Die ökonomischeLage ist die Basis, aber die verschiedenenMomente des Überbaus – politische Formen desKlassenkampfs <strong>und</strong> seine Resultate – Verfassungen,nach gewonnener Schlacht durch die siegendeKlasse festgestellt usw. – Rechtsformen,<strong>und</strong> nun gar die Reflexe aller dieser wirklichenKämpfe im Gehirn der Beteiligten, politische,juristische, philosophische Theorien, religiöseAnschauungen <strong>und</strong> deren Weiterentwicklungzu Dogmensystemen, üben auch ihre Einwirkungauf den Verlauf der geschichtlichenKämpfe aus <strong>und</strong> bestimmen in vielen Fällenvorwiegend deren Form. Es ist eine Wechselwirkungaller dieser Momente, worin schliesslichdurch alle die unendliche Menge von Zufälligkeiten[...] als Notwendiges die ökonomischeBewegung sich durchsetzt.»... <strong>und</strong> die TiereDer historische Materialismus von Marx <strong>und</strong>Engels kann dabei helfen, wesentliche Elementeder Ausbeutung von Tieren in der Geschichtezu verstehen <strong>und</strong> zu erklären.Wenn man ihre Kritik an metaphysischen Interpretationender Geschichte ernst nimmt, istes z.B. falsch zu glauben, dass Menschen Tiereausbeuten, weil sie Vorurteile gegen sie entwickelthaben, weil die Menschen schlecht überTiere denken, sie mit negativ konnotiertenKategorien bezeichnen oder weil die bestehendenGesetze die falschen sind. Vielmehr habendie Menschen diese Ideen usw., weil Tiere inder politisch-ökonomischen Praxis der Gesellschaftenausgebeutet werden. Der italienischePhilosoph Marco Maurizi schreibt: «Wir beutenTiere nicht aus, weil wir sie für niedriger halten,sondern wir halten Tiere für niedriger, weil wir«Für einen Ochsen ist es immer dasselbe Opfer,wenn er geschlachtet wird.» Karl Marxsie ausbeuten.» Der Speziesismus, d.h. das Setvon Ideologien, mit denen andere Spezies als derMensch abgewertet werden, ist nicht die Ursacheder Tierausbeutung, sondern ihre Folge.Maurizi stellt die Kritik an der Tierausbeutungunter Bezug auf den historischen Materialismusalso vom Kopf auf die Füsse. Er leugnet jedochnicht, dass der Speziesismus die Ausbeutungder Tiere rechtfertigt <strong>und</strong> verschleiert.Folgt man Marx <strong>und</strong> Engels, beuten zudemnicht «die Menschen» «die Tiere» aus. Vielmehrsind in den unterschiedlichen KlassengesellschaftenTiere <strong>und</strong> die unterdrückte Klasseim mer im Interesse <strong>und</strong> unter der Leitung derherrschenden Klasse exploitiert worden. Dasbedeutet weder, dass die Tiere Teil der unterdrücktenKlassen gewesen, noch dass die beherrschtenKlassen zimperlich mit den Tierenumgesprungen sind. Aber die durch die jeweiligeGesellschaftsformation gesetzten Zwecke dergesellschaftlichen Produktion <strong>und</strong> Konsumtionführen nicht nur zum Klassengegensatz, sondernauch zu einem Antagonismus zwischender herrschenden Klasse <strong>und</strong> den Tieren.Schliesslich bietet der historische Materialismuseine überzeugende Lösung für eine Frage,die sowohl von Tierrechtler- <strong>und</strong> TierbefreierInnenals auch von BefürworterInnen der Ausbeutungvon Tieren zwar immer wieder diskutiert,aber nicht wirklich beantwortet wurde:Worin besteht der Unterschied zwischen Menschen<strong>und</strong> Tieren? Marx <strong>und</strong> Engels schreibenin Die deutsche Ideologie, die Menschen fingen an,sich von den Tieren zu unterscheiden, indem sieihre Lebensmittel <strong>und</strong> damit auch ihre Gesellschaftreproduzierten. Sie konstatieren also,dass die Menschen ihre Differenz zu den Tierendurch ihre gesellschaftliche politisch-ökonomischePraxis in der historischen Entwicklunghergestellt haben. Aber: Die Menschen tun dies,ohne ihre Gemeinsamkeiten mit den Tieren aufzugeben.Sie bleiben gleichzeitig Naturwesen,die auch ihre natürlichen Bedürfnisse (nachEssen, Trinken usw.) befriedigen müssen. DerUnterschied zwischen Menschen <strong>und</strong> Tierenist entsprechend nicht absolut-ontologischer,sondern gradueller Natur <strong>und</strong> Resultat derhistorisch gesellschaftlichen politisch-ökonomischenPraxis. Aus diesem Unterschied kanndementsprechend keine Legitimation für dieAusbeutung von Tieren abgeleitet werden.Die Tiere in der kapitalistischen Produktionsweise:gratis Produktionsmittel <strong>und</strong> WarenWenn man nun vor dem Hintergr<strong>und</strong> des historischenMaterialismus nach einer Erklärungdafür sucht, wieso Tiere in der gegenwärtigenkapitalistischen Gesellschaftsformation ausgebeutetwerden, dann muss man untersuchen,welche Stellung <strong>und</strong> welche Funktion denTieren in dieser historisch besonderen Formder Organisation gesellschaftlicher Arbeit zugewiesenwird.Die kapitalistische Produktionsweise basiert imKern auf zwei sozialen Verhältnissen: auf derOrganisation der Arbeit über den Markt <strong>und</strong>auf dem Klassenverhältnis zwischen KapitalistInnen<strong>und</strong> ArbeiterInnen. Der Zweck kapitalistischerGesellschaften besteht darin, dass dasKapital sich über die Ausbeutung der ArbeiterInnenmöglichst grosse ökonomische Profitesichert.Die Tiere sind ebenso wie die restlichen Elementeder Natur den gesellschaftlichen Beziehungenim Kapitalismus extern. Weder kaufensie ihre Lebensmittel auf dem Markt nochschuften sie in der Fabrik für einen Lohn. Dasie zur Produktion von bestimmten Waren benötigtwerden <strong>und</strong> sie sich auch nicht zur Wehrsetzen können, werden die Tiere <strong>und</strong> andereNaturstoffe als verfügbare Produktionsmittel(z. B. als Milch- <strong>und</strong> Fleischproduzent) <strong>und</strong> Arbeitsgegenstände(etwa in der Herstellung vonLeder) angeeignet. Die ArbeiterInnen vollziehendiese Monopolisierung gratis <strong>und</strong> z. T. unterEinsatz offener Gewalt im Produktionsprozessim Interesse <strong>und</strong> im Auftrag des Kapitals.Als Produktionsmittel <strong>und</strong> Arbeitsgegenständedienen die Tiere der Produktion von Profit.Damit dieser möglichst hoch ausfällt, sorgendie KapitalistInnen dafür, dass sie möglichsteffizient in den Produktionsprozess integriertwerden. Wie bei der Aneignung anderer Naturstoffegeschieht dies in beständig wachsendenQuanta <strong>und</strong> unter Abstraktion von einigen ihrerQualitäten (z.B. ihrer Leidensfähigkeit), vonden Folgen der Produktion <strong>und</strong> Konsumtionfür die Tiere <strong>und</strong> die Natur sowie schliesslichunter Abstraktion von ihren eigenen Reproduk ­tionskreisläufen. Im Produktionsprozess werdendie von den Tieren produzierten oder die durchsie dargestellten Gebrauchswerte durch die Ver ­ausgabung menschlicher Arbeitskraft zu einemProdukt gemacht, das Träger von Profiten ist.Diese werden für die KapitalistInnen am Marktrealisiert, wenn die Ware, wie z.B. ein StückFleisch, verkauft wird.Genau genommen basiert die Produktion vonProfiten im Kapitalismus also nicht nur auf derAusbeutung der ArbeiterInnen, sondern auchauf der der Natur <strong>und</strong> der Tiere. Die kapitalistischeProduktionsweise funktioniert nur, «indemsie zugleich die Springquellen alles Reichtumsuntergräbt: die Erde <strong>und</strong> den Arbeiter» – wobeidie Tiere einen Teil der Natur bilden, für dieMarx hier stellvertretend auf die Erde verweist.Die Anschauung, welche unter der Herrschaftdes Privateigentums <strong>und</strong> des Geldes entsprechendvon der Natur <strong>und</strong> den Tieren gewonnenwird, ist die wirkliche Verachtung, die praktischeHerabwürdigung der Natur im Allgemeinen<strong>und</strong> der Tiere im Besonderen.Ein Ende der Tierausbeutung ist demzufolgenur unter der Bedingung machbar, dass imKlassenkampf mit der kapitalistischen Produk ­tionsweise gebrochen wird. Nur dann bestehtdie Möglichkeit, dass Thomas Münzers Diktum,auf das Marx sich beruft – «auch die Kreaturmüsse frei werden» –, Wirklichkeit wird.Christian Stache promoviert an der UniversitätHamburg im Fach Sozial- <strong>und</strong> Wirtschaftsgeschichte<strong>und</strong> ist Beirat der InformationsstelleMilitarisierung e.V. (IMI).


08 ― 09Speziesismus <strong>und</strong> historischerMaterialismusObwohl eine enge Verbindung zwischen Tierausbeutung <strong>und</strong> der Ausbeutung des Menschen besteht, verfügt die Tierbe freiungsbewegungüber keine politisch-ökonomische Kritik. Bezieht sie nicht die gesellschaftlichen Ursachen <strong>und</strong> Implikationender Unterdrückung von Tieren ein, stösst sie zwangsläufig an ihre Grenzen <strong>und</strong> verkennt ihr revolutionäres Potential.Obschon der Begriff des Speziesismusvon Richard Ryder geprägt wurde, hatihn erst Peter Singer durch sein einflussreichstesBuch, Animal Liberation,popularisiert. Singer defi niert den Speziesismusals ein moral isches Privileg, das auf der Spezieszugehörigkeitgegründet ist, d. h. als die Idee,dass die Interessen von menschlichen Tierenper se wichtiger sind als die Interessen von nichtmenschlichenTieren. Das ist eine verengt theoretischeDefinition des Speziesismus. AberSinger selbst führt in dem Buch auch eine historischeBeschreibung des Speziesismus ein<strong>und</strong> versucht, durch Zitationen von Aristoteles,Augustinus, Thomas von Aquin, Descartes <strong>und</strong>Kant zu beweisen, dass die abendländische Kultureine im Wesentlichen speziesistische Kulturist. Das aber wirft grosse Probleme auf.Denn der Speziesismus ist eine Praxis, nicht nurein moralisches Vorur teil. Man muss deshalbeine materielle von einer ideellen Seite des Spe ­ziesismus unterscheiden. Bei der Lektüre vonAnimal Liberation wird nicht klar, ob Singer hierbeschreibt, wie der Speziesismus historisch alsPraxis entstanden ist oder ob er beschreibt, wieverschiedene menschliche Gesellschaften ihrkonkretes Verhalten gegenüber Tieren a posteriorigerechtfertigt haben. Singer scheint dieserUnterschied überhaupt nicht bewusst zu sein:Er stellt die Ideen der Philosophen <strong>und</strong> die realeBehandlung der Tiere nebeneinander, als obletztere eine Wirkung der ersteren sei. DerGr<strong>und</strong> für diese Konfusion <strong>und</strong> Verwechslungder materiellen <strong>und</strong> ideellen Dimension ist,dass Singer von dem abstrakten Standpunkt derbürgerlichen Ethik <strong>und</strong> nicht aus der konkretenPerspektive revolutionärer Politik spricht.Das gr<strong>und</strong>legende Problem des von Singer begründetenmetaphysischen Antispeziesimusist, dass er die historische Natur der menschlichenGesellschaft <strong>und</strong> die gesellschaftlicheNatur der menschlichen Geschichte ignoriert.Für die Geschichtsblindheit der «apolitischen»AntispeziesistInnen gibt es gute Gründe: IhreTheorie macht nur Sinn, solange wir davonab sehen, wie die Gesellschaft wirklich funktioniert.Es ist nicht verw<strong>und</strong>erlich, dass vieleTier rechtsaktivistInnen eine politische Veränderungder realen gesellschaftlichen Verhältnisseablehnen <strong>und</strong> stattdessen <strong>Tierbefreiung</strong>als eine moralische <strong>und</strong> individuelle Entscheidungpredigen, die «jedermann» betrifft: ganzunabhängig davon, wer man ist, an welchemOrt oder zu welcher Zeit man lebt oder ob dieses«jedermann» überhaupt existiert. Frei nachdem Motto: Sowohl die herrschenden als auchdie unterdrückten Klassen sind für Tiere nichtsanderes als «Nazis». Doch stimmt das wirklich?Tragen beide die gleiche Verantwortung für das,was heute in der Welt geschieht? Müssen wir imKampf für gesellschaftliche Ver änderung beideals «Unterdrücker» der Tiere verurteilen? Undist dies überhaupt eine sinnvolle Strategie zurVeränderung der Gesellschaft? Als historischerMaterialist hege ich Zweifel daran.Der Speziesismus als historisch-materialistischesProblem Wann ist der Speziesismusentstanden? Die Frage nach seinem Ursprungist nicht eindeutig, weil der Speziesismusbegriffeine materielle <strong>und</strong> eine ideelle Seite einschliesst.Vom materiellen Standpunkt aus be ­trachtet, ist der Speziesismus die Praxis, die dasTier zum Objekt unserer Bedürfnisse macht.Aber dieser Verdinglichungsprozess implizierteine ideelle Seite, nämlich die ideologischeRechtfertigung, nach der wir es für richtig halten,Tiere als blosse Gegenstände zu benutzen.Was passiert nun, wenn wir die reale Geschichteb e trachten <strong>und</strong> versuchen, die Ursprünge desSpeziesismus unter Berücksichtigung sowohlder materiellen als auch der ideellen Seite zure konstruieren? Zunächst müssen wir davonausgehen, dass wir erst in einem bestimmtenStadium der Evolution des Homo sapiens zu«herrschenden Tier en» – wie Singer es ausdrückt– geworden sind. Die Voraussetzung für diemenschliche Herrschaft über die Natur war einmächtiges soziales <strong>und</strong> symbolisches Systemzur Überwindung des magischen Kosmos derJäger-<strong>und</strong>-Sammler-Gesellschaften, in denenTöten <strong>und</strong> Getötet-Werden noch gleichstehendeMöglichkeiten waren <strong>und</strong> die Menschen sichselbst nicht als «besser» – nicht einmal als «anders»– als Tiere vorstellten.Die Geburtsst<strong>und</strong>e der materiellen Beherrschungder Natur durch den Menschen liegt inder Jungsteinzeit. Die «Erfindung» der Landwirtschaft<strong>und</strong> der Domestizierung von Pflanzen<strong>und</strong> Tieren machte eine radikale Verände ­r ung unserer Umwelt möglich. Sie war der ersteSchritt, die Natur zum blossen Material fürunsere Bedürfnisse zu machen, statt in einenDialog mit ihr zu treten. Mit der sogenannten«neolithischen Revolution» entwickelten dieMenschen ein anderes Verhältnis zu ihren nichtmenschlichenGegenübern. Die jungsteinzeitlichenSiedlungen führten eine systematischeKontrolle über den «biologischen Zyklus» andererSpezies ein. Solch einseitige Beziehungen –in denen die Existenz des einen Partners demanderen Partner vollständig ergeben ist – machendas aus, was wir für gewöhnlich als «Herr ­schaft» bezeichnen. Die «Versklavung» dernicht-menschlichen Natur ist die Bedingungsine qua non des Speziesismus, d. h. die materielleBasis, auf welcher Menschen sich als «Herren»betrachten können. Es kann nicht bestrittenwerden, dass diesem ersten Schritt eine ausserordentlicheBeschleunigung der menschlichen


Evolution folgte: Grob gesagt, zwischen 8000<strong>und</strong> 3000 v. Chr. waren die politischen, ökonomischen,wissenschaftlichen <strong>und</strong> technologischenGr<strong>und</strong>lagen für die menschliche Gesellschaftgeschaffen worden, wie sie uns von derGeschichte überliefert wurde. Es war eine vonMännern beherrschte, hierarchische Ordnung,die von der Religion <strong>und</strong> der Wissenschaft ideologischgerechtfertigt <strong>und</strong> reproduziert wurde.Die Geschichte als Geschichte der Herrschaftbegann.Doch auch wenn die jungsteinzeitliche Revolutiondie Basis unserer Herrschaft über die Natur<strong>und</strong> somit die materielle Möglichkeit der speziesistischenIdeologie geschaffen hat, so hat siediese Ideologie dennoch nicht produziert. Speziesismusist eine Ideologie, die auf bestimmtenallgemeinen Begriffen beruht. Sie bedientsich eines allgemeinen Begriffs von «Spezies»,der es ermöglicht, auf einer Seite alle Menschenunter dem Begriff «Mensch» <strong>und</strong> auf der anderenSeite alle Tiere unter dem Begriff «Tier» zufassen. Die Singerische Argumentation greifterst, nachdem dieser Unterschied sich historischdurchgesetzt hat <strong>und</strong> gewissermas senF<strong>und</strong>ament der abendländischen Rationalitätgeworden ist. Aber die universellen Begriffevon «Mensch» <strong>und</strong> «Tier» entstehen erst imgeschichtlichen Verlauf. In gewisser Hinsichtsind sie erst Resultat der Moderne.Wir haben also gesehen, dass sich der Begriffdes Speziesismus als höchst problematisch herausstellt.Seine ma terielle Seite – die physischeAusbeutung – fällt nicht mit seiner ideellenSeite – der ideologischen Rechtfertigung derUnterdrückung – zusammen. Sie bilden gareinen Chiasmus. Historisch hat die Praxis derAusbeutung der Tiere angefangen, als wir unsdiese noch nicht als etwas völlig Anderes vorstellten.Dagegen haben wir angefangen, unsereHerrschaft über die Tiere anzuprangern, als wirsie nicht mehr als unseresgleichen wahrnehmenkonnten. Warum erscheint uns der Speziesismusin einer verzerrten Form? Weil in dermetaphysischen Version des Antispeziesimusein wichtiges Detail ausgelassen wird: dass derMensch selbst ein Tier ist. Somit müssen wiruns nicht nur die Frage stellen: «Wann habenwir angefangen, die anderen Tiere zu unterdrücken?»,sondern auch: «Wann haben wirver gessen, dass wir Tiere sind?»Vor 30 000 Jahren, als die ersten Homo sapiensauf der Erde wandelten, nahm die menschlicheEntwicklung ihren Ausgang. Seitdem hat sichdie kulturelle Dimension der menschlichenExistenz, d. h. das Produkt menschlicher Arbeit<strong>und</strong> Intelligenz, in einem Masse entwickelt, wiees nie zuvor in der Natur da gewesen war. Marx<strong>und</strong> Engels schreiben in Die Deutsche Ideologie:«Man kann die Menschen durch das Bewusstsein,durch die Religion, durch was man sonstwill, von den Tieren unterscheiden. Sie selbstfangen an, sich von den Tieren zu unterscheiden,sobald sie anfangen, ihre Lebensmittel zu p roduzieren, ein Schritt, der durch ihre körperlicheOrganisation bedingt ist. Indem die Menschenihre Lebensmittel produzieren, produzieren sieindirekt ihr materielles Leben selbst.» Nurdurch einen solchen Prozess war die Entstehungdes menschlichen Selbst möglich. DieGeschichte ist der Raum dieser Autopoiesisdes Bewusstseins: Die menschliche Kultur,der «Geist», ist etwas, das wir konkret produzieren.Was Marx <strong>und</strong> Engels über den «Unterschied»zwischen Mensch <strong>und</strong> Tier schreiben,darf aber nicht als eine ontologische <strong>und</strong> statischeDifferenz verstanden werden. Sie sprecheneher von einer Aktivität, einer Handlung. Menschenunterscheiden sich – das ist wörtlich zunehmen: sich anders machen – von den anderenTieren dank ihrer Geschichte. Auf der einenSeite ist dieser Unterschied real, weil wir uns<strong>und</strong> unsere Umwelt durch die Arbeit tatsächlichverändern. Auf der anderen aber bleibt erillusorisch, weil wir immer noch Tiere sind, Teilder Natur, materielle Wesen. Der Geist, denwir schaffen, ist ein Betrug. Aber gerade dasbeweist unsere Einzigartigkeit: Der Mensch istdas Tier, das vergisst, dass es ein Tier ist.Wir sollten nicht vergessen, dass der Menschein gesellschaftliches Tier ist <strong>und</strong> dass historischeVeränderung immer als gesellschaftlicheVeränderung verstanden werden muss. Marxbetont, dass die Menschen die Gr<strong>und</strong>lagen ihrermateriellen Existenz produzieren. Dabei sprichter immer von dem Menschen als sozialem Wesen,d. h. dem realen Menschen, nicht demjenigen,den die Welt der Moral philosophie beherbergt.Aber die ma terielle Produktion ist immer durchirgendwelche Zwänge charakterisiert. Wenn eineGruppe von Menschen die Regeln der kollektivenReproduktion festlegt, wird der Einzelneimmer gezwungen, sich einzubringen. Schonvon Anfang an scheint die gesellschaftlicheOrdnung das Individuum unter eine gewisseDiktatur des Kollektivs gezwungen zu haben,obwohl die ersten Jäger-<strong>und</strong>-Sa m m le r- G e s e l l ­schaften gr<strong>und</strong>sätzlich egalitär waren. Abersolche Gesellschaften haben sich «entwickelt»,mehr <strong>und</strong> mehr die Form von Stämmen <strong>und</strong>chiefdoms angenommen, die soziale Strukturwurde hierarchisiert <strong>und</strong> zen tralisiert: EineZentralautorität, die gleichzeitig religiös <strong>und</strong>politisch war, fing an, die Verteilung der Ressourcenzu organisieren <strong>und</strong> zu kontrollieren.Es ist einfach, sich vorzustellen, dass eine –wahrscheinlich durch natürliche Differenzenlegitimierte – Autorität (physische Fähigkeit,Schlauheit usw.) sich von der Person, die sie innehat,abspaltet <strong>und</strong> zum Privileg wird. Gesell ­schaftliche Zwänge, Religion <strong>und</strong> Auto ri tätnötigten die Menschen dazu, eine ungleicheOrdnung zu akzeptierten, die ihre Unterdrückungimmer wieder reproduziert. Die gesell ­schaftlichen Regeln begannen von oben oktroy ­iert <strong>und</strong> vom Individuum als normal introjiziertzu werden. Interessant ist, dass die materielleNaturbeherrschung – wie sie oben anhand derjungsteinzeitlichen Domestizierung von Tieren<strong>und</strong> Pflanzen beschrieben wurde – zur selbenZeit begann <strong>und</strong> gesellschaftliche Produktionsformwurde, zu der sich auch der Klassenkampfals Form gesellschaftlicher Bewegung etablierthatte – d. h. nach der Geburt des Staates.Tierausbeutung <strong>und</strong> Klassengesel lschaft DieAusbeutung der Tiere <strong>und</strong> die Ausbeutung derMenschen haben sich seit ihren historischenAnfängen wechselseitig bedingt. Die Zähmungder Tiere <strong>und</strong> der Ackerbau haben den gesellschaftlichenÜberschuss (Surplus) geschaffen,der die Trennung zwischen geistiger <strong>und</strong> materiellerArbeit <strong>und</strong> die Entstehung der Klassengesellschaftermöglicht hat. Die Entwicklungder Klassengesellschaft wiederum hat dieAusbeutung der Tiere <strong>und</strong> der Menschen fürden Gewinn der herrschenden Eliten verstärkt.Auch wenn die mesopotamischen Könige denStier nicht wie ein Ding sahen, war das dem Stieraufgezwungene Joch die Voraussetzung derEx i stenz des meso po tamischen Staates, da esdie notwendige Akkumulation ermöglichte, umdie staatliche Bürokratie zu ernähren. WennTiere zum Rädchen im Herrschaftsmechanismuswerden, sind sie schon nicht mehr demMen schen überhaupt, sondern der höheren Notwendigkeitdes Staates unterworfen. Es geschiehtnur durch eine innere gesellschaftlicheHierarchie, dass das äussere Verhältnis zumTier selbst hierarchisch wird (Menschen kontrollierenMenschen, die Tiere kontrollieren).Das ist wieder ein diale k tischer Prozess: Hatdie Sklaverei des Stiers die Sklaverei des Menschenermöglicht, so hat die menschliche Sklavereidie Distanz zwischen der Spitze <strong>und</strong> derBasis der Pyramide vergrössert.Die obige historische Beschreibung ist sicherlichnoch zu allgemein gehalten. Ich denke aber,dass es wichtig ist, in dieser Richtung weiterzuarbeiten.Denn der Speziesismus ist nichtbloss ein Vorurteil, sondern eine gesellschaftlicheStruktur, die einer detaillierten soziologischen<strong>und</strong> historischen Analyse unterzogenwerden muss. Wenn wir die gesellschaftlichenUrsachen <strong>und</strong> Implikationen des Speziesismusoffenlegen, zeigt sich, dass es sich bei derAusbeutung von Tieren <strong>und</strong> der Ausbeutungvon Menschen nicht um zwei völlig getrennteoder verschiedene Formen der Unterdrückunghandelt. Im Gegenteil: die Befreiung der Tiereist mit der Befreiung der Menschen identisch.Der Kern des Problems ist die zerstörende Logikdes Kapitals, eine Logik, die bestimmtegesell schaftli che Strukturen voraussetzt (Klassenge sellschaft, wirtschaftliche Aus beu tung,Staatsgewalt). Solche Stru k turen wurden vorTausenden von Jahren durch die Unterdrückungvon Menschen <strong>und</strong> Tieren geschaffen.Der Speziesismus kann daher nur verstanden<strong>und</strong> bekämpft werden, wenn wir die unterdrückendeStruktur der Klassengesellschaft selbstin Frage stellen.Marco Maurizi ist Philosoph <strong>und</strong> Musiker ausRom. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf derPhilosophie der Geschichte aus der Perspektiveder Kritischen Theorie, des <strong>Marxismus</strong> <strong>und</strong> derklassischen dialektischen Philosophie. Er istAutor von Büchern über Theodor W. Adorno <strong>und</strong>Nikolaus von Kues, sowie mehrerer Essays überAntispeziesismus aus einer sozialistischenPerspektive.


10 ― 11Die Befreiung von Mensch <strong>und</strong> TierEin Kampf mit linker TraditionEs ist noch weitgehend unbekannt, dass es für den Aufbau einer Bewegung für die Befreiung von Mensch <strong>und</strong> Tier zahlreichehistorische Vorbilder gibt: Zur Thematik existiert eine weit zurückreichende, genuin linke theoretische – <strong>und</strong> auchpraktische – Tradition. Die Solidarität mit Arbeitstieren als Ausgebeutete konnte bereits seit den Anfängen der Entwicklungkapitalistischer Gesellschaftsformen als integrales Element revolutionärer Theorie <strong>und</strong> Praxis fungieren.Der Scheidungsprozess von Produzent<strong>und</strong> Produktionsmittel bildet dieGr<strong>und</strong>lage der kapitalistischen Produktionsweise:Die Vertreibung desAckerbauers von Gr<strong>und</strong> <strong>und</strong> Boden entriss ihmseine Mittel zur Selbstversorgung <strong>und</strong> machteihn zum Proletarier, wie es im Kapital von KarlMarx heisst. Diese gesellschaftliche Umwälzungwar eng mit der industriellen Ausbeutung vonTieren verb<strong>und</strong>en: In der Industrie, in welcherdie LohnarbeiterInnen ihre Arbeitskraft verausgabenmussten, wurde vermehrt auch dieArbeitskraft von Tieren eingesetzt. Angehörigeder proletarischen Klasse sahen Gemeinsamkeitenin ihrer eigenen Ausbeutung <strong>und</strong> derjenigenvon Tieren – <strong>und</strong> genau hier liegt der Ursprungdes <strong>Tierbefreiung</strong>sgedankens.Die Anschauung, welche unter der Herrschaftdes Privateigentums <strong>und</strong> des Geldes von derNatur gewonnen werde, sei «die wirkliche Ver ­achtung, die praktische Herabwürdigung derNatur», schreibt Marx <strong>und</strong> bezieht sich in diesemSinne auf den Reformator <strong>und</strong> Revolutionärin der Zeit des Bauernkrieges, ThomasMünzer, der es für unerträglich erklärt hatte,«dass alle Kreatur zum Eigentum gemacht wordensei, die Fische im Wasser, die Vögel in derLuft, das Gewächs auf Erden – auch die Kreaturmüsse frei werden». Im Gang der Geschichtewurde dieser Zusammenhang immer wiedervon progressiven Personen <strong>und</strong> Bewegungenerkannt, die folgerichtig die Erweiterung desemanzipatorischen Imperativs über den Menschenhinaus forderten. «Im Kern meiner Empörunggegen die Starken finde ich, soweit ichzurückdenken kann, meinen Abscheu gegendie Tierquälerei wieder», schreibt z. B. LouiseMichel, die berühmte Kämpferin der PariserKommune, in ihren Memoiren. Weiter heisst esdort: «Von der Zeit, da ich auf dem Land dieGrausamkeiten gegen die Tiere erlebte <strong>und</strong> dasentsetzliche Bild ihrer Lebensbedingungen er ­fasste, stammt mein Mitleid für sie <strong>und</strong> dadurchmein Bewusstsein über die Verbrechender Macht. So handeln die Führenden mit denVölkern! Ich konnte nicht umhin, diese Überlegungirgendwann anzustellen.» Michel fordertnicht weniger als die vollkommene Freiheit:«Alles, alles muss befreit werden, die Geschöpfe<strong>und</strong> die Welt.»Kampf gegen die Sklaverei Im Gegensatz zuden ProletarierInnen sind der versklavte Mensch<strong>und</strong> das domestizierte Tier nicht «frei», ihreArbeitskraft zu veräussern; vielmehr gehörensie selbst vollständig – mit ihrem Körper, ihrerArbeitskraft, ihren Nachkommen – ihren BesitzerInnen.Noch offensichtlicher <strong>und</strong> unvermittelterfindet hier Ausbeutung statt – direkteraber äussert sich mitunter auch die Solidarität:Das Bewusstsein darüber, dass ArbeitstiereLeidensgenossen sind, kommt in den Stimmenvon SklavInnen deutlich zum Ausdruck. FrederickDouglass etwa verglich im 19. Jahrh<strong>und</strong>ertseine Situation mit derjenigen von Ochsen:«Ich sah nun, in meiner Situation, einige Ähnlichkeitmit jener von Ochsen. Sie waren Besitz,<strong>und</strong> so war ich es; sie sollten gebrochen werden,<strong>und</strong> ich ebenso.»Entsprechend spielen Ansätze von <strong>Tierbefreiung</strong><strong>und</strong> Vegetarismus eine wichtige Rolle inder Anti-Sklaverei-Bewegung, <strong>und</strong> zwar vonAnfang an: Eines der ersten Werke, das sichausschliesslich dem Abolitionismus, also derAbschaffung der Sklaverei, widmete, war AllSlave-Keepers that Keep the Innocent in Bondage(1737) von Benjamin Lay – übrigens gedrucktvon Benjamin Franklin. Lays Argumente gegendie Haltung von SklavInnen <strong>und</strong> für denVegetarismus sind nicht zu trennen: Er wollteschlicht keine Erzeugnisse gebrauchen oderDienstleistungen in Anspruch nehmen, die dasErgebnis von SklavInnenarbeit waren – ob diesenun von Menschen oder von Tieren verrichtetworden war. Lay beeinflusste Genera tionenvon Gegnern <strong>und</strong> Gegnerinnen der Sklaverei,die seine Praxis teilweise annahmen <strong>und</strong> fortführten.Frauen- <strong>und</strong> Tierrechtsbewegung Einem kleinenStück einer doppelt verschwiegenen Geschichtekann man auf den versteckt liegendenPfaden des Londoner Battersea-Parks nachspüren:Kaum auffindbar, am Rand eines Wegesnahe des Old English Garden, steht die Statueeines H<strong>und</strong>es. Sie wurde 1985 gestiftet, um einim Jahr 1910 aus dem Park entferntes Denkmalzu ersetzen, das dort stellvertretend für alleOpfer von Tierexperimenten errichtet wordenwar. Die H<strong>und</strong>e-Statue erinnert nicht nur daran,dass im 19. <strong>und</strong> im frühen 20. Jahrh<strong>und</strong>ertbemerkenswerte Allianzen zwischen der Antivivisektions-<strong>und</strong> der ArbeiterInnenbewegungexistierten – prominente VertreterInnen der Ar ­beiter Innenbewegung unterzeichnen 1896 einManifest gegen die Vivisektion, in dem esheisst: «Solches Experimentieren an lebendenTieren widerspricht den wirklichen Empfindungen<strong>und</strong> wahren Interessen der arbeitendenKlasse», – sondern sie ist auch ein Denkmalfür die engen Verbindungen zwischen derFrauen- <strong>und</strong> der ersten Tierrechtsbewegung.Forscht man nach, so erfährt man, dass die feministischeBewegung im England des frühen20. Jahrh<strong>und</strong>erts derart mit der Tierrechtsbewegungverb<strong>und</strong>en war, dass die MedizinstudentInnendes University College, die ab 1906gegen die Aufstellung des Denkmals protestierten,Antivivisektions- <strong>und</strong> Frauenwahlrechtsbewegunggleichsetzten: Sie störten zahlreicheVeranstaltungen letzterer, um gegen ersterevor zugehen. Die StudentInnen versuchten immerwieder, das Denkmal zu zerstören, stiessendabei aber auf den vehementen Widerstandder VivisektionsgegnerInnen sowie der Bevölkerungdes ArbeiterInnenviertels, die in demH<strong>und</strong> offenbar ein Symbol für ihre eigene Un­


terdrückung sah. Über Jahre hinweg wurdeder Konflikt, bekannt als Brown Dog Riots, ausgetragen.Ort der Auseinandersetzungen warsowohl Battersea als auch das Londoner Zentrum,wo auf dem Trafalgar Square Demonstrationenmit mehreren Tausend Teilnehmendenstattfanden.Die erklärte Absicht der militanten Suffragetten,die für das Frauenwahlrecht kämpften, wares, niemals Menschen oder Tiere zu gefährden –aber, so Emmeline Pankhurst (1858 – 1928), Mitgliedder Independent Labour Party <strong>und</strong> Mitbegründerinder Women’s Social and Political Union(WSPU), im Jahr 1913: «Wenn es dafür notwendigist, um das Wahlrecht zu erhalten, werdenwir soviel Schaden an Eigentum anrichten, wiewir können.» Die Massnahmen reichten vonStreikposten <strong>und</strong> Ankettungen bis hin zum Einsatzvon Brandbomben. «Es gibt etwas, um dassich Regierungen viel mehr Sorgen machen, alsum menschliches Leben, <strong>und</strong> das ist die Sicherheitdes Eigentums», liess Pankhurst verlautbaren,<strong>und</strong> weiter: «Das Argument der zerbrochenenFensterscheibe ist das wertvolls teArgument moderner Politik.» Dieser AusspruchPankhursts ist oft überliefert – ihr Engagementfür Tiere aber wird meist verschwiegen.Solidarität mit den quälbaren Körpern Ähnlichverhält es sich mit anderen linken Kämpferinnen<strong>und</strong> Kämpfern. An dieser Stelle sei RosaLuxemburg genannt, die in ihrer Haftzeit inBreslau im Dezember 1917 eine Erfahrung festgehaltenhat, die wohl zum Eindrucksvollstengehört, was sich in der sozialistischen Literaturzum Thema Solidarität mit Tieren findet:Büffel, als Zugtiere vor einen Karren gespannt,werden von Soldaten auf dem Gefängnishof ge ­prügelt, bis sie bluten. In einem ihrer Briefe ausdem Gefängnis, in denen sie ihre eigene Situationmit jener eines Tiers im Käfig oder «eineswilden Tieres im Zoo», vergleicht, schreibt sie:«Mein armer Büffel, mein armer, gelieb terBruder, wir stehen hier beide so ohn mächtig<strong>und</strong> stumm <strong>und</strong> sind nur eins in Schmerz, inOhnmacht, in Sehnsucht.» Das Denken RosaLuxemburgs war bestimmt von einer gr<strong>und</strong> ­sätzlichen Verb<strong>und</strong>enheit mit allen fühlendenWesen; man kann von einem Soli daritätskonzeptsprechen, für das Speziesgrenzen keineRolle spielen. «Sie wissen, ich fühle <strong>und</strong> leidemit jeglicher Kreatur», schreibt sie in einemBrief aus dem Gefängnis vom 7. Januar 1917;auf einer Versammlung sagte sie im Jahr darauf:«Jede Träne, die geflossen ist, obwohl sieabgewischt werden konnte, ist eine Anklage.»Als den «wahren Odem» des Sozialismus bezeichnetesie «rücksichtsloseste revolutionäreTatkraft <strong>und</strong> weitherzigste Menschlichkeit»:Eine Welt müsse umgestürzt werden – doch werdabei «aus roher Unachtsamkeit einen Wurmzertritt, begeht ein Verbrechen». Der israelischelinke Theoretiker Moshe Zuckermannin ter pretiert das Denken <strong>und</strong> Handeln RosaLuxemburgs als visionären Kampf um Versöhnungvon Mensch <strong>und</strong> Natur. Empathie<strong>und</strong> Leiderfahrung seien bei ihr ein zentrales«Brown Dog Riots» im Londoner Stadtteil Battersea.Moment gewesen, sie habe sogar die Überzeugungvertreten, dass es keine Emanzipationdes Menschen ohne Emanzipation der Naturgeben könne. Auch Zuckermann plädiert deshalbdafür, die theoretische Forderung nachinternationaler Solidarität um den Komplexumfassender Leiderfahrung zu erweitern –eine Forderung, die in der Geschichte linkerBewegungen immer wieder erhoben wordenist. Von Leonard Nelson etwa, dem Gründer desInternationalen Sozialistischen Kampfb<strong>und</strong>es, derim Deutschland unter Hitler antifaschistischenWiderstand organisierte, stammt das Diktum,ein Arbeiter, der nicht nur ein «verhinderterKapitalist» sein wolle <strong>und</strong> dem es also ernst seimit dem Kampf gegen jede Ausbeutung, beteiligesich nicht an Tierausbeutung: «Entwederman will gegen die Ausbeutung kämpfen, oderman lässt es bleiben. Wer als Sozialist über dieseForderungen lacht, der weiss nicht, was er tut.Der beweist, dass er nie im Ernst bedacht hat,was das Wort Sozialismus bedeutet.» Aber genaudas ist in der Linken immer noch Standard:Die Forderung nach <strong>Tierbefreiung</strong> wird abgetan,nicht ernst genommen.Befreiung radikal denken Sie gilt sogar, wie esin der Dialektik der Aufklärung von Max Horkheimer<strong>und</strong> Theodor W. Adorno heisst, als Ab ­fall von der Kultur: Aufs Tier zu achten wirdals Verrat am Fortschritt angesehen. Der Kulturprozessdes Westens, der im Zuge der Europäisierungder Erde hegemonial geworden ist,zeichnet sich geradezu durch die Unterdrückungder inneren <strong>und</strong> äusseren Natur aus.Dass Naturunterdrückung ständig Herrschaftreproduziert, da verdrängte Triebimpulse aufTiere <strong>und</strong> Menschen, die als Tiere oder als tierähnlichverunglimpft werden, projiziert werden,hat die Kritische Theorie im Anschluss anFreud gezeigt. «Ein neues Verhältnis zwischenMensch <strong>und</strong> Natur – seiner eigenen <strong>und</strong> der äus ­seren Natur» – das hielt Herbert Marcuse fürunabdingbar für die Entwicklung hin zu einerkünftigen Revolution. Bereits 1965 schrieb er:«Dass die Gewalt beseitigt <strong>und</strong> die Unterdrückungso weit verringert wird, als erforderlichist, um Mensch <strong>und</strong> Tier vor Grausamkeit <strong>und</strong>Aggression zu schützen, sind die Vorbedingungeneiner humanen Gesellschaft.»Das Streben nach der Befreiung der Tiere <strong>und</strong>der Wunsch, die Menschheit zu emanzipieren,resultieren also nicht aus unterschiedlichenZielen oder Interessen; sie lassen sich nichtgegeneinander ausspielen, im Gegenteil gilt:<strong>Tierbefreiung</strong> ist Voraussetzung <strong>und</strong> Resultatder Emanzipation des Menschen. Wenn sie keinanderes Verhältnis zur unterdrückten Natur<strong>und</strong> zu den Tieren entwickeln, können diemenschlichen Emanzipationsbewegungen nichtzum Erfolg führen.Nicht nur ist die Herrschaft des Menschen überden Menschen in vielfältiger Art <strong>und</strong> Weise mitder Herrschaft über die Tiere verb<strong>und</strong>en, dergesamte kapitalistische Gesellschaftsbau gründetauf ihrem Leiden. Entsprechend beschriebHorkheimer diesen metaphorisch als ein Haus,dessen Dach eine Kathedrale <strong>und</strong> dessen Kellerein Schlachthof sei. Dort befinde sich «die Tierhöllein der menschlichen Gesellschaft [...], derSchweiss, das Blut, die Verzweiflung der Tiere».Soll der kapitalistische Wolkenkratzer gestürzt<strong>und</strong> eine neue, befreite Gesellschaft aufgebautwerden, müssen wir ganz unten ansetzen –denn eine Zivilisation, deren F<strong>und</strong>ament sichauf permanenter Unterdrückung <strong>und</strong> unvorstellbaremLeiden errichtet, hat kein Rechtdazu, sich frei zu nennen.Matthias Rude ist Autor des Buches Antispeziesismusder theorie.org-Reihe des Schmetterling-Verlages,schreibt für das linke MagazinHintergr<strong>und</strong> <strong>und</strong> das marxistisch ausgerichteteKulturmagazin Melodie & Rhythmus.


12 ― 13Solidarität des LebensPlädoyer für einerevolutionäre MoralDer Mensch heute lebt im Bann einer «verkehrten Metaphysik». Nicht für begangene Grausamkeiten, sondern für dieWeigerung mitzumachen, muss er sich rechtfertigen. Es ist höchste Zeit, sich des mimetischen Impulses,der uns innewohnt <strong>und</strong> unser Mitgefühl auslöst, bewusst zu werden. Ohne eine Moral, die das Leiden <strong>und</strong> Mitleidenberedt werden lässt, ist der Kampf für eine freie Gesellschaft nicht zu gewinnen.Ein Hirschkälbchen verliert in einerSturmflut den Kontakt zu seiner Familie.Es treibt hilflos in einem reissendenFluss <strong>und</strong> droht jeden Moment zu ertrinken.Belal beobachtet die sich anbahnendeTiertragödie. Der Junge stürzt sich ohne Zögernin die Wassermassen, schwimmt zu dem Hirsch ­baby, packt es <strong>und</strong> geht unter. Nur die Hand, inder er das paralysierte kleine Wesen hält, ragtnoch aus den Fluten. Nach einiger Zeit tauchtBelal wieder auf <strong>und</strong> kann sich <strong>und</strong> seinenSchütz ling schliesslich ans Ufer retten. Dortwerden die beiden mit lautem Jubel von Menschenaus der Umgebung empfangen. Der kleineHirsch wird zurück zu seinen Eltern gebracht.Ein Happy End wie aus einer Disney-Filmproduktion.Derartige Szenen (diese hat sich in Noakhali,im Südosten von Bangladesch, abgespielt) erscheinenvor dem Hintergr<strong>und</strong> des millionenfachenGemetzels in den Schlachthöfen <strong>und</strong>Laboratorien, das im fortgeschrittenen Kapitalismustagtäglich routinemässig vollzogenwird, nicht nur unwirklich – sie muten geradezuabsurd an. Besonders an Orten, wo «die Leute»gewöhnlich «ganz andere Probleme» haben, alssich um Tiere zu sorgen, so das gängige Klischeeüber die BewohnerInnen der Armenhäuser dieserWelt. Doch Tag für Tag zeigen Menschenüberall, bis hinein in die dunkelsten Winkelder Zivilisation, immer wieder spontan Mitgefühlgegenüber Tieren in Not <strong>und</strong> helfen ihnen– uneigennützig. Dieser Widerspruch zumrücksichtslosen Bestehenden verdient eine nähereBetrachtungDer Krieg um das Mitleid In dem Aufsatz DasTier, welch ein Wort! von Jacques Derrida findensich einige bemerkenswerte Sätze: «Zwei Jahrh<strong>und</strong>erte,auf die ich mich beziehe, um vorihrem Hintergr<strong>und</strong> unsere eigene Gegenwartzu situieren, sind zwei Jahrh<strong>und</strong>erte eines ungleichenKampfes, eines Krieges, dessen Ungleichgewichtsich eines Tages verlagern könnte:zwischen jenen, die nicht nur bloss dem tierischenLeben, sondern noch jenem Gefühl desMitleides Gewalt antun, <strong>und</strong> jenen anderen,die sich auf das unwiderlegliche Zeugnis jenesMitgefühls berufen. Es ist ein Krieg, der umdas Mitleid entbrannt ist. Dieser Krieg hat ohneZweifel kein Alter, aber, <strong>und</strong> so lautet meineHypothese, er ist in eine kritische Phase eingetreten<strong>und</strong> wir mit ihm.»Die von Derrida genannten «zwei Jahrh<strong>und</strong>erte»sind die Zeit, die Menschen <strong>und</strong> Tierebereits unter der Knute des Kapitalismus leben<strong>und</strong> leiden. ApologetInnen der marxistischenWeltanschauung, der gemäss die Geschichteder Menschheit die Geschichte der Herrschaftdes Menschen über den Menschen <strong>und</strong> permanenterKlassenkämpfe ist, mag Derridas These


efremden. Betrachtet man aber die DNA desMitleids, dann findet man einen historisch-materialistischenWahrheitskern in seiner Aussage.«Weh spricht: Vergeh!» Der Philosoph MirkoWischke reflektiert im Rahmen seiner Überlegungenzu Theodor W. Adornos «Moral der Betroffenheit»in Anlehnung an ein Diktum desKritischen Theoretikers eine «Solidarität mitden quälbaren Körpern», der ein «mimetischerImpuls» innewohne. Der mimetische Impulsist ein Trieb, eine motorische Reaktionsform,die einem körperlichen Spannungszustandentstammt, also eine an das Leibliche rückgeb<strong>und</strong>eneGefühlsmotivation. Er «wird in denMomenten sichtbar, in denen das Subjekt sich‹in angstloser Passivität der eigenen Erfahrunganvertraut› [Adorno]: im solidarischenMitgefühl, wie es etwa ein Kind beim Anblickdes stummen Leidens von Tieren empfindet;im einfühlenden Nachempfinden von Schmerzen»,so Wischke.Der mimetische Impuls ist somit auch eineKeimform des Sozialen, der gegenseitigen Hilfe<strong>und</strong> der Fürsorge (u.a. der Brutpflege). Ohne dasgegenseitige Einfühlen <strong>und</strong> Nachahmen hättesich gesellschaftliche Arbeit, durch die derMen sch sich selbst erschafft <strong>und</strong> humanisiert,nicht entwickeln können. Der mimetischeImpuls ist Bedingung der Möglichkeit einernoch in weiter Ferne liegenden Gesellschaft der«Solidarität des Lebens überhaupt» (Max Hork ­heimer).Der Drang, Leiden zu beseitigen, ist bereits inder Materie des quälbaren Körpers angelegt.«Aller Schmerz <strong>und</strong> alle Negativität, Motor desdialektischen Gedankens, sind die vielfach vermittelte,manchmal unkenntlich gewordeneGestalt von Physischem», schrieb Adorno inNegative Dialektik. «Alles Geistige ist modifizierterImpuls, <strong>und</strong> solche Modifikation der qualitativeUmschlag in das, was nicht bloss ist.»Jede Schmerzerfahrung «meldet der Erkenntnisan, dass Leiden nicht sein, dass es anderswerden solle. ‹Weh spricht: Vergeh!›» – sie istdie Schnittstelle zwischen dem Materialistischen<strong>und</strong> dem Kritischen, das nach einer anderengesellschaftlichen Praxis verlangt.Die Dialektik von mimetischem Impuls <strong>und</strong>Selbsterhaltungstrieb Dem mimetischen Impulssteht der Selbsterhaltungstrieb gegenüber.Dieser ist wie jener ein Naturmoment <strong>und</strong> unabdingbareVoraussetzung für die Zivilisationdes Menschen, der sich mit Hilfe seines Selbstbehauptungstriebesvon der Natur gelöst, sichihr gegenüber behauptet, sie nach <strong>und</strong> nachbeherrscht, schliesslich vollständig unterjochthat. Dafür musste er im Laufe der Evolution seinemimetischen Impulse, mit denen er sich derNatur anschmiegt <strong>und</strong> sich ihr anpasst, brutalunterdrücken. Dieser Vorgang geschieht blind.Dem Menschen ist er nicht bewusst. Er tut espermanent <strong>und</strong> vergisst immer mehr, dass erselbst Natur <strong>und</strong> auch ein Tier ist. Dieser Vorgangist nicht nur ein phylogenetischer. Er wiederholtsich in der individuellen Entwicklungjedes Menschen.In der Moderne findet der Selbsterhaltungstriebseine gesellschaftliche Übersetzung in instrumentelleVernunft: Eine noch nicht zur Vernunftgekommene Vernunft, deren einzigerBetriebszweck Zweckerfüllung ist – ein Organ,das ausschliesslich auf Beherrschen <strong>und</strong> nichtauf Verstehen programmiert ist, vorwiegendnur eine Ordnung der Dinge kennt <strong>und</strong> sie ideologischals alle Vorgänge in Natur <strong>und</strong> Gesellschaftnotwendig allein bestimmende begreift:Das Gesetz des Fressens <strong>und</strong> Gefressenwerdensoder des bellum omnium contra omnes (der Kriegaller gegen alle), der subkutane kategorischeImperativ des Kapitalismus.Aber nicht nur der Selbsterhaltungstrieb sinktimmer wieder zurück in den Abgr<strong>und</strong> blinderNatur. Unter der Fuchtel einer im Widerspruchzwischen Kapital <strong>und</strong> Arbeit verharrendenÖkonomie (die mit dem Neoliberalismus totalitäreZüge annimmt <strong>und</strong> kein Aussen <strong>und</strong> keinAnderes mehr zulässt) erfährt der mimetischeAUS MAX HORKHEIMER: MATERIALISMUS UND MORALPraktische Solidarität: AktivistInnen dringen zu einem Tiertransporter <strong>und</strong> versorgen die leidenden Tiere mit Wasser.«Die Solidarität der Menschen ist jedoch ein Teilder Solidarität des Lebens überhaupt. Der Fortschrittin der Verwirklichung jener wird auch denSinn für diese stärken. Die Tiere bedürfen desMenschen. Es ist die Ehre der SchopenhauerschenPhilosophie, dass sie die Einheit von uns<strong>und</strong> ihnen ganz ins Licht gerückt hat. Die grösserenGaben des Menschen, vor allem die Vernunft,heben die Gemeinschaft, die er mit denTieren fühlt, durchaus nicht auf. Die Züge desMenschen haben zwar eine besondere Prägung,aber die Verwandtschaft seines Glücks <strong>und</strong>Elends mit dem Leben der Tiere ist offenbar.»Impuls nur schwer Entfaltung zu vernünftigensozialen <strong>und</strong> moralischen Verhaltensweisen,sondern regressive Momente brechen sich Bahn:«Wer jemals eine nationalsozialistische Versammlungin Deutschland besucht hat», schriebMax Horkheimer in seiner Kritik der instrumentellenVernunft, «weiss, dass die Redner <strong>und</strong> dieZuhörer ihr Hauptvergnügen daran hatten, gesellschaftlichunterdrückte mimetische Triebezu betätigen, wenn auch nur, indem sie ‹rassischeFeinde› lächerlich machten <strong>und</strong> angriffen,die angeklagt waren, in unverschämter Weiseihre eigenen mimetischen Gewohnheiten zurSchau zu stellen».Selbsterhaltungstrieb <strong>und</strong> mimetischer Impulssind also dialektisch. Ihre Unterdrückung <strong>und</strong>Leugnung halten die Hintertür zur Barbareiunweigerlich einen Spalt offen. Als bewusste<strong>und</strong> vom Subjekt eingedachte, nicht mehr blindeNaturmomente sind sie ein Treibstoff fürdie Lokomotive der Geschichte.Mitleid allein ist zu wenig Als Vorform derEmpathie, die sich in der Negativität von Herrschaft,unter der die überwältigende Mehrheitder Menschen <strong>und</strong> die Tiere zu leiden haben,als Mitleid äussert, kann sich der mimetischeImpuls zum <strong>Antidot</strong> gegen Gewalt <strong>und</strong> Grausamkeitentwickeln. Der bedeutendste MitleidsphilosophArthur Schopenhauer hat dasMitleid als intuitive Erkenntnis fremden Leidens<strong>und</strong> höchste Form der Aufhebung derTrennung zwischen dem Ich <strong>und</strong> dem Anderendefiniert, die das Ego des blinden Selbsterhaltungstriebsin die Schranken weisen.Im Gegensatz zu den bürgerlichen PrinzipienphilosophInnen,die unter Missachtung der hierarchischenKlassenstruktur der Gesellschaftstarre Regelwerke mit positiven Verhaltensnormenvorlegten, die für alle gleich gelten, obwohlnicht alle unter gleichen ökonomischen <strong>und</strong> sozialenBedingungen leben, bestimmte die KritischeTheorie moralisches Handeln nur negativals ein Handeln, das alles unterlässt, was Leiden– im Sinne von verhinderbarem Unrecht –verursachen könnte.Mitleid allein verändert nichts. Nietzsche hattenicht Unrecht, als er es als «Sklavenmoral» be­


14 ― 15Marktes» zementiert er die Klassenstrukturder Gesellschaft, segnet die Drangsalierungender Lohnarbeit, die imperialistischen Kriege<strong>und</strong> Raub- <strong>und</strong> Plünderungsfeldzüge in denletzten natürlichen Lebensräumen. Vulgärdarwinismussteckt in der Metapher von dem«Boot», das angeblich «voll» ist, mit der einemörderische Realität gerechtfertigt wird, diejährlich Tausende im Mittelmeer ertrinkenlässt. Er steckt in der Dämonisierung jeglichenKollektivs <strong>und</strong> der Solidargemeinschaft, hinterder Lobpreisung des oftmals als «Individualismus»verklärten Egoismus <strong>und</strong> der Verkümmerungdes Menschen zur Geldmonade.TeilnehmerInnen einer Demonstration stürmen eine Versuchstierzucht <strong>und</strong> befreien einen Beagle.zeichnete, die das Elend nur verdoppelt <strong>und</strong>keinen aktiven <strong>und</strong> offensiven Widerstand leistet.Ausserdem kann Mitleid sehr ungerechtsein, den UnterdrückerInnen <strong>und</strong> AusbeuterInnenstatt den Unterdrückten <strong>und</strong> Ausgebeutetenzukommen – vor allem in der modernenMediengesellschaft, in der die Armen, Schwachen<strong>und</strong> Geknechteten stets im Dunkeln <strong>und</strong>die Mächtigen, Reichen <strong>und</strong> Schönen stets imRampenlicht stehen. Der Kapitalismus hat mitder Kulturindustrie eine ausgeklügelte Apparaturder Massenmanipulation hervorgebracht,die unsere Gefühle schamlos ausbeutet, unterden herrschenden Bedingungen nicht auslebbareLiebe, Schmerz <strong>und</strong> Trauer der Menschenkanalisiert, ihnen beim verordneten Konsumvon standardisiertem Kitsch generös die Lizenzzum Weinen gibt, aber ihr Elend <strong>und</strong> seinewahren Ursachen tröstend verhüllt. Niemandwusste das besser als die Kritischen Theoretiker,die nicht Marxisten gewesen wären, wennsie sich blind einer Haltung anvertrauen hätten,die von inhumanen Verhältnissen gezeitigtwird. Das Mitleid «bestätigt die Regel derUnmenschlichkeit durch die Ausnahme, die espraktiziert» (Adorno) . Der <strong>Marxismus</strong> aber zieltauf Verhältnisse, die kein gesellschaftliches Un ­recht produzieren, das Mitleid erfordert.Die Entfaltung einer wahrhaft revolutionärenMoral, die dem mimetischen Impuls entspringt,uns zum Mitleid mit denen bewegt, die Leidenausgesetzt sind, <strong>und</strong> uns antreibt, das Leiden zubeseitigen, muss ebenso mit einer f<strong>und</strong>amentalenGesellschafts- <strong>und</strong> Ideologiekritik wiemit dem Aufbau politische Schlagkraft entwickelnderOrganisationsstrukturen einhergehen.Ohne das Korsett kritischer Theorie bleibtdas Mitgefühl halt- <strong>und</strong> richtungslos – ohnewirksame widerständische Praxis bleibt eszahn los. Die Klassenherrschaft, die das Leidenproduziert, muss konsequent angegriffenwerden. Denn, wie Engels es formulierte, eine«über den Klassengegensätzen <strong>und</strong> über derErinnerung an sie stehende, wirklich menschlicheMoral wird erst möglich auf einer Gesellschaftsstufe,die den Klassengegensatz nichtnur überw<strong>und</strong>en, sondern auch für die Praxisdes Lebens vergessen hat».Die Diktatur des Vulgärdarwinismus Das Pro ­b lem heute – in blinder Naturbeherrschung sta ­g n ie re nde u nd d a m it vore r s t m i s slu n g e ne Z i v i ­lisation – ist, dass deren regressiven Momentezur Ideologie erhoben werden <strong>und</strong> der «individuelleSelbsterhaltungstrieb» als das «alleinEntscheidende im Menschen» begriffen <strong>und</strong>zur nahezu allein herrschenden Moral erhobenwird, wie der Ökonom <strong>und</strong> Kritische TheoretikerFriedrich Pollock beklagte. Die Gesellschaftim fortgeschrittenen Kapitalismus hatsich offenbar so weit von der Agenda der Emanzipation<strong>und</strong> Aufklärung entfernt, «dass manfür das eigentlich Menschliche, das heisst, alles,was sich erst unter besseren Bedingungen entwickelnkann», einer Begründung <strong>und</strong> Rechtfertigungbedarf.Das moralische (Mit-)Gefühl wird anästhe ­s ie r t <strong>und</strong> kaum mehr in Solidarität übersetzt.Her ausgebildet hat sich ein omnipräsenter Vulgärdarwinismus, der uns die Regeln des Zusammenlebensdiktiert. Er strebt nach der Verabschiedungvon jeder Hoffnung auf eine freieVernunft <strong>und</strong> nach vollständiger Anpassungan das, was die instrumentelle Vernunft als«natürliche Hierarchie» anerkennt (ein System,dessen Prinzipien sich nicht selten zum Faschismusverdichten). Camoufliert mit dem Begriffder «freien Konkurrenz» <strong>und</strong> des «freienDer Mensch, der wir sein könnten Im Banndessen, was Friedrich Pollock «verkehrte Metaphysik»nannte, die den kapitalistischen Gesellschaftsbauwie ein Nebelschleier umwölkt<strong>und</strong> «voraussetzt, dass die bürgerliche Welt, inder jeder nur für sich sorgen kann, die natürlicheist, <strong>und</strong> dass deshalb jedes andere Verhalteneiner Begründung bedarf», wird die Sorge umdie Alten, Kranken <strong>und</strong> Schwachen als «falscheSentimentalität» diskreditiert. Geradezu desHochverrats an der Zivilisation der verwaltetenWelt wird angeklagt, wer Tieren, die in denSchlachtstrassen sogar noch in langen Schlangenanstehen müssen, um einen qualvollen Todzu bekommen, Mitgefühl entgegenbringt. «Esgehört zum Mechanismus der Herrschaft, dieErkenntnis des Leidens, das sie produziert, zuverbieten» (Adorno). Gleiches gilt für das Mitleid.Daher können die ProfiteurInnen der Unrechtsverhältnisse<strong>und</strong> deren verblendete TellerleckerInnenauch nur verächtlich mit dem Kopfschütteln über Belal – den «dummen Jungen»aus Bangladesch, der sogar sein eigenes Lebeneinsetzte, um ein Hirschkälbchen aus den Flutenzu retten. All jene, die sich nicht in kaltemZynismus üben, noch nicht in der eigenen bürgerlichenKälte erstarrt sind, aber auch nichtausbrechen wollen, begnügen sich damit, das«w<strong>und</strong>ersame Kind» nicht ohne Sympathie zubestaunen; sie begegnen ihm wie der «drittenArt» – dem ganz Anderen. Revolutionäre <strong>und</strong>Revolutionärinnen hingegen fühlen sich ihmverb<strong>und</strong>en. Sie begreifen den Impuls, dem erfolgte, als emotionalen Zündstoff für die Spren ­gung des Klassengesellschaftsbaus, verknüpfenihn mit antikapitalistischer Politik auf Basisdes Historischen Materialismus <strong>und</strong> lassen siein einer Solidarität mit den quälbaren Körpernwirkmächtig werden. Sie wissen, Belal ist wesentlicheinfach nur der Mensch, der wir allesein könnten in einer Gesellschaft, deren Erschaffungwir nicht mehr aufschieben dürfen.Derrida hatte recht: Der Krieg um das Mitleidist in eine kritische Phase eingetreten <strong>und</strong> wirmit ihm.Susann Witt-Stahl ist freie Journalistin <strong>und</strong>Autorin. Sie berichtet für Tageszeitungen <strong>und</strong>Magazine u.a. über internationale Krisen,beispielsweise aus dem Nahen Osten <strong>und</strong> derUkraine.


VON PFLANZEN, TIEREN UNDSENTIMENTALITÄTNietzsche fragt: «Giebt es etwas Ekelhafteres, alsdie Sentimentalität gegen Pflanzen <strong>und</strong> Thiere,von Seiten eines Geschöpfes, das wie der wüthends teFeind von Anbeginn unter ihnen gehaust hat <strong>und</strong>zuletzt bei seinen geschwächten <strong>und</strong> verstümmeltenOpfern gar noch auf zärtliche Gefühle Ansprucherhebt!» Nietzsches Frage ist mehrdimensioniert.Die sich aufdrängende Antwort ist, dass es inder menschlichen Gesellschaft durchaus mehr alsgenug Erscheinungen gibt, die ekelhafter sindals das, worauf sich Nietzsche bezieht. Nicht eindeutigist indes, ob besagte Erscheinungen nicht eng,wenn auch indirekt, mit dem zusammenhängen,worauf Nietzsches Frage zielt. Man bedenke, dassHorkheimers <strong>und</strong> Adornos These über die sichdurch die gesamte menschliche Zivilisation ziehen deDialektik der Aufklärung in der Annahme einesinneren Zusammenhangs zwischen der äusserenNaturbeherrschung durch den Menschen <strong>und</strong>der Beherrschung seiner inneren Natur wie der desMenschen durch den Menschen fusst. Nicht ausgeschlossen,dass Nietzsche – der bekan ntlich die«Verhaustierung» des Menschen verabscheute –auf einen ähnlichen menschlichen Zu sammenhangverwies, als er von «Pflanzen <strong>und</strong> Thieren» sprach.Andererseits – wer weiss: Es war ein ge schla genesPferd, das ihn – am Beginn seiner tragischenReise in den Wahnsinn – veranlas ste, in hemm ungslosesWeinen auszubrechen <strong>und</strong> voller Erbarmendas gequälte Tier zu umarmen.Aber vielleicht ist es gerade die Tatsache, dass man«wie der wüthendste Feind von Anbeginn unter ihnengehaust hat», die bewirkt,dass man jene Sen timentalitätan den Tag legt, vor derNietzsche seinen Abscheuempfand. Denn in derSentimen talitätwiderspiegelt sich jaauch das schlechteGe wissen darüber, dassman die Kreatur gequält hat (bzw. – wie der PhilosophNietzsche – das Mit leid mit der gequälten Kreatureliminiert wissen wollte). In der Sentimentalität wieauch im Weinen angesichts erfahrenen Leids kodiertsich performativ jenes Verlangen nach der Wiedergutmachungdessen, was nicht mehr wiedergutgemachtwerden kann. Man bereut – moralisch, schluchzendoder eben sen ti mental – das, woran man,gesamtzivilisatorisch betrachtet, unwiderruflich teil gehabthat. Aber es läs st sich eben nicht eliminieren,was nun einmal stattgef<strong>und</strong>en hat. Das ist es ja, wasdas Entsetzen auf dem Gesicht von Walter BenjaminsEngel der Geschichte auslöst: Er weiss um die fort -währ ende Katastrophe der Zivilisationsgeschichte,möchte die in ihr angehäuften Trümmer zusammenfügen,kann es aber nicht mehr. Nur die Erinnerungdessen, was geschehen ist, nur das Nichtver ges senist ihm geblieben. Und selbst das ist durch Zeitabstand<strong>und</strong> räumliche Distanz bedroht.Und doch: Der Anspruch «auf zärtliche Gefühle», denNietzsche angewidert abfertigt, wie denn komplementärdazu die sehnsüchtige Bestrebung, dassVerbrochenes wiedergutgemacht werde, birgt in sichauch die wie immer fahle Hoffnung, dass sich der einstalles wenden <strong>und</strong> die «Sentimen talität gegenPflanzen <strong>und</strong> Thiere» verüberflüssigt haben werde.Moshe Zuckermann ist Soziologe <strong>und</strong>Professor für Ge schichte <strong>und</strong> Philosophie an derUniversität Tel Aviv. Zuletzt erschien von ihmdas Buch Israels Schicksal. Wie der Zionismusseinen Untergang betreibt.Nietzsches Pferd aus Béla Tarrs meisterlichem Film «A torinói ló».


Cubierta con estructura de madera16Aislamiento de cubiertasSe aconseja realizar la colocación en verticalen particular si la distancia entre cabio es de500 mm o 750 mm. En los demás casos:añadir siempre un cabio intermedioo efectuar la colocación en horizontal.1 Preparación del soporte• El aislante se solapa siempre sobre un soporte demadera (cabio, cabio intermedio o rastrel).2Colocación del aislanteLa colocación del aislante se realiza preferentementeen vertical.• Respetar las reglas básicas de colocación (ver solapaal final de la guía).• Grapar el aislante bajo los cabios.• El aislante se solapa siempre sobre un soporte demadera (cabio, cabio intermedio o rastrel).• Asegurar la continuidad del aislamiento en la cumbreray en los encuentros con el forjado horizontal y lasparedes.• Prolongar el aislante unos 50 mm sobre las correas.Sellar el aislante fijando un listón clavado o atornillado.Cinta ADHESIVAISODHESIF123 AcabadosNo dejar el aislante visto en las zonas habitables. Debeser realizada por personal cualificado y de acuerdocon las normas vigentes y especificaciones de losfabricantes.Frisos:• Fijar rastreles perpendiculares o alineados con loscabios y clavar o atornillarlos a los mismos a travésdel aislante (ver esquema 3a ).• Clavar el friso directamente sobre los rastreles (veresquema 3b ).Doblado3aPuntos singulares:Ver páginas 24 a 27.3b


50 Prozent. Aufgr<strong>und</strong> ihrer grossen Marktmachtstanden die zwei Unternehmen schonverschiedentlich im Fokus der Wettbewerbskommission.Die beiden grossen Detailhändler Migros <strong>und</strong>Coop, die bekannt sind für Firmenübernahmen,verdanken ihre dominante Marktstellung zueinem grossen Teil der Strategie der vertikalenIntegration. Sie versuchen nicht nur den Verkauf,sondern auch die Produktion der zu ver ­kaufenden Güter zu kontrollieren. Im BereichFleisch haben sie dazu eigene Produktionsbetriebegegründet, vormals öffentliche Schlachthöfeübernommen <strong>und</strong> konkurrierende Firmen<strong>und</strong> deren Produktionsstätten aufgekauft. ImBereich Geflügel vollziehen sowohl Bell als auchMicarna heute die gesamte Wertschöpfung «vomEi bis zum Teller», wie es in der Unternehmensbroschürevon Micarna heisst.Zunehmende internationale AusrichtungR<strong>und</strong> 20 Prozent des in der Schweiz konsumiertenFleisches werden importiert. Über die Hälftedavon ist Geflügelfleisch, das in erster Linie ausBrasilien <strong>und</strong> Deutschland stammt. Insgesamtkommen ca. 30 Prozent der Schweizer Fleisch ­i mporte aus Deutschland. Noch ist der SchweizerFleischmarkt stark protektioniert, z.B. durchImportkontingente. Seit längerem gibt es aberBestrebungen, ein bilaterales Freihandelsabkommenim Agrar- <strong>und</strong> Lebensmittelbereich mitder EU auszuhandeln. Nach Aussage des SFFwerden diese Bemühungen durch die Annahmeder «Masseneinwanderungsinitiative» 2014bis auf weiteres blockiert. Dafür konnte im Juli2013 ein Freihandelsabkommen mit der Volks ­republik China für Trockenfleisch <strong>und</strong> Schlachtnebenprodukteabgeschlossen werden.Wie der Direktor des SFF in der Fleischwirtschaftausführt, sind die Schweizer Produktionskostenin der Fleischindustrie im Vergleich zu denNachbarländern aufgr<strong>und</strong> hoher Rohmaterial-,Arbeits- <strong>und</strong> Regulierungskosten fast doppeltso hoch. Darum werden nur r<strong>und</strong> drei Prozentdes hier produzierten Fleisches exportiert,hauptsächlich in Form von Bündnerfleisch,einer Schweizer Trockenfleischspezialität. DieSchweizer Fleischindustrie ist also im Auslandwegen der hohen Preise nur sehr bedingt konkurrenzfähig.Da der Schweizer Fleischmarktaber seit Jahren gesättigt ist, ist die internationaleOrientierung für das weitere Wachstumder Unternehmen zentral. Bell hat deshalb inden letzten Jahren in Europa kräftig Unternehmeneingekauft, wie zum Beispiel den SchinkenherstellerAbraham, mit dem Bell im BereichRohschinken in Deutschland Marktführerinist. Unterdessen arbeiten fast die Hälfte allerBell-Angestellten in der EU. Noch beschränktsich das Unternehmen im Ausland auf die Weiterverarbeitungvon Fleischprodukten. Allerdingssprach CEO Lorenz Wyss 2012 in Finanz<strong>und</strong> Wirtschaft über Pläne, auch im Auslandeinen Schlachtbetrieb zu kaufen, um nichtvon den wenigen existierenden Betrieben abhängigzu sein.Viele ungelernte <strong>und</strong> ausländische ArbeiterInnenDas Lohnniveau in der SchweizerFleischbranche ist, analog zu anderen Branchen,höher als in den umliegenden Ländern. DerGrossteil der Arbeitsverhältnisse ist durch Gesamtarbeitsverträge(GAV) geschützt. Zum einengibt es den für die ganze Schweiz verbindlichenGAV für das Metzgereigewerbe, der durch die VertragspartnerSFF, dem Arbeitgeberverband derfleischverarbeitenden Branche, <strong>und</strong> Metzgereipersonalverband(MPV), ausgehandelt wird. Zumanderen werden, ebenfalls durch den MPV, GAVmit einzelnen Unternehmen abgeschlossen.Solche existieren auch für Bell <strong>und</strong> Micarna. Zudemwerden LeiharbeiterInnen durch den GAVPersonalverleih geschützt. In den Betriebsverträgender Grossverteiler ist 2014 ein Mindestlohnfür ungelerntes Personal von 3800 Franken imMonat festgelegt – ein niedriger Lohn fürSchwei zer Verhältnisse. Im allgemeinen GAVgibt es gar keine Mindestlöhne für ungelernteArbeitnehmerInnen.Gemäss Auskunft des MPV sind ca. 60 Prozentder ArbeiterInnen in der Schweizer Fleischindustrieungelernt. Die Branche klagt seit Jahrenüber einen Mangel an gut ausgebildeten Fach ­kräften, der durch den Zuzug von auslän ­d ischen Fachkräften aufgefangen werden soll.Der Anteil ausländischer Arbeitskräfte in derSchweizer Fleischindustrie ist schon seit demWirtschaftsboom der Nachkriegszeit hoch <strong>und</strong>hat den Zahlen des BFS zufolge stetig zugenommen.Im Zusammenhang mit der «Masseneinwanderungsinitiative»führte der SFF eineErhebung bei den grössten Fleischverarbeiterndurch, die gezeigt hat, dass r<strong>und</strong> 60 Prozent derArbeitenden in der Fleischbranche einen ausländischenPass besitzen. Von ihnen sind r<strong>und</strong>40 Prozent unqualifiziert.Fleisch-Kampagne wird vom B<strong>und</strong> mitfinanziertDer Schweizer Staat unterstützte laut demAgrarbericht 2013 die Viehwirtschaft im Jahr 2012mit insgesamt 90,8 Mio. Franken. An Proviande,die im Auftrag des B<strong>und</strong>es Vollzugsaufgabenauf dem Schlachtvieh- <strong>und</strong> Fleischmarkt ausführt,wurden 6,5 Mio. Franken aus bezahlt.Da runter fällt auch die Absatzförderung vonFleischprodukten durch Marketing- <strong>und</strong> Kommunikationsmassnahmen, wie z.B. die Werbekampagne«Schweizer Fleisch – alles andere istBeilage».Internationale Entwicklungen im Kleinen Dieinternationale <strong>und</strong> europäische Entwicklungder Fleischindustrie (siehe Artikel auf Seite 16),zeigt sich auch in der Schweiz – nur im Kleinen.In den Schlachtstrassen <strong>und</strong> an den Fliessbändernder Alpenrepublik arbeiten zu einemgrossen Teil LohnarbeiterInnen aus dem Auslandzu niedrigen Löhnen. Die Marktmacht inder hiesigen Fleischindustrie konzetriert sichauf immer weniger <strong>und</strong> gleichzeitig grössereUnternehmen, denen der Staat trotz riesigerGewinne sogar noch finanziell <strong>und</strong> politischunter die Arme greift. Möglicherweise liegt indieser relativ einheitlichen globalen Entwicklungder Fleischindustrie aber auch ein Ansatzpunktfür eine kollektive Praxis des Protests<strong>und</strong> Widerstands.Tierrechtsgruppe Zürich


22 ― 23Vegan for ProfitÜber «LOHAS-People» <strong>und</strong> grüne Wachstumsmärkte, Life style-VeganerInnen <strong>und</strong> «radikale Bekehrer» – <strong>und</strong> warumTierrechtsbewegte sich fragen sollten, wie der Kapitalismus eigentlich funktioniert.Wer sich noch vor zehn Jahren für einevegane Lebensweise entschloss,dem waren Spott <strong>und</strong> Argwohnsicher. VeganerInnen galten als zartbesaitete Naivlinge, penetrante Müsli-MoralistInnen,VerzichtsethikerInnen <strong>und</strong> quengeligeKostverächterInnen, die einem den Einkauf <strong>und</strong>den Restaurantbesuch vermiesen. EntsprechendGeistreiches bekamen Tierrechts- <strong>und</strong> <strong>Tierbefreiung</strong>saktive bei Infoständen in den Fussgängerzonen zu hören. Die Zahl der Vegan-Versandshops <strong>und</strong> veganen Restaurants warüberschaubar <strong>und</strong> manche Vegan-Produktewaren wirklich ungeniessbar. Und was «vegan»überhaupt heisst, das musste man in diversenWG-Küchen, Cafés <strong>und</strong> Restaurants erst mühsamerklären.Mittlerweile hat sich einiges geändert. Nochnie war es in den westlichen Industrienationenso einfach wie heute, vegan zu leben <strong>und</strong> mitden Gründen dafür auch auf offene Ohren zustossen. Veganismus hat seinen Platz in den Ernährungsplänen<strong>und</strong> den Szenelokalen urbanerMetropolen gef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> ist zum «Hot Topic»diverser Talkshows <strong>und</strong> Diskussionsr<strong>und</strong>enavanciert. Vegane Supermärkte, Restaurants<strong>und</strong> Imbisslokale spriessen geradezu aus demBoden. Auch in der Schweiz scheint veganeKüche – wie die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) imvergangenen Juli schrieb – buchstäblich «inaller M<strong>und</strong>e» zu sein. Und das Versprechen istverlockend: Wer vegan lebt, braucht auf nichtsmehr zu verzichten, lebt gesünder <strong>und</strong> tutgleichzeitig etwas für die Tiere, den Planeten<strong>und</strong> sich selbst. Klingt doch prima, oder?Vegan ist Pop Lifestyle-Veganismus ist en vogue.Und das wachsende Interesse an der «grünen»,veganen Lebensweise ist auch ein Indikatorfür einen gesellschaftlichen Wandel: Angesichtsdrohender ökologischer Krisen <strong>und</strong> derdiversen Lebensmittelskandale <strong>und</strong> kriti schenBerichte über die industrielle Fleischpro duktionsuchen Teile der Gesellschaft nach alternativen<strong>und</strong> nachhaltigen Lebensweisen, diesie in ihren konkreten Alltag übersetzen können.Die Öffentlichkeit wird empfänglicher fürdie moralischen, ökologischen <strong>und</strong> sozialenArgumente für eine vegane Lebensweise, <strong>und</strong>derzeit deutet nichts darauf hin, dass sich dasso bald wieder ändern wird. Für Tierrechts<strong>und</strong><strong>Tierbefreiung</strong>sbewegte ja doch eigentlichoptimale Bedingungen.Und hier die schlechte Nachricht: Für die, dieernsthaft an einem f<strong>und</strong>amentalen Wandel imVerhältnis von Mensch <strong>und</strong> Tier interessiertsind, ist der Lifestyle-Veganismus mittlerweileeine echte Bedrohung. Denn der Weg in dieKoch- <strong>und</strong> Talkshows <strong>und</strong> Society-Magazinewird nicht nur mit einer völligen Entpolitisierungerkauft, die die ökologischen <strong>und</strong> moralischenArgumente dem neoliberalen Zeitgeistandienen will, statt diesen als Teil des Problemszu kritisieren. Schlimmer noch: Er funktioniertgerade durch die Abgrenzung von den vermeintlich«extremen», «intoleranten» <strong>und</strong>«radi kalen» <strong>Tierbefreiung</strong>saktivistInnen <strong>und</strong>bemüht dazu das Bild vom militanten Tierschutz-Fanatismus,mit dem man Tierrechtsbewegteseit jeher diffamieren will. Der Lifestyle-Veganismuslenkt das Streben nach einemgesellschaftlichen Wandel in konformistische,marktförmige Bahnen <strong>und</strong> diskreditiert dabeiauch noch jene, die der Tierausbeutung ernsthaftein Ende bereiten wollen.Ein Wachstumsmarkt «Man kann die traditionellengrossen Lebensmittelkonzerne [...] nichtschlagen. Aber man kann sie kaufen. Wenn siesehen, dass mit Tofu <strong>und</strong> Soja im grossen StilGeld zu machen ist, sogar weltweit, werden sieumdenken», meint Jan Bredack, Gründer <strong>und</strong>Geschäftsführer der veganen SupermarktketteVeganz, in seinem Buch Vegan für alle. Der ehemaligeMercedes-Manager, der nach einem Burn-Out sein Leben umkrempelte <strong>und</strong> Veganerwurde, präsentiert sich darin als geläuterterÖko-Unternehmer, der den Kapitalismus jetztnutzen will, um Veganismus salonfähig <strong>und</strong>die Welt besser <strong>und</strong> grüner zu machen. SeinCredo: «Solange wir in einem System des BigBusiness leben, ist Big Business also nicht derFeind – sondern der Schlüssel für alle Veränderung.»Bis Ende 2015 soll es in ganz Europa21 Veganz-Filialen geben.Auf die Zauberkräfte der Marktwirtschaft vertrautman auch im von der veganen gesellschaftdeutschland herausgegebenen vegan magazin:«Die vegane Bewegung ist ein Wachstumsmarkt<strong>und</strong> setzt weltweit Schritt für Schritteinen ethischen Bewusstseinswandel in Gang»,wird dort euphorisch verkündet. Bei der amKiosk erhältlichen Zeitschrift ist man deshalbsichtlich bemüht, sich als vegane Version gängigerLifestyle- <strong>und</strong> Society-Magazine à la VanityFair zu inszenieren.Damit liegen die hippen VeganerInnen ziemlichim Trend: Der Lifestyle of Health and Sustainability,kurz LOHAS, ist auf dem Vormarsch. DieBeweggründe für eine vegane oder «grüne»Lebensweise sind unterschiedlich, eines habendie «Neuen Ökos» <strong>und</strong> Lifestyle-VeganerInnenjedoch gemein: Nicht klassischer politischerAktivismus, sondern der eigene Konsum <strong>und</strong>die individuelle Lebensführung sollen die Weltzu einem besseren, faireren Ort machen. Mitihren Vegan-Shops, Kochbüchern <strong>und</strong> Bio-Fair-Vegan-Bistros wollen sie dazu einen Beitragleisten.Grüne Klassenversöhnung Damit keine Mis s-verständnisse aufkommen: Niemand behauptet,dass wir grüne technologische Innovation,faire <strong>und</strong> nachhaltige Produkte sowie eineVeränderung unserer Lebensweisen nicht tatsächlichbräuchten. Und auch Öko-UnternehmerInnenwie Jan Bredack mögen nette Typensein, die nur das Beste wollen. Das Probleman der LOHAS-Ideologie ist ein anderes: Sieschiebt Probleme, die der Wachstumszwang derkapitalistischen Marktwirtschaft <strong>und</strong> ihr aufbrutale Konkurrenz gegründetes Wettbewerbssystemnotwendig erzeugen müssen, auf dasindividuelle Konsumverhalten <strong>und</strong> die Verantwortungder KonsumentInnen ab. Nicht nurdie Ursache, sondern auch die gesellschaftlichhöchst ungleich verteilten Möglichkeiten zurLösung dieser Probleme werden damit verschleiert.Die ökologische <strong>und</strong> die soziale Frage


werden um ihre gesellschaftliche Dimensiongebracht, wenn sie – darin ganz dem neoliberalenZeitgeist folgend – auf Fragen der individuellenLebensführung reduziert werden. DieGestaltung des eigenen Lebens wird nicht nurzum primären, sondern zum einzigen Austragungsortgesellschaftlicher Widersprüche. Unbehagenwird nicht mehr durch Protest geäussert– sondern warenförmig, durch den Kaufder «grünen» Alternativen.Die Lifestyle-VeganerInnen <strong>und</strong> «LOHAS-People»kennen deshalb auch kein Oben <strong>und</strong> keinUnten in der Gesellschaft mehr – sie kennennur noch vereinzelte KonsumentInnen <strong>und</strong>Unternehmen, mit denen sie Hand in Hand fürdie gute Sache kämpfen. Die dabei zugr<strong>und</strong>eliegende Annahme, dass die ProduzentInneneiner Ware <strong>und</strong> ihre AbnehmerInnen gleichermassenfür deren Entstehungsbedingungen<strong>und</strong> die ökologischen <strong>und</strong> sozialen Folgen verantwortlichwären, offenbart jedoch ein naivesVerständnis der Machtstrukturen in modernenÖkonomien. Statt die Forderungen nach einemEnde von Naturzerstörung <strong>und</strong> der Ausbeutungvon Mensch <strong>und</strong> Tier auch an die gesellschaftlichenEliten <strong>und</strong> die tatsächlichen Entscheidungsträger– Unternehmen, Konzerne,ArbeitgeberInnenverbände, ihre Think Tanks<strong>und</strong> Lobbygruppen – zu richten, richten dieLifestyle-VeganerInnen <strong>und</strong> «Neuen Ökos» sienur noch an sich selbst. Vor lauter Aberglaubenan ihre Macht als KonsumentInnen vergessensie die Macht <strong>und</strong> Verantwortung der ProduzentInnenvöllig. Die LOHAS-Ideologie <strong>und</strong> derGlaube an das vegane Unternehmertum sindgrüne Klassenversöhnung.«Behaglichkeit mit einem Schuss Verantwortung»Bei den UnternehmensberaterInnen <strong>und</strong>Think Tanks der (Kultur-)Industrie rennen diemarktgläubigen Konsum-VeganerInnen damitoffene Türen ein – denn die haben längst begriffen,dass sich mit den neuen «grünen»Lebensentwürfen eine Menge Geld verdienenlässt. «Ein neuer grüner Lebensstil, der ohneFre<strong>und</strong>-Feind-Schema, ohne Verzichtsethik <strong>und</strong>Konsumphobie auskommt, breitet sich aus»,stellte eine Broschüre der Berliner Unternehmensberatungstratum bereits 2008 fest. Manhatte eine Studie über das Milieu der «LOHAS-People» angefertigt <strong>und</strong> wollte wissen, wieUnternehmen die neuen «LOHAS-affinen Zielgruppen»am besten ansprechen könnten.«Werbekampagnen kommen immer dann gutan, wenn sie den Einklang mit der Natur beschwören.Friedliches Zusammenleben, Naturidyll<strong>und</strong> tierische Sympathieträger sind dieKomponenten», rät stratum Öko-Kapitalis tIn nen<strong>und</strong> jenen, die es werden wollen. Man solle sichals «handelndes Unternehmen» darstellen, das«den aktuellen Herausforderungen adäquat begegnet».Das Unternehmen solle «gemeinsameZiele <strong>und</strong> Werte, die es mit dem K<strong>und</strong>en teilt»betonen <strong>und</strong> Verantwortungsbewusstsein imSinne der «Koexistenz von Mensch <strong>und</strong> Natur»ausstrahlen. Der Unternehmer solle sich alskumpelhafter Buddy präsentieren, der gemeinsammit dem K<strong>und</strong>en etwas voranbringen will.Dann würde die grüne K<strong>und</strong>schaft positiv aufdie Imagekampagne des Unternehmens reagieren.Vorausgesetzt, man ist glaubwürdig <strong>und</strong>weiss, auf welche Signale die Zielgruppe anspringt:«Das Wording für die LOHAS-Affinenmuss Lebensfreude, Naturbezug, Opti mismusausdrücken <strong>und</strong> Glücksmomente für den Alltagversprechen. Es geht um Verantwortung ja,aber nicht um Ethik. Um Handeln ja, aber nichtum Kontrolle. Um Bewusstsein, aber nicht umGewissen. Um Initiative, aber nicht um Kontrolle.Ein bisschen Weltfrieden. Behaglichkeitmit einem Schuss Verantwortung. Nachhaltigkeitals Idyll.»Kochbücher statt Flugblätter Je wohlwollenderdie Zeitungs- <strong>und</strong> Fernsehberichte überdie Lifestyle-VeganerInnen, ihre Kochbücher,Supermärkte <strong>und</strong> Restaurants, desto stärkerdie Abgrenzung von den «radikalen», «intoleranten»oder «doktrinären» TierrechtsaktivistInnen.«Veganismus soll nicht regulatorisch verordnetwerden, sondern eine frei wählbare Option blei ­ben», mahnte z. B. die Neue Zürcher Zeitung imJuli 2014. Wer so eine Verordnung eigentlichgefordert hatte, blieb ihr Geheimnis. Entwarnunggab man hingegen bei Lauren Wildbolz,die 2010 das erste vegane Restaurant in Züricheröffnet hatte. Ihr gelinge es, «nicht als f<strong>und</strong>amentalistischeKörnlipickerin wahrgenommenzu werden, die anderen vorschreibt, wie sie zuleben haben», lobte ein anderer NZZ-Artikel imvergangenen Juli. Auch dank ihr hätten VeganerInnennicht mehr das Image von «radikalenBekehrern».Die Einteilung der Vegan-Community in zweiFraktionen folgt einem einfachen Schema. Aufder einen Seite gibt es die umgänglichen Lifestyle-VeganerInnen,die locker <strong>und</strong> erfrischend<strong>und</strong>ogmatisch sind. Sie machen keine Demonstrationen,sie eröffnen Restaurants <strong>und</strong> Cafés.Sie schreiben keine Flugblätter, sondern Kochbücher.Und dann gibt es die missionarischenKrawall-VeganerInnen, die radikalen F<strong>und</strong>amentalistInnen.Wer genau sie sind, erfährtman nie. Aber sie sind offenbar wichtig genug,dass man sie immer wieder negativ erwähnenmuss. Worum es den nervigen AktivistInnengeht, scheint völlig egal zu sein. Dass sie dasImage des intoleranten Fanatikers gerade deshalbhaben, weil die Medien es ihnen immerwieder verpassen, ebenso. Sie sind der klassischePappkamerad, auf den man eindrischt,um den Nebenmann umso besser aussehen zulassen. Und wie der Zufall es so will, treffen dieStigmatisierungen immer jene, die mehr fordernals vegane Kochbücher <strong>und</strong> Öko-Supermärkte.Geht lieber shoppen! «Wenn ich erwachseneMenschen in Kuhkostümen sehe, die ‹Fleischist Mord›-Plakate hochhalten, schmunzle ichauch heute manchmal innerlich <strong>und</strong> frage mich,was man damit bezwecken möchte», lässt sichAttila Hildmann im Vorwort zu seinem KochbuchVegan for Fun über Tierrechtsaktivis tInnenaus. Der sportliche Mittdreissiger aus Berlinhat sich mit seinen Kochbüchern <strong>und</strong> zahlreichenFernsehauftritten erfolgreich als Gesichtdes b<strong>und</strong>esdeutschen Lifestyle-Veganismusetabliert. «Doktrinen sind out», gibt sein Vorwortferner bekannt. Um wessen Doktrinengenau es sich dabei handelt, erfährt man auchhier nicht.«Bisher war Veganismus ein revolutionärer Aktgegen den Mainstream. Aber ich möchte denVeganismus in die Mitte der Gesellschaft holen– auch wenn er dann nicht mehr anti <strong>und</strong>sexy ist», schreibt auch Jan Bredack. Dass er für«manche militante Veganer» ein Feindbild sei,weil er «ihre schöne revolutionäre Idee möglichstvielen Menschen zugänglich machen»wolle, kann er nicht nachvollziehen. Non-Profit-Konzepte würden schliesslich nicht – oder nochnicht – funktionieren. Und schliesslich geltefür seine Supermarktkette ja auch: «Es geht ummehr als ein paar vegane Supermärkte – es gehtdarum, das System zu ändern.»Die Message der beiden Berufsveganer ist klar:Geht weniger demonstrieren <strong>und</strong> stellt keineradikalen Forderungen – kauft lieber bei Veganzein <strong>und</strong> benutzt die Kochbücher von AttilaHildmann. Die Stigmatisierung der angeblich«radikalen» TierrechtsaktivistInnen ist einfester Bestandteil ihrer Marketingstrategie.Dabei war es gerade das jahrelange Engagementder nun als «intolerant» verrufenen Tierfre<strong>und</strong>Innen,das ihnen den umsatzstarkenVegan-Hype erst ermöglicht hat.Die Tiere vom Kapitalismus befreien Das Ver ­sprechen, die Welt durch Konsum zu einem besserenOrt zu machen, ist so alt wie der Kapitalismusselbst. Aus der Konsumkritik der einenwird so der Wachstumsmarkt der anderen. Einperfider Integrationsmechanismus, der fortschrittliche<strong>und</strong> subversive Forderungen umihren potentiell gesellschaftskritischen Gehaltbringt <strong>und</strong> der soziale Bewegungen in Gut <strong>und</strong>Böse spaltet. Nun rennen die VeganerInnenscharenweise in ihre Vegan-Supermärkte <strong>und</strong>Kochkurse, vergeben Vegan Food Blog Awards<strong>und</strong> fachsimpeln über Kuchenrezepte – stattihren Anliegen politisch Gehör zu verschaffen.Aber mal ehrlich: Dieses Problem haben sichdie Tierrechts- <strong>und</strong> <strong>Tierbefreiung</strong>sbewegtenzum Teil auch selber eingebrockt. Seit jeherhaben sie vorrangig den individuellen Konsum<strong>und</strong> eine an der persönlichen Lebensführungorien tierte Boykott-Politik propagiert. Nunkommen die «LOHAS-Unternehmer» <strong>und</strong> Kom ­merz-VeganerInnen, nehmen ihnen ihre Argumentedankend aus der Hand, verdienen einenHaufen Geld damit – <strong>und</strong> stellen die verdutztenAktivistInnen abermals als radikale SpinnerInnenhin.Zeit also, sich neu aufzustellen <strong>und</strong> zu überlegen,wie der Kapitalismus funktioniert – nichtwahr?John Lütten studiert in Jena <strong>und</strong> schreibt u. a.für die junge Welt.


24 ― 25Mythos grüne MarktwirtschaftWie grün kann einGreen New Deal sein?Das umweltpolitische Konzept des sogenannten Green New Deal (GND) scheint Vielen als Ausweg ausder immer offensichtlicher werdenden ökologischen Krise. Warum dieserDeal aber ungeeignet ist, dem Klimawandel <strong>und</strong> dem zunehmendenRessourcenmangel wirksam entgegenzutreten, wird klar, wennman sich von einem entscheidenden Tabu befreit –der Infragestellung der kapitalistischenWachstumslogik.Der Rooseveltsche New Deal der 1930er-Jahre war eine Interventionsstrategiegegen die damalige Wirtschaftskrise.Umfassende Wirtschafts- <strong>und</strong> Sozialreformenbeflügelten insbesondere das Wachstumdes Konsumgütersektors. Verb<strong>und</strong>en mit ökonomischenEntwicklungen dieser Zeit, wie dieenorme Erhöhung der Produktivkraft, entstandein wachstumstreibendes Paket, das paradigmatischeVeränderungen nicht nur der Arbeits<strong>und</strong>Lebensweisen zur Folge hatte. Mit der Massenproduktion<strong>und</strong> dem Massenkonsum vonWaren veränderte sich auch der Umgang mit derNatur in dramatisch destruktiver Weise.Ebenso wie der als Vorbild dienende RooseveltscheNew Deal zielt der GND auf ökonomischesWachstum ab; allerdings mit dem Unterschied,dass der GND mit sogenannter grüner TechnologieInvestitionsräume erschliessen soll. DieModernisierung des Bahnverkehrs, der Ausbauder Elektromobilität, energetische Stadtsa ­n ie r ungen u.a. sollen darauf hinwirken, dass«lange Wellen nachhaltigen Wachstums» entstehen<strong>und</strong> die «lineare Produktion zur Kreislaufökonomie[wird, – A.K.] in der Reststoffezum Ausgangspunkt neuer Wertschöpfungsketten»werden, wie Grünen-Politiker <strong>und</strong> Vorstandsmitgliedder Heinrich-Böll-Stiftung, RalfFücks, schreibt.Ziel dessen soll es sein, wirtschaftliche Wertschöpfung<strong>und</strong> Naturverbrauch zu entkoppeln.Mit anderen Worten: Wirtschaftliche Aktivitätensollen weiterhin wachsen, aber wenigerSchadstoffe emittieren <strong>und</strong> weniger Ressourcenverbrauchen als bisher.Diese Reduktion muss aber – um der ökologischenKrise wirksam entgegentreten zu können– in einem Ausmass stattfinden, das zur absolutenVerringerung von Schadstoffausstössen<strong>und</strong> Ressourcenverbräuchen führt. Voraussetzungist also eine technische Stufe der Material<strong>und</strong>Energieeffizienz, die über dem gesamtökonomischenWachstum liegt. Wie sieht diediesbezügliche Realität aus?Effizienz <strong>und</strong> Wachstum: Ein streitendes PaarDie Effizienzfortschritte sind in der Tat beachtlich.So sank z.B. der Energiebedarf pro Bruttoinlandsprodukteinheitin den OECD-Ländernvon 1970 – 1991 durchschnittlich um fast 33 Prozent<strong>und</strong> der globale Energieverbrauch sankpro Bruttoinlandsprodukteinheit von 1980 bis2002 um 22,7 Prozent.Noch beachtlicher sind allerdings der abso luteAnstieg des Energieverbrauchs <strong>und</strong> der damitverb<strong>und</strong>ene Anstieg u.a. der klimarelevantenSchadstoffemissionen <strong>und</strong> Ressourcenverbräuche.Allein von 1970 – 1990 ist der globaleEnergiebedarf von ca. 4861 Millionen TonnenÖläquivalent (Mtoe) auf 7779 Mtoe gestiegen.Nach Rolf Peter Sieferle, Professor für AllgemeineGeschichte an der Universität St. Gallen,ist «der globale Verbrauch fossiler Energieträger– also Gas, Öl, Kohle – [...] seit Beginndes 19. Jahrh<strong>und</strong>erts etwa um den Faktor tausendgewachsen, was rechnerisch eine jährlicheWachstumsrate von 3,5 Prozent ergibt». Damitverdoppelte sich der fossile Energieverbrauchüber ca. 200 Jahre gesehen, zumindest in demvon Sieferle betrachteten Zeitraum, etwa alle20 Jahre. Die technischen Entwicklungen reichen also weder in Bezug auf ihr Tempo nochin Bezug auf ihre Qualität, um die Folgen derWachstumssteigerungen «einfangen» zu können.Effizienzfortschritte werden durch das ge ­samtökonomische Wachstum überkompensiert.Das spricht nicht gegen «grüne Technologie»,wenn zumindest folgende Voraussetzungenerfüllt sind: Erstens müssten Effizienzsteigerungenentlang des gesamten Produktions-,Trans port- <strong>und</strong> Verbrauchsprozesses (von derRohstoffgewinnung bis zum Recycling) zu wenigerNatur(ver)nutzungen führen, was gr<strong>und</strong>legendeökonomische Veränderungen, wie z. B.eine Umstellung des fossilistischen Energiewandlungssystems,erfordert. Zweitens müssteneffizienzsteigernde Technologien eingesetztwerden, um herkömmliche Prozesse zu ersetzen<strong>und</strong> nicht zu ergänzen. Aber selbst wenn dieseVoraussetzungen erfüllt würden, was angesichtsgegenwärtiger nationaler wie internationalerUmweltpolitiken nicht zu erwarten ist,könnten diese Massnahmen bei anhaltendemWachstum der kapitalistischen Ökonomie dieökologische Krise nicht lösen. In ökonomischeProzesse <strong>und</strong> Produkte implantierte grüne


Technologie könnte dann die zunehmendenNaturverbräuche bestenfalls verlangsamen. Eswäre für eine Wende hin zu substanzieller Naturentlastungnicht ausreichend, da eben dieWachstumsausmasse die Effizienzsteigerungenum ein Mehrfaches übersteigen. D.h. der Einsatzgrüner Technologie kann nur auf demHintergr<strong>und</strong> abnehmender ökonomisch-stofflicherProzesse ein wirksamer Beitrag zurLösung der ökologischen Krise sein.Wenn man also das Wachstumsdogma nicht inFrage stellt, bleibt erstens das Hoffen auf fastschon schlagartige Entwicklungen des technischenFortschritts, die u.a. dazu führen, dassder Verbrauch fossiler Brennstoffe nahezu vollständigreduziert wird <strong>und</strong> die Materialeigenschaftenherbeiführen, die zur Folge haben,dass nur ein Bruchteil von dem verbraucht wird,was bisher zum Wachstum der Ökonomie erforderlichist. Zweitens bleibt die Hoffnung aufdie rasche Umsetzung dieser (fiktiven) Technologienin nahezu sämtlichen ökologischbedeutenden ökonomischen Prozessen; <strong>und</strong>das muss drittens angesichts einer inzwischenglobalen Ökonomie weltweit ablaufen. Diesesteils unmögliche, teils sehr unwahrscheinlicheSzenario als Ausweg aus der globalen ökologischenKrise zu proklamieren, ist daher keineswegszielführend.Blosse moralische Apelle an die ProtagonistInnendes Wachstums – das Gros der PolitikerInnen,die KonsumentInnen der Massenware<strong>und</strong> insbesondere die UnternehmerInnen –haben bisher nicht ausgereicht <strong>und</strong> werdenauch in Zukunft nicht reichen, die Problemedes destruktiven Umgangs mit der Natur zulösen. Denn auch ohne die mangelnde moralischeIntegrität, die subjektive Gier nach Macht<strong>und</strong> Geld oder ohne die (teils vermeintlichen)Bedürfnisse nach den schönen, vielen Dingender Warenwelt, die den Alltag überfüllen, <strong>und</strong>auch mit einer hocheffizienten, von Technologiebestimmten Ökonomie, bleibt die innereLogik einer Wirtschaftsweise wirksam, die aufnichts abzielt, ausser auf die endlose Profitmaximierung.Bleibt es also bei einer blossenKritik an subjektiven Verhaltensweisen <strong>und</strong>Werthaltungen, ignoriert man weiterhin dieStruktur <strong>und</strong> wesentliche Funktionsweisender kapitalistischen Ökonomie, in der Wert<strong>und</strong> Stoff untrennbar sind.Kapitalismus <strong>und</strong> Wachstum: Eine untrennbareDauerbeziehung Um nun den Wachstumszwangdes Kapitalismus verstehen zu kön ­nen, muss man innere Funktionsweisen diesesSystems aufdecken. Das Kapital jagt im globalenKonkurrenzgeflecht mit anderen Kapitalennach bestmöglichen Standorten, grösstmöglichenMarktanteilen, immer neuen Investitionsräumen<strong>und</strong> immer höheren Renditen. Die(Natur)Stoffe, ebenso wie die Arbeitskraft,durch deren Einsatz die Profite hervorgehensollen, dienen in dieser Struktur lediglich alsMittel dem Zweck, die eingesetzte Kapitalsummeweitestgehend zu übertreffen. DiesemQuanti tativismus haben sich Menschen, Tiere<strong>und</strong> die übrige Natur instrumentell zu fügen.In seinem Buch Der Preis des Wohlstands bringtElmar Altvater diese kapitalistische Praxis aufden Punkt: «Die nichtnutzbaren Arten sindwertlos; Pflanzen sind Unkraut, nicht nutzbareBäume bilden den Unwald, Tiere sind Schädlinge<strong>und</strong> Stoffe sind Abraum. Über das ökologischeSystem, in dem Unkraut, Unwald <strong>und</strong>Schädlinge nützliche Wesen sind, wird die Folieder Selektion nach den Kriterien der Verwertbarkeitgelegt.»Es geht also primär nicht (mehr) um den ursprünglichenZweck einer Ökonomie – die Befriedigungvon Bedürfnissen; sie selbst, dieStoffe ihrer Befriedigung u.v.m. dienen derKapitalverwertung. So existiert eine verkehrteÖkonomie, die nicht primär dem Leben derSubjekte dient; die Subjekte, die restlicheNatur u.v.m. dienen einer zum Ersatzgottaufge blähten, verselbständigten Struktur des«immer mehr» mit konkreten, oftmals destruktivenFolgen.Die sogenannte Marktwirtschaft oder treffenderdie kapitalistische Ökonomie, in die dieMasslosigkeit wesentlich eingeschrieben ist,kann daher nicht einmal hellgrün sein. Siekann – um bei dem Farbengleichnis zu bleiben –bestenfalls einen sehr leichten Grünstich erhalten,nämlich dann, wenn grüne Technologie den Raubbau an der Natur verlangsamt.Wachstumsbegrenzungen oder gar -schrumpfungenwidersprechen dem Wesen der aufgrenzenloses Wachstum abzielenden kapitalistischenÖkonomie. Selbst bei der Realisie rung(bisher) unmöglicher Effizienzfortschrittemüs sten diese im Kampf gegen die Masslosigkeitimmer neue Stufen erklimmen. Immermehr Aufwand, d.h. auch stofflicher <strong>und</strong> energetischerAufwand, müsste betrieben werden,um dem fortschreitenden Wachstum folgen zukönnen.So «frisst» sich nicht nur das Wachstum selbstauf, indem immer mehr Wirtschaftsleistungaufgebracht werden muss, um die zerstörerischenFolgen des masslosen Wachstums zureparieren. Auch der technische Fortschritt«frisst sich selbst» <strong>und</strong> abgesehen davon istjeder Stoffumwandlungsprozess in der Naturbegrenzt <strong>und</strong> jeder Effizienzfortschritt stösstirgendwann an seine Grenzen. Das Kapitalkann dementgegen theoretisch endlos wachsen.Es kennt keine letzte Zahl bzw. eine Profithöhe,von der es heisst, «jetzt reicht es»; dennein Ende der «Jagd nach mehr» bedeutet imGeflecht der Konkurrenz die Gefahr des Scheiternsals KapitalunternehmerIn. So steigt dieGefahr, dass der kapitalistische Umgang mitder Natur auch grossräumige Ökosysteme unumkehrbarzerstört, denn Ressourcen sindnicht endlos verfügbar <strong>und</strong> die natürlicheAufnahmefähigkeit von Schadstoffen ist z. T.schon jetzt überschritten.Resümee Ein Green New Deal innerhalb desKapitalismus mit dem Ziel der Entkopplung vonWirtschaftswachstum <strong>und</strong> Naturverbrauch<strong>und</strong> -zerstörung ist gleichbedeutend mit demVersuch, zu duschen, ohne nass zu werden. Sogilt es – besser gestern als heute –, diesem «Widerspruch»entgegenzuwirken. Mit anderenWorten: Es sind Strukturen einer Wirtschaftsweiseder Masslosigkeit, die es zu veränderngilt. Ein GND in bisherigen Konzeptionen <strong>und</strong>im Rahmen der kapitalistischen Ökonomie istdaher ungeeignet zur Wende gegenwärtigergesellschaftlicher Naturverhältnisse; grüneTechnologien in Postwachstums- <strong>und</strong> postkapitalistischenGesellschaften sind aber geeignet,zur Lösung ökologischer Krisen beizutragen.Es gibt keine Alternative zur Natur <strong>und</strong> es gibtauch keine Alternativen zur Ökonomie, aber esgibt Alternativen zur kapitalistischen Form derÖkonomie. So gilt es, andere Formen des Wirtschaftens(solidarische, konviviale, entschleunigteu.a.) kollektiv zu erkämpfen <strong>und</strong> zu entwickeln;<strong>und</strong> das heisst auch, Lebensqualitätneu zu verstehen, in der Zeitsouveränität nichtmit Langeweile verwechselt wird <strong>und</strong> Genügsamkeitnicht mit Verlust <strong>und</strong> Mangel.Athanasios Karathanassis ist Lehrbeauftragteran den Universitäten Hannover <strong>und</strong> Hildesheim.Seine Arbeitsschwerpunkte sind gesellschaftlicheNaturverhältnisse, Krisen <strong>und</strong> Strukturentwicklungenim globalisierten Kapitalismus<strong>und</strong> Soziale Bewegungen. Sein neuestes BuchKapitalistische Naturverhältnisse. Ursachenvon Naturzerstörungen – Begründungen einerPostwachstumsökonomie erscheint imDezember 2014.


26 ― 27Angela DavisÜBER VEGANISMUS ALS TEILEINER REVOLUTIONÄRENPERSPEKTIVEDie US ­amerikanische Bürgerrechtlerin <strong>und</strong> marxistischePhilosophin Angela Davis plädierte in einem Podiumsgespräch mit Grace Lee Boggs ander University of California in Berkeley am 2. März 2012 dafür, <strong>Tierbefreiung</strong> als notwendigen Teil linkerGesellschaftskritik zu begreifen. An dieser Stelle dokumentieren wir ihren Wortlaut in deutscher Übersetzung.Ich denke, das Feld der Ernährung wird die nächstegrosse Arena für unsere Kämpfe bilden. Ich bin manchmalwirklich enttäuscht, dass viele unter uns sich fürso radikale Aktivisten halten, aber gar nicht darauf kom -men, über das Essen nachzudenken, das wir unserenKörpern zuführen. Wir realisieren nicht das Ausmass, wiesehr wir in den gesamten kapitalistischen Prozesseingeb<strong>und</strong>en sind dadurch, dass wir unkritisch an jenerLebensmittelpolitik partizipieren, welche uns vonden grossen Konzernen aufgetischt wird. Ich erwähnenormalerweise nicht, dass ich vegan bin, aber dahabe ich mich entwickelt. Ich denke, dass es der richtigeMoment ist, darüber zu sprechen, weil es Teil einerrevolutionären Perspektive ist – wie können wir nicht nurzu Menschen ein Verhältnis entwickeln, das von Mit -gefühl geprägt ist, sondern wie können wir ein em pat hischesVerhältnis auch zu den anderen Lebewesenentwickeln, mit denen wir diesen Planeten teilen, <strong>und</strong>das würde bedeuten, der gesamten kapitalistischenindustriellen Art der Nahrungsmittelproduktion eineKampfansage zu machen. [...] Die meisten Menschendenken nicht über die Tatsache nach, dass sie Tiereessen. Wenn sie ein Steak essen oder Hühnerfleisch,denken die meisten Menschen nicht über das enormeLeid nach, das diese Tiere ertragen, nur um Lebensmittelproduktezu werden, damit sie von Menschen konsumiertwerden können. Ich denke, dass die fehlendekritische Auseinandersetzung mit der Nahrung,die wir essen, demonstriert, wie sehr die Warenform dieprimäre Art <strong>und</strong> Weise geworden ist, mit der wir dieWelt wahrnehmen. Wir gehen nicht über das hinaus, wasMarx den Tauschwert des tatsächlichen Objektesgenannt hat – wir denken nicht über die Verhältnissenach, die dieses Objekt verkörpert <strong>und</strong> die massgeblichfür den Produktionsprozess dieses Objekts waren,ob es sich dabei nun um unser Essen, unsere Kleidung,unsere iPads oder alle anderen Dinge handelt, die wirverwenden, um eine Ausbildung an einer Institutionwie dieser zu erwerben. Das würde wirklich revolutionärsein, eine Gewohnheit zu entwickeln, sich die men schlichen<strong>und</strong> nichtmenschlichen Verhältnisse hinter all denObjekten, die unsere Umwelt bilden, vorzustellen.Angela Davis


Vom sozialen Widerstandzum KlassenkampfÜberlegungen zu den Widerstandspraxen der Tierrechts- <strong>und</strong> <strong>Tierbefreiung</strong>sbewegung <strong>und</strong> der Fragenach einer revolutionären Strategie.Wandbild <strong>und</strong> Spray am 1. Mai 2014 in Zürich.Die politische Praxis der Tierrechts- <strong>und</strong><strong>Tierbefreiung</strong>sbewegung ist häufig radikalerals ihre theoretische Analyse.In puncto Theorie dominieren seit denAnfängen der Bewegung bürgerlich-idealistischeStrömungen, welche die Ausbeutung derTiere auf eine geistige Ursache wie den «Speziesismus»oder den «Mensch-Tier-Dualismus»zurückführen. Folglich sehen sie den Schlüsselzur Überwindung der Tierausbeutung in derVeränderung des gesellschaftlichen Bewusstseins.Die Befreiung der Tiere soll durch moralischeAppelle, Aufklärung über den Veganis musoder das Aufbrechen von Denk- <strong>und</strong> Sprechmusternerreicht werden.Diese idealistischen Vorstellungen verkennennicht nur die Abhängigkeit des Bewusstseinsvon den jeweiligen historisch-materiellen Bedingungen.Sie ignorieren auch die kapitalistischeProduktionsweise als die wesentlicheGr<strong>und</strong>lage des destruktiven Verhältnisses zuTieren in der gegenwärtigen Gesellschaftsformation.Betrachtet man jedoch die konkretePraxis der Bewegung, stellt man fest, dass oftinstinktiv materialistischer vorgegangen wirdals die theoretische Orientierung nahelegt.Eine Vielzahl der Aktionen <strong>und</strong> Widerstandsformensetzt unmittelbar bei der Produktionan <strong>und</strong> richtet sich gegen die Art <strong>und</strong> Weise,wie diese unter kapitalistischen Verhältnissenorganisiert ist. Damit handeln die AktivistInnengenuin systemkritisch. Sie wissen esnicht, aber sie tun es.Direkte Aktionen <strong>und</strong> Kampagnen gegenUnternehmen Die politische Praxis der Tierrechts-<strong>und</strong> <strong>Tierbefreiung</strong>sbewegung wird vorallem durch zwei Formen des Widerstands ge ­prägt: durch direkte Aktionen <strong>und</strong> durchKam p agnen gegen Unternehmen, die sich amGeschäft mit der Ausbeutung von Tieren beteiligen.Die Verbreitung der direkten Aktionals politisches Kampfmittel geht in der modernenBewegung auf die Entwicklung der Taktikder Animal Liberation Front (ALF) zurück. DieseTaktik besteht darin, dass kleine, unabhängigeZellen nach bestimmten Gr<strong>und</strong>sätzen Sabotageaktedurchführen. Seit der Gründung der ALFim Jahr 1976 in England sind in ihrem Namenweltweit tausende militante Aktionen verübtsowie unzählige Tiere vor dem sicheren Todbewahrt worden. Die Aktionen der ALF reichenvon Farbanschlägen gegen Pelzgeschäfte bisAIR FRANCE – AIR SOUFFRANCE!Stop Vivisection <strong>und</strong> Gateway to Hell sind internationaleTierrechtskampagnen, welche sich für ein Ende der Versuchstiertransporte<strong>und</strong> für eine tierversuchsfreie Wissenschafteinsetzen. Im Fokus dieser Kampagnen stehenFluggesellschaften, zu deren Geschäft der Transportvon Versuchstieren gehört. Hierzu zählt z. B. Air France-KLM. Die Airline beliefert Tierversuchslabore weltweitmit Affen, H<strong>und</strong>en <strong>und</strong> anderen Tieren <strong>und</strong> macht sichauf diese Weise mitverantwortlich dafür, dass diese inden Laboren gequält <strong>und</strong> getötet werden.Für die Tierversuchsindustrie sind die Transporte aufdem Luftweg von entscheidender Bedeutung. Viele derVersuchstiere werden in speziellen Farmen gezüchtet– Primaten werden teils auch in der Wildnis gefangen.Die Affen werden aus Ländern wie China, Mauritius <strong>und</strong>Vietnam importiert.Fluggesellschaften wie Air France-KLM sind das Bindegliedzwischen den Herkunftsorten der Tiere <strong>und</strong> denVersuchslaboren. Internationale Protestkampagnenüben daher so lange Druck auf sie aus, bis sie aus demzum Niederbrennen von Schlachthöfen <strong>und</strong>zielen darauf, die Profiteure der Tierausbeutungökonomisch zu schädigen, Tiere aus denKäfigen zu befreien <strong>und</strong> das verborgene Leidender Tiere ins öffentliche Bewusstsein zu bringen.Indem die ALF die Unternehmen angreift,die vom Elend der Tiere profitieren, wendet siesich gegen die wirklichen Triebkräfte hinterderen Ausbeutung: die ökonomischen Interessendes Kapitals.Durch die Aktionen der ALF gelingt es immerwieder, die Gewalt gegen Tiere <strong>und</strong> das damitverb<strong>und</strong>ene Leid partiell zu verhindern.Gleichzeitig tendiert die ALF aber zu einer Fetischisierungder Methode der direkten Aktion.Sie verzichtet auf eine politisch ausgearbeitete<strong>und</strong> einheitliche Strategie sowie feste Organisationsstrukturen<strong>und</strong> setzt allein auf dieautonome Initiative einzelner militanter AktivistInnen,die sich bloss für spezifische Aktionenzusammenschliessen. Daher bleibt ihr Widerstandin vielen Punkten individualistisch<strong>und</strong> unzusammenhängend <strong>und</strong> kann nicht diepolitische Schlagkraft entwickeln, die für einegesellschaftliche Befreiung der Tiere notwendigwäre.Einen etwas höheren Grad an Taktik <strong>und</strong> Organisationentwickelt das Campaigning, das seitden 1990er-Jahren zu den charakteristischenTransportgeschäft aussteigen. Damit wird versucht, dieLuftbrücke zu kappen, sodass die Labore nur noch untererschwerten Bedingungen Tiere beziehen können.Diese ausgefeilte Taktik sorgt für Umsatzeinbussen <strong>und</strong>rote Köpfe. Die US-amerikanische Tierversuchslobbysprach im Januar 2014 von einer «Krise der Versuchstiertransporte»<strong>und</strong> meinte, dass es ohne staatliche Hilfezunehmend schwierig werde, Tiere an Versuchslaborezu liefern. Der Protest <strong>und</strong> die Kampagnen von TierrechtsaktivistInnenseien ein Faktor, weshalb ein Grossteilder Flugunternehmen nicht mehr dazu bereit sei,Versuchstiere zu transportieren. Air France ist eine derletzten Fluggesellschaften, die dies noch tun. Deshalbfinden vor ihren Check-In-Schaltern weltweit regelmässigDemonstrationen statt. Die Tierrechtsgruppe Zürichbeteiligt sich seit dem Sommer 2013 an der Kampagnegegen Air France-KLM <strong>und</strong> half mit, dass diese auch inder Schweiz Fuss fasste. Regelmässig finden seitherProteste an den Flughäfen in Zürich <strong>und</strong> Basel statt.


28 ― 29Widerstandsformen der Bewegung zählt. DiesesKonzept ist darauf ausgerichtet, die Kräftemehrerer Gruppen <strong>und</strong> Einzelpersonen zubündeln <strong>und</strong> sie auf den Kampf gegen ausgewählteUnternehmen der Tierausbeutungsindustriezu konzentrieren. Dadurch soll dieEf fek tivität des Widerstands erhöht werden.Kampagnen legen bestimmte Ziele fest, z. B.die Schliessung eines Tierversuchslabors oderder Ausstieg eines Modekonzerns aus demPelzhandel, <strong>und</strong> setzen den ausgesuchten Gegnersolange gezielt unter Druck, bis die Forderungenerreicht sind. Hierfür bedienen sichKampagnen einer breiten Palette an Mitteln:Demonstrationen <strong>und</strong> regelmässige K<strong>und</strong>gebungenvor Unternehmensstandorten, aufrüttelndeEnthüllungen über die Situation derTiere, Email- <strong>und</strong> Telefonproteste, Boykottaufrufeoder Störungen von Aktionärsversammlungen.Häufig werden Tierrechtskampagnenauch durch militante Aktionen der Animal LiberationFront unterstützt.Mittels des kollektiven Kampfes gegen einzelneUnternehmen konnte insbesondere diePelz- <strong>und</strong> Tierversuchsindustrie in den letztenJahren erfolgreich geschwächt bzw. ihre Geschäftstätigkeitenerschwert werden. Allerdingsentwickeln auch Tierrechtskampagnen keinepolitische Strategie für die gesellschaftlicheBefreiung der Tiere. Sie treten der industriellenVerwertung der Tiere in gewissen Bereichenzwar vehement entgegen, aber sie konzentrierensich einzig <strong>und</strong> allein auf die Durchsetzungvon Forderungen zur Verhinderung von Tierleidim Hier <strong>und</strong> Jetzt. So sehr dies seine Berechtigunghat, die gesellschaftlichen Ursachen,welche die Ausbeutung der Tiere überhaupt erstbewirken, <strong>und</strong> die Bedingungen ihrer Überwindungwerden dabei meist ausgeklammert.Die Grenzen dieses Ansatzes offenbaren sichnicht nur im Hinblick auf die Universalität derkapitalorientierten Aneignung der Natur in derbürgerlichen Gesellschaft, sondern auch angesichtsder zunehmenden konzerngesteuertenRepression gegen die Bewegung, die sich denrücksichtslosen Verwertungsinteressen des Kapitalsentgegenstellt (siehe Artikel auf Seite 29).Durch den Widerstand gegen die Ausbeutungder Tiere gerät die Tierrechts- <strong>und</strong> <strong>Tierbefreiung</strong>sbewegungin Konfrontation mit dem Kapital<strong>und</strong> seinen staatlichen Organen. Dochdie AktivistInnen machen sich die antikapitalistischenImplikationen ihrer Forderungennicht bewusst <strong>und</strong> entwickeln bis anhin keinepolitische Theorie <strong>und</strong> Strategie zur Befreiungder Tiere.<strong>Tierbefreiung</strong> heisst Klassenkampf Es ist einegr<strong>und</strong>legende Erkenntnis historisch-materia ­l istischer Theorie, dass Ausbeutung primär eineFrage der politisch-ökonomischen Praxis ist,ohne die ideologische <strong>und</strong> kulturelle Phänomenenicht erklärt werden können. Solange diekapitalistische Gesellschaftsordnung besteht,kann die Tierfrage nicht gelöst werden, denn dieProfitmacherei auf Kosten der Natur, der Tiere<strong>und</strong> der lohnabhängigen Menschen ergibt sichaus dem Wesen der kapitalistischen Produktionsverhältnisseselbst. Der Weg zu einer befreitenGesellschaft ohne Ausbeutung von Mensch<strong>und</strong> Tier führt daher nur über den revolutionärenBruch mit dem Kapitalismus. Zwar führteine sozialistische Revolution nicht auto matischzur Aufhebung der Tierausbeutung. Doch nursie schafft die materiellen Voraussetzungen dafür:die Vergesellschaftung der Produktionsmittel<strong>und</strong> die Ausrichtung der Produktion anden Bedürfnissen der Gesamtheit wie der einzelnenIndividuen – anstatt an der Produktion vonMehrwert im Interesse einer kleinen Gruppevon KapitalbesitzerInnen. Daraus folgt für denKampf um die Befreiung der Tiere, dass er einerevolutionäre Perspektive entwickeln <strong>und</strong> sichals Teil des Klassenkampfs gegen die kapitalistischeOrdnung begreifen muss.Die Tierrechts- <strong>und</strong> <strong>Tierbefreiung</strong>sbewegungsteht somit vor der Aufgabe, ihren Kampf imRahmen einer umfassenden Strategie zur Über ­windung des Kapitalismus zu konzipieren. Auchwenn sie erst am Anfang dieses Prozesses steht,zeichnen sich drei wichtige Voraussetzungendafür bereits ab: Erstens die Überwindung deridealistischen <strong>und</strong> (klein-)bürgerlichen Vorstellungenin der Bewegung <strong>und</strong> die Ausarbeitungeiner historisch-materialistischen Analyseder Tierausbeutung. Zweitens die Abkehr vonder Ein-Punkt-Politik (single issue) hin zu einerPolitik des Klassenkampfs. Da eine Befreiungder Tiere erst durch den Sturz des Kapitalismusmöglich wird, kann sich die politische Praxisder Bewegung nicht allein an der Verhinderungvon Leid <strong>und</strong> Tod der Tiere orientieren,KÄMPFE VERBINDENsondern muss darauf ausgerichtet sein, dasKlassenbewusstsein, die Klassenkämpfe <strong>und</strong>die Organisierung der unterdrückten Massenzu stärken. Drittens muss daher die Entwicklungdes politischen Dialogs <strong>und</strong> die Bündnisarbeitmit Kräften der revolutionären Linkenvorangetrieben werden.Hieraus lassen sich bereits einige Fragen ableiten,welche die Bewegung im Hinblick auf ihregegenwärtigen <strong>und</strong> neu zu entwickelnden Praxisformendiskutieren muss: Wie können imKampf gegen die kapitalistischen UnternehmenBündnisse mit der ArbeiterInnenbewegung ge ­schlossen werden? Unter welchen Bedingungen<strong>und</strong> Umständen können militante direkteAktionen zur Hebung des Bewusstseins <strong>und</strong>der Förderung der Kämpfe der Massen beitragen?An welchen Orten des politischen Widerstandslassen sich die Ausbeutung der Tiere<strong>und</strong> die Ausbeutung der Menschen gemeinsambekämpfen? Wie kann in der Bündnisarbeit mitdem Widerspruch umgegangen werden, dassein Grossteil der revolutionären Bewegung dieTiere noch nicht als Teil der Ausgebeuteten erkannthat? usw.Eine revolutionäre Strategie für den Kampf für<strong>Tierbefreiung</strong> lässt sich sicherlich nicht vonheute auf morgen entwickeln. Wir denken aber,dass es notwendig ist, spätestens jetzt mit derArbeit daran zu beginnen. Denn die Befreiungder Tiere ist entweder Teil des Klassenkampfesoder sie ist keine.Tierrechtsgruppe ZürichAm 1. Mai, dem internationalen Kampftag derArbeiterInnenklasse, gehen unterschiedliche linkeBewegungen, Parteien <strong>und</strong> Organisationen füreine Welt ohne Ausbeutung, Unterdrückung, Rassismus<strong>und</strong> Krieg – für eine Alternative zum realexistierenden Kapitalismus auf die Strasse. Fürdie Tierrechtsgruppe Zürich ist die Teilnahme am1. Mai seit ihrer Gründung im Jahr 2008 fester Bestandteilihrer politischen Praxis. Aus dem Verständnisheraus, dass die Überwindung der Ausbeutungsverhältnissenur durch die Entwicklungeiner Politik des Klassenkampfs möglich ist,schloss sich die Gruppe vor einigen Jahren demRevolutionären Bündnis an. Das Bündnis vereintlinke Kräfte auf der Gr<strong>und</strong>lage antikapitalistischer,antimilitaristischer <strong>und</strong> antifaschistischer Positionen<strong>und</strong> organisiert neben dem Revolutionären1. Mai u.a. auch Mobilisierungen gegen das WEF<strong>und</strong> gesellschaftliche Rechtsentwicklungen.Auch wenn die Ablehnung von Tierausbeutungnicht zum Gr<strong>und</strong>konsens des Bündnisses gehört,sind wir der Ansicht, dass die Bemühung um einengemeinsamen Organisierungsprozess der revo lutionärenKräfte wichtig ist. Daneben sehen wir inder Bündnisarbeit auch eine Möglichkeit zur kritischenDiskussion mit unseren MitstreiterInnen<strong>und</strong> GenossInnen: Die Linke kann nicht daraufverzichten, sich mit der Zerstörung der Natur <strong>und</strong>der Knechtung der Tiere auseinanderzusetzen.Der Protest gegen die Ausbeutung von Mensch<strong>und</strong> Tier kann nur wirkungsvoll sein, wenn er sichdie gesellschaftlichen Ursachen dieser Ausbeutungbewusst macht. Die Tierrechtsgruppe Zürichversteht die Zusammenarbeit mit progressivenKräften als Notwendigkeit im Kampf gegen dieherrschende Klasse <strong>und</strong> ihre ApologetInnen.«Eine der wichtigsten Waffen in diesem Kampf istder Aufbau internationaler Solidarität der Unterdrücktengegen die Herrschaft des Kapitals»,heisst es in unserem Aufruf zur Teilnahme am1. Mai 2014. Sie «bildet die Gr<strong>und</strong>lage für eine revolutionärelinke Politik».


Konzerngesteuerte Repressiongegen die TierrechtsbewegungDie Kriminalisierung der Tierrechts- <strong>und</strong> Umweltbewegungen nahm im Zuge westlicher Sicherheitsdoktrinen seit dem11. September 2001 erheblich zu. Der Einfluss mächtiger Konzerne spielte dabei eine zentrale Rolle. Mittel <strong>und</strong> Ausmass derRepression erinnern an die antikommunistische McCarthy-Ära in den USA.«Das Auge des Gesetzes sitzt im Gesicht der herrschenden Klasse.» Ernst BlochIm Mai 2005 verkündete der stellvertretendeDirektor des FBI, John Lewis, während einerAnhörung des US-Senats: «Die grösste terroristischeBedrohung im Inland ist die ökoterroristische Tierrechtsbewegung.» Es «gibtnichts <strong>und</strong> niemanden in unserem Land wiediesen spezifischen Terrorismus, der in den ver ­gangenen Jahren eine so hohe Zahl von Gewaltverbrechen,terroristischen Aktionen, Brandstiftungenusw. begangen hat». Dass die damalsgut 30 Jahre alten militanten Gruppen AnimalLiberation Front (ALF) <strong>und</strong> Earth Liberation Front(ELF), im Gegensatz zu rassistischen Bandenoder fanatischen Abtreibungsgegnern, bei ihrenAktionen niemals Menschen verletzt oder gargetötet haben, tat Lewis als blossen Zufall ab.Die «Bedrohung» durch «Öko-Terroristen»be ginnt für das FBI ohnehin nicht erst bei denmilitanten Aktionen der ALF <strong>und</strong> ELF, sondernschliesst auch die 1999 in England gegründeteglobale Tierrechtskampagne Stop HuntingdonAnimal Cruelty (SHAC) ein.SHAC ist es gelungen, mit friedlichen Mitteln,Massenprotesten <strong>und</strong> zivilem Ungehorsam denGeschäftsbetrieb der berüchtigten TierversuchsfirmaHuntingdon Life Sciences (HLS) immerwieder massiv zu stören. SHAC outete die GeschäftspartnerInnenvon HLS <strong>und</strong> führte solange eine Kampagne gegen sie, bis sie die geschäftlichenBeziehungen zu HLS beendeten.In zahlreichen Fällen war diese Strategie erfolgreich.HLS stand mehrmals kurz vor dem Ruin<strong>und</strong> konnte nur durch staatliche Subventioneneinerseits <strong>und</strong> ein rigoroses Vorgehen der britischen<strong>und</strong> US-amerikanischen Strafverfolgungsbehördenandererseits überleben. EtlicheSHAC-AktivistInnen sitzen derzeit in Haft oderwarten auf ihre Prozesse. Die Kampagne wurdeam 12. August 2014 offiziell eingestellt. «Wirhaben nicht länger nur gegen HLS g e k ä mp f t ;wir kämpften gegen die Regierung – ein nochviel grösserer <strong>und</strong> mächtigerer Gegner», schriebSHAC zuletzt auf ihrer Website.Kriminalisierung legalen Protests Ein Jahrnachdem man die Tierrechtsbewegung in denUSA zur «terroristischen Bedrohung» erklärthatte, wurden im März 2006 sechs AktivistInnenvon SHAC wegen «animal enterpriseterrorism» zu insgesamt 23 Jahren Gefängnisverurteilt, obwohl ihnen zu keiner Zeit kriminelleHandlungen nachgewiesen werden konnten.Die Vorwürfe gegen sie erschöpften sich inLappalien, wie etwa dem Versenden schwarzerEndlos-Faxe oder Telefonbelästigungen. Darüberhinaus befand das zuständige Gerichtin Trenton, New Jersey, sie für schuldig, zuGewalttaten aufgerufen zu haben – tatsächlichlagen als Beweise jedoch lediglich Berichteüber militante Aktionen gegen HLS-GeschäftspartnerInnenvor, die SHAC zu informativenZwe cken auf ihrer Homepage veröffentlichthatte. Nur wenige Monate nach der Verurteilungder AktivistInnen unterzeichnete der damaligeUS-amerikanische Präsident, George W.Bush, am 27. November 2006, auf dem Höhepunktdes War on Terror, den Animal EnterpriseTerrorism Act (AETA).Dieses Gesetz gibt der US-Justiz die vollumfänglicheLegitimation, gegen Personen vorzugehen,die sich gegen die wirtschaftlichen Interessentiernutzender Unternehmen (Animal


30 ― 31Enterprises) stellen. Wegen der Beteiligung anTierrechtskampagnen können AktivistInnendamit offiziell zu «Terroristen» gemacht werden,in Hochsicherheitsgefängnisse gesteckt werdenoder sogar in sogenannten CommunicationsManagement Units (CMUs) isoliert, also beinaheohne Kommunikation zur Aussenwelt, gefangengehalten werden. Obwohl das Gesetz geschriebenwurde, um einzelne Tierrechtsaktivis tInnenaus dem Verkehr zu ziehen, ist nicht aus zuschliessen,dass es auch z. B. gegen gewerkschaftlichorganisierte ArbeiterInnen in der Tier ­industrie angewendet werden könnte, die ihreArbeit niederlegen <strong>und</strong> sich in Arbeitskämpfengegen ihre Bosse in Stellung bringen. Das Gesetzist derart vage formuliert, dass jeglicheAktivitäten, die einen «Verlust von Profit» odereinen «wirtschaftlichen Schaden» verursachen,egal ob mit friedlichen oder militanten Mitteln,verfolgt <strong>und</strong> kriminalisiert werden können.Wie das Center for Constitutional Rights (CCR)berichtete, wurden z. B. im Jahr 2009 in Kalifornienvier TierrechtsaktivistInnen unter Bezugnahmeauf den AETA vor Gericht gestellt,weil sie «protestiert, mit Kreide auf den Bodengeschrieben, Parolen gerufen, Flugblätter verteilt<strong>und</strong> im Internet nach Informationen überTierversuchsfirmen gesucht haben». Das CCRist eine non-profit NGO mit Sitz in New York,die sich für die Einhaltung <strong>und</strong> Weiterentwicklungder Gr<strong>und</strong>- <strong>und</strong> Menschenrechte sowie fürdie Rechte von Gefangenen einsetzt. Am 5. August2014 bat sie den Obersten Gerichtshof derVereinigten Staaten in einem Antrag um einerechtliche Prüfung, ob mit dem Animal EnterpriseTerrorism Act das in der US-Verfassung garantierteRecht auf freie Meinungsäusserungzugunsten der Geschäftsinteressen einzelnerGrossunternehmen geopfert worden sei. DerBeschluss des AETA im US-Kongress geht nämlichmassgeblich auf die Kapitalinteressen derTierindustrie zurück, wie aus der Arbeit desunabhängigen Journalisten <strong>und</strong> Autors WillPotter hervorgeht.«Green is the New Red» Aufgr<strong>und</strong> seinerRecherchen konnte Potter beweisen, dass derAETA nicht durch eine unabhängige Legislativeentstanden ist. Vielmehr haben an Tierversuchenbeteiligte Pharmakonzerne wie Pfizer,GlaxoSmithKlein <strong>und</strong> Boehringer Ingelheim zusammenmit Branchenorganisationen wie der FurCommission oder der National Cattlemens BeefAssociation ihren politischen <strong>und</strong> ökonomischenEinfluss genutzt, um den AETA mitzugestalten.Schliesslich ist es zu ihrem Nutzen, wenn ausTierrechtsaktivistInnen per Gesetz «Terroristen»gemacht werden können. Für Potter stehtfest, dass «Öko-Terroristen nicht Menschen,sondern Profite bedrohen», <strong>und</strong> weil sich dieAktivitäten <strong>und</strong> Forderungen der Tierrechtsbewegungnegativ auf Konzerngewinne auswirken,bedienen sich die wirtschaftlichen Elitendem Schutz des bürgerlichen Staates – <strong>und</strong>zwar nicht nur in den USA.Auch in Grossbritannien wurde der sogenannteSerious Organised Crime and Police Act (SOCPA) dahingehenderweitert, dass er gegen TierrechtsaktivistInnenangewendet werden kann. LautSOCPA Art. 145 macht sich eine Person strafbar,die mit der Absicht handelt, einer Tierversuchsfirma«Verluste oder Schäden jeglicher Art»zuzufügen oder sie bei «der Durchführungirgendeiner ihrer betrieblichen Tätigkeiten» zubehindern. Antitierversuchskampagnen, welcheihre GegnerInnen meist in der Pharma-, Kosmetik-oder Chemieindustrie haben, sollen damitbekämpft <strong>und</strong> zerschlagen werden.«Es wird oft über staatliche Repression gesprochen.Aber ich würde argumentieren, dass das,was jetzt gerade passiert, eine Verschiebung hinzu konzerngesteuerter Repression ist», bringtWill Potter diese Entwicklungen auf den Punkt.In seinem Buch Green is the New Red zieht er einenVergleich zur Ära der «Red Scare» in den 1940er<strong>und</strong>50er-Jahren, als die herrschende Klasse inden USA über Jahre hinweg eine anti kom mu ­nistische Hetze betrieb <strong>und</strong> DissidentInnenaller politischen Couleur verfolgte. Der Angstvor dem Kommunismus <strong>und</strong> seinen tatsächlichenoder nur mutmasslichen AnhängerInnenwurde damals z. B. mit Gesetzen begegnet,mittels derer Menschen linker Gesinnung zurBedrohung der nationalen Sicherheit erklärtwerden konnten. Analog zu dieser «Red Scare»bezeichnet Will Potter die neue konterrevolutionäreHysterie vor der Tierrechts- <strong>und</strong> Umweltbewegungdaher als «Green Scare».«KNEBEL-GESETZE» STATT AUFKLÄRUNGIn Ländern, in denen die Tierindustrie über massgeblichepolit-ökonomische Stärke verfügt, werdenzunehmend sogenannte Ag-Gag Laws (bedeutetetwa: «Knebel-Gesetze» des Agribusiness)verabschiedet. Diese Gesetze verbieten es, heimlichVideos <strong>und</strong> Fotos von Haltungs- <strong>und</strong> Transportbedingungenoder der Schlachtung vonTieren zu machen. Denn für die Industrie stelltdie Veröffentlichung solchen Materials ein massivesProblem dar. Es empört nicht nur KonsumentInnen,sondern löst punktuell auch Protesteaus, die strengere Tierschutzmassnahmen fordern.Müssen solche in die Realität umgesetztwerden, steigen die Produktionskosten <strong>und</strong> dieProfite sinken. Mit Ag-Gag Gesetzen will sich dieTierindustrie daher vor dem Blick <strong>und</strong> der Kritikder Öffentlichkeit schützen. Sieben US-B<strong>und</strong>esstaatenhaben solche Gesetze zwischen denJahren 2011 <strong>und</strong> 2014 eingeführt. In weiterensteht die Verabschiedung solcher Gesetze in absehbarerZeit an. In Europa werden mit Kameraausgerüstete AktivistInnen längst als «Tierrechtsextremisten»klassifiziert. Im EU Terrorism Situationand Trend Report 2011 der europäischenPolizeibehörde Europol heisst es z. B., dass «Bildervon kranken <strong>und</strong> misshandelten Tieren» als«Desinformationsmethoden» verwen det würden.In Australien werden indes noch schärfere Töneangeschlagen. Katrina Hodgkinson, die zustän ­dige Agrikulturministerin im australischen B<strong>und</strong>esstaatNew South Wales, bezeichnete zweiSondergesetze wie der Animal Enterprise TerrorismAct oder der SOCPA ermöglichen es heute,selbst friedliche TierrechtsaktivistInnen strafrechtlichzu verfolgen, sollten ihre Strategiengegen die Tierausbeutungsindustrie erfolgreichsein. Wirtschaftsverbände begegnen den«grünen» Bewegungen zudem mit kostspieligenPR- <strong>und</strong> Medienkampagnen. Potter zufolgeist die systematische Lancierung solcherVerleumdungskampagnen eine der effektivstenVorgehensweisen der Unternehmen, um AktivistInnen,die gegen die industrielle Ermordungvon Tieren <strong>und</strong> gegen die rücksichtslosePlünderung der Erde kämpfen, in der Öffentlichkeitals «Kriminelle», «Vandalen» oder als«Terroristen» diffamieren zu können. Dies passiertganz im Sinne westlicher «Sicherheits»-Doktrinen, auf deren Basis staatliche Repressaliennahezu jeden Versuch oppositionellerPraxis <strong>und</strong> jeden noch so zögerlichen Widerstandtreffen, der den kapitalistischen Geschäftsbetriebnur geringfügig stört. Mit einemBündel aus medialen, rechtlichen <strong>und</strong> politischenKampagnen <strong>und</strong> Massnahmen wird zudemgegen all jene vorgegangen, die sich demKapitalismus organisiert entgegenstellen <strong>und</strong>sich nicht mit «sozialer», «grüner», «fairer» <strong>und</strong>«biologischer» Label-Politik abspeisen lassen.Tierrechtsgruppe ZürichUndercover-Filmrecherchen einer Tierrechts gruppeals «diabolisch». «Es scheint, als ob jetzt jedeWoche Tieraktivisten in Massentierhaltungen einbrechen.[…] Diese Leute sind Vandalen. DieseLeute sind ähnlich wie Terroristen», sagte sie aufder Jahreskonferenz der Farmers' Association imJuli 2013.Investigativer Journalismus in Schlachtfabrikenoder Mastbetrieben wird mit Ag-Gag Gesetzenzu einem kriminellen Akt erklärt, das Filmen vonTierquälerei <strong>und</strong> Tierausbeutung im Zeitalter vonSmartphones <strong>und</strong> YouTube verboten. Was sichhinter den Türen der Tierindustrie verbirgt, sollim Dunkeln bleiben – Profite sollen geschütztwerden.


Über Musik, Kunst <strong>und</strong> BefreiungHow does revolutionso<strong>und</strong> like?Politik <strong>und</strong> Ästhetik in einem abzuhandeln ist schwierig – dies zeigt sich injedem Versuch, die Rolle der künstlerischen Avantgarde in einemrevolutionären Prozess zu erklären. Wie ist das Verhältnis zwischen Kunst<strong>und</strong> Revolution zu denken? Und was können wir diesbezüglich ausdem 20. Jahrh<strong>und</strong>ert lernen?Die Idee einer Beziehung zwischen Kunst<strong>und</strong> Revolution ist typisch für das20. Jahrh<strong>und</strong>ert. Auf der einen Seitestellte die Vorstellung eines Umwälzungsprozesseshin zu einer neuen sozialen Ord ­nung die gesellschaftliche Rolle der Kunst selbstin Frage: Es wurde möglich zu fragen, ob <strong>und</strong> wiebestimmte ästhetische Ausdrücke einen Beitragzum revolutionären Prozess leisten würden oderob sie Teil der Vergangenheit wären. Auf der anderenSeite ging die Idee der Revolution in dieKunstwerke selbst ein <strong>und</strong> einige KünstlerInnenbegannen, die Vorrangstellung der Politik imProzess der Veränderung der Gesellschaft inFrage zu stellen: Die Avantgardebewegungen inder Kunst stellten sich mehr oder weniger alleauf den Standpunkt, dass die Zustände nichtverändert werden können, wenn sie noch in althergebrachterWeise wahrgenommen werden.Während revo lutionäre Politik meist mehr aneiner Kunst interessiert ist, die revolutionäreIdeen unter stützen kann, erachtet revolutionäreKunst den im künstlerischen Prozess impliziertenWandel der Perspektive <strong>und</strong> der Sinnlichkeitschon an sich als eine Art Revolution.Radikale Musik besass innerhalb solcher Auseinandersetzungenstets nur eine marginaleRolle. Während die von der Avantgarde ausgearbeitetenausdrucksvollen visuellen Innovationen in der politischen Propaganda <strong>und</strong> inWerbe kampagnen einsetzbar waren, kann einerevolutionäre Musik – d. h. eine Musik, die mit denetablierten Regeln der Tonalität bricht – vom hörendenOhr nicht so einfach ohne ein Gefühl vonSchock <strong>und</strong> Unbehagen absorbiert werden (dasist auch der Gr<strong>und</strong> dafür, dass tonale Disso ­n anzen in der Kulturindustrie hauptsächlich inSo<strong>und</strong>tracks von Horrorfilmen verwendet werden).Die starke Intensität der musikalischen Erfahrung,die das stetige Bemühen des hörendenOhrs voraussetzt, im Laufe der Zeit die Gesamtheitdes musikalischen Diskurses zu rekonstruieren,scheint revolutionäre Musik zu Isolation<strong>und</strong> Bedeutungslosigkeit zu verdammen.Musik <strong>und</strong> Kapitalismus Es ist kein Zufall,dass die klassischen «So<strong>und</strong>tracks» von Befreiungsbewegungenhauptsächlich aus Protestliedernbestehen. Von Folk Musik zu Hip Hop,von We Shall Overcome zu Killing in the Name of,haben viele unterschiedliche Musikgenres versucht,die Idee der Revolution in Liedern auszudrücken.Nicht ohne eine gewisse Spannungzwischen Ausdruck <strong>und</strong> Bedeutung. Wie TheodorW. Adorno bemerkte, gibt es einen gewissenWiderspruch zwischen einem politischen Inhalt,der Forderung nach einer radikalen Veränderungder Welt, wie sie ist, <strong>und</strong> einer Form –hier im Sinne des Songs –, die wesenhaft mit derWelt verb<strong>und</strong>en ist, die verändert werden soll.Die festgelegte Struktur des Liedes, seine melodischen,harmonischen oder rhythmischenMuster, strafen den radikalen politischen InhaltLüge, der transportiert werden soll. Währenddiese Elemente sich selbst als unschuldigeBestandteile einer gleichbleibenden «Traditionder Populärmusik» darstellen, sprach Adornovon der Warenform der Populärmusik, um daraufhinzuweisen, dass es in einer modernenkapitalistischen Gesellschaft keine «music ofthe people» geben kann. Alles wird durch denTauschwert berührt <strong>und</strong> transformiert. Nichts,was angeblich oder wirklich aus vor-kapitalistischenGesellschaftsverhältnissen stammt,überlebt als blosses solches. Die Konstellation,in welche die kapitalistische Produktionsweisealles versetzt, verändert die Bedeutung <strong>und</strong>Funktion selbst derjenigen Phänomene, dievor geben, vom Markt unberührt oder denMarktanforderungen äusserlich zu sein. Keinkulturelles Phänomen, sei es ein Mainstream-Erfolg oder eine ästhetische Rebellion gegenden Markt, kann somit als ein «freies» Produktder menschlichen Schöpfungskraft bezeichnetwerden, denn seine Sprache <strong>und</strong> sein Inhaltsind an die vorherrschenden Bedingungen derProduktion geknüpft. Sowie es um kommerz i ­elle Musik geht, ist das ohnehin klar. GängigeRadiomusik ist so konstruiert, dass sie bestimmtenKriterien wie Länge, Angemessenheit,musikalische Verständlichkeit, So<strong>und</strong>qualitätusw. entspricht. Die Vorstellung, dassdie Zuhörer tatsächlich «auswählen, was siemögen», ist angesichts einer Welt, in der die hegemonialeKultur sich auf ein begrenztes Set anVorstellungen beschränkt, die konstant durchdie Massenmedien eingebläut werden, durchAdorno <strong>und</strong> Horkheimer in der Dialektik derAufklärung berechtigterweise als naiv abgetanworden. Sie haben aber auch aufgezeigt, dass esder Kulturindustrie auf effiziente Art gelingt,ihre eigenen inneren Antagonisten in Formvon «radikalen» oder «nicht-konformistischen»Kulturgütern zu entwerfen bzw. einzugliedern.So erzeugt die platte Wiederholung bekannterMuster durch die Mainstream-Medien gleichsamden Drang, aus ihren festgeschriebenen Regelnauszubrechen (ohne Hollywood-Klischees,so schreiben die beiden beispielsweise, hätteOrson Welles nicht das enfant terrible spielenkön nen). Als Adorno <strong>und</strong> Horkheimer vonder totalitären Eigenschaft der Kulturindustriesprachen, meinten sie damit genau diesen Widerspruch.Nicht nur ist das System der Medienkonzerneindifferent gegenüber dem politischenInhalt seiner Waren, solange sich diesean ein Publikum verkaufen <strong>und</strong> dadurch zueiner Marke, einem bestimmten Marktziel machenlassen: vor dem Hintergr<strong>und</strong> der monopolistischenStruktur der Weltwirtschaft habendie KünstlerInnen die Wahl zwischen dem Einfügenin die Marktlogik <strong>und</strong> der kulturellenIrrelevanz. Das eigentliche Problem ist, dasssolche ökonomischen <strong>und</strong> politischen Schrankendie ästhetische Dimension als solche beeinflussen.Das heisst, sie beeinflussen die Entstehungeines Kunstwerks von innen heraus.


32 ― 33Das Erlebnis der Grenze: Avant-garde, FreeJazz, Art Rock <strong>und</strong> Punk In den späten 1960er-Jahren kritisierte Adorno das Verhalten deravantgardistischen Musik. Im Versuch, die Unmenschlichkeitkommerzieller <strong>und</strong> traditionellerMusik <strong>und</strong> deren Bündnis mit dem Systemder politischen Herrschaft anzuprangern,hatte die progressivste Musik jener Zeit jedeVerbindung zur Erfahrung, «Musik geniessenzu können», verloren: Sie verfolgte immer radikalerdie unaufgelöste Dissonanz <strong>und</strong> die Unvorhersehbarkeitvon Melodie <strong>und</strong> Rhythmus.Revolutionäre Musik konnte die Unmenschlichkeitnur noch durch Annahme unmenschlicherEigenschaften denunzieren (Cage, Stock ­hausen). Dadurch wurde sie, obwohl sie durchauseinen ästhetischen Protest gegen das apolitischeVergnügen der Mainstream-Musikverkörperte <strong>und</strong> dabei den Horror unter derOberfläche des Alltags im Kapitalismus enthüllte,zunehmend statisch, mechanisch <strong>und</strong> ausdruckslos.Sie wurde zu einer Art Nachahmungdes Leblosen, dem sie entgegentrat <strong>und</strong> dassie anzuprangern versuchte. Gleichzeitig begannendiejenigen populären Phänomene, dieAdorno in den 1930er- <strong>und</strong> 40-Jahren noch scharfkritisierte (kommerzieller Jazz <strong>und</strong> easy-listeningMusik), einen eigentümlich umgekehrtenProzess der ästhetischen Veränderung. Jazz-MusikerInnen wurden zunehmend unzufriedenermit den Regeln des Jazz der 1950er- <strong>und</strong>60er-Jahre <strong>und</strong> begannen, genau all diejenigenMuster aufzubrechen, die Adorno zuvor alsregelkonform kritisierte: Rhythmische, melodische<strong>und</strong> harmonische Wiederholung wurdedurch den avantgardistischen Jazz von Musikernwie Ornette Coleman, Cecil Taylor <strong>und</strong>Archie Shepp zunehmend aufgelöst. Dabeientstanden beispiellose Formen musikalischenExperimentierens, die sich in einigen Fällenmit westlicher «weisser» avantgardistischerMusik überschnitten <strong>und</strong> mit ihr verschmolzen.Selbst Popmusik begann, die Grenzen derherkömmlichen Form des Songs aufzubrechen<strong>und</strong> produzierte beherzte Versuche, einenmusikalischen Diskurs aufzubauen, der nichtmehr an die Regeln tonaler Sprache, kommerziellenErfolg oder repetitives Hören geb<strong>und</strong>enwar: «Art-Rock», wie diese Versuche genanntwurden, zielte darauf, alle möglichen musikalischenErfahrungen in einer freien Form zuverbinden, uneingeschränkt von den Diktatendes Marktes. Gleichwohl konnten all diese Strömungendes radikalen Experimentierens diesozialen Grenzen, die ihnen der Kapitalismussetzte, nicht überwinden: Das Streben nachmusikalischer Freiheit sowohl im Rock als auchim Jazz der 1970er-Jahre mündete schliesslichin der sterilen Selbstgefälligkeit des «progressiveRocks» <strong>und</strong> des «Fusions», deren zunehmendeProfessionalisierung später von der ehrfurchtslosenPrimitivität von Punk <strong>und</strong> Hip-Hop ab ge ­lehnt werden sollte. Punk <strong>und</strong> Hip-Hop drücktendie Unzufriedenheit über die Widersprücheder moderaten, sozialdemokratischen Politikaus: Die Angst einer verlorenen Generation,welche die Brutalität der Ära Thatcher <strong>und</strong> Reaganzu spüren bekommen sollte. Es kann keinenvollständigen ästhetischen Wandel geben,solange die Gesellschaft keinem politischenWandel unterzogen wird.Der Gr<strong>und</strong> für diese Unmöglichkeit liegt in derNatur der Kunst selbst, in ihrem Verhältniszum gesellschaftlichen Ganzen <strong>und</strong> dem Zivilisationsprozess.Wie alle kulturellen Phänomenehat auch die Kunst ihren Ursprung immagischen Denken <strong>und</strong> dessen Versuch, dieNatur zu kontrollieren. Im Zivilisationsprozesswurde der Drang zur Beherrschung <strong>und</strong> Kontrolleder Natur allmählich vom rationalenDenken übernommen, während die Kunst zueiner sozialen Aktivität wurde, deren Rationalitätin einem exzentrischen Verhältnis zur Gesellschaft<strong>und</strong> Natur steht. Auf der einen Seiteist Kunst rational, weil Kunstwerke durch dieGesetze der Form strukturiert sind. Und dochist diese Rationalität nicht identisch mit der instrumentellenVernunft, welche die moderneGesellschaft durchdringt: Das Kunstwerk istnutzlos gemäss den pragmatischen Bedürfnissenvon Herrschaft. Auf der anderen Seite istdie Kunst expressiv, sie ist bedeutungstragend,aber auf eine Art, die nicht auf Begriffe reduziertwerden kann: Sie ist offen für Interpretation.Das ist der Gr<strong>und</strong> dafür, wieso «engagierteKunst» irgendwie absurd ist. Kunst istan sich schon ein Protest gegen die Logik derHerrschaft <strong>und</strong> des Tauschwerts <strong>und</strong> jeder Versuch,sie auf das Medium irgendeiner «Message»zu reduzieren, läuft Gefahr, ihr subversivesPotential zu verringern. So ist die Idee von l’artpour l’art (Kunst um der Kunst willen) in gewisserHinsicht der grösste ästhetische Akt derRebellion gegen die Gesellschaft <strong>und</strong> ihre Vorschriften.Gleichzeitig aber kann Kunst die gesellschaftlichenWidersprüche nur ausdrücken,nicht aber lösen. Jeder Versuch, in der reinenkünstlerischen Rebellion einen Ausweg ausden bestehenden Verhältnissen zu finden, istdazu verdammt, aus der Kunst einen Götzen zumachen <strong>und</strong> ins magische Denken zurückzufallen.Wer die Vorstellung einer ästhetischenRevolution zu ernst nimmt, verfällt in Irrationalismus.Aus dem gleichen Gr<strong>und</strong> landet jederpolitische Versuch, die Widersprüche des Kapitalismuszu umgehen <strong>und</strong> «jetzt zu handeln»,ohne diese Widersprüche vorher einer ernsthaftenökonomischen <strong>und</strong> politischen Analysezu unterziehen, in politischem Ästhetizismus.Jedes echte Kunstwerk muss seinen Weg durchdas widersprüchliche soziale Feld finden, indem Form <strong>und</strong> Inhalt, Ausdruck <strong>und</strong> Bedeutung,künstlerische Autonomie <strong>und</strong> politischesEngagement sich ohne gegenseitige Versöhnungtreffen. Musik <strong>und</strong> Kunst sind nur dannverlässliche Ausdrücke der Befreiung, wenn siedie ungelösten gesellschaftlichen Spannungenverkörpern <strong>und</strong> diese sprechen lassen, statt sieideologisch zu verdecken oder zu mimen. Wirkönnen <strong>und</strong> dürfen von der Kunst keine revolutionäreVeränderung erwarten, denn sie drücktdie gesellschaftlichen Konflikte lediglich aus.Nur durch politische Praxis kann die sozialeEnergie, die Kunst inkorporiert, den Weg zuökonomischem Wandel finden. RevolutionärePolitik sollte daher nicht versuchen, Kunst inein Instrument des politischen Kampfes zuverwandeln. Kunst ist nicht dafür da, die Befreiungder Menschen zu predigen (in gewisserHinsicht strebt Kunst aus sich heraus die Befreiungder gesamten Natur an). Vielmehr solltedie Politik die Autonomie der Kunst respektieren<strong>und</strong> die Befreiung der Kunst als solche propagieren.Das Verhältnis von Politik <strong>und</strong> Kunstist auch Teil des sozialen Widerspruches. IhreSpannungen können daher nur in einer anderenGesellschaftsordnung gelöst werden.Marco Maurizi


«Politischer Rap hat dasPotential, Klassenbewusstseinzu reanimieren»Die Kulturindustrie ästhetisiert den Kapitalis mus <strong>und</strong> legt einen hübschen Schleier über die hässliche Realität. Musik, diesoziale <strong>und</strong> politische Pro zesse auf- <strong>und</strong> angreift, lüftet diesen Schleier. Genau dies ist die Haupt mo tivation von Albino,wie er der Tierrechtsgruppe Zürich im Interview erklärt. Im Jahr 2015 feiert der Hip-Hop-Artist sein 20-jähriges Jubiläum.Albino, du politisierst mit deinerKunst <strong>und</strong> politisierst damit die Kunst.Was sind deine Anliegen?Ich möchte mit meiner Musik die menschen<strong>und</strong>naturverachtenden gesellschaftlichen Ver ­hältnisse auf- <strong>und</strong> angreifen. Mir ist Mitte der1990er-Jahre bewusst geworden, dass ein Gross ­teil der Fragen, die mich intensiv beschäftig ten,von den bürgerlichen Medien so gut wie nichtbehandelt wurden. Mir fehlten wahrnehmbareStimmen, die meine Anliegen angemessen repräsentierten.Deswegen entschloss ich mich,meine Inhalte <strong>und</strong> Themen, wie das Mensch-Tier-Verhältnis, imperialistische Kriege, Natur ­zerstörung <strong>und</strong> Kapitalismuskritik, selber zuformulieren <strong>und</strong> in die Öffentlichkeit zu tragen.Gleichzeitig habe ich auch immer versucht, inmeinen Texten einen Bogen zu schlagen zu ei g e ­nen Widersprüchen <strong>und</strong> «privaten» Prozes senin meinem engeren Umfeld, da sie mit den gesellschaftlichenVerhältnissen in einer engenWechselwirkung stehen <strong>und</strong> die Analyse derdaraus resultierenden Widersprüche nicht nurfür mich zu wertvollen Erkenntnissen führenkann. Denn darum geht es mir natürlich auch:mich menschlich <strong>und</strong> politisch weiterzuentwickeln<strong>und</strong> gleichzeitig anderen MenschenMut <strong>und</strong> Motivation zu geben, dies ebenfallszu tun.Ersetzt politischer Rap gewissermassendas, was das politische Lied für die frühereArbeiterInnenbewegung war?Für die jüngeren Generationen gilt das sicher.Die Alltagskultur sowie die Art der Sprachever ändert sich ja laufend <strong>und</strong> die Form derpolitischen Lieder somit zwangsläufig auch.Rapmusik ist dabei wie kaum ein anderes Mediumin der Lage, soziale Missstände zu schildern<strong>und</strong> zu spiegeln. Zwar habe ich auf demdiesjährigen UZ-Pressefest – dem Volksfest derDeutschen Kommunistischen Partei (DKP) – erlebenkönnen, wie wichtig <strong>und</strong> motivierend Arbeite r ­lieder für die GenossInnen altersübergreifendsind. Dennoch denke ich, dass gerade politischerRap das Potential entfalten kann, Klassenbewusstseinzu reanimieren <strong>und</strong> revolutionäreGedanken zu verbreiten.Inwiefern hat die Hip-Hop-Kultur etwasmit Klassenbewusstsein zu tun?Bereits im Strassenrap wird eine Menge Sozialkritiksicht- <strong>und</strong> hörbar. Dies geschieht nurzumeist in einer Sprache, die für die «emanzipatorische»Linke nicht tragbar erscheint. Diezieht sich dann gerne angewidert in ihr heimeligesSzenehäuschen zurück <strong>und</strong> verschliesstAugen <strong>und</strong> Ohren. Ich finde es wichtig, dieseBarriere zu überwinden, sich zu öffnen, sichden sozialen Realitäten zu stellen, Zusammenhängedeutlich zu machen <strong>und</strong> den Fokus aufden Klas sen gegner zu legen. Genau hier kommtpolitischer Rap ins Spiel. Dieser sollte po li­


Belgien: 5,30 €Frankreich: 5,30 €luxemBurg: 5,30 €Österreich: 5,30 €schweiz: 8,50 chF34 ― 35tische Aufklärungsarbeit leisten <strong>und</strong> sozialrevolutionäreZiele formulieren, ohnedabei einen elitä ren Kreis linker SzenerapperInnenzu kreieren.In dem Track Uffnpunkt von Pyro Onesingt die populäre Autonome-SzeneRapperin Sookee: «Antideutsch<strong>und</strong> Antiimp – Wer organisiert was –ich muss jeden Gig che cken – damitdie letztgenannten meinen Shit nichtmitrappen.» Mit diesen Wortenpositioniert sich Sookee an der Seite«antideutscher Antifas». In deinemSong Ein falsches Spiel hältst du den«Antideutschen» den Spiegel vor. Umwas geht es?Es geht darum, dass ein Grossteil von denen,die sich moderne linke Kultur auf dieFahnen schreiben, in meinen Augen kulturindustrielleVasallen <strong>und</strong> Türöffnerfür die neoliberale Agenda sind. Es ist erschreckendzu beobachten, wie aus einertreffenden Kritik am wiederaufflammendenNationalismus zur Wendezeit einemenschenverachtende Ideologie erwachsenkonnte, die es geschafft hat, innerhalbdes linkspolitischen Spektrums prokapitalistische,kriegstreiberische <strong>und</strong> rassistischePositionen salonfähig zu machen.Das Lied Ein falsches Spiel zeigt natürlichzum einen meine Verachtung für Leute,die von Freiheit schwatzen, gleichzeitigaber die unmittelbaren Interessen <strong>und</strong>Bedürfnisse der allermeisten fühlendenIndi vi duen ignorieren <strong>und</strong> teilweise sogaraktiv bekämpfen. Zum anderen möchteich mit dem Song an die linken Wurzelnerinnern, die für mich bedeuten, für einesozialistische Gesell schaft zu kämpfen, diefrei ist von Krieg, Gewalt, Ausbeutung <strong>und</strong>Klassenherrschaft, Armut <strong>und</strong> Diskriminierung.Und diese Vorstellung ist unvereinbarmit einer «antideutschen Linken»,die aktiv an der Auflösung einer revolutionärenBewegung arbeitet. MichaelSommer <strong>und</strong> Susann Witt-Stahl analysieren<strong>und</strong> dokumentieren dies in ihremaktuellen Buch Antifa heisst Luftangriff aufhervorragende Weise.Dein lyrischer Widerstand richtetsich stets auch gegen die Unterdrückung<strong>und</strong> Er mor dung von Tieren.Du bist auch schon länger in der Tier -rechts- <strong>und</strong> <strong>Tierbefreiung</strong>sbewegungaktiv. Was für Entwicklun gen siehstdu in der Bewegung bzw. auch für dichpersönlich?Der Zugang zum Veganismus vollzog sichbei mir wie bei vielen anderen über Emotionen.Die Bilder der Schlachthofrealität,der brutalen Tiertransporte, der Versuchslabore,all das hat in meinem Innern ein Bebenausgelöst, das schliesslich den Schrittzum Veganismus veranlasste. Ich denke,dass es wichtig ist, nicht bei diesem moralischenZugang stehen zu bleiben. Ein Teilder Bewegung hat diese Notwendigkeiterkannt. Dies führte ja schliesslich auchdazu, dass sich die Tierrechts- zur <strong>Tierbefreiung</strong>sbewegungweiter entwickelthat. Nur dürfen wir auch hier nicht stehenbleiben <strong>und</strong> bei einer Herrschaftskritikverharren, die gar nicht dazu in der Lageist, zu erklären, wie <strong>und</strong> warum Herrschaftentsteht. Stattdessen müssen wir die Unterdrückungder Tiere aus ihrer Positionin der kapitalistischen Gesellschaft erklären<strong>und</strong> unsere Ziele als Teil des Klassenkampfesbegreifen. Noch ist es bei weitemkein Konsens in der Bewegung, dass dieBeendigung der Tier ausbeutung nur überdie Überwindung des Kapitalismus möglichsein wird. Ich hoffe, dass wir dies ändernwerden, dass wir vermitteln können,dass unser Kampf beispielsweise auchgleichzeitig den Kampf gegen imperialistischeKriege <strong>und</strong> soziale Verelendungbeinhalten muss.Angenommen, es käme zu einemgrossen Streik in einer Schlachtfabrikdes deutschen BranchenprimusTönnies – würdest du den kämpfendenKollegen <strong>und</strong> Kolleg innen einenTrack widmen?Das kann ich mir durchaus vorstellen. DerTrack würde darauf abzielen, dass wir davonwegkommen müssen, soziale Kämpfeisoliert voneinander zu betrachten. Dasswir eine sehr breite, solidarische Bewegungbrauchen, statt vieler single issueBewegungen. Der Song würde die Notwendigkeitaufgreifen, den Klassenkampfbewusst anzunehmen <strong>und</strong> zu führen <strong>und</strong>gleichzeitig deutlich machen, dass Solidar i tät nicht beim Menschen halt machendarf <strong>und</strong> auch Tiere berücksichtigen muss.In diesem Sinne würde ich den streikendenGenossInnen den Gedanken der Vergesellschaftung<strong>und</strong> der Konversion derSchlachtbetriebe nahelegen, die für alleBeteiligten einen heilsamen Quantensprungbedeuten würde.AKTUELLES ALBUM:ANDERLAND (2013)Mit dabei:HolgerBurner,Master Al,Kallsen,Sokom,12 Finger Dan, Bassbarth, Maddi & Dini,Conexion Musical, Callya, EmLyn,Minutes from Memory <strong>und</strong> MadcapANZEIGEPOPMUSIKKLASSENKAMPFKonferenz: Simon ReynoldSdietmaR dath | maRtin newellJoe CaRduCCi | u.a.[Psycho] ANALySE»WrEcKiNg BALL«MoShE ZucKErMANNPOPMUSIKKLASSENKAMPFwww.melodie<strong>und</strong>rhythmus.com Mai/Juni 2014 | € 4,90 Twww.melodie<strong>und</strong>rhythmus.comTI T E L T H E M A CLASS(WAR)PSYCHOANALYSEMUSIKDAS UNBEWUSSTE DERKULTURINDUSTRIEFREUDOMARXISMUSSTARKULT:DAS BEDÜRFNISNACH MYTHENDAS UNBEHAGEN INDER MUSIKKULTURFREUDPIONIER DER ANDROGYNITÄTPRO & CONTRABRUCE SPRINGSTEEN:KRITIKER DESAMERIKANISCHENTRAUMS?Belgien: 5,30 €Frankreich: 5,30 €luxemBurg: 5,30 €Österreich: 5,30 €schweiz: 8,50 chFMuSiK iNtErNAtioNALGesamtKunstwerKfaschismus in KiewGriechenlands Musiker in der krise»stritery« in sibirien <strong>und</strong> iM uralhiGhlife in GhanaM&R PRäSentIeRtDiE toP tENDEr rEvoLutioNSLiEDErKoLuMNEASSociAtioNoF MuSicAL MArxiStSPRInce & GebRaUchSweRtdaMon albarn | lykke li | Guano apes | laibach | kaiser chiefswww.melodie<strong>und</strong>rhythmus.com September/Oktober 2014 | € 4,90DISSONANZENPUSSY RIOTDEMASKIERTBOSSA, HARDCORELIVEARGENTINIENROMPIENDO SISTEMAS:GEFÄNGNISMUSIKWIDERSTANDPOP VON UNTEN:BUARQUE/CÉSAR/DOTA/MARLEY/RATOS/U.V.A.ANALYSE»RISE LIKE A PHOENIX«MOSHE ZUcKERMANN( MUSIK & ZEITGESCHEHEN )GOOGLE VS. 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«Der fleischgewordene Geistdes Kapitalismus»Rezension – Upton Sinclairs im Jahr 1905 erschienener Enthüllungsroman Der Dschungel, ein Buch über die Lebensbedingungender ArbeiterInnen der Chicagoer Schlachthöfe, ist 2013 vom Zürcher Europa Verlag neu aufgelegt worden.Eine gute Gelegenheit, um aus <strong>Tierbefreiung</strong>sperspektive einen Blick auf den Klassiker zu werfen.Sinclair verstand sich als politischerSchriftsteller <strong>und</strong>hoffte, mit seinen Büchernetwas zur Veränderung derGesellschaft beitragen zukönnen. Im Fokus seines li ­terarischen Schaffens standendaher sozialkritischeThemen mit hohem Re a litätsbezug.Der Roman DerDschungel, der Bertolt Brechtspäter zu seinem Drama DieHeilige Johanna der Schlachthöfeinspirierte, spielt in denUnion Stock Yards in Chicago, wo sich ab Mitte des19. Jahrh<strong>und</strong>erts die Pro duktion der nord amerikani schen Fleischindustrie konzentrierte.Durch den Konzentrations prozess entstand diesoge nannte Packingtown, ein riesiger Schlachthofkomplexmit Fleischverarbeitungs- <strong>und</strong> Ko n ­servenfabriken, die um geben waren von unzähligenViehpferchen. Daneben bildete sich einriesiger Slum, in dem die ArbeiterInnen, grös s-tenteils MigrantInnen <strong>und</strong> Angehörige ethnischerMinderheiten, zu sammengepfercht unterschlechtesten hygien ischen Bedingungen lebten.Sinclair beschreibt die Lebensbedingu ngendieser Menschen am Beispiel des lit au isch enImmigranten Jurgis Rudkus <strong>und</strong> seiner Familie.Nach seiner Übersiedlung in die USA findet JurgisArbeit in einem Schlachthof in Packingtown,wo er statt der erträumten amerikanischen Freiheitharte Arbeitsbedingungen vorfindet.Für den Sozialisten Sinclair war die Geschichtevon Jurgis Rudkus <strong>und</strong> seiner Familie einSinn bild für die Lebensumstände der LohnarbeiterInnenaus der untersten Schicht derUS-amerikanischen Gesellschaft. Es war seinerklärtes Anliegen, ihre Situation zu verbessern.Seine vor Ort recherchierten detaillierten<strong>und</strong> bildhaften Beschreibungen der Abläufe<strong>und</strong> Zustände in den Schlachthöfen beleuchtenaber nicht nur das Elend der dort arbeitendenMenschen. Sie werfen auch ein Schlag licht aufdas Leid der Tiere, die in den Schlachtstrassenzu Tausenden ihr Leben lassen mussten: «DieTiere quiekten in allen Tonarten, grunzten,wimmerten vor Todesangst; einen Momentwar es still, dann folgte ein erneuter Ausbruch,noch lauter als vorher, aufschwellend zu einemohrenbetäubenden Inferno.»Um in kurzer Zeit immer grössere Mengen anFleisch produzieren zu können, wurde in denSchlachthöfen von Chicago das Schlachtenam Fliessband eingeführt. Es heisst, HenryFord habe dort die Inspiration für seine Autoproduktiongef<strong>und</strong>en. Die immergleichenHandgriffe wurden in hoher Geschwindigkeit<strong>und</strong> mit einer Routine ausgeführt, die keinenPlatz liessen für Mitgefühl mit den Tieren.Eindrücklich schildert Sinclair diese rationalisierteTötungsmaschinerie: «Es war Schweinefleischfabrikationauf maschinellem Wege,Schweinefleischfabrikation mit angewandterMathematik. Dennoch – irgendwie musste auchder Hartgesottenste dabei über die Schweinenachgrübeln. Sie waren so ahnungslos, sie kamenso völlig vertrauensselig an, sie waren soausgesprochen menschlich in ihrem Protest –<strong>und</strong> sie hatten ja so recht! Sie hatten nichts getan,wofür sie so etwas verdient hätten, <strong>und</strong>dem Unrecht wurde noch der Schimpf hinzugefügtdurch die Art, wie die Sache hier ablief:dieses Hochzerren in so herzloser, unpersönlicherManier ohne jede Bek<strong>und</strong>ung von Mitgefühl,ohne den Tribut einer Träne. [...] Eswar ein entsetzliches Verbrechen, das in einemVerlies begangen wird, unbemerkt <strong>und</strong> unbeachtet,dem Blick verborgen <strong>und</strong> aus der Erinnerunggelöscht.»Anfangs ist Jurgis froh, selbst kein Schwein zusein. Mit der Zeit erkennt er aber, dass aucher «nichts Besseres als ein Schwein» ist, «einSchwein, das den Fabrikanten gehörte». Er erkennt,dass weder das Schwein noch er selbstOpfer eines unabänderlichen Schicksals sind,sondern dass die Betreiber der Schlachthöfe –beschrieben als «der fleischgewordene Geist desKapitalismus» – verantwortlich sind für ihrerbeider Situation: «Sie wollten aus einem Schweindas Maximum an Profit herausholen; <strong>und</strong> dasselbewollten sie auch aus dem Arbeiter <strong>und</strong> ausder Gesellschaft herausholen. Was das Schweindavon hielt <strong>und</strong> was es litt, blieb dabei ausserBetracht; <strong>und</strong> nicht anders verhielt es sich mitdem Arbeiter.»Sinclair beklagte sich nach der Veröffentlichungdes Romans, dass er die Öffentlichkeit mitseinen Schilderungen ins Herz treffen wollte,aber lediglich deren Magen getroffen habe. DieBevölkerung zeigte sich angesichts der schlimmenhygienischen Zustände in der Fleischver ­arbeitung vor allem um die Qualität ihres Essensbesorgt. In der Folge wurden schärfere Gesetzezur Verbesserung der hygienischen Bedingungenerlassen. In der Tat haben sich diese bisheute stark verbessert, an der Situation derLohnarbeiterInnen – <strong>und</strong> der Tiere – hat sichaber wenig geändert (siehe die Artikel auf Seite16 – 19). Obwohl Sinclair nicht die Befreiung derTiere im Sinn hatte, kann die Tierrechts- <strong>und</strong><strong>Tierbefreiung</strong>sbewegung aus dem proletarischenRoman etwas lernen: Die Tiere sind nichtdie einzigen Leidtragenden der Fleischindustrie.Vielmehr erwirtschaften die Kapitalis ­tIn nen ihre Profite sowohl durch die Ermordungvon Tieren als auch durch die Ausbeutungder lohnabhängigen Menschen.Tierrechtsgruppe Zürich


36 ― 37Die Grenzenbürgerlicher TierethikRezension – Der umfangreiche Sammelband Tierethik. Gr<strong>und</strong>lagentexte von Friederike Schmitz hält, was sein Titelverspricht. Das ist zugleich seine grösste Stärke <strong>und</strong> seine grösste Schwäche. Der Band gibt einen gutenEinblick in den Status quo des moraltheoretischen Tierrechtsdiskurses. Wissenschaftliche Schützenhilfe für dieBefreiung der Tiere liefern die versammelten AutorInnen nicht.Wer auf der Suche nacheiner Einführung in denMainstream der Tierethikist oder ein paar einschlägigemoralisch-theoreti scheArgumentationen älteren<strong>und</strong> jüngeren Datums insbesondereaus dem englischsprachigenRaum ken ­nenlernen will, sollte diesesBuch kaufen. Um sich mitden Kernaussagen der Au ­torInnen vertraut zu machen,muss man aber nichtunbedingt die 580 Seiten des mitunter ermüdendenmoralphilosophischen Kleinkleinsdurchackern. Es reicht eigentlich aus, die vonder Herausgeberin Friederike Schmitz hervorragendlesbare <strong>und</strong> ausführliche Einleitungzum Band zu lesen. Der Eindruck, der sich bereitsaus ihren Ausführungen auf den ersten70 Seiten ergibt, erhärtet sich bei der weiterenLektüre leider: Man lernt schnell, warum dieabgebildete Tierethik weder politischen AktivistInnennoch wissenschaftlichen TheoretikerInnenanzuempfehlen ist, die sich zu Recht fürdie Befreiung der Tiere von der Barbarei in denSchlachthöfen, Mastanlagen, Tierversuchslaboren,Pelzfarmen <strong>und</strong> so weiter einsetzen.Bürgerliche Tierethik, … Beispielsweise PeterSingers präferenzutilitaristische Moralphilosophiebasiert auf der Vorstellung, dass die Interessenaller leidensfähigen Wesen auch in derEthik berücksichtigt werden müssten, daherauch zumindest die des Gros der Tiere. Anhandvon Vergleichen etwa zwischen neugeborenenMenschen <strong>und</strong> Menschenaffen zeigt er in seinemAufsatz, dass die gängigen Abgrenzungenzwischen Menschen <strong>und</strong> Tieren entlang be ­s timmter ausgewählter Eigenschaften wie zumBeispiel der Vernunft nicht haltbar sind, weilauch nicht alle Menschen diese besitzen. Andersals ihm fälschlicherweise unterstellt wird,schlussfolgert er daraus aber nicht die Abwertungder Menschen, die nicht dem Idealbildentsprechen (so genannte «nicht-paradigmatischeMenschen» (Pluhar, S. 112)), sondern denEinschluss bestimmter Tiere in die moralischeGemeinschaft.Neben zahlreichen anderen Kritiken der SingerschenPhilosophie (für moraltheoretischesiehe dazu auch die Beiträge von Nussbaum<strong>und</strong> Luke, eine gute Übersicht bietet Bentonim Band), die entgegen politisch diffamierendenFalschbehauptungen Zeit ihrer Existenzauch in der Tierrechts- <strong>und</strong> <strong>Tierbefreiung</strong>sbewegungformuliert worden sind, sind vor allemzwei entscheidend, um seine Theorie zu verwerfen.Singer akzeptiert erstens die derzeitigengesellschaftlichen Verhältnisse als Grenze fürseine praktische Ethik. In der Konsequenz beschneideter zweitens seine Philosophie, derzufolge so gehandelt werden soll, dass am Endedas grösstmögliche Glück generiert wird, weilGlück in der gegenwärtigen Gesellschaft nurbeschränkt hergestellt werden kann. Der Utilitaristkann sich schlicht keine Bewegungvorstellen, in der gleichzeitig das Glück allerverwirklicht wird. Abgesehen von der krudenAnnahme, Glück sei quantitativ messbar, habendiese Prämissen zur Folge, dass das Glück <strong>und</strong>das Leiden verschiedener Individuen, deren Interessenaufgr<strong>und</strong> ihrer Leidensfähigkeit moralischrelevant sind, gegeneinander abgewogenwerden müssen: das Glück eines Schweinsgegen das Leiden eines menschlichen Säuglings,das Leid eines kranken Menschen gegendas Leid des Versuchstiers <strong>und</strong> so weiter. Dieseperverse Rationalisierung der bürgerlichen Ge ­sellschaft kann niemandem als Leitfaden dafürdienen, die nichtmenschlichen wie die menschlichenTiere von ihrem gesellschaftlich erzeugtenLeid zu befreien. Zumal Singer auch –seiner Philosophie immanent – die Tötung oderNutzung von Tieren nicht gr<strong>und</strong>sätzlich ablehnt.Wesentlich ist für ihn, ob «die allgemeineGlücksbilanz stimmt» (Schmitz, S. 53), wieSchmitz in ihrer Einleitung zu Recht kritischbemerkt.Gary L. Francione, einer der historischen Vorreiterder rechtswissenschaftlichen Debatteüber den Ein- <strong>und</strong> Ausschluss von Tieren insRechtssystem, verwehrt sich gegen die – unteranderem von Peter Singer vorgenommene –Verknüpfung von Leidens- <strong>und</strong> kognitivemVermögen zur Begründung von Tierrechten.Für ihn bedürfe es «ausser der Empfindungsfähigkeitkeiner anderen geistigen Fähigkeit [...],um in die moralische Gemeinschaft aufgenommenzu werden» (Francione, S. 154). Im Widerspruchzu Singer gesteht Francione ein, dass«Tiere keinen inhärenten oder intrinsischenWert» in unserer Gesellschaft hätten, weil siede facto «Eigentum sind» (Francione, S. 160). Inletzter Instanz heiligt der ökonomische Zweck,der Profit etwa eines Tierversuchslabors wieLaboratory of Pharmacology and Toxicology (LPT), dieMittel, wie etwa Tierversuche an Mäusen, Ratten,Hamstern, Meerschweinchen, Kaninchen,H<strong>und</strong>en, Affen, Katzen, Schweinen, Fischen<strong>und</strong> Vögeln.Francione erklärt die bestehenden Eigentumsverhältnissenicht historisch-materialistisch, eruntersucht sie auch nicht in ihrer bürgerlichenBesonderheit oder analysiert im Anschluss daranebenso wenig, welcher Platz Tieren in derkapitalistischen Produktionsweise durch diegesellschaftliche politisch-ökonomische Praxiszugewiesen wird. Stattdessen behauptet er, dass«der Eigentumsstatus [der Tiere; C.S.] unmittelbarauf der Idee» der Menschen beruhe, «dassTiere – anders als Menschen – kein Interesse anihrem Leben haben, weil sie sich kognitiv vonuns unterscheiden» (Francione, S. 161), weil sie«als Eigentum der Menschen betrachtet werden»(Francione, S. 172, Herv. C.S.). Tiere würdenalso nicht unterdrückt, weil Menschen einspeziesistisches Vorurteil haben, sondern weilsie Tiere aufgr<strong>und</strong> ihres speziesistischen Vorurteils– der absoluten «kognitiven Differenz»(Francione, S. 161) – zu Eigentum machten. Mitdieser metaphysischen Begründung für Ausbeutungder Tiere durch die KapitalistInnentrennt Francione weniger von Singers Position,derzufolge die Ausbeutung von Tieren auf «einVorurteil oder eine Voreingenommenheit gegenüberWesen aufgr<strong>und</strong> ihrer Spezies» (Singer,S. 81) zurückzuführen sei, als seine radikalerscheinende Kritik auf den ersten Blick suggeriert.Francione konterkariert durch seinenRückfall in den Idealismus seine richtige <strong>und</strong>wegweisende Erkenntnis, dass die moralischeEinstufung der Tiere belanglos ist, solange sieEigentum – genauer müsste man sagen: Privateigentumder KapitalistInnen – sind.Tierrechte … Tom Regans Ansatz, Tieren universelleRechte zuzusprechen, weil sie «Subjekteines-Lebens»(Regan, S. 101) seien, war für diehistorische US-Tierrechtsbewegung bedeute nd,auch wenn er theoretisch kaum haltbar ist.«Subjekt-eines-Lebens» sind alle Lebewesen un ­abhängig ihrer Spezies, die Überzeugungen,Wünsche, Absichten <strong>und</strong> einen gewissen Zukunftsbezughaben. Unter dieser Vorausset­


zung hätten zumindest die meisten Säugetiereim fortgeschritten Alter unhintergehbare Rechte,wie das der körperlichen Unversehrtheit.Sue Donaldson <strong>und</strong> Will Kymlicka, zwei der derzeitaufgehenden Sterne am Himmel der Tierrechtsdebatte<strong>und</strong> der Human-Animal-Studies, gehtRegans Herleitung von Tierrechten aus den intrinsischenEigenschaften der Tiere nicht weitgenug. Sie formulieren in ihrem Essay, dass manzusätzlich zu den gemeinsamen Fähigkeiten«eine ganze Reihe von moralisch bedeutsamenpolitischen Beziehungen zwischen Menschen<strong>und</strong> Tieren in den Blick nehmen» müsse, «vondenen jede mit je eigenen, spezifischen Rechten<strong>und</strong> Pflichten verb<strong>und</strong>en ist» (Donaldson/Kymlicka, S. 582). Quelle der Tierrechte seienalso etwa «Beziehungen, die sich durch Zusammenarbeit<strong>und</strong> kollektive Selbstverwaltung,sowie Beziehungen, die sich aus früheren Interaktionenoder historischer Ungerechtigkeitergeben» (Donaldson/Kymlicka, S. 550).Aus diesen ergibt sich für die beiden Autor In nenunter anderem, dass domestizierte Tiere als«Mitbürger» mit Staatsbürgerschaft inklu sivealler «staatsbürgerlichen Rechte» (Donald son/Kymlicka, S. 552) <strong>und</strong> Pflichten in einem gemischtenpolitischen Kollektiv aus Menschen<strong>und</strong> Tieren zu behandeln seien. Tiergemeinschaftenzum Beispiel «wildlebender Tiere»(Donaldson/Kymlicka, S. 565) wiederum solltenals souverän betrachtet werden.Die Schwächen beider Ansätze liegen auf derHand. Individuen in bürgerlichen Gesellschaftenerhalten ihre Menschenrechte weder aufgr<strong>und</strong>biologisch-physischer, geistiger, emotionalerGemeinsamkeiten noch infolge ihrerpolitischen Beziehungen untereinander. Diesesind das Resultat (historischer) Klassenkämpfe.In den idealistischen Theorien Regans sowieDonaldsons <strong>und</strong> Kymlickas wird diese realegeschichtliche Genese des bürgerlichen Rechtsallerdings ausgeblendet. Ohnehin beeindru-cken die genannten TierrechtstheoretikerInnenim Band durch eine erstaunliche Ignoranzgegenüber kritischer Rechts- <strong>und</strong> Staatstheorie.Um das zu erkennen, muss man kein/e VerfechterInvon Paschukanis' Rechtstheorie, Marx’ Einschätzungendes bürgerlichen Nationalstaatsoder Hirschs Staatsableitungsthese sein.Der ökosozialistische Soziologie-Professor TedBenton etwa kritisiert Tom Regans moraltheoretischeBegründung für Tierrechte in seinemAufsatz mit einigen guten Argumenten. Erverweist darauf, dass die formale Existenz vonRechten in «kapitalistisch-liberalen Gesellschaften»(Benton, S. 499) auch bei Menschennicht dazu führt, dass diese auch wirklich ihreRechte wahrnehmen können, weil sie durch diepolitisch-ökonomischen Herrschafts- <strong>und</strong> Ausbeutungsverhältnisseunterminiert werden.Zu dem erklärt er, dass das bürgerliche Rechtdas Produkt eben jener historisch besonderenGesellschaften sei, deren Matrix sich dadurchauszeichnet, dass die Natur <strong>und</strong> Tiere keineRechtssubjekte sind <strong>und</strong> auch nicht sein können.Schliesslich sind sie weder Subjekte in derkapitalistischen Zirkulation noch sind sie inder Lage, Klassenkampf für sich zu führen.… <strong>und</strong> ihre Grenzen Den Horizont der bürgerlichenEthik <strong>und</strong> des Versprechens bürgerlicherEmanzipation, das heisst die Hoffnung auf die –ob nun durch Rechte oder andere Mechanismengestaltete – Integration der Tiere in die realex istierendeDemokratie, überschreitet kaum einerder AutorInnen des Bandes. Das Problem daranist: Positive Moralphilosophie scheitert, wo diereale politisch-ökonomische Praxis der Gesel l ­schaft beginnt. Ihre Einrichtung erlaubt esdem Einzelnen nicht, politisch nach ethischenErwägungen zu handeln. So gut sie auch gemeintist, soviel Emphase, Empathie, Wut <strong>und</strong>berechtigte Empörung in ihr steckt, bleibt siehohle Phrase, individualistisches Wunschdenken– eine stumpfe Waffe im Konflikt mit einerökonomisch, politisch <strong>und</strong> ideologisch hochgerüstetenherrschenden Klasse, deren Hegemoniesogar bis weit in die Linke hineinreicht,wenn es darum geht, ob das Schlachten beendetwerden soll oder nicht. Selbst die Integrationin die bürgerliche Demokratie, wie sie dieEliten unter den Frauen, Schwarzen <strong>und</strong> Homosexuellenerreicht haben, ist für Tiere nahezuausgeschlossen. Sie können sie weder in derAuseinandersetzung mit den Kapitalisten erkämpfennoch wäre sie für die Kapitalverwertung<strong>und</strong> die Herrschaft ähnlich funktional.Bürgerliche Emanzipation ist ein Widerspruchin sich.Eine den gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissenangemessene Moral überführte sichaufgr<strong>und</strong> der Einsicht in die eigene Ohnmachtder eigenen politischen <strong>und</strong> theoretischen Un ­zulänglichkeit. Politisch-ökonomische Gesellschaftstheorie<strong>und</strong> – darin inbegriffen – Ideologiekritikbildeten die Fluchtpunkte revolutionärerMoral, die sich ihrer eigenen Grenzenin einer Gesellschaft bewusst geworden ist.Der kategorische Imperativ – eigentlich einetheoretische Unmöglichkeit für historischeMaterialistInnen – besteht darin, alle Verhältnisseumzuwerfen, in denen Mensch <strong>und</strong> Tiererniedrigte, geknechtete, verlassene, verächtlicheWesen sind, <strong>und</strong> eine Gesellschaft einzurichten,in der Ethik nicht nur denk-, sondernauch umsetzbar wäre. Solange Moraltheorie,sei sie politisch oder juristisch, nicht derartüber sich hinaustreibt, sorgt sie dafür, dass diebestehende gesellschaftliche Totalität fortbestehenkann – mit den hinlänglich bekanntenFolgen für die arbeitende Klasse <strong>und</strong> die Tiere.Die vorliegende Rezension erschien erstmals auf:www.kritisch-lesen.de (Ausgabe 33 vom 1. Juli 2014)Christian Stacheseit 33 JahrenunangepasstANZEIGE


38 ― 39Die Einheit im Kampf um dieBefreiung von Mensch <strong>und</strong> TierRezension – Der in der Reihe theorie.org erschienene Band Antispeziesismus von Matthias Rude legt die linken Wurzelnder <strong>Tierbefreiung</strong>sbewegung frei. Das Buch lässt hinsichtlich der Verbindung der Kämpfe um die Befreiung vonMensch <strong>und</strong> Tier einige Fragen offen. Dennoch liefert es einen wertvollen Einstieg für die Entwicklung eines Dialogszwischen MarxistInnen <strong>und</strong> <strong>Tierbefreiung</strong>saktivistInnen.«Das Streben nach der Befrei ungder Tiere <strong>und</strong> der Wunsch, dieMenschheit zu emanzipieren,ve r folg e n k e i ne u nt e r s c h ie d l ic h ­en Zie le oder Interessen; sie lassensich nicht gegeneinander ausspielen,im Gegenteil gilt: <strong>Tierbefreiung</strong>ist Voraussetzung <strong>und</strong>Resultat der Emanzipation desMenschen» (S. 15). So die Gr<strong>und</strong>these des Buches Antispezies is musvon Matthias Rude – geboren1983, Studium der Philosophie<strong>und</strong> Religionswissenschaften inTübingen, aktiv in der AntispeziesistischenAktion Tübingen <strong>und</strong> «in der Linken» (Buchumschlag).Unter dem Begriff «Antispeziesismus» verstehtder Autor eine Theorie <strong>und</strong> Praxis, die sich gegenden Speziesismus, also gegen den «gesamtenKomplex von Vorurteilen gegenüber Tieren»,gegen ihre «Verdinglichung, Verachtung <strong>und</strong>grenzenlose Ausbeutung» richtet (S. 14). Er stelltdabei heraus, dass die «wesentliche Gr<strong>und</strong>lageder Tierausbeutung» nicht eine wie auch immergeartete «speziesistische Ideologie oder derMensch-Tier-Dualismus» ist, «sondern die kapitalistischeProduktionsweise» (S. 183). Er bietetdamit einen materialistischen Ansatz <strong>und</strong>beruft sich auf den Marxisten <strong>und</strong> <strong>Tierbefreiung</strong>saktivistenMarco Maurizi: «Wir beutenTiere nicht aus, weil wir sie für niedriger halten,sondern wir halten Tiere für niedriger, weil wirsie ausbeuten» (S. 183).So wie der Rassismus «als ideologische Rechtfertigungfür europäische Herrschaftsinteressenentstand, bildete sich der Speziesismus alsLegitimationsideologie für das Ausbeutungsverhältnisgegenüber Tieren» (S. 16). Sowohl demRassismus als auch dem Speziesismus fehlen«heute aus wissenschaftlicher Sicht vollkommendie Basis» (S. 16). Sie seien Konstrukte, umdie Herrschafts- <strong>und</strong> Ausbeutungsverhältnisseder kapitalistischen Gesellschaft im Sinne derHerrschenden aufrechtzuerhalten. Rude konstatiert:«Obwohl also die Entwicklung derProduktivkräfte inzwischen einen Stand erreichthat, der es ohne Weiteres ermöglichenwürde, auf die traditionell in der westlichenKultur verankerte Tierausbeutung <strong>und</strong> dasdamit verb<strong>und</strong>ene Leid zu verzichten, wird siefortgesetzt» (S. 13f).Sicherlich darf die Analogie zwischen den Bewegungendes Antirassismus (oder des Anti sexismus)<strong>und</strong> des Antispeziesismus nicht überbetontwerden. «Tatsächlich stehen aber dieIdeologien <strong>und</strong> Herrschaftsverhältnisse, gegendie sie sich richten, derart miteinander in Verbindung,dass die Bestrebungen zur Befreiungder Menschheit ihre Ziele nicht erreichen können,wenn sie ihren Blick vor der Unterdrückungder Natur verschliessen» (S. 17). Genau hiersieht Rude die linke, antikapitalistische Bewegunggefordert. Denn «eine Linke, die Tierausbeutungnicht thematisiert [...], setzt nicht ander Wurzel des Problems an <strong>und</strong> blendet einAusbeutungsverhältnis aus, auf welchem dergesamte kapitalistische Gesellschaftsbau <strong>und</strong>die Herrschaft des Menschen über den Menschenwesentlich gründen» (S. 16). Sie läuft Gefahr,die Radikalität ihrer Kritik einzubüssen<strong>und</strong> «muss sich daher jetzt der Frage stellen, obsie auch auf diesem Feld den Kampf aufnimmtoder es bürgerlichen Bewegungen überlässt,womit sie hinter diese zurückfallen <strong>und</strong> dieChance preisgeben würde, eine wahrhaft befreiteGesellschaft zu erreichen» (S. 18).Historische Beispiele Insgesamt beschränktder Autor seine inhaltliche Argumentation fürden Antispeziesismus allerdings stärker, alsdas ein Buch in der Reihe theorie.org erwartenliesse. Beispielsweise bleibt im Dunkeln, wasgenau unter dem Begriff «Tierausbeutung» zuverstehen ist <strong>und</strong> welche Formen diese in derheutigen Gesellschaft annimmt. Unklar bleibtebenso, wie eine Befreiung der Tiere konkretaussehen würde.Der Hauptteil des Buches bietet eine Art historischerAbriss, verb<strong>und</strong>en mit der Intention,die «zahlreichen Verbindungen <strong>und</strong> Wechselwirkungen»aufzuzeigen, die zwischen derTierrechts- <strong>und</strong> «der Arbeiter-, Frauen- <strong>und</strong>Friedensbewegung bestanden» (S. 11) <strong>und</strong> auchheute noch bestehen. Es ist eine Art Streifzugdurch die revolutionären Bewegungen des17. – 20. Jahrh<strong>und</strong>erts (bürgerliche Revo lu tionenin England <strong>und</strong> Frankreich, Abolitionismus-Be wegung in den USA, Pariser Kommune,deutsche ArbeiterInnenbewegung) – mit kurzenExkursen etwa in das zaristische Russland oderauch in den realen Sozialismus.Dabei stellt Rude heraus, «dass der Vegetarismus[...] als integrales Element revolutionärerTheorie dienen konnte» (S. 51). Genannt werdendabei u. a. Persönlichkeiten wie Benjamin Lay,Jean-Jacques Rousseau, Sylvester Graham, LewTolstoj, Louise Michel («die Rote Wölfin»),Bertha von Suttner, die 1898 mit der Veröffentlichungihres Buches «Schach der Qual» dieTierschlachtung <strong>und</strong> Tierexperimente anprangerte,<strong>und</strong> der Kommunist Friedrich Wolf.Als besondere Persönlichkeit hebt er RosaLuxemburg hervor. Rude schreibt: «Das DenkenRosa Luxemburgs ist bestimmt von einernatürlich empf<strong>und</strong>enen, gr<strong>und</strong>sätzlichen Verb<strong>und</strong>enheitmit allen fühlenden Wesen, mankann von einem Solidaritätskonzept sprechen,für das Speziesgrenzen keine Rolle spielen»(S. 114). Und: «Das Denken Rosa Luxemburgs»kann in Hinsicht auf die «Solidarität mit denUnterdrückten [...] egal, welcher Spezies sieangehören [...] tatsächlich visionäre Impulsegeben» (S. 110). Das besondere an Rosa Luxemburgsei das Bewusstsein, Tiere als Individuenwahrzunehmen: «Luxemburg bedient sicheiner Sprache, die frei von speziesistischenWendungen ist; Tiere nimmt sie keineswegs alsblosses Exemplar oder als Objekt von Studienwahr, im Gegenteil begegnen sie ihr stets alsIndividuen mit eigener Persönlichkeit» (S. 112).Am 7. Januar 1917 schreibt sie in einen Brief anHans Diefenbach: «Sie wissen, ich fühle <strong>und</strong>leide mit jeglicher Kreatur» (S. 115).Zu kritisieren ist an diesem historischen Abrissaber sowohl die eklektizistische Herangehensweise,als auch der Fokus auf eine reine Personen-<strong>und</strong> Ideengeschichte. Es gelingt demAutor, weder einen tatsächlichen «roten Faden»durch die Geschichte zu ziehen, noch die materiellen– sprich: ökonomischen – Ursachen fürdas Aufkommen einer Tierrechtsbewegung auf ­zuzeigen. Ein Kapitel, in dem Rude den «Ursprungder <strong>Tierbefreiung</strong>sidee» in dem sich entwickelndenKapitalismus lokalisiert, bleibt inden Ansätzen stecken (S. 28f). Und auch bei denPersönlichkeiten, die er aufzählt, scheint daseinzige Kriterium zu sein, dass sie sowohl imSinne der Tierrechtsbewegung als auch der ArbeiterInnen-,Frauen- bzw. Friedensbewegunggewirkt haben. Es werden allerdings auch Personenwie Gustav Struve, Clara Wichmann oderMagnus Schwantje <strong>und</strong> Gruppierungen wieder Internationale Sozialistische Kampfb<strong>und</strong> (ISK)oder die Lebensreformbewegung ge n a n nt ,ohne genauere politische Einordnung <strong>und</strong> Ein­


schätzung, ob sie tatsächlich progressiv in derArbeiterInnen-, Frauen- bzw. Friedensbewegunggewirkt haben.Moderne <strong>Tierbefreiung</strong>sbewegung Aufschlussreichist der abschliessende Teil, in dem sichder Autor der «modernen <strong>Tierbefreiung</strong>sbewegung» (S. 154) widmet, die Ende der 1960er-Jahre – getragen von der Kritischen Theorie(Frankfurter Schule) – einen Aufschwung er ­lebte. Diese Bewegung litt – nicht zuletzt auchwegen einer Entfremdung von der ArbeiterInnen-bzw. der kommunistischen Bewegung –an «Theorie armut» <strong>und</strong> Verbürgerlichung(S. 182). So kam es auch dazu, dass die Bewegungteil weise von rechtem Gedankengutinfiziert wurde: Beispiele sind die «Vernichtungsethik»Peter Singers (S. 164) oder Holocaust-Vergleicheà la Helmut F. Kaplan (S. 167).Gegen diese Tendenzen wendet sich die linke<strong>Tierbefreiung</strong>sbewegung, die sich seit Endeder 1990er-Jahre <strong>und</strong> verstärkt seit den letztenJahren formiert. Sie versteht sich zunehmendals antikapitalistisch <strong>und</strong> nimmt den Kampfgegen den Opportunismus in ihren eigenenReihen auf. Sie hat erkannt, dass es «ohne revolutionäreTheorie [...] keine revolutionäreBewegung geben» kann (S. 183) <strong>und</strong> dass esnicht allein um individuelle Konsumentscheidungengeht, sondern die Befreiung der Tierenur «gegen massive ökonomische Interessen»erkämpft werden kann (S. 188f).In diesem Kontext steht auch das hier rezensierteBuch: Zum Schluss nimmt der Autor die,in der Einleitung begonnene Argumentationwieder auf <strong>und</strong> verortet sie (<strong>und</strong> damit auchsich) in der linken <strong>Tierbefreiung</strong>sbewegung.Er stellt nochmals dar, dass der Kampf um dieBefreiung der Menschen <strong>und</strong> der Tiere in einerdialektischen Wechselwirkung stehen – «siesind eins» (S. 188). Es geht nicht um eine Bevorzugungdes einen oder des anderen Kampffeldes,wie das von linker Seite gerne unterstelltwird, sondern um die Einheit dieses Kampfes.«Wie die <strong>Tierbefreiung</strong>sbewegung notwendiganti kapitalistisch sein muss, kann die antikapitalistischeLinke die Forderung nach der Befreiungder Tiere nicht länger unbeachtet lassen.Zum Aufbau einer starken Bewegung, dieihrem Verlangen nach gesellschaftlicher BefreiungAusdruck verleihen will, wären beideideale Bündnispartner. Dazu muss die <strong>Tierbefreiung</strong>sbewegungaus dem Bann bürgerlicherIdeologie treten, <strong>und</strong> die Linke ihre Tierfeindlichkeitablegen» (S. 189).Fazit Es gelingt dem Autor zu zeigen, dass die<strong>Tierbefreiung</strong>sbewegung in ihrer Tradition«genuin links» (S. 185) ist, <strong>und</strong> «der Kampf fürTier befreiung stets auch ein Kampf für dieBefreiung des Menschen war <strong>und</strong> er sich, woer konsequent war, im Rahmen antikapitalistischer<strong>und</strong> sozial istischer Bestrebungen äus ­serte» (S. 185). Zu kurz kommt jedoch die Argumentation,warum es für die antikapitalistischeLinke ebenso notwendig ist, den Kampf fürdie Befreiung der Tiere mit einzuschliessen.Anders formuliert: Die dialektische Einheit desKampfes um die Befreiung von Mensch <strong>und</strong>Tier aus der kapitalistischen Ausbeutung wirdzwar mehrfach betont, aber weder ökonomi schgesellschaftlichnoch philosophisch-ideolo gischhinreichend belegt. Wünschenswert wäre beispielsweiseeine Argumentation der Thesen,«dass Naturbeherrschung Menschen beher r ­schung einschliesst» (S. 188), oder dass «<strong>Tierbefreiung</strong>[...] Voraussetzung <strong>und</strong> Resultat derEmanzipation des Menschen» ist (S. 15).Trotz der genannten Schwächen, würde ich dasBuch dennoch empfehlen – vor allem als Einstiegin die Beschäftigung mit der heutigen<strong>Tierbefreiung</strong>sbewegung. Dass dies sinnvoll ist,zeigen die Entwicklungen der letzten Jahre.In der <strong>Tierbefreiung</strong>sbewegung bewegt sicheiniges: Sie erkennt ihren antikapitalistischenCharakter <strong>und</strong> stösst auf der Suche nach revolutionärerTheorie zum <strong>Marxismus</strong> (so z. B.die Gruppe «Assoziation Dämmerung»). AlsMarxistInnen sind wir jetzt gefragt, ihnen dieHände zu reichen. Es geht darum, gegenseitigeVorbehalte abzubauen <strong>und</strong> anzufangen, in einenDialog zu treten. Dieses Buch bietet dahingehendzahlreiche Anknüpfungspunkte.Die vorliegende Rezension erschien erstmals in derZeitschrift Marxistische Blätter (4/2014, S. 140-143)Mark Hadyniak studiert ArchäologischeWissenschaften in Bochum. Er ist Redaktionsassistentbei den Marxistischen Blättern<strong>und</strong> veröffentlichte dort u.a. einen Artikel überdie Effizienz, Notwendigkeit <strong>und</strong> Konsequenzender modernen industriellen Tierproduktion.ANZEIGE


WW40 ― 40ANZEIGENetzwerkmonEin Gespräch mit Springer-Vstoph Keese über Venturdigitalen Sozialismus <strong>und</strong> dSilicon Valley. Außerdem:ist geglückt. Ein FotorepoDitsch <strong>und</strong> Katja KlüßenStaatsfeind»Man will uns der Streikmachtberauben.« Interview mitClaus Weselsky (GDL)Jetzt neu im NetzTürkei vor BürgerkriegDwww.jungewelt.deFeuertodFall Oury Jalloh: Neue Zweifel an derSelbstmordthese durch Untersuchungsbericht.Von Susan BonathREUTERSAbzockeStipendienfinanzierung in den USA:Gigantische Schuldenlast fürAkademiker. Von Rainer RuppGEGRÜNDET 1 947 · SONNABEND/SONNTAG, 11./12. OKTOBER 2014 · NR. 236 · 1,80 EURO · PVST A11002 · ENTGELT BEZAHLT2 4 9 12HeißhungerAmazon verleibtTeile desVon GertPolizei <strong>und</strong> Paramilitärs ermorden Dutzende kurdische Demonstranten. Verteidiger vonKobani fordern Hilfskorridor. Von Nick Braunser türkische StaatspräsidentRecep Tayyip Erdogan <strong>und</strong>Ministerpräsident Ahmet Davutogluriskieren mit ihrer Syrien-Politikzunehmend einen Bürgerkrieg imeigenen Land. Trotz Ausgangssperrenin mehreren kurdischen Provinzen<strong>und</strong> in den Innenstädten aufgefahrenerPanzer gingen am Freitag erneutH<strong>und</strong>erttausende Demonstrantengegen die Unterstützung der RegierungsparteiAKP für die Terrororganisation»Islamischer Staat« (IS) auf dieStraße. Polizei <strong>und</strong> Militär eröffnetenmehrfach das Feuer auf die Protestierenden.Dabei riefen Beamte nachAngaben kurdischer Medien Parolendes IS. Seit Dienstag kamen bei denProtesten nach Angaben von Innen-Efkan Ala 31 Menschen ums0 Menschen seientgenomendiesen Kräfewe-zogen die Dsfer <strong>und</strong> schgionen vDonnerstag in Diyarbakir – Militär gegen Demonstran

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