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Druckversion - Schulkritiker Gerald Hüther: "In jedem Kind steckt ein...http://www.spiegel.de/schulspiegel/wissen/kritik-am-schulsystem-huet...1 von 3 21.08.2012 17:5421. August 2012, 14:23 UhrSchulkritiker Gerald Hüther"In jedem Kind steckt ein Genie"Alle Kinder haben das Zeug zum Überflieger, sagt der Hirnforscher Gerald Hüther. Die meistenLehrer wissen nur nicht, wie sie das Genie aus ihren Schülern herauslocken sollen. DerSchulkritiker rät: weg mit Frontalunterricht, starren Lehrplänen und einem Schulsystem, dasaussortiert.<strong>SPIEGEL</strong> <strong>ONLINE</strong>: Sie behaupten, dass jedes Kind ein kleines Genie ist. Das meinen auch viele Eltern,die das Gefühl haben, dass der Einstein in ihrem Sprössling verkannt wird. Wollen Sie denen Mutmachen?Hüther: Ich möchte den Blick dafür öffnen, dass Kinder über viele verschiedene Potentiale verfügen unddass es nicht mehr oder weniger begabte Kinder und Jugendliche gibt. Daher ist es fragwürdig, sie in dreiverschiedene Schulformen aufzuteilen und ihren Begabungen entsprechend vermeintlich optimal zufördern.<strong>SPIEGEL</strong> <strong>ONLINE</strong>: Also doch eher ein Angriff auf das mehrgliedrige Schulsystem.Hüther: Viele Kinder fallen durch die Erbsensortieranlage, die unsere Schule geworden ist. Nach wie vorwird Begabung mit einer guten Schulnote verwechselt, nach wie vor stellen wir die analytisch-kognitivenFähigkeiten in den Mittelpunkt. Der eigentliche Schatz, den wir fördern müssten, ist die Begeisterung ameigenen Entdecken und Gestalten, das Tüftlertum, die Leidenschaft, sich mit etwas Bestimmtem zubeschäftigen. All das wird bei den Pisa-Tests gar nicht gemessen.<strong>SPIEGEL</strong> <strong>ONLINE</strong>: Sie wollen allen Ernstes kleine Eigenbrötler heranziehen?Hüther: Leidenschaftlichkeit und Individualität bedeuten nicht, dass jemand nicht mit anderenzusammenarbeiten kann. Gerade Teamfähigkeit kommt in unserem Schulsystem zu kurz.<strong>SPIEGEL</strong> <strong>ONLINE</strong>: Was machen die Lehrer denn falsch?Hüther: Die Lehrer können ja auch nichts dafür, dass unser Schulsystem so geworden ist. Doch inZukunft müssen wir Pädagogen dazu ausbilden, nicht primär Wissen zu vermitteln, sondern die in denKindern steckenden Talente zur Entfaltung zu bringen. Bisher ging man davon aus, dass diejenigen, dieMathe nicht können, dafür eben unbegabt sind. Es gibt aber kein Einstein-Gen.<strong>SPIEGEL</strong> <strong>ONLINE</strong>: Ist wirklich jeder zu jeder Leistung fähig?Hüther: Das Gehirn entwickelt sich so, wie man es mit Begeisterung benutzt. Ein Kind verliert die Lustan Mathe, wenn ihm jemand deutlich macht, dass es zu blöd dafür ist - und dann entwickelt es sich indiesem Fach auch nicht weiter.<strong>SPIEGEL</strong> <strong>ONLINE</strong>: Manche Schüler werden auch bei intensivster Nachhilfe die Differenzialgleichungnicht begreifen, für andere ist sie ein Kinderspiel. Und da sagen Sie, dass Begabung nicht vererbt wird?Hüther: Einige Kinder haben tatsächlich mehr Freude an analytischen Ansätzen, andere können sichbesonders gut in andere Menschen einfühlen. Es gibt Kinder, die vielleicht emotional nicht so sensibelsind, die gleichen das durch andere Fähigkeiten aus. Einstein soll so einer gewesen sein. Das kann mandann Begabung nennen - oder Kompensationsleistung.<strong>SPIEGEL</strong> <strong>ONLINE</strong>: Wer nicht mit anderen Leuten kann, ist dafür ein begnadeter Physiker? Das klingt,als würden Sie es sich ein bisschen einfach machen.Hüther: Dass es so ist, kann ich nicht beweisen. Allerdings kann man Rückschlüsse daraus ziehen, dassblinde Menschen oft einen sehr gut ausgeprägten Tastsinn haben. Auch Menschen ohne Arme könnenhervorragend mit den Zehen zeichnen lernen. Warum sollte sich nicht auch in den höheren geistigenBereichen eine Begabung durch eine Kompensation von etwas anderem entfalten?<strong>SPIEGEL</strong> <strong>ONLINE</strong>: Aber dann kann man als Lehrer viele Schüler doch zumindest in manchen Fächernabschreiben.


Druckversion - Schulkritiker Gerald Hüther: "In jedem Kind steckt ein...http://www.spiegel.de/schulspiegel/wissen/kritik-am-schulsystem-huet...von 3 21.08.2012 17:54Hüther: Genau mit dieser Einstellung sind auch die Kinder mit Trisomie 21 noch vor einigen Jahrenbetrachtet und als unbeschulbar abgeschoben worden. Selbst Experten hielten Menschen mitDown-Syndrom für schwachsinnig und unbegabt fürs Lernen. Jetzt haben die ersten Abitur gemacht undstudieren. Heute weiß man: Wofür sie tatsächlich unbegabt sind, ist Frontalunterricht. Sie sind aber sehrsensibel für eine Art Potentialentfaltungskunst. Es braucht jemanden, der ihnen nichts eintrichtern,sondern etwas aus ihnen herausholen will.<strong>SPIEGEL</strong> <strong>ONLINE</strong>: Sie arbeiten gerade den Masterstudiengang "Potentialentfaltungscoach" aus. Waswird ein solcher Coach anders machen als ein herkömmlicher Lehrer?Hüther: Er müsste jeden Schüler für etwas begeistern können, was dem auf den ersten Blick egal ist.Die Hirnforschung bestätigt: Sobald sich Schüler für etwas interessieren, eignen sie sich das Wissen insehr kurzer Zeit an, und dann bleibt es auch hängen. Denn nur dann werden im Hirn die Botenstoffeausgeschüttet, die die Stabilisierung von neuen Netzwerken fördern. Ein Potentialentfaltungscoachmüsste auch in der Lage sein, aus einem zusammengewürfelten Haufen ein leistungsorientiertes Team zumachen. Dann würden zum Beispiel in einer neunten Klasse alle unbedingt verstehen wollen, wie diePhotosynthese funktioniert.<strong>SPIEGEL</strong> <strong>ONLINE</strong>: Das sind ja hohe Ansprüche. Und die Kinder würden all das Wissen, das sie sichselbst erarbeitet haben, auch wirklich behalten?Hüther: Genau. Heute wissen junge Menschen schon zwei Jahre nach dem Abi nur noch zehn Prozentvon dem, was sie in der Schule gelernt haben, das ist doch verrückt. Wir müssen 100 Prozent anstreben.<strong>SPIEGEL</strong> <strong>ONLINE</strong>: Wie soll das gehen - bei so viel Stoff?Hüther: Die Schüler müssen sich auf das Wesentliche konzentrieren können. Wenn das meiste eh wiedervergessen wird, könnte man die Schuldauer ruhig um noch zwei Jahre verkürzen. Die Frage ist nicht, wielange jemand lernt, sondern was. Und ob er dabei die Lust aufs Weiterlernen nicht verliert.<strong>SPIEGEL</strong> <strong>ONLINE</strong>: An der Frage der inneren Motivation arbeiten sich Pädagogen schon seit Jahrzehntenab. Gescheitert sind sie meistens an den Lehrplänen, die sie nun mal erfüllen müssen.Hüther: Man müsste sich stärker von den Interessen der Schüler und weniger von kultusministeriellenVorgaben leiten lassen. Wenn man als Jugendlicher spürt, was man alles entdecken und gestalten kann,wächst das Bedürfnis, noch mehr zu entdecken und zu gestalten.<strong>SPIEGEL</strong> <strong>ONLINE</strong>: Sie arbeiten schon lange daran, die Erkenntnisse der Hirnforschung in die Schulweltzu tragen und müssen doch konstatieren: Unser Schulsystem hat versagt. Verbittert Sie das nicht?Hüther: Für das vergangene Jahrhundert war dieses System sicher richtig, aber die Welt ist eben nichtmehr dieselbe. Ich bin optimistisch, dass sich das nun auch in der Öffentlichkeit herumspricht und dienotwendigen Veränderungen eingefordert werden. Wie schnell das gehen kann, hat uns derZusammenbruch der DDR gezeigt, daran hätte vorher auch keiner geglaubt. Ich glaube, dass es in sechsJahren Schule, wie wir sie kennen, nicht mehr geben wird. Wir können es uns einfach nicht mehr leisten,Schüler durch Systeme zu schleusen, wo sie genau das verlieren, was sie für ihre Zukunft dringendbrauchen: Leidenschaft, Eigenverantwortung und Lust, die Welt gemeinsam zu gestalten.Am 2. September ist Gerald Hüther als erster Gesprächspartner des Philosophen Richard David Precht indessen Debütsendung "Precht" (ZDF) zu Gast. Thema: "Skandal Schule - Macht lernen dumm?"Das Interview führte Christian BleherURL:http://www.spiegel.de/schulspiegel/wissen/kritik-am-schulsystem-huetherwill-gymnasium-und-lehrplaene-abschaffen-a-850405.htmlMEHR AUF <strong>SPIEGEL</strong> <strong>ONLINE</strong>:Emanzipation: Erst die Kinder, dann die Karriere (20.08.2012)http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,851069,00.htmlMädchen im Mensa-Verein: Club der Superhirne nimmt Vierjährige auf (13.04.2012)http://www.spiegel.de/schulspiegel/wissen/0,1518,827355,00.htmlWirtschaftspreis für Schüler: Elfjähriger schreibt Rettungsplan für Griechenland(03.04.2012)


uckversion - Schulkritiker Gerald Hüther: "In jedem Kind steckt ein...http://www.spiegel.de/schulspiegel/wissen/kritik-am-schulsystem-huet...von 3 21.08.2012 17:54http://www.spiegel.de/schulspiegel/leben/0,1518,825604,00.htmlHochbegabter Randaleschüler: IQ 139, und keiner hat's gemerkt (22.12.2010)http://www.spiegel.de/schulspiegel/wissen/0,1518,735969,00.htmlDoktorand mit 18: Das Wunder von Halle (22.06.2010)http://www.spiegel.de/unispiegel/jobundberuf/0,1518,695952,00.htmlMathematik: Mädchen können's genauso gut (06.01.2010)http://www.spiegel.de/schulspiegel/wissen/0,1518,670460,00.htmlDeutsches Schulsystem: "Wer das Gymnasium abschaffen will, wird abgewählt"(17.12.2008)http://www.spiegel.de/schulspiegel/wissen/0,1518,596734,00.htmlWindeln, Welt und Wissen: "Jedes Kind ist begabt" (05.12.2008)http://www.spiegel.de/schulspiegel/wissen/0,1518,594320,00.htmlHochbegabte Kinder: Das Genie spielt Geisterschach (29.03.2007)http://www.spiegel.de/schulspiegel/leben/0,1518,474415,00.html© <strong>SPIEGEL</strong> <strong>ONLINE</strong> 2012Alle Rechte vorbehaltenVervielfältigung nur mit Genehmigung der <strong>SPIEGEL</strong>net GmbH

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