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„Materialien zu Über Jungs“ [PDF-Datei - 888 KB] - GRIPS Theater

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Materialien <strong>zu</strong>Über JungsEin <strong>Theater</strong>stück von David Gieselmannfür Menschen ab 14 Jahren


2»über jungs«


»über jungs«Liebe Leserin, lieber Leser!was ist in einem Stück »Über Jungs« <strong>zu</strong> erzählen? Es muss um Rollenbilder gehen, Geschlechterdifferenzen, um die Frage der richtigen Erziehung, psychische (und physische) Gewalt, um Sexualität, die Anfechtungen der Pubertät, um Vater-­‐Sohn-­‐Beziehungen (die Mutter nicht <strong>zu</strong> vergessen! und natürlich muss es auch um Mädchen gehen!), Gefühle müssen vorkommen, aufbrechende und unterdrückte, die Suche nach sich selbst und die Rolle der Gemeinschaft. Für die Arbeit an diesem Vorhaben hat das <strong>GRIPS</strong> <strong>Theater</strong> den Autor David Gieselmann gewonnen, der das Stück geschrieben und im Dialog mit dem Ensemble und Regisseurin Mina Salehpour weiter entwickelt hat. Gieselmann ist Komödienautor und schon deshalb ist sein Stück kein »Problemstück« über das Thema »Jungs« geworden, sondern eine an Pointen reiche Spielvorlage über das Aufeinandertreffen verschiedener Jugend-­licher, ihre Statusspiele, Wortwitzeleien, Grenzverlet<strong>zu</strong>ngen und Selbsterprobungen. Die Situation ist ein Antiaggressionstraining, der (Spiel)Ort eine Küche, über deren zivilisierende Funktion der Gastroethnologe Sebastian Schellhaas sinnfällig schreibt: »Was beim Kochen passiert ist, dass die rohe Natur, das Wilde, Unordentliche und Unkontrollierte in den Bereich der Kultur, der Ordnung und der Kontrolle überführt wird.« Welche »Erfolgsaussichten« ein Kochkurs als dreitägige »Maßnahme« im wirklichen Leben hat, kann man diskutieren (tatsächlich gibt es auch da<strong>zu</strong> Erfahrungen (siehe Seite 32)). Auf der Bühne führt er Jugendliche aus unterschiedlichen Milieus <strong>zu</strong>sammen, mit denen das Publikum in den Worten von Regisseurin Salehpour sich »totlachen, vielleicht weinen, was erleben« kann. (siehe Seite 8) »Über Jungs« ist ein Text für' s <strong>Theater</strong>; dass Gieselmann gleichzeitig mit seinen Kunstfiguren die Wirklichkeit spiegelt, hat uns Oliver Lück bestätigt, Anti-­‐Aggressivitäts-­‐Trainer und Buchautor <strong>zu</strong>m Thema Jugendgewalt (siehe Seite 14). Und obwohl sich das Stück nicht an einem Themenkatalog abarbeitet, klingen natürlich viele der eingangs erwähnten Bereiche und Motive an. Für das Gespräch, die Vor-­‐ und Nachbereitung auch mit praktischen Übungen, haben wir Informationen, weiterführende Texte und Anregungen für die Unterrichtsgestaltung in diesen »Materialien« <strong>zu</strong>sammengestellt. Viel Spaß beim Lesen und Probieren. Nora Hoch & Winfried Tobias (<strong>Theater</strong>pädagogin) (Dramaturg) 3


»über jungs«InhaltsverzeichnisLiebe Leserin, lieber Leser! 3Beset<strong>zu</strong>ng der Uraufführung 6Zu »Über Jungs« 7»Ich will, dass man diese Jungs mag!« 8Manowar – Heart of Steel 9Kapitel 1: (Jugend)Gewalt 11Hartnäckingkeit statt Härte 12 Interview mit dem Anti-­‐Aggressivitäts-­‐Trainer und Autor Oliver Lück 14 Der »Zauberstab der Gewalt« 16 Kapitel 2: Pubertät als Baustelle 17Die Psychologische Situation von Jungen in der Pubertät Das Gehirn ist eine Baustelle 18 22 Kapitel 3: Emotionen kochen hoch 25Küchenrituale Raaaah! Warum essen Mädchen Salat und Jungen Fleisch? Schüler initiierte Kochkurs mit gewaltbereiten Jugendlichen 26 28 30 32 Kapitel 4: Männerbilder/ Frauenbilder 33Das verteufelte Geschlecht Geschlecht = Sex + Gender »Schwul« Sind Frauen teamfähiger als Männer? Der kalte Krieg am heißen Buffet Jungen – die neuen Sorgenkinder? 34 38 39 40 41 42 Kapitel 5: Die Gruppe und ich 43Rollen in Gruppen Die Lust an der Selektion – Ein Medienwissenschaftler erklärt den Reiz von DSDS Was beschäftigt die Jungen am meisten? 44 45 47 4


»über jungs«Kapitel 6: Anregungen für den Unterricht in 4 Modulen 49Allgemeine Gesprächsanregungen Kleine Tipps <strong>zu</strong>m <strong>Theater</strong>spielen im Klassenzimmer Modul 1: Anti-­‐Agressions-­‐Übungen Modul 2: Gruppe und Status Modul 3: Über Jungs und über Mädchen Modul 4: Schreibwerkstatt <strong>zu</strong>m Stück 50 50 51 54 55 56 Links und Adressen 58Dank und Impressum 595


»über jungs«Beset<strong>zu</strong>ng der UraufführungÜber JungsEin <strong>Theater</strong>stück von David Gieselmann für Menschen ab 14 Uraufführung am 22. Mai 2012 im <strong>GRIPS</strong> HansaplatzMit: Sebastian Achilles Thomas Ahrens Jens Mondalski Robert Neumann Nina Reithmeier Regine Seidler Roland Wolf Victor Cluscrescu Carl Maria Aschenbach, Fritz Borchert Sven Borchert Konstantin Graff Alex Bülens Christine Duvaldier Leander Dopian Regie: Mina Salehpour Bühne: Jorge Enrique Caro Kostüme: Maria Anderski Musik: Sandro Tajouri Dramaturgie: Winfried Tobias Regieassistenz: Gabriel Frericks <strong>Theater</strong>pädagogik: Nora Hoch Regiehospitanz: Gina Wehrlin Dramaturgie-­‐ hospitanz: Nana Melling Licht: Harald Breustedt, Martin Gerth, Klaus Reinke, Raissa Jänisch Bühne: Stefan Rennebach, Herbert Sowinski Ton: Ufuk Özgüc, Joe Maubach Bühnenbau: Günter Pöchtrager, Mark Eichelbaum, Moses Wachsmann Requisite: Oliver Rose Schneiderei: Sabine Winge, Kaye Tai Maske: Sedija Hussak, Sarah-­‐Jane Ruhnow Bühnenmalerei: Herbert Sowinski, Jorge Enrique Caro Aufführungsrechte: Rowohlt <strong>Theater</strong> Verlag 6


»über jungs«Zu »Über Jungs«Jeder Einzelne ist so gefährlich, dass Staatsanwalt Aschenbach sie am liebsten hinter Gittern sähe; <strong>zu</strong>sammen sind sie so ungenießbar, dass auch die Sterneköchin Christine es schwer hat, sie an einem Koch-­‐Wochenende <strong>zu</strong> sozialen Kompetenzen, neuen Perspektiven und der Kreation eines 3-­‐Gänge-­‐Menüs <strong>zu</strong> bewegen: Vier gewalttätig gewordene Jungs aus unterschiedlichsten Milieus. Statt gemeinsamer Gerichte kochen die Emotionen hoch, und als am zweiten Tag mit Alex ein fünfter Teilnehmer <strong>zu</strong>r Gruppe stößt, droht der ganze gut gemeinte Workshop außer Kontrolle <strong>zu</strong> geraten. Sonntagabend soll das Menü fertig sein -­‐ kriegen es die fünf Helden gebacken? Hintergrund Geschrieben hat das Stück David Gieselmann, erfolgreicher Autor von Komödien für Jugendliche und Erwachsene (u.a »Herr Kolpert« an der Berliner Schaubühne). Mit »Über Jungs« hat er erstmals ein Stück eigens für und in enger Zusammenarbeit mit dem <strong>GRIPS</strong>-­‐Ensemble entwickelt. Die junge Regisseurin Mina Salehpour kommt vom Staatstheater Hannover und hat dort am Jungen Schauspielhaus zwei sehr erfolgreiche Produktionen für Jugendliche auf die Bühne gebracht. Ihre Arbeiten bestechen durch eine Ästhetik, die Fernsehen nicht kopiert, aber an Fernsehbildern geschult ist -­‐ gute Schnitte, cleverer Ton-­‐ und Musikeinsatz, Rhythmus-­‐Wechsel und Erzählformen, die den Sehgewohnheiten der Jugendlichen entgegen kommen (ohne dabei besondere Qualitäten des Mediums <strong>Theater</strong> wie die unmittelbare Begegnung von Akteuren und Publikum <strong>zu</strong> vergessen). »Über Jungs« flankiert in unserem Spielplan unter anderem den Dauerbrenner »Eins auf die Fresse« (ebenfalls eine groß besetzte Produktion für die Sekundarstufe am Hansaplatz). Es geht um das Zusammenwachsen einer Gruppe von »schwierigen« Jugendlichen. Eine wichtige Rolle spielen in dem Stück Geschlechterklischees, Rollenbilder und die Identitäten, die Jugendlichen von sich selbst entwerfen sowie die Frage, wie gegenseitiger Respekt im Umgang miteinander definiert werden kann. Duvaldier: Kochen ist immer ein Prozess in kleinen Schritten. Eins nach dem anderen. Und so funktioniert auch das Leben. Kleine Schritte. (...) Bevor ihr was <strong>zu</strong> Ende gebracht habt, habt ihr schon Schritt zwei und sieben angefangen. So kann man nicht kochen. Und so kriegt man auch sein Leben nicht in den Griff. 7


»über jungs«»Ich will, dass man diese Jungs mag!«Einen Staatsanwalt und eine Sterneköchin lässt Komödienautor David Gieselmann in seinem Stück »Über Jungs« auf fünf ganz unterschiedliche Jugendliche prallen, die bei einem gemeinsamen Wochenende auf Kurs gebracht werden sollen. Statt gemeinsamer Gerichte kochen erst einmal die Emotionen hoch und der ganze gut gemeinte Workshop droht außer Kontrolle <strong>zu</strong> geraten... David Gieselmann ist dem Berliner Publikum durch die Inszenierungen seiner Stücke »Herr Kolpert« und »Die Tauben« an der Schaubühne am Lehniner Platz bekannt. Mit »Über Jungs« hat er erstmals ein Stück eigens für und in enger Zusammenarbeit mit dem <strong>GRIPS</strong>-­‐Ensemble geschrieben. Die Regisseurin Mina Salehpour, Jahrgang 1985, die <strong>zu</strong>vor am Schauspiel Hannover inszenierte, feiert mit der Produktion ihr Berlin-­‐Debüt. Mit ihr sprach <strong>GRIPS</strong>-­‐Dramaturg Winfried Tobias. Welche Geschichte erzählst Du in »Über Jungs«? Es geht um ein paar verkrachte Charaktere, die alle straffällig geworden sind, <strong>zu</strong> einem Antiaggressionstraining verdonnert wurden und jetzt ein System finden müssen, um miteinander <strong>zu</strong> funktionieren. Bei »solchen« Jungs denkt man ja schnell an Gewaltvideospiele, Kampfsport, Alkohol, Drogen, Aggressivität, Testosteron und vermischt alles fröhlich miteinander. Was uns aber interessiert, sind die Geschichten hinter den Geschichten. Beim ersten Zusammentreffen hast Du mit uns u.a. eine Menge Clips auf Youtube angeschaut. Gibt es Referenzen, die in Deiner Arbeit für jugendliches Publikum besonders wichtig sind? Nichts Spezielles. Ich überlege, was weiß ich über das Thema, ich frage die Leute, die beim Projekt mitmachen, und ganz wichtig, ich versuche mir ein Bild davon <strong>zu</strong> machen, was die Leute da draußen darüber wissen könnten. Ich finde es besser vom Bekannten aus<strong>zu</strong>gehen und dann <strong>zu</strong>m Neuen <strong>zu</strong> kommen. Da muss auf den Proben eben die Popkultur her halten: Youtube, Fernsehserien, Comics, Popsongs, Werbespots. Sicher lese ich dann doch noch das eine oder andere Buch oder gucke mal einen Dokumentarfilm, aber gerade beim jungen Publikum ist es besser, Dinge <strong>zu</strong> nehmen, die sie sofort verstehen können, um dann Inhalte <strong>zu</strong> vermitteln, ohne nur eine bunte Pop-­‐Welt aufgemacht <strong>zu</strong> haben. Das klingt nicht unbedingt so, als wären bei Dir die Jungen die »Sorgenkinder der Nation« von denen in der pädagogischen Diskussion manchmal gesprochen wird... Es geht nicht um ein »Problemstück« mit »Problemjugendlichen«. Wie gesagt, es geht um ein paar verkrachte Charaktere. Mit denen will ich eine Geschichte erzählen, mich totlachen, vielleicht weinen, was erleben. Das geht nur, wenn man sie in ihrer Normalität sieht, in ihrer Kindlichkeit, mal scheint auch die Vernunft durch, das macht es ja spannend. Nicht <strong>zu</strong> sagen, das ist eine verkorkste Jugend ohne Ausweg, auch nicht, dass ein Typ, der jemandem aufs Maul gehauen hat, selber nur ein Opfer der Gesellschaft ist. Wenn wir möglichst viele Facetten sehen, können wir uns vorstellen, dass am Ende alles gut wird. Was auch immer »gut« heißt. Ich stelle mir ständig vor, was ich mit diesen Jungs unternehmen könnte und was wir an gemeinsamen Themen haben. Ich will, dass man diese Jungs mag. 8


»über jungs«Manowar – Heart of SteelBuild a fire a thousand miles away To light my long way home I ride a comet, my trail is long to stay Silence is a heavy stone I fight the world and take all they can give There are times my heart hangs low Born to walk against the wind Born to hear my name No matter where I stand I'm alone Ref.: Stand and fight Live by your heart Always one more try I'm not afraid to die Stand and fight Say what you feel Born with a heart of steel Burn the bridge behind you, leave no retreat There's only one way home Those who laugh and crowd the path And cut each other's throats We'll fall like melting snow They'll watch us rise with fire in our eyes They'll bow their heads, their hearts will hang low Then we'll laugh and they will kneel And know this heart of steel was Too hard to break, too hard to hold Ref.: Stand and fight Live by your heart Always one more try I'm not afraid to die Stand and fight Say what you feel Born with a heart of steel Ref.: Stand and fight (www.songtexte.com)9


10»über jungs«


»über jungs«Kapitel 1(Jugend)GewaltLeander: Und ich bin nicht aggressiv – by the way. Und ich neige auch nicht <strong>zu</strong> Gewalt. Sven: Ich neige nicht <strong>zu</strong> Gewalt. Victor: Ich neige nicht <strong>zu</strong> Scheißgewalt. Konstantin: Neigen? Ich? Wo<strong>zu</strong> denn? Victor/ Konstantin/ Leander/ Sven: Ich neige nicht <strong>zu</strong> Gewalt.Mondalski, Ahrens 11


Hartnäckingkeit statt HärteVon Elisabeth Thielicke»über jungs«Da ist Marvin, die hyperaktive Schlange, der auf seinem Stuhl herumzappelt. Er war die ganze Nacht unterwegs, er macht viel mit seinen Kumpels, er hat kaum geschlafen. Da ist Onur, der bequeme Hase, der seine Fingerknöchel knacken lässt und auf den Boden starrt. Nichts kann ihn aus seiner Lethargie reißen. Markus, der grinsende Adler, betrachtet die Versammlung von oben herab, auf den Lippen ein spöttisches Lächeln, auf dem Kopf die Kappe verkehrt herum. Und da ist David der Drache, auf dem Bizeps Tätowierungen. Im Naturfreundehaus Steglitz-­‐Lichterfelde, in einem Saal mit nackten Wänden, sitzen neun Berliner Jugendliche im Kreis. Sie alle haben mit ähnlichen Problemen <strong>zu</strong> kämpfen: Schul-­versagen, Herumlungern, Kiffen, Saufen, Leute Anmachen, kein Ausbildungsplatz, keine Arbeit, keine Perspektive. Manche rasten schnell aus. Sie schlagen gern <strong>zu</strong>, statt <strong>zu</strong> reden. AchillesAn diesem Nachmittag ist jeder in die Haut seines Lieblingstieres geschlüpft. Jeder hat das Adjektiv gesucht, das seinen Charakter am besten beschreibt. »Das ist, um die Atmosphäre <strong>zu</strong> entspannen und sich kennen <strong>zu</strong> lernen«, sagt Mark Zimmermann, der diese Sit<strong>zu</strong>ng des Anti-­‐Aggressivitäts-­‐Trainings <strong>zu</strong>sammen mit Oliver Lück be-­gleitet. Der hat vor vier Jahren das Anti-­‐Gewalt-­‐Zentrum Berlin-­‐Brandenburg ge-­gründet, eine Einrichtung, die Trainings-­kurse gegen Gewalt anbietet und Fort-­bildungen für Lehrer und Eltern organisiert. An diesem Nachmittag nun sitzen diese neun jungen Leute hier im Naturfreundehaus, vier Stunden lang. Geschickt wurden sie von der Arbeitsagentur. Ein halbes Jahr lang müssen sie herkommen. David der Drache sitzt den anderen gegen-­über. Diese Methode heißt der »Heiße Stuhl«. Die Arme vor der Brust verschränkt, eine ironische Grimasse im Gesicht, kaut David Kaugummi, um sich gelassen <strong>zu</strong> geben. Aber verlegen ist er doch. »Starrt mich nicht so an!«, wirft er den anderen <strong>zu</strong>, die ihn beobachten. »David, wir wollen hier keine Weicheier. Ein bisschen Mut gehört schon da<strong>zu</strong>!«, sagt Oliver Lück. Ein 41-­‐Jähriger, groß und kräftig, sanft, aber streng. David beginnt stockend, sein Leben <strong>zu</strong> erzählen. Einer notiert die wichtigsten Etappen auf einer Tafel: 1985 in Steglitz geboren. Mutter: Karin, 48 Jahre alt. »Kennst du deinen Erzeuger? Weißt du seinen Namen?«, fragt Mark. »Peter, 44 Jahre. Meine Eltern sind noch ein Pärchen.« Seine Mutter hat ein Alkoholproblem und sitzt <strong>zu</strong> Hause. Sein Vater, früher Kraftfahrer, ist seit 1994 arbeitslos. Das Geld ist knapp. Es gibt Spannungen. David absolviert eine klassische Karriere: Er bleibt zwei Mal sitzen, schwänzt wochenlang die Schule, ohne dass die Eltern etwas merken. Schließlich schafft er doch den Hauptschulabschluss. (...) Es folgt eine Serie abgebrochener Ausbildungen. Seit sechs Jahren steht David dem Arbeitsmarkt <strong>zu</strong>r Verfügung. Er hat noch nie gearbeitet, außer schwarz. »Ich kann nicht die ganze Zeit <strong>zu</strong> 12


»über jungs«Hause vor der Flimmerkiste sitzen. Ich krieg ...«, und er würgt sich mit beiden Händen. Die anderen brechen in Gelächter aus. Oliver Lück lacht nicht. »Du badest jetzt die Dämlichkeit deiner Jugend aus. Wie viele Bewerbungen hast du geschrieben?« – »Gar keine«, gibt David <strong>zu</strong>. »Hab ich mir schon gedacht! Und was machst du am Abend?« – »Den brauche ich <strong>zu</strong>m Entspannen« antwortet David. »Dit is jetzt eine Scheißrechtfertigung! Lass es einfach weg!«, unterbricht Oliver Lück. »Wie ist es mit dir gewesen, gewalt-­technisch?«, fragt jetzt Mark Zimmermann. David verheddert sich, feixt, schaut <strong>zu</strong> Boden. Man fühlt, dass er in der Defensive ist. Ja, stimmt, am ersten Tag in der Gesamt-­schule, als er mit der Oberschule angefangen hat, hat er einem Lehrer eine reingehauen. Er wurde sofort wieder nach Hause geschickt. Der ersten Gewalttat folgen weitere, immer schwerere. Irgendwann ist David mit einem Kumpel unterwegs, der ist 14 Jahre alt und zieht ein Messer aus der Tasche. »Ich hab mich erschrocken. Ich bin kein Fan von Waffen«, sagt David. Trotzdem nehmen die beiden ihrem Opfer dessen 20 Euro ab. »Stell dir mal vor, das Messer wäre nötig gewesen. Es wäre dann Mord, und du wärst Mittäter«, sagt Mark Zimmermann. Die Grup-­pe verfällt in Schweigen. »Ich hatte mir keine Gedanken gemacht!«, sagt dann David. Er musste 41 Stunden Sozialdienst machen. Laub harken. Ein Jahr später holt sein Kumpel eine Schusswaffe heraus. 80 Stunden Sozialdienst. »So wenig«, empört sich Oliver Lück, »ich fass es nicht, wenn ich Richter gewesen wäre ...« David der Drache sinkt auf seinem Stuhl <strong>zu</strong>sammen. Er ist plötzlich ganz klein. Zum ersten Mal findet er sich in der Rolle des Opfers. »Einer muss mit seiner Tat konfrontiert werden«, sagt Oliver Lück. »Wir brechen hier keine Persönlichkeit, wir gehen gegen die verurteilungswürdige Tat vor. Wir sagen nicht: Ihr seid schlechte Menschen. Wir sagen nur: Eure Taten sind miserabel und mies. Das sagt denen kaum jemand. Wir hören uns die Ausreden, die Recht-­fertigungen an, und wir lassen nicht los. Wir provozieren. Wo sind die Aggressivitätsaus-­löser? Welche Rechtfertigungsstrategien ha-­ben sie, um ihre Tat schön <strong>zu</strong> reden? Die Jugendlichen nehmen die Provokation an und probieren, nicht aus<strong>zu</strong>rasten.« Zum ersten Mal hört ihnen jemand <strong>zu</strong>, <strong>zu</strong>m ersten Mal zeigt jemand Interesse. Am wichtigsten ist es, dass die Trainer ihnen klare Grenzen setzen, die die jungen Leute nie erlebt haben. »Dadurch, dass wir sagen: Freunde, bis hierher und nicht weiter!, fühlen sie sich angenommen«, sagt Oliver Lück. Eins ist besonders wichtig bei dieser Arbeit: Die Jugendlichen müssen erkennen können, dass ihre Trainer wissen, wovon sie sprechen. Dass es auch in deren Leben Fehlschläge gegeben hat und dass man sie überwinden kann. Wie bei Oliver Lück. (...) Er war ein von allen bewunderter, erfolgreicher Sonnyboy. Aber dann geht der Kleinbetrieb, ein häuslicher Pflegedienst, den er gegründet hatte, pleite. Oliver Lück kann seine Angestellten nicht mehr bezahlen. Offen erzählt er von diesem Absturz: »Ich war total deprimiert, und keiner kam mehr an mich ran. Aber nach außen war ich immer der Strahlemann. Nach innen war ich allein.« Seine Ehe geht in die Brüche. Doch mit Hilfe einer Therapie und dank »dieser Gewissheit, die irgendwo in mir weitergelebt hat: Es gibt immer einen Weg!«, taucht er wieder auf. Er beginnt ein Sozialpädagogikstudium, finan-­ziert es mit kleinen Jobs und besteht die Di-­plomprüfung nach vier Jahren. »Diese Er-­fahrung ist die beste in meinem Leben, sage ich den Jugendlichen dann.« Genau das will er David und den anderen beibringen: »Ihr könnt euch rausboxen. Ja, das geht.« Oliver Lück weiß, dass sein Programm die Probleme nicht sofort lösen wird, aber er kann auf eine Erfolgsquote von 63 Prozent verweisen. 63 Prozent der Teilnehmer wer-­den nach dem Training nicht mehr auffällig. Und 37 Prozent werden zwar weiter auffäl-­lig, aber die Hälfte davon nur mit minder schweren Delikten. Und Oliver Lück hat eine Vision. Er möchte eine Stiftung gründen, in die die öffentliche Hand und private Sponsoren wirklich be-­deutende Summen einzahlen. Die großen Konzerne müssten sensibilisiert werden. Sie haben viel <strong>zu</strong> gewinnen, schließlich beklagen sie sich oft über ihre aggressiven und faulen A<strong>zu</strong>bis. »Alle wollen das Problem vom Tisch haben«, sagt Lück, »aber keiner ist bereit, etwas <strong>zu</strong> zahlen. (...) Oliver Lück versteht nicht, dass das keiner begreift. http://www.tagesspiegel.de/zeitung/jugendgewalt-hartnaeckigkeitstatt-haerte/1133222.html13


»über jungs«Interview mit demAnti-Aggressivitäts-Trainer und Autor Oliver LückMit Oliver Lück sprachen vom <strong>GRIPS</strong> <strong>Theater</strong> Winfried Tobias, Nora Hoch und Nana MellingWenn du das Stück mit deiner Wirklichkeit vergleichst: Wie sehen die Gruppen aus, die <strong>zu</strong> einem AAT kommen? Sehr realistisch sind <strong>zu</strong>m Beispiel die anfänglichen Hahnenkämpfe der Jungs. Erst sind alle Einzelgänger und tun so als wären sie vogelfrei. Das ist stimmig. Ich finde auch die Sprache stimmt. In Wirklichkeit ist sie natürlich noch krasser. Ganz oft gibt die Auflage vor, ob das AAT in der Schule stattfindet oder ob es über die Bewährungshilfe geht. Die Jugendlichen sind von Außen gezwungen. Was heißt es gibt einen großen Teil Fremdmotivation, was die Sache unglaublich schwierig macht, wie im Stück. Dabei gibt’ s die, die sich von Anfang an sträuben: »Das müssen wir machen, sonst gehen wir in den Knast, wir machen es aber so wenig engagiert wie nur möglich.« Natürlich hast du aber immer auch ein zwei in der Gruppe, die wollen gerne. Die sind dann aber gleich wieder bei den anderen schlecht angesehen und werden angemacht, weil sie wirklich was wollen. Was sind die typischen Dynamiken in so einer Gruppe? In dem Stück besteht die Gruppe ja nur aus vier oder fünf Jugendlichen. Ist ja auch wunderbar, denn mit größeren Gruppen könntest du so ein Projekt auch gar nicht machen. Auch wir hatten ja damals mit dem Kochprojekt mit Martin Baudrexel nur sechs Jugendliche und das war auch schon das Maximum. Von daher ist es super realistisch und pädagogisch vollkommen sinnvoll so ein Training nur mit vier bis fünf Jungendlichen <strong>zu</strong> machen. Alles andere ist Quatsch, weil sonst wirklich Chaos ausbricht. Die Dynamik entsteht meist aus der Haltung der Teilnehmer heraus: Jeder will sich behaupten, keiner will Schwäche zeigen, jeder zeigt auch erstmal was er auch auf der Straße zeigt: Seine harte Schale. Bevor die Schale im Laufe der Zeit, und das finde ich auch am Stück schön, durch viele Kleinigkeiten aufgebrochen wird. Was mir an dem Stück auch sehr gut gefällt sind die permanenten Provokationen der Jugendlichen. Das sind die Jugendlichen gewohnt. Das ist ihr typisches Verhaltensmuster. Die haben eine ganz niedrige Provokationstoleranz. (...)Wenn das Gegenüber genauso tickt und die Provokation nicht ins Leere laufen lässt, dann kommt es sofort <strong>zu</strong>r Eskalation, wie wir sie im Stück ja teilweise auch haben. Wie ist die Arbeitsweise in einem AAT? Wie gehst du als Trainer mit der Gruppendynamik um? Erst einmal ist man nicht alleine. Wir sind zwei hauptamtliche Trainer und haben noch drei, vier Beisitzer dabei. Erwachsene aus ganz unterschiedlichen Berufssparten, sodass schon mal ein etwas ausgeglicheneres Verhältnis da ist. Dann gibt es ganz klare Regeln und wer nicht spurt, der fliegt. Ganz einfach. Das ist der Grundsatz. Es gibt von vorn herein ganz klare Regeln, die werden <strong>zu</strong>m Teil von uns und <strong>zu</strong>m Teil <strong>zu</strong>sammen mit den Teilnehmern aufgestellt. In denen es besonders darum geht: Wie gehen wir hier miteinander um? Es werden dann auch mit den Teilnehmern <strong>zu</strong>sammen die Konsequenzen erarbeitet. Da sind die selber ziemlich hart. Finden aber das nachher natürlich doof, wenn sie dann irgendwie Scheiße gemacht haben und die Konsequenzen, die sie selber ausgewählt haben, auch auf sie <strong>zu</strong>treffen. Das können die unterschiedlichsten Sachen sein. Also z.B. bei Beleidigung muss man zwanzig Liegestützen machen oder man bekommt eine Verwarnung die sofort an das Gericht weiter geleitet wird. Das heißt wer schon eine hatte, muss in den Knast. Da muss man knall hart sein. Das kommt in jedem 14


»über jungs«Training vor. Bei zehn bis zwölf Leuten fallen immer drei bis vier raus und wenn <strong>zu</strong>m Schluss von zehn noch sechs übrig bleiben dann ist das top. Es gibt aber wahrscheinlich auch bestimmte Regeln, die nicht verhandelbar sind? Ja klar. Man braucht wirklich einen starren Rahmen, denn der gibt Sicherheit. Ohne Regeln funktioniert es überhaupt nicht, d.h. es muss ein paar klare unmissverständliche Regeln geben die das Miteinander regeln, da<strong>zu</strong> gehören vor allem Höflichkeit, Respekt und die oberste Regel: keine Gewalt und dann natürlich die Rahmenbedingungen sprich: Pünktlichkeit, wie lange es dauert u.s.w.. Das ist das Fundament für so ein Training: Klare Regeln und auch deutliche Konsequenzen. Ohne Konsequenzen haben die Regeln ja keinen Sinn. Gibt es einen Unterschied bei einem AAT ob es sich um eine Jungen Gruppe oder eine Mädchengruppe dreht? Und wenn ja, wie unterscheiden sie sich? Unterschiede gibt es definitiv. Wenn du eine Gruppe Mädchen oder junge Frauen hast, spielt sich viel auf der emotionalen Ebene ab, das bricht bei den Jungen Gruppen erst wesentlich später auf. Die Mädchen haben zwar auch gelernt ihre Gefühle <strong>zu</strong> deckeln, sind aber schon ein Stück weit empathischer, wenn sie ihre Maske fallen lassen. Da haben die jungen Männer viel mehr Schwierigkeiten. Das merkt man schon bei der Biographiearbeit mit ihnen, dass da die Fähigkeit ein Stück weit fehlt, Empathie <strong>zu</strong> empfinden, die anderen <strong>zu</strong> verstehen. Da kommen dann auch blöde Sprüche, wenn sich mal jemand öffnet. Das hast du bei den Mädels nicht so, die sind offener empathischer, geben Dinge mit rein, die ihnen vielleicht weh tun. Mädels sind aber auch härter und können eiskalt berechnend sein, wo es bei den Jungs bei einem Geplänkel bleibt. Gemeinheiten unter Mädchen sind hart und punktiert. Da passt auch das Mädel in dem Stück ganz gut rein, ziemlich straight, und das zeichnet auch die Mädels in so einer Gruppe aus, die können richtig böse werden, da kommt es seltener vor, dass die mal ausrasten, die sind dann sehr kalt und sehr präzise. Wie würde ein Training mit einer Geschlechtergemischten Gruppe aussehen? Das wäre super schwierig. Funktioniert eigentlich nicht. In dem Fall würde es gehen, wenn nur ein Mädchen da ist, so wie die Alex. Aber so 50/50, also gemischt -­‐ keine Chance. Vor allem in dem Alter, Mitte bis der Ende der Pubertät müssen die Jungs sich vor den Mädels profilieren. Aber die Mädels sind genauso. Das haben wir auch schon erlebt. Die sind nur noch damit beschäftigt sich <strong>zu</strong> schminken, da wirst du wahnsinnig. Das haut überhaupt nicht hin. Was nehmen die Jugendlichen aus so einem Training mit, außer dem »Schrieb«? Natürlich ist es wichtig, auch für das Gericht, dass sie ein Zertifikat bekommen auch etwas, was sie stolz macht. Es ist immer sehr rührig, wenn in der letzten Sit<strong>zu</strong>ng, alle schön Essen gehen, ein Stück weit feierlich, denen die dabei geblieben sind, das Zertifikat vergeben wird. Wichtig ist ihnen dann <strong>zu</strong> sagen: »Du kannst was, du schaffst was, du bist nicht nichts wert. Du kannst Dinge auch anpacken und ändern, du hast es geschafft ein halbes Jahr lang pünktlich <strong>zu</strong> kommen.« Das muss auch gewürdigt werden. Dann stehen die Jungs mit stolzgeschwellter Brust da, sind ganz gerührt, ganz schüchtern und können das Lob durch das Zertifikat und die Worte die da<strong>zu</strong> gesagt werden gar nicht fassen. 15


»über jungs«Kapitel 2Pubertät als BaustelleKonstantin: Ich wär gern Bordelltester. Sven: Was is denn das für’ n Scheiß, das gibt‘s doch gar nicht. Konstantin: Gibt‘s wohl, da sind, da gibt‘s so Seiten im Internet, wo die sich austauschen und Bescheid sagen, wo in welcher Stadt, wer gut ist, wer gut bläst und so. Echt geil. Sven: Scheiße Mann, das sind doch keine Leute, die bezahlt werden. Das sind halt Freier, die auch so was im Internet machen. So ne Art Facebook fürs Ficken, Fickbook halt. Aber da wird doch keiner bezahlt für, du saudummer Depp. Konstantin: Du machst mir nicht meinen Traumberuf kaputt, ja? 17


»über jungs«Die Psychologische Situationvon Jungen in der PubertätVon Andrea Lenz, Katrien Badura, Philipp Mangold, Danilo Vetter - der Arbeitsgruppe: »Männlichkeit undPubertät von Jungen« aus dem Seminar »Metamorphosen«, unter der Leitung der Professorin fürKulturtheorie, Prof. Dr. Christina von Braun, am Institut für Kulturwissenschaft der Humbold Universität<strong>zu</strong> Berlin.Schule und LehrerInnen Hier<strong>zu</strong> möchte ich nur wenige Punkte anführen, da im letzten Punkt schon viele Aspekte <strong>zu</strong>m Verhältnis Erwachsene und Jugendliche angesprochen wurden. Ein Punkt, der Erwachsene außerhalb der Familie besonders betrifft, ist eine falsche Kumpelhaftigkeit, die den unterschiedlichen Status von Erwachsenen und Jugendlichen negiert und eine ungute Nähe herstellt, die bequem für den Erwachsenen sein mag, nicht aber für den Jugendlichen. Zur Schule allgemein lässt sich <strong>zu</strong>mindest sagen, dass die Leistungen im Allgemeinen während der Pubertät stark nachlassen. Abgesehen davon, dass sich Gleichaltrige in der Schule befinden, kommt die Schule nicht unbedingt den spezifischen Bedürfnissen von Jugendlichen entgegen. Der Sinn von Lerninhalten entzieht sich gar mehr als sonst der Einsicht und den konkreten Problemen der Jugendlichen, was dem Gefühl, fehl am Platze <strong>zu</strong> sein, nur Vorschub leisten dürfte. Darüber hinaus stehen bei vielen Jugend-­lichen weder LehrerInnen noch das Lernen, sondern vielmehr die Zwangsgruppe von Gleichaltrigen, bei Jungen sicherlich zeit-­weise die gleichaltrige Jungengruppe, im Mittelpunkt des »schulischen« Interesses. Doch in diesem Bereich gibt es entschei-­dende Veränderungen von der Grundschule <strong>zu</strong>r weiterführenden Schule, da dort andere Kinder sind, und die Rollen neu verteilt werden: »Ein anerkannter Platz in der Gruppe ist essenziell. Wer nicht als Führer akzeptiert wird, sucht eine andere Rolle, als Adjutant des Führers, als Führer einer Gegengruppe, als loyaler Mitläufer, profiliert sich als Clown oder erringt Respekt für irgendeine besondere Begabung, <strong>zu</strong>m Bei-­spiel für coole Sprüche oder verbalen Mut gegenüber Lehrern.« Die Priorität der Zuge-­hörigkeit <strong>zu</strong> einer Gruppe, gepaart mit der »klassisch« männlichen Aggressivität und dem gefühlskalten Coolsein als generelle Antwort auf Kritik, macht demnach das Hauptmerkmal von jungenspezifischem Gruppenverhalten aus. Die emotionalen Fol-­gen sind offensichtlich. Es geht nicht darum, wer der Junge gerne sein will, sondern darum, welcher Platz ihm in der Hierarchie <strong>zu</strong>gewiesen wird von der Gruppe. Die Ver-­haltensregeln sind von Männlichkeitsstereo-­typen geprägt. Für beides, Status und Ver-­halten, müsste sich die große Mehrheit der Jungen, so Benard und Schlaffer, charakter-­lich verdrehen und taub gegen ihre eigenen Bedürfnisse werden. »Das Gerangel um Position und die Findung einer Zuweisung verschlingt sehr viel ju-­gendliche Energie und Zeit und stellt eine hohe Priorität dar. Schulische Konflikte ent-­stehen nicht selten, wenn die von <strong>zu</strong> Hause vorgesehene Rolle in der Schule nicht durchführbar ist.« Die Freunde Der entscheidende Unterschied <strong>zu</strong>r Schule ist, dass die Freunde selbst gewählt sind, und demnach auch die Rolle, die der Junge einnimmt, vielleicht mehr seinen Wünschen entspricht als die in der Schule. Unzweifel-­haft sind die Freunde die Gruppe, die vor den anderen den Vorrang hat. Es ist für Ju-­gendliche enorm wichtig, vor ihren Freunden gut – also vor allem unabhängig – da<strong>zu</strong>-­stehen. (...) Zwar ist die Gruppe der Freunde und Freundinnen eine sehr tonangebende, gegenüber den Eltern oder der Schule hat sie für viele mehr Gewicht, aber sie bietet trotz Machtkämpfen, Hierarchien und Rollen für Jugendliche einen Rück<strong>zu</strong>gsort. Nicht unbe-­dingt im Sinne seelischer oder körperlicher Sicherheit, jedoch wird hier die Welt eigens für sie und von ihnen geschaffen. Die Kinder und die Erwachsenen können bewusst aus-­geschlossen werden, es werden eigene Regeln geschaffen. (...) 18


»über jungs«Die »Clique« In einigen Beratungsbüchern wird wie selbstverständlich von der »Clique« gespro-­chen, in der »man« sich als Jugendlicher ja selbstverständlich befindet. Ich möchte gar nicht bestreiten, dass Cliquen durchaus eine große Rolle spielen für Jugendliche. Die Frage ist nur, ob nicht die meisten Cliquen eher Phantome sind, mehr heiße Luft als ein festes soziales Gefüge. Es gibt unzählige Jugendliche die nicht in einer Clique sind oder aber nicht nur in einer, die zwar manchmal in einer Clique sind, aber eine Vielzahl von Freundschaften haben, die weder untereinander noch mit der Clique in Verbindung stehen usw. Meine Befürchtung ist, das Phänomen »Clique« ist überbewertet, eine Art Mythos (...). Ein großes Problem wird es allerdings geben, wenn ein Ju-­gendlicher keine Freunde hat, oder die Freunde und Freundinnen nicht seinen Be-­dürfnissen entgegenkommen. Es muss das gesamte soziale Umfeld in Betracht gezogen werden, also LehrerInnen, Bekannte, Eltern und Freunde. Besteht ein vielfältiges Geflecht von Beziehungen, kann der Jugendliche, je nach spezifischer Situation, auf die Menschen <strong>zu</strong>rückgreifen, die in seinen Augen ihn am besten unterstützen können. Hier gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede, da die persönlichen Probleme einzelner Jungen gerade in der Jungengruppe nicht immer am besten aufgehoben sind, bzw. der Junge sich mit bestimmten Fragen, <strong>zu</strong>m Beispiel eine Familienkrise, persönliche Ängste, sexuelle Bedürfnisse nicht unbedingt der Gruppe Gleichaltriger öffnen würde. Die Gefahr <strong>zu</strong>rückgestoßen <strong>zu</strong> werden wäre wohl <strong>zu</strong> groß, die geläufigen Codes in Jungengruppen oder unter Freunden beziehen sich häufig auf alles andere, nur nicht auf Schwäche und ein System von seelischer Unterstüt<strong>zu</strong>ng als Reaktion darauf. Jungen bleiben so mit ihren Problemen häufig allein und greifen auf Strategien wie ignorieren, aussitzen und <strong>zu</strong>rückziehen <strong>zu</strong>rück. (...) Ein gängiges Kli-­schee vom »Mannsein« spielt in Konflikt-­situationen generell rein: als richtiger Junge oder Mann hat man keine Probleme, man hat sich unter Kontrolle. Konfliktumgang, Rebellion und Flucht In der Pubertät treten in vielen Familien Ausnahme<strong>zu</strong>stände ein. (...) Besteht über die Streitkultur kein Konsens, kann das Leben in der Familie <strong>zu</strong>r Hölle werden. Doch manchen Jugendlichen ist ihr eigenes Interesse wichtiger, sie können <strong>zu</strong> Mitteln greifen wie »Ersatzfamilien« auf<strong>zu</strong>suchen, z.B. von FreundInnen, sie könnten die Zeit in der Fa-­milie sehr minimieren (Schlafen und Essen), manche hauen auch einfach ab und gehen auf Trebe. In letzter Zeit wird auch <strong>zu</strong>nehmend die Forschung aufmerksam auf die Jungen als spezielle Gruppe, da sie Gefahr laufen würden »die Sorgenkinder unserer Gesell-­schaft« <strong>zu</strong> werden. Es gibt Untersuchungen, die belegen, dass Jungen häufiger krank sind, sozial weniger fähig seien, häufiger kriminell werden (was ein Blick in die Gefängnisse nahe legt), häufiger Täter und auch häufiger Opfer von Gewaltverbrechen sind. Bei all diesen Aussagen muss man genau schauen, wie die Daten erhoben wurden und was die Begriffe (gerade »Gewalt«) genau umschrei-­ben. Es ist aber nicht von der Hand <strong>zu</strong> weisen, das deviantes Verhalten von Jungen und jungen Männern ein spezielles, sehr auffälliges und aggressives ist. Über die psychologischen Beweggründe kann jedoch nur spekuliert werden. (...) Es kann ein Hilfeschrei sein, Symptom für Ohnmacht, Konkurrenzangst, den Willen nach Kontrolle und Sicherheit, klare Grenzen. Es kann auch ein Ritual sein, gefährdende Dinge <strong>zu</strong> machen, Rituale können sich verselbst-­ständigen.Durch Grenzverlet<strong>zu</strong>ngen können laut und deutlich eigene Normen gesetzt werden. Vor allem Abgren<strong>zu</strong>ng ist ein einfaches und wirksames Mittel eine Identität <strong>zu</strong> schaffen, auf den oder die anderen kann ein Junge eigene Ängste und unliebsame Seiten seiner selbst projizieren. (...) Die oft deutliche Ab-­gren<strong>zu</strong>ng gegenüber anderen, heftigste ver-­bale und körperliche Abwehr und Ab-­wertungsrituale sind eigentlich genug Hin-­weis auf eine Projektion nicht integrierter eigener Persönlichkeitsanteile und bei jungen Männern nicht gerade selten <strong>zu</strong> beobachten. In den anderen werden die verdrängten, unterdrückten Züge, Wünsche und Gefühle des eigenen Selbst torpediert und im anderen als störend empfunden. 19


»über jungs«Männliche Sexualität – ein kurzer Abriss In der Pubertät steht mit dem Thema Männlichkeit die Sexualität mit im Mittel-­punkt des Interesses von jungen Männern. Gerade an diesem Thema zeigt sich, wie wenig offen die Entdeckung der individuel-­len Sexualität sich gestaltet, und wie sehr sich Jugendliche an althergebrachten Rollen-­bildern und Vorurteilen abarbeiten müssen. Um ganz allgemein an<strong>zu</strong>fangen, zitiere ich einen wie ich finde sehr charakteristischen Satz von Dieter Schnack und Rainer Neutzling aus dem Buch »Die Prinzenrolle -­‐ über die männliche Sexuali-­‐tät«: »Der Wunsch, ein toller Mann <strong>zu</strong> sein, drängt den Gedanken in den Hintergrund, was toll wäre <strong>zu</strong> erleben.« Leider scheint es immer noch so <strong>zu</strong> sein, dass die sexuelle Leistung, was auch immer das genau sein mag, der maßgebliche Schlüssel <strong>zu</strong>r männlichen Identität ist. Auf vielen Gebieten kann ein Mann sich erlauben <strong>zu</strong> versagen, solange er nur auf dem sexuellen Gebiet seinen Mann steht. Wenn er dort versagt ist er aus der Gesellschaft »echter« Männer ausgeschlossen. Ein Zentrales Thema in der normierten Sexualität ist die Zuschreibung von einer passiven Rolle der Frau und einer aktiven Rolle des Mannes. Hin<strong>zu</strong> kommt das Vorurteil, männliches Begehren sei primitiv, vulgär, einfach <strong>zu</strong> befriedigen, schmutzig und geil. Hingegen sei weibliche Sexualität kom-­plex, feinsinnig, anspruchsvoll, einfühlsam und lustvoll. Der Mann an sich wolle doch immer nur das eine, er »erobert« eine Frau, heuchelt Interesse, ist ein guter Liebhaber, wenn er glaubhaft Vorspiel inszeniert und vor allem der Frau einen Orgasmus beschert und lange und oft kann. Da<strong>zu</strong> muss »Mann« seinen Trieb unter Kontrolle haben. Diese Rollenverteilung ist mächtig und sie macht Mädchen wie Jungen bei der Entdeckung ihrer Sexualität <strong>zu</strong> schaffen. (...) Das Leistungsdenken und die »Sportlichkeit« der Männergesellschaft setzt sich im Bett fort. Die vielfältigen Probleme, die sich daraus ergeben sind unzählbar. Ein schüchterner Junge, der sich nicht traut den ersten Schritt auf ein Mädchen <strong>zu</strong> <strong>zu</strong>machen, das Gefühl des Versagens bei einem vor-­‐zeitigen Samenerguss, das zermürbende Warten auf das erste Mal, die Unsicherheit über die eigene Homosexualität, sind nur einige 20Beispiele von unangenehmen Vorkomm-­nissen. Es existieren für die Altersgruppe scheinbar extrem wenige Möglichkeiten diese Probleme offen an<strong>zu</strong>sprechen, Aner-­kennung und Unterstüt<strong>zu</strong>ng <strong>zu</strong> bekommen. (...) Was verstehen wir nun eigentlich unter Identität? Die Entwicklung der Identität kann aus verschiedenen Perspektiven betrachtet wer-­den. Demnach lässt sich der Begriff nicht eindeutig an einer Definition festmachen. Der Begriff der Identität wurde von dem Psychoanalytiker Erik H. Erikson eingeführt, jedoch verwendet er diesen Begriff selbst in nicht eindeutigen, sich teilweise überschnei-­denden Bedeutungen: • im Sinn eines individuellen Kerns, der trotz aller Veränderungen der Person und seiner Umwelt bestehen bleibt, • im Sinn eines Gleichklangs von im Prinzip veränderlichen sozialen Rollen, • im Sinn eines auch in vorangehenden Phasen gewachsenen Lebensstiles, der bestimmt, wie soziale Rollen ausgefüllt werden; • im Sinne von speziellen Errungenschaften der Adoleszenz-­periode, aber auch als etwas, das sich ständig verändert und erneuert; • als eine Erfahrung innerer Kontinuität; • als eine Kontinuität im Umgang mit anderen.« Erikson geht vom sog. epigenetischen Prin-­zip aus, was besagt, dass die menschliche Entwicklung nach einem genetisch festge-­legten Grundplan abläuft. Der Mensch durchläuft demnach im Rahmen dieses Grundplanes in einer fest gelegten Abfolge verschiedene Entwicklungsphasen, in denen er sich immer in einer spezifischen Wechsel-­wirkung <strong>zu</strong> seiner sozialen Umwelt befindet. Er sucht sich über »Identifikation bzw. Imitation« von und das »Experimentieren« mit bestimmten Rollen seinen möglichen Platz in der Gesellschaft. Er geht sogar noch weiter und betont, dass fehlende Initiations-­riten und die <strong>zu</strong>nehmende Vermittlung von weiblichen Werten, Männer in eine »per-­manente Identitätskrise« befördert.


»über jungs«Teilt man diese Ansicht, so bleibt den Jungen doch nur, sich an in den Medien vermittelten stereotypen Männerbildern <strong>zu</strong> orientieren, um sich in ihrer Rolle einiger-­maßen sicher <strong>zu</strong> fühlen. Denn hier finden sie die in der Gesellschaft manifestierten Nor-­men für Männlichkeit besonders ausgeprägt. Hierbei besteht jedoch die Gefahr, dass junge Männer versuchen, ein überholtes archetypisches Männerbild in eine Welt <strong>zu</strong> transportieren, die so nicht/mehr existiert, wenn sie z.B. in die Rolle des Beschützers schlüpfen, ohne, dass eine konkrete Be-­drohung sie da<strong>zu</strong> veranlasst hätte. Diese »Männlichkeit« ist jedoch häufig temporär begrenzt und nimmt mit <strong>zu</strong>nehmendem Alter und eigener Identitätsfindung wieder ab. Außerdem kommen die gesellschaftlich vorgesehenen Rollen des Versorgers, Be-­schützers und Erzeugers bzw. Liebhabers für den Betroffenen noch nicht wirklich in Frage, da er ja die Füße immer noch unter des Vaters Tisch hat und damit folglich ökonomisch abhängig ist. Beschützt und behütet wird er selbst noch, meist verstärkt durch die Mutter, und sexuelle Erfahrung beschränkt sich häufig auf das Rezitieren schlechter Witze und sich gegenseitig wegen des <strong>zu</strong> klein oder <strong>zu</strong> weich Geratenen <strong>zu</strong> verspotten. (...) Hat der Junge mit seinen Eltern von Kind an die Erfahrung gemacht, in ihnen Be<strong>zu</strong>gsper-­sonen <strong>zu</strong> sehen, denen er vertrauen kann, und somit ein stabiles Selbst aufbauen können, so kann er diesen Konflikt <strong>zu</strong>sam-­men mit seinen Eltern angehen und schon bald <strong>zu</strong> einer eigenen »gefestigten« Identität gelangen. Der Anteil der sozialen Umwelt bei dieser Entwicklung der »Ich-­‐Identität« wird als »Aktivierung und Bestätigung« gesehen werden, d.h., dass selbständiges Auftreten ermutigt und positiv gewertet wird und dass eigene Auffassungen des Jungen ernst genommen werden. Anders ergeht es dem, der nicht diese Bestätigung seitens der Eltern und der Umwelt erfahren hat. Die Interaktion ist hier von Missverständnissen geprägt. Die Autonomiebestrebungen dieses Heranwachsenden werden nicht wahrgenommen oder akzeptiert bzw. nicht unterstützt, seine Kindheit war hingegen evtl. von unnötigen Strafen und Verboten geprägt, so dass seine Initiativen nun von außen nicht unterstützt und von ihm selbst durch Schuldgefühle und Zweifel blockiert werden. Er hat Angst vor <strong>zu</strong> starker Abhängigkeit (Erfahrungen aus der Kindheit) und/oder baut aggressive Gefühle gegenüber der elterlichen Überfürsorge auf. In diesem Fall kann sich der Junge keine stabile Iden-­tität schaffen. Deshalb spaltet er seine Ge-­fühle auf, entwickelt verschiedene »Rollen«, d.h. er entwickelt nach außen hin ein an-­gepasstes »falsches Selbst«, um den äußeren Anforderungen, hier denen der Eltern ge-­recht <strong>zu</strong> werden und schützt sein »wahres Selbst«, seine wahren Gefühle, indem er sich in sich <strong>zu</strong>rückzieht und sie verbirgt. Es ist daher gut <strong>zu</strong> verstehen, dass es unseren »jungen Männern« nicht leicht fällt, »ihre« Rolle, die sie und deren Umwelt <strong>zu</strong>frieden stellt, <strong>zu</strong> finden und aus<strong>zu</strong>füllen. (...) www.genderini.wordpress.com/uber/texteMondalski, Neumann, Achilles21


»über jungs«Das Gehirn ist eine BaustelleInterview mit dem Evolutionsbiologen, Zoologen und Autor des Werkes »Teenager« (Spectrum Verlag) –David Bainbridge.Mr. Bainbridge, wo<strong>zu</strong> sind Pickel und fettige Haare gut? Forscher haben überlegt, ob es einen positiven Grund für Akne gab. Sie fanden einen, der auch erklären würde, warum Jungen meist stärker betroffen sind: Die Pickel könnten da<strong>zu</strong> da sein, die Jungen unattraktiv <strong>zu</strong> machen, damit sie keine Konkurrenz für erwachsene Männer sind. Denn das könnte ihnen gefährlich werden. Hm, glauben Sie das? Sagen wir, ich bin nicht völlig überzeugt. Kennen Sie glückliche Teenager? Fest steht, es ist eine sehr intensive Phase. Wenn man Leute fragt, wie sie ihre eigene Teenagerzeit erlebt haben, sagen manche: Das war eine tolle Zeit. Ich <strong>zu</strong>m Beispiel war gerne ein Teenager. Andere sagen: »Es war schrecklich. Die schlimmste Zeit meines Lebens.« Die Leute sind sehr extrem bei diesem Thema. Also: Ja, es gibt sehr viele glückliche Teenager da draußen. Aber ihre Stimmungen sind sehr wechselhaft. Warum sind Teenager häufig so negativ? Jugendliche müssen sich in dieser Zeit psychisch von ihren Eltern abgrenzen, ihre Eltern <strong>zu</strong>rückstoßen. Wichtig sind vor allem die Freunde. Viele Studien haben gezeigt, dass 80 Prozent der Gesprächszeit von Jugendlichen auf das Konto von Freunden geht. Und da sind sie auch am glücklichsten: Wenn sie reden, ohne etwas <strong>zu</strong> tun. (...) Wenn man sich das Klischee einer US-Highschool vorstellt, kommt einem in den Sinn: Erfolg für die Schönen und Starken, Niederlage für die Hässlichen und »Nerds«. Alles Evolution? Muss wohl. Sie können sich jede beliebige Teenagergruppe anschauen: Die gruppieren sich sofort in zwei soziale Hierarchien − eine Jungen-­‐ und eine Mädchen-­‐Hierarchie. Und? Was bestimmt die Rangfolge? Studien zeigen, dass es bei den Mädchen Schönheit ist. Bei Jungen geht es um Tapferkeit und Können. Das ist seltsam, denn das Herausragende am Menschen ist, dass er sehr gescheit ist. Aber das beeinflusst Hierarchien nicht besonders. Das ist ein bisschen deprimierend, aber wahr. Bei Erwachsenen ist es übrigens ähnlich: Das Aussehen scheint sehr wichtig <strong>zu</strong> sein. Heißt das nicht, dass Außenseiter ein Leben lang »draußen« bleiben − außerhalb der »In-Groups«? Kommt darauf an, welche Art von »Nerd« man ist. Es gibt Forscher, die führen an, dass Kunst als Instrument entwickelt wurde, um das andere Geschlecht <strong>zu</strong> beeindrucken. Hier zeigt sich, dass Evolution nicht besonders feministisch ist. Anscheinend finden Frauen Künstler wesentlich attraktiver als Männer Künstlerinnen. Das ist ein Argument dafür, warum viele der berühmten Musiker und bildenden Künstler der Geschichte Männer sind. Aber dafür könnte es natürlich auch andere Gründe geben. 22


»über jungs«Wenn Tapferkeit und Dominanz unter männlichen Jugendlichen, Schönheit unter Mädchen die Hackordnung bestimmen, haben feministische Bestrebungen dann überhaupt einen Sinn? Immerhin scheinen Frauen bei der Partnerwahl die Macht <strong>zu</strong> haben. Studien zeigen, dass die Frauen diejenigen sind, die die Wahl treffen. Das liegt daran, dass Frauen mehr investieren bei der Reproduktion. Ihre Hauptbotschaft ist: Seid nachsichtig mit den Teenagern, ihr Gehirn ist eine Baustelle. Ja, in dieser Zeit passieren eine Menge Umbauarbeiten im menschlichen Gehirn. Vor 250000 Jahren erreichte unser Gehirn mit dem Homo sapiens seine jetzige Größe. Seither gibt es Teenager. Vorher dauerte es vielleicht acht oder neun Jahre, erwachsen <strong>zu</strong> werden. Erst mit dem Homo sapiens zog sich die Reifezeit 15, 16, 18 Jahre lang hin. In Hirnscans kann man sehen, dass das Gehirn mit zwölf am größten ist, danach wird es kleiner bis wir 20 sind. Kleiner? Ja, das liegt daran, dass es in dieser Zeit neu strukturiert wird. Ein sehr komplexer Prozess. Trillionen Verbindungen werden gekappt. Außerdem kriegen die Hauptverbindungswege eine Fettisolierung, die für ein höheres Übertragungstempo sorgt. Obendrein ändert sich die Hirnchemie vollständig, und aktiviert so den präfrontalen Cortex im Gehirn. Erst das macht abstraktes Denken möglich. Heißt das, dass Wissenschaft ohne Teenager unmöglich wäre? Davon bin ich überzeugt. Und ich glaube, viele Probleme, die wir mit Teenagern haben, sind in diesem gigantischen Umbau begründet. Ganz simpel: Die plötzliche Müdigkeit und Trägheit. Aber auch positive Dinge: Teenager lernen in dieser Zeit, all diese komplizierten Dinge, die in ihrem Kopf herumgehen, aus<strong>zu</strong>drücken. Und: Sie sind in der Lage, in völlig verschiedenen Sprachen mit Lehrern, Eltern, kleinen Geschwistern und Freunden <strong>zu</strong> sprechen. Das ist eine enorme Leistung. Ein Beispiel: Meine Teenager-­‐Tochter grunzt mich manchmal bloß an, aber mit fremden Erwachsenen spricht sie im nächsten Moment sehr artikuliert. Sollte man Jugendliche überhaupt in die Schule schicken, wenn sie ohnehin keine Energie haben <strong>zu</strong><strong>zu</strong>hören? Sie sind zweifellos schnell gelangweilt. Aber Lernen und Bildung sind nun mal sehr wichtig, um Erfolg <strong>zu</strong> haben. Vielleicht geben sie es nicht <strong>zu</strong>, aber Teenager wissen schon, warum sie in die Schule müssen. Manche Bildungsreformer empfehlen, 14- oder 15-Jährige aus den Klassenzimmern <strong>zu</strong> holen und praktische Dinge mit ihnen <strong>zu</strong> tun. Vor 2000 Jahren konnte man vermutlich mit zehn seine Ausbildung beenden und wusste genauso viel wie jeder andere auch. Aber heute dauern Schule und Ausbildung immer länger. Das steht im Konflikt mit dem Wunsch der Teenager, das Nest <strong>zu</strong> verlassen und ist einer der Hauptgründe, warum wir so viele Probleme mit ihnen haben: Sie sollten mit 16 eigentlich gar nicht mehr bei uns wohnen. Stattdessen sorgen Wohnungsnot und lange Ausbildungszeiten in manchen Ländern dafür, dass die Kinder noch mit Mitte 20 bei den Eltern wohnen. Die Evolution hat das so nicht vorgesehen. 23


»über jungs«Teenager müssen Risiken wagen, um <strong>zu</strong> lernen. Wird ihnen das heute noch oft genug erlaubt? Das Problem ist die Art von Risiken, denen sie heute ausgesetzt sind. Vor tausenden Jahren war das Risiko vielleicht, von einem Baum <strong>zu</strong> stürzen oder von einem Tier angefallen <strong>zu</strong> werden. Drogen, schnelles Autofahren, ungeschützter Sex − all diese Risiken der modernen Welt können Teenager nicht wirklich einschätzen. Teenager sind nicht für die Gefahren der modernen Welt gerüstet. Ist die Welt <strong>zu</strong> komplex? Ja und unsere Instinkte helfen uns nicht weiter. Das Problem haben Erwachsene ja auch. Sollen Teenager Ihrer Meinung nach Sex haben? Es ist klar, dass sie Sex haben wollen. Es wäre ja sinnlos, ihn sechs Jahre lang <strong>zu</strong> ersehnen, um ihn nicht <strong>zu</strong> haben. Ich glaube Erwachsene sind ein bisschen heuchlerisch bei dem Thema. Sie wollen, dass ihre Kinder mit 21, 22 einen auf Vertrauen und Selbstbewusstsein basierenden Sex haben sollen. Aber wie sollen sie das lernen ohne <strong>zu</strong> üben? Wichtig ist, warum, mit wem und in welchem Kontext. Mir ist es lieber, jemand hat mit 14 in einer guten Beziehung Sex als mit 21 in einer gewalttätigen. Behalten Erwachsene den Charakter, den sie mit 18 ausgebildet haben? Ich glaube, <strong>zu</strong> einem großen Teil ja. Wir Menschen lernen die Spanne unseres sozialen Verhaltens bis wir 18 sind, danach tut sich nicht mehr viel. Es ist sogar sehr schwierig, Menschen danach noch <strong>zu</strong> ändern. Das heißt doch, dass Eltern ein strenges Auge auf die Freunde ihrer heranwachsenden Kinder haben sollten, oder? Ach nein, ich glaube Jugendliche sind da sehr selektiv. Wenn sie gerne mit einem laut sprechenden dominanten Freund <strong>zu</strong>sammen sind, heißt das noch lange nicht, dass sie selbst so sein wollen. Vielleicht ist er nur unterhaltsam. Dass die Freunde gerne riskante, gefährliche Dinge tun, muss nicht heißen, dass sie es selbst machen wollen. Der Teenager wählt aus, was er übernehmen will und was nicht. Und er bringt eine Persönlichkeit aus der Kindheit mit, die das kontrolliert. Die Persönlichkeit fängt ja nicht erst an sich <strong>zu</strong> entwickeln, wenn man zwölf ist: Schon Babys haben einen Charakter. www.fr-online.de/wissenschaft/das-gehirn-ist-eine-baustelle/-/1472788/4884426/-/index.html24


»über jungs«Kapitel 3Emotionenkochen hochSeidlerDuvaldier: Kochen ist immer ein Prozess in kleinen Schritten. Eins nach dem anderen. Und so funktioniert auch das Leben. Kleine Schritte. (...) Bevor ihr was <strong>zu</strong> Ende gebracht habt, habt ihr schon Schritt zwei und sieben angefangen. So kann man nicht kochen. Und so kriegt man auch sein Leben nicht in den Griff.25


»über jungs«KüchenritualeVon Küchenchef Anthony Bourdain.Wir empfanden uns als einen Stamm von Eingeborenen, und als solche hatten wir ein paar ungewöhnliche Bräuche, Rituale und Praktiken, uns ganz allein <strong>zu</strong> Eigen. Wenn sich jemand in der Küche schnitt, dann verlangte die Tradition maximalen Erguss und Ausbreitung von Blut. Einer drückte die Wunde, bis es richtig lief, und schleuderte dann große Ladungen rote Spritzer auf die Jacken und Schürzen der Kameraden. Wir liebten Blut in unserer Küche. Wenn sich einer heftig verstümmelte, war das keine Schande; wir machten einen Abdruck in Form eines kleinen Kochmessers unter seinen Posten, um das Ereignis für die Nachwelt fest<strong>zu</strong>halten. Nach einer Weile hatte man dann eine kleine Ansammlung von diesen Dingern, so wie ein Kampfpilot. (...) Köche, die uns verließen, und favorisierte Kellner wurden an ihrem letzten Arbeitstag da<strong>zu</strong> eingeladen, ihre versifften Arbeits-­‐schuhe an eine Ruhmeswand neben Sammys Kellerbüro <strong>zu</strong> nageln. Im Lauf der Zeit wurden reihenweise modernde Arbeits-­stiefel, Schuhe und Turnschuhe an diese Wand gehämmert, eine etwas grimmige Erinnerung an geschiedene Freunde. An Abenden mit wenig Geschäft – von denen es beunruhigenderweise immer mehr gab – amüsierten wir uns mit Speisefarben und süßem Teig. Wie sich herausstellte, war Dimitri äußerst geschickt im Formen von lebensechten Fingern, Zehen und Sexual-­organen aus Grundnahrungsmitteln. Er bastelte erschreckend realistische abge-­trennte Daumen – die Haut brutal zerfetzt an einem Ende, Knochenfragmente aus den weißen Teilen von Lauch ragten aus der Wunde –, und wir legten diese Dinger aus, damit ahnungslose Kellner und Geschäfts-­führer darüber stolpern würden. Mondalski, Achilles, Neumann, Seidler, Ahrens26


»über jungs«Ein Kellner öffnete morgens beispielsweise eine Kühlschublade und fand darin eine abgerissene Fingerspitze, an der noch das Pflaster klebte, mit einem gerüschten Zahn-­stocher auf eine Scheibe Toast gespickt. Ein Servicemanager wurde mitten in einer Abendschicht in die Küche gerufen und sah dort einen von uns neben einem blutigen Schneidebrett stehen, ein rot verschmiertes Geschirrtuch um die Hand gewickelt. Und als er näher kam, fiel einer von Dimitris grausigen Fingern auf seinen Fuß. Wir experimentierten ständig und stellten <strong>zu</strong> unserem Entzücken fest, dass süßer Teig, wenn er richtig geformt und gefärbt war, nicht nur aussah wie echtes Fleisch, sondern auch die Fliegen anzog wie echtes! Wenn man Dimitris falsche Gliedmaßen über Nacht bei Zimmer-­‐temperatur liegen ließ, konnten sie sich <strong>zu</strong> einem wirklich entsetzlichen Spektakel auswachsen. Nachdem aber all-­mählich das gesamte Personal vollkommen abgestumpft war, was den Anblick eines abgetrennten, mit Fliegen übersäten Penis im Urinal oder den Fund eines blutigen Fingers in der Schürzentasche anging, stürzten wir uns in noch größere Schand-­taten. Eines Nachts zogen wir Dimitri, mit seinem vollen Einverständnis, nackt aus, bespritzten ihn von Kopf bis Fuß mit <strong>Theater</strong>blut, wickelten ihn in Frischhaltefolie und verstauten ihn dann in einer Gefrier-­truhe in einem dunklen Winkel im hinteren Lagerbereich des Lokals. Seine Gliedmaßen arrangierten wir in unnatürlich verkrampf-­ter Pose – als hätte man ihn achtlos post mortem hier hineingeworfen. Dann riefen wir über die Gegensprechanlage den Geschäftsführer und fragten ihn, ob er Dimitri gesehen hätte. Wir hätten ihn schon seit Stunden nicht gesichtet, erklärten wir, und würden uns Sorgen machen. Dann fragten wir das arme Schwein, ob er so nett wäre, uns eine Schachtel Shrimps aus dem Gefrierschrank <strong>zu</strong> holen, wir hätten einfach nicht genug Leute, Dimitri sei verschollen und so weiter und vier Tische müssten auf einmal bedient werden. Ich glaube, Sie können sich vorstellen, was der Manager erlebte: Er eilt in die modrige Ecke des Kellers, eine einsame Glühbirne erleuchtet die Gefriertruhe. Er hebt den Deckel und findet dort den nackten, fischbauchweißen, blutbespritzten Leichnam unseres verschol-­lenen Kameraden, der ihn mit toten Augen durch eine dünne Schicht Frischhaltefolie anstarrt. Der leichte Frost, der sich innen an der Folie abgesetzt hat, macht das ohnehin gruselige Szenario noch viel erschreckender und realistischer. Wir mussten dem Typen schließlich eine Ampulle Poppers verab-­reichen, seine Knie hatten ihm den Dienst versagt, und erst nach über einer Stunde konnte er wieder an seine Arbeit gehen. Dimitri fing sich bei seinen Bemühungen natürlich eine fürchterliche Erkältung, aber es war die Sache wert. Der Geschäftsführer verließ uns bald darauf – und er machte sich nicht die Mühe, seine Arbeitsstiefel an unsere Ruhmeswand <strong>zu</strong> hängen. Aber Geschäftsführer und Besitzer waren uns ziemlich egal und eigentlich auch die Kunden. (...) Bourdain, Anthony. Geständnisse eines Küchenchefs, GoldmannVerlag, 2003.27


Raaaah!»über jungs«Auch Sterneköche können eine harte Vergangenheit haben: Unser Kolumnist Tim Raue war früherMitglied einer Berliner Gang und ging keiner Prügelei aus dem Weg. Heute ist er ein – fast – völlig andererMensch. Ein Gespräch über Gewalt auf der Straße, <strong>zu</strong> Hause und am Herd.SZ Magazin: Herr Raue, Sie haben eine wilde Vergangenheit für einen Koch und wissen sicher, was mehr weh tut: ein Tritt in den Unterleib oder ein Schlag in die Nieren? Tim Raue: Das nimmt sich nicht viel, in beiden Fällen geht man k. o. Am meisten schmerzt die Demütigung, verloren <strong>zu</strong> haben. (...) Was haben Sie gesucht bei der Straßengang? Anerkennung und Aufmerksamkeit. Ich bin als Scheidungskind zwischen Mutter und Vater hin-­‐ und hergereicht worden. Die Gang war in der Pubertät meine Ersatzfamilie, gab mir Identität. Prügeln wirkt identitätsstiftend? Die Zugehörigkeit <strong>zu</strong> einer Gang tut es, ja. Ich habe sicher viel Mist gebaut damals, aber ich habe nie einen Wehrlosen verprügelt. Ich bin nie die Straße langgegangen und habe gedacht: Der sieht aus wie ein Arschloch, dem haue ich jetzt auf die Fresse. Ich habe mir Gegner gesucht, die sich auch schlagen wollten. Die Prügeleien damals waren eher eine Art Duell, mit dem man sich Anerkennung verschafft hat, mit dem man sich gegen verschiedenste Demütigungen wehren wollte. Ich bin ja auch nur beigetreten, um nicht derjenige <strong>zu</strong> sein, der auf die Fresse kriegt und unterdrückt wird. Und die türkische Gang hat mich auch nicht aufgenommen, weil ich so ein netter deutscher Kerl war, sondern weil ich so aggressiv war und ohne groß nach<strong>zu</strong>denken <strong>zu</strong>schlagen konnte. Das habe ich von meinem Vater gelernt. Der hat mich mit dem Kochlöffel verdroschen, seit ich neun war und bis ich mich mit 14 endlich wehren konnte. Ich hatte am ganzen Körper blaue Calamariringe. Deswegen habe ich eine Zeit lang immer gleich <strong>zu</strong>geschlagen, sobald ich mich bedroht fühlte. Wie haben Sie den Absprung geschafft? Mit 17 habe ich eine Kochlehre begonnen, die hat mich in gewisser Weise gerettet. Da musste ich lernen, bei einem Streit nicht immer gleich los<strong>zu</strong>prügeln. Hat Ihnen Ihre Vergangenheit vielleicht auch geholfen, sich in der Küche durch<strong>zu</strong>setzen? Eindeutig. Die Konflikte auf der Straße und in der Küche ähneln sich: Ich wusste, wie das als Lehrling in der ersten Woche ist, allein gegen alle, wenn alle dich hassen. Durchhalten hatte ich auf der Straße gelernt, ich war ständige Extremsituationen gewohnt. Mittags und abends herrscht in jeder Küche Notstand. Um mit erst 23 Jahren schließlich Küchenchef <strong>zu</strong> werden, muss man auch eine Portion Aggressivität mitbringen. Ich hatte gelernt, dass man manchmal auch mit schmutzigen Tricks kämpfen muss. (...) Jede Küche ist ein Löwenkäfig? Jeder will weiterkommen, du bist Jungkoch, Commis heißt das, und willst <strong>zu</strong>m Demi-­‐Chef aufsteigen, und dann willst du Chef de Partie werden, Abteilungsleiter. 28


»über jungs«Wird deswegen in großen Küchen so viel geschrieen? In einer normalen Küche werden Kommandos nur gebrüllt, und wenn man nichts verstanden hat, schreit man <strong>zu</strong>rück, so schaukelt sich der Lärm hoch. Schreien Sie auch? Ja, ich habe meine Mitarbeiter eine Zeit lang wirklich nicht gut behandelt. Im »Swissôtel« hier in Berlin hatte ich eine Küchenbrigade mit mehr als 40 Leuten, ein Restaurant mit 100 Sitzplätzen, war außerdem für Catering und Bankette sieben Tage die Woche, 365 Tage im Jahr verantwortlich. Wir arbeiteten alle die ganze Zeit am Anschlag, der Druck war immens. Ich habe nicht von morgens bis abends gebrüllt, aber ich war jeden Tag schnell überfordert. Wenn dann etwas aus den Fugen gerät hört dir keiner <strong>zu</strong>, wenn du sagst: Du, Peter, jetzt bleib mal einen Moment stehen, wir müssen reden! Wo sind die Hamachis, die ich für Tisch 27 brauche? Warum hat niemand an die Muschelallergiker an Tisch drei gedacht? Sondern du sagst schnell: Du blöder Fatzke, wo bleibt das Amuse-­‐Gueule für Tisch 18? Und wenn das nicht hilft, haust du auf den Tisch, damit du dir Gehör verschaffst. Für den Zweck hatte ich sogar ein Stück Gartenschlauch. Und irgendwann reicht das auch nicht mehr, und du rennst mit dem Schlauch hinter jemandem her. Ab diesem Augenblick wusste ich: So geht es nicht weiter, ich will nicht so werden wie mein Vater. Haben Sie in der Küche auch geschlagen? Früher habe ich mal meinen Chefkoch k. o. geschlagen, der hat mich in ein Regal geschubst, ich hatte eine Kelle in der Hand, das war ein Reflex, ein unglücklicher Unfall, es tat mir nachher sehr leid. Diese Reflexe habe ich mir auf der Straße antrainiert, die gehen nicht mehr weg. Du funktionierst, ohne nach<strong>zu</strong>denken. Und das brauchst du eigentlich auch in der Küche. Jeder Handgriff muss sitzen. Wenn du anfängst <strong>zu</strong> überlegen, in welcher Schublade das Lammfleisch liegt, bist du nicht schnell genug. Sie schreien nie mehr? Selten. Das muss schon ein ganz mieser Tag sein. Schreien bringt mir nichts und meinen Leuten auch nicht. Jemanden <strong>zu</strong> demütigen, finde ich aber viel schlimmer. Etwa Schimpftiraden über seine Familie und welche Berechtigung sie hat, sich <strong>zu</strong> vermehren, die spare ich mir heute wirklich. Früher habe ich geschrien: Was machst du für einen Mist, Alter? Da draußen sind Leute, die sind 2000 Kilometer für das Essen hergeflogen, und du lieferst so einen Mist, bist unkonzentriert, weil du gestern saufen warst. Heute sage ich nach dem dritten Fehler: Komm, mein Freund, geh nach Hause, ich übernehme deinen Posten. Macht für alle mehr Sinn als jeder Anschiss. SZ Magazin, Süddeutsche. Essen & Trinken | Heft 13/201129


»über jungs«Warum essen Mädchen Salat und Jungen Fleisch?Ernährungsverhalten als Ausdruck von Geschlechtlichkeit, als »doing gender«? Sozialwissenschaftlerbestätigen das.Essen und Geschlecht – ein junges Thema Geschlechtliche Aspekte <strong>zu</strong> berücksichtigen, das so genannte »Gender Mainstreaming« in der Gesundheitsförderung, ist seit längerem ein Thema in sozialen Zusammenhängen. In Schulen und anderen Settings geht es um »Mädchenförderung« einerseits und »Jun-­genförderung« andererseits. Die These, dass der persönliche Ernährungsstil etwas nicht nur biologisch vorgegebenes und individuell ausgeformtes ist, sondern auch mit der Ausübung von Geschlecht <strong>zu</strong> tun hat, ist in der Ernährungslehre relativ neu. Bisher hieß es: Männer und Frauen ziehen unterschied-­liche Nahrungsmittel vor. Warum sie das tun, war nicht Gegenstand ernährungswissen-­schaftlicher Forschung. Geschlecht muss man leben Die sozialwissenschaftliche Genderforschung sagt da<strong>zu</strong>: Geschlecht ist nicht etwas von der Natur vorgegebenes, was einfach »da« ist. Geschlecht muss aktiv gelebt werden, um in gesellschaftlichen Zusammenhängen sicht-­bar <strong>zu</strong> sein. Menschen wollen sowohl sich selbst als Mann oder Frau definieren, sie wollen aber auch das Verhalten der Per-­sonen um sie herum als eher männlich oder eher weiblich einordnen. Geschlecht ist etwas, was immer wieder auf’s Neue gelebt werden muss. Durch ein bestimmtes Er-­nährungsverhalten wird Geschlecht herge-­stellt, sich selbst und anderen gezeigt. Ernährungsverhalten ist auch demonstrierte Geschlechtlichkeit. Die Ernährung stellt eine besonders intensive Form der Herstellung von Geschlecht dar, weil das, was man isst, direkt Auswirkung auf den männlichen oder weiblichen Körper hat. Frauen verzichten, Männer genießen Die Soziologin Dr. Monika Setzwein führt hierfür Beispiele an: Zurückhaltung beim Essen wird eher als weibliches Verhalten definiert, große Nahrungsmittelmengen <strong>zu</strong> vertilgen oder schnell <strong>zu</strong> essen, eher als männliches Verhalten. Das kräftige Beißen in eine Schweinshaxe wird als »unweiblich« oder eher männlich aufgefasst. Mit spitzen Lippen an einem Glas <strong>zu</strong> nippen, wird mit Weiblichkeit in Verbindung gebracht, das sturzartige Trinken aus der Flasche eher als männlich interpretiert. Bereits einzelne Namen von Gerichten weisen auf ein ge-­schlechtsbezogenes Image hin: Man spricht vom »Holzfällersteak« einerseits und von »Madeleine« (feinen Törtchen) andererseits. Der Stammtisch als Männlichkeitssymbol Das Kaffeekränzchen ist gleichbedeutend mit einer »Damenrunde«, der Stammtisch in der Eckkneipe eher mit einer Herrenrunde. Das Grillen im Freien ist eine männlichkeits-­betonte Darstellung von Geschlecht, wäh-­rend Dünsten und Kochen eher weiblich interpretiert wird, erklärt Setzwein. Das heißt, es wird also einzelnen Lebensmitteln, Verhaltensweisen und auch den Zusammen-­hängen oder Räumen, in denen sie vorkom-­men, ein Geschlecht <strong>zu</strong>gewiesen. Gleichzeitig führt die Ausübung von als weiblich oder männlich interpretiertem Verhalten <strong>zu</strong>r Ver-­stärkung des geschlechterbezogenen Images. Maß halten macht Frauen attraktiv In Experimenten wurde festgestellt, dass eine Frau, die im Rahmen einer Mahlzeit wenig isst, als besonders weiblich erlebt wird, sie erscheint sogar attraktiver, besser aussehend und gefühlsbetonter, als wenn sie »ordentlich <strong>zu</strong>langt«. Frauen haben tra-­ditionell ein aufgeschlosseneres Verhältnis gegenüber dem Thema Ernährung, während Männlichkeit eher bedeutet, sich über Ernährungsempfehlungen hinweg <strong>zu</strong> setzen, den Genuss in den Mittelpunkt der Er-­nährung <strong>zu</strong> stellen. Es wird als männlich empfunden, sich auch beim Essen dominant <strong>zu</strong> zeigen, wenig ängstlich <strong>zu</strong> sein. Gesund-­heitsriskante Verhaltensweisen, auch, aber nicht nur beim Essen, passen in das tra-­ditionelle Konzept von Männlichkeit. 30


»über jungs«Schon bei Mädchen und Jungen sichtbar Diese geschlechterbezogene Auffassung des Themas Ernährung ist bereits bei Mädchen und Jungen vorhanden. Jungen betonen in Befragungen den Genussaspekt des Essens, Mädchen äußern eher Ängste und den Wunsch nach mehr Kontrolle über das eigene Essverhalten. Von Mädchen wird Essen sogar als bedrohlich empfunden, als etwas, das besonders vorsichtig angegangen werden muss. (...) Geschlechtssensibilisierte Ernährungserziehung wagen Dieses Wissen legt nahe, in Be<strong>zu</strong>g auf das Thema Ernährung geschlechtssensibilisierte Zugänge <strong>zu</strong>r Arbeit mit Mädchen und Jungen <strong>zu</strong> suchen. »Gender Mainstreaming« ver-­langt, geschlechtsbezogene Verhaltenswei-­sen von Mädchen und Jungen <strong>zu</strong> respek-­tieren. Beide Geschlechter bekommen jedoch die Chance, die mit dem jeweils anderen Geschlecht assoziierten Verhaltensweisen kennen <strong>zu</strong> lernen, um ein individuell befriedigendes Verhaltensrepertoire <strong>zu</strong> ent-­wickeln. Für die Ernährungserziehung be-­deutet das: Mädchen und Jungen sollten Ge-­schlechterimages aufbrechen dürfen: Mäd-­chen und Jungen sollten sowohl kochen als auch grillen. Mädchen dürfen ein Stück Fleisch mit den Händen verschlingen, Jungen einen Salat <strong>zu</strong>bereiten und verspeisen. Eventuell macht es Sinn, Schülergruppen nach Geschlecht auf<strong>zu</strong>teilen und sie bewusst Verhaltensweisen ausüben <strong>zu</strong> lassen, die typischerweise dem anderen Geschlecht <strong>zu</strong>-­gewiesen werden. Mädchen dürfen sich dann einmal richtig »gehen lassen« beim Essen. Jungen dürfen ihre Fragen <strong>zu</strong>m Schlank sein und <strong>zu</strong> Diäten stellen und werden damit ernst genommen. Das Wissen um die starke Geschlechtlichkeit von Essen weist den Weg für Motivationen beider Geschlechter, sich mit dem Thema gesunde Ernährung <strong>zu</strong> befassen. www.talkingfood.de/lehrer_special/gesunde_schule/Titel-Warum_essen_M%C3%A4dchen_Salat_und_Jungen_Fleisch%3F,6,28,18.html31


»über jungs«Schüler initiierte Kochkursmit gewaltbereiten JugendlichenSpitzenköche engagierten sich bei »Kochen Gegen Gewalt« gegen Perspektivlosigkeit.Berlin, 30. Mai 2006. Sechs Jugendliche mit Neigung <strong>zu</strong> Gewalt bereiteten gemeinsam mit Spitzenköchen im Biosupermarkt Bio-­lüske in Steglitz vom Samstag, 27. bis Mon-­tag, den 29. Mai exquisite Speisen <strong>zu</strong>. In Zusammenarbeit mit dem Anti-­‐Gewalt-­‐Zentrum Berlin-­‐Brandenburg initiierte der 16jährige Schüler Sammy Bahlsen das Projekt «Kochen Gegen Gewalt«. Jugendliche zwischen 13 bis 17 Jahren lernten, Per-­spektivlosigkeit und negativer Lebensein-­stellung Freude am Essen und seiner Zube-­reitung entgegen<strong>zu</strong>setzen. Der 13jährige Teilnehmer Kevin: »Ich hatte mal mit einer Eisenkette jemand den Kiefer gebrochen. Hier lernte ich nun ein paar Tricks <strong>zu</strong>m Kochen. Damit kann ich jetzt anderen eine Freude machen. Der Kurs war sehr spaßig, weil die Köche auch viel Humor hatten und weil die immer gut geholfen haben, wie das alles geht. Wir kochten Spargel mit Kartoffel mit Sauce Hollandaise und Lammschnitzel. Nachspeise waren Waffeln mit Kirschen und Sahne«. Organisiert wurde das Projekt von Sammy Bahlsen, einem Schüler einer 10. Klasse der Berlin-­‐Brandenburg International School (BBIS). Auslöser war ein persönliches Erlebnis von Sammy Bahlsen: »Vor kurzem wurde ich in der S-­‐Bahn von Jungs in meinem Alter fast <strong>zu</strong>sammen geschlagen, das war schrecklich. Gegen Gewalt von Ju-­gendlichen hilft Reden nur wenig. Ich wollte etwas Praktisches dagegen tun.« »Ich werde den Jungs zeigen, wie man sich fühlt, wenn man jemanden mit gutem Essen glücklich macht«, sagte Martin Baudrexel von der RTL2-­‐Show »Die Kochprofis«. Baudrexel und Chefköche des Jüdischen Museums und des KaDeWe begleiteten die Jugendlichen während der dreitägigen Ver-­anstaltung. Der Biosupermarkt Biolüske, der letztes Jahr als bester Deutschlands ausge-­zeichnet wurde, bot sich als Partner an. Inhaber Frank Lüske: «Bei uns können sich die Jugendlichen kreativ austoben. Nachdem wir Sammy Bahlsen kennen gelernt hatten, war für uns klar, ihm das Kochstudio, die Biolebensmittel und das Servicepersonal kostenfrei <strong>zu</strong>r Verfügung <strong>zu</strong> stellen. Sein Projekt hat uns einfach überzeugt.« Auch Thomas Schädler, Direktor der in Kleinmachnow angesiedelten BBIS war von Sammy Bahlsens Idee begeistert: «Kochen Gegen Gewalt, auf so eine Idee muss man erst mal kommen. Sammy Bahlsen hat sich nicht gescheut, gleichaltrige Jugendliche durch ein unkonventionelles Medium an-­<strong>zu</strong>sprechen. Taten statt Worte -­‐ da mache ich mit!« Das Grußwort <strong>zu</strong> dem dreitägigen Projekt schrieb der Regierende Bürgermeister von Berlin, Klaus Wowereit: »Dieses Beispiel sollte Schule machen. Das harmonische Miteinander, welches das Kochteam <strong>zu</strong>m Gelingen braucht, beweist, wie sinnvoll es ist, wenn nicht jeder mit Gewalt sein eigenes Süppchen kocht.« www.openpr.de/drucken/88425/Schueler-initiierte-Kochkurs-mit-gewaltbereiten-Jugendlichen-Spitzenkoeche-engagierten-sich-bei-Kochen-Gegen-Gewalt-gegen-Perspektivlosigkeit.html32


»über jungs«Kapitel 4Männerbilder/FrauenbilderMondalski, Wolf, Reithmeier, AchillesKonstantin: Duvaldier: Konstantin: Duvaldier: Konstantin: Duvaldier: Konstantin: Ich kann so nicht kochen. Wie kannst Du nicht kochen? Na, mit nem Mädchen im Kurs. Warum nicht? Aus religiösen Gründen. Verscheißern kann ich mich selber. Wenn der hier kein Schweinefleisch aushält, bitte, aber ich halt eben kein so<strong>zu</strong>sagen Weiberfleisch aus. 33


Das verteufelte Geschlecht»über jungs«Christoph Kucklick, Autor in Berlin, hat über das negative Männerbild promoviert. Sein Buch Dasunmoralische Geschlecht ist im Suhrkamp Verlag erschienen.(...) Das Stereotyp vom unmoralischen, gewalttätigen, sexuell unersättlichen Mann ist weit vor dem Feminismus entstanden, an einer historischen Schlüsselstelle: <strong>zu</strong> Beginn der Moderne, um 1800. Die Geburt des maskulinen Zerrbildes ist also unmittelbar mit der Geburt der modernen Gesellschaft verbunden, seither schreiten beide, Moderne und verteufelte Männlichkeit, gemeinsam und untrennbar durch die Historie. Das Unbehagen an der Moderne wurde <strong>zu</strong>m Unbehagen am Mann. Und umgekehrt. Und wir müssen an den Startpunkt <strong>zu</strong>rückgehen, um uns von diesem Missver-­ständnis <strong>zu</strong> befreien. Davor erhebt sich allerdings eine hohe Hürde; sie besteht in einem Irrtum der Geschlechterwis-­senschaften. Die gehen mehrheitlich davon aus, <strong>zu</strong> Beginn der Moderne habe der Mann sich selbst <strong>zu</strong>m Inbegriff des Menschlichen erklärt, als überlegenes Geschlecht, rational, moralisch und fehlerlos. Im Unterschied <strong>zu</strong>r emotionalen, häuslichen und einfältigen Schwundform des Menschen namens Frau. Als »Mann plus, Frau minus« wurde dieses vermeintliche Denkmodell bezeichnet – um es als patriarchal und anmaßend <strong>zu</strong> bekämpfen. Nur leider: Es ist bloß ein Mythos. Um 1800 kommt als eigentliche historische Neuerung vielmehr ein Diskurs auf, der Männer als naturhaft unmoralisch, gewalttätig, egoistisch, asozial, hypersexuell, gefühlskalt, kommunikationsunfähig und verantwortungslos charakterisiert. Die Vor-­würfe beginnen etwa um 1765. Im Jahre 1779 weiß der schottische Aufklärer William Alexander bereits: »Der Mann ohne weib-­liche Begleitung ist ein gefährliches Tier der Gesellschaft.« Kurz darauf sieht der deutsche Bildungsreformer Wilhelm von Humboldt in naturaler Männlichkeit nichts als »Härte und Gewalttätigkeit«, nur »Einseitigkeit« und »Mangel«, was ihn <strong>zu</strong>r Schlussfolgerung ver-­leitet: dass »sich der Mann von seinem Geschlecht lossagen und sich dem Weib-­lichen nähern müsse, um wahrer Mensch <strong>zu</strong> werden«. (...) In Aberhunderten Quellen der Zeit, in Büchern, Aufsätzen, Traktaten, finden sich die Spuren dieser aufkeimenden Überzeu-­gung, die bedeutendsten Philosophen von Adam Smith über Kant <strong>zu</strong> Hegel wirken an ihr mit, bis dieses »Wissen« vom Mann um 1850 schließlich Eingang in die Lexika findet und kanonisch wird. (...) Und wo ist Rettung aus dieser Kältekammer des Männlichen? Man ahnt es: bei der Frau natürlich. Nur sie, und nur sie allein, ist <strong>zu</strong>r Liebe und damit <strong>zu</strong>r Ehe fähig. So kann allein sie den Mann zivilisieren und die bürgerliche Gesellschaft <strong>zu</strong> einer leidlich anständigen machen: indem die Frau sich unter Aufgabe aller Individualität und aller Rechte unter-­wirft, um durch die Übergröße ihres Opfers im Manne wenigstens ein paar moralische Anwandlungen <strong>zu</strong> wecken. Und diese dann im Laufe der Ehe so weit <strong>zu</strong> nähren, dass der Mann wider seine Natur <strong>zu</strong>m brauchbaren Mitglied der Gemeinschaft emporsteigt. Es klingt wie ein böser Traum – aber so ge-­walttätig, so furchterregend für beide Ge-­schlechter präsentiert sich der Ur-­‐Gedanke der modernen Männerskepsis. Er ist auch eine Revolution: Als erste Epoche erzählt die Moderne keine Heldengeschichte der Männer, sondern eine Problemge-­schichte. Das schließt nicht aus, zivilisierte Männer, die ihre Natur hinreichend über-­wunden haben, als Vorbild <strong>zu</strong> verherrlichen – es gibt um 1800 stets auch die Perspektive auf eine taugliche, weil reformierte Männlichkeit. Ebenso finden sich Über-­treibungen in die Gegenrichtung, die das Bestialische des Männlichen <strong>zu</strong>r Weltenkraft hochschreiben – und dem Manne alle kalten Talente <strong>zu</strong>schreiben, die Moderne <strong>zu</strong> be-­wältigen: Wissenschaft, Technik, Krieg. Aber im Zentrum des Geschlechterverhält-­‐nisses steht nicht der überlegene Mann. Sondern der unmoralische. Dieser Einsicht folgt eine verhängnisvolle Geschlechterlogik. Die Ver-­worfenheit der Männer bedeutet nämlich auch für die Frauen nichts Gutes: Die haben jetzt ganz anders <strong>zu</strong> sein! Wenn Männer das Problem der Gesellschaft sind, müssen 34


»über jungs«Frauen die Lösung darstellen. Das geht nur, wenn sie von grundlegend anderem Charakter sind: einfühlsam, passiv, friedlich – der ganze Kanon der Beleidigungen einer reduzierten Weiblichkeit. Das Spiegelbild eben <strong>zu</strong> den Beleidigungen einer reduzierten Männlichkeit. (...) Die beklemmenden Imagi-­nationen von Männlichkeit und Weiblichkeit sind zeitgleich entstanden. Und bedingen einander. Doch während wir das Frauenbild inzwischen einer gründlichen Renovierung unterzogen und mit überfälligen Er-­gän<strong>zu</strong>ngen angereichert haben, sind uns ähnliche Aufhellungen des Männerbildes misslungen. (...) Aber wodurch wurde die Vorstellung von der bösen Männlichkeit ausgelöst? Man könnte vermuten, durch das Verhalten der Männer selbst. Durch em-­pirische Beobachtung gewissermaßen. Aber das bestätigt sich nicht. Im Gegenteil: Um 1800 machte der empfindsame Mann Kar-­riere, der sich von Macho-­‐Gehabe lossagte. Gewalttätigkeiten von Männern gingen sta-­tistisch belegbar <strong>zu</strong>rück (und tun es bis heute), und der warmherzige, sensible Typ avancierte <strong>zu</strong>m Ideal der Zeit. Die böse Männlichkeit sollte nicht das Ver-­halten der Männer erklären, sondern die Um-­brüche der Gesellschaft. Die Ständegesell-­schaft zerfiel, Hierarchien begannen sich auf<strong>zu</strong>lösen, und die Individuen wurden – meist gegen ihren Willen – aus alten Bin-­dungen freigesetzt. An die Stelle der Tra-­dition trat ein unübersichtliches, instabiles Gebilde: die moderne Gesellschaft. Ar-­beitsteilung, Individualisierung, Vervielfälti-­gung von Rollen durch neue Berufe, neue Verhältnisse. Diese Welt wurde gefeiert – und gefürchtet. Die Aufklärer bejubelten zwar, um sich selbst <strong>zu</strong> beruhigen, die Vernunft, aber die eigentlichen Schlagworte der Zeit lauteten: Entfremdung, Zerglie-­derung und Auflösung. Und die Ursache? Man wusste sich nicht besser <strong>zu</strong> helfen, als die Geschlechter <strong>zu</strong> nehmen. In einem vielschichtigen Denkprozess wurde das Be-­drohliche – aber auch Aufregende – des Neuen mit Männlichkeit verbunden. Und das Verlässliche – und Betuliche – der Tradition mit Weiblichkeit. (...) Die Männer, Kaufleute, Gelehrte und Philosophen, wurden gedacht als besonders infiziert vom Neuen – und als dessen Ursache. Ihre Sinne vertrockneten angeblich, ihre Herzen erkalteten, weil sie wie Fabrik-­waren in die Welt geworfen wurden. Ihre böse Natur sollte da<strong>zu</strong> passen, und sie passte sich an. So wurde Männern die Gier der Wirtschaft und die Machtlüsternheit der Politik als geschlechtsspezifisch unterstellt. Die unheimliche Moderne wurde männlich. (...) Am Anfang der Männerskepsis steht also nicht eine problematische Männlichkeit, son-­dern eine als problematisch empfundene Ge-­sellschaft, die verzweifelt nach einer Ursache ihrer Problematik sucht. Und diese in den Männern findet. Dabei war der Zusammen-­hang niemals streng, sondern immer vage, porös und provisorisch. Bis heute. Das große Irgendwie der Schuld<strong>zu</strong>weisung. Ähnlich grobschlächtig verläuft daher die Therapie. Denn am Manne versucht sich die Gesellschaft seither selbst <strong>zu</strong> therapieren. So avancierte der »Neue Mann« <strong>zu</strong>m Notnagel. Vom Mann wird Selbstverbesserung in Per-­manenz verlangt, schließlich belegt jede neue (Finanz-­‐, Welt-­‐, Sinn-­‐)Krise, dass seine jeweils letzte Veränderung un<strong>zu</strong>reichend war. (...) Seit den 1960ern wird die Versionen-­zählung der jeweils neuesten Männlichkeit unübersichtlich, gefühlt sind wir beim Neuen Mann 47.0 angekommen – aber noch immer »lassen Männer lieben«, gelten sie als »Auslaufmodell« oder arbeiten die neueste »crisis of masculinity« ab, um Veröffent-­lichungen der letzten Zeit <strong>zu</strong> zitieren. Unter der rein rhetorischen Überschrift Sind Frauen moralischer als Männer? konstatierte das Philosophie Magazin kürzlich: »Der Mann ist das problematische Individuum des 21. Jahrhunderts.« Ein Witz. Der Mann war auch das Problem des 18., des 19. und des 20. Jahrhunderts. Falls wir nicht schlauer wer-­den, wird er auch das des 22. Jahrhunderts sein. Und daneben steht die Frau, von der es heißt, sie sei die Lösung, wenn der Mann sie nur ließe. Aber eine Lösung dafür, wie sie sich durchsetzen kann, hat sie noch nicht. So hängen wir da, mit grotesk überzogenen Ansprüchen an den Erklärungswert von Geschlecht. Und <strong>zu</strong>gleich mit einer Wirklich-­keit, die durchwirkt ist von Geschlecht. Von dessen Überspanntheit und Unausweichlich-­keit. Und schlagen uns mit den Folgeschäden herum. Dabei könnten wir schlauer sein. Wann immer Wissenschaftler ausgezogen sind, grundlegende Differenzen zwischen 35


»über jungs«den Geschlechtern <strong>zu</strong> finden, sind sie mit leeren Händen wiedergekehrt. Statt stabiler Naturen finden Forscher etwas viel Ir-­ritierenderes: die federleichte soziale Er-­zeugbarkeit von Geschlecht. Unterschiede zwischen Männern und Frauen, aber auch innerhalb der Geschlechter, lassen sich bei Experimenten mit geringem Aufwand er-­zeugen. Oder nivellieren. Meist reichen we-­nige Worte. In ihrem exzellenten, gerade auf Deutsch erschienenen Buch Delusions of Gender (Die Geschlechterlüge) bereitet die Wissenschaftsautorin Cordelia Fine die Er-­gebnisse mit Akribie und Humor anhand vieler Beispiele auf. Männer gelten als be-­gabter in visuell-­‐räumlicher Vorstellung, was sich in Untersuchungen bestätigen lässt. Sagt man Frauen hingegen vor einem Experiment, ihre räumliche Vorstellungskraft sei ebenso gut – dann verschwinden die Unterschiede <strong>zu</strong> den Männern. Sagt man Männern, sie seien schlechter – dann schneiden sie schlechter ab. Frauen, so will es das Klischee, gelten als empathischer, versierter im Erkennen von Gefühlslagen. Es sei denn, man sagt Männern, sie seien darin ebenso be-­wandert – schon erweisen sie sich bei entsprechenden Tests als nicht minder fein-­fühlig. Mathematische Fähigkeiten? Männer im Schnitt besser. Es sei denn, man sagt Frauen, sie könnten es ebenso gut. (Ein wert-­voller Tipp für Mathe-­‐Lehrer.) Wissenschaftler nennen dieses Verfahren priming – die Impfung mit oder die Dämpfung von Stereotypen. Es scheint, dass die Effekte umso stärker sind, je subtiler das priming erfolgt, je beiläufiger der Abbau von Klischees. Auf der Strecke bleibt dabei jede Form von substanziellem, stabilem Unter-­schied zwischen den Geschlechtern. Geschlechterverhalten entsteht nicht durch Hormone, es entsteht durch Worte. Durch das, was wir reden – und uns einreden. Wenn wir es uns lange genug einreden, kann es aussehen wie Natur. Aber selbst dann können wir es noch ausschalten, wie die Versuche zeigen. Nur tun wir das meist nicht. Meist schalten wir ein. Auch die Wirklichkeit fügt sich längst nicht mehr den stereotypen Formvorschriften der Geschlechterbilder. So-­gar im Kern der vermeintlichen Unter-­schiede, bei Moral, Gewalt und Gier, häufen sich die Belege für ein Geschlechter-­‐Patt. Geschiedene Männer kommen ihren Unter-­haltspflichten nicht immer nach? Ja. Aber wenn Frauen zahlen müssen, überweisen sie deutlich seltener, so eine Studie des Justiz-­ministeriums.Häusliche Gewalt ist vor allem Männersache? Nein. Sie wird von beiden Geschlechtern etwa <strong>zu</strong> gleichen Teilen ausgeübt, von Beschimpfungen über Schläge bis <strong>zu</strong>m Ein-­satz von Waffen wie Küchenmessern. (...) Frauen führen anders, demokratischer? Oft ist das Gegenteil der Fall, und manche Frauen greifen <strong>zu</strong> besonders autokratischen Methoden, wie eine Studie des Bonner Forschungsinstituts <strong>zu</strong>r Zukunft der Arbeit 2009 ergab. Frauen bereichern sich weniger? Nicht die weiblichen CEOs in den USA. Die verdienten im Jahre 2009 rund 43 Prozent mehr als der Durchschnitt ihrer männlichen Kollegen. Frauen bilden weniger Seilschaften? Nicht jene Frauen, die in Norwegen »Goldröcke« genannt werden: Sie wurden durch eine gesetzliche Quote in die Verwaltungsräte gehievt, wo sie seither ein enges, lukratives Netzwerk bilden. Solche Befunde dürfen nicht als Kritik missdeutet werden oder als Retourkutsche gegen Frauen. Nein, es sind gute Nachrichten. Sie unterwandern die Il-­lusionen von der Geschlechterdifferenz. Die einzig plausible Einsicht, die aus den Gender-­‐Wissenschaften <strong>zu</strong> ziehen ist, hat die Literaturwissenschaftlerin Barbara Vinken kürzlich eher beiläufig gezogen: »Es gibt keine Natur.« Männer haben keine, Frauen auch nicht. Doch wo Natur nicht wirkt, wirken Worte. Deshalb hat der Sermon vom bösen Mann Auswirkungen. Deshalb ist es nicht gleich-­gültig, dass wir das antimaskuline priming tagtäglich vollziehen. Seit 200 Jahren werden Männer unter dem Verdacht ihrer »Un-­moral« sozialisiert. Das hinterlässt Spuren. Und schafft Gelegenheiten. (...) Im Kleinen werden Männer bis heute <strong>zu</strong>m Kalkül genötigt, wie schlecht ein Mann sein muss, um ein guter Mann <strong>zu</strong> sein. Wie viel Devianz muss er aufbringen, damit er als echter Kerl gilt? Polizisten, Staatsanwälte und Richter haben sich längst darauf spezialisiert, die jeweilige Klischeetreue von Männern und Frauen <strong>zu</strong> prämieren: »Wenn das Strafrecht ein Geschlecht hat, und bei der Straf-­<strong>zu</strong>messung könnte dies der Fall sein, dann 36


»über jungs«privilegiert es Frauen«, schreibt die Kieler Rechtsphilosophin Monika Frommel. (...) Kaum jedenfalls war die Idee der ver-­worfenen Männlichkeit aufgekommen, wur-­den praktisch nur noch Männer bestraft, Frauen dagegen entkriminalisiert. Die Historiker Deborah Little und Malcolm Feeley sprechen vom mysteriösen und kaum erforschten »Verschwinden der Frauen« aus der Kriminalstatistik. Heute stellen Frauen nur rund fünf Prozent aller Gefängnis-­insassen in Deutschland, eine weltgeschicht-­liche Minimalquote, in vormodernen Zeiten waren regelmäßig 30 bis 60 Prozent der Tat-­verdächtigen und Häftlinge weiblich. Wo-­rüber sagt unsere Gefangenenquote mehr aus: über Männer – oder über unsere Angst von der gefährlichen Männlichkeit? (...) Eine wissenschaftliche Befragung von Lehrern, Sozialarbeitern, Jugendhelfern und Medizinern ergab, dass deren »Beschreibung von Männlichkeit(en)« durchgängig »latent oder ganz offen negativ bzw. mit Abwer-­tungen versehen wurde« – und zwar in einem Ausmaß, das die Forscher Reinhard Winter und Gunter Neubauer 1998 als »er-­schreckend« bezeichneten. Ob die Pädagogen mit dem Düsterbild von Maskulinität eine Ausnahme bilden oder eher im Konsens lie-­gen, blieb unerforscht. Bekannt ist hingegen, dass Eltern ihren Söhnen ein deutlich engeres geschlechterspezifisches Verhaltens-­korsett anlegen als ihren Töchtern. Die Geschlechtergrenzen würden bei Jungen viel strenger »patrouilliert«, fasst Cordelia Fine den Wissensstand <strong>zu</strong>sammen, während Mädchen <strong>zu</strong>m Überschreiten ihrer Grenzen »ermutigt« würden Töchter als Spielplatz-­‐Rabauken – prima! Söhne in Ballettröckchen – wehe! Eltern verspürten bereits bei Kindergartenjungs die Notwendigkeit, deren angemessene Gender-­‐Performance mit har-­ter Hand <strong>zu</strong> überwachen, schreibt Fine, weil richtige Maskulinität als etwas erachtet werde, in das Arbeit investiert werden müsse. Steckt darin der überkommene Impuls, die »gefährlicheren« Jungen an die Kandare <strong>zu</strong> nehmen? Und steckt in dieser Kandare <strong>zu</strong>gleich die unterschwellige Aufforderung an den Sohn, dann bitte auch den Ge-­fährlichen <strong>zu</strong> geben und das Problematische im Männlichen hinreichend <strong>zu</strong> inszenieren? Es soll doch kein Zweifel aufkommen an seiner Männlichkeit! Wir wissen es nicht, weil unter diesem Blickwinkel nur lückenhaft geforscht wird. (...) Der Abschied vom fatalen Männlichkeitsbild steht nicht <strong>zu</strong> erwarten. Nur ein komplettes Umdenken würde dessen Ende einleiten. Da<strong>zu</strong> gehört, überhaupt erst einmal ein soziales Sen-­sorium <strong>zu</strong> entwickeln für die vielen of-­‐fenen und versteckten Formen der männerfeind-­lichen Ideologie. Und es gehören For-­schungen da<strong>zu</strong>, um die historische Tiefendi-­mension aus<strong>zu</strong>loten, über die wir bislang kaum etwas wissen. Als wirkungsvollster Hebel dürfte sich – bedauerlicherweise – der vordergründig böseste erweisen: die Desillusionierungsarbeit am Weiblichen vorantreiben. Dafür sorgen bereits in hohem Maße die Erfolge des Feminismus; das klingt zynisch und ist doch nicht so gemeint. Je mehr Frauen endlich in bislang versperrte Positionen vordringen, als Kanzlerin, Bankerin, Chefin, Soldatin, Müllwerkerin, umso deutlicher wird, dass die Gesellschaft dadurch zwar fairer, darüber hinaus aber nicht besser wird. Die Probleme einer modernen Gesellschaft bleiben. Denn das Weibliche rettet nicht. Das bedeutet: Das Männliche zerstört nicht. Wir haben die Welt 200 Jahre lang so eingerichtet, dass der gegenteilige Anschein entstehen konnte. Wir dürfen uns jetzt davon lösen. Aber erst wenn wir Frauen genauso – Verzeihung – scheiße finden wie Männer, so unmoralisch, ego-­istisch, verantwortungslos, kommen wir auf die Idee, keines der Geschlechter mehr mit Etiketten <strong>zu</strong> versehen. Erst wenn wir Frauen alles <strong>zu</strong>trauen, auch das Böseste, machen wir sie <strong>zu</strong> ganzen Menschen. Wenn Humanität, dann auch die dunkle Seite. Erst wenn wir Männern nicht mehr nur das Schlimmste <strong>zu</strong>trauen, machen wir sie <strong>zu</strong> ganzen Menschen. Und geben den Blick frei auf Individuen. (...) www.zeit.de/2012/16/DOS-Maenner/komplettansicht37


Geschlecht = Sex + GenderVon Jürgmeier und Helen Hürlimann»über jungs«Frau wird nicht als Frau geboren, Frau wird <strong>zu</strong>r Frau gemacht. Mann wird nicht als Mann geboren, Mann wird <strong>zu</strong>m Mann gemacht. Diese Sätze sind <strong>zu</strong> Ikonen geworden. Den Streit zwischen Natur, Kultur, Genetik und Sozioökonomie, Essentialismus und Kon-­struktivismus haben sie nicht gelöst. (...) Fast scheint es, als würde die Formel »Geschlecht = Sex + Gender« den Streit beenden. Männer und Frauen: das Resultat einer glücklichen Verbindung von biologischem Geschlecht (Englisch: sex), hervorgebracht durch Gene beziehungsweise Hormone, und sozialem Geschlecht (Englisch: gender), konstruiert durch soziale Erfahrungen, Normen, Struk-­turen sowie durch die »Summe aller Vor-­stellungen und Erwartungen, die eine Gesellschaft jeweils mit ›Weiblichkeit‹ und ›Männlichkeit‹ verbindet«, das heisst durch geschlechterdifferente Wahrnehmung und Zuschreibung. Aber das Glück ist nur von kurzer Dauer, schon geht der alte Streit in neuen Worten wieder los: Wie viel Sex, wie viel Gender? Und was, wenn ein biologischer Mann weiblich gegendert wird? Ist er dann eine Frau oder ein Mann? Oder gibt es mehr als zwei Geschlechter? »Selbst wenn die ana-­tomischen Geschlechter«, so Judith Butler, »in ihrer biologischen Konstitution un-­problematisch als binär erscheinen« sollten, bliebe es nicht zwingend bei der einfachen Dualität der Geschlechter, der Kombination zwischen Sex-­‐ und Gender-­‐Faktoren gäbe es zwei, drei, vier, viele. Judith Butler geht in der Dekonstruktion der Geschlechter noch einen Schritt weiter und spricht auch dem biologischen Geschlecht ab, eine »vordis-­kursive anatomische Gegebenheit«, von Kul-­tur unberührte Natur <strong>zu</strong> sein. (...) Auch für Butler ist klar, »dass Körper leben und sterben, essen und schlafen...«. Dass letztlich alles auch sozial konstruiert ist, bedeutet nicht, dass es ausschließlich sozial kon-­struiert ist; dass »der Körper durch die Sprache konstruiert wird«, schreibt Veronica Vasterling, »bedeutet nicht, dass die Sprache Ursprung oder die Ursache dessen ist, was sie konstruiert.« Die Diskurse der Macht verwandeln unsere Wahrnehumgs-­‐ und Denkstrukturen in »Fischernetze«, in denen nur Teile der Wirklichkeit hängen bleiben, während <strong>zu</strong>m Beispiel andere Geschlechter unbemerkt durch die Maschen schlüpfen. Wir sehen Männer und Frauen, weil wir gelernt haben Männer und Frauen <strong>zu</strong> denken beziehungsweise <strong>zu</strong> sehen. (...) Die Geschlechterfrage muss in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext gesehen werden; es gibt nicht nur ein, sondern mehrere Männlichkeits-­‐ und Weiblichkeits-­konstrukte, nicht nur Über-­‐ und Unterord-­nungen zwischen, sondern auch quer <strong>zu</strong> den Geschlechtern. (...) Hürlimann, Helen und Jürgmeier. »Tatort«, Fussball und andereGendereien. Verlag Pestalozzianum, Lutzern 200838


»über jungs«»Schwul«Von Ceryl Bernhard und Edit SchlafferWenn Sie Söhne im Alter von zehn und aufwärts haben, werden Sie es vielleicht schon beobachtet haben. Plötzlich taucht ein neues Schimpfwort auf, mit dem Jungen sich gegenseitig bewerfen, <strong>zu</strong>erst zögerlich, dann immer großzügiger, bis es im Alltagsvokabu-­lar <strong>zu</strong> einem geläufigen Begriff geworden ist. Es dient überall dort, wo wir jemanden ärgern, beleidigen oder herabsetzen möch-­ten: »schwul«. Vielleicht wird dieses Wort Ihnen aus den-­selben Gründen auffallen, wie es uns ins Ohr stach, als wir »unsere« Schulklassen beob-­achteten: Es taucht bei einer Altersgruppe auf, für die seine tatsächliche Bedeutung – in der Erwachsenensprache ein Begriff für eine alternative sexuelle Orientierung – keinerlei Relevanz besitzt. Er wird also angewandt in Situationen, die mit dem ursprünglichen Gegenstand nichts <strong>zu</strong> tun haben. Es waren auch nicht bestimmte Kinder, die mit diesem Etikett versehen wurden, sondern es han-­delte sich einfach um eine Beschimpfung, jederzeit gegen jeden anwendbar, den man ärgern wollte. Die naheliegende Interpre-­tation: Der Begriff war als Tabu interessant und gewann seine Kraft daraus, dass er ein verbotenes Wort aus dem ebenfalls ver-­botenen Themenkreis der Sexualität war. Auf den zweiten Blick war an dieser Sitte <strong>zu</strong>sätzlich problematisch, dass damit eine Minderheit stigmatisiert wurde, eine Minder-­heit, der ein Teil der Schüler eines Tages angehören würde. Doch das problematische dieses Verhaltens reicht noch viel weiter. Zunächst waren wir geneigt gewesen diesen Sprachgebrauch eher <strong>zu</strong> bagatellisieren, bis uns ein geschätzter Kollege, der Psychiater Eli H. Newberger, vom Gegenteil überzeugte. Der erfahrene Praktiker nannte diese Praktik spontan als eine von den fünf Dingen, die er an der schulischen Sozialisation von Jungen am dringendsten verändern möchte – und veranlasste uns damit da<strong>zu</strong>, uns diese Un-­sitte genauer an<strong>zu</strong>sehen. Dabei fielen uns zwei Dinge auf. Erstens bemerkten wir, dass die Beleidigung zwar tatsächlich sehr oft in vollkommen <strong>zu</strong>fälligen, neutralen Situ-­ationen fiel. Dort aber, wo gezielt einbestimmtes Verhalten sanktioniert werden sollte, bestraft die Bezeichnung zweitens sehr auffällig eben nicht »schwul« an-­mutende, sondern, wenn überhaupt, eher eine deutlich heterosexuelle Konstellation. Jungen die sich gern mit Mädchen aufhielten, die öfter als andere mit Mädchen redeten und sich mit Mädchen verstanden, erhielten leicht das Etikett »schwul«. Das ist offen-­kundig widersinnig. Die widersinnige Um-­drehung erinnert uns an die scherzhafte Bemerkung, die der Schauspieler Mel Gibson in einem Interview machte. Heute Actionstar und Sexsymbol, galt er in seiner Schulzeit als Außenseiter und als nicht ganz männlich. »Ich war lieber bei den Mädchen im <strong>Theater</strong>kurs als mit den restlichen ver-­schwitzten Jungen nackt unter der Dusche«, merkte er rückblickend ironisch an. Das trifft den Kern. Warum gelten Jungen, die sich in der Gesellschaft und der körperlichen Nähe anderer Jungen (sozial akzeptabel in Form von sportlichem Körperkontakt) aufhalten, Seidler, Reithmeier39


»über jungs«als unhinterfragbar maskulin, während Jun-­gen, die sich <strong>zu</strong> Mädchen hingezogen fühlen, in ihrer Männlichkeit angezweifelt werden? Das ist so verkehrt, dass es einer Erklärung bedarf. Der Junge, der gern mit Mädchen <strong>zu</strong>sammen ist, wir abgewertet, weil er sich mit einer abgewerteten Gruppe befasst. Er bricht ein Tabu, aber nicht das Tabu, dass ihm vorgeworfen wird. Er bricht das Tabu, das einen sozialen Abstand zwischen den Geschlechtern verlangt. Wie uns Lehrer bestätigten und wir selbst beobachten konn-­ten, hebt sich die Geschlechtertrennung ab dem Alter von 14 Jahren deutlich auf, die Ge-­schlechtsgruppen haben wieder mehr Kontakt miteinander. Doch nun stehen die Kontakte unter quasi-­‐romantischen Vor-­zeichen. Jungen und Mädchen interagieren unter dem Aspekt einer möglichen sexuellen Attraktion. Das ist mit zehn Jahren noch nicht der Fall. Das macht die Kontakte zwischen den Geschlechtern in dieser jün-­geren Altersgruppe subversiv – und verlangt nach einer Abschreckung. Die Abschreckung liegt im Wort »schwul«. Mit diesem Begriff ist die Drohung gemeint, unter peinlichen Umständen aus der Jungengemeinschaft ausgestoßen <strong>zu</strong> werden. Eine Annäherung der Geschlechtsgruppen ist nicht mit dem Hintergrund einer geschlechtsneutralen, auf persönliche Eigenschaften und Sympathien beruhenden freundlichen Beziehung er-­wünscht, sondern soll sich auf sexualisiertes Interesse beschränken. Sonst nämlich könnte das ganze Konstrukt, das künstliche Primat der zwei Geschlechterblöcke, <strong>zu</strong>sam-­menbrechen.Bernard, Ceryl und Schlaffer, Edit: Einsame Cowboys – Jungen inder Pubertät. München 2000.Sind Frauen teamfähiger als Männer?Der Psychologe Allen Ingham ließ 1974 in einem Experiment Männer und Frauen an einem Tau ziehen -­‐ <strong>zu</strong>erst alleine, dann in der Gruppe. Das Ergebnis: Bei den Männern sank die Leistung in der Gruppe, bei den Frauen erhöhte sie sich. Frauen zeigten sich also teamfähiger. Das gleiche Experiment wurde 2011 mit Kölner Sportstudenten und einem Zugkraft-­messgerät ausprobiert. Zuerst sollte der 24-­‐jährige Otto alleine ziehen. Er schaffte 52 Kilo. Im zweiten Durchgang wurden ihm vier junge Männer <strong>zu</strong>r Seite gestellt. Was der Proband nicht wusste: Die vier waren Lockvögel -­‐ und zogen gar nicht am Seil. Ottos Ergebnis bei diesem Durchgang: 44 Kilo. Ein Leistungsabfall von 15 Prozent, in der psychologischen Fachsprache «soziales Faulenzen« genannt. Ein weiterer männ-­licher Student schaffte beim zweiten Durchgang fast ein Viertel weniger. Insgesamt ergab sich nach neun Tests bei sechs jungen Männern ein durchschnittlicher Leistungsabfall um 22 Prozent. Anders hingegen die Leistung der jungen Frauen, die ebenfalls <strong>zu</strong>m Experiment antraten: Sie verbesserten sich in der Gruppe durch-­schnittlich um neunzehn Prozent – und zeig-­ten damit mehr Teamwork. Stern TV vom 10.08.201140


»über jungs«Der kalte Krieg am heißen BuffetVon Dieter Schnack und Rainer NeutzlingBeobachtet man eine Gruppe von zehn-­jährigen Jungen eine Weile, gewinnt man schnell den Eindruck, dass viele von ihnen <strong>zu</strong>r Festigung ihrer Rollenidentität auf Captain Flints Totenschiff gelandet sind. Männlichkeit erscheint oft als einzige schwerfällige Inszenierung. Die Jungen be-­grüßen sich nicht mehr mit einem einfachen »Hallo« oder per Handschlag, sondern mit angedeuteten Kampftritten haarscharf am Hals vorbei. Coolsein heißt die oberste Maxime, was nichts anderes bedeutet als unterkühlt sein, nichts mehr spüren, so dass einen nichts mehr anficht. Es reicht auch nicht, etwas gut <strong>zu</strong> können, sondern es gilt unerbittlich, der Beste, der Größte, der Dreisteste und der Lauteste <strong>zu</strong> sein. Stille und eher verträumte Jungen oder solche, die einfühlsame Fähigkeiten entwickelt haben und vielleicht auch gut mit Mädchen auskommen, haben es in der Gruppe oft schwer, als vollwertige Jungen akzeptiert <strong>zu</strong> werden. In einer Zeit, in der die »richtigen« Jungen hungrig nach jedem Fitzelchen schnappen, das ihnen souveräne Männlich-­keit verheißt, müssen die Stillen einiges an Niederlagen und Demütigungen einstecken. Dass ihre Zeit vielleicht erst noch kommt, dann nämlich, wenn ab der Pubertät ein sanfterer Umgang mit Mädchen angesagt ist, kann sie kaum trösten, denn so wie die Dinge zwischen sechs und zehn Jahren liegen, deutet darauf im Grunde nichts hin. (…) Was die erotische Annäherung unter Jungen erschwert, ist neben der Angst, beim Vergleich sexuell gedemütigt <strong>zu</strong> werden, vor allem das Tabu, dem die homoerotische Anziehungskraft unterliegt. Anders als bei Mädchen kommt es hier<strong>zu</strong>lande äußerst selten vor, dass zwei Jungen Hand in Hand über den Schulhof schlendern. Dennoch verstoßen selbst die »harten Kerle« unter Jungen häufig gegen das Tabu, sich nicht »anfassen« <strong>zu</strong> dürfen, wobei sie allerdings ihr Begehren kaschieren. Erektionen bei spielerischen Raufereien sind <strong>zu</strong>m Beispiel keine Seltenheit. Doch obwohl jeder Junge um diese durchaus zentralen Bestandteil der Kabbeleien weiß, darf er nicht offenbart werden. Gelegentlich ist die sexuelle Er-­regung das einzige Motiv, sich auf dem Boden <strong>zu</strong> wälzen, um in sicherer Deckung etwas Nähe genießen <strong>zu</strong> können. Gezieltes »Eierditschen« oder »Eiergrab-­schen« kommt in der <strong>zu</strong>rückgezogenen Vertrautheit einer Zweierfreundschaft rela-­tiv selten vor. Es ist eher ein Gruppensport: Jeder ist auf der Hut und schützt sein Geschlecht vor einem Schlag ins Gemächt aus heiterem Himmel, und alle sind erpicht darauf, auch einmal hinlangen <strong>zu</strong> können. Jungen können phasenweise ganze Schul-­pausen oder Nachmittage mit nichts an-­derem verbringen, als den Schritt der anderen treffen <strong>zu</strong> wollen. In der Regel tun sie sich dabei nicht wirklich weh und schreien und lachen viel. Im Grunde demonstrieren sie sich gegenseitig, dass sie alle miteinander einen Penis haben. Dennoch haben diese Spiele fast immer auch eine aggressive Note. Für viele Jungen bleiben sie lange Zeit die einzige Möglichkeit, erotische Nähe her<strong>zu</strong>stellen. Fast immer bedarf die Intimität unter Jungen der rüden Abgren<strong>zu</strong>ng. Über sexuelle Demütigungen lassen sich <strong>zu</strong>dem Gruppenhierarchien her-­stellen. Nicht jeder darf beim anderen un-­gestraft hinlangen: »Streber«, »Memmen« oder andere an den Gruppenrand gedrängte Jungen werden gewöhnlich entweder von den lustvollen Pausenschlachten ausge-­schlossen oder <strong>zu</strong>m Gruppenopfer gemacht. In einer solchen Situation sind die Absichten klar eindeutig: »Das hier ist kein Spaß, sondern ein Angriff auf deinen Schwanz!« Von einem vernichtenden Urteil umgedeutet werden: »Ey, der Kerl ist ja schwul! Der geht einem immer an die Eier!« Schnack, Dieter und Neutzling, Rainer. Die Prinzenrolle, über diemännliche Sexualität. Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, 199541


»über jungs«Jungen – die neuen Sorgenkinder?Von Johnanna RombergEr heißt Thomas, genannt Tom, und er ist ein ziemliches Früchtchen. Nicht nur, dass er heimlich raucht und die Schule schwänzt, er baggert auch seine Klassenkameradinnen an, und wenn ihm jemandes Nase nicht passt, dann schlägt er sie schon mal blutig. Er quält die Hauskatze, indem er ihr, nur so <strong>zu</strong>m Spaß, scharf schmeckendes Schmerzmittel einflößt und er reißt immer wieder von <strong>zu</strong>hause (...). Man müsste sich Sorgen machen um diesen Tom – wenn er denn ein richtiger Junge wäre. Aber das ist er nicht. Jedenfalls nicht im wörtlichen Sinne. Als ich vor einigen Wochen die »Abenteuer des Tom Sawyer« von Mark Twain wieder las, <strong>zu</strong>m ersten Mal seit vielen Jahren, war ich regelrecht erleichtert. Wie gut, daran erinnert <strong>zu</strong> werden, dass auch frühere Generationen von Jungen schon jede Menge groben Unfug angestellt haben. Nicht, dass das wirklich eine Neuigkeit wäre. Aber wenn man verfolgt, wodurch die Toms, Jans, Marks und Kevins unserer Tage von sich reden machen – dann könnte man meinen, Jungen hätten erst vor wenigen Jahren begonnen, so richtig über die Stränge <strong>zu</strong> schlagen. Monster mit Milchgesichtern. Ausländer-­‐Hetzer. Amokläufer. Computerfixierte Narzissten. Neue Prügelknaben. Arme Jungs. Das schwächere Geschlecht. Jungs, was ist mit Euch los? Ach, wenn ich doch ein Mädchen wär! Das sind nur einige Schlüsselwörter und Schlagzeilen aus der Flut von Berichten, die sich derzeit Jungen und ihren Problemen widmen. Nach dem Tenor dieser Berichte <strong>zu</strong> urteilen, ist eine ganze Generation männ-­licher Heranwachsender im Bergriff sich in einen Haufen von Sorgenkindern <strong>zu</strong> ver-­wandeln. Das auffällige an dieser allge-­meinen Besorgnis ist, wie plötzlich sie hereingebrochen ist. Noch vor zehn Jahren waren Jungen in ihrer Gesamtheit kaum ein Thema. Unter Erziehern, Lehrern und Forschern galt über Jahrzehnte ein Dogma, das lautete: Wenn es eine Gruppe von Kindern gibt, die systematische Aufmerk-­samkeit, Förderung und Schonräume brauchen, dann sind das die Mädchen. Jungen dagegen müssen eher gebremst werden in ihrem Tatendrang, ihrer Vitalität, ihrem auftrumpfenden Selbstbewusstsein, aber besondere Aufmerksamkeit brauchen sie nicht. Dieses pädagogische Dogma ist erst im Laufe der letzten Dekade ins Wanken geraten – weniger durch gezielte wissen-­schaftliche Untersuchungen als vielmehr durch Beobachtung und Alltagserfahrungen von Menschen die regelmäßig mit Jungs <strong>zu</strong> tun haben (...) Es ist das Enervierende, aber auch das Spannende an der Jungendebatte, dass es darin so viele Ansichten und so wenige Gewissheiten gibt. Manchmal möchte man als stille Zuhörerin aufspringen und rufen: Schluss jetzt! Lasst die Jungen in Ruhe! Lasst sie einfach wie sie sind – und vermutlich schon immer waren. Wenn man aber dann mit dem ein oder anderen Debatten-­‐Teilnehmer ausführlich redet, merkt man, dass die gesteigerte Auf-­merksamkeit für Jungen doch ihre Be-­rechtigung hat. Das liegt nicht so sehr an den Jungen selbst, sondern vielmehr daran, dass sich die Welt, in der sie aufwachsen seit Tom Sawyers Zeiten – ganz besonders aber in den letzten Jahrzehnten – radikal gewandelt hat. Und es liegt daran, dass sich mit der Umwelt auch die Erwachsenen verändert haben, vor allem der Blick, mit dem sie Kinder be-­trachten. (...) Bei der Lektüre von »Tom Sawyer« fiel mir vor allem eines auf: wie gelassen die Erwachsenen seiner Umgebung auf seine Streiche reagieren, seinen unbändigen Bewegungsdrang, seine Lust, Grenzen <strong>zu</strong> verletzen und sein völliges Desinteresse an allem, was mit Schule <strong>zu</strong> tun hat. Sicher, Tom bezieht regelmäßig Prügel von seinen Lehrern, und seine ihn allein erziehende Tante ringt immer wieder die Hände über seine Untaten. Aber es gibt niemanden, der sich ernsthaft Sorgen um ihn macht, ihn gar für gestört oder krank hält. Das sähe vermutlich andres aus, wenn Tom nicht am Mississippi des 19. Jahrhunderts <strong>zu</strong> Hause wäre, sondern in der Gegenwart auswüchse. Romberg, Johanna. Jungen - die neuen Sorgenkinder? GEO Nr. 03.März 2003.42


»über jungs«Kapitel 5Die Gruppe und ichWolf, Mondalski, Reithmeier, Neumann, AchillesVictor: Sven: Leander: Konstantin: Victor: Der Bohlen selber zieht ja überhaupt keinen Schwanz mehr ein, denn wenn ihr euch erinnert: Der hatte mal einen Penisbruch. Penisbruch? Penisbruch? Penisbruch? Penisbruch. Und noch mal bitte. 43


»über jungs«Rollen in GruppenVon Adalbert MetzingerIn Gruppen treffen Menschen aufeinander, die sich <strong>zu</strong>m Teil erheblich unterscheiden können. Jede Gruppe erwartet vom Ein-­zelnen, dass er sich in einer bestimmten Art und Weise verhalten soll. So erfolgt z.B. in jeder Gruppe eine gewisse Aufgabenver-­teilung, d.h. einer ist der Führer und Mana-­ger, ein anderer vielleicht der Unterhalter, Ideengeber oder Vermittler. An jede Rolle sind Erwartungen geknüpft, die ihre beson-­dere Bedeutung für den Rollenträger und die Gruppe festlegen. Die Rolle entwickelt sich in dauernder Wechselwirkung zwischen der Persönlich-­keit des Rollenträgers und den Erwartungs-­haltungen, die ihm die Gruppe entgegen-­bringt.Der Begriff Rolle umfasst die Gesamtheit von Verhaltenserwartungen und Verhaltensfor-­derungen, die an ein Individuum in einer bestimmten sozialen Position innerhalb einer Gruppe geknüpft sind. Ausformung und Zuordnung der Rolle wird wesentlich von zwei Gegebenheiten bestimmt: • von den individuellen Eigenarten und Persönlichkeitsmerkmalen des Rollenträgers selbst • und von den Erwartungen der Gruppe. Überlegen Sie: Welche Rollen übernehme ich • gerne in Gruppen? • nicht gerne in Gruppen? Jeder Mensch nimmt so viele Rollen an, wie er Mitglied in Gruppen ist. Zunächst wird er in die Kleingruppe Familie hineingeboren und hat die Rolle eines Kindes, der Schwester oder des Bruders inne. Mit <strong>zu</strong>-­nehmendem Alter nimmt die Zahl der Gruppen, denen er angehört, aber auch die Zahl der Rollen, die er übernimmt, ständig <strong>zu</strong>. In jeder dieser Gruppen werden vom Einzelnen Rollen übernommen, die an bestimmte Erwartungen geknüpft sind. Die Rollen, die sich dabei in Gruppen bilden können, sind vielfältig und können sehr unterschiedlich sein: Führer, Mitläufer, Clown, Opportunist, Drückeberger, Ver-­mittler, Organisator, Streber, Tyrann, Spiel-­verderber, Petzer, Klassenkasper, Außen-­seiter, Trottel, Querulant, Südenbock usw. Jedes Gruppenmitglied übernimmt im Laufe der Zeit, innerhalb der Gruppe eine bestimmte Rolle, wobei sich die Rollen-­funktionen entwickeln. Diese lassen sich nach Brocher in »Aufgabenrollen« und »Erhaltungs-­‐ und Aufbaurollen« klassi-­fizieren. Außerdem führt er noch »dysfunk-­tionale Rollen« an, die gegen jede kon-­struktive Beteiligung am Gruppenleben gerichtet sind. Reithmeier44


»über jungs«Die Entstehung und Entwicklung der Rollen in Gruppen sind von verschiedenen Faktoren abhängig: • Rollen in der Gruppe bilden sich erst fortschreitend mit dem Gruppenprozess heraus. • Rollen können sich im Verlauf der Gruppenentwicklung wandeln. • Rollen sind teilweise auch von typischen Merkmalen der jeweiligen Gruppe beeinflusst. Aufgaben: 1. Welche unterschiedlichen Erwartungen sind an Ihre Rolle geknüpft? • In der Klasse/ -­‐ In der Familie/ -­‐Im Freundeskreis? 2. Fragen <strong>zu</strong>m Rollenverhalten: - Welche Mitglieder der Gruppe können die anderen am leichtesten beeinflussen, ihre Meinung <strong>zu</strong> ändern? - Welche Mitglieder werden von der Gruppe am meisten anerkannt? - Welche sind am ehesten bereit, Mitglieder, die angegriffen werden, <strong>zu</strong> schützen? - Welche Mitglieder versuchen sich möglichst viel ins Rampenlicht <strong>zu</strong> rücken? - Welche Mitglieder zeigen das größte Verlangen etwas <strong>zu</strong>stande <strong>zu</strong> bringen? - Welche Mitglieder wollen Konflikten in der Gruppe aus dem Weg gehen? - Welche Mitglieder bemühen sich besonders, Streitigkeiten <strong>zu</strong> schlichten? - Welche Mitglieder sind die stärksten Rivalen hinsichtlich Macht und Einfluss in der Gruppe? Diese Fragen sind als Feedback für Gruppen gedacht. Metzinger, Adalbert. Arbeiten mit Gruppen. Lambertus-Verlag, 2010Die Lust an der Selektion –Ein Medienwissenschaftler erklärt den Reiz von DSDSNorbert Bolz, 54, ist Professor für Medienwissenschaft an der Technischen Universität Berlin mit demForschungsschwerpunkt Massenmedien. Der studierte Philosoph und Religionswissenschaftler sieht inden Massenmedien auch einen Religionsersatz.(...) SZ: Kritiker wie der Verband Bildung und Erziehung werfen DSDS «eine destruktive Botschaft« vor. Haben Sie Verständnis für diese Kritik? Bolz: Ich finde diese Institutionen schon als solche ziemlich peinlich, insofern wundere ich mich nicht, dass sie solche Kritik artikulieren. Sie ist nur ein Ausdruck von Naivität, man erkennt nicht, dass die Sprüche im Sendeformat selber angelegt ist, ein Format, das alle Beteiligten weiß Gott gut kennen, das für keinen, weder für Teilnehmer noch für Zuschauer, überraschend ist. SZ: Wenn es für niemanden überraschend ist, was ist dann das Faszinosum, was führt <strong>zu</strong> den hohen Einschaltquoten? Bolz: Ich glaube, es ist einfach das Erlebnis der Selektion, die Lust an der Auswahl. Dem Zuschauer wird suggeriert, dass er gottgleich darüber entscheiden kann, ob der Kandidat <strong>zu</strong>m Superstar wird oder als namenlose Niete <strong>zu</strong>rück nach Bottrop geschickt wird. Es geht überhaupt nicht um die Qualität dessen, was da angeboten wird, was ja jämmerlich genug ist, sondern es geht um dieses Ausgesetztsein, die «Kultur des Exponiertseins«, wie es ein amerikanischer Kulturwissenschaftler einmal genannt hat. Es geht über den Voyeurismus hinaus. (...) 45


»über jungs«SZ: Es spielt also keine Rolle, ob die Leute, die auftreten und sich die Blöße geben, prominent sind oder unbekannt. Bolz: So ist es. Medienwissenschaftlich betrachtet finde ich die ganz Unbekannten natürlich noch viel interessanter, weil man da vorführen kann, was bisher Gott vorbehalten war: die creatio ex nihilo, also die Schöpfung aus dem Nichts: Ein absolutes Nichts taucht auf -­‐ von der Physiognomie, vom Namen, von der Herkunft -­‐ und kann durch relativ wenige Selektionsschritte <strong>zu</strong>m Superstar erhoben werden -­‐ oder <strong>zu</strong>mindest den Andy-­‐Warhol-­‐Ruhm von 15 Minuten erreichen. Das ist ein Zauber, der sehr viel tiefer geht als alles, was alle TV-­‐Formate bisher geboten haben. SZ: Die Show läuft nach einem Mechanismus: Skandal wie der gerade <strong>zu</strong>sammengebrochene Kandidat, Bohlen entschuldigt sich, sagt aber, es liege nicht an seinen Sprüchen, Show läuft weiter, nächster Skandal. Sollte es eine Grenze geben für Dieter Bohlen? Bolz: Dieter Bohlen redet nur und entscheidet. Solange keine Grundgesetze verletzt werden, bleibt es im Rahmen des Zivilen, auch wenn man es noch so sehr verabscheuen mag. Die spannende Frage ist: Kann man mit dem Fetisch Menschenwürde hier irgendetwas anfangen? Das haben die Leute, die jetzt protestieren, nicht verstanden: Das ist die Eintrittsbedingung für solche Veranstaltungen: der Verzicht auf Menschenwürde. Aber das gilt für eine Fülle von Fernsehformaten. SZ: Also sind die Kritiker scheinheilig, wenn sie Dieter Bohlen Scheinheiligkeit vorwerfen. Bolz: Bei Bohlen kann ich keine Scheinheiligkeit erkennen. Er redet Klartext, und was er über sein Geschäft sagt, ist realistisch. Die Kritiker sind scheinheilig, denn sie implizieren, dass es in anderen Bereichen der Unterhaltungsbranche menschenwürdig <strong>zu</strong>ginge. Aber überall werden Leute <strong>zu</strong> jedem Preis vermarktet. Wenn man nun versucht, das politisch an die große Glocke <strong>zu</strong> hängen, erzeugt man damit nur einen gigantischen Marketingeffekt. (...) SZ: Ein abgewiesener Kandidat meinte mal über die Jury: Das sind alte Leute, die versuchen, sich die Zeit <strong>zu</strong> vertreiben. Geht es bei DSDS in Wahrheit um einen Generationenkonflikt, darum, dass Ältere den Jüngeren die Leviten lesen? Bolz: Ein interessanter Aspekt, über den ich so noch gar nicht nachgedacht habe. Als Universitätsprofessor kann ich aber bestätigen, dass die Jungen heute zwar unglaubliche Dinge beherrschen, dass sie in einer Sache aber unfähig sind: Kritik <strong>zu</strong> akzeptieren. Dann sehen sie sich sofort in ihrer Existenz bedroht. Das wäre natürlich ein genialer Mechanismus: Die Alten spielen die uralte Kritikkarte aus und erzeugen damit einen wahnsinnigen Medieneffekt, weil die Jungen, also die Kandidaten, damit nicht umgehen können. Süddeutsche Zeitung vom 06.02.200846


»über jungs«Was beschäftigt die Jungen am meisten?Von Ceryl Bernard und Edit SchlafferDie Bereiche, die Jungen in der Adoleszenz die größten Probleme bereiten, können wir wie folgt <strong>zu</strong>sammenfassen: - Wirkung auf und Position in der Gruppe - Umgang mit körperlichen und emotionalen Veränderungen - Umgang mit dem anderen Geschlecht und der Geschlechtlichkeit an sich - Entwicklung von Werten und Zukunftsbildern Wirkung auf und Position in der Gruppe Wie wirke ich auf andere? Werde ich als hinreichend männlich wahrgenommen? Körpergröße und –kraft sollen <strong>zu</strong>mindest im Normbereich, lieber etwas drüber liegen. Ein anerkannter Platz in der Gruppe ist es-­senziell. Wer nicht als Führer akzeptiert wird, sucht eine andere Rolle, als Adjutant des Führers, als Führer einer Gegengruppe, als loyaler Mitläufer. Wer in der Schule gut ist, vermeidet den Ruf eines unsympath-­ischen Strebers, indem er andere abschauen lässt und lernt, sich nicht darum <strong>zu</strong> küm-­mern, indem er sich <strong>zu</strong>rückzieht und als schrullig betrachten lässt. Wer durch kör-­perliches Aussehen oder anderen Eigen-­schaften eine Außenseiterrolle einnimmt, profiliert sich als Clown oder erringt Respekt durch für irgendeine besondere Begabung, <strong>zu</strong>m Beispiel für verbalen Mut gegenüber Lehrern oder coolen Sprüchen. Das Gerangel um die Position und die Findung einer Zuweisung verschlingt sehr viel jugendliche Energie und Zeit und stellt eine hohe Priorität dar. Schulische Konflikte entstehen nicht selten, wenn die von <strong>zu</strong> Hause vorgesehene Rolle in der Schule nicht durchführbar ist. Niklas´ Vater ist Universitätsprofessor und ständig auf Tagungen und Symposien, er verbringt wenig Zeit mit der Familie, die neben Niklas auch noch die jüngere Schwester Lisa umfasst Niklas´ Mutter ist Hausfrau. Ihr Ehrgeiz und ihre Energie lenkt sie primär auf Niklas, auf den sie sehr stolz ist. Der stets höfliche, adrett gekleidete kleine Kavalier Niklas ist bei der Volks-­schullehrerin, einer älteren Dame, genauso ein Liebling wie <strong>zu</strong> Hause. Das ändert sich im Gymnasium. Hier herrschen rauere Sitten, Niklas ist nun nicht mehr das Musterkind seiner Klasse, sondern in Gefahr, als etwas lächerliche, verweichlichte Figur dem Spott einer aggressiven Jungenkategorie ausge-­setzt <strong>zu</strong> sein. Er erkennt dies schnell. Nach einigen Monaten des Leidens und Aus-­geschlossenseins gelingt es ihm, sich mit den zwei wildesten, frechsten Schülern in der Klasse an<strong>zu</strong>freunden. Um ihn <strong>zu</strong> akzeptieren, verlangen sie ihm Mutproben ab, die ihn bald in Konflikt mit den Lehrern bringen. Niklas´ Mutter ist entsetzt und fassungslos. Es dauert ein halbes Jahr, bis die Lehrer sie überhaupt davon überzeugen können, dass ihr Sohn in der Schule Probleme bereitet und nicht bloß das Opfer gemeiner Anschul-­digungen wurde. Ihre Besuche in der Schule und ihre Interventionen, ihre Verteidigung seines Verhaltens haben bei Niklas <strong>zu</strong>r Folge, in der Schule noch auffälliger <strong>zu</strong> werden, denn ihr häufiges Kommen und Gehen in den Sprechstunden ist ebenfalls Anlass für Spott in der Klasse, und er muss sich von ihr distanzieren. Niklas wird <strong>zu</strong> einem echten Problemkind. Manche Lehrer haben Ver-­ständnis für seine Situation, andere finden seine ständigen Störungen des Unterrichts ärgerlich und mögen ihn nicht. Es ist auch nicht leicht für ihn, ständige Enttäuschungen und das Unglück seiner Mutter <strong>zu</strong> spüren. Aber er sieht keinen Ausweg. Das Risiko, erneut von den dominanten Jungen der Klasse abgelehnt und gequält <strong>zu</strong> werden, ist einfach <strong>zu</strong> groß. Er muss sich ihnen anschließen, auch wenn es eigentlich seiner Persönlichkeit widerspricht und die Situ-­ation ihm schulische, soziale und private Probleme bereitet und ein Bruch in seiner Persönlichkeitsentwicklung darstellt. Dieser Fall, der aus unserer vierjährigen Beob-­achtung einer Schulklasse entnommen ist, stellt so etwas wie einen Archetyp dar. Abertausende Jungen befinden sich in derselben Situation wie Niklas. Von ihrer Veranlagung her sind sie eher ruhige, etwas introvertierte Persönlichkeiten, vielleicht mit einer künstlerischen Ader. Sie sind ver-­träglich, gescheit und zwischenmenschlich 47


»über jungs«angenehm. Im Gymnasium stoßen sie dann aber auf einen alternativen »Männlichkeits-­entwurf«, der ein machohaftes, angeber-­isches, gewaltbereites Auftreten verlangt. Dies ist eine absolute Minderheitenposition, die in der Regel nur von zwei oder drei Schülern in einer Klasse verkörpert wird. Diesen Jungen kommt aber, infolge der Dynamik der Gruppe und des Versagens der Erzieher, eine enorme, ungebührende und mitunter sehr destruktive Rolle <strong>zu</strong>. Sie werden <strong>zu</strong> den »Platzhirschen« der Klasse. Da ihr Vorbild unwidersprochen bleibt und sogar die Lehrer ihnen gegenüber oft hilflos erscheinen, wirken sie auf die anderen tatsächlich als Vorbild einer erfolgreichen, potenten Männlichkeit. Die anderen Jungen sind gezwungen, Strategien im Umgang mit ihnen <strong>zu</strong> entwerfen. Manche finden ihr Verhalten dumm und bilden eine Gegen-­clique. Wenn diese Gruppe zahlenmäßig und psychisch stark genug ist – und je nach dem generellen sozialen Milieu der Schule -­‐ , kann die Mehrheit der Jungen dann hier ein normales Zuhause finden und die »Platz-­‐hirsche« als teils lästige, teils unterhaltsame Randerscheinung erleben. In anderen Fällen schwimmen die restlichen Jungen mehr oder weniger <strong>zu</strong>stimmend im Sog der Anführer – ein passiv applaudierendes Publikum für ihre Streiche und Frechheiten. Ohne Über-­treibung können wir feststellen, dass das uneingeschränkte Wirken dieser »Platz-­hirsche« <strong>zu</strong> den größten Problemen männ-­licher Kinder und Jugendlichen gehört. LehrerInnen und andere Erwachsene sind oftmals hilflos im Umgang mit solchen aggressiven Jungen, was deren Prestige in der Peer-­‐group nur weiter erhöht. Nicht selten geben Erwachsene und Erzieher ihnen ungebührend viel Raum, teils aus Hilf-­losigkeit, teils aus vergeblichen Disziplin-­ierungs-­‐ und Diskussionsversuchen, teils aber auch infolge einer verhängnisvollen Identifizierung mit der Art von Männlichkeit, die diese Jungen vertreten. Bernard, Ceryl und Schlaffer, Edit: Einsame Cowboys – Jungen inder Pubertät. München 2000.48


»über jungs«Kapitel 6Anregungenfür den Unterrichtin 4 ModulenAhrensAlex: Victor: Alex: Victor: Alex: Victor: Alex: Muss man vielleicht doch mal was <strong>zu</strong> Ende bringen. Die Frage ist doch, ob die uns was <strong>zu</strong> Ende bringen lassen. Wer sind die? Du sagst doch auch immer die. Die da draußen, das Leben da draußen. Is doch ein Scheiß. Wir sind doch hier drin. Wo drin. In dem Leben hier, hier drin, müssen wir halt das leben. Wir haben kein anderes. 49


»über jungs«Allgemeine Gesprächsanregungen-­‐-­‐-­‐-­‐-­‐-­‐-­‐-­‐-­‐-­‐-­‐-­‐-­‐Was habt ihr gesehen? Welche Figuren kamen in dem Stück vor? Wie würdet ihr sie beschreiben? Wo und wann hat die Geschichte gespielt? Was ist für Euch das Thema des Stückes? Was war für euch der wichtigste Moment? Haltet ihr die Charaktere in dem Stück für realistisch? Aus welchen Gründen müssen die vier Jungs an dem Kochkurs teilnehmen? Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede gibt es bei den Kursteilnehmern? Wovon träumen die Jungs und was haltet ihr davon? Wie ist das Verhältnis der Jungs untereinander und <strong>zu</strong> dem Mädchen? Was erzählt euch die Geschichte über Jungs/ über Mädchen und wie ist eure Einschät<strong>zu</strong>ng da<strong>zu</strong>? Wo zeigen sich Eurer Meinung nach Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den Geschlechtern? Was haltet ihr vom Ende des Stückes und wie könnte es weitergehen?Kleine Tipps <strong>zu</strong>m <strong>Theater</strong>spielen im KlassenzimmerHier finden Sie etwas theaterpädagogisches »Handwerkszeug« um in jedem Raum <strong>Theater</strong>feelingentstehen lassen <strong>zu</strong> können.Noch vor der Bekanntgabe der jeweiligen Aufgabe, kann mit den Schüler_innen gemeinsam überlegt werden, was beim <strong>Theater</strong>spielen wichtig ist, z.B. laut und deutlich sprechen, nicht mit dem Rücken <strong>zu</strong>m Publikum stehen, es sei denn, es ist beabsichtigt, versuchen, sich beim Spielen nicht ins Wort <strong>zu</strong> fallen, sich in die Rolle hinein <strong>zu</strong> versetzen, ans Publikum denken... Weiter kann man grundsätzliche Überlegungen <strong>zu</strong>r Szene anstellen. Dabei können folgende Aspekte ins Gespräch gebracht werden: Welche Figuren kommen in der Szene vor? Wer spielt wen? Wo spielt die Szene? Wie kann man das verdeutlichen? Es empfiehlt sich, für die Entwicklungsphase nicht <strong>zu</strong> viel Zeit ein<strong>zu</strong>planen. Lieber nur fünf Minuten. Dabei können die Schüler_innen da<strong>zu</strong> ermuntert werden, die Szene <strong>zu</strong> proben, also ins Spiel <strong>zu</strong> kommen, und nicht <strong>zu</strong> lange <strong>zu</strong> diskutieren. Wenn die Szenen dann entwickelt sind, geht es <strong>zu</strong>r Präsentation. Dafür kann in jedem Raum eine Bühne festgelegt werden, <strong>zu</strong>m Beispiel vor der Tafel. Es empfiehlt sich in jedem Fall, die Tische an die Seite oder auf den Flur <strong>zu</strong> räumen, um Bewegungsfreiraum <strong>zu</strong> schaffen. Vor der definierten Bühne richtet sich nun das Publikum ein. Damit die Spieler_innen auf der Bühne nicht einfach so drauflos spielen und das Publikum noch gar nicht mitbekommen hat, dass es schon los geht und sich noch unterhält, ist es ratsam (in Ermangelung der Abdunkelung und der Scheinwerfer, die angehen) ein Zeichen <strong>zu</strong> vereinbaren, damit Spieler_innen und Publikum Bescheid wissen. Wenn die Spieler_innen sich auf der Bühne eingerichtet haben, werden sie gebeten kurz »ein<strong>zu</strong>frieren«, also in ihrer Haltung vollkommen <strong>zu</strong> erstarren. Entweder reicht dieser Moment aus, das Publikum ruhig <strong>zu</strong> bekommen und die/der Spielleiter_in eröffnet mit einem »Bitte« oder »Los« die Szene. Die Szenen können jedoch auch eingeklatscht werden. Dafür klopfen sich die Zuschauenden <strong>zu</strong>nächst auf die Ober-­schenkel, klatschen dann dreimal in die Hände (wobei laut mitgezählt werden kann) und rufen schließlich alle gemeinsam »Bitte«, das Zeichen für die Spieler_innen mit ihrer Szene <strong>zu</strong> beginnen. Zum Abschluss jeder Szene muss es natürlich Applaus geben – wie im <strong>Theater</strong> eben. 50


»über jungs«Modul 1: Anti-Agressions-Übungen Kurzbeschreibung AAT/CT Das Coolness-­‐Training® ist eine delikt-­‐ und defizitspezifische, sozialpädagogisch-­‐psycho-­logische Trainingsmaßnahme für Jugend-­liche im Alter von ca. 14 bis 17 Jahren, die durch demotiviertes, undiszipliniertes und aggressives Verhalten auffällig geworden sind. Das Coolness-­‐Training® entwickelte sich aus dem klassischen Anti-­‐Aggressivitäts-­‐Training und wurde speziell den Kau-­salitäten des Schul-­‐, Kinder-­‐ und Jugendhilfe-­‐ und Jugendförderbereichs sowie der Schul-­psychologie angepasst. Das Coolness-­‐Training® (CT®) wurde als ein wichtiger Bestandteil des Anti-­‐Aggres-­sivitäts-­‐Training® (AAT®) 1986 in der Ju-­gendvoll<strong>zu</strong>gsanstalt Hameln von einer inter-­disziplinären Arbeitsgruppe entwickelt und basiert auf einem lerntheoretisch-­‐kognitiven Paradigma sowie auf Ableitungen aus den Bereichen der Aggressions-­‐ und Krimi-­nalitätstheorien.Die Grundlage der Trainings ist der Respekt vor der Persönlichkeit der Teilnehmer, bei gleichzeitiger Ablehnung ihrer demotivierten und aggressiven Verhaltensmuster sowie ihrer derzeitigen (häufig unsozialen) Lebens-­einstellungen.Für genauere Informationen <strong>zu</strong>m Nutzen von Coolness-­‐Trainings® für Ihre Schule können Sie Kontakt aufnehmen <strong>zu</strong> dem Anti-­‐Aggres-­siviäts-­‐Trainer Oliver Lück: www.die-­‐coaching-­‐spezialisten.de »Die-­‐coaching-­‐Spezialisten« bieten Anti-­‐Aggressivitäts-­‐ und Coolnesstrainings (AAT/CT®), Weiterbildung in konfrontativer Pädagogik und Konflikt – Workshops. Blickrunde Alle sitzen im Kreis. Der/die Spielleiter_in beginnt dem/ der Nachbar/in in die Augen <strong>zu</strong> gucken und <strong>zu</strong> schauen, wie es der anderen Person geht. Der Blick sollte mindestens 4 Sekunden lang ausgehalten werden. Dabei wird nicht gesprochen. Dann wird der Blick von einer Person <strong>zu</strong>r nächsten weitergegeben, bis er wieder bei der/ dem Spielleiter_in ankommt. Blickwechsel Alle sitzen im Kreis. Jeder/Jede kann sich umschauen und jemanden suchen, den er/sie anschauen möchte. Wenn diese Person den Blick bemerkt, tauschen beide den Platz. Dabei wird nicht geredet, die Kom-­munikation soll nur über Blicke laufen. Jeder/Jede sollte mindestens drei Mal den Platz gewechselt haben, wenn das Spiel beendet wird. Blickwechsel in vorgegebenen Situationen - der andere schuldet dir Geld - du hast was ausgefressen und begegnest deinem Lehrer, der es weiß - der andere hat dir deine Schuhe abgezogen - du hast Angst vor dem anderen - du bist in den anderen verliebt - du hast deine Hausaufgabe nicht gemacht und der Lehrer nimmt dich dran - ... 51


»über jungs«Bodyguard (Durchset<strong>zu</strong>ngsübung <strong>zu</strong> dritt) 1 Fan -­‐ 1 Rockstar -­‐ 1 Beschützer -­‐ die anderen Schüler_innen sitzen am Rand 1) Der Rockstar und sein Bodyguard fassen sich an den Händen. Der Bodyguard hat die Aufgabe, den Rockstar vor den begierigen Händen des Fans mit seinem Körper ab<strong>zu</strong>schirmen. Der Rockstar folgt in seinen Bewegungen seinem Beschützer. 2) Der Rockstar wird von einigen 2-­‐er Gruppen (Bodyguards) geschützt. Die Leib-­wächter haben sich paarweise an den Händen angefasst und versperren dem Fan mit ihren Körpern den Weg. Die Gruppen der Beschützer können beliebig, je nach Raum-­größe vergrößert werden. Kämpfen als pädagogische Disziplin – Kämpfen nach Regeln: Einbrechen – Ausbrechen (In Kleingruppen) 6-­‐8 Schüler_innen bilden einen Kreis, in den 1 Schüler_in eindringen soll. Wenn er/sie eingedrungen ist, versucht er/sie wieder aus<strong>zu</strong>brechen. Die Teilnehmer_innen des Kreises versuchen, dies <strong>zu</strong> verhindern. Auch hier ist Ziehen und Zerren angesagt. Achtung: Die Ein-­‐ und Ausbrecher müssen verantwortungsvoll mit den Kreisteil-­nehmer_innen umgehen. Die Rollen sollen mehrmals wechseln. Aus dem Weg« (In zwei Großgruppen) Zwei Gruppen bilden. Gruppe A stellt sich verteilt in den Raum, während Gruppe B umher läuft und die Stehenden anrempelt. Die Stehenden müssen das aushalten und sagen entschieden: »Ey! Ich geh hier nicht weg!«. Dann gibt es eine zweite Version: Wenn wieder die Gruppe steht, die <strong>zu</strong>erst angerempelt wurde, soll sie sich nun jedes Gruppenmitglied kleinlaut entschuldigen, wann immer er/sie angerempelt wird. Anschließend werden die Gruppenaufgaben getauscht. Danach sollte eine Reflexion folgen, vor allem weil diejenigen, die <strong>zu</strong>erst angerempelt wurden und sich nicht beklagen durften, erfahrungsgemäß deutlich brutaler mit den Stehenden umgehen, als die ersten »Angrei-­fer«. Hier zeigt sich deutlich wie die Gewalt des Umfelds sich auf die Gewalt der einzelnen Individuen auswirkt. Schieben – Drücken (Zu zweit) A und B schieben sich im dosierten Wettstreit - mit den Händen an der Schulter, - mit der seitlichen Schulter ohne Hände - mit dem Rücken durch den Raum. Bei allen Varianten, aber vor allem bei der Rückenübung, erfordert das Lösen klare Signale oder Absprachen. Rücksichtnahme auf andere Teams ist unerlässlich. Achilles52


»über jungs«Brücke über den Kwai (Zu zweit) Es werden Paare gebildet und die Spieler finden sich in der folgenden Situation wieder: Zwei Menschen treffen sich auf einem sehr engen Steg, wo sie nicht aneinander vorbei, jedoch auch nicht mehr <strong>zu</strong>rück können. Jeder hat einen lebens-­wichtigen Grund auf die andere Seite <strong>zu</strong> kommen – und höchstens eine Minute Zeit. Wer drängt nun den Anderen <strong>zu</strong>rück? Und mit welchen Strategien? Gewalt ist selbstverständlich nicht gestattet. Standbild (In Kleingruppen, <strong>zu</strong> viert) In Kleingruppen werden Standbilder <strong>zu</strong> einem Konfliktthema gestellt, <strong>zu</strong>m Beispiel nach Gruppen geteilt in: Ausgren<strong>zu</strong>ng/ Gewalt in: der Schule/ der Familie/ der Firma/ unter Freunden/ im öffentlichen Raum. Jeder Schüler, bzw. jede Schülerin muss in dem Standbild vorkommen. Und jeder/jede überlegt sich einen Satz oder geheimen Gedanken. Wenn das Standbild angsehen wird, kann der/die Gruppen-­leiter_in jeden Spieler/ jede Spielerin antippen und ihn so auffordern diesen Satz <strong>zu</strong> sagen. Die Gruppen lösen noch nicht auf, was sie zeigen wollten, sondern lassen die anderen erst mal beschreiben was sie gesehen haben. Anschließend soll jede Gruppe ein Standbild bilden <strong>zu</strong> der optimalen Lösung, der Utopie ihrer erfundenen Situation. Das »happy end« Bild soll nur so positiv sein, wie es die Gruppe für glaubwürdig hält. Abschließend werden vier Standbilder geformt <strong>zu</strong> den Zwischenschritten von eins <strong>zu</strong> fünf, also Bilder <strong>zu</strong> dem Weg, vom Problem <strong>zu</strong>r Lösung. Die Bilder eins bis fünf werden <strong>zu</strong>m Schluss alle nacheinander präsentiert. Aggression + Zuneigung (In der Gruppe) Die Schüler_innen bilden einen Außenkreis und einen Innenkreis. Je zwei Schüler_innen stehen somit voreinander. Dann machen alle Paare gleichzeitig Gesten <strong>zu</strong> folgenden Begriffen: 1. Runde <strong>zu</strong> Aggression: wegjagen, fort-­scheuchen, beleidigen, beschuldigen Zum Wechseln klatscht der/die Spielleiter_in in die Hände. 2. Runde <strong>zu</strong> Zuneigung: vergeben, verzeihen, beschwichtigen, Mut machen, wieder gutmachen. Gemeinsamkeiten und Unterschiede werden anschließend besprochen. Forum-<strong>Theater</strong> (In Kleingruppe) Die Gruppen spielen sich nacheinander spontan eine Szene <strong>zu</strong>m Thema »Ungerechtigkeit« vor. Die Spieler_innen sollen noch keinen Lösungsansatz zeigen, sondern <strong>zu</strong>nächst nur das Publikum provo-­zieren. Wenn die Zuschauer_innen eine Idee haben oder schlicht sehr un<strong>zu</strong>frieden mit dem Verlauf sind, können sie in die Szene eingreifen, selbst <strong>zu</strong> Spielenden werden und aktiv nach einer Lösung suchen. (Ein mögliches Grundszenario könnte sein: A schädigt B, C schützt A, D würde gern B verteidigen, traut sich aber wegen A nicht.) Achilles53


»über jungs«Modul 2: Gruppe und Status Dieser Raum gehört mir! (Jeweils <strong>zu</strong> viert) Die Mitspieler_innen ziehen der Reihe nach eine Karte aus einem Stapel (von 1 bis 4). Die Karten repräsentieren einen Status (1 ganz niedrig, 4 ganz hoch). Die Spieler_innen betreten dann gemäß des gezogenen Status’ den Raum und sagen den Satz: Dieser Raum gehört mir! Die Mitspieler_innen im Publikum müssen den Status erraten. Hallo! (Begrüßungsspiel -­‐ in 2 Gruppen geteilt) Gruppe teilt sich durch Abzählen in zwei Gruppen auf. Alle laufen im Raum umher und begrüßen sich mit einem Hallo!, wobei Gruppe 1 (ungerade) permanenten Blick-­kontakt hält und Gruppe 2 kurz hinschaut, dann wegsieht und schließlich beim Weggehen hinterher schaut. Variante <strong>zu</strong>r Einführung: Die beiden Grup-­pen laufen im Raum umher ohne sich verbal <strong>zu</strong> begrüßen. Gruppe 1 schaut hin, Gruppe 2 schaut weg. Was ist in Folge des vorhandenen/ nicht vorhandenen Blickkontaktes mit dem Körper passiert? Dritter sein! (Zu dritt) Zwei Spieler_innen erscheinen <strong>zu</strong> einem Kochworkshop und zeigen in einer Im-­provisation wer von beiden den Hochstatus hat und wer den Tiefstatus. Dies wird nicht vorab besprochen, sondern soll sich in der szenischen Improvisation zeigen. Nach 2 Minuten kommt ein dritter/ eine dritte Spieler_in da<strong>zu</strong>. Er/ sie versucht nun den Hochstatus <strong>zu</strong> erlangen, während die an-­deren zwei Spieler_innen sich <strong>zu</strong>sammen-­‐schließen können, um der Neuen/ dem Neuen den Tiefstatus auf<strong>zu</strong>drängen. Um die Szene <strong>zu</strong> beenden findet eine der Spie-­ler_innen einen Grund für die Figur um ab<strong>zu</strong>gehen. Es ist wichtig, anschließend <strong>zu</strong> besprechen wie sich die Spieler_innen verhalten haben, welche Strategien sie genutzt haben und wie sich die Spieler_innen beim Spielen gefühlt haben. Küchenmaschine (Erst in der Großgruppe, dann in Kleingruppen mit 3 – 5 Personen) Ein Spieler/ eine Spielerin beginnt ein Geräusch und eine Bewegung <strong>zu</strong> wieder-­holen, als sei er/sie ein Teil einer Maschine, alle anderen können sich nach und nach an die »Maschine« anbauen. Alle Geräusche und Bewegungen der Maschine sollen aus dem Assoziationsrahmen »Küche« stammen. Da-­mit die Maschine »funktioniert« muss jeder Teil/ jede Person an mindestens einer Stelle mit einem anderen Teil der Maschine, bzw. mit einer anderen Person verbunden sein. Der Außenseiter (Zu viert) Auf der Bühne befinden sich die ganze Zeit über vier Spieler_innen -­‐ keiner/ keine darf abgehen. Drei befinden sich aus einem plausiblen Grund <strong>zu</strong> einer geschlossenen Gruppe <strong>zu</strong>sammen. Der vierte muss alles versuchen, um <strong>zu</strong> dieser Gruppe Zugang <strong>zu</strong> finden. Nach einer Weile schafft er es und aus der Gruppe muss ein anderer raus-­fliegen, da wie gesagt die Gruppe nur aus drei bestehen kann. Die Gruppe sollte nicht <strong>zu</strong> lange in einer Gruppierung verharren. (Spannendes Spiel, um ein Außenseiterge-­fühl <strong>zu</strong> vermitteln.) 54


»über jungs«Modul 3: Über Jungs und über Mädchen Gesprächsanregungen: - Gibt es Eurer Meinung nach typisch männliche/ typisch weibliche Verhaltensweisen? Welche? - Was glaubt ihr welche Rollenerwartungen an Jungs es gibt? - Was glaubt ihr welche Rollenerwartungen an Mädchen es gibt? - Wo beachtet ihr einen Zusammenhang zwischen den Erwartungen an Jungs/ Mädchen (von Außen) und ihrem Verhalten? - Beurteilt ihr die Anwendung von Gewalt durch Jungs anders, als wenn Mädchen gewalttätig sind? - Was glaubt ihr in welchen Situationen man davon profitiert ein Junge <strong>zu</strong> sein? - Was glaubt ihr in welchen Situationen man davon profitiert ein Mädchen <strong>zu</strong> sein? - Glaubt ihr dass Gruppen aus Mädchen anders miteinander umgehen, als Gruppen aus Jungs? Inwiefern? Übungen: Rollentausch Die Klasse wird in der Hälfte geteilt – jede Hälfte spielt der anderen folgende Szene spontan vor: Auf einer Party sind nur Jungs, dann geht die Tür auf und mehrere Mädchen betreten den Raum. Wie verändert sich die Situation dadurch? Wie unterscheiden sich Jungs und Mädchen in Bewegungen, Gesprächsthemen und Verhalten? Hierbei sollten möglichst viele Jungs von Mädchen gespielt werden und umgekehrt. Wenn Mädchen und Jungen gemein sind Mädchen und Jungen überlegen in getrenn-­ten Gruppen, wie es aussieht, wenn sie <strong>zu</strong>-­einander gemein sind oder sich ärgern. Beide Gruppen schreiben <strong>zu</strong> folgenden Sätzen weiter: - Als ich einmal erlebt habe, dass ein Mädchen <strong>zu</strong> einem Jungen gemein war......... - Als ich einmal erlebt habe, dass ein Junge <strong>zu</strong> einem Mädchen gemein war........ Die Antworten werden in den jeweiligen Gruppen besprochen. Lebensqualität Zu den hartnäckigsten und gnadenlosesten Stereotypen der männlichen Adoleszenz gehört die Vorstellung, dass jungen Männern an ihrer Umgebung nichts liegt, dass sie »hart im Nehmen« sind, dass Unbequem-­lichkeit und harte Kanten ihnen nichts ausmachen, dass sie am besten in ein cooles, kahles, graues Ambiente passen. Wahr ist das Gegenteil. Jede Übung die es ihnen irgendwie möglich macht, <strong>zu</strong> sich selber, <strong>zu</strong>m eigenen Körper und <strong>zu</strong>einander nett <strong>zu</strong> sein, ist wertvoll. Gleichzeitig ist hier ein indirekter Zugang angesagt, weil Peinlich-­keitsgefühle in der Adoleszenz ausgeprägt sind, Bedürftigkeiten unter viel Bluff verschwinden und vieles »verblödelt« wird. Eine sehr gut geeignete und leicht <strong>zu</strong> realisierende Maßnahme ist der Kochkurs. Junge Männer essen gerne: Jedes Unter-­fangen, das mit Essen verbunden ist, ver-­spricht Erfolg. Ein Kochkurs kann auf unterschiedliche Art und Weise organisiert sein, je nach vorhandener Infrastruktur und Ressourcen. Gibt es eine Kochgelegenheit, so kann nach einfachen Rezepten in Eigen-­initiative oder durch Engagement eines Lehrers oder einer Lehrerin gemeinsam gekocht werden. Ratsam: Die Aufgaben sollten jedes Mal neu verteilt werden. Eine Gruppe besorgt die Bestandteile laut Rezept, eine andere kocht, eine weitere räumt ab. Aus: Bernard, Ceryl und Schlaffer, Edit: Einsame Cowboys – Jungenin der Pubertät. München 2000.55


»über jungs«Modul 4: Schreibwerkstatt <strong>zu</strong>m StückMan nehme… Eine Geschichte »Über Jungs« in Form eines Kochrezepts verfassen. Sich fragen, was in einer Geschichte über Jungs nicht fehlen darf. Beginnen mit einer knappen Ankündigung des <strong>zu</strong> erwartenden und fortfahren mit einer Liste, in der die Komponenten der Erzählung wie Zutaten untereinander stehen – Namen der Protagonistin und des Antagonisten, Jahreszeit, Tageszeit, Wetterlage, Ort, besondere Objekte und Requisiten der Geschichte. Drei-Minuten-Text <strong>zu</strong> dem Titel »Jungs« Den Text anschließend mit dem Nachbarn tauschen und sich gegenseitig Fragen und konstruktive Anmerkungen an den Text schreiben. Daraufhin den eigenen Text drei Minuten lang bearbeiten. Anschließend freiwilliges vorlesen der 3-­‐Minuten-­‐Texte. Steckbrief und Monolog Vier Jungs bekommen die Bewährungs-­auflage an einem Kochkurs teil<strong>zu</strong>nehmen. Warum? Eine Vorgeschichte für einen der vier Jungs erfinden und diese Geschichte in Form eines Monologs aufschreiben, wie die Gedanken des Jungen auf dem Weg <strong>zu</strong>m ersten Tag des Kurses. Anschließend für diesen Jungen einen stichpunktartigen Steckbrief entwickeln. Den Jungen möglichst detailliert beschreiben. Kipppunkt Am zweiten Tag des Kochkurses für Jungs kommt ein Mädchen da<strong>zu</strong>. Den Moment ihrer Ankunft und die erste gemeinsame Stunde beschreiben, ab dem Öffnen der Tür. Das Verhalten der Figuren in der Geschichte nicht be-­‐ oder verurteilen, sondern nur beschreiben. Sechzehn sein Wie ist es, wenn man 16 ist? Einen Einblick in Form von zehn Sätzen geben. Vorher kann eine Liste mit Themen-­anregungen gesammelt werden: Was nervt? Was gefällt? Was darf man, was nicht? Was kann man schon allein, was nicht? Wie sehen die Wochen, wie die Wochenenden aus? Mischen, ziehen, schreiben Drei Karteikärtchen ausfüllen: Steckbrief einer Person (die an dem Kochkurs teilnehmen könnte), Skizze eines Ortes, Bezeichnung eines Dings. Die Kärtchen werden in drei Stapeln gesammelt. Anschließend zieht jeder/jede je eine Personen-­‐, Ort-­‐ und Dingkarte und schreibt eine Geschichte da<strong>zu</strong>. Dialog-Impro (<strong>zu</strong> zweit) Beim Schreiben der Dialog-­‐Impro teilt man die Gruppe in Zweier-­‐Teams auf. In den Teams übernimmt jeder den Part von einem der beiden Dialogpartner, so dass der Text in der gesprochenen Improvisation entsteht und dabei mitgeschrieben wird. Folgender Dialog aus dem Stück »Über Jungs« dient als Anfang eines Dialoges, der weitergeschrieben werden soll (in fünf Minuten): - Du hast in Notwehr gehandelt. SEBASTIAN: Wenn der Kerl mich so anguckt, ja? Wo liegt denn das, wo is denn das dann keine Notwehr? Wer hat dem erlaubt, mich so an<strong>zu</strong>starren? - Jemand hat Dich angestarrt? SEBASTIAN: Ja, sag mal bist Du Scheisse oder wie, hast Du Tomaten auf den Augen. Auf den Ohren. Scheisse! - Wie hat er Dich angestarrt? SEBASTIAN: Was weiss denn ich? So halt (starrt) . 56


»über jungs«In der ersten Schreibwerkstatt <strong>zu</strong> »Über Jungs« mit der Klasse 10.3 von Frau Renner, der ISS Ringstraße, entstanden aus dieser Übung Dialoge welche die Rolle der namenlosen Person alle anders interpretieren. Hier drei Beispiele: 1. (...) - Und dann? S: Hab ich ihn gehauen. -­‐ Ich kann dich einfach nicht verstehen, warum du das gemacht hast. S: Weil ich mich nicht einfach so anstarren lasse, verstanden! -­‐ Du solltest mal eine Therapie machen, glaub mir. S: Halt die Backen sonst trete ich dir die Zähne ein. -­‐ Das ist genau was ich meine du bist <strong>zu</strong> aggressiv. Und pass lieber auf, dass ich dir keine reinziehe, Okay? S: Dann komm doch her du Spast. (Es kommt <strong>zu</strong>m Schlagaustausch) 2. (...) - Und dann? S: Habe ich gefragt, was er will und er meinte ich soll’ s Maul halten und kam auf mich <strong>zu</strong>. -­‐ Echt jetzt? Was ist dann passiert? S: Wollte er mir eine Bombe geben und ich habe ihn mehrmals weggeschubst, er ist ausgerutscht und auf einen riesigen Stein gefallen. -­‐ Dicka? Willst du mich verarschen? Hast du ihn liegen gelassen? S: Nein. Habe sofort den Krankenwagen gerufen aber der Typ ist gestorben und ohne Zeugen meinte die Polizei das wäre Totschlag! 3. (...) - Und dann? S: Dann ha ick ihn jeschubst und jefragt ob an Problem hat... -­‐ Okay ... DU hast ihn also geschubst und dann? S: Dann wollten sene Freunde mir <strong>zu</strong>rückhalten, aber dit hab ick mir nich jefallen lassen ... Dann bin ick ausjerastet und hab se alle <strong>zu</strong>sammen jefaltet wie ’n Stück Papier... X: Okay ... Du weißt schon das diese Sache Konsequenzen für dich haben wird?! S: Ohh ja Mann ... Dit wes ick selber Mann . 57


»über jungs«Links und AdressenQuellenverzeichnis: - Bernard, Ceryl und Schlaffer, Edit: Einsame Cowboys – Jungen in der Pubertät. München 2000. - Bourdain, Anthony. Geständnisse eines Küchenchefs, Goldmann Verlag 2003 - Gatttenberg, Angela. Ich pubertiere, also bin ich. Spiegel Wissen. 2/2010 - Hürlimann, Helen und Jürgmeier. »Tatort«, Fussball und andere Gendereien. Verlag Pestalozzianum, Lutzern 2008. - Metzinger, Adalbert. Arbeiten mit Gruppen. Lambertus-­‐Verlag, 2010 - Romberg, Johanna. Jungen -­‐ die neuen Sorgenkinder? GEO Nr. 03. März 2003 - Schnack, Dieter und Neutzling, Rainer: Kleine Helden in Not: Jungen auf der Suche nach Männlichkeit. Reinbeck bei Hamburg 1990 - Schnack, Dieter und Neutzling, Rainer. Die Prinzenrolle, über die männliche Sexualität. Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, 1995 Internet: www.sz-­‐magazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/35533 www.fr-­‐online.de/wissenschaft/das-­‐gehirn-­‐ist-­‐eine-­‐baustelle/-­‐/1472788/4884426/-­‐/index.html www.genderini.wordpress.com/uber/texte www.sueddeutsche.de/kultur/die-­‐lust-­‐an-­‐der-­‐selektion-­‐ein-­‐medienwissenschaftler-­‐erklaert-­‐den-­‐reiz-­von-­‐dsds-­‐1.109267www.tagesspiegel.de/zeitung/jugendgewalt-­‐hartnaeckigkeit-­‐statt-­‐haerte/1133222.html www.talkingfood.de/lehrer_special/gesunde_schule/Titel-­‐Warum_essen_M%C3%A4dchen_Salat_und_Jungen_Fleisch%3F,6,28,18.html www.openpr.de/drucken/88425/Schueler-­‐initiierte-­‐Kochkurs-­‐mit-­‐gewaltbereiten-­‐Jugendlichen-­‐Spitzenkoeche-­‐engagierten-­‐sich-­‐bei-­‐Kochen-­‐Gegen-­‐Gewalt-­‐gegen-­‐Perspektivlosigkeit.html www.songtexte.com Tipps <strong>zu</strong>m Weiterlesen:- Badinter, Elisabeth: Die Identität des Mannes: Seine Natur, seine Seele, seine Rolle. München 1993. - Budde, Jürgen. Doing Gender – Doing Masculinity. Zeitschrift für Frauenforschung und Geschlechterstudien, 2006, Jg. 23, H. 4. - Budde, Jürgen. Von lauten und von leisen Jungen. Schriften des Essener Kollegs für Geschlechterforschung Hrsg.: Doris Janshen. 7. Jg. 2007, Heft I - Butler, Judith. Das Unbehagen der Geschlechter. Suhrkamp. Frankfurt am Main 1991. - Heinrichs, Dirk. Da hab ich nur noch rot gesehen: Jugendliche Straftäter und Opfer berichten. fredeboldundfischer Verlag. 2008 - Mosse, L. George. Das Bild des Mannes. Zur Konstruktion der modernen Männlichkeit. S. Fischer Verlag. - Röper, Ursula und Hockenjos, Ruthild (Hg.). Geschlechterrollen vor dem Hintergrund unterschiedlicher Religionen und Weltanschauungen. Werkstatt der Kulturen. Berlin 2007. - Schad Dr., Ute. Kreisjugendring München-­‐Stadt (Hg.): Männer, Machos, Memmen. München, Juli 2006 - www.genderundschule.de - http://www.fachkongress-­‐jungenpaedagogik2010-­‐bielefeld.de - http://bildungsserver.berlin-­‐brandenburg.de/anti-­‐mobbing-­‐fibel.html 58


Dank und Impressum»über jungs«Wir danken:- Anti-­‐Aggressivitäts-­‐Trainer Oliver Lück (www.die-­‐coaching-­‐spezialisten.de) - Frau Renner und der Klasse 10.3 der ISS Ringstraße - Frau Kimmel und der Klasse 9 der Bertha von Suttner Schule Impressum:<strong>GRIPS</strong> <strong>Theater</strong> GmbH Altonaer Straße 22 10557 Berlin Spielzeit2011/2012 KünstlerischerLeiter: StefanFischer-­‐ Fels Geschäftsführer: Volker Ludwig Redaktion: Nora Hoch, Winfried Tobias, Nana Melling Fotos: David Baltzer/ www.bildbuehne.de Art Direktion: anschlaege.de Gestaltung: Stefanie Kaluza Titelbild: Thekla Priebst / anschlaege.de 59

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