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Albert Gier - Das Libretto - Theater Ulm

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<strong>Albert</strong> <strong>Gier</strong>Giuseppe Verdis Librettisten und die Weltliteratur (Auszug)Giuseppe Verdi komponierte zwischen 1839 und 1893 26 Opern und arbeitete mit einemrunden Dutzend Librettisten zusammen. Nur zwei frühe Textbücher – I lombardi alla primacrociata (1843) und Il corsaro (1848) – basieren auf narrativen Vorlagen, in der Regelwurden Schauspieltexte (rund zwanzigmal), selten ältere Libretti adaptiert. Gegenüber derZeit Rossinis und Bellinis hat sich der literarische Geschmack deutlich verändert: Nur in denvierziger Jahren greifen die Textdichter noch gelegentlich auf die früher so beliebtenTragödien Voltaires (Alzira, Text von Salvatore Cammarano, 1845) oder auf Produktefranzösischer Boulevard-Autoren zurück (Nabucco von Temistocle Solera nach Anicet-Bourgeois und Cornue, 1842). Jetzt erobert das romantische Drama die Opernbühne:Zwischen 1828 (Amy Robsart) und 1838 (Ruy Blas) bringt Victor Hugo acht <strong>Theater</strong>stückezur Aufführung; die Reihe der Opernadaptationen beginnt 1833 mit Lucrezia Borgia vonFelice Romani und Donizetti, für Verdi schreibt Francesco Maria Piave 1844 ein <strong>Libretto</strong>nach Hernani und 1851 Rigoletto nach Le roi s'amuse.Hugo und die Romantiker liefern den Librettisten nicht nur neue Stoffe; in bewußterAbgrenzung gegen die klassizistische Tragödie begründen sie eine <strong>Theater</strong>ästhetik, die dem inder librettistischen Praxis seit den Anfängen der Gattung Verwirklichten erstaunlichnahekommt. Während im 17. und 18. Jahrhundert narrative Werke (z. B. die Ritterromane)oder eine nicht notwendig an konkrete Texte gebundene, aber jedenfalls narrativ zu denkendeliterarische Tradition (z. B. im Bereich der antiken Mythologie) als Stoffreservoir für dieLibrettisten wichtiger waren als die dramatische Literatur, wird jetzt das romantischeDrama, als Gattung wie als Typus, zum zentralen Bezugspunkt: Der Begriff des„Romantischen“ wird so weit gefaßt, daß die Ursprünge bis zu Shakespeare (oder überihn hinaus) zurückreichen; die unter romantischen Prämissen gelesenen Dramen desEngländers zählen dann zu den beliebtesten Opernvorlagen, während die Librettisten des18. Jahrhunderts nur ganz vereinzelt auf seine Werkezurückgriffen.Giuseppe Verdi hat drei Libretti nach Shakespeare undvier nach Friedrich Schiller vertont, der zumindest imtypologischen Sinn ebenfalls ein romantischer Autor ist;rechnet man neben den bei den Hugo-Adaptationen I dueFoscari (Text von Piave nach Byron, 1844), Attila (Textvon Solera und Piave nach Zacharias Werner, 1846) unddie drei Libretti nach spanischen Vorlagen hinzu, danngeht mehr als die Hälfte der von Verdi vertontenTextbücher auf romantische Dramen zurück. Die neuenModelle erzwingen nun aber keineswegs eine neueDramaturgie oder formale Gestaltung der Libretti: DieKontinuität von Rossi und Romani bis zu Piave undselbst Boito ist unübersehbar. Die Adaptation vonSprechstücken ist problemlos möglich, weil sich dasSchauspiel auf das <strong>Libretto</strong> zubewegt hat, nicht umgekehrt.Die Affinität des romantischen Dramas zum <strong>Libretto</strong> mag auch ein Grund dafür sein, daß um1850 die Tradition der komischen Oper in Italien wie in Frankreich abbricht (von Parisausgehend tritt dann die Operette an ihre Stelle): Ziel Victor Hugos (der hier an ÜberlegungenDiderots anknüpft) war ja gerade, Komödie und Tragödie in der Einheit des drameaufzuheben, das ganz wie im wirklichen Leben Ernstes und Heiteres, Sublimes und Groteskesnebeneinander darstellen sollte. Obwohl die von Hugo bevorzugten scharfen Kontrastezwischen Komik und Pathos in den <strong>Libretto</strong>-Bearbeitungen meist gemildert werden, verliert1Francesco Maria Piave


so die Buffa als eigenständige Subgattung ihre Existenzberechtigung. Verdi schrieb, andersals Rossini oder Donizetti, nach Un giorno di regno (1840) keine komische Oper mehr; daßsich dieses Faktum eher mit dem Einfluß der romantischen Ästhetik als durchpsychologisierende Spekulationen erklären läßt, zeigt sich daran, daß der Komponist späterFalstaff, also eine Figur, die Sublimes mit Groteskem verbindet, zum Protagonisten einer„lyrischen Komödie“ wählte.Es ist allgemein bekannt, daß Verdi stets maßgeblichen Einfluß auf die Gestaltung der Librettinahm: Häufig entwarf er selbst das Szenar und schrieb den Handlungsverlauf bis ins Detailvor; auch bei der formalen Gestaltung (Art und Zahl der Verse) war seinen WünschenRechnung zu tragen. <strong>Das</strong> sagt natürlich primär etwas über Verdis Selbstverständnis alsKünstler (und über seine Stellung im <strong>Theater</strong>betrieb) aus, zugleich wird aber einekultursoziologisch relevante Entwicklung greifbar: Während in Paris Komponist undLibrettist einer neuen Oper von der <strong>Theater</strong>direktion engagiert werden, ergeht in VerdisItalien der Auftrag allein an den Komponisten, der dann einen Textdichter zu wählen (undspäter für seine Arbeit zu bezahlen) hat. Offenbar wird der Anteil des Librettisten am Erfolgeiner Oper inzwischen als unbedeutend eingeschätzt. Andererseits ist die Aufmerksamkeit,die Verdi allen Aspekten des Opernbuchs widmete, ein Indiz dafür, daß immer nochwesentliche kompositorische Entscheidungen im Text vorweggenommen sind. So legt derLibrettist durch die Wahl einer bestimmten Versform die rhythmische Struktur der Musikmehr oder weniger fest. Dadurch ist er einerseits weniger frei in der formalen Gestaltung alsder Autor eines Versdramas oder eines anderen nicht zur Vertonung bestimmten Textes,andererseits schränkt er selbst die Freiheit des Komponisten nicht unwesentlich ein.Hier liegt ein Problem, das im 17. und 18. Jahrhundert vermutlich deshalb nichtwahrgenommen wurde, weil die Möglichkeit individuellen Ausdrucks durch Stil- undGattungskonventionen eingeschränkt war: Ein routinierter Librettist beherrschte nicht nur denliterarischen, sondern auch den musikalischen Code und vermochte daher den Bedürfnissenund Erwartungen seines Komponisten ebenso gerecht zu werden, wie ein gebildeter Musikerdie poetologischen Regeln kannte und bei der Textvertonung berücksichtigte. DieGenieästhetik des späten 18. Jahrhunderts ersetzt den überindividuellen Maßstab derästhetischen Normen durch das Postulat der Subjektivität: Die innere Wirklichkeit der Erlebnisse,Empfindungen und Gedanken wird zum Stoff, für den es die angemessene Form zu(er)finden gilt. <strong>Das</strong> so definierte Kunstwerk kann aber nur Ausdruck einer Individualität sein;die Zusammenarbeit zweier, notwendigerweise verschiedener Individuen wird damit vonvornherein prekär: Schon Mozart betrachtete ihr Gelingen als seltene Ausnahme.Ein möglicher Ausweg aus dem Dilemma wäre, daß der Librettist sich dem Komponistengänzlich unterordnete; nicht nur die Oper, auch das <strong>Libretto</strong> würde dadurch in der Tat zumAusdruck einer Individualität, nämlich derjenigen des Musikers, der die Rolle des Dichterszumindest partiell usurpierte. Trotz bedeutender Unterschiede, die sowohl durch nationaleund lokale Operntraditionen wie auch durch Persönlichkeit und Prestige einzelner Künstlerbedingt sind, wird man sagen können, daß massive Einflußnahme des Komponisten auf denOperntext etwa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die Regel ist; die These, in einer Oper seider Komponist der Dramatiker, trifft z. B. auf Giuseppe Verdi insofern zu, als man ihn mitFug und Recht als den eigentlichen Urheber der von ihm vertonten Libretti betrachten darf.Die zentrale Bedeutung des <strong>Libretto</strong>s innerhalb der plurimedialen Kunstform Oper bleibt voneiner Degradierung des Librettisten zum Erfüllungsgehilfen des Komponisten selbstverständlichunberührt.Freilich sind nur wenige Komponisten zugleich dramatische Dichter; so erklärt sich dieVorliebe für Stoffvorlagen wie die Dramen Victor Hugos, deren opernnahe Dramaturgie nurverhältnismäßig geringfügige Änderungen nötig macht. Giuseppe Verdi schrieb begeistert anPiave, bei einer Adaptation von Le roi s'amuse könne wie bei Ernani überhaupt nichtsschiefgehen; in der Tat konnte der Handlungsverlauf des Schauspiels fast unverändert2


leiben. Der einzige gravierende Eingriff wurde von der Zensurbehörde veranlaßt: Zu Beginndes zweiten Aktes durfte der Herzog Gilda nicht in sein Schlafzimmer verfolgen.In Victor Hugos Dramaturgie der „szenisch erschlossenen Konstellation“ stellen die einzelnenAkte in sich geschlossene Einheiten dar, die kontrastierend gegeneinandergesetzt werden: Sozeigt der erste Akt von Le roi s'amuse Triboulet in seiner öffentlichen Rolle am Hof desKönigs, während der zweite Akt sein Privatleben (die Beziehung zu Gilda) beleuchtet. <strong>Das</strong>Drama wird dadurch zu einer Folge weitgehend statischer Bilder; statt nun aber den lyrischenGrundzug in Hugos Gesamtwerk oder sein „nahezu ausschließlich optisches Verständnis des<strong>Theater</strong>s“ als „undramatisch“ zu tadeln, sollte man die diskontinuierliche Zeitgestaltungseiner Dramen aus der Opposition zur aristotelischen Tragödie und der Analogie zurDramaturgie des <strong>Libretto</strong>s zu verstehen suchen.Freilich dürfte Hugo eher als vom <strong>Libretto</strong> selbst von der (ihrerseits opernähnlichen) Gattungdes Melodrams beeinflußt sein, von der sich das romantische Drama nun allerdings inzweifacher Hinsicht unterscheidet: Zum einen ersetzt Hugo die moralische Antithese von Gutund Böse durch den Gegensatz zwischen den ästhetischen Kategorien Schön (Sublim) undHäßlich (Grotesk), zum anderen verlagert er den Konflikt, der im populären Melodramzwischen den verschiedenen Figuren ausgetragen wird, ins Innere seiner Protagonisten – diesublime Vaterliebe des grotesken Narren Triboulet ist ein schlagendes Beispiel dafür. ImExtremfall löst sich der Charakter einer Figur in eine komplexe Vielfalt unterschiedlicher, jawidersprüchlicher Empfindungen und Stimmungen auf; solche innere Zerrissenheit aber isteinerseits ein markanter Wesenszug vieler Opernfiguren seit dem 17. Jahrhundert und stimmtandererseits sehr viel besser als monolithische Zielstrebigkeit zu den psychologischenVorstellungen, die Kunst und Wissenschaft im Verlauf des 19. Jahrhunderts entwickeln.Die Figur des Herzogs in Rigoletto gilt als Beispiel dafür, daß sich die Tendenz, einenCharakter auf eine inkohärente Folge flüchtiger Befindlichkeiten zu reduzieren, in einerOpernadaptation fast notwendigerweise verstärkt: Sein Vorbild Francois 1 er ist ein zynischerVerführer, der bei den Frauen, auch bei Blanche (Piaves Gilda), nur sein Vergnügen sucht.Der Herzog dagegen scheint zumindest in der Arie „Parmi veder le lagrime“ ein tieferesGefühl für Rigolettos Tochter zum Ausdruck zu bringen, was ihn freilich nicht daran hindert,im Schlußakt voll Inbrunst um Maddalena zu werben. Nun ist Piave, wie schon vorher inErnani, durchgehend bemüht, das unvermittelte Nebeneinander von Komik und Pathos inHugos Drama in eine einheitlichere Stimmung zu überführen, vermutlich deshalb, weil sichdie stilistische Heterogenität der Vorlage mit den musikalischen Mitteln des Ottocento nichthätte darstellen lassen. Beim Rendezvous des Herzogs mit Gilda fehlt folglich die habgierigeDame Berarde, die sich bei Hugo von dem hinter einem Baum versteckten König für jedeSchmeichelei bezahlen läßt, mit der sie Blanche für ihn einzunehmen sucht; und vor allementhüllt der Herzog im Liebesduett seine Falschheit nicht selbst durch einbeiseitegesprochenes „Elle est prise!“. Andererseits scheint es auffällig, daß der Herzog seineGefühle für Gilda in der konv.entionellen Form einer zweiteiligen Arie zum Ausdruck bringt,obwohl sich Librettist und Komponist in Rigoletto von den Zwängen, die sich aus derstrengen Hierarchie innerhalb der „Compagnia di canto“ ergeben, schon weitgehendfreigemacht haben. Daß sie gerade hier dem alten Schema folgen, mag als Indiz dafür zuwerten sein, daß die Leidenschaft des Herzogs, obwohl aufrichtig (daß er Gilda in demAugenblick am meisten liebt, da er glaubt, sie verloren zu haben, ist psychologisch stimmig),nicht von Dauer sein kann; in diesem Fall wäre der Unterschied zwischen Francois 1 er unddem Herzog kaum der Rede wert.In Victor Hugos Dramen führt die Sprache ein Eigenleben: Einerseits verselbständigen sichhandlungsrelevante Reden zu epischen (das heißt statischen) Monologen wie den 88Alexandrinern Saint-Valliers; andererseits ist den Figuren jede Gelegenheit recht, ihren Witzund ihre Schlagfertigkeit unter Beweis zu stellen. So gibt die angebliche Maitresse Tribouletsden Hofleuten Anlaß zu 38 Versen lebhafter Wechselrede; Piave reduziert die Passage auf3


acht Verse, ohne daß irgend etwas an Information verlorenginge. In Hugos Wortkaskadenkommt das Geschehen zum Stillstand, ähnlich wie in den Arien und Ensembles der Nummernoper.Allerdings läßt sich die „Nummernfolge“ des Dramas nicht ohne weiteres in die Operübertragen: So konnte Saint-Valliers großer Monolog nicht zu einer Arie werden, denn einesolche Nummer hätte den Rahmen der Ensemble-Szene gesprengt und wäre im übrigen mitder Stellung der hier Monterone genannten Figur in der Rollenhierarchie unvereinbargewesen. Andererseits entwickelt Piave aus anderthalb Versen Hugos Gildas Arie „Caronome che il mio cor“. Die großen Tiraden Triboulets haben sämtlich eine Entsprechung im<strong>Libretto</strong>; für den Herzog dagegen wurden drei Solonummern neu eingeführt, obwohl Francois1 er bei Hugo keinen einzigen größeren Monolog hat.Der Sinn des <strong>Libretto</strong>s (wie des Dramas) erschließt sich über ein komplexes Gefügeparadigmatischer Beziehungen: <strong>Das</strong> erste Bild stellt der Arroganz des Herzogs und seinesGünstlings Rigoletto den ohnmächtigen Zorn Monterones (und der Hofleute) gegenüber. DerHofnarr hat einerseits Anteil an den Ausschweifungen seines Herrn, andererseits ist er absolutunfrei, da den Launen des Herzogs unterworfen, während dieser selbst absolut frei ist. Nun istRigoletto, das wird im zweiten Bild deutlich, nicht nur Hofnarr, sondern auch Vater; seineTochter Gilda verkörpert die natürliche Aufrichtigkeit spontanen Gefühls, die mit der dekadentenSphäre des Hofes (des Herzogs) kontrastiert. <strong>Das</strong> private Glück Rigolettos wirddadurch zerstört, daß erst der Herzog, dann die Hofleute in den Bereich familiärer Intimitäteindringen, den er sich bisher zu bewahren vermochte. Am Ende des ersten Aktes entstehteine neue Opposition: Der Herzog und die Hofleute, die ihm Gilda zuführen, stehen Rigolettogegenüber, der sich seinerseits mit Monterone solidarisiert.Während Monterone im Namen der Gerechtigkeit gegen das vom Herzog begangene Unrechtprotestiert, steht Rigolettos Rache im Zeichen des Gegensatzes zwischen Macht undOhnmacht: Obwohl er nichts und der Herzog alles vermag, unternimmt er es, seinen Herrn zuvernichten. Daher sein Stolz, als er sich am Ziel glaubt:Ora mi guarda o mondo ...Quest'e un buffone, ed un potente e questo! ... (III. Akt, 9. Szene)[Jetzt schau mich an, Welt ... / <strong>Das</strong> hier ist ein Narr, und das da ein Mächtiger!]Rigoletto setzt Unrecht (Mord) gegen Unrecht. Der Machtlose, der dem Repräsentanten derStaatsgewalt nach dem Leben trachtet, muß sich mit der illegitimen Macht, mit demBerufsverbrecher Sparafucile, verbünden. Durch sein Handeln stellt sich der Hofnarr nun aberauch in Gegensatz zu Gilda, d{e ihrerseits die erfahrene Kränkung verzeiht und bereit ist, fürden Verführer ihr eigenes Leben zu opfern. Der erste Akt der Oper war von der OppositionRigoletto – Monterone, der zweite von der Opposition Rigoletto – Duca bestimmt; im letztenAkt verursacht die Opposition Rigoletto – Gilda die finale Katastrophe.4

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