Im Focus Eine Kiefer auf dem Huangshan – Naturwahrnehmung und alte Meister bei Huang Binhong Von Juliane Noth Huang Binhong 黄宾虹 (1865–1955) war tief in der Tradition der Gelehrtenmalerei verwurzelt, und unzählige Bilder in seinem umfangreichen Werk zeugen von seiner inten-siven Auseinandersetzung mit der Pinseltechnik und den Theorien historischer Maler. Ein Beispiel hierfür ist ein als Hängerolle montiertes Albumblatt aus der Ellsworth Collection im Metropolitan Museum of Art, New York (Abb. 1). Huang Binhongs Bild zeigt eine hügelige Landschaft an einem Seeufer: Über die größtenteils unbemalte Fläche des Wassers hinweg ist eine Landzunge zu sehen, auf der unter hohen Bäumen ein Anwesen liegt. Im oberen Stockwerk des vorderen Gebäudes blickt eine menschliche Figur – wahrscheinlich der Hausherr – hinaus. Ein zweiter Mann im langen Gelehrtengewand – der erwar- tete Gast – ist gerade dabei, eine Brücke zu überqueren, die den Zulauf zum See überspannt und zugleich eine Verbindung zum Mittelgrund des Bildes herstellt. Hinter den Gebäuden und von diesen durch einen Nebelschleier getrennt erhebt sich ein steiler Berghang, der von dichter Vegetation bewachsen ist. Er schließt das Bild ab; lediglich schemenhaft lavierte ferne Bergketten sind jenseits von ihm noch auszumachen. Eine solche Beschreibung birgt jedoch ein Dilemma: Die Landschaft wird beschrieben, als sei eine natürliche Szenerie abgebildet, in der zugleich die Geschichte eines Besuches unter Freunden erzählt wird. Tatsächlich sind die Elemente, aus denen das Bild aufgebaut ist, zeichenhafte Versatzstücke – es geht eben nicht darum, natürliche Landschaft darzustellen oder ein menschliches Zusammentreffen zu schildern. Stattdessen zitieren die Berge, die Bäume, das Landhaus mit dem Hausherrn am offenen Fenster und der Besucher auf der schmalen Brücke Bilder oder Kompositionen, in denen diese auch bereits eine Referenz auf eine abgebildete Landschaft waren. Im Œuvre von Huang Binhong finden wir zahlreiche Variationen dieses Bildaufbaus – Gewässer im rechten Vordergrund, etwas zurückgesetzt einige Gebäude, Wanderer auf schmalen Stegen, massive Bergrücken im Hintergrund und hell lavierte Gebirgsketten dahinter. Diese Bildelemente bilden den motivischen Untergrund für das, worauf Huang Binhong in dem Bild sein Hauptaugenmerk richtet und was er in seiner Bildaufschrift behandelt: das Verhältnis von Pinselstrich und Tuscheauftrag. In der Aufschrift schreibt er: 董玄宰畫兼皴帶染 取法華滋 趙文度沈子 居淺迷瑣碎流為雲閒習氣 以筆力不足為 墨所掩耳 „In der Malerei von Dong Xuanzai (Dong Qichang, 1555–1636) sind Texturstriche und Lavierung gleichzeitig eingesetzt; dadurch ist seine Methode reich und üppig. [Die Arbeiten von] Zhao Wendu (Zhao Zuo, ca. 1570– nach 1633) und Shen Ziju (Shen Shichong, tätig ca. 1607–1640) sind flach, unklar und trivial, typisch für die Gewohnheiten der Yunjian-Schule. Ihre Pinseltechnik ist nicht kraftvoll genug und wird von der Tusche überdeckt.”(Vgl. auch die englische Übersetzung von Fong 2001, S. 170.) Wegen dieser Aufschrift trägt das Bild heute den Titel „Landschaft im Stil von Dong Qichang“. Ein Vergleich des Bildes mit der „Landschaft nach Huang Gongwangs ‚Gestaffelte Bergketten in warmem Grün‘“ von Dong Qichang (Abb. 2) zeigt aber, dass der maltechnische Diskurs über einen der einflussreichsten Künstler des 17. Jahrhunderts in dem Text nicht automatisch eine enge stilistische Anlehnung an Dongs Malweise im Bild bedeutet. Die Technik, in der Dong Qichang seine Texturstriche weich und in abgestuften Tuschetönen übereinander legt und so eine formdefinierende Flächigkeit erzeugt, lässt sich mit der Formel des gleichzeitigen Texturierens und Lavierens (jian cun dai ran 兼皴帶染) beschreiben, mit der Huang Binhong die Methode von Dong Qichang benennt. Gleichzeitig aber bleibt bei Dong Qichang jeder Pinselstrich klar definiert und die Ordnung, in der die einzelnen Striche aufeinander aufbauen, deutlich nachvollziehbar. Bei Huang Binhong sind nicht einzelne Linien oder Linienbündel in mehreren Schichten aufgebaut, sondern die gesamte Oberflächenstruktur der Landschaft. Dies lässt sich an dem Bergrücken, der das New Yorker Im Focus Bild dominiert, gut nachvollziehen. Über ein Gerüst aus Konturlinien, die die Struktur der Landschaft festlegen und eine aus hellen Tupfen aufgebaute Grundfarbigkeit ist ein Netz feiner Linien gelegt, das die Falten des Berges beschreibt. Abb. 2 Über dieses Netz legen sich mehrere Schichten von Tupfen zunehmender intensiverer Schwärze. In der Mitte des