DT Magazin | Ausgabe 1 - Spielzeit 2011/12 - Deutsches Theater
DT Magazin | Ausgabe 1 - Spielzeit 2011/12 - Deutsches Theater
DT Magazin | Ausgabe 1 - Spielzeit 2011/12 - Deutsches Theater
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dt-<strong>Magazin</strong> - <strong>Ausgabe</strong> 1<br />
<strong>Ausgabe</strong> 1 - <strong>Spielzeit</strong> <strong>2011</strong>/<strong>12</strong><br />
Ich denke mir Sachen aus –<br />
und Jürgen macht sie wieder kaputt<br />
Tom Kühnel und Jürgen Kuttner im Gespräch<br />
Reisen im Stillstand<br />
Über Elfriede Jelineks ‚Winterreise’<br />
Glaube, Leere, Hoffnung<br />
Michael Thalheimer inszeniert ‚Unschuld’<br />
von Dea Loher<br />
dt <strong>Magazin</strong><br />
1<br />
<strong>Spielzeit</strong> <strong>2011</strong>/<strong>12</strong>
Auf den Titel: Katrin Wichmann in ‚Unschuld‘ von Dea Loher<br />
Inhalt<br />
Claus Caesar blickt auf den Saisonstart und<br />
die Vortragreihe <strong>DT</strong>-Thema, Seite 8<br />
Das Prinzip Freude ist für Lilja Rupprecht die Ausgangsbasis ihrer Arbeit, erfährt Anika Steinhoff im<br />
Gespräch mit der jungen Regisseurin über ‚Blinde Punkte. Sterne‘, Seite 17<br />
John von Düffel entdeckt Glaube, Leere, Hoffnung in Dea Lohers ‚Unschuld‘, Seite 18<br />
Christoph Koch befragt Tom Kühnel und Jürgen Kuttner zu ‚Capitalista, Baby!‘<br />
und weiß jetzt, dass Kühnel sich Sachen ausdenkt und Kuttner sie wieder kaputt macht, Seite 4<br />
© Urban Zintel/<br />
Blanvalet Verlag<br />
Als ‚Reisen im Stillstand‘ fasst Meike Schmitz ihre Eindrücke über Elfriede Jelineks ‚Wintereise‘ zusammen, Seite <strong>12</strong><br />
Jens Hillje plaudert mit Katharina Matz und Nurkan Erpulat<br />
über Kafkas ‚Das Schloss‘ und erfährt dabei Einiges über Identität und Zugehörigkeit, Seite 14<br />
Maren Eggert spielt die Titelfigur in ‚Trauer muss Elektra tragen‘.<br />
Die neue Rolle schwirrt ihr im Kopf herum, erzählt sie im Interview mit Sonja Anders, Seite 22<br />
Lydia Brakebusch beim Ortstermin mit Peter Keune: ‚Der Wünsch-Dir-Was-Heini‘, Seite 16<br />
Ulrich Beck spricht während der Proben zu Roland Schimmelpfennigs ‚Die vier Himmelsrichtungen‘ mit dem Bühnenbildner Johannes Schütz, der den Blick in die Sterne aushält, Seite 24<br />
© Arno Declair (<strong>12</strong>)<br />
© Peter Langer<br />
Christina Weiss redet über Europa, Seite 21<br />
PS: Hinweise zu Sonderveranstaltungen erhalten Sie auf Seite 28<br />
© Doris Spiekermann-Klaas
© Arno Declair<br />
dt-<strong>Magazin</strong> - <strong>Ausgabe</strong> 1<br />
Ich denke mir<br />
Sachen aus – und Jürgen<br />
macht sie<br />
wieder kaputt<br />
4<br />
Christoph Koch interviewt Tom Kühnel und Jürgen Kuttner<br />
<strong>Spielzeit</strong> <strong>2011</strong>/<strong>12</strong><br />
Tom Kühnel, 40, und Jürgen Kuttner, 53, arbeiten seit fast zehn<br />
Jahren als Regie-Duo zusammen. Für ihren Abend ‚Capitalista,<br />
Baby!‘ am Deutschen <strong>Theater</strong> haben sie sich eine Autorin<br />
vorgenommen, die für Amerikas Konservative schon seit<br />
den 50er Jahren eine Lichtgestalt ist, für den Rest der Welt<br />
aber nahezu unbekannt: Ayn Rand. Ein Interview über Rands<br />
Philosophie, Ich-stärkende Selbsthilfeliteratur und ungebremsten<br />
Kapitalismus in der Gartenlaube.<br />
‚Atlas Shrugged‘ – oder auf deutsch ‚Atlas wirft die Welt ab‘ –<br />
wurde vor einiger Zeit in einer seriösen US-Umfrage zum zweiteinflussreichsten<br />
Buch nach der Bibel gewählt. In Deutschland<br />
kennt die Autorin Ayn Rand und ihre Bücher fast niemand, zeitweise<br />
waren sie nicht mal auf deutsch lieferbar. Woran liegt das?<br />
Kuttner: An ihrer politischen Radikalität. Der Kapitalismus,<br />
den Ayn Rand vertritt und beschreibt, hat mit der sozialen<br />
Marktwirtschaft wie sie hierzulande propagiert wird, nichts<br />
zu tun. Im Gegenteil ist die Sozialdemokratie ihr erklärtes<br />
Feindbild. Einer ihrer Erzschurken, Ellsworth Toohey, ist zum<br />
Beispiel dem berühmten englischen Labour-Politiker Harold<br />
Laski nachempfunden.<br />
Aber wendet sie sich nicht vor allem gegen den Totalitarismus<br />
Stalinscher Prägung?<br />
Kuttner: Ja, aber das ist bei ihr so eine Drohkulisse. Ihr unmittelbarer<br />
Feind ist dieses sozialdemokratische Wohlstandsdenken,<br />
in ihren Augen die Herrschaft des Mittelmaßes.<br />
Sie sind beide in der DDR aufgewachsen – waren die Bücher von<br />
Ayn Rand, die in den 20ern aus Russland in die USA emigriert<br />
war, verboten?<br />
Kuttner: Och, die musste man gar nicht verbieten. Die kannte<br />
sowieso niemand. Hätte sie eine andere Präsenz in Deutschland<br />
oder in Europa generell gehabt, wäre sie sicherlich auf<br />
dem Index gelandet. Sie hatte sich radikal zu den USA bekannt<br />
und beispielsweise auch explizit darum gebeten, vor<br />
dem Komitee für unamerikanische Aktivitäten aussagen zu<br />
dürfen und hat wohl derart scharf ausgesagt, dass sie nicht<br />
wieder eingeladen wurde.<br />
Kühnel: Man kann sie da vielleicht mit George Orwell vergleichen.<br />
‚Anthem‘ (oder deutsch ‚Hymne‘) ist eine frühe<br />
Novelle von ihr, eine harte, anti-kollektivistische Dystopie, in<br />
der sie mit all dem abrechnet, was sie in Russland erlebt hat.<br />
Wie lief denn ihre Emigration in die USA damals ab?<br />
Kühnel: Sie wurde 1905 als Alisa Rosenbaum in Petersburg<br />
geboren, ihr Vater hatte eine Apotheke, jüdischer Mittelstand.<br />
Zuerst emigrierte die Familie während der Revolution<br />
auf die Krim, 1921 kehrten sie aber zurück nach Petersburg,<br />
in der Hoffnung die Apotheke noch retten zu können. Aus<br />
ihrer Wohnung war aber inzwischen eine Kommunalka geworden,<br />
in der mehrere Familien lebten, und sie selber bekamen<br />
gerade noch ein einziges Zimmer. Das war natürlich der<br />
blanke Horror, und als Alisa Rosenbaum 1925 ein Visum<br />
bekam, um Verwandte in den USA zu besuchen, reiste sie<br />
dorthin, blieb zuerst in Chicago und siedelte später nach<br />
Hollywood um.<br />
Die restliche Familie blieb aber in Petersburg?<br />
Kühnel: Ja, darunter hat Ayn Rand, wie sie sich dann nannte,<br />
auch stets gelitten. Selbst eine Schwester, die sie in den 70ern<br />
mal besuchte, konnte ihre USA-Begeisterung nicht teilen<br />
und kehrte schnell wieder in die Sowjetunion zurück. Letztlich<br />
ist aber auch Rands uneingeschränkte Begeisterung für
den Kapitalismus nur zu verstehen, wenn man sich vor<br />
Augen führt, wie sie die russische Revolution und die Enteignung<br />
hautnah erlebt hat.<br />
Viele ihrer Fans sehen in ihr ja keine Schriftstellerin, sondern<br />
eine Philosophin. War sie das wirklich?<br />
Kühnel: Sie hat eine seltsame Zwitterstellung zwischen Philosophie<br />
und Kolportage-Literatur oder Groschenromanen.<br />
Die Geschichten und Charaktere sind wahnsinnig schemenhaft<br />
und schwarz-weiß gezeichnet und arbeiten immer<br />
ex-trem stringent auf ihre philosophische Botschaft hin. In<br />
der Wissenschaft wiederum wurde Ayn Rand nie richtig<br />
ernst genommen, ihr Objektivismus hat es zum Beispiel nie<br />
in den Kanon akademischer Philosophie geschafft.<br />
Kuttner: Die Nachwehen ihrer Werke landen oft in so einer<br />
psychologischen Lebenshilfe-Ecke. Ihr 25 Jahre jüngerer<br />
Geliebter Nathaniel Branden gründete Ende der 50er Jahre<br />
ein eigenes Institut, das erst ihre Ideen verbreitete und sich<br />
später zu einer reinen Selbsthilfe-Schule wandelte. „Sei du<br />
selbst! Bekenne dich zu deinem Ego! Geh deinen eigenen<br />
Weg! Gib nichts auf die Meinung anderer!“ Solche Ratschläge<br />
eben.<br />
Zu Ayn Rands erklärten Fans zählen so unterschiedliche<br />
Menschen wie der ehemalige US-Notenbank-Chef Alan Greenspan<br />
oder der Wikileaks-Gründer Julian Assange. Worin liegt<br />
ihre Faszination?<br />
Kuttner: Sie spielt auch in der Popkultur und Popliteratur<br />
eine große Rolle. Bezüge zu ihr kommen in den Comics von<br />
Frank Miller vor, es gibt einen eigenen Comic über sie. Sie<br />
taucht auch in der TV-Serie ‚Die Simpsons‘ auf und das<br />
Computerspiel ‚Bioshock‘ basiert auf ihren Ideen. Ich glaube,<br />
das hängt mit dem Kolportagehaften in ihren Werken zusammen.<br />
Wenn man Amerikaner fragt, haben viele Ayn Rand in<br />
der Pubertät gelesen – und das fast immer mit großer Begeisterung.<br />
So wie in Deutschland jeder mit 15 den ‚Steppenwolf‘ von<br />
Hermann Hesse liest?<br />
Kuttner: So in etwa. Das liegt vielleicht an diesen Momenten<br />
der Ich-Stärke, die Ayn Rand immer wieder betont und<br />
die einen in der Pubertät besonders ansprechen. Das ist<br />
schließlich eine Entwicklungsphase, in der man alle anderen<br />
für Idioten hält. So kann man auch erklären, warum jemand<br />
wie Julian Assange von ihr fasziniert ist. Alan Greenspan<br />
wiederum identifiziert sich komplett mit ihrer Vision einer<br />
Gesellschaft.<br />
Also einem völlig unregulierten Laissez-Faire-Kapitalismus?<br />
Kühnel: „Zivilisation ist die Befreiung des Menschen von<br />
den Menschen“, heißt es bei ihr. Das heißt also: Hände weg!<br />
Staat, halt die Klappe! Die Gier des Einzelnen führt in ihren<br />
Augen dazu, dass es allen besser geht.<br />
Was wird den Zuschauer bei einem Abend namens ‚Capitalista,<br />
Baby!‘ erwarten?<br />
Kuttner: Vielleicht trügt der Titel ‚Capitalista, Baby!‘ ein<br />
bisschen, weil das so diskurstheoretisch klingt. Dabei ist es<br />
das gar nicht. Sondern vielmehr das unhinterfragte, radikale<br />
Bekenntnis zu den kapitalistischen Werten, zur kapitalistischen<br />
Ideologie. Denn wenn man es genau nehmen will, hat<br />
Ayn Rand diese ja erst aufgeschrieben. Sie hat der kapitalis-<br />
Interview Tom Kühnel, Jürgen Kuttner<br />
6<br />
<strong>Spielzeit</strong> <strong>2011</strong>/<strong>12</strong><br />
tischen Partei gewissermaßen ein Manifest verpasst – nur<br />
dass diese Partei eben gar keine Partei sein kann, sondern<br />
immer nur der Einzelne. Ihre Welt ist die Welt der großen<br />
Einzelgänger. Das Irre dabei ist nur, dass ihre Ideologie am<br />
Ende selbst wieder totalitäre Züge bekommt, obwohl sie so<br />
extrem gegen den Totalitarismus war.<br />
Inwiefern?<br />
Kuttner: Es gibt in ihrem Denken nur die großen Schöpfer,<br />
eine Handvoll Macher, die die Geschicke der Welt lenken.<br />
Bleibt nur die Frage: Und was ist mit den anderen? Die tauchen<br />
in ihrem Denken gar nicht auf. Was sie also schreibt,<br />
behauptet sich als Gesellschaftsphilosophie, ist aber nur<br />
eine modellhafte, kapitalistische Insel-Utopie.<br />
Das Wall Street Journal schrieb vor einiger Zeit, dass viele<br />
Schreckensvisionen von Ayn Rand schon längst Wirklichkeit<br />
geworden sind: Politiker bekämpfen jede Krise mit einem neuen<br />
Maßnahmenpaket, neuen Steuern, neuen Subventionen – und<br />
erzeugen dadurch nur noch schlimmere Krisen. Wird es bei<br />
‚Capitalista, Baby!‘ auch um Banken-Bail-Out und Milliardensubventionen<br />
gehen?<br />
Kühnel: Das Buch ‚The Fountainhead‘, das wir uns aus dem<br />
Werk von Ayn Rand ausgesucht haben, spielt zwar vor dem<br />
Hintergrund der Wirtschaftskrise von 1929, aber das ist eher<br />
das Setting und weniger das Thema – auch für uns nicht.<br />
Kuttner: Wir wollen auf so ein Diskurstheater und aktuelle<br />
Bezüge mit dem Holzhammer ganz bewusst verzichten. Da<br />
finde ich so ein theatralisches Durchspielen eines Menschenbildes,<br />
wie Ayn Rand es hat, viel interessanter.<br />
In England hat der erzkonservative Journalist Charles Moore –<br />
der sicher auch Ayn Rand im Regal stehen hat – vor kurzem<br />
geschrieben: „Es hat mehr als 30 Jahre gedauert, bis ich mir als<br />
Journalist diese Frage stelle, aber in dieser Woche spüre ich,<br />
dass ich sie stellen muss: Hat die Linke nicht am Ende Recht?“<br />
Was würden Sie ihm entgegnen?<br />
Kuttner: Wenn so ein klassischer englischer Konservativer,<br />
der an einer Thatcher-Biographie arbeitet, derart ins Zweifeln<br />
gerät, dann haut einen das schon um. Da muss die Verunsicherung<br />
schon tief sitzen. Wenn Warren Buffet und der<br />
CEO von Starbucks, Howard Schultz, höhere Steuern fordern,<br />
dann ist da wohl doch schon einiges ins Schieben gekommen.<br />
Fast schade, dass uns diese Zweifel in Deutschland nur<br />
in Form von Frank Schirrmacher erreichen.<br />
Aber kann man es Ihrer Meinung nach wirklich auf diese simple<br />
Formel bringen: Die Linken haben es immer gewusst?<br />
Kuttner: Ich will bestimmt kein Apokalyptiker sein und ich<br />
würde mir sicher auch etwas anderes wünschen, aber ich<br />
bin da eher ratlos-pessimistisch. Das fängt als Immobilienkrise<br />
an, dann wird es eine Bankenkrise, schließlich wird es<br />
eine Staatsschuldenkrise. Als Immobilienbesitzer hast du<br />
immer noch die Bank, als Bank hast du immer noch den Staat.<br />
Wen hat denn der Staat, wenn er pleite ist? Da kommt doch<br />
irgendwas ans Ende.<br />
Und am Ende stehen Aufstände, wie wir sie gerade in England<br />
gesehen haben? Auch bei Ayn Rand ist öfter von „looters“ und<br />
„moochers“ die Rede, von Plünderern und Schmarotzern, die<br />
den hart arbeitenden Alphamenschen die wohlverdienten<br />
Gewinne wegnehmen wollen. Das wurde den Plünderern in<br />
London und Tottenham auch oft vorgeworfen – dass sie einfach<br />
nur kostenlose Flachbildfernseher haben wollen.<br />
Kuttner: Der englische Premier Cameron hat es sich da<br />
schon sehr einfach gemacht, wenn er nur sagt, den Plünderern<br />
fehlt es an Anstand und bürgerlichen Werten und er<br />
jede soziale Komponente einfach unter den Tisch fallen<br />
lässt. Aber diese Menschen sind einfach draußen, die sind<br />
gesellschaftlich komplett abgehängt. Gleichzeitig bekommen<br />
sie ständig vorgemacht, wie es geht: einfach hingehen<br />
und nehmen. Da muss man sich nicht wundern, wenn es<br />
denen irgendwann reicht.<br />
Zurück zu ‚Capitalista, Baby!‘ – was waren die Herausforderungen<br />
bei der Inszenierung des ‚Fountainhead‘-Stoffes von Ayn<br />
Rand?<br />
Kuttner: Dass der Roman so modellhaft-typologisch ist und<br />
gleichzeitig eine perverse Melodramatik hat. Einerseits sind<br />
alle Charaktere Sprachrohre von Rands Weltsicht, andererseits<br />
ist das alles totale Gartenlaube (lacht) – das ist schon<br />
nicht so leicht zusammenzubringen. Aber wenn es gelingt,<br />
kann es ganz spannend sein.<br />
Zuletzt haben Sie beide für das <strong>DT</strong> ‚Die Sorgen und die Macht‘<br />
von Peter Hacks inszeniert. Nun kommen Peter Hacks und Ayn<br />
Rand ideologisch aus komplett gegensätzlichen Ecken, haben<br />
aber die Gemeinsamkeit, dass beide auf ihre Art extrem umstritten<br />
waren. Von den einen als Visionär gefeiert, von den anderen<br />
als verrückt bezeichnet. Was fasziniert Sie an solchen Personen?<br />
Kuttner: Wir haben tatsächlich im Grunde nach einer Art<br />
Gegen-Hacks gesucht.<br />
Kühnel: Der ist ja auf seine Art auch sehr radikal und elitär.<br />
Kuttner: Und er dekliniert auch etwas bis zum Ende durch:<br />
Bei ihm beginnt der Zerfall des Sozialismus mit dem Ende<br />
Stalins – wo die meisten anderen sagen, da haben die Chancen<br />
erst begonnen. Ayn Rand wiederum dekliniert Kapitalismus<br />
als die maximale Freiheit des Einzelnen durch.<br />
Wenn über Sie beide geschrieben wird, liest man oft Gegenüberstellungen<br />
wie „Kuttner der Laute und Kühnel der Leise“, „der<br />
lustige Macher und der vorsichtige Denker“ – trifft das wirklich<br />
zu oder ist das nur ein bequemes Klischee für Journalisten?<br />
Kuttner: Das trifft schon zu und macht auch ein Stück weit<br />
das Interesse am Anderen aus. Man stellt sich gegenseitig<br />
in Frage und ergänzt sich, wenn man Glück hat. Natürlich<br />
ist das auch anstrengend – mal mehr und mal weniger. Aber<br />
inzwischen funktioniert es ja auch schon seit zehn Jahren<br />
relativ gut.<br />
Kühnel: Ich weiß im Grunde schon wenn ich auf einen bestimmten<br />
Stoff stoße, dass ich den gar nicht alleine machen<br />
will, sondern lieber mit Jürgen zusammen.<br />
Wie ergänzen Sie sich zum Beispiel bei ‚Capitalista, Baby!‘?<br />
Kühnel: Momentan noch so, dass ich mir Sachen ausdenke<br />
und Jürgen sie wieder kaputtmacht (lacht).<br />
Weil Sie das <strong>Theater</strong> lieben und er es hasst, wie Sie es mal in<br />
einem Interview gesagt haben?<br />
Kühnel: Ein wenig schon. Auch wenn das natürlich zugespitzt<br />
formuliert war.<br />
Kuttner: War aber ein schöner Satz!<br />
Kühnel: Aber inzwischen liebt er das <strong>Theater</strong> ja auch jeden<br />
Tag ein bisschen mehr.<br />
7<br />
<strong>Spielzeit</strong> <strong>2011</strong>/<strong>12</strong><br />
Tom Kühnel<br />
Geboren 1971 in Cottbus. Regiestudium an der Hochschule<br />
für Schauspielkunst ‚Ernst Busch‘ in Berlin. Regieduo<br />
mit Robert Schuster bis 2000 Bereits seit seinem<br />
Regiestudium und seinen Inszenierungen am Frankfurter TAT<br />
arbeitet Tom Kühnel zusammen mit Suse Wächter. Für ‚Helden<br />
des 20. Jahrhunderts‘ verbanden sie sich 2005 erstmals<br />
mit Jürgen Kuttner. Seit 2000 inszeniert er u.a. an der Berliner<br />
Schaubühne, am <strong>Theater</strong> Basel, am Deutschen <strong>Theater</strong> Berlin,<br />
an der Volksbühne Berlin, am Thalia <strong>Theater</strong> Hamburg, am<br />
Schauspiel Graz und am Schauspiel Köln. Seit der <strong>Spielzeit</strong><br />
2009/10 ist er Hausregisseur am Schauspiel Hannover. Gemeinsam<br />
mit Jürgen Kuttner inszenierte er im September 2010 am<br />
Deutschen <strong>Theater</strong> ‚Die Sorgen und die Macht‘. Ein Stück über<br />
die Zukunft von gestern nach Peter Hacks.<br />
Jürgen Kuttner<br />
Geboren in Ost-Berlin. Studium der Kulturwissenschaften Bis<br />
zur Wende Mitarbeiter beim Zentralvorstand des Verbandes<br />
Bildender Künstler der DDR. 1990 Beteiligung an der Gründung<br />
der Ostausgabe der ‚tageszeitung‘. 1992 bis 2007 ‚Sprechfunk‘auf<br />
Radio Fritz (in Kooperation mit ORB/RBB). Neben seinen<br />
Tätigkeiten als Moderator ist er für seine monatlichen Videoschnipselvorträge<br />
u.a. an der Berliner Volksbühne bekannt.<br />
Ebenso wirkt er an verschiedenen <strong>Theater</strong>projekten als Autor,<br />
Darsteller und/oder in der Regiearbeit mit. Seit 2001 Zusammenarbeit<br />
mit Tom Kühnel.<br />
Capitalista, Baby!<br />
nach ‚The Fountainhead‘<br />
von Ayn Rand<br />
Regie: Tom Kühnel, Jürgen Kuttner, Bühne: Jo Schramm,<br />
Kostüme: Daniela Selig, Dramaturgie: Claus Caesar,<br />
Es spielen: Felix Goeser, Daniel Hoevels,<br />
Jürgen Kuttner, Matthias Neukirch, Michael Schweighöfer, Natali Seelig<br />
Uraufführung: 11. September <strong>2011</strong>, Kammerspiele
© Tina Berning<br />
dt-<strong>Magazin</strong> - <strong>Ausgabe</strong> 1<br />
8<br />
<strong>Spielzeit</strong> <strong>2011</strong>/<strong>12</strong><br />
Essay<br />
Nichts auf der Erde<br />
wird dem Menschen<br />
Soziale Utopien lassen sich an dreierlei<br />
messen: an der Schönheit ihrer Argumentation,<br />
an der Größe ihres Glücksversprechens<br />
und an der Tauglichkeit<br />
für die gesellschaftliche Praxis. Scheitern<br />
sie, rechtfertigen sich ihre Befürworter<br />
gerne damit, dass diese oder jene<br />
Faktoren hinderlich waren, dass diese<br />
oder jene Einschränkungen störten,<br />
kurz, dass die Utopie ihrem eigentlichen<br />
Gehalt nach noch gar nicht verwirklicht<br />
worden sei. So bleibt zwar der Makel,<br />
beim Realitätsabgleich durchgefallen zu<br />
sein, gleichzeitig aber bleibt auch die<br />
Hoffnung, dass es beim nächsten Mal,<br />
unter anderen Umständen, besser werden<br />
wird. Der Glutkern der Utopie<br />
glimmt weiter.<br />
Wie jeder weiß, steht es mit dem Kapitalismus<br />
westlicher Prägung nicht zum<br />
Besten. Und nichts erschiene derzeit befremdlicher,<br />
als ihn mit der Vorstellung<br />
einer Utopie zusammenzudenken. Vielleicht<br />
aber haben wir bei seiner Um-<br />
setzung einfach ein paar grundsätzliche<br />
Fehler gemacht. Vielleicht hängen die<br />
momentanen Krisen damit zusammen,<br />
dass man von Kapitalismus in einem<br />
strengen Sinn gar nicht sprechen kann:<br />
zu groß ist der Lenkungswille des Staates,<br />
zu stark sind die kollektivistischen Tendenzen,<br />
zu hoch die Beschränkungen der<br />
Unternehmer. Das jedenfalls wäre, würde<br />
sie noch leben, die Behauptung der amerikanischen<br />
Autorin Ayn Rand. ‚Kapitalismus:<br />
Das unbekannte Ideal‘ hat sie eines<br />
ihrer Bücher überschrieben und darin den<br />
Kapitalismus als die eigentliche Utopie,<br />
geschenkt<br />
Claus Caesar über die ersten Premieren der <strong>Spielzeit</strong><br />
und die Vortragsreihe <strong>DT</strong> Thema<br />
als das einzig „moralische Sozialsystem“<br />
bezeichnet. Alles Denken und Handeln<br />
habe von der Voraussetzung auszugehen,<br />
dass es dem Menschen zuallererst um<br />
sich selbst gehe: dass er egoistisch sei.<br />
Nur eine wahrhaft freie Gesellschaft – d.h.<br />
eine Gesellschaft, in der der Staat bis auf<br />
die Verteidigung nach außen und die<br />
Wahrung der (Rechts-)Sicherheit nach<br />
innen inexistent ist – sei deshalb in der<br />
Lage, den Egoismus der „Prime Mover“,<br />
der treibenden wirtschaftlichen und moralischen<br />
Kräfte, zu seinem Recht kommen<br />
zu lassen. Und eine solche Ökonomie<br />
werde dann auch nicht kollabieren.<br />
Anders als in den USA führt Ayn<br />
Rands libertäre, die ganze Existenz umfassende<br />
Philosophie in Deutschland bestenfalls<br />
ein Nischendasein (mehr zu Tom<br />
Kühnels und Jürgen Kuttners Inszenierung<br />
von ‚The Fountainhead‘ ab Seite 4f.).<br />
Doch liefern ihre Thesen eine Folie, vor<br />
der eigene Gewissheiten neu zu sichten<br />
wären: Hat Botho Strauß etwa Recht,<br />
wenn er jüngst in der FAZ schreibt, es<br />
gebe in der Gesellschaft die „gefährliche<br />
Bequemlichkeit sich forterbender antikapitalistischer<br />
Affekte“? Sollte man nicht<br />
tatsächlich die Freiheit des Individuums<br />
uneingeschränkt befürworten, unter der<br />
Maßgabe, niemand anderem zu schaden?<br />
Und wer wollte der Kreativität ernsthaft<br />
Grenzen setzen?<br />
Deformationen der Psyche<br />
Unter dem Label der „digitalen Bohème“<br />
wurden vor einigen Jahren auch hierzu-<br />
9<br />
<strong>Spielzeit</strong> <strong>2011</strong>/<strong>12</strong><br />
lande Ideen en vogue, die das allein sich<br />
selbst verpflichtete, flexible und mobile<br />
„unternehmerische Selbst“ (Ulrich Bröckling)<br />
zum Rollenmodell ausriefen. Doch<br />
das damit verbundene Freiheitsversprechen<br />
– „etwas Besseres als eine Festanstellung<br />
finden wir überall“ (Holm Friebe)<br />
– hat mittlerweile viel von seiner Überzeugungskraft<br />
eingebüßt. Stattdessen beschreiben<br />
Theoretiker wie Hartmut Rosa,<br />
Byung-ChulHan oder Ulrich Bröckling<br />
zunehmend die Deformationen des Subjekts<br />
und seiner Psyche unter den Bedingungen<br />
der Gegenwart, die da heißen:<br />
Beschleunigung der Gesellschaft, Ökonomisierung<br />
der Lebenswelten und Verflüssigung<br />
des Sozialen. Bei aller Unterschiedlichkeit<br />
eint ihre Diagnosen die<br />
Einsicht in die Unhintergehbarkeit der<br />
von ihnen beschriebenen Prozesse und<br />
Selbstverhältnisse. Kein Ort existiert, an<br />
dem ihnen zu entkommen wäre.<br />
So insistiert beispielsweise Hartmut<br />
Rosa bei seinen Analysen unserer „Beschleunigungsgesellschaft“<br />
darauf, dass<br />
es nichts nütze, wenn der Einzelne beschließe,<br />
langsamer zu leben. Wenn eine<br />
ganze Gesellschaft das Tempo anziehe,<br />
falle derjenige, der nicht mitmache, irgendwann<br />
aus den Zusammenhängen<br />
heraus. „Nicht Gier regiert die Welt, sondern<br />
Angst“, schreibt Rosa. Und Ulrich<br />
Bröckling stellt fest, dass das moderne<br />
Subjekt, das sich als „unternehmerisches<br />
Selbst“ den ökonomischen Imperativ<br />
nach Flexibilisierung, Mobilität und Optimierung<br />
zu eigen gemacht habe, immer<br />
noch flexibler, noch mobiler und noch optimierter<br />
sein könne. So kommt ein Pro-
© Arno Declair (2)<br />
Essay<br />
10<br />
<strong>Spielzeit</strong> <strong>2011</strong>/<strong>12</strong><br />
Nichts auf der Erde wird dem Menschen geschenkt<br />
Moritz Grove in ‚Das Schloss‘ nach Franz Kafka Natali Seelig und Daniel Hoevels in ‚Captalista, Baby!‘<br />
nach ‚The Fountainhead‘ von Ayn Rand<br />
zess in Gang, der prinzipiell nicht abschließbar sei und zu Überforderung<br />
und Angst vor dem Versagen führe. Noch weiter<br />
gehen die Überlegungen Byung-Chul Hans, der am ZKM in Karlsruhe<br />
Philosophie lehrt und im Oktober die Vortragsreihe <strong>DT</strong><br />
Thema eröffnet. Für Byung-Chul Han erleben wir derzeit einen<br />
grundlegenden Wechsel in unserer Stellung zur Welt. „Das vergangene<br />
Jahrhundert ist ein immunologisches Zeitalter“,<br />
schreibt er in seinem Buch ‚Müdigkeitsgesellschaft‘. „Es ist eine<br />
Epoche, in der eine klare Trennung von Innen und Außen, von<br />
Freund und Feind oder von Eigenem und Fremdem vorgenommen<br />
wurde.“ Während die Gewalt für das Subjekt in der Vergangenheit<br />
also stets von außen kam – Hans Metapher dafür ist<br />
der Virus –, ist sie nun ein Produkt des Systems selbst, eine Konsequenz<br />
aus seinem gewalttätigen Zuviel, dem ständigen Übermaß.<br />
Es ist ein „Terror der Immanenz“ den Han ausmacht. Dessen<br />
deutlichstes Symptom sind die steigenden Fallzahlen<br />
psychischer Erkrankungen. „Sie sind keine Infektionen, sondern<br />
Infarkte, die nicht durch die Negativität des immunologisch<br />
Ander en, sondern durch ein Übermaß an Positivität bedingt<br />
sind.“ Denn „die Klage des depressiven Individuums ‚Nichts ist<br />
möglich‘ ist nur in einer Gesellschaft möglich, die glaubt, ‚Nichts<br />
ist unmöglich‘.“<br />
Selbstverluste: Kafka, Jelinek, Loher<br />
Nun gehört die Erfahrung, dass sich das Subjekt trotz des „Autonomieversprechens“<br />
der Moderne (Rosa) nicht selbst gehört,<br />
zum Begleitprogramm der Moderne selbst. Unter den (literarischen)<br />
Texten, die diese Erfahrung früh und nachdrücklich formulieren,<br />
nimmt Franz Kafkas unvollendeter Roman ‚Das<br />
Schloss‘, den Nurkan Erpulat und Jens Hillje nun für die Kammerspiele<br />
adaptieren, zweifellos eine besondere Stellung ein.<br />
(mehr zu Nurkan Erpulats Inszenierung ab Seite 14f.). „K. tritt<br />
seinen Weg durch den Roman im Zeichen eines Selbstverlusts<br />
an, der seiner Ankunft vorausgegangen ist“, schreibt der Berliner<br />
Germanist Peter-André Alt. „Da ihn keiner kennt, besitzt<br />
er a priori kein soziales Ich, das ihn eingliedert und behaftbar<br />
macht. K. ist ein Homo sacer, der nachts auf der Brücke zum<br />
Dorf erscheint und ziellos durch die Nacht irrt.“ Der Text ist in<br />
der Folge als Versuch K.s lesbar, sich dieses fehlende soziale Ich<br />
zu verschaffen bzw. zu konstruieren, ein Versuch, der ihn zugleich<br />
in zuvor nicht vorhandene Zwänge hineinführt. Noch einmal<br />
Alt: „Mit Hilfe der Sprache gliedert der Protagonist den leeren,<br />
weißen Raum, der ihn umgibt – der Winter wird so zur<br />
Chiffre des unbedingten Anfangs –, schafft jedoch auf diese<br />
Weise einen Bedeutungszusammenhang, der ihn selbst<br />
determiniert.“Markiert also Kafkas ‚Schloss‘ einen Ausgangspunkt<br />
der modernen Erfahrung des Selbstverlusts, so stehen<br />
Elfriede Jelineks ‚Winterreise‘ und Dea Lohers ‚Unschuld‘ gewissermaßen<br />
am Fluchtpunkt dieser Erfahrung; beide Stücke haben<br />
im September Premiere im Deutschen <strong>Theater</strong>. Während in<br />
Elfriede Jelineks ‚Winterreise‘ eine Fremdheit zur Sprache<br />
kommt, die dem Verhältnis eines Ichs zu seiner eigenen Zeitlichkeit<br />
geschuldet ist (mehr zu ‚Winterreise‘ und der Inszenierung<br />
von Andreas Kriegenburg ab Seite <strong>12</strong>f.), entfalten Dea<br />
Lohers am Rand der Gesellschaft existierende Figuren eine so<br />
überraschende wie irritierende Ökonomie der Schuld. In jemandes<br />
Schuld zu stehen, ist gleichfalls eine Form der Bindung, vielleicht<br />
ja sogar die letzte Form der Stabilität in der Welt der Unzuverlässigkeit,<br />
wie Loher sie zeichnet. Für Dea Lohers Figuren<br />
aber hat Schuld wenig mit tatsächlichen Taten oder wirtschaftlichen<br />
Verpflichtungen zu tun (ab Seite 18f). Viel mehr spielen<br />
unterlassene oder imaginierte Handlungen eine Rolle: ein Verschuldetsein<br />
also, von dem der (vermeintliche) Gläubiger nichts<br />
wissen will oder kann. Es ist eine Schuld, die den Schuldner seiner<br />
selbst enthebt, ihn aber trotzdem einsam zurücklässt. Und<br />
mit der Figur der Frau Zucker erfindet Dea Loher eine der sinnfälligsten<br />
Allegorien des Selbstverlusts: An Zucker erkrankt,<br />
zieht sie nicht nur wieder bei ihrer Tochter Rosa ein, sie büßt<br />
auch durch die fortschreitenden Amputationen Stück für Stück<br />
ihren Körper ein: eine Selbstpreisgabe im doppelten Sinn.<br />
Die Welt gestalten – ‚Kleine Utopien‘<br />
„Nichts auf der Erde wird dem Menschen geschenkt. Alles, was<br />
er braucht, muss erzeugt werden“, heißt es in ‚The Fountainhead‘.<br />
Ayn Rands Heroen betrachten kein Metall, ohne dessen<br />
Bearbeitung zu antizipieren, sie sehen kein Stück Natur, ohne<br />
sich bereits Schienen und Straßen darin vorzustellen. Ihre heroischen<br />
Subjekte, die aus den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts<br />
(in der Nachfolge Nietzsches) zu uns hinüberrufen, wirken<br />
heute wie aus der Zeit gefallen (im Unterschied zu Ayn<br />
Rands Postulat eines unbedingten Egoismus‘). Doch das Begehren<br />
ihrer Helden, die Welt auch gestalten zu wollen, die<br />
sich vor ihnen eröffnet, beschreibt einen Vorgang, dessen Konsequenzen<br />
bis in die Gegenwart noch gar nicht erfasst sind. Das<br />
jedenfalls sagt Christian Schwägerl, Spiegel-Journalist und im<br />
November zu Gast bei ‚<strong>DT</strong> Thema‘. In seinem Buch ‚Menschenzeit‘<br />
fordert Schwägerl dazu auf, diejenigen Dualismen zu überwinden,<br />
die das Denken der westlichen Zivilisation bisher strukturieren,<br />
an ihrer Spitze: den Gegensatz von Natur und Kultur.<br />
Bald, so sagt Schwägerl, werde es keinen Ort auf der Erde mehr<br />
geben, der nicht von Menschen betreten, bearbeitet, beeinflusst<br />
worden sei. Von daher müsse man nicht nur ein neues Erdzeitalter<br />
ausrufen: die Menschenzeit, das Anthropozän, sondern der<br />
Dualismus Kultur versus Natur selbst werde hinfällig. „Die Grenzen<br />
dessen, was Natur an uns ist, was Kultur, was Natur an der<br />
Kultur und Kultur an der Natur, lösen sich auf, sofern es sie je<br />
gegeben hat. Das Gewebe des Lebens wird ein Gewebe des<br />
Gedachten.“ Wenn aber die Erde in diesem Sinne zum Human -<br />
system geworden ist, dann hilft kein ‚Zurück zur Natur‘, um<br />
beim Klimawandel, den bedrohten Ökosystemen und Fehlentwicklungen<br />
der Landwirtschaft gegenzusteuern. Stattdessen<br />
müssten Ökologie und Technologie miteinander versöhnt werden.<br />
Schwägerl schreibt: „Die schwächlichen Umweltbewegungen<br />
von heute müssten zu einer echten kulturellen Kraft werden.<br />
Das heißt auch, die Sehnsucht nach der guten alten Zeit zu<br />
beenden. Die Umweltbewegung der Zukunft ist zugleich eine<br />
globale Forschungs- und Entwicklungsbewegung. Mehr Mut<br />
zum Biofuturismus würde den Umweltorganisationen gut tun.“<br />
Mit dem notwendigen Wandel der Wachstumsgesellschaft befasst<br />
sich auch der Essener Kulturwissenschaftler und Philosoph<br />
Ludger Heidbrink. Verantwortung heißt der zentrale Ausgangspunkt<br />
seiner Überlegungen. Und so setzt Heidbrink,<br />
anders als der „grüne Utopist“ (Süddeutsche Zeitung) Schwägerl,<br />
bei einer vergleichsweise bescheidenen Ebene an: dem Konsum,<br />
einer Tätigkeit, die alle Mitglieder der Gesellschaft ausüben. Der<br />
11<br />
<strong>Spielzeit</strong> <strong>2011</strong>/<strong>12</strong><br />
verantwortliche Konsument ist einer, der nicht nur seine eigenen<br />
Bedürfnisse, sondern zugleich diejenigen des Gemeinwohls<br />
im Auge hat. Doch was genau heißt das: Verantwortung der<br />
Verbraucher? Woher beziehen sie ihre Entscheidungskriterien?<br />
Haben sie überhaupt genug Einfluss, um am Markt für Änderungen<br />
zu sorgen? Dienen bestimmte Änderungen im Konsumverhalten<br />
nicht eher dem Distinktionsgewinn als der Nachhaltigkeit?<br />
Und mit welcher Konsequenz werden sie befolgt?<br />
Neben Christian Schwägerl und Ludger Heidbrink wird im<br />
Februar nächsten Jahres bei ‚<strong>DT</strong> Thema: Kleine Utopien‘ dann<br />
auch der Theologe Friedrich Wilhelm Graf erwartet, dessen<br />
Buch ‚Kirchendämmerung‘ jüngst für Furore sorgte.<br />
<strong>DT</strong> Thema<br />
Kleine Utopien<br />
17.10.11, 20 Uhr, Saal<br />
Byung-Chul Han (Karlsruhe)<br />
Versuch über die Gewalt<br />
1.<strong>12</strong>.11, 20 Uhr, Saal<br />
Christian Schwägerl (Berlin)<br />
Willkommen im Anthropozän! – Was es bedeutet,<br />
auf einem völlig vom Menschen dominierten Planeten zu leben<br />
weitere Vorträge von Ludger Heidbrink (Januar 20<strong>12</strong>)<br />
und Friedrich Wilhelm Graf (Februar 20<strong>12</strong>)
© Arno Declair<br />
<strong>12</strong><br />
<strong>Spielzeit</strong> <strong>2011</strong>/<strong>12</strong><br />
Maria Schrader, Judith Hofmann, Anita Vulesica<br />
„Was erfährt man im Stillstand? Das, was man von seinem<br />
Standort aus ringsherum sehen kann? Das, was man schon<br />
weiß? Kann man es sagen, wenn man nicht mehr vom Fleck<br />
kommt? Wenn es keinen Ausweg aus dem Stillstand gibt,<br />
kann man höchstens noch das Vergessen erfahren, aber<br />
darüber hat man keine Gewalt. Macht hat man sowieso keine.<br />
Ist der Stillstand schon ein Nach-Hause-Kommen? Ist man<br />
ange kommen, oder kann man noch hoffen wegzukommen?<br />
Ich glaube, gerade in diesem Stillstehen, aus dem heraus ich<br />
schreibe, sind da vielleicht Wurzeln, die mich auf und an der<br />
Stelle festhalten, wie sie jeder merkt, wenn er versucht, von<br />
dem Ort wegzukommen, den er sein Zuhause nennt.“<br />
Elfriede Jelinek anlässlich der Verleihung des Mülheimer Dramatikerpreises<br />
<strong>2011</strong> für ‚Winterreise‘<br />
Seit der Verleihung des Nobelpreises 2004 hat sich Elfriede<br />
Jelinek aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Sie gibt keine<br />
Inter views, übermittelt Dankes- oder Grußworte meist schriftlich<br />
oder über das Internet und besucht bei Uraufführungen<br />
ihrer Stücke lieber die Generalprobe als die Premiere. Überhaupt<br />
geht sie nur noch wenig aus dem Haus, eine Angsterkrankung,<br />
so beschreibt sie ihren Zustand selbst, hindert sie daran „am<br />
Leben teilzunehmen“. Trotzdem hat Elfriede Jelinek nun einen<br />
<strong>Theater</strong>text über eine Reise geschrieben, eine „Reise im Stillstand“,<br />
wie sie es in ihren Dankesworten zur Verleihung des<br />
Mülheimer Dramatikerpreises nennt, mit dem Titel ‚Winterreise‘.<br />
Als Ausgangsmaterial dient ihr dabei der berühmte, gleichnamige<br />
Liederzyklus, der von dem heute fast vergessenen Dichter<br />
Wilhelm Müller geschrieben und 1823 von Franz Schubert<br />
vertont wurde.<br />
Die Geschichte der ‚Winterreise‘ von Schubert/Müller ist folgende:<br />
Ein junger Mann, wahrscheinlich ein Deserteur, kommt<br />
in ein Dorf. Es ist Frühling und er lernt ein Mädchen kennen. Die<br />
beiden verlieben sich, verbringen einen Sommer zusammen, sie<br />
sagt ihm, dass sie ihn liebe. Doch dann verlässt sie ihn und der<br />
junge Mann begibt sich auf eine einsame und lebensbedrohliche<br />
Wanderung durch Schnee und Eis. In 24 Liedern beschreibt<br />
die ,Winterreise‘ nicht nur die äußere sondern vor allem die innere<br />
Reise des Wanderers, eine Reise größter Einsamkeit, Heimatlosigkeit,<br />
der Fremdheit sich selbst und der Welt gegenüber.<br />
Die Musik Schuberts hat Elfriede Jelinek, die ab ihrem sechsten<br />
Lebensjahr Klavier lernte und später diverse Instrumente<br />
studierte, seit ihrer Kindheit begleitet. Insbesondere die ‚Winterreise‘<br />
spielt in ihrem Leben eine wichtige Rolle: Kein Werk<br />
der Kunst, so schreibt sie, habe ihr je mehr bedeutet. Für ihre<br />
eigene ‚Winterreise‘ wird der Liederzyklus nun zur literarischen<br />
Quelle, zum Material, das sie in bekannter Manier verwendet:<br />
Zitate, Wortspiele und Motivbezüge auf den Originaltext durchziehen<br />
das Stück als ein dichtes Netz und fungieren als Motor,<br />
Winterreise<br />
Reisen<br />
im Stillstand<br />
Auf den Spuren des Wanderers aus Franz Schuberts ‚Winterreise‘ macht sich Elfriede Jelinek<br />
auf eine Reise durch unsere Gegenwart in ihre eigene Vergangenheit.<br />
13<br />
<strong>Spielzeit</strong> <strong>2011</strong>/<strong>12</strong><br />
der die Autorin immer wieder in neue Gefilde, auf unterschiedlichste<br />
Themengebiete treibt. Die Zitate aus den Gedichten<br />
seien Wasser auf ihre Mühlen, erklärt sie: „Ich brauche sie, um<br />
im Stehen vorwärtszukommen.“<br />
Es ist ein großer Radius, den Elfriede Jelinek dem Zuschauer<br />
auf diese Weise, im Stehen wandernd, erschließt: Das Themenspektrum<br />
reicht von aktuellen Ereignissen, wie etwa dem Entführungsfall<br />
Natascha Kampusch – ein grausameres und prägnanteres<br />
Beispiel für ein Leben im absoluten Stillstand ist kaum<br />
denkbar – bis hin zu sehr persönlichen Erlebnissen: die Erinnerung<br />
an Mutter und Vater. Im Verlauf des Stücks schreibt sich<br />
die Autorin immer weiter heran an einen unbekannten Schmerzpunkt,<br />
erreicht dabei Gebiete größter Inti mität und nähert sich<br />
den Wurzeln, die sie „auf der Stelle festhalten“. Sie selbst hat<br />
ihr Wandern im Stück als ein Wandern von hinten nach vorn beschrieben:<br />
„Das was gewesen ist, auch das, was mich seit meiner<br />
Kindheit gequält hat, kommt jetzt an.“<br />
Während in ihrem Roman ‚Die Klavierspielerin‘ (1983) noch<br />
die Auseinandersetzung mit ihrer übermächtigen Mutter im<br />
Zentrum stand, konfrontiert sich Elfriede Jelinek in ‚Winterreise‘<br />
vorrangig mit der schmerzhaften Erinnerung an ihren Vater.<br />
Recht früh war dieser an Alzheimer erkrankt, lebte zunächst<br />
noch bei Frau und Tochter, bis sie ihn in ein Pflegeheim brachten.<br />
Für Elfriede Jelinek ist der Vater, den sie auch schon in früheren<br />
Werken mit der Figur des einsamen Wanderers verknüpft,<br />
zur Symbolfigur für Schuld geworden, einer Schuld, die man<br />
nicht mehr abtragen kann. „Wir werfen den Papa einfach ab,<br />
wir werfen ihn hier einfach ab, der uns nie das Liebste war, nie<br />
das liebe Liebste [...] so hätte er nicht leben wollen, wir wissen<br />
es genau, dass er so nicht hätte leben wollen, doch er lebt immer<br />
noch, aber nicht sehr.“<br />
Was erfährt man also im Stillstand? In ihrer ‚Winterreise‘ findet<br />
Elfriede Jelinek Antworten auf diese Frage. Es ist eine Reise<br />
in der passiven Bewegung, auf der innere und äußere Landschaften<br />
vorbeiziehen, auf der sie in Gebiete vordringt, die sie<br />
im Wandern wohl nicht erreicht hätte.<br />
Text: Meike Schmitz<br />
Winterreise<br />
von Elfriede Jelinek<br />
Regie: Andreas Kriegenburg, Bühne: Nikolaus Frinke,<br />
Kostüme: Andrea Schraad, Dramaturgie: Meike Schmitz,<br />
Es spielen: Judith Hofmann, Annette Paulmann,<br />
Maria Schrader, Anita Vulesica, Susanne Wolff<br />
Premiere: 9. September <strong>2011</strong>, <strong>Deutsches</strong> <strong>Theater</strong>
Identität<br />
Zugehörigkeit<br />
Teilhabe<br />
Jens Hillje im Gespräch mit dem Regisseur Nurkan Erpulat<br />
und der Schauspielerin Katharina Matz über die Arbeit an Kafkas Roman ‚Das Schloss‘,<br />
über Ausgrenzung, Minderheiten und Glücksmomente<br />
<strong>Spielzeit</strong> <strong>2011</strong>/<strong>12</strong><br />
Thorsten Hierse, Sesede Terziyan, Thomas Schumacher, Katharina Matz, Moritz Grove<br />
14<br />
© Arno Declair<br />
Katharina, Du warst von 1954-1958 unter Wolfgang Langhoff am<br />
Deutschen <strong>Theater</strong> engagiert. Dann bist du nach Hamburg gegangen.<br />
War das eine bewusste Entscheidung aus Ost-Berlin<br />
wegzugehen?<br />
Katharina Matz: Nein. Ida Ehre war damals Leiterin der Kammerspiele<br />
in Hamburg und suchte eine Luise für ‚Kabale und<br />
Liebe‘. Ich habe ihr vorgesprochen und habe einen Vertrag<br />
bekommen. So bin ich ganz offiziell mit Interzonenpass nach<br />
Hamburg gegangen. Nach einem Vierteljahr hätte ich wieder<br />
zurückfahren müssen, aber ich kam dort gut an. Während<br />
meiner Zeit am Thalia <strong>Theater</strong> wurde ‚Das Schloss‘ als<br />
Fernsehfilm gedreht. Ich weiß nur noch, dass Heinz Bennent<br />
den K. spielte und ich eine der beiden Schwestern, Olga oder<br />
Amalia. Das ist so lange her, 50 Jahre (lacht). Und nun wird<br />
es Zeit, mal wieder an ‚Das Schloss‘ zu denken.<br />
Und wie war das nach 50 Jahren?<br />
Katharina Matz: Schön, und es hat mich wahnsinnig gefreut,<br />
dabei zu sein. Ich war sehr gespannt auf das Team – eine<br />
junge Schauspielerin aus armenischer Familie, ein junger<br />
Schauspieler aus türkischer Familie, und eben ein junger Regisseur<br />
aus der Türkei. Die Kunst des Regieführens ist international.<br />
War die Rückkehr an das Deutsche <strong>Theater</strong> wie heimkommen?<br />
Katharina Matz: Ja. Irgendwie schließt sich der Kreis. Ich<br />
hatte seit ‚Ein Sommernachtstraum‘ keine Proben hier, bis<br />
zu dem Angebot von Ulrich Khuon, beim ‚Schloss‘ mitzuspielen.<br />
Es war ein Glücksmoment.<br />
Ein Anruf, wie ihn K. erhält, als das Schloss ihn als Landvermesser<br />
anerkennt. Durch diesen Anruf wir ihm auch eine Identität<br />
zuerkannt?<br />
Nurkan Erpulat: Wenn ich ‚Das Schloss‘ lese, denke ich, dass<br />
man nicht genau benennen kann, warum K. gerade eine<br />
Identität annimmt bzw. erfindet.<br />
Du gehst davon aus, dass K. sich als Landvermesser erfindet?<br />
Nurkan Erpulat: Das ist meine Interpretation.<br />
Man könnte auf die Idee kommen, dass sie alle die ganze Zeit<br />
<strong>Theater</strong> spielen.<br />
Nurkan Erpulat: Auf eine Art und Weise ja. Aber ich kann<br />
mir auch vorstellen, dass K. seine Identität nicht erfindet,<br />
weil er es so geplant hat, sondern weil sie sich aus dem<br />
Widerstand und der Differenz zu den anderen ergibt.<br />
Katharina Matz: Aber warum kommt er zu diesem Schloss?<br />
Nurkan Erpulat: Weil keiner will, dass er zum Schloss geht.<br />
Er bleibt, weil die Anderen wollen, dass er geht.<br />
Nurkan Erpulat: Ich habe das Gefühl, dass die Frage der<br />
Zugehörigkeit ständig hin und her geht. K. will dazugehören.<br />
Sobald er aber etwas mehr Einbindung in die Dorfgemeinschaft<br />
erfährt, schreckt ihn das ab. Mit seiner Beziehung<br />
zu Frieda ist es ähnlich. Schnell finden sie zueinander,<br />
doch sobald die Beziehung für ihn zu eng wird, denkt er, es<br />
wäre besser, allein zu bleiben. Als sich Frieda dann von ihm<br />
zurückzieht, bedauert er den Verlust der Perle.<br />
Katharina Matz: Auf der einen Seite genießt er es, und auf<br />
der anderen Seite hat er das Gefühl, dass er umkommt.<br />
Nurkan Erpulat: Wie ich als türkischer Regisseur in Deutschland<br />
einerseits die Aufmerksamkeit genieße und andererseits<br />
mit den Vorurteilen kämpfe.<br />
Das Schloss<br />
15<br />
<strong>Spielzeit</strong> <strong>2011</strong>/<strong>12</strong><br />
Man tendiert dazu, sich zu beklagen, aber würde es die Vorurteile<br />
nicht geben, würde der Widerstand fehlen. Deswegen begibt<br />
man sich als Künstler trotz seiner Harmoniesucht ständig<br />
in Situationen, in denen man sich dann behaupten und wehren<br />
muss. Kreativ, produktiv.<br />
Nurkan Erpulat: Ich war ja immer in der Minderheit. Schon<br />
als ich in der Türkei von Stadt zu Stadt gezogen bin. Hier in<br />
Deutschland bin ich neben der ethnischen Minderheit auch<br />
eine sexuelle Minderheit. Ich will natürlich nicht der einzige<br />
und allein sein. Das würde mich total langweilen. Es würde<br />
mich sogar deprimieren. Aber ich will auch nicht zur Masse<br />
gehören. Die Möglichkeit zu sagen, ich gehöre irgendwo hin,<br />
wo es keine Mehrheit gibt, das wäre interessant. So brauche<br />
ich innerhalb des Regieteams Harmonie, um mich gemeinsam<br />
mit ihm gegen die Welt behaupten zu können.<br />
Katharina Matz: Spannungen während der Proben entstehen<br />
ja fast von allein.<br />
Nurkan Erpulat: Nur durch Reibung entsteht Wärme, so<br />
heißt doch ein Sprichwort.<br />
Nurkan, aus welchem Grund bist du nach Deutschland gegangen?<br />
Bist du aus der Türkei weggegangen oder bist du nach<br />
Deutschland gegangen.<br />
Nurkan Erpulat: Ich wollte aus der Türkei weggehen. Eigentlich<br />
wollte ich nach Paris. Ich wollte damals unbedingt Paris<br />
sehen und mich in das Pariser Nachtleben hinein begeben.<br />
Dann habe ich aber festgestellt, dass es in Frankreich<br />
keine Regieausbildung gibt und bin nach Berlin gekommen.<br />
Katharina, bist du in Berlin geboren und aufgewachsen?<br />
Katharina Matz: Nein, ich bin im heutigen Tschechien geboren,<br />
in Böhmen. Mein Vater war Apotheker und wir mussten<br />
alle paar Jahre umziehen. Im Januar 1945 sind wir vor<br />
den Russen ins Sudetenland zu unseren Verwandten geflohen,<br />
im Mai 1945 mussten wir die Tschecheslowakei verlassen<br />
und sind schließlich als Flüchtlinge in Sachsen-Anhalt<br />
gelandet. Ich habe dann in der DDR keinen Studienplatz für<br />
Tiermedizin bekommen, weil ich kein Arbeiter- und Bauernkind<br />
war und mein Abi gerade so bestanden hatte. Meine<br />
Mutter ist zum Rektor gegangen und hat gesagt, was machen<br />
wir jetzt mit dem Kind, und der sagte, sie hat ja immer<br />
ganz begabt Gedichte aufgesagt, soll sie doch Schauspielerin<br />
werden. So kam ich auf die Schauspielschule. Wieder<br />
wurde etwas mit mir gemacht. Als ich 2009 am Thalia <strong>Theater</strong><br />
in Hamburg gekündigt habe und nach Berlin kam, war<br />
das mein erster selbstständiger Entschluss. Berlin finde ich<br />
wunderbar. Wie findest du Berlin?<br />
Nurkan Erpulat: Wunderbar. Ich bin sehr glücklich hier.<br />
Katharina Matz: Ich auch! Umziehen möchte ich nicht mehr.<br />
Das Schloss<br />
nach dem Roman von Franz Kafka<br />
in einer Fassung von Nurkan Erpulat und Jens Hillje<br />
Regie: Nurkan Erpulat, Bühne: Magda Willi, Kostüme: Esther<br />
Krapiwnikow, Musik: Tobias Schwencke, Florian Tippe, Dramaturgie:<br />
Jens Hillje. Es spielen: Tamer Arslan, Moritz Grove, Thorsten Hierse,<br />
Katharina Matz, Max Pellny, Thomas Schumacher, Sesede Terziyan<br />
Berlin-Premiere: 8. Oktober <strong>2011</strong>, Kammerspiele<br />
Uraufführung in Koproduktion mit der Ruhrtriennale
© Arno Declair<br />
Peter Keune ist Technischer Inspektor<br />
am <strong>DT</strong> und leitet die Abteilung Betriebs-<br />
und Gebäudemanagment. Er koordiniert<br />
20 Mitarbeiter, von der Postfrau über die<br />
Betreibstechnik bis zum Kraftfahrer. Er<br />
ist der Vermittler zwischen allen Welten.<br />
Nach siebeneinhalb Jahren verlässt er<br />
das Deutsche <strong>Theater</strong>.<br />
Der Boden öffnet sich. Vor der Treppe<br />
am Eingangsportal des <strong>Theater</strong>s gähnen<br />
große Löcher zwischen großen Sandhaufen.<br />
Ein Bauarbeiter verschwindet darin,<br />
sein behelmter Kopf lugt hervor, taucht<br />
ab, lugt hervor – wie der eines Erdmännchens.<br />
Hier entsteht eine Hubtreppenanlage<br />
für Rollstuhlfahrer. Peter Keune,<br />
technischer Inspektor am Deutschen<br />
<strong>Theater</strong>, zeigt auf Berge von Pflastersteinen.<br />
„Am 9. September, bei der Premiere<br />
nach der Sommerpause, stehen dort die<br />
Leute mit Sektgläsern in den Händen.“<br />
Er sagt es wie zur Selbstvergewisserung.<br />
Dann sitzt er mit dem Morgenkaffee in<br />
der Sonne, wer vorbeiläuft, klopft ihm<br />
auf die Schulter, flachst ein bisschen.<br />
Mancher schaut irritiert: Keune, bewegungslos<br />
auf einem Stuhl? Normalerweise<br />
läuft er kreuz und quer über die<br />
24.000 Quadratmeter Bruttogeschossfläche<br />
des <strong>DT</strong>. Springt zwischen den Etagen<br />
hin und her. Er nimmt immer zwei<br />
Stufen auf einmal, manchmal auch drei.<br />
Jetzt aber sitzt er da und erzählt, warum<br />
er aufhört. „Nutzervertreter“ sei er,<br />
sagt Keune. Das Land Berlin beauftragt<br />
und zahlt, eine Firma liefert, er steht<br />
dazwischen und kontrolliert: Kriegt die<br />
Stadt, was sie bestellt hat? „Ich bin<br />
immer die Maulbacke, der ‚Wünsch-Dir-<br />
was-Heini‘.“ Keune, der Vermittler. Er<br />
muss all den ständig wechselnden Regieassistenten<br />
und -hospitanten erklären,<br />
warum sie die Brandschutztüren<br />
nie offen lassen dürfen. Warum man eine<br />
Wandzeitung nicht einfach irgendwo<br />
hinhängen kann. „Ach, schon wieder der<br />
Sicherheitsfuzzi“, hört er sie dann den-<br />
ken. 20 Mitarbeiter hat er unter sich,<br />
„die Postfrau interessiert nicht, was der<br />
Betriebselektriker in der Spätschicht<br />
macht“, die Bauarbeiter können keine<br />
Rücksicht auf jede kreative Pause nehmen.<br />
Und wenn ein Regisseur fragt<br />
Ortstermin<br />
Der<br />
Wünsch-Dir-was<br />
Heini<br />
„Warum ist das so laut?“, ist es Keune,<br />
der eine Antwort finden muss.<br />
Man könnte meinen, Peter Keune mag<br />
seinen Beruf nicht besonders. Doch dann<br />
sagt er Sätze wie diesen: „Die vielbeschworene<br />
<strong>Theater</strong>familie gibt es wirklich.“<br />
Der 43-jährige mit den dicken goldenen<br />
Creolen in den Ohren – vier links,<br />
zwei rechts –, den nach hinten gegelten<br />
Haaren und dem herzlichen Lachen<br />
war bei fast allen Premierenfeiern dabei,<br />
hat unzähl ige <strong>Theater</strong>-Vorstellungen<br />
besucht. Das Endprodukt müsse<br />
einem vertraut sein, sagt er. „Ein VW-Angestellter<br />
muss doch auch wissen, wie<br />
ein Golf aussieht.“ Freundschaften sind<br />
entstanden. Arroganz – hier die Kunst,<br />
da die profane Technik – gab es nie. Eine<br />
so heterogene Kollegschaft sei vielleicht<br />
beruflich manchmal von Nachteil,<br />
sagt Keune, der Vermittler. Emotional<br />
aber sei es ganz klar ein Vorteil. Das ist<br />
es wohl, was ihn ans <strong>Theater</strong> verschlagen<br />
hat. In der DDR arbeitete der Baufacharbeiter<br />
auf dem Bau, als Kraftfahrer<br />
oder Maurer. Dann Studium der <strong>Theater</strong>-<br />
Veranstaltungstech nik. Nach zwei Jahren<br />
am Gorki wechselt Keune zum Deutschen<br />
<strong>Theater</strong>, wird Abteilungsleiter im<br />
Bereich Betriebs- und Gebäudemanagement.<br />
„Ich bin Teil eines Kulturbetriebes“,<br />
sagt er. „Ich bin ja nicht auf eine<br />
Werft gegangen oder auf dem Bau geblieben.“<br />
Aber irgendwie hat er dann eben<br />
doch „den schwarzen Peter gezogen“,<br />
16<br />
<strong>Spielzeit</strong> <strong>2011</strong>/<strong>12</strong><br />
mit diesem „Faxenkram“. Irgendwie hat<br />
er eben doch wenig mit <strong>Theater</strong> zu tun.<br />
Genug geredet. Keune muss weiter, zur<br />
nächsten Bauabnahme. Zack, zack, hoch<br />
die Treppen, zu Frau Ernst von der Bauleitung.<br />
Unter ihrem Arm klemmt ein<br />
Leitz-Ordner mit der Aufschrift „<strong>DT</strong> –<br />
Bodenbelag“. Keune klopft auf WC-Fliesen,<br />
inspiziert Treppenfugen und nickt<br />
zufrieden. Am Ende unterschreibt er.<br />
„Wenn jetzt was kaputtgeht, hat das <strong>DT</strong><br />
selber schuld.“ Es geht weiter, kreuz und<br />
quer durchs Haus, Schultern klopfen, im<br />
Vorbeigehen Dokumente unterzeichnen,<br />
Anrufe entgegennehmen. Keune lässt<br />
seine Leute mitreden, auch bei der Bürogestaltung.<br />
„Die sitzen ihr halbes Leben<br />
im Büro, warum soll ich ihnen nicht die<br />
Wände in ihrer Wunschfarbe anmalen?<br />
Rosa oder grün … so ein Drops Abtönfarbe<br />
kostet doch nix!“<br />
Um elf Uhr ist Mitarbeiterrunde. Peter<br />
Keune sitzt an seinem Schreibtisch, vier<br />
Kollegen haben sich davor versammelt.<br />
Aufgabenplanung.<br />
Zu wenige Feuer löscher auf der Probebühne<br />
Reinhardtstraße. Der TÜV muss<br />
beauftragt werden, für die Fahrstühle.<br />
Briefkastenschlüssel? Verbandskästen?<br />
Pinnwand oder Magnettafel, was ist<br />
billiger? Die Goldleiste im ersten Rang<br />
– wurde die nun gestrichen? Das „Bitte<br />
Ruhe“-Schild müsste rot leuchten, das<br />
hat die Werkstatt nicht geschafft. Und<br />
haben wir eigentlich Bierbänke? Um<br />
Bierbänke muss sich Keune bald nicht<br />
mehr kümmern. Er wechselt in ein Planungsbüro,<br />
das u.a. bei der Sanierung<br />
der Staatsoper beteiligt ist. „Glamourfaktor<br />
und Feierquote werden da sicher sinken“,<br />
sagt er und wirkt dann doch etwas<br />
wehmütig. „Da muss ich kein Prophet<br />
sein, um zu wissen, dass ich weiterhin<br />
hierher komme.“ Dann dreht er sich um,<br />
läuft los, zum nächsten Termin, irgendwo<br />
auf den 24.000 Quadratmetern. Frau<br />
X braucht ein Regal und einen Spiegel,<br />
Frau Y findet die Toilette der Probebühne<br />
zu dreckig. Zack, zack. Rauf auf den Treppenabsatz.<br />
Immer zwei Stufen auf einmal.<br />
Manchmal drei. Weg ist er.<br />
Text: Lydia Brakebusch<br />
Wie würdest Du deine Arbeitsweise beschreiben, was interessiert<br />
Dich am <strong>Theater</strong>machen?<br />
Es hört sich vielleicht platt an, aber für mich ist der Weg das<br />
Ziel. Ich merke, dass ich nur Lust an der Arbeit habe, wenn<br />
ich das gemeinsam mit Leuten tue, die sich ‚dafür‘ entschieden<br />
haben. Es gibt ja immer einen Punkt zu Beginn einer<br />
Produktion wo man merkt, ob man sich reinwerfen will und<br />
gerne an etwas arbeitet oder das Gefühl hat, es geht ums<br />
Durchstehen und sich ansonsten fernhalten möchte. Ich versuche<br />
immer, allen Beteiligten das Versprechen abzunehmen,<br />
dass wir eine gemeinsame Sache machen, die uns<br />
Freude bringen soll, die wir gern spielen und das wird dann<br />
hoffentlich auch für das Publikum sichtbar.<br />
Du bist im dritten Jahr des Regie-Studiums an der ‚Ernst-Busch‘<br />
und hast nebenbei eine Ausbildung zur Yogalehrerin gemacht.<br />
<strong>Theater</strong> und Yoga – wie geht das zusammen?<br />
Eigentlich ja gar nicht. Gleichzeitig könnte ich aber <strong>Theater</strong><br />
ohne Yoga nicht machen. Durch Yoga bekomme ich die<br />
nöti ge Ruhe und Kraft, die man im <strong>Theater</strong> braucht, um das<br />
irgendwie gut durchzuhalten, um immer wieder neue Energie<br />
zu haben, um immer wieder inspiriert zu sein, um immer<br />
wieder bei sich zu bleiben, egal wie groß die Panik und<br />
Anspan nung manchmal ist. <strong>Theater</strong> und Yoga haben die<br />
Gemein samkeit, dass es um den Moment geht, es geht nicht<br />
ums Gestern, es geht nicht ums Morgen, es geht immer ums<br />
Jetzt. Es ist die Wiederholung von etwas, es ist aber auch<br />
die ständige Veränderung. Du kannst im <strong>Theater</strong> ja nichts<br />
konservieren, es verändert sich immer weiter – das ist so<br />
beim Inszenieren und beim Yoga. Es gibt einem ein Zuhause,<br />
das sich trotzdem permanent verändert. Und es gibt mir die<br />
Konzentration und Leichtigkeit, mein Bestes zu geben, ohne<br />
verbissen zu sein.<br />
‚Blinde Punkte. Sterne‘ ist die Geschichte von zwei liebenswerten<br />
Losern, Leon und Patrick, denen ein nerviges Wunder in Gestalt<br />
des 13-jährigen Mädchens Ivy begegnet – was reizt Dich<br />
an dem Stück?<br />
Was ich im Moment spannend finde, wo ich aber auch gerade<br />
ein bisschen ins Schleudern komme, ist, diese Jungsfreundschaft<br />
auf eine überraschende Weise zu erzählen,<br />
gewissermaßen zu versuchen, einen Perspektivwechsel vorzunehmen<br />
und mich an diese Jungswelt heranzupirschen.<br />
Mich interessieren an dem Stück die Fragen: Wie geht man<br />
durchs Leben, wie versucht man zu sein, wie kommt man<br />
auf Dinge, die einen wirklich interessieren? Wie kriegt man<br />
sich in die Gänge, wo verpasst man was, wo verpasst man<br />
sich? Und worauf kann man sich wirklich verlassen – auf eine<br />
Freundschaft, auf eine innere Stimme, auf die Offenheit dem<br />
Leben gegenüber? Patrick und besonders Leon wollen nicht<br />
so richtig auf die Suche gehen, sie sitzen zu Hause, machen<br />
Blinde Punkte. Sterne<br />
Das Prinzip Freude<br />
Lilja Rupprecht inszeniert die Entdeckung der Autorentheatertage <strong>2011</strong>,<br />
‚Blinde Punkte. Sterne‘ von Mathilda Onur<br />
17<br />
<strong>Spielzeit</strong> <strong>2011</strong>/<strong>12</strong><br />
irgendwelche Jobs, aber nur fürs Geld, nicht aus Interesse,<br />
sind unzufrieden, ändern aber nichts.<br />
Bei der Besetzung der Ivy haben wir lange überlegt, was diese<br />
Figur bedeutet, als was man sie lesen könnte und Du hast Dich<br />
entschieden, sie tatsächlich, wie im Stück beschrieben, mit<br />
einem 13-jährigen Mädchen zu besetzen.<br />
Mich reizt es, mit jemandem zu arbeiten, der nicht so abgesichert<br />
ist, der sich anders reinwagen muss, damit es funktioniert.<br />
So wird auch die Begegnung mit Leon und generell<br />
mit der Welt, die sie umgibt, viel brutaler. Jannika Sie ist<br />
noch so verletzlich und gleichzeitig schon so stark und tough<br />
mit ihren 13 Jahren und ihrer Zahnspange. Auf der einen<br />
Seite muss die Figur der Ivy etwas Strahlendes, Naives<br />
haben und auf der anderen Seite eine Penetranz, einen Fanatismus,<br />
eine Unbedingtheit in ihrer Liebe. Sie erinnert sehr<br />
an Kleists ‚Käthchen von Heilbronn‘, allerdings an ein viel<br />
frecheres, moderneres.<br />
Interview: Anika Steinhoff<br />
Ole Lagerpusch, Elias Arens, Jannika Hinz, Barbara Heynen, Ingo Schröder<br />
Blinde Punkte. Sterne<br />
von Mathilda Onur<br />
Regie: Lilja Rupprecht, Bühne: Nikolaus Frinke,<br />
Kostüme: Bettina Schürmann, Dramaturgie: Anika Steinhoff<br />
Es spielen: Elias Arens, Barbara Heynen,<br />
Jannika Hinz, Ole Lagerpusch; Ingo Schröder (Live-Musik)<br />
Uraufführung: 15. September <strong>2011</strong>, Box<br />
© Arno Declair
© Arno Declair<br />
Wenn es ein geheimes Motto dieses <strong>Spielzeit</strong>anfangs im <strong>DT</strong><br />
gibt, dann ist es vielleicht „verkehrte Welt“. Andreas<br />
Kriegen burg inszeniert Elfriede Jelineks ‚Winterreise‘ in einer<br />
Art imaginärem Partnertausch mit Nicolas Stemann.<br />
Michael Thalheimer inszeniert ‚Unschuld‘ von Dea Loher und<br />
tauscht auf diese Weise Texte mit Andreas Kriegenburg, der<br />
als der Uraufführungsregisseur von Loher überhaupt gilt, so<br />
auch im Fall von ‚Unschuld‘, das er im Oktober 2003 als<br />
Auftrags werk für das Hamburger Thalia <strong>Theater</strong> erstmals in<br />
Szene setzte. Knapp acht Jahre später also eine Neuinszenier<br />
ung unter veränderten Vorzeichen mit einer ganz anderen<br />
Regiehandschrift.<br />
Auf den ersten Blick ist das vielleicht verblüffend oder gar<br />
verwegen, auf den zweiten nicht. ‚Unschuld‘ ist eines der besten<br />
deutschsprachigen Stücke der letzten zehn Jahre. Mit diesem<br />
Text hat Dea Loher das dramatische Modell geschaffen, das<br />
Glaube, Leere, Hoffnung<br />
18<br />
<strong>Spielzeit</strong> <strong>2011</strong>/<strong>12</strong><br />
Michael Thalheimer inszeniert ‚Unschuld‘ von Dea Loher<br />
für ihre weiteren Stücke ‚Das letzte Feuer‘ und ‚Diebe‘ die Form<br />
ihres Erzählens auf der Bühne geprägt hat. Und selten ist Dea<br />
Loher in einem Stück die Berührung so vieler Extreme gelungen:<br />
der Komik und Trauer, der Fremdheit und Nähe, der Wut<br />
und Zärtlichkeit, des Politischen und Persönlichen.<br />
Kein Wunder also, dass sich Michael Thalheimer für seine<br />
erste Inszenierung eines deutschsprachigen Gegenwartsdramas<br />
Dea Lohers ‚Unschuld‘ ausgesucht hat. Eine selbstgewählte<br />
Herausforderung, nachdem er sich vor allem durch die<br />
Reduktion großer klassischer Stoffe auf ihren Kern einen Namen<br />
gemacht hat, immer auf der Suche nach dem „pulsierenden Zentrum“<br />
eines Stückes. Dea Lohers Text sperrt sich gegen eine<br />
solche Herangehensweise. Anstelle einer Kernaussage stehen<br />
bei ihr verwobene Geschichten und Episoden. Anstatt aus einer<br />
kraftstrotzenden dramatischen Mitte erzählt sie von den<br />
Rändern und der Peripherie her. Und sie zielt auch nicht auf ein<br />
Tod und Schrecken bringendes Finale, sondern stellt ihre kleinen<br />
und großen Geschichten in eine Offenheit und Schwebe, die<br />
bei aller Traurigkeit auch Momente von Hoffnung und Versöhnung<br />
enthält.<br />
In fünf Erzählsträngen, die sie zuerst nebeneinander ausbreitet,<br />
dann kunstvoll verwebt, um schließlich die losen Enden<br />
zusammenzuführen, erzählt Dea Loher von der „Unzuverlässigkeit<br />
der Welt“: von Existenzen am Rand unserer Gesellschaft,<br />
Illegalen, ortlos Gewordenen, Sinnsuchern. Ihre Geschichten<br />
kreisen dabei um nichts Geringeres als um die großen Motive<br />
von Schuld und Versäumnis, Glaube und Tod. Ohne Scheu berührt<br />
Loher die letzten Fragen – und vermittelt doch nicht mehr<br />
als ein subtiles Ahnen, ein vages Gefühl, was all das bedeuten<br />
könnte.<br />
Der Text entzieht sich jeder Eindeutigkeit, verweigert definitive<br />
Antworten. Man kann Dea Loher heraushören, wenn die<br />
19<br />
<strong>Spielzeit</strong> <strong>2011</strong>/<strong>12</strong><br />
Peter Moltzen, Katrin Wichmann, Andreas Döhler<br />
Philosophin Ella in einer ihrer verzweifelten Tiraden die Devise<br />
ausgibt: „Ich will keine Draufsicht / Ich will keine Überblicksphilosophie,<br />
/ ich will keine lückenlose Zusammenhangserklärung,<br />
/ ich hasse Systeme, / ich werde mich ganz dem Fragment,<br />
dem Lückenhaften / dem Unvollkommenen, dem Bruch, dem<br />
Rest, dem Unverstandenen widmen.“ Man kann das auch als<br />
Dea Lohers poetisches Programm verstehen, als Credo für ihre<br />
unverwechselbare Art, vom Leben in Mikroausschnitten zu<br />
erzählen.<br />
Mehr Schuld als Unschuld<br />
In die Reihe seiner bisherigen Inszenierungen würde ein Stücktitel<br />
wie ‚Schuld‘ wohl besser passen als ‚Unschuld‘, stellt<br />
Michael Thalheimer zu Beginn der Proben lachend fest. Die<br />
© Arno Declair
Kategorien der antiken Tragödie, Schicksal, Schuld, Ausweglosigkeit,<br />
sind ihm aus der Arbeit sehr vertraut, und doch fordert<br />
‚Unschuld‘ zu einer neuen Auseinandersetzung mit dem Thema<br />
heraus, diesseits des antiken Schuldbegriffs. Wir sehen kein<br />
hero isches Einzelschicksal, keinen Protagonisten, der ausweg-<br />
und alternativlos seinem Untergang entgegengeht oder durch<br />
seinen Auftrag schuldig wird und reift.<br />
Die Beziehungen von Lohers Figuren zu Schuld sind ungleich<br />
vielfältiger und verzweigter. Sie berühren oder streifen die<br />
Schuldfrage auf ganz unterschiedlichen Ebenen: in ihrer moralischen,<br />
religiösen, politischen und ganz persönlichen Dimension.<br />
Heroisch ist keine dieser Figuren, ein fatalistischer Schicksalsbegriff<br />
verfehlt. Vielmehr scheint dann und wann, in<br />
behutsam gezeichneten Momenten der Annäherung, die Möglichkeit<br />
auf, dass alles doch auch ganz anders sein könnte.<br />
Das Stück<br />
Irgendwo in Europa. Eine Stadt am Meer. Verschiedene<br />
Geschich ten und Schicksale: Die illegalen Einwanderer Elisio<br />
und Fadoul beobachten eine junge Frau mit roten Haaren, die<br />
ins Wasser geht und ertrinkt. Ein Unfall? Selbstmord? Ein Tod<br />
ohne Geschichte? Die verpasste Möglichkeit, die Frau mit den<br />
roten Haaren zu retten, ihr gemeinsames Versagen im Moment<br />
der Not, wird für Fadoul und Elisio zu einer erdrückenden Schuld<br />
und führt sie auf unterschiedliche Wege. Sie scheiden sich in<br />
der Begegnung mit dem Absoluten in Gestalt einer blinden<br />
Stripperin und dem Geld, das sie in einer Tüte finden. – Frau<br />
Zucker ist Mutter, hat Diabetes im Endstadium und sucht ihre<br />
jüngste Tochter heim, der sie „die Verantwortung für sich übergibt“.<br />
Für ihr nichtgelebtes Leben rächt sie sich, indem sie immer<br />
wieder die Träume durchspielt, die sie vierzig Jahre auf dem<br />
Postamt geträumt hat. Ihre Tochter Rosa ist keine Mutter, wäre<br />
es aber gerne. Ihr Mann Franz verweigert sich der Familiengründung,<br />
und Rosa sieht bereits die versäumte Zukunft vor ihrem<br />
inneren Auge ablaufen, so als zöge sich das Leben immer mehr<br />
von ihr zurück. Franz wird nach einem abgebrochenen Medizinstudium<br />
Leichenwäscher. Seine Liebe und sein Mitgefühl gelten<br />
ganz den Toten. Die Möglichkeit der Liebe mit der noch ganz<br />
lebendigen Rosa lässt er ungenutzt, ja unberührt verstreichen.<br />
– Frau Habersatt entschuldigt sich unentwegt für einen Sohn,<br />
den sie zu ihrem eigenen Leidwesen nie hatte, der aber ein Mörder,<br />
Vergewaltiger und Amokläufer hätte sein können, und die<br />
Philosophin Ella verwirft nahezu alle Theorien, denen sie ihr<br />
Leben gewidmet hat.<br />
Glaube – Leere – Hoffnung<br />
Als „zutiefst religiöses Stück“ bezeichnet Michael Thalheimer<br />
Dea Lohers ‚Unschuld‘, und tatsächlich gibt es in dieser Welt<br />
der Zufälle und Unzuverlässigkeiten immer wieder Dinge, die<br />
Unschuld<br />
20<br />
<strong>Spielzeit</strong> <strong>2011</strong>/<strong>12</strong><br />
an Zeichen grenzen, so zum Beispiel die mit Geld gefüllte Tüte<br />
an einer Bushaltestelle, mit der die ohnmächtigsten, mittellosesten<br />
Figuren des Stückes auf einmal Macht und Handlungsmöglichkeiten<br />
bekommen. Wozu ist es da, dieses Geld? Was<br />
sollen sie damit tun? Ist es unrechtmäßig oder gottgewollt?<br />
Fadoul glaubt fest an einen göttlichen Auftrag, der ihm zuteil<br />
wurde, um ein Werk zu vollbringen und so seine Schuld zu tilgen.<br />
In seiner Hybris beschließt er, der blinden Stripperin Absolut<br />
durch eine Operation das Augenlicht zu schenken. Ein Versuch,<br />
der fehlschlägt. Die Tänzerin Absolut wird kein Teil der<br />
sehenden Welt Fadouls.<br />
War das Geld also kein göttlicher Wink, sondern nur Zufall<br />
und sein „Auftrag“ ein bloßes Missverständnis? Für Fadoul<br />
nicht. Er gibt das Geld und den einmal gefundenen Sinn nicht<br />
wieder her. Lieber verurteilt er seine Freunde als „Ungläubige“<br />
und beharrt auf seiner religiösen Sendung, die ihn in Isolation<br />
und Einsamkeit führt. Anders Elisio. Er geht den entgegen<br />
gesetz ten, lebenspraktischen Weg unter die Menschen und<br />
macht sich auf die Suche nach der Identität der Ertrunkenen, in<br />
der Hoffnung, Beweise für einen geplanten Selbstmord zu finden,<br />
die ihn aus der Verantwortung entlassen würden. Er sucht<br />
ihren Namen und die Geschichte, die zu ihrem Tod führt, um<br />
sich von seiner Schuld zu befreien.<br />
„Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei, am<br />
größten jedoch unter ihnen ist die Liebe“, heißt es bei Paulus.<br />
Glaube und Hoffnung finden sich in Dea Lohers Stück in verschiedenster<br />
Form und Gestalt. Die wichtigste christliche<br />
Tugend aber, die Liebe, bleibt in ‚Unschuld‘ ein unerfüllter<br />
Wunsch, eine verpasste Möglichkeit, die kurz aufscheint, aber<br />
nicht verwirklicht wird. Was Dea Loher indessen keineswegs<br />
schuldig bleibt, ist die immer dichtere Verknüpfung der Einzelschicksale.<br />
Die Figuren begegnen sich auf ihrer Suche nach Auswegen<br />
aus der Schuld. Die einzelnen Lebenslinien verweben<br />
sich miteinander, und aus den Verlorenen und Randständigen<br />
des Stückes wird immer mehr eine Gruppe, ein Ensemble. Für<br />
Dea Lohers Figuren ist das noch lange keine Rettung, aber vielleicht<br />
ein Trost.<br />
Text: John von Düffel<br />
Unschuld<br />
von Dea Loher<br />
Regie: Michael Thalheimer, Bühne: Olaf Altmann,<br />
Kostüme: Michaela Barth, Musik: Bert Wrede,<br />
Chorleitung: Marcus Crome, Dramaturgie: John von Düffel<br />
Es spielen: Andreas Döhler, Michael Gerber, Olivia Gräser,<br />
Gabriele Heinz, Ingo Hülsmann, Jürgen Huth, Sven Lehmann, Peter<br />
Moltzen, Kathleen Morgeneyer, Barbara Schnitzler, Katrin Wichmann<br />
Premiere: 29. September <strong>2011</strong>, <strong>Deutsches</strong> <strong>Theater</strong><br />
© Arno Declair<br />
Szenen im <strong>DT</strong><br />
Die Aufenthaltsräume der Bühnentechniker werden saniert. Kein Problem – in der Containerdatscha auf dem Hinterhof<br />
haben sie sich gemütlich eingerichtet. Und eine Terasse mit Frischluft gibt es sonst auch nicht.<br />
21<br />
<strong>Spielzeit</strong> <strong>2011</strong>/<strong>12</strong>
dt-<strong>Magazin</strong> - <strong>Ausgabe</strong> 1<br />
Der Krieg ist auch<br />
in den Menschen<br />
Für Maren Eggert beginnen in Kürze die Proben für<br />
Eugene O’Neills ,Trauer muss Elektra tragen‘.<br />
In Stephan Kimmigs Inszenierung spielt sie die Lavinia/Elektra,<br />
eine Frau, die Liebe und Hass gleichermaßen intensiv und mit einer<br />
Konsequenz lebt, die weit über psychologischen Realismus hinausgeht.<br />
22<br />
<strong>Spielzeit</strong> <strong>2011</strong>/<strong>12</strong><br />
© Arno Declair<br />
Vor sieben Wochen haben wir unsere Strichfassung von ‚Trauer<br />
muss Elektra tragen‘ zum ersten Mal gemeinsam gelesen. Diese<br />
Woche fangen nun die Proben an. Hast Du das Stück in die<br />
Sommer pause mitgenommen?<br />
Ich habe zwar einen Ausdruck des Stückes mit in den Urlaub<br />
genommen, es hat mich dann aber vor allem gedanklich<br />
beglei tet. Bestimmte Nachrichten oder Themen haben sich<br />
automatisch mit ‚Trauer muss Elektra tragen‘ verbunden den<br />
Sommer über. Mir gefällt es so ganz gut: Ich lasse das Stück<br />
in Ruhe – und es schwirrt mir im Kopf herum.<br />
Hast Du dich in der Zeit mit deiner Rolle beschäftigt oder tust<br />
Du das in der Regel erst, wenn die Proben beginnen?<br />
Das mache ich immer wie es kommt. Ich nehme es mir nicht<br />
gezielt vor. Dieses Mal war es eher so, dass mich alle Figuren<br />
aus dem Stück sehr beschäftigt haben, ihr Zusammenhang,<br />
ihre Eigenheiten und wie sie miteinander umgehen.<br />
Meine Rolle wird erst jetzt in der direkten Vorbereitung auf<br />
den Probenbeginn wichtiger für mich. Zurzeit ist sie noch<br />
eine Fremde. Aber irgendwann nähere ich mich der Figur<br />
natürlich an und suche etwas, was mich an ihr berührt, egal<br />
wie fürchterlich sie ist. Ich finde es sehr tricky den richtigen<br />
Zeitpunkt dafür zu finden, auf seine Figur zuzugehen. Es<br />
kann zu früh, aber es kann auch zu spät sein. Das ist wie die<br />
Begegnung mit einer realen Person: Es ist wichtig das richtige<br />
Timing, eine gute Chemie hinzubekommen.<br />
O’Neill hat die ‚Orestie‘ von Aischylos überschrieben und das<br />
Geschehen in den Amerikanischen Bürgerkrieg verlegt. Entsprechend<br />
der Vorlage wimmelt es von radikalen Persönlichkeiten,<br />
von Mörderinnen und fanatisch Liebenden. Wie nähert man sich<br />
einer solchen Figur als Schauspielerin an?<br />
Das ist nicht einfach. Die Mutter umzubringen, nur weil sie<br />
den Vater betrügt, erscheint schon fremd. Dieser Mutterkonflikt<br />
ist im Stück enorm ausgeprägt, ich persönlich kann ihn<br />
kaum als realistisch empfinden. Aber überraschenderweise<br />
erinnert mich Lavinia ein wenig an Hamlet – der Konflikt mit<br />
der Elterngeneration und der Ekel vor den erotischen Entgleisungen<br />
der Mutter zum Beispiel ist beiden Figuren eigen.<br />
Und dieses lange Warten, Zögern, ohne zu handeln. Solche<br />
Parallelen helfen manchmal, sich einer Figur zu nähern.<br />
Trotz ihrer Wut ist Lavinia auch eine Figur voller Sehnsucht.<br />
Irgend wie liebt sie fast alle Menschen im Stück – auf ihre Weise.<br />
Möchte sie vielleicht nur selbst geliebt werden?<br />
Sie ist zerrissen. Ich habe den Eindruck, sie möchte einen<br />
Platz in der Gemeinschaft haben. Auch diese übertriebene<br />
Liebe zum Vater ist für mich ein Indiz für eine intensive<br />
Suche nach Zugehörigkeit. Dabei ist ihr selbst unklar, welche<br />
Rolle sie in der Familie wirklich hat, welche Identität.<br />
Die Entsprechungen zum Elektra-Stoff sind für mich hierbei<br />
wichtig. Irgendwie erklärt sich darüber das Monströse leichter:<br />
Es ist kein realistisches Stück über eine normale, amerikanische<br />
Familie. Die Situation ist sehr zugespitzt, die<br />
Figur en leben abgekapselt in ihrem Haus, es gibt keinen<br />
Austausch, keine Luft von außen. Die Konflikte schwelen wie<br />
eine abgekapselte Entzündung. Und die Figuren sind sehr<br />
brutal im Umgang miteinander. Der Krieg ist auch in den<br />
Menschen. Mord ist ein normales Mittel, sich durchzusetzen.<br />
Das fängt bei meiner Figur und der Mutter an: Beide spielen<br />
Trauer muss Elektra tragen<br />
23<br />
<strong>Spielzeit</strong> <strong>2011</strong>/<strong>12</strong><br />
ein Spiel von Liebesentzug und Machtdemonstration. Die<br />
Figuren sind im stetigen Kampf um Dominanz, dabei gibt es<br />
keine Gewinner.<br />
‚Trauer muss Elektra tragen‘ beschreibt eindrucksvoll, was es<br />
heißt jemanden zu töten und dass der Mensch danach nicht<br />
mehr derselbe ist. Ist Krieg ein Thema, das Dich angeht?<br />
Ich fühle mich – ähnlich wie die Frauen im Stück – sehr in<br />
Distanz zu jeglichem Kriegsgeschehen, ich habe keine Ahnung,<br />
was Krieg wirklich heißt. Das Thema ist wichtig – aber<br />
meine persönliche Erfahrungswelt ist ähnlich entfernt von<br />
so etwas wie Krieg wie die Lavinias. O‘Neill beschreibt sehr<br />
gut, was der Krieg mit den Menschen macht. Wenn Orin über<br />
Hazel sagt, dass sie immer noch so wie vorher ist, wird deutlich,<br />
dass er keine gemeinsame Zukunft mehr mit ihr sieht:<br />
Was er erlebt hat, lässt sich nicht zurückschrauben, er kann<br />
nicht zurück in sein normales Leben. Nach seinen Kriegserfahrungen<br />
leben sie in verschiedenen Welten.<br />
Mit Stephan Kimmig hast Du schon öfter gearbeitet, zuletzt in<br />
‚Über Leben‘. Was macht diesen Regisseur für Dich aus?<br />
Stephan hat die ausgeprägte Gabe, einen wahrzunehmen.<br />
Ihn interessiert nicht, was ein Schauspieler vorspielt, sondern<br />
er sieht das, was darunter ist. Ich finde ihn sehr mutig,<br />
er lässt Grenzüberschreitungen zu, sowohl bei seinen Schauspielern<br />
als auch bei seiner eigenen Arbeit. Ich empfand<br />
seine Arbeitsweise früher eher als impulsiv und verspielt, in<br />
letzter Zeit dagegen fast als weise. Er lässt mehr geschehen<br />
und hat einen längeren Atem. Er ist konsequent in seiner<br />
Suche nach einer transparenten Spielweise. Er könnte einfach<br />
ganz normales psychologisches, wirkungsbewusstes<br />
<strong>Theater</strong> machen, aber das interessiert ihn nicht.<br />
Freust du Dich auf die historischen Kostüme, die die Kostümbildnerin<br />
Anja Rabes für dieses Stück entworfen hat?<br />
Es ist toll, wenn man solch fremde, opulente Kostüme trägt.<br />
Es macht gleich etwas mit einem, bewegt die Fantasie,<br />
schon bei der Anprobe.<br />
Fragen: Sonja Anders<br />
Trauer muss Elektra tragen<br />
von Eugene O‘Neill<br />
Regie: Stephan Kimmig, Bühne: Katja Haß, Kostüme: Anja Rabes,<br />
Musik: Ingo Schröder, Dramaturgie: Sonja Anders<br />
Es spielen: Natalia Belitski, Maren Eggert, Sebastian Grünewald,<br />
Friederike Kammer, Alexander Khuon, Helmut Mooshammer, Bernd Moss<br />
Premiere: 18. Oktober <strong>2011</strong>, <strong>Deutsches</strong> <strong>Theater</strong><br />
O’Neills Familiendrama, basierend auf der ‚Orestie‘, spielt in der Zeit<br />
nach dem amerikanischen Bürgerkrieg. Ezra Mannon kehrt aus dem<br />
Krieg zurück. Während seine Tochter Lavinia ihn sehnsüchtig erwartet,<br />
plant seine Frau Christine mit ihrem Geliebten Adam Brant bereits<br />
seinen Tod. Lavinia, ebenfalls verliebt in Brant, droht ihrem Vater<br />
alles zu berichten. Christine vergiftet ihren Mann. Als Lavinias Bruder<br />
Orin traumatisiert aus dem Krieg heimkehrt, erzählt seine Schwester<br />
ihm alles und gemeinsam schmieden sie einen Mordplan.
Die vier Himmelsrichtungen<br />
Almut Zilcher, Andreas Döhler, Ulrich Matthes, Kathleen Morgeneyer<br />
Den Blick<br />
zu den Sternen muss<br />
man aushalten …<br />
Ein Gespräch mit dem Bühnen- und Kostümbildner Johannes Schütz<br />
zur Uraufführung von Roland Schimmelpfennigs ‚Die vier Himmelsrichtungen‘<br />
Herr Schütz, in Roland Schimmelpfennigs neuem Stück ‚Die vier<br />
Himmelsrichtungen‘ geht es um Augenblicke der vier Figuren,<br />
die ihr Leben entscheidend beeinflussen. Was war Ihr „wichtigster<br />
Tag im Leben“?<br />
Das war der Tag, an dem ich geboren wurde.<br />
Und so einen Wendepunkt im Leben wie ihn der „kräftige Mann“<br />
in ‚Die vier Himmelsrichtungen‘ nach einem Unfall erlebt hat,<br />
finden Sie bisher nicht in Ihrer Biografie?<br />
Die Tragik dieser Figur besteht möglicherweise darin, dass<br />
sie nur einen Wendepunkt im Leben hat. Es muss im Leben<br />
viele Wendepunkte geben, täglich passiert etwas, das sich<br />
gestern noch nicht ereignet hat, und im Idealfall soll man an<br />
jedem Tag etwas tun, was man am Tag zuvor noch nicht<br />
getan hat.<br />
Aber kann man sich das vornehmen?<br />
Nein, das kann man sich nicht vornehmen. Ich bin disponiert<br />
zur Wiederholung, die Unterbrechung kommt von außen.<br />
Und es ist dann auch eine Frage der Wahrnehmungsenergie<br />
und der Neugier, wie ich Begegnungen und Ereignisse täglich<br />
erlebe.<br />
24<br />
<strong>Spielzeit</strong> <strong>2011</strong>/<strong>12</strong><br />
Mit Roland Schimmelpfennigs Texten haben Sie bereits mehrere<br />
Tage zugebracht …<br />
Mehrere Tage? Vielleicht Jahre. ‚Die vier Himmelsrichtungen‘<br />
ist der zwölfte Text von Schimmelpfennig, an dem ich<br />
arbeite. Es begann mit ‚Push up‘ 2001 am Schauspielhaus in<br />
Hamburg in der Inszenierung von Jürgen Gosch. Die letzten<br />
Produktionen waren ‚Der goldene Drache‘ und ‚Peggy Pickit<br />
sieht das Gesicht Gottes‘, die Roland Schimmelpfennig beide<br />
am Akademietheater in Wien inszeniert hat.<br />
Können Sie Veränderungen in der Zusammenarbeit mit Roland<br />
Schimmelpfennig und seinen Texten feststellen?<br />
Die Arbeit an Texten von Schimmelpfennig hat meine Methode<br />
<strong>Theater</strong>räume zu entwickeln verändert. Die Raumbeschreibung<br />
ist nie direkt und konkret formuliert, sondern<br />
immer konnotiert im Text der Darsteller. Kodiert in deren Dialogen<br />
und Erzählungen entstehen beim Lesen assoziative<br />
Vorstellungen von möglichen Räumen, in denen diese Texte<br />
aufgeführt werden können. Paradoxerweise müssen die<br />
Bühnen für diese Texte sehr real sein, dürfen aber gleichzeitig<br />
keine Information vermitteln. Früher hätten seine Stücke<br />
sicher eine Form von Überforderung oder Verstörung bei mir<br />
© Arno Declair<br />
ausgelöst. Inzwischen ist es anders, wenn man die Stücke<br />
von Schimmelpfennig nach Arbeiten an Shakespeare und<br />
Tschechow kennengelernt hat, fühlt man sich ihnen eher gewachsen.<br />
Die Texte von Schimmelpfennig haben sich in den<br />
letzten Jahren sehr verändert in ihren <strong>Theater</strong>schilderungen<br />
und Versuchsanordnungen. In der Abfolge der Stücke<br />
‚Vor langer Zeit im Mai‘, ‚Vorher Nachher‘, ‚Ambrosia‘, ‚Das<br />
Reich der Tiere‘ oder ‚Der goldene Drache‘ bis zu ‚Die vier<br />
Himmelsrichtungen‘ hat sich sein Blick auf das <strong>Theater</strong>, was<br />
man mit Schauspielern auf einer Bühne erzählen kann, immer<br />
enger fokussiert auf zwei Brennpunkte: Den Bericht und<br />
das Spiel.<br />
Es ist also eine Fortführung von einzelnen Motiven und Themen<br />
in seinen Stücken festzustellen?<br />
Ja. Und die Anstrengung sie aufzuführen und, dass man nie<br />
weiß wie man es machen soll, das ist geblieben. Die Texte<br />
überfordern die Möglichkeiten, sie gehen an die Grenze. Da<br />
hilft nur eins: Alles machen, was drin steht.<br />
An was dachten Sie, als Sie zum ersten Mal ‚Die vier Himmelsrichtungen‘<br />
gelesen haben und wie hat sich Ihre Idee zum Bühnenbild<br />
entwickelt?<br />
Der Text ist anders als frühere Texte. Eine sehr musikalische<br />
Erzählung von großer sozialer Realität, über vier Menschen,<br />
von denen drei am Ende sterben und einer vielleicht für<br />
lange Zeit ins Gefängnis muss. In ‚Die vier Himmelsrichtungen‘<br />
geht es um ein Quartett poetischer Stadtrandexistenzen,<br />
deren Zusammensein durch zufällige Gemein samkeiten<br />
bewirkt wird. Die Figuren, die aus vier Himmels -<br />
richtungen kommen, treffen sich an einem bestim mten<br />
zeitlichen und räumlichen Punkt und pflegen geraume Zeit<br />
urbane Kontakte miteinander. Wenn man es träumen würde,<br />
spielte das Stück nachts auf einer Kreuzung ohne Häuser,<br />
ein sich mit Abweichungen wiederholendes Vorstadt-Nocturne.<br />
Und das war dann das Ziel für die Bühne: Viel Platz,<br />
nachts, draußen, aus der bewölkten Nacht entwickeln sich<br />
die Tageszeiten mit Nebel, Regen und Schnee. Der Musikalität<br />
des Textes wegen dachten wir früh an ein kleines Konzertpodest,<br />
das in einer diesigen Landschaft steht. Wetter<br />
hat etwas mit Wolken zu tun. Und jetzt ist es diese Mischung<br />
aus frisch gepflügtem Acker und Bauerwartungsland.<br />
Außer der kleinen Bühne gibt es noch eine in der Landschaft<br />
liegengelassene Baggerschaufel. Das ermöglicht den Sternenhimmel.<br />
Eine Figur in ‚Die vier Himmelsrichtungen‘ findet im Straßengraben<br />
eine LKW-Ladung mit 400 Kisten Modellierballons, die<br />
eine andere Figur nach einem Unfall dort liegenlassen hat. Was<br />
würden Sie mit 400 Kartons Luftballons machen?<br />
Keine Bühne bauen (lacht). Es ist die alte Frage: Was passiert,<br />
wenn man einem Unfall beiwohnt: plündern oder helfen?<br />
Am Ende des Stückes erfahren die beiden Protagonisten,<br />
dass sie auf komplementäre Weise über diese 400<br />
Kartons etwas miteinander zu tun haben. Was dem einen<br />
Die vier Himmelsrichtungen<br />
25<br />
<strong>Spielzeit</strong> <strong>2011</strong>/<strong>12</strong><br />
verlorengegangen ist, hat der andere geborgen. Havarien<br />
produzieren Strandgut, eine der häufigsten anthropologischen<br />
Wiederholungen.<br />
Und beide beschreiben diesen Tag als den „wichtigsten Tag“ in<br />
ihrem Leben. Unabhängig davon verlieben sie sich in eine junge<br />
Frau. Es gibt also noch ein weiteres verbindendes Element. Das<br />
Stück handelt vom Sterben und vom Tod, der jeden von uns ereilen<br />
wird. Glauben Sie an ein Leben nach dem Tod?<br />
Nein. Die Teile, aus denen Sie und ich zusammengesetzt sind,<br />
können der Erde nicht entkommen. In welchen Konstellationen<br />
sie sich auch neu zusammensetzen mögen, es ist<br />
keine Kontinuität des Ichs gewährleistet. Das Ich hört mit<br />
dem Tod auf. Falls ich mich täusche, werde ich mich, da ich<br />
nicht überraschungsresistent bin, über jedes postmortale<br />
Programm freuen (lacht). Aber das seelische Frieren im Tode<br />
hat man doch im Leben als Einsamkeitserfahrung auch auszuhalten.<br />
Den Blick zu den Sternen muss man aushalten.<br />
Interview: Ulrich Beck<br />
Die vier Himmelsrichtungen<br />
von Roland Schimmelpfennig<br />
Regie: Roland Schimmelpfennig, Bühne und<br />
Kostüme: Johannes Schütz, Musik: Satoshi Okamoto,<br />
Dramaturgie: Ulrich Beck<br />
Es spielen: Andreas Döhler, Ulrich Matthes,<br />
Kathleen Morgeneyer, Almut Zilcher<br />
Berlin-Premiere am 28. Okt. <strong>2011</strong>, <strong>Deutsches</strong> <strong>Theater</strong><br />
Uraufführung in Koproduktion mit den Salzburger Festspielen<br />
Ein Mann verunglückt mit seinem LKW. Er lässt die Ladung im Straßengraben<br />
liegen und macht sich auf den Weg in ein besseres Leben.<br />
Ein anderer findet auf dem morgendlichen Weg zur Arbeit die liegengebliebenen<br />
Kartons und hofft, mit Hilfe der bunten Modellierballons,<br />
die er darin entdeckt, sein Glück als Kleinkünstler zu finden. Der eine<br />
kommt aus dem Norden, bringt den Regen mit und kauft sich einen<br />
Revolver, der andere kommt aus dem Süden und hat zwei Zungen.<br />
Beide verlieben sich in die junge Frau mit den Schlangenhaaren. Sie<br />
arbeitet als Kellnerin und wird begleitet vom Wind aus dem Westen.<br />
Aus den vier Himmelsrichtungen führt das Leben die Menschen<br />
scheinbar planlos zusammen. Und nur Madame Oiseau, die Wahrsagerin<br />
aus dem Osten, weiß, dass sie einander zum Schicksal werden.<br />
Und dass heute jemand für immer geht.
© Tina Berning<br />
Reden über<br />
Am 23. Oktober startet im Deutschen <strong>Theater</strong> die Fortsetzung<br />
der ‚Reden über Europa‘, die von der Allianz-Kulturstiftung<br />
seit mehreren Jahren in München, in Wien und in Berlin als<br />
Forum der öffentlichen Debatte über Europa initiiert und veranstaltet<br />
wird. Eine das „Markteuropa“ transzendierende<br />
Idee, ein geistig-kulturelles Fundament, das den Menschen<br />
auch emotional einen Zugang zum Europagedanken<br />
öffnet,kann nur in der Diskussion miteinander entwickelt<br />
werden. Die erste Debatte im Herbst <strong>2011</strong> widmet sich der<br />
Frage „Europa – von der Zweck- zur Wertegemeinschaft?“<br />
Worin bestehen die Herausforderungen der Globalisierung?<br />
In unserer heterogenen Welt brauchen wir vor allem ein gefestigtes<br />
Selbstbewusstsein, eine eigene kulturelle Identität<br />
und das Wissen um ihre Wurzeln, um uns inmitten der<br />
Herausforderungen von Verschiedenheit und Verstehensdefiziten<br />
behaupten zu können. Das Leben in dieser Welt<br />
fordert den Umgang mit Differenz, Komplexität und Fremdheit,<br />
es fordert die Fähigkeit, Anderssein mit Sympathie und<br />
Offenheit wahrzunehmen und das Fremde als Bereicherung<br />
und nicht als Bedrohung zu werten.<br />
Gibt es eine europäische Identität und hat sie mit Werten zu tun?<br />
Wenn wir Kultur definieren als das Regelwerk, wie wir miteinander<br />
und mit unserer Umwelt umgehen, dann sind es<br />
Werte, die dieses Regelwerk, die geistigen und sozialen Koordinaten,<br />
bestimmen. Diese Werte haben sich über Jahrhunderte<br />
herausgebildet aus religiösen Wurzeln und Einflüssen,<br />
aus dem Kommunikationstransfer der Künste und<br />
aus staatspolitischen Grundsätzen, wobei in Europa die Aufklärung<br />
die entscheidenden Staatswerte geprägt hat. Die<br />
Freiheit des Individuums schließt Gleichheit, Mündigkeit gegenüber<br />
Staatsmacht und Kirchenmacht ein und unter dem<br />
Begriff der ‚Brüderlichkeit/fraternité‘ auch Solidarität, Respekt<br />
vor dem anderen und Toleranz. Dieses historisch gewachsene<br />
Verständigungsnetzwerk quer durch die europäischen<br />
Gesellschaften hindurch hat eine europäische<br />
Identität ausgeprägt, die eine mehrdimensionale ist und Vielfalt<br />
unabdingbar einschließt. Es geht um die Kohärenz in der<br />
Vielfalt und um Toleranz der Verschiedenheit gegenüber.<br />
Europa<br />
Vier Fragen an Christina Weiss<br />
26<br />
<strong>Spielzeit</strong> <strong>2011</strong>/<strong>12</strong><br />
Wann begann sich ein europäisches Bewusstsein zu entwickeln?<br />
Dieses europäische Bewusstsein ist ein kulturell geprägtes:<br />
es begann mit den wechselseitigen religiösen Einflüssen und<br />
Auseinandersetzungen zwischen Islam, Judentum und<br />
Christentum und es formte sich besonders mit dem Kulturtransfer,<br />
der sich vor allem in der Zeit der Renaissance quer<br />
durch Europa ausbreitete. Der Humanismus war eine der<br />
ersten großen geistigen Bewegungen in Europa. Der Austausch<br />
von Künstlern und Wissenschaftlern in Europa war<br />
selbstverständlich und intensiv. Die europäischen Fürstenhäuser<br />
betrieben diesen Austausch mit aktiver, grenzüberschreitender<br />
Einladungspolitik, die Kultur avancierte im 16.<br />
Jahrhundert zum großen Geschäft. Die Mobilität war damals<br />
für die geistige Elite eine Selbstverständlichkeit. Auf dieser<br />
Basis konnte sich das europäische Selbstbewusstsein entfalten,<br />
ohne die nationalen und regionalen Eigenheiten aufzugeben.<br />
Spielen die Künste eine besondere Rolle?<br />
Die Entwicklung der Kunst als freie, kreative Meinungsäußerung<br />
des Subjekts hat großen Anteil an der Entwicklung<br />
eines europäischen Selbst-Bewussteins. Dahinter verbirgt<br />
sich das Freiheitsrecht auf künstlerische Äußerung, auf Visionsentfaltung<br />
und subjektiven Kommentar zur Weltsicht.<br />
Die Erfahrung von Kunst trainiert eine geistige und emotionale<br />
Offenheit.<br />
Ich will gerade im Bezug auf die Kunst einen der ersten Theoretiker<br />
der Demokratie als Staatsform zitieren, John Stuart<br />
Mill formuliert einen demokratischen Auftrag, für dessen<br />
Erfüllung die Erfahrung der Pluralität in den Künsten die<br />
beste Garantie ist: „Die Menschheit verliert die Fähigkeit,<br />
für Verschiedenheit empfänglich zu sein, wenn sie nicht anfängt,<br />
die Vielfalt in sich selber zu fördern.“<br />
Die Begegnung mit einem Kunstwerk fordert immer dazu<br />
auf, die Grenzen der bislang gemachten Erfahrungen zu<br />
überschreiten und sich auf eine neue Weltsicht einzulassen,<br />
immer wieder neue Lesarten zu probieren.<br />
Die Veranstaltungen<br />
Europa – von der Zweck- zur Wertegemeinschaft?<br />
Christina Weiss, Staatsministerin für Kultur a. D.<br />
Navid Kermani, Schriftsteller, Hannah-Arendt Preisträger <strong>2011</strong><br />
(angefragt für key note)<br />
Marek Prawda, seit 2006 Botschafter<br />
der Republik Polen in Berlin<br />
Joachim Gauck, DDR-Bürgerrechtler, Börnepreisträger <strong>2011</strong><br />
Dagmar Reim, Intendantin Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb)<br />
Sibylle Lewitscharoff, deutsch-bulgarische Schriftstellerin,<br />
Kleist-Preisträgerin<br />
Wolfgang Schmale, Ordinarius für Neueste Geschichte,<br />
Universität Wien, Autor von ‚Geschichte und Zukunft<br />
der Europäischen Identität‘<br />
23. Oktober, <strong>12</strong>–14 Uhr, <strong>Deutsches</strong> <strong>Theater</strong><br />
Deutschland vor der Wahl:<br />
Einwanderungsland oder Auswanderungsgesellschaft?<br />
Klaus J. Bade, Migrationsforscher und Publizist<br />
(Bericht ‚Migrationsland Deutschland‘)<br />
Vural Öger, Unternehmer und Mitglied des Europäischen<br />
Parlaments (MEP/SPD)<br />
Armin Nassehi, Soziologe und Autor von<br />
‚Gesellschaft verstehen‘<br />
Memet Kilic, Integrationspolitischer Sprecher der Grünen<br />
Pascala Hugues, Journalistin und Schriftstellerin (angefragt)<br />
3. November, 18–20 Uhr, Allianz Forum<br />
dt-<strong>Magazin</strong> - <strong>Ausgabe</strong> 1<br />
27<br />
<strong>Spielzeit</strong> <strong>2011</strong>/<strong>12</strong><br />
Was heißt hier eigentlich ‚Zigeuner‘? –<br />
Wie Europa mit seiner größten Mindertheiten umgeht<br />
Marion von Haaren, ARD-Korrespondentin Brüssel<br />
Vivianne Reding, Vizepräsidentin der Europäischen Kommission<br />
und EU-Kommissarin für Justiz, Grundrechte und Bürgerschaft<br />
Herta Müller, Nobelpreisträgerin für Literatur 2010<br />
Lívia Járóka, EP-Abgeordnete, Berichterstatterin des<br />
Ausschusses für die Roma-Strategie<br />
Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats<br />
Deutscher Roma und Sinti<br />
Klaus-Michael Bogdal, Literaturwissenschaftler und Autor von<br />
‚Deutschland erfindet die Zigeuner‘<br />
10. November, 18–20 Uhr, Allianz Forum<br />
Sanftes Monster Brüssel? –<br />
Wieviel Regulierung braucht Europa?<br />
Hermann Rudolph, Herausgeber ‚Der Tagesspiegel‘<br />
Hans Magnus Enzensberger, Schriftsteller, Autor von ‚Sanftes<br />
Monster Brüssel oder Die Entmündigung Europas‘<br />
Günter Verheugen, Kommissar für Industrie<br />
und Unternehmenspolitik (2004–2010) und europäischer<br />
Vorsitzender des Transatlantischen Wirtschaftsrates<br />
Uwe Corsepius, Generalsekretär des Rates der Europäischen<br />
Union (angefragt)<br />
Frank Schäffler, FDP-Bundestagsabgeordneter (angefragt)<br />
27. November, <strong>12</strong>–14 Uhr, <strong>Deutsches</strong> <strong>Theater</strong><br />
In Zusammenarbeit mit der
Konzert<br />
Edda Magnason<br />
Eine einzigartige und poetische Mischung aus Jazz, Folk und<br />
Pop präsentiert die Pianistin, Sängerin und Songwriterin Edda<br />
Magnason. Im ländlichen Südschweden aufgewachsen, hat das<br />
junge Multitalent gerade das zweite viel gelobte Album ‚Goods‘<br />
herausgebracht und tourt u.a. als Vorband von Nouvelle Vague<br />
durch Deutschland. Mit brillantem Pianospiel und Gesang entführt<br />
sie ihr Publikum in andere Realitäten, erzählt magische<br />
Geschichten aus dem Alltag und von fremden Welten.<br />
14. Oktober <strong>2011</strong> in der Bar<br />
Slapstick mit Buster Keaton,<br />
Charles Chaplin u. a.<br />
Ein Stummfilmabend mit Klavier und Elektrobeats<br />
Fliegende Torten, Bananenschalen und Stürze in allen Varianten:<br />
Nie wieder in der Filmgeschichte wurde mit solcher Lust<br />
und Virtuosität die Tücke des Objekts und die Fehlbarkeit des<br />
menschlichen Körpers gefeiert wie im Stummfilm. Trotzdem ist<br />
dieser Zweig des Kinos lange in der Fernseh-Klamottenkiste gelandet.<br />
43Characters holen ihn nun wieder hervor und präsentieren<br />
einen Slapstick-Abend mit allerhand weltberühmten und<br />
anonymen Meistern des gekonnten Hinfallens und Tortenwerfens.<br />
Ein Abend im Zeichen der Schadenfreude, der angewandten<br />
Akrobatik und der Musik.<br />
Mit: Dietrich Brüggemann, Hannes Gwisdek und Lars Künstler<br />
27. Oktober <strong>2011</strong> in der Bar<br />
Specials<br />
Ein Projekt des Jungen <strong>DT</strong><br />
Was brauchen wir?<br />
Präsentation Herbstcamp <strong>2011</strong><br />
Auswege. Ein Bett. Chaos. Dinge. Energie. Fragen. Geschichten. Herz. Identifikation. Jemand, der uns sagt, wo’s lang geht. Kollektive.<br />
Luxus. Musik. Nicht viel. Offenheit. Perspektiven. Qualität. Raum. Stimme. <strong>Theater</strong>. Umwege. Visionen. Wahrheit. Zuhause.<br />
Was brauchen wir? Das junge <strong>DT</strong> wollte es wissen und hat Jugendliche, Künstler und Experten ins Herbstcamp eingeladen und um Antworten<br />
gebeten. Zehn Tage lang wurde in sechs Camps <strong>Theater</strong> gespielt, wurden Räume gebaut, Bilder produziert und Musik gemacht. Jetzt öffnet<br />
der ‚Zeltplatz der Visionäre‘ für das Publikum. In den Kammerspielen, in Box&Bar und an ungewöhnlichen Orten im und ums <strong>DT</strong> herum zeigen<br />
wir Werkstattaufführungen und Präsentationen. Im Saal gibt das Junge <strong>DT</strong> erstmals Einblicke in das Kinderzimmer, das uns die ganze <strong>Spielzeit</strong><br />
begleiten wird. Künstler: Krista Burger, Bildende Künstlerin; Uwe Gössel, Dramaturg; Suzanne J. Hensel, Hörspielautorin; Uli Jäckle, Regisseur;<br />
Juliane Kann, Autorin; Christina Lagao, Sängerin; Christian Lagé, Designer; Anca Munteanu Rimnic, Bildende Künstlerin/Regisseurin; David<br />
Roesner, Musiker; Carsten Schneider, Hörspielautor; Tanja Spinger, Regisseurin.<br />
16. Oktober <strong>2011</strong> in den Kammerspielen<br />
Das ‚Kinderzimmer‘ wird ermöglicht durch die<br />
28<br />
<strong>Spielzeit</strong> <strong>2011</strong>/<strong>12</strong><br />
Hans Schleif<br />
Eine Spurensuche<br />
von Matthias Neukirch und Julian Klein<br />
„Nun wird’s wohl klappen, wie immer in wirklich guten Zeiten<br />
siegt die Tugend!“ Hans Schleif war Architekt und Archäologe,<br />
renommierter Wissenschaftler, Professor für antike Baukunst,<br />
Familienvater und ranghohes Mitglied der SS. Sein Enkel<br />
Matthias Neukirch, Ensemblemitglied am Deutschen <strong>Theater</strong>,<br />
begibt sich auf die Suche nach seinem Großvater. Er möchte wissen,<br />
wieviel er gewusst haben muss. Er beginnt eine Recherche<br />
in Dokumenten, Archiven und den Erinnerungen von Zeitzeugen<br />
und seiner Mutter, die ihn mitten in die Gegenwart führt.<br />
Box-Extra: 13. und 31. Oktober <strong>2011</strong> in der Box<br />
Matthias Neukirch<br />
© Arno Declair<br />
Boualem Sansal<br />
‚Das Dorf des Deutschen‘<br />
Lesung und Gespräch<br />
Boualem Sansal, Friedenspreisträger <strong>2011</strong>, spricht mit Thierry<br />
Chervel (Perlentaucher) über den ‚Arabischen Frühling‘ und<br />
seine Romane. Er hinterfragt die heutige Realität Algeriens, um<br />
Lösungen für ein Zusammenleben in demokratischen Verhältnissen<br />
zu finden. Das Ensemble des Deutschen <strong>Theater</strong>s präsentiert<br />
mit einer szenischen Lesung sein Buch ‚Das Dorf des<br />
Deutschen‘. „Dem Humanisten Sansal geht es um die Wahrheit<br />
– und er weiß, dass die nur in jenen Grauzonen zu finden ist, wo<br />
Schwarz und Weiß sich nicht mehr trennen lassen. Ein sprachlich<br />
so eleganter wie inhaltlich verstörender Roman“<br />
(Neue Züricher Zeitung).<br />
20. Oktober <strong>2011</strong> im Deutschen <strong>Theater</strong><br />
In Kooperation mit dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels<br />
Specials<br />
Alice Schwarzer<br />
liest aus ihrer Autobiografie ‚Lebenslauf‘<br />
Es gibt wohl kaum eine Person des öffentlichen Lebens in Deutschland, die über Jahrzehnte in einem solchen Übermaß Bewunderung<br />
und Aggressionen erfahren hat wie Alice Schwarzer. Sie ist die Stimme in Deutschland für die Rechte der Frauen. Zugleich<br />
ist sie eine der herausragendsten Journalistinnen und Essayistinnen des Landes, Autorin zahlreicher Bestseller und Blattmacherin.<br />
Ihre Leidenschaft, ihre Konfliktfähigkeit und ihr kämpferischer Elan sind Legende. Ein autobiografisches Buch über ihren eigenen<br />
Lebensweg jedoch gab es bisher nicht. In großer Offenheit schreibt sie nun über das, was sie geprägt hat.<br />
23. September <strong>2011</strong>, 20 Uhr im Deutschen <strong>Theater</strong><br />
Amerika<br />
nach Franz Kafka<br />
Kafkas Amerika wird für den Auswanderer Karl Rossmann nicht<br />
zum Land der unbegrenzten Möglichkeiten, sondern zu einer Welt<br />
des permanenten sozialen Abstiegs, in der er anstelle von Zugehörigkeit<br />
die ständige Wiederholung seiner Vertreibung erfährt. Zukunftsweisend<br />
schildert Kafka zu Beginn des 20. Jahrhunderts die<br />
Elemente der Moderne, hektische Arbeit und den niemals versiegenden<br />
Fluss des Verkehrs. Die Alptraumreise, auf die uns Regisseur<br />
Bastian Kraft in dem Gastspiel des Hamburger Thalia <strong>Theater</strong>s<br />
mitnimmt, ist Fantasma und Erleben eines einzigen Schauspielers.<br />
Regie: Bastian Kraft, Bühne: Peter Baur. Es spielt: Philipp Hochmair<br />
26./27./28. Oktober <strong>2011</strong> in der Box<br />
Gefördert von der Ilse und Dr. Horst Rusch-Stiftung<br />
29<br />
<strong>Spielzeit</strong> <strong>2011</strong>/<strong>12</strong><br />
Alexander Osang und Anja Reich<br />
lesen aus ihrem gerade erschienenen Buch‚<br />
,Wo warst Du? – Ein Septembertag in Berlin‘<br />
Sie sind Korrespondent in New York und haben gerade eine Jahrhundertkatastrophe<br />
überlebt. Ein paar Meilen weiter wartet<br />
Ihre Frau mit den Kindern auf ein Lebenszeichen – wen rufen<br />
Sie an? Richtig: die Redaktion.<br />
So ist über den 11. September noch nie berichtet worden: persönlich,<br />
berührend und manchmal sogar komisch. Alexander<br />
Osang, damals Spiegel-Korrespondent, erzählt von seiner Odyssee<br />
durch das geschockte New York. Seine Frau und Kollegin<br />
Anja Reich sieht die schwarzen Wolken aus Manhattan auf ihr<br />
Haus in Brooklyn zukommen. Sie durchlebt diesen Tag mit den<br />
Kindern und Nachbarn in der Straße ganz anders, nicht weniger<br />
dramatisch – und ohne Nachricht von ihrem Mann.<br />
11. September <strong>2011</strong> im Deutschen <strong>Theater</strong><br />
Gastspiele vom Thalia <strong>Theater</strong> Hamburg und dem Staatsschauspiel Dresden<br />
© Armin Smailovic<br />
Die Insel<br />
von Athol Fugard<br />
Tom und Chris sind Zellnachbarn auf einer Gefängnisinsel. Zusammen<br />
verteidigen sie ihre Identität und Selbstachtung gegen<br />
die physischen und psychischen Repressalien der totalitären Umgebung.<br />
Die Wahl ihrer Waffen fällt dabei auf das <strong>Theater</strong>: „Das<br />
Zusammenspiel zweier, die aufeinander geworfen worden und<br />
sich in ihrer Verschiedenheit gegenseitig Halt geben, ist berührend,<br />
zum Teil sehr komisch und vor allem enorm kraftvoll.“ Sächsische<br />
Zeitung<br />
Regie und Ausstattung: Fabian Gerhard, Dramaturgie: Julia<br />
Weinreich, Es spielen: Thomas Schumacher und Christian Clauß<br />
29./30. Oktober <strong>2011</strong> in der Box<br />
© Daniel Koch
Natalia Belitski<br />
zu sehen in ,Trauer muss Elektra tragen‘<br />
Thomas Schumacher<br />
spielt in ‚Kleinbürger‘, ‚Das Schloss‘,<br />
‚Die Insel‘ (Gastspiel aus Dresden)<br />
Wir stellen vor:<br />
Neu im Ensemble<br />
Thorsten Hierse<br />
spielt in ‚Das Schloss‘<br />
30<br />
<strong>Spielzeit</strong> <strong>2011</strong>/<strong>12</strong><br />
Anita Vulesica<br />
zu sehen in ‚Über Leben‘ und<br />
‚Winterreise‘<br />
Kartentelefon: 030.28441-225<br />
Tickets online unter: www.deutschestheater.de<br />
Besuchen Sie uns auch bei: www.facebook.com/<strong>Deutsches</strong><strong>Theater</strong><br />
Kathleen Morgeneyer<br />
zu sehen in ‚Unschuld‘ und<br />
‚Die vier Himmelsrichtungen‘<br />
Impressum<br />
Herausgeber: <strong>Deutsches</strong> <strong>Theater</strong> Berlin, Schumannstraße 13a, 10117 Berlin, Intendant: Ulrich Khuon, Geschäftsführender Direktor:<br />
Klaus Steppat, Redaktion: Claus Caesar, Gaby Schweer, Gestaltung: Milena Fischer, Sabine Meyer, Zeichnungen: Tina Berning,<br />
Druck und Herstellung: agit-Druck, Berlin<br />
Medienpartner<br />
dt-<strong>Magazin</strong> - <strong>Ausgabe</strong> 1<br />
31<br />
<strong>Spielzeit</strong> <strong>2011</strong>/<strong>12</strong>
Tina Berning für<br />
,Winterreise‘ von Elfriede Jelinek