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Politik und Relgigion in der Zivilgesellschaft

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Rolf Schie<strong>der</strong><strong>Politik</strong> <strong>und</strong> Religion<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zivilgesellschaft</strong>Die Entwicklung mo<strong>der</strong>ner Gesellschaften zu <strong>Zivilgesellschaft</strong>en ist unausweichlich,weil sich e<strong>in</strong>erseits <strong>der</strong> Staat aus vielen sozialen Bereichen zurückzieht <strong>und</strong>dafür an<strong>der</strong>erseits kompensatorisches bürgerschaftliches Engagement benötigtwird. Zivilreligion ist e<strong>in</strong>e Quelle, aus <strong>der</strong> sich Zivilität als Bürgers<strong>in</strong>n speist. Fürdie Tradierung e<strong>in</strong>er freien Zivilreligion tragen die Religionsgeme<strong>in</strong>schaften vorallem im Religionsunterricht Verantwortung. Auch <strong>der</strong> Islam ist <strong>in</strong> diese Verantwortungsgeme<strong>in</strong>schaftzu <strong>in</strong>tegrieren.»Selten wird mit e<strong>in</strong>em Begriff so viel Sch<strong>in</strong>dlu<strong>der</strong> getrieben wie ab dem Zeitpunkt,zu dem er <strong>in</strong> die Hände <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>er gefallen bzw. präziser: zu e<strong>in</strong>emBestandteil <strong>der</strong> politischen Sprache geworden ist. Da werden dann S<strong>in</strong>n <strong>und</strong>Bedeutung nach Belieben zurechtgebogen, es kommt zu polemischen Instrumentalisierungeno<strong>der</strong> aber <strong>der</strong> Begriff wird, wenn er sich erst e<strong>in</strong>mal durchgesetzthat <strong>und</strong> allgeme<strong>in</strong> akzeptiert wird, so ausgeweitet <strong>und</strong> gedehnt, dassunter ihm am Ende alles Beliebige versammelt <strong>und</strong> zusammengefasst werdenkann.« (Münkler 2002, 115; zur Karriere des Begriffs <strong>Zivilgesellschaft</strong> vgl.Kle<strong>in</strong> 2001) Zweifellos hat dieses Schicksal den Begriff <strong>der</strong> <strong>Zivilgesellschaft</strong>längst ereilt. Immer wie<strong>der</strong> wird von Exponenten <strong>der</strong> deutschen Exekutivebis h<strong>in</strong> zum B<strong>und</strong>eskanzler von den Bürger<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Bürgern gefor<strong>der</strong>t,doch mehr zivilgesellschaftliches Engagement an den Tag zu legen. Damit bef<strong>in</strong>denwir uns <strong>in</strong> <strong>der</strong> merkwürdigen Lage, dass <strong>der</strong> Staat etwas for<strong>der</strong>t, wasper def<strong>in</strong>itionem <strong>in</strong> e<strong>in</strong> vom Staat apartes Feld öffentlichen Engagements gehört.Offenbar besteht aber wenig Neigung <strong>in</strong> Deutschland gegen e<strong>in</strong>e Allzuständigkeitdes Staates zu protestieren ± <strong>und</strong> so wird selbst <strong>der</strong> Aufbaue<strong>in</strong>er <strong>Zivilgesellschaft</strong> zur »Chefsache«. Diese politische Mentalität hat <strong>in</strong>Deutschland Tradition: <strong>in</strong> Ost wie West verlieû man sich gerne auf »VaterStaat«. In an<strong>der</strong>en Län<strong>der</strong>n herrscht e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e politische Kultur. So kämebeispielsweise <strong>in</strong> den Vere<strong>in</strong>igten Staaten von Amerika niemand auf die Idee,dem F<strong>in</strong>anzm<strong>in</strong>ister freiwillig zehn Prozent des eigenen Vermögens anzubieten,wie das e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>ige nordrhe<strong>in</strong>-westfälische Millionäre getan haben.Vielmehr hätten die amerikanischen Millionäre e<strong>in</strong>e Schule o<strong>der</strong> vielleichte<strong>in</strong> Krankenhaus gestiftet, das dann gegebenenfalls ihren Namen zu tragenhätte; jedenfalls hätten sie den Umweg über die Staatsbürokratie pe<strong>in</strong>lich vermieden<strong>und</strong> ihr bürgerschaftliches Engagement auf möglichst direktem Wegeumgesetzt.


<strong>Politik</strong> <strong>und</strong> Religion <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zivilgesellschaft</strong>29Was ist e<strong>in</strong>e <strong>Zivilgesellschaft</strong>?Was veranlasst die Exekutive, den <strong>Zivilgesellschaft</strong>sbegriff so stark zumachen? Der <strong>Politik</strong>wissenschaftler Herfried Münkler sieht dafür folgendeMotive: Erstens stehe <strong>der</strong> Begriff für die wachsende E<strong>in</strong>sicht <strong>in</strong> die Grenzenstaatlichen Handelns. Die massiven staatlichen Steuerungs- <strong>und</strong> Integrationsproblemekönnten so nicht nur als Defizit, son<strong>der</strong>n als anspruchsvolle Reformpolitikdargestellt werden. Zweitens verdanke sich die Karriere desBegriffs dem verzweifelten Wunschdenken, dass überall dort, wo dem Wohlfahrtsstaatdas f<strong>in</strong>anzielle Aus drohe, e<strong>in</strong>e imag<strong>in</strong>ierte <strong>Zivilgesellschaft</strong> als billigereMöglichkeit <strong>in</strong>s Spiel gebracht werden könne. Und drittens sei die Karrieredes <strong>Zivilgesellschaft</strong>begriffs eng mit <strong>der</strong> Krise <strong>der</strong> politischen L<strong>in</strong>ken <strong>in</strong>Deutschland verb<strong>und</strong>en. »Diese L<strong>in</strong>ke hat mit dem Staat bzw. <strong>in</strong>folge dessenKrise den wesentlichen politischen Adressaten ihrer For<strong>der</strong>ungen verloren.Dementsprechend wurden gerade aus den Reihen <strong>der</strong> L<strong>in</strong>ken zeitweilig dramatischüberdimensionierte Erwartungen <strong>in</strong> die <strong>Zivilgesellschaft</strong> h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>projiziert.«(Münkler 2002, 116) Daraus lässt sich auch die Skepsis liberaler Gesellschaftswissenschaftlergegen den <strong>Zivilgesellschaft</strong>sbegriff erklären: Siebefürchteten e<strong>in</strong>e erneute Bevorm<strong>und</strong>ung <strong>und</strong> Überfor<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Bürger.Mittlerweile kann aber auch das liberale Lager dem <strong>Zivilgesellschaft</strong>sbegriffvieles abgew<strong>in</strong>nen, weil sich damit die For<strong>der</strong>ung nach e<strong>in</strong>em »schlankenStaat« <strong>und</strong> mehr »Selbstverantwortung <strong>der</strong> Bürger« verb<strong>in</strong>den lässt.Bei aller Differenz im Detail s<strong>in</strong>d sich die Sozialwissenschaften <strong>in</strong> <strong>der</strong>M<strong>in</strong>imaldef<strong>in</strong>ition e<strong>in</strong>ig, dass man unter <strong>Zivilgesellschaft</strong> e<strong>in</strong> von Staat <strong>und</strong>Markt apartes Feld sozio-politischer Ordnung zu verstehen hat, dessen Bedeutungangesichts von ökonomischen Globalisierungsprozessen <strong>und</strong> <strong>der</strong>Krise des Sozialstaats zunehmen wird. Die entscheidende Ressource dieses sozio-politischenFeldes ist <strong>der</strong> Bürger selbst. We<strong>der</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Rolle als Untertannoch als Bürokrat, we<strong>der</strong> als Konsument noch als Nutzen maximieren<strong>der</strong>Unternehmer, son<strong>der</strong>n als für se<strong>in</strong> Geme<strong>in</strong>wesen verantwortlicher Bürger istdas Individuum <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zivilgesellschaft</strong> gefor<strong>der</strong>t. Als solches muss es sich<strong>der</strong> Tatsache bewusst se<strong>in</strong>, dass politische Partizipation <strong>und</strong> gesellschaftlicheSolidarität zwar anstrengend s<strong>in</strong>d, dass aber ihre Verweigerung weitaus problematischereFolgen nach sich ziehen würde.Die »Ressource Bürgers<strong>in</strong>n« steht aber nicht e<strong>in</strong>fach zur Verfügung. DerMensch muss zum Bürger erst gebildet werden. Bloûe Appelle an mehr Geme<strong>in</strong>s<strong>in</strong>n<strong>und</strong> weniger Egoismus s<strong>in</strong>d zwar gut geme<strong>in</strong>t, gehen aber <strong>in</strong> <strong>der</strong>Regel <strong>in</strong>s Leere. Denn die Prozesse <strong>der</strong> gesellschaftlichen Differenzierung, <strong>der</strong>Spezialisierung <strong>und</strong> <strong>der</strong> Professionalisierung s<strong>in</strong>d mächtige Faktoren, die bereitsdie Imag<strong>in</strong>ation von so etwas wie e<strong>in</strong>em geme<strong>in</strong>samen gesellschaftlichenGanzen beh<strong>in</strong><strong>der</strong>n. Dementsprechend wenden die Skeptiker e<strong>in</strong>, dass dasKonzept e<strong>in</strong>er <strong>Zivilgesellschaft</strong> die Dynamik <strong>der</strong> Ausdifferenzierungsprozesse<strong>in</strong> mo<strong>der</strong>nen globalisierten Gesellschaften unterschätzt. Vertreter des Zivil-


30 Rolf Schie<strong>der</strong>o<strong>der</strong> Bürgergesellschaftsmodells machen dagegen geltend, dass e<strong>in</strong>e ungebremsteAusdifferenzierung <strong>der</strong> Gesellschaft letztlich selbstzerstörerisch sei<strong>und</strong> Kompensations<strong>in</strong>stanzen notwendig mache. Angesichts von immer kle<strong>in</strong>erwerdenden Handlungsspielräumen des Staates komme es für die Bürgergesellschaftdarauf an, das »Ethos <strong>der</strong> Bürger« (ebd., 122) zu stärken. Sie sollennicht nur ihren eigenen Nutzen suchen, son<strong>der</strong>n durch Partizipation ihrInteresse am Geme<strong>in</strong>wesen bek<strong>und</strong>en.Diesem normativ-programmatischen Verständnis von <strong>Zivilgesellschaft</strong>steht e<strong>in</strong>e Wirklichkeit gegenüber, die damit nicht unbed<strong>in</strong>gt kompatibel ist.Fragilität, S<strong>in</strong>gularität <strong>und</strong> Partikularität von Bürger<strong>in</strong>itiativen s<strong>in</strong>d häufigbemängelt <strong>und</strong> als Nimby-Haltung (Not <strong>in</strong> my backyard!) kritisiert worden.Auch die Hoffnung, dass die groûen <strong>in</strong>ternationalen zivilgesellschaftlichenAkteure wie Greenpeace, Rotes Kreuz, aber auch Attac so etwas wie e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>ternationale<strong>Zivilgesellschaft</strong> etablieren könnten, ist nicht realistisch. Mankann freilich dieser Spannung zwischen e<strong>in</strong>em utopischen Entwurf <strong>und</strong> <strong>der</strong>nüchternen Analyse des so genannten Dritten Sektors auch etwas Positivesabgew<strong>in</strong>nen. Unter dem Dritten Sektor versteht die Soziologie we<strong>der</strong> staatlichorganisierte noch aus wirtschaftlichem Interesse unterhaltene Stiftungen,Vere<strong>in</strong>e, Verbände, sowie die <strong>in</strong>ternational tätigen Hilfs- <strong>und</strong> Ökologiebewegungen<strong>und</strong> die so genannten NGOs (Non-Governmental Organisations).Wenn es beim Projekt <strong>der</strong> <strong>Zivilgesellschaft</strong> um mehr Partizipation <strong>der</strong> Bürgere<strong>in</strong>erseits <strong>und</strong> um mehr Gerechtigkeit auf nationaler <strong>und</strong> <strong>in</strong>ternationalerEbene an<strong>der</strong>erseits geht, dann müssen die sich mit dem Titel »zivilgesellschaftlich«schmückenden Initiativen sich daraufh<strong>in</strong> befragen lassen, ob siediesen Kriterien auch genügen.<strong>Zivilgesellschaft</strong> <strong>und</strong> ZivilreligionWährend die organisationssoziologischen Forschungen die kirchlichen Wohlfahrtsverbände<strong>und</strong> die kirchlichen Entwicklungshilfeorganisationen ganzselbstverständlich zum Kreis <strong>der</strong> zivilgesellschaftlichen Akteure zählen (vgl.etwa Frantz/Zimmer 2002), bleibt im politikwissenschaftlichen Diskurs <strong>der</strong>Bereich des Religiösen abgeschattet. Man spricht zwar von Bürgertugendo<strong>der</strong> den sozio-moralischen Implikationen des Begriffs, e<strong>in</strong> ausdrücklicherBezug auf e<strong>in</strong>e die <strong>Zivilgesellschaft</strong> stützende Zivilreligion <strong>und</strong> <strong>der</strong>en Verhältniszu den Kirchen <strong>und</strong> an<strong>der</strong>en Weltanschauungsverbänden wird aber <strong>in</strong> <strong>der</strong>Regel vermieden.Weitaus unverkrampfter gehen angelsächsische <strong>Zivilgesellschaft</strong>stheoretikermit dem Religionsthema um. Michael Walzer etwa zählt die Kirchenganz selbstverständlich zu den zivilgesellschaftlichen Assoziationen: »Thewords ­civil society¬ name the space of uncoerced human association and


<strong>Politik</strong> <strong>und</strong> Religion <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zivilgesellschaft</strong>31also the set of relational networks ± formed for the sake of family, faith, <strong>in</strong>terest,and ideology ± that fill this space.« (Walzer 1995, 7) Diese Assoziationen<strong>und</strong> Netzwerke würden jene soziale Ressource produzieren, von <strong>der</strong> e<strong>in</strong>e <strong>Zivilgesellschaft</strong>zehre, nämlich Zivilität (civility). Als Respekt zwischen Personen<strong>und</strong> Gruppen, als die Akzeptanz von Differenz nimmt <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong>Zivilität im englischsprachigen Diskurs über <strong>Zivilgesellschaft</strong> e<strong>in</strong>en gewichtigenPlatz e<strong>in</strong> (vgl. neben Walzer auch Bryant 1995).Auch <strong>der</strong> englische Soziologe Edward Shils hält die Religion für e<strong>in</strong> unverzichtbaresElement e<strong>in</strong>er <strong>Zivilgesellschaft</strong> ± <strong>und</strong> zwar <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er doppeltenH<strong>in</strong>sicht. Zum e<strong>in</strong>en bestehe das Beson<strong>der</strong>e e<strong>in</strong>er civil society dar<strong>in</strong>, »dassihre e<strong>in</strong>zelnen Komponenten untere<strong>in</strong>an<strong>der</strong> durch das Kollektivbewusstse<strong>in</strong>e<strong>in</strong>er geme<strong>in</strong>samen Teilhabe an <strong>der</strong> Gesellschaft verknüpft s<strong>in</strong>d« (Shils 1991,15). Bürgers<strong>in</strong>n als die charakteristische Denk- <strong>und</strong> Verhaltensweise <strong>in</strong> e<strong>in</strong>ercivil society entspr<strong>in</strong>ge letztlich <strong>der</strong> Teilhabe <strong>der</strong> E<strong>in</strong>zelnen am Kollektivbewusstse<strong>in</strong><strong>der</strong> civil society. Dieses Kollektivbewusstse<strong>in</strong> aber habe e<strong>in</strong>e religiöseDimension. »E<strong>in</strong>e civil society muss e<strong>in</strong>e Idee von e<strong>in</strong>em höheren Recht haben,e<strong>in</strong>er Norm o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>em Kriterium für das Gute <strong>und</strong> Richtige jenseitsgegenwärtiger Maûstäbe <strong>und</strong> jenseits dessen, was e<strong>in</strong>zelne Individuen <strong>und</strong>Gruppen für sich anstreben. ... Die letzte Legitimation e<strong>in</strong>es jeden Regimes,selbst bei e<strong>in</strong>er civil society, liegt wahrsche<strong>in</strong>lich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Sphäre des Transzendenten.Wir werden also die Frage, ob die civil society e<strong>in</strong> Element des Heiligenenthält, offenbar bejahen müssen.« (ebd., 42) Zum an<strong>der</strong>en aber überschreitendie groûen Religionsgeme<strong>in</strong>schaften die Grenzen e<strong>in</strong>er Gesellschaft<strong>und</strong> br<strong>in</strong>gen auf diese Weise e<strong>in</strong> weiteres transzendierendes Element zumZuge. Sie for<strong>der</strong>n als Teil <strong>der</strong> <strong>Zivilgesellschaft</strong> vom Staat Religionsfreiheit,s<strong>in</strong>d dafür aber ihrerseits bereit, am gesellschaftlichen Geme<strong>in</strong>wohl <strong>und</strong> <strong>der</strong>Entwicklung von Zivilität mitzuarbeiten.Auch im <strong>Zivilgesellschaft</strong>sbegriff <strong>der</strong> Dissidenten des Ostblocks wieGyörgy Konrad o<strong>der</strong> Vµclav Havel s<strong>in</strong>d (zivil-)religiöse Obertöne zu vernehmen.Von e<strong>in</strong>em tiefen Misstrauen gegenüber e<strong>in</strong>er technokratisch-machiavellistischen<strong>Politik</strong> durchdrungen plädierte Havel schon 1984 für e<strong>in</strong>e neue<strong>Politik</strong> <strong>der</strong> Achtung <strong>der</strong> vorpolitischen Gr<strong>und</strong>lagen des Politischen: »Wemust honour with the humility of the wise the bo<strong>und</strong>s of that natural worldand the mystery which lies beyond them, admitt<strong>in</strong>g that there is someth<strong>in</strong>g<strong>in</strong> the or<strong>der</strong> of Be<strong>in</strong>g which evidently exceeds all our competence. We mustrelate constantly to the absolute horizon of our existence which, if we butwill, we shall constantly rediscover and experience.« (Havel 1993, 395)Es war aber <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong> amerikanische Soziologe Robert N. Bellah,<strong>der</strong> mit se<strong>in</strong>er Wortschöpfung civil religion auf das Angewiesense<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zivilgesellschaft</strong>auf e<strong>in</strong>e Zivilreligion h<strong>in</strong>wies (Bellah 1970; Bellah/Hammond1980). Max Webers These, dass es ohne S<strong>in</strong>n ke<strong>in</strong> soziales Handeln gebenkönne, <strong>und</strong> Emile Durkheims Axiom, dass e<strong>in</strong>e Gesellschaft ke<strong>in</strong>e materiale,son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>e moralische Entität sei, verband Bellah zu <strong>der</strong> These, dass jedeGesellschaft e<strong>in</strong>e symbolische Vorstellung von sich selbst braucht, um hand-


32 Rolf Schie<strong>der</strong>lungsfähig zu se<strong>in</strong>. Der Selbstsymbolisierungsbedarf nimmt <strong>in</strong> Gesellschaftenmit hohem sozialem <strong>und</strong> ökonomischem Wandel zu, weil ständig neue Anpassungsleistungenzu erbr<strong>in</strong>gen s<strong>in</strong>d.Gel<strong>in</strong>gen<strong>der</strong> gesellschaftlicher Wandel erfor<strong>der</strong>t dann aber e<strong>in</strong> sichebenfalls wandelndes Religions- o<strong>der</strong> Weltanschauungssystem. Dieses habezwischen den Identitätsbedürfnissen <strong>der</strong> Individuen <strong>und</strong> den Verän<strong>der</strong>ungsnotwendigkeitene<strong>in</strong>er Gesellschaft zu vermitteln. Die groûen Mo<strong>der</strong>nisierungsideologien<strong>der</strong> westlichen Welt waren für Bellah <strong>der</strong> Sozialismus, <strong>der</strong>Nationalismus, <strong>der</strong> Liberalismus <strong>und</strong> <strong>der</strong> Protestantismus. Während Sozialismus<strong>und</strong> Nationalismus verbraucht seien, blieben heute nur <strong>der</strong> Liberalismusauf <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en <strong>und</strong> <strong>der</strong> Protestantismus 1 auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite als Alternativenübrig. E<strong>in</strong> grenzenloser Liberalismus offenbare aber immer mehr se<strong>in</strong>e selbstzerstörerischeKraft. E<strong>in</strong> Geme<strong>in</strong>wesen, das alle<strong>in</strong> auf das Eigen<strong>in</strong>teresse <strong>und</strong>die Gew<strong>in</strong>nmaximierungsbedürfnisse <strong>der</strong> Bürger baue, sei nicht lebensfähig.Die liberale Ideologie habe immer davon gelebt, dass sich die Mehrheit <strong>der</strong>Bevölkerung gerade nicht liberalismuskonform verhielt. Der Liberalismus seideshalb »die absolut utopischste Idee <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geschichte politischen Denkens,nämlich, dass e<strong>in</strong>e gute Gesellschaft aus den von re<strong>in</strong>em Eigen<strong>in</strong>teresse geleitetenHandlungen <strong>der</strong> Bürger entstehen kann« (ebd., 9).Mit se<strong>in</strong>er Wortschöpfung civil religion g<strong>in</strong>g es Bellah vor allem darum,auf die gesellschaftliche Notwendigkeit e<strong>in</strong>er politischen Moral h<strong>in</strong>zuweisen.Ohne e<strong>in</strong>e Zivilreligion verfalle die politische Moral, denn moralisches Handelnbrauche die Vision von e<strong>in</strong>er freien <strong>und</strong> gerechten Gesellschaft. Korruption,Zynismus <strong>und</strong> Bürokratisierung auf <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Seite, Privatisierung <strong>und</strong>Konsumdenken auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en zerstörten das moralische F<strong>und</strong>ament <strong>der</strong>Gesellschaft. An die Stelle e<strong>in</strong>es selbstzerstörerischen Liberalismus müsse dieIdee e<strong>in</strong>er kommunitären Gesellschaft treten. Die Remoralisierung politischer<strong>und</strong> ökonomischer Handlungsvollzüge sei überfällig.In ausdifferenzierten Gesellschaften kommt e<strong>in</strong>e solche Zivilreligion, wiesie Bellah vorschwebte, freilich nicht mehr als alle Teilsysteme <strong>der</strong> Gesellschaftumfassen<strong>der</strong> Weltanschauungshorizont zur Geltung ± das wäre mit demGr<strong>und</strong>satz <strong>der</strong> Religions- <strong>und</strong> Weltanschauungsfreiheit nicht vere<strong>in</strong>bar. Vielmehrist das politische System e<strong>in</strong>er Gesellschaft darauf angewiesen, dass diejeweils vertretenen Religionen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Gesellschaft dieses auch aus religiösenGründen für anerkennungswürdig halten. Die zivilreligiöse Frage kann deshalbauch als die Frage nach <strong>der</strong> religiösen Zustimmungsbedürftigkeit <strong>und</strong>Zustimmungsfähigkeit des Geme<strong>in</strong>wesens unter den Bed<strong>in</strong>gungen von Religionsfreiheit<strong>und</strong> religiöser Pluralität gefasst werden. Die <strong>Politik</strong> ist nicht nurvon den reproduktiven <strong>und</strong> ökonomischen, son<strong>der</strong>n auch von den religiössittlichenLeistungen <strong>der</strong> Bürger<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Bürger abhängig. Da Bürger zu-1 Da <strong>der</strong> Katholizismus aus soziologischer Sicht immer »protestantischer« werde<strong>und</strong> vor allem die Individualisierung <strong>und</strong> Pluralisierung von Religion akzeptiere,sieht Bellah im Protestantismus die christliche Leitkultur <strong>in</strong> <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Welt.


<strong>Politik</strong> <strong>und</strong> Religion <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zivilgesellschaft</strong>33gleich Christen, Juden, Muslime, Atheisten s<strong>in</strong>d, ist das Verhältnis <strong>der</strong> jeweiligenKonfession <strong>und</strong> Weltanschauung zum Geme<strong>in</strong>wesen für den Zuschnittdes zivilreligiösen Bewusstse<strong>in</strong>s des e<strong>in</strong>zelnen Bürgers entscheidend. E<strong>in</strong>e vonden Religionsgeme<strong>in</strong>schaften losgelöste Zivilreligion kann es nicht geben. Sieschöpft vielmehr aus den Quellen <strong>der</strong> politischen Theologien <strong>und</strong> Ethiken <strong>der</strong>jeweiligen Konfessionen. In e<strong>in</strong>er multikonfessionellen Gesellschaft muss manalso mit <strong>der</strong> Existenz e<strong>in</strong>er Vielzahl von Fassungen des zivilreligiösen Konsensesrechnen. Umgekehrt gilt aber auch <strong>der</strong> Satz, dass jede Religion immerauch Zivilreligion ist. Jedes religiöse Subjekt ist immer auch Bürger <strong>und</strong> mussals solches Stellung zu se<strong>in</strong>em politischen Geme<strong>in</strong>wesen nehmen.Staatliche o<strong>der</strong> zivilgesellschaftliche Zivilreligion?Es gibt Anzeichen dafür, dass <strong>der</strong> Staat zwar die ihm auferlegte religiös-weltanschaulicheNeutralität im Blick auf die Religionsgeme<strong>in</strong>schaften beachtet,dass er aber im Blick auf se<strong>in</strong>e zivilreligiöse Bedürftigkeit zunehmend zur »legitimatorischenSelbstbedienung« neigt. Vor allem <strong>in</strong> den Schulen versucht<strong>der</strong> Staat, über e<strong>in</strong>e so genannte »Werteerziehung« se<strong>in</strong> zivilreligiöses F<strong>und</strong>amentselbst zu sichern. Deshalb weist <strong>der</strong> Theologe Eilert Herms zu Rechtdarauf h<strong>in</strong>, dass die Frage, ob sich <strong>in</strong> den westlichen Gesellschaften eher e<strong>in</strong>efreie o<strong>der</strong> aber e<strong>in</strong>e staatliche Zivilreligion durchsetze, noch nicht entschiedensei: »Die Manifestationen von Religion/Weltanschauung als Zivilreligionschwanken <strong>in</strong> den westlichen Gesellschaften zwischen zwei Typen, je nachdem,wo das F<strong>und</strong>ament <strong>der</strong>jenigen Religions- bzw. Weltanschauung gesuchtwird <strong>und</strong> tatsächlich liegt, die sich zivilreligiös (also als zielwahl-orientierendeMotivation <strong>und</strong> Orientierung für die Teilnahme am staatlichen Leben)manifestiert, <strong>in</strong> staatsunabhängiger o<strong>der</strong> <strong>in</strong> staatlich veranstalteter <strong>und</strong> geleiteterReligions- <strong>und</strong> Weltanschauungskommunikation.« (Herms 2003, 123f.)Herms for<strong>der</strong>t, »im staatlichen Handeln entschlossen auf jeden Versuch zuverzichten, die Überzeugungsf<strong>und</strong>amente des staatstragenden Ethos durcheigene staatliche Aktivitäten zu sichern, also <strong>der</strong> Verzicht auf jede staatlichePflege e<strong>in</strong>er staatlichen Zivilreligion zu Gunsten <strong>der</strong> unumw<strong>und</strong>enen Anerkennung<strong>der</strong> def<strong>in</strong>itiven Abhängigkeit des staatlichen Lebens von den zivilreligiösenEffekten <strong>der</strong> freien Gewissheitskommunikation <strong>in</strong> den Religions<strong>und</strong>Weltanschauungsgeme<strong>in</strong>schaften.« (ebd., 126)Während das B<strong>und</strong>esverfassungsgericht dieser Intention durch das»Kruzifixurteil« <strong>und</strong> das »Kopftuchurteil« Rechnung trug, zeigt die Reaktion<strong>der</strong> Schulbehörden <strong>und</strong> Län<strong>der</strong>parlamente e<strong>in</strong> völlig unterentwickeltes Bewusstse<strong>in</strong>für das von Herms aufgeworfene Problem. Das christliche Kreuzwird im Staats<strong>in</strong>teresse flugs kulturalistisch vere<strong>in</strong>nahmt ± <strong>und</strong> das islamischeKopftuch ausgeschlossen.


34 Rolf Schie<strong>der</strong>Wer aber e<strong>in</strong>e <strong>Zivilgesellschaft</strong> will, <strong>der</strong> muss auch religiöse Vielfalt wollen ±<strong>und</strong> solange <strong>der</strong> Staat zwar die Aufsicht über das Schulwesen hat, unsereSchulen sich aber als öffentliche Schulen verstehen, ist die Verbannung desKopftuches aus dem öffentlichen Raum e<strong>in</strong> begründungspflichtiger Übergriffdes Staates auf e<strong>in</strong> elementares Freiheitsrecht. In England <strong>und</strong> Kanada tragenPolizist<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Lehrer<strong>in</strong>nen ganz selbstverständlich Kopftücher, sofern siedas aus religiösen o<strong>der</strong> aus modischen Gründen bevorzugen. Auch <strong>in</strong> Österreichhat man ke<strong>in</strong>e Probleme mit Kopftuch tragenden Lehrer<strong>in</strong>nen ± dieTradition <strong>der</strong> alten multiethnischen Donaumonarchie hat offenbar Toleranzgelehrt. Im laizistischen Frankreich dagegen ist selbst Schüler<strong>in</strong>nen das Tragene<strong>in</strong>es foulard untersagt. Seit den Trennungsgesetzen von 1905 werden <strong>in</strong>Frankreich die Religionsgeme<strong>in</strong>schaften aus dem öffentlichen Leben verdrängt.Damit setzt Frankreich se<strong>in</strong>e antipluralistische Religionspolitik fort,die mit <strong>der</strong> Vertreibung <strong>der</strong> Hugenotten ihren Anfang nahm <strong>und</strong> die über dieFranzösische Revolution h<strong>in</strong>aus immer auf e<strong>in</strong>e staatlich gelenkte <strong>und</strong> kontrollierteöffentliche Weltanschauung h<strong>in</strong>auslief. Die Republik ist <strong>der</strong> Hegemonauf dem zivilreligiösen Feld. Es ist bedenklich, wenn deutsche <strong>Politik</strong>erdas französische Modell für mo<strong>der</strong>ner <strong>und</strong> konsequenter halten als das deutsche.Das deutsche Modell hat die Erfahrungen mit <strong>der</strong> politischen Religiondes Nationalsozialismus verarbeitet <strong>und</strong> deshalb <strong>der</strong> Pflege e<strong>in</strong>er staatseigenenZivilreligion enge Grenzen gesetzt, dafür aber alle zivilgesellschaftlichenAkteure dazu aufgefor<strong>der</strong>t, am zivilreligiösen Konsens mitzuarbeiten.Das Argument von <strong>der</strong> religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staatesverliert se<strong>in</strong>e Legitimität, wenn es unter <strong>der</strong> Hand zur Durchsetzung zivilreligiöserAnsprüche des Staates gegenüber den Religionsgeme<strong>in</strong>schaften verwendetwird. An französischen Schulen herrscht Konsens unter den<strong>in</strong>structeurs, dass die laicitØ als weltanschaulicher Horizont <strong>der</strong> französischenSchulen Geltung besitzt. Die laicitØ zielt auf die dauerhafte Privatisierungaller Religionen <strong>und</strong> auf die öffentliche Geltung e<strong>in</strong>es rationalistischen <strong>und</strong>positivistischen Weltbildes. Wer diese Überzeugung nicht teilt, schickt se<strong>in</strong>K<strong>in</strong>d auf e<strong>in</strong>e Schule <strong>in</strong> freier Trägerschaft. Zwanzig Prozent <strong>der</strong> französischenSchulen s<strong>in</strong>d katholische Privatschulen. Auch <strong>in</strong> Deutschland gibt ese<strong>in</strong>e ganze Reihe von Anhängern dieses Konzeptes, sie verstecken sich aberh<strong>in</strong>ter dem Neutralitätsargument. Eigentlich will man e<strong>in</strong>e staatseigene Zivilreligion,wagt aber nicht die offene Konkurrenz mit den Kirchen <strong>und</strong> Religionsgeme<strong>in</strong>schaften,son<strong>der</strong>n erklärt sich selbst für »neutral«, womit die Religionsgeme<strong>in</strong>schafteneo ipso parteiisch s<strong>in</strong>d. Das Motto lautet: Die an<strong>der</strong>ens<strong>in</strong>d religiös, wir s<strong>in</strong>d normal.Staatliche Neutralität me<strong>in</strong>t aber die Gleichberechtigung aller religiösweltanschaulichenÜberzeugungen <strong>und</strong> Lebensformen ± nicht <strong>der</strong>en Neutralisierung.In <strong>der</strong> Schule stünde sonst nämlich die staatseigene Zivilreligion alle<strong>in</strong>auf dem Plan. Das Misstrauen <strong>der</strong> Bevölkerung gegenüber e<strong>in</strong>er vonreligiöser Pluralität gere<strong>in</strong>igten Schule zeigt sich am Zulauf, den Schulen <strong>in</strong>freier Trägerschaft im Osten Deutschlands haben. Mehr als zweih<strong>und</strong>ert sol-


<strong>Politik</strong> <strong>und</strong> Religion <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zivilgesellschaft</strong>35cher Schulgründungen hat es seit 1990 gegeben. Nur je<strong>der</strong> dritte Schülerkann aufgenommen werden. Die deutsche Schule, die die <strong>in</strong>nerschulischePluralität pflegt, ist e<strong>in</strong> hohes Gut. Es wäre bedauerlich, wenn die <strong>in</strong>nerschulischePluralität e<strong>in</strong>er nur noch zwischenschulischen Pluralität weichen würde.Auch <strong>in</strong> den Schulen wird es darum gehen müssen, von e<strong>in</strong>er Kultur <strong>der</strong>brotherhood zu e<strong>in</strong>er Kultur <strong>der</strong> otherhood zu kommen.Die spirituelle Armut des Staates<strong>und</strong> se<strong>in</strong> Angewiesense<strong>in</strong> auf ReligionDie These von <strong>der</strong> »Trennung von Kirche <strong>und</strong> Staat« kann nicht darüber h<strong>in</strong>wegtäuschen,dass <strong>der</strong> Staat <strong>in</strong> vielfältiger Weise auf die Kirchen angewiesenist. Was gerne als Privilegierung <strong>der</strong> Kirchen dargestellt wird, kann auch ganzan<strong>der</strong>s gesehen werden, nämlich als die Instrumentalisierung <strong>der</strong> Religionsgeme<strong>in</strong>schaftenfür zivilreligiöse Zwecke. Die Verankerung des Religionsunterrichtsals e<strong>in</strong>zigem Schulfach im Menschenrechtskatalog <strong>der</strong> deutschenVerfassung ist schon deshalb ke<strong>in</strong>e Privilegierung <strong>der</strong> Kirchen, weil nicht nuran<strong>der</strong>e Religionsgeme<strong>in</strong>schaften, son<strong>der</strong>n beispielsweise auch atheistischeWeltanschauungsgruppen pr<strong>in</strong>zipiell das Recht haben, vom Staat e<strong>in</strong>e religiös-weltanschaulicheErziehung ihrer K<strong>in</strong><strong>der</strong> zu verlangen. Dieser tut dasaber nicht aus re<strong>in</strong>er Menschenfre<strong>und</strong>lichkeit, son<strong>der</strong>n weil er se<strong>in</strong>erseits erwartet,dass e<strong>in</strong>e gebildete Religion o<strong>der</strong> Weltanschauung sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong> zivilisiertesVerhältnis zu se<strong>in</strong>en religiös-weltanschaulichen Konkurrenten setzt.Damit kommt <strong>der</strong> Staat se<strong>in</strong>er Pflicht zur Gewährleistung <strong>in</strong>nergesellschaftlichenFriedens nach. Darüber h<strong>in</strong>aus hegt <strong>der</strong> Staat die Erwartung, dass dieReligionen <strong>und</strong> Weltanschauungen ihre Zustimmung zum Geme<strong>in</strong>wesenüberzeugend, d.h. systemimmanent zu formulieren vermögen. Es ist ja ke<strong>in</strong>Zufall, dass religiös-weltanschaulich motivierte Bürger überdurchschnittlichhoch <strong>in</strong> Parteien <strong>und</strong> Parlamenten vertreten s<strong>in</strong>d.Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 <strong>in</strong> New York <strong>und</strong> Wash<strong>in</strong>gtonversammelten sich die <strong>Politik</strong>er <strong>in</strong> den Kirchen. Auch nach denMorden im Gutenberg-Gymnasium <strong>in</strong> Erfurt im Jahr 2002 strömten selbstMenschen, die ke<strong>in</strong>e Kirchenmitglie<strong>der</strong> waren, <strong>in</strong> die Gotteshäuser. Am Gottesdienstvor dem Erfurter Dom nahmen Zehntausende teil. In <strong>der</strong> Regelwerden diese Gottesdienste von <strong>der</strong> katholischen <strong>und</strong> <strong>der</strong> evangelischen Kirchegeme<strong>in</strong>sam gestaltet. Es handelt sich aber gleichwohl nicht um ökumenischeGottesdienste, denn <strong>der</strong>en Anliegen wäre ja die E<strong>in</strong>heit <strong>der</strong> Kirchen.Es s<strong>in</strong>d vielmehr Gottesdienste <strong>in</strong> politisch-diakonischer Verantwortung.Stellvertretend für das Geme<strong>in</strong>wesen als Ganzes, das <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en F<strong>und</strong>amentenerschüttert war, leisteten die Kirchen e<strong>in</strong>en Beitrag zur politischen Spiritualität.


36 Rolf Schie<strong>der</strong>Dass den Kirchen die Zuständigkeit für politische Liturgien zugefallen ist,hängt eng mit <strong>der</strong> politischen Geschichte Deutschlands im 20. Jahrh<strong>und</strong>ertzusammen. Sowohl die Nationalsozialisten als auch die Sozialisten im OstenDeutschlands hatten versucht, ihr politisches Handeln nicht nur heilsgeschichtlichzu begründen, son<strong>der</strong>n auch durch öffentliche Liturgien zu stabilisieren.Öffentliche K<strong>und</strong>gebungen, Massenveranstaltungen, Monstranzenähnliche Bil<strong>der</strong>, Fahnenappelle, aber auch Initiationsrituale für die Heranwachsendenwie die Jugendweihe sollten die Menschen emotional an das Geme<strong>in</strong>wesenb<strong>in</strong>den. Das ist aber nicht gelungen. Wenn die Glaubwürdigkeite<strong>in</strong>er Gesellschaft ausgehöhlt ist, bricht sie ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>, wie die Ereignissevon 1989 im Osten Europas gezeigt haben.Konfessioneller Religionsunterrichtals zivilgesellschaftlicher ZivilreligionsunterrichtMit dem konfessionellen Religionsunterricht verb<strong>in</strong>det sich von Seiten desStaates die Erwartung, dass dieser nicht nur konfessionelle, son<strong>der</strong>n auch zivilreligiöseZiele verfolge. Nicht nur zu guten Katholiken, Protestanten <strong>und</strong> Juden,son<strong>der</strong>n auch zu guten Staatsbürgern sollen die Schüler<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Schülerim Religionsunterricht gebildet werden. Für diese Lesart spricht die Tatsache,dass während <strong>der</strong> Abmeldungswelle vom Religionsunterricht Ende <strong>der</strong> Sechzigerjahredes letzten Jahrh<strong>und</strong>erts sogleich das »Ersatzfach Ethik« e<strong>in</strong>gerichtetwurde, um e<strong>in</strong> zivilreligiöses M<strong>in</strong>imalprogramm zu Gewähr leisten. Auch <strong>in</strong>England wird zurzeit darüber debattiert, ob denn das für alle verpflichtendeSchulfach Religious Education nicht stärker mit dem neu e<strong>in</strong>gerichteten FachCitizenship Education verzahnt werden müsse (vgl. Elsenbast u.a. 2004, 25;dort auch weitere H<strong>in</strong>weise zur Debatte <strong>in</strong> England). Mittlerweile ist <strong>in</strong>Deutschland »Werteerziehung« zu e<strong>in</strong>em Globalziel avanciert, merkwürdigerweisemit dem H<strong>in</strong>weis, diese Werteerziehung komme ohne e<strong>in</strong>en weltanschaulichenHorizont aus. Wie man aber aus <strong>der</strong> verwirrenden Vielfalt vonWerten e<strong>in</strong>e stimmige Ordnung o<strong>der</strong> gar e<strong>in</strong>e Hierarchie von Werten ermittelnwill, ohne auf letzte Gr<strong>und</strong>überzeugungen Bezug zu nehmen, bleibt das Geheimnis<strong>der</strong>er, die ganz offensichtlich e<strong>in</strong>en staatseigenen Zivilreligionsunterrichte<strong>in</strong>em Unterricht <strong>in</strong> Händen e<strong>in</strong>er Vielzahl von Anbietern vorziehen.Versteht man also den konfessionellen Religionsunterricht an öffentlichenSchulen als e<strong>in</strong>en freien, weil nicht vom Staat verantworteten Zivilreligionsunterricht,<strong>und</strong> nimmt man ferner an, dass <strong>der</strong> katholische wie <strong>der</strong>evangelische Religionsunterricht diese zivilreligiöse Funktion immer schonimplizit ausübten, dann stellt sich im Blick auf die E<strong>in</strong>führung e<strong>in</strong>es islamischenReligionsunterrichts auf <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>lage von Art. 7,3 GG die Frage,auf welche Weise dieser den Aufbau e<strong>in</strong>er sich isolierenden Parallelgesell-


<strong>Politik</strong> <strong>und</strong> Religion <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zivilgesellschaft</strong>37schaft hemmen <strong>und</strong> die Integration heranwachsen<strong>der</strong> muslimischer Bürger<strong>in</strong>nen<strong>und</strong> Bürger för<strong>der</strong>n kann. E<strong>in</strong> entscheidendes Datum ist dabei bereitsdie Bereitschaft <strong>der</strong> Mehrheitsgesellschaft, <strong>der</strong> M<strong>in</strong><strong>der</strong>heit das Rechtzuzubilligen, ihre K<strong>in</strong><strong>der</strong> nach den Gr<strong>und</strong>sätzen ihres Glaubens zu unterrichten.E<strong>in</strong> staatseigener Zivilreligionsunterricht ist von <strong>der</strong> Verfassung nichtvorgesehen ± auch nicht für Muslime. Vielmehr vertraut <strong>der</strong> Staat darauf,dass die Religionsgeme<strong>in</strong>schaften ihre je eigene Version vom S<strong>in</strong>n des Geme<strong>in</strong>wesenstradieren. Insofern ist <strong>der</strong> Schutz <strong>der</strong> Religionsfreiheit e<strong>in</strong> wesentlicherBeitrag des Staates zur Werteerziehung, denn nur auf dem Umwegüber die Pluralität positiver Religionen <strong>und</strong> Weltanschauungen kann <strong>der</strong>Staat zivilreligiöse Zustimmung durch die Religions- <strong>und</strong> Weltanschauungsgeme<strong>in</strong>schaftenbeanspruchen.Virtueller o<strong>der</strong> realer Pluralismusan öffentlichen Schulen?Mit se<strong>in</strong>em »Kopftuchurteil« vom 24. September 2003 hat das B<strong>und</strong>esverfassungsgerichtdas Recht auf Religionsfreiheit auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schule noch e<strong>in</strong>malgestärkt. Zugleich weist das Gericht darauf h<strong>in</strong>, dass die zunehmende religiösePluralität e<strong>in</strong>e Neubestimmung des zulässigen Ausmaûes religiöser Bezüge<strong>in</strong> <strong>der</strong> Schule nötig machen kann. Diese Neubestimmung kann aber nicht dieExekutive o<strong>der</strong> die Judikative vornehmen ± sie setzt e<strong>in</strong>en zivilgesellschaftlichenDiskurs <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e Gesetzgebung durch die Parlamente voraus. Damitkritisiert das B<strong>und</strong>esverfassungsgericht die Auffassung des B<strong>und</strong>esverwaltungsgerichts,das <strong>der</strong> Ansicht war, das Neutralitätsgebot gew<strong>in</strong>ne mit wachsen<strong>der</strong>kultureller <strong>und</strong> religiöser Vielfalt an Bedeutung. Demgegenüber stelltdas B<strong>und</strong>esverfassungsgericht ausdrücklich die gegenteilige schulpädagogischeKonsequenz zur Diskussion: »Die Schule ist <strong>der</strong> Ort, an dem unterschiedlichereligiöse Auffassungen unausweichlich aufe<strong>in</strong>an<strong>der</strong> treffen <strong>und</strong>wo sich dieses Nebene<strong>in</strong>an<strong>der</strong> <strong>in</strong> beson<strong>der</strong>s empf<strong>in</strong>dlicher Weise auswirkt.E<strong>in</strong> tolerantes Mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> mit An<strong>der</strong>sges<strong>in</strong>nten könnte hier am nachhaltigstendurch Erziehung geübt werden. Dies müsste nicht die Verleugnung <strong>der</strong>eigenen Überzeugungen bedeuten, son<strong>der</strong>n böte die Chance zur Erkenntnis<strong>und</strong> Festigung des eigenen Standpunkts <strong>und</strong> zu e<strong>in</strong>er gegenseitigen Toleranz,die sich nicht als nivellieren<strong>der</strong> Ausgleich versteht. Es lieûen sich deshalbGründe dafür anführen, die zunehmende religiöse Vielfalt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schule aufzunehmen<strong>und</strong> als Mittel für die E<strong>in</strong>übung von gegenseitiger Toleranz zunutzen, um so e<strong>in</strong>en Beitrag <strong>in</strong> dem Bemühen um Integration zu leisten.«(BVerfG, 2 BvR 1436/02, Absatz 65)Lei<strong>der</strong> hat sich <strong>der</strong> Landtag von Baden-Württemberg diese Empfehlungnicht zu Eigen gemacht, son<strong>der</strong>n hat sich dafür ausgesprochen, dass Lehr-


38 Rolf Schie<strong>der</strong>kräfte <strong>in</strong> den Schulen »ke<strong>in</strong>e politischen, religiösen, weltanschaulichen o<strong>der</strong>ähnliche äuûeren Bek<strong>und</strong>ungen« abgeben dürfen, »die geeignet s<strong>in</strong>d, dieNeutralität des Landes gegenüber Schülern <strong>und</strong> Eltern o<strong>der</strong> den politischen,religiösen o<strong>der</strong> weltanschaulichen Schulfrieden zu gefährden o<strong>der</strong> zu stören.«(Drucksache 13/2793 des Landtags von Baden-Württemberg vom 14. Januar2004, 3.) Die Präsenz christlicher Symbole <strong>in</strong> den Schulen wird vom Verbotausgenommen. Der Gesetzesentwurf <strong>der</strong> Grünen, die e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>zelfallregelunganstrebten, fand ke<strong>in</strong>e Mehrheit. Der Entwurf <strong>der</strong> Landesregierung wird beie<strong>in</strong>em erneuten Rechtsstreit e<strong>in</strong>er Überprüfung durch das B<strong>und</strong>esverfassungsgerichtkaum standhalten. Denn die Richter hatten bereits im»Kopftuchurteil« festgestellt, dass Angehörige unterschiedlicher Religionsgeme<strong>in</strong>schaftengleich behandelt werden müssen. Letztlich wird also dasKopftuchverbot <strong>in</strong> staatlichen Schulen dazu führen, dass alle religiösen Symboleaus <strong>der</strong> Schule entfernt werden müssen.E<strong>in</strong> Kopftuchverbot wird von nicht wenigen Deutschen als E<strong>in</strong>ladungverstanden, ihre Assimilationsfor<strong>der</strong>ungen an die hier lebende M<strong>in</strong><strong>der</strong>heitunverhüllt zu formulieren. So berichtete die Süddeutsche Zeitung von e<strong>in</strong>emSchulleiter, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>e tunesische Lehrer<strong>in</strong>, die an Stelle e<strong>in</strong>es Kopftuches e<strong>in</strong>eMütze im Unterricht trug, auffor<strong>der</strong>te: »Ich will Ihre Haare sehen!« Wennman sich klar macht, dass <strong>in</strong> an<strong>der</strong>en Kulturen die Haare als e<strong>in</strong> Teil des Körpersmit erotischer Ausstrahlung verstanden werden, dann trägt diese Auffor<strong>der</strong>ungsexistische Züge. Auch die differenziertesten didaktischen Entwürfefür <strong>in</strong>terreligiöses Lernen werden wenig Erfolg haben, wenn die Muslime <strong>in</strong>Deutschland zunehmend das Gefühl haben müssen, dass ihrer religiösenIdentität nicht die Achtung entgegengebracht wird, auf die sie laut Verfassunge<strong>in</strong>en Anspruch haben.Die konnotative Verknüpfung des Terrorismus mit dem Islam hat zue<strong>in</strong>er deutlichen Abnahme <strong>der</strong> Toleranz gegenüber <strong>der</strong> muslimischen M<strong>in</strong><strong>der</strong>heit<strong>in</strong> Deutschland geführt. E<strong>in</strong>e Unterscheidung zwischen Integrations<strong>und</strong>Assimilationsfor<strong>der</strong>ungen, wie sie die deutsche Geschichte im 20. Jahrh<strong>und</strong>ertnahe legen würde, f<strong>in</strong>det sich nur selten. Umgekehrt sehen manchetürkische Muslime die Notwendigkeit <strong>der</strong> Integration <strong>in</strong> die deutsche Gesellschaftdurch das Zusammenwachsen Europas als nicht beson<strong>der</strong>s drängendan. In allen groûen europäischen Städten gibt es türkische Geme<strong>in</strong>den, türkischeNetzwerke nehmen auf alteuropäische nationale <strong>und</strong> sprachliche Grenzenke<strong>in</strong>e Rücksicht mehr. H<strong>in</strong> <strong>und</strong> wie<strong>der</strong> hört man das Argument, dassman mit Türkisch als Sprache <strong>in</strong> Europa bestens zurechtkommen könne;man zeige se<strong>in</strong>e europäische Identität gerade dadurch, dass man sich nichtan e<strong>in</strong>e partikulare nationale Identität b<strong>in</strong>de: <strong>der</strong> <strong>in</strong> Europa lebende Türkemüsse nicht erst Deutscher o<strong>der</strong> Franzose werden, um Europäer zu se<strong>in</strong>.


<strong>Politik</strong> <strong>und</strong> Religion <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Zivilgesellschaft</strong>39Herausfor<strong>der</strong>ungen <strong>und</strong> PerspektivenAuch im Blick auf die E<strong>in</strong>führung e<strong>in</strong>es islamischen Religionsunterrichts <strong>und</strong>e<strong>in</strong>er entsprechenden Lehrerbildung an den Universitäten haben sich die türkischenMuslime von <strong>der</strong> Rolle <strong>der</strong> Bittsteller zu selbstbewussten Gestaltern<strong>der</strong> religiösen Erziehung ihrer K<strong>in</strong><strong>der</strong> gewandelt. Der Bau von islamischenInternaten <strong>in</strong> <strong>der</strong> Pfalz <strong>und</strong> im Elsass s<strong>in</strong>d dafür ebenso Anzeichen wie die Internetpräsenzdes Islam <strong>in</strong> Deutschland. Sofern die Muslime ihre Selbstorganisationsfähigkeitbeweisen <strong>und</strong> sich nicht als Versorgungsempfänger desStaates verstehen, haben sie das neue zivilgesellschaftliche Paradigma angenommen.Offen ist die Frage, wie e<strong>in</strong>e Geme<strong>in</strong>wesenorientierung <strong>der</strong> Muslimeunter den gegenwärtigen Ausgrenzungs- <strong>und</strong> Verdächtigungsstrategiendurch Teile <strong>der</strong> Mehrheitsgesellschaft gel<strong>in</strong>gen kann.Auch den Kirchen werden unter zivilgesellschaftlichen VerhältnissenAnpassungsleistungen abverlangt. Wenn <strong>der</strong> bevorzugte Gesprächspartner<strong>der</strong> Kirchen, <strong>der</strong> Staat, sich zunehmend zurückzieht, dann läuft die Berufungauf staatskirchenrechtliche Besitzstandsgarantien auf die Dauer <strong>in</strong>s Leere.Obwohl <strong>der</strong> Religionsunterricht durch se<strong>in</strong>e gr<strong>und</strong>gesetzliche Verankerungnach wie vor e<strong>in</strong>e starke Stellung <strong>in</strong>nehat, muss er se<strong>in</strong>e Plausibilität zunehmendbildungstheoretisch o<strong>der</strong> religionspolitisch erweisen. Dazu müssensich die Kirchen <strong>in</strong> Diskurse <strong>und</strong> Debatten e<strong>in</strong>kl<strong>in</strong>ken <strong>und</strong> Überzeugungsarbeitleisten, auf die bisher ke<strong>in</strong> beson<strong>der</strong>es Augenmerk gelegt wurde. Wennbeispielsweise <strong>der</strong> Prozess <strong>der</strong> Schulentwicklung <strong>und</strong> <strong>der</strong> Profilbildung <strong>der</strong>Schulen weitergeht, dann s<strong>in</strong>d die Kirchengeme<strong>in</strong>den gefor<strong>der</strong>t, sich als Bildungspartner<strong>der</strong> Schulen zu empfehlen. Während früher <strong>der</strong> Pfarrer daraufwartete, dass Lehrer <strong>und</strong> Schüler <strong>in</strong> die Kirche kommen, so ist jetzt <strong>der</strong> Pfarreraufgefor<strong>der</strong>t, den Kontakt zu den Schulen zu f<strong>in</strong>den. Das fällt vor allem<strong>in</strong> den neuen B<strong>und</strong>eslän<strong>der</strong>n nicht allen Geme<strong>in</strong>den leicht. Das alte Modell<strong>der</strong> Selbstisolierung ist immer noch wirksam.Neben e<strong>in</strong>er stärkeren zivilgesellschaftlichen Vernetzung <strong>und</strong> dem Erweisvon Anschlussfähigkeit ist gleichzeitig e<strong>in</strong>e klarere Profilbildung nötig.Aufmerksamkeit kann nur noch <strong>der</strong> err<strong>in</strong>gen, <strong>der</strong> das, worum es ihm geht, soklar <strong>und</strong> po<strong>in</strong>tiert wie möglich zur Geltung br<strong>in</strong>gt. Pluralismus kann es nurgeben, wenn e<strong>in</strong>e Vielzahl von Positionen diesen Pluralismus konstituieren.Die Neigung, das spezifisch Christliche h<strong>in</strong>ter allen möglichen Formen politischen,sozialen o<strong>der</strong> kulturellen Engagements zu verbergen, ist unter konsequentpluralistischen Verhältnissen kontraproduktiv.Als e<strong>in</strong>e gelungene Form zivilgesellschaftlichen Engagements könntendie vielen Schulgründungen gelten, die sich vor allem <strong>in</strong> den neuen B<strong>und</strong>eslän<strong>der</strong>n± wenn auch aus unterschiedlichen Motiven ± groûer Beliebtheit erfreuen.Auf diese Weise wird <strong>der</strong> Gesellschaft wie<strong>der</strong> zu Bewusstse<strong>in</strong> gebracht,dass das Schulwesen zwar unter <strong>der</strong> Aufsicht des Staates steht, dass es sichaber um öffentliche Schulen handelt, für die e<strong>in</strong>e Vielzahl von Schulträgern <strong>in</strong>


40 Rolf Schie<strong>der</strong>Frage kommen kann. Auch das Erziehungsrecht <strong>der</strong> Eltern kommt so wie<strong>der</strong>stärker zu Bewusstse<strong>in</strong>. Der zivilgesellschaftliche Wert dieser Schulen hat sichaber daran messen zu lassen, <strong>in</strong> welchem Maûe es ihnen gel<strong>in</strong>gt, den gesellschaftlichenPluralismus, dem sie ihre Existenz verdanken, als B<strong>in</strong>nenpluralismusnoch e<strong>in</strong>mal zur Geltung zu br<strong>in</strong>gen <strong>und</strong> <strong>in</strong>terreligiöse Lehr-Lernsituationenprofilbildend zu implementieren.Zum WeiterlesenKle<strong>in</strong>, Ansgar, Der Diskurs <strong>der</strong> <strong>Zivilgesellschaft</strong>, Politische H<strong>in</strong>tergründe <strong>und</strong> demokratietheoretischeFolgen, Opladen 2001.Bellah, Robert N./Hammond, Philipp E., Varieties of Civil Religion, San Francisco1980.Schie<strong>der</strong>, Rolf, Wie viel Religion verträgt Deutschland?, Frankfurt a.M. 2001.LiteraturBellah, Robert N., Beyond Belief, New York 1970.Bryant, Christopher G.A., Civic Nation, Civil Society, Civil Religion, <strong>in</strong>: Hall, John A.(Hg.), Civil Society. Theory, History, Comparison, Oxford 1995, 136-157.Elsenbast, Volker/Fischer, Dietl<strong>in</strong>d/Schre<strong>in</strong>er, Peter, Zur Entwicklung von Bildungsstandards,Münster 2004.Frantz, Christiane/Zimmer, Annette (Hg.), <strong>Zivilgesellschaft</strong> <strong>in</strong>ternational. Alte <strong>und</strong>neue NGOs, Opladen 2002.Havel, Vµclav, Anti-Political Politics, <strong>in</strong>: Keane, John (Hg.), Civil Society and theState, London 1993, 381-398.Herms, Eilert, Zivilreligion. Systematische Aspekte e<strong>in</strong>er geschichtlichen Realität,<strong>in</strong>: Theologische Quartalsschrift 183 (2003), H. 2, 97-127.Kle<strong>in</strong>, Ansgar, Der Diskurs <strong>der</strong> <strong>Zivilgesellschaft</strong>. Politische H<strong>in</strong>tergründe <strong>und</strong> demokratietheoretischeFolgen, Opladen 2001.Münkler, Herfried, Die Bürgergesellschaft ± Kampfbegriff o<strong>der</strong> Friedensformel?Potenzial <strong>und</strong> Reichweite e<strong>in</strong>er Modeterm<strong>in</strong>ologie, <strong>in</strong>: Vorgänge. Zeitschriftfür Bürgerrechte <strong>und</strong> Gesellschaftspolitik, 41 (2002), H. 2 (158), 115-125.Shils, Edward, Was ist e<strong>in</strong>e Civil Society?, <strong>in</strong>: Michalski, Krystof (Hg.), Europa <strong>und</strong>die Civil Society, Stuttgart 1991, 13-51.Walzer, Michael, The Concept of Civil Society, <strong>in</strong>: Walzer, Michael (Hg.), Toward aGlobal Civil Society, Providence/Richmond 1995, 7-28.

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