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Das Staunen über die Welt ist seit 300 Jahren aus der Mode.

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Sonntag, 10. August 2003<strong>Das</strong> <strong>Staunen</strong> über <strong>die</strong> <strong>Welt</strong> <strong>ist</strong> <strong>seit</strong><strong>300</strong> <strong>Jahren</strong> <strong>aus</strong> <strong>der</strong> <strong>Mode</strong>.Professor Lorraine <strong>Das</strong>ton bedauert daszutiefst - schließlich befasst sie sich mitWun<strong>der</strong>nVon Matthias HeineJournalProgrammServiceManchmal <strong>ist</strong> Schweigen eine vertrauensbildendeMaßnahme: "Geben Sie mir eine WocheVorbereitungszeit und sechs Stunden zum Reden -dann könnte ich Ihnen sicher einiges dazu sagen,"verweigert Professor Lorraine <strong>Das</strong>ton eine flotte Antwortauf <strong>die</strong> Frage, wie es geschehen konnte, dass <strong>die</strong> einsttechnologisch-rational so überlegene Kultur <strong>der</strong>arabischen <strong>Welt</strong> <strong>seit</strong> dem Mittelalter weit hinter denWesten zurückgefallen <strong>ist</strong>. Wenn ständig im Fernsehen"Experten" jedes gewünschte Menschheitsrätsel in nur20 Sekunden lösen, tut solche Aufrichtigkeit gut. Auchwenn <strong>der</strong> Interviewer nur das Schnaufen <strong>der</strong>Klimaanlage <strong>der</strong> tschechischen Botschaft an <strong>der</strong>Wilhelmstraße aufs Tonband bekommt. In dem Beton-Ufo resi<strong>die</strong>rt das Max-Planck-Institut fürWissenschaftsgeschichte als Mieter. Lorraine <strong>Das</strong>ton <strong>ist</strong>hier Direktorin.Im Gegensatz zu Peter Scholl-Latour und den an<strong>der</strong>enallzu ständigen Me<strong>die</strong>nplau<strong>der</strong>ern hat <strong>Das</strong>ton aber aucheinen Ruf zu verlieren. Die Direktion eines MPIentspricht in <strong>der</strong> akademischen <strong>Welt</strong> einem Posten imSpitzenmanagement eines Konzerns - da belastet manseine Reputation und seine knappe Zeit nicht mitvagem Gerede.Seit 1995 steht sie <strong>der</strong> Abteilung II des MPI vor, <strong>die</strong>"Ideale und Praktiken <strong>der</strong> Rationalität" erforscht. <strong>Das</strong>Angebot war ein glücklicher Zufall auch in privaterHinsicht: 1997 kam ihr Mann Gerd Gigerenzer nachBerlin, wo er nun den Bereich "Adaptives Verhalten undKognition" am ebenfalls in Berlin ansässigen MPI fürBildungsforschung leitet. Vorher hatten beideEhepartner in Chicago gelehrt und geforscht.<strong>Das</strong>ton, <strong>die</strong> Englisch, Deutsch, Französisch undGriechisch, <strong>die</strong> Sprache ihrer Vorfahren, beherrscht, <strong>ist</strong>mit Deutschland nicht nur durch <strong>die</strong>ses biographischeDetail verbunden: Ihre akademische Laufbahn führte sie


auch schon nach Konstanz, Bielefeld und Göttingen, wosie von 1990 bis 1992 das Institut fürWissenschaftsgeschichte leitete.Also fragen wir sie als nächstes etwas zu Deutschland -schließlich soll nicht noch mehr von <strong>der</strong> kostbarenhalben Stunde verloren gehen, <strong>die</strong> sie in ihrem dichtenTerminkalen<strong>der</strong> gefunden hat: Wie kommt es, dass einLand, das zu Beginn des letzten Jahrhun<strong>der</strong>ts aufNobelpreise und Grundlagenpatente nahezu abonniertwar, heute in <strong>der</strong> Forschung nur noch hinteresMittelmaß darstellt? "Wirklich schlagartig hat sich <strong>die</strong>Situation ab 1933 durch den Exodus deutscher undösterreichischer Wissenschaftler in <strong>die</strong> USA geän<strong>der</strong>t",sagt sie. "Man kann selten von einer so klaren Ursachereden, aber in <strong>die</strong>sem Falle schon. Dieser Bruch warkatastrophal für Deutschland und Österreich und für <strong>die</strong>USA ein Geschenk ohne Beispiel."Wissenschaftsgeschichte rührt also gen<strong>aus</strong>o an Fragenvon Leben und Tod wie jene H<strong>ist</strong>orie, <strong>die</strong> <strong>die</strong>Schlachten und Revolutionen zählt: "Ich interessiertemich für Mathematik und Astronomie, Geschichte undPhilosophie. Die Wissenschaftsgeschichte erlaubte mirschließlich, alles zu verbinden", erläutert <strong>Das</strong>ton <strong>die</strong>Wahl ihres Fachgebiets. Heute untersucht sie vor allem<strong>die</strong> psychologischen Grundlagen <strong>der</strong> Wissenschaft.Allein schon, dass es solche gibt und dass siemöglicherweise Einfluss auf "objektive"Forschungsergebnisse haben, bezweifeln mancheKollegen.Doch <strong>die</strong> 52-jährige <strong>ist</strong> keine Esoterikerin o<strong>der</strong>Predigerin eines kulturellen Relativismus, auch wennsie sich in ihren Büchern immer wie<strong>der</strong> mit "Wun<strong>der</strong>n"beschäftigt. "Verwirrend <strong>ist</strong>, dass <strong>die</strong> deutsche Sprachedasselbe Wort für zwei Begriffe benutzt, <strong>die</strong> in an<strong>der</strong>enSprachen unterschiedlich benannt werden. Dieübernatürlichen Wun<strong>der</strong>, lateinisch miracula genannt,können keine Wun<strong>der</strong> für <strong>die</strong> Wissenschaft sein. Danngibt es aber auch noch natürliche Wun<strong>der</strong>, mirabilia.<strong>Das</strong> sind Ereignisse, <strong>die</strong> selten und nur durch eine sehrkomplizierte und zufällige Verflechtung von Ursachenzu Stande kommen. Diese sind eine Her<strong>aus</strong>for<strong>der</strong>ungfür <strong>die</strong> Wissenschaft, weil sich <strong>die</strong>se sonst nur mitErklärungen für Regelmäßigkeiten befasst."In <strong>der</strong> frühen Neuzeit, das beschreiben <strong>Das</strong>ton und ihreHarvard-Kollegin Katharine Park in dem Buch "Wun<strong>der</strong>und <strong>die</strong> Ordnung <strong>der</strong> <strong>Welt</strong>" (Eichborn Verlag, 29,90Euro), gab es eine ganze Wissenschaft, <strong>die</strong> sich<strong>aus</strong>schließlich mit Wun<strong>der</strong>n beschäftigte. DieEntdeckungsreisen nach West und Ost, <strong>die</strong> Begegnungmit neuen Kulturen und Naturen hatten das <strong>Staunen</strong> als


wissenschaftliche Kraft entfesselt. Sehr zum Bedauernvon <strong>Das</strong>ton kam das <strong>Staunen</strong> <strong>seit</strong> dem 18. Jahrhun<strong>der</strong>twie<strong>der</strong> <strong>aus</strong> <strong>der</strong> <strong>Mode</strong>. Es wurde als einevorwissenschaftliche Emotion für Kin<strong>der</strong> und Laientabuisiert. Dabei spiele das <strong>Staunen</strong>, so <strong>Das</strong>ton,natürlich immer noch eine Rolle bei <strong>der</strong> Rekrutierungvon Wissenschaftlern: "Warum sonst sollte sich jemandeiner so anstrengenden Karriere unterwerfen, <strong>die</strong> ihn inLabors und Bibliotheken festhält?"Solche Grundlagen <strong>der</strong> Forschungspsychologiewechseln aber nicht nur von Epoche zu Epoche,son<strong>der</strong>n auch von Land zu Land. <strong>Das</strong> hat Lorraine<strong>Das</strong>ton in ihrem akademischen Leben selbst oft genugerfahren: In Amerika etwa sei es verpönt, biographischeDetails wie <strong>die</strong> Ehe mit einem Kollegen imakademischen Lebenslauf zu erwähnen. In Deutschlandwie<strong>der</strong>um sei eine Professorin, <strong>die</strong> eine mittlerweile 16-jährige Tochter erziehe, ohne ihre Karriereunterbrochen zu haben, immer noch ein Wun<strong>der</strong>.Wenn sie mal wie<strong>der</strong> über etwas ganz an<strong>der</strong>es staunenmöchte, geht Lorraine <strong>Das</strong>ton in eine <strong>der</strong> vier BerlinerOpern, wobei sie <strong>die</strong> Neuköllner Oper deutlichhervorhebt. Man kann <strong>die</strong>ses Interesse auch beruflichdeuten: Die Oper <strong>ist</strong> ja das einzige wun<strong>der</strong>bareMonstrum, das in <strong>der</strong> frühen Neuzeit geboren wurdeund bis heute Neugier erregt. Ebenso wenig überraschtihre Lieblingslektüre: Sie schätzt <strong>die</strong> englischen"Methaphysical Poets". Die Gruppe, zu <strong>der</strong> JohnDonne, George Herbert, Andrew Marvel und AbrahamCowley gehörten, versuchte zu Beginn des17. Jahrhun<strong>der</strong>ts <strong>die</strong> Naturwissenschaften mit <strong>der</strong>Dichtung zu verweben. Lorraine <strong>Das</strong>ton verschwendetganz offensichtlich auch in ihren Mußestunden keineZeit.© Berliner Morgenpost 2003

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