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ZEITSCHRIFT FUR PSYCHOLOGIE Die psychologischen ...

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Sonderdruckaus der<strong>ZEITSCHRIFT</strong> <strong>FUR</strong> <strong>PSYCHOLOGIE</strong>Band 162 (1958) Heft 3-4JOHANN AMBROSIUS BARTH, VERLAG, LEIPZIGPrintedin Germany<strong>Die</strong> <strong>psychologischen</strong> Anschauungen L. S. WYGOTSKISvonA. N. LEONTJEWund A. R. LURIA.!)<strong>Die</strong> jetzt in einem Band veroffentlichten ausgewahlten <strong>psychologischen</strong>Forschungsarbeiten WYGOTSKIS(1896-1934) spiegeln eine wichtigeEtappe in der Entwicklung der sowjetischen Psychologie wider. <strong>Die</strong>Psychologie jener Zeit entwickelte sich zu einer Wissenschaft, die bewuBtauf der Grundlage der marxistischen Philosophie fuBte. Wy-GOTSKISBeitrag bestand darin, daB er die historische Behandlung derEntwicklung der psychischen Prozesse des Menschen in die sowjetischepsychologische Wissenschaft einfuhrte und fur die Schaffung einer konkreten<strong>psychologischen</strong> BewuBtseinstheorie eintrat. Gleichzeitig untersuchteer auf experimenteller Basis eingehend die Entwicklung der Begriffsbildungbei Kindem, um die komplizierte Frage nach dem Wechselverhaltniszwischen Unterrichtung und geistiger Entwicklung des Kindeszu klaren,Wir vermogen diesen Beitrag nur dann richtig einzuschatzen, wennwir die historische Entwicklung der sowjetischen pyschologischen Wissenschaftund die Grundlage ihrer Entwicklung beriicksichtigen; daher wirdes angebracht sein, daB wir uns mit ihrer Geschichte befassen und untersuchen,auf welcher Grundlage sich die Anschauungen WYGOTSKIl:l entwickelten.1) Einleitung zu: Ausgewahlte psychologische Forschungsarbeiten L. S.WYGOTSKIS.Moskau 1956. (Ubers.: K. Schinski.)<strong>Die</strong> Wiederveroffentlichung einer Auswahl der Schriften L. S. WYGOTSKISstellt eine wertvolle Bereicherung der <strong>psychologischen</strong> Weltliteratur dar. Dereinleiende Artike! iiber die <strong>psychologischen</strong> Anschauungen WYGOTSKISvonA. N. LEONTJEW und A. R. LURIA, den wir hier in Ubersetz ung bringen, verdientbesondere Aufmerksamkeit, weil er in historischer Perspektive eine kritischeWiirdigung des wissenschaftlichen Denkens von L. S. WYGOTSKIbringtund damit auch die Entwicklung der Psychologie in der UdSSR bis in dieGegenwart aufweist. Der Herausgeber.13 z. Psychologic 162


166 z. Psycho!. Ed. 162 Heft 3-4 (1958)1. Obwohl die materialistische Auffassung von der psychischen Tatigkeitdes Menschen in RuBland in der zweiten Halfte des 19. und zu Beginndes 20. Jahrhunderts durch die philosophischen Arbeiten der revolutionarenDemokraten, durch die Lehre SETSCHENOWSund PAWLOWSsowie durch die in die fuhrenden Kreise der russischen Intelligenz eingedrungenenIdeen des Marxismus eine solide wissenschaftliche Grundlageerhielt, nahm die Psychologie, die sich innerhalb der offiziellenrussischen Wissenschaft vor der Revolution entwickelte, durchweg eineidealistische Position ein.Sie betrachtete die psychischen Phanomene alsrein subjektive Erscheinungen, in denen ein spezielles, nichtmateriellesElement zutage tritt und deren Erkenntnis grundsatzlich nur auf demWege der "inneren Erfahrung", der Selbstbeobachtung, moglich ist. <strong>Die</strong>groBen Erfolge, die P AWLOWund seine Mitarbeiter in jenen J ahren beider Erforschung der hoheren Nerventatigkeit erzielten, wurden von denVertretern dieser Psychologic bestenfalls als wissenschaftliche Ergebnissebezeichnet, die nicht direkt zum Verstandnis des Wesens derPsyche fuhren ; man bezeichnete es nicht als Aufgabe der <strong>psychologischen</strong>Forschung zu untersuchen, wie das BewuBtsein des Menschen imRahmen der Entwicklung seiner Tatigkeit , die durch die gesellschaft,lichen Lebensbedingungen bestimmt wird, entsteht.Selbst die fortschrittlichsten Vertreter der experimentellen Psychologiein RuBland unmittelbar vor der Oktoberrevolution, wie z. B.N. N. LANGE,dem das Verdienst gebiihrt, die exaktesten <strong>psychologischen</strong>Forschungen jener Zeit durchgefiihrt zu haben, konnten die Anschauungender subjektiven Psychologie nicht iiberwinden.<strong>Die</strong>se Situation anderte sich erst in den Jahren nach der Revolution.Jene gewaltigen Fortschritte auf allen Gebieten des Lebens, die durchdie sozialistische Revolution und den Sieg der marxistisch.IeninistischenWeltanschauung erzielt wurden, muBten sich selbstverstandlich auch aufdie psychologisclie Wissenschaft erstrecken. Bereits in den ersten Jahrender Sowjetmacht fuhrte der revolutionar gesinnte Teil der Psychologeneinen erbitterten Kampf gegen den Idealismus, der die Grundlage derPsychologie jener Zeit bildete. Das kam besonders deutlich zu Beginnder 20er Jahre bei der Auseinandersetzung mit der idealistischen PsychologieG. 1. TSCHELPANOWS zum Ausdruck, des Griinders und Leiters desin der damaligen Zeit einzigen <strong>psychologischen</strong> Instituts in RuBland, dasder Moskauer Universitat angegliedert war. Zur Gruppe der jungenPsychologen, die sich bald um K. N. KORNILOWscharten, der diesenKampf leitete, gehorte auch L. S. WYGOTSKI.


A. X. LEOKTJEW u. A. R. LURIA, Psycho!. Anschauungen WYGOTSKIS 167<strong>Die</strong>se Auseinandersetzung fuhrte zu einer ideologischen Entlarvungder idealistischen introspektiven Psychologie, deren wissenschaftlicheUnzulanglichkeit aufgewiesen wurde. Doch die Versuche, ein Systemkonkreter psychologischer Kenntnisse auf einer neuen, marxistischenphilosophischen Grundlage zu schaffen, wurden damals noch durch diealten metaphysischen Vorstellungen vereitelt.Weder der in dieser Zeit erschienene "AbriB der wissenschaftlichenPsychologie" yon P. P. BLONSKI(1921), der die Vorstellung yon derPsychologie als einer Wissenschaft des Verhaltens entwickelte, noch die .Monographie "<strong>Die</strong> Reaktionslehre" (PeaRTOJIOrIHI)yon K. N.KOR ILOW(1922), in der die Forderung nach dem Studium der Reaktionen desMenschen erhoben wurde, vermochten im Grunde genommen die Ansichtendgultig zu widerlegen, daB die psychischen Erscheinungen objektivgrundsatzlich nicht zu erkennen seien. <strong>Die</strong> Autoren, die die Forderungen nach einer konsequenten materialistischen Auffassung yon derPsyche und einer streng objektiven Methodik zum Studium der Psycheals Grundforderungen an die Psychologie stellten, irrten sich jedoch, alssie die Ansicht vertraten, diese Forderungen konnten durch den faktischen Verzicht auf die objektive psychologische Erforschung des menschlichenBewuBtseins verwirklicht werden.<strong>Die</strong> einen betrachteten die Psychologie als Wissenschaft vom auBerenVerhalten, deren Aufgabe keinesfalls darin bestunde, das BewuBtsein zuerforschen; die anderen meinten, die sowjetische Psychologie habe dieAufgabe, das Studium del' Reaktionen mit den Ergebnissen del' altensubjektiv-empirischen Psychologie zu verbinden, und sahen in dieser"Synthese" die Grundlage fur die Entwicklung der marxistischen<strong>psychologischen</strong> Wissenschaft.Del' Grundsatz vom gesellschaftlichen Charakter des menschlichen BewuBtseins,wie ihn MARXformuliert hat, fand bei der konkreten Erforschungder <strong>psychologischen</strong> Prozesse keine Berucksichtigung, und diewesentlichen Ausgangspositionen del" alten, subjektiven Psychologiewurden praktisch in den Arbeiten diesel' Autoren unverandert beibehalten.Zwar war in den <strong>psychologischen</strong> Arbeiten dieser Zeit viel von del'sozialen Bedingtheit del' menschlichen Psyche die Rede, davon, daB dasVerhalten des Menschen durch seine Klassenzugehorigkeit bestimmtwird; doch die konkreten Probleme, die sich mit del' Herausbildung derPsyche innerhalb der Wechselbeziehungen zwischen dem Menschen undseiner gesellschaftlichen Umwelt befassen, wurden noch nicht praktischgelost ..13'


168 z. Psycho!. Bd. 162 Heft 3-4 (1958)Dennoch besteht kein Zweifel, daB gerade diese Periode, die die20er Jahre unseres Jahrhunderts umfaBt (1921-1927), fur die Entwicklungder <strong>psychologischen</strong> Wissenschaft von groBer Bedeutung war.Namentlich in diesen J ahren zeigten sich bewuBte Bestre bungen zurSchaffung einer marxistischen Psychologie, wurden die entscheidendstenLeitsatze entwickelt, die in der Folgezeit die Ausgangsbasis fur uberauswichtige Forschungsarbeiten bildeten, die die sowjetische Wissenschaftvon den psychischen Prozessen des Menschen bereicherten.<strong>Die</strong> erste und wichtigste Aufgabe jener Zeit bestand darin, sich einerseitsvon der vulgaren Verhaltenslehre und andererseits von der subjektivistischenAuffassung der psychischen Erscheinungen als ausschlieBlichinnere subjektive Zustande, die lediglich introspektiv zu erforschensind, zu losen, <strong>Die</strong> in den folgenden J:ahren innerhalb dersowjetischen Psychologie einsetzende Auseinandersetzung wurde somitvor allem zum "Kampf fur das BewuBtsein", fiir ein objektives Studiumdes in psychologischer Hinsicht spezifischen Menschen, fur eine historischeBehandlung der psychischen Erscheinungen una Prozesse. Indieser Auseinandersetzung spielte L. S. WYGOTSKIeine bedeutende Rolle.2. WYGOTSKIwar einer der ersten sowjetischen Autoren, der dieWichtigkeit des BewuBtseins fur eine konsequente materialistischePsychologie richtig einsohatzte. In einem seiner fruhen Aufsatze (1925)schrieb er: "Indem die Psychologie das Problem des BewuBtseinsignoriert, versperrt sie sich selbst den Zugang zur Erforschung komplizierterProbleme des menschlichen Verhaltens, und die Elimination desBewuBtseins aus der Sphare der wissenschaftlichen Psychologie hat instarkem MaBedie Beibehaltung des ganzen Dualismus und Spiritualismusder friiheren subjektiven Psychologie zur Folge." Das Problem des BewuBtseinswurde zum Mittelpunkt seiner konkreten <strong>psychologischen</strong>Forschungen, die bereits von neuen Positionen ausgingen: den Positionender historischen Behandlung der menschlichen Psyche.<strong>Die</strong> Aufgabe, vor der sich WYGOTSKI sah, forderte nicht nur einen Verzichtauf die Position en der sog. "Verhaltenslehre", sondern auch dieUberwindung der alten idealistischen Lehre vom BewuBtsein als einer besonderen,in sich geschlossenen Welt rein subjektiver Erscheinungen. EsmuBten also im Leben selbst, in den Lebensbedingungen des Menschenjene konkreten Bedingungen gefunden werden, die die spezifische Formseiner Psyche, sein BewuBtsein, hervorgebracht haben.Schon im Jahre 1927 unternahm WYGOTSKIden Versuch, sich vomhistorischen Standpunkt aus mit dem EntstehungsprozeB der mensch-


A. N. LEONTJEW U. A. R. LURIA, Psycho!. Anschauungen WYGOTSKIS 169lichen Psyche zu befassen und entwickelte jene Gedanken, die fur eineReihe seiner weiteren Forschungen bestimmend waren.Der Mensch gestaltet sein Leben im Rahmen des Arbeitsprozesses,der sich unter Zuhilfenahme des Werkzeuges vollzieht. <strong>Die</strong> Tatigkeit desMenschen unterscheidet sich dadurch von der des Tieres, daB sie zumerstenmal materiellen Charakter annimmt und mittelbar gesellschaftlicherArt ist. "Innerhalb der <strong>psychologischen</strong> Entwicklung", schriebWYGOTSKI,"beginnt mit dem Augenblick; wo das Werkzeug in Anwendungkommt, der gleiche Umschwung wie im Entwicklungsbereichder biologischen Assimilation". Somit ist die Entwicklung der menschlichenPsyche eine "Entwicklung, die in der Hauptsache nicht durchdie Gesetze der biologischen Evolution bedingt ist, sondern durch dieGesetze der historischen Entwicklung der Gesellschaft".Worin besteht nun eigentlich die Vermenschlichung der psychischenProzesse, und wie ist der Verlauf ihrer gesellschaftlich-historischen Entwicklung?<strong>Die</strong> Hypothese WYGOTSKIS,die seinen weiteren Arbeiten zugrundeliegt, bestand in der Annahme, daB sich die psychischen Prozesse beimMenschen genauso verandern wie die Formen seiner praktischen 'I'atigkeit,mit anderen Worten, daB sie "mittelbar 1 )" werden. Gerade durchden Gebrauch von Werkzeugen und anderen Hilfsmitteln, gerade durchdiese mittelbare Beziehung zu den Existenzbedingungen unterscheidetsich die psychische 'I'atigkeit des Menschen grundlegend von derpsychischen 'I'atigkeit des Tieres. Doch wodurch werden diese Prozessebedingt und folglich bestimmt t <strong>Die</strong> Arbeitsinstrumente gehoren selbstverstandlichnicht zum Problembereich des Psychologischen und konnenauch nicht in die Struktur der psychischen Prozesse mit einbezogen werden.Folglich mussen besondere "HilfsmittEd der geistigen Produktion"existieren, die sie beeinfiussen. Der Mensch veretandigt sich mit Hilfeder Sprache und benutzt mathematische Zeichen, er verwendet, um sichetwas einzupragen, mnemotechnische Mittel usw. Das erste und wichtigsteder gesellschaftlich entwickelten Mittel aber ist die Sprache, dienach den Worten von MARXdas "realeBewuBtsein" des Menschen darstellt.Das heiBt aber, nicht die materielle Produktion an sich, sondern dieaufihrer Grundlage entstehenden Formen der Beziehungen der Menschenzueinander und die durch die Entwicklung der Kultur der Gesellschafthervorgebrachten Produkte, die die 'I'a.tigkeit des Menschen bestimmen,1) "onocpeJ:\CTBoBaHHhlt\" im Sinne von: abhiingig von Veriinderungen.


170 Z. Psycho!. Ed. 162 Heft 3-4 (1958)formen seine Psyche. Darum hat WYGOTSKIseine psychologische Konzeptionzuerst als kulturhistorische Theorie von der Psyche bezeichnet,die er sowohl der idealistischen Auffassung von den psychischen Prozessenals inneren ursprunglichen Merkmalen der Psyche als auch den naturalistischenKonzeptionen gegeniiberstellt, die zwischen dem Verhaltendes Tieres und der psychischen Tabigkeit des Menschen keinen wesentlichenUnterschied sahen. <strong>Die</strong>se Entwicklungstheorie der psychischenProzesse WYGOTSKISweist eine Reihe ernsthafter Mangel auf, diewiederum mit der ungeniigenden Beriicksichtigung der formenden Rolleder praktischen 'I'atigkeit des Menschen bei der Entwicklung des BewuBtseinszusammenhangen. Sie stellt die ihrem Charakter nach gesellschaftlichenFormen der bewuBten 'I'atigkeit den anderen, gewissermaBen"natiirlich entstandenen" psychischen Prozessen in krasser Formgegeniiber. Dennoch bedeutete diese Entwicklungstheorie in jener Zeiteinen wichtigen Schritt vorwarts und spielte ihrerseits eine positiveRolle bei der Entstehung der materialistischen Lehre von der psychischen'I'atigkeit des Menschen.Bei seinem Bestreben, jene Formen der psychischen Tatigkeit zuanalysieren, die im historischen EntwicklungsprozeB des Menschen entstandensind, richtete WYGOTSKIsein besonderes Augenmerk auf jeneRolle, die die Benutzung von Werkzeugen im Kampf mit der auBerenNatur und die Verwendung von Hilfsmitteln (vor allem der Sprache) imVerkehr der Menschen untereinander spielte. Alle diese Mittel betrachteteWYGOTSKInicht nur als bei der gesellschaftlichen Entwicklung entstandeneMittel, die das Verhaltnis zur Wirklichkeit erkennen lassen,nicht nur als komplizierte Formen der Widerspiegelung der aulierenWelt, sondern gleichzeitig als grundlegende Methode zur Erwerbungjener psychischen Ablaufe, die einen entscheidenden EinfluB auf dieEntwicklung der psychischen 'I'a.tigkeit des Menschen ausiiben.<strong>Die</strong>se eigenartigen Werkzeuge der psychischen 'I'atigkeit des Menschenbesitzen ein sonderbares, ihnen eigenes Merkmal: sie entsprechenstets irgendeiner Erscheinung, sie haben stets eine Bedeutung. EinWort ohne Bedeutung ist im allgemeinen auch kein Wort; ein mathematisohesSymbol oder ein mnemotechnisches Zeichen, das nichts bedeutet,ist eben sinnlos. Somit hat eben alles, was die psychischen Prozessevermittelt, eine bestimmte Bedeutung, man bezeichnet es als"Symbol" (Zeichen). <strong>Die</strong>ser Terminus wird dann auch von WYGOTSKI imSinne von "Bedeutung haben" benutzt, wobei er fur ihn keinen erkenntnistheoretischen,sondern einen <strong>psychologischen</strong> Sinn besitzt.


A. N. LEONTJEW U. A. R. LURIA, Psycho!. Anschauungen WYGOTSKIS 171Der Mensch verandert, indem er sich der Hilfsmittel und Symbole bedient(er macht sich zum Beispiel einen Knoten in das Taschentuch oderschneidet eine Kerbe in einen Gegenstand, urn sich an etwas zu erinnern),zwar die auBeren Dinge, doch diese Veranderungen wirken dann wahrendder weiteren 'I'atigkeit auf seine inneren psychischen Prozesse ein. Indemer die Umwelt verandert, lernt er sein eigenes Verhalten meistern, seinepsychischen Prozesse lenken. So erklart sich auch, warum WYGOTSKIeinem seiner Bucher den bekannten Ausspruch als Epigraph voranstellte:"Natura parendo vincitur", worunter er verstanden wissenwollte: "Indem wir uns der Natur bemachtigen, bemachtigen wir unsauch unserer selbst." Und er fugte unmittelbar den Ausspruch BACONShinzu: "Nec manus, nisi intellectus, sibi permissus, multum valent: instrumentiset auxilibus res perficitur."Gerade der funktionelle Charakter der psychischen Prozesse, der es demMenschen gestattet, die Umwelt zu verandern und gleichzeitig auch seineigenes Verhalten zu meistern, verleiht seinem Betragen das Merkmaldes Vernunftbetonten und Freien und unterscheidet die bewuBte Tatigkeitgrundlegend von den elementareren Formen des psychischenLebens. <strong>Die</strong> psychologische Behandlung des Problems des BewuBtseinsmuB also mit dem Studiumder Entwicklungsgesetze der hoheren vermitteltenpsychischen Prozesse beginnen. Den theoretischen Wert diesesWeges in der Psychologie sah WYGOTSKIin der - wie es damalsschien - neuerkannten Moglichkeit, in der konkreten Forschung mitder Vorstellung vom BewuBtsein als einer in sich geschlossenen besonderengeistigen Gegebenheit zu brechen. <strong>Die</strong>se Ansicht entsprang derAuffassung, daB das BewuBtsein als spezifisch menschliche Form derWiderspiegelung durch auliere, nicht im BewuBtsein selbst liegendeBedingungen und durch komplizierte gesellschaftliche Formen der praktischenTatigkeit entsteht. In der Tat ist ein Wort wie "Kerbholz" oder"peruanische Quina" kein nur psychologischer Begriff. Es entsteht beider Auseinandersetzung mit der Natur, in der gesellschaftlichen Praxisund ist eine Erscheinung der objektiven Wirklichkeit, die unabhangigvom individuellen BewuBtsein des Menschen existiert.<strong>Die</strong> systematischen Forschungsarbeiten, wie sie von WYGOTSKIundseinen Mitarbeitern durchgefuhrt wurden, ermoglichten es, einige allgemeineGesetzmaBigkeiten der psychischen Entwicklung des Menschenzu erkennen. <strong>Die</strong> erste bestand darin, daB die vermittelten psychischenProzesse, die fur den Menschen kennzeichnend sind, nur im Verlauf dergemeinsamen 'I'atigkeit der Menschen, der Zusammenarbeit und des Verkehrsuntereinander auftreten und auftreten konnen, Denn jedes


172 Z. Psycho!. Bd. 162 Heft 3-4 (1958)psychologische "Mittel" wird zuerst vom Menschen fur einen anderengeschaffen, und erst dann verwendet er es, um seine eigenen psychischenProzesse zu meistern. So dienten die Wegzeichen urspriinglich dazu, umden iibrigen Angehorigen des eigenen Stammes den Weg kenntlich zumachen, und galten in zweiter Linie erst der eigenen Orientierung; jaselbst die menschliche Sprache konnte sich natiirlicherweise nur dadurchentwickeln, daB sich ein Mensch mit dem anderen verstandigte. Erstspater wurden diese Formen des menschlichen Verkehrs zu Organisationsformender eigenen 'I'atigkeit des Menschen, und - um die WorteWYGOTSKISzu gebrauchen - die Funktion, die zwischen zwei Menschenverteilt war, wurde zur inneren <strong>psychologischen</strong> Funktion eines Menschen.In unmittelbarer Verbindung damit steht auch die allgemeine Gesetz.maliigkeit der psychischen Entwicklung des Menschen: die neue, fur denMenschen spezifische Struktur der psychischen Prozesse muB sich zuerstbei seiner auBeren 'I'atigkeit entwickeln und kann erst dann "auf dasInnere iibergehen", zur Struktur seiner inneren Prozesse werden. Soandern beispielsweise die Prozesse des Gedachtnisses zum erstenmal ihreStruktur, wenn der Mensch sich irgendeine auBere Gedachtnisstuteeschafft, die ihn an etwas erinnern soll ; hierauf lernt er dann, sich selbstandigan etwas zu erinnern, es nur "im Kopf" zu behalten - die Prozessedes mittelbaren Erinnerns nehmen bei ihm jetzt durchweg dieFormen von inneren psychischen Prozessen an.<strong>Die</strong> Analyse dieser Tatsache fiihrt zu einer weiteren These, die besondersfur die genetische Analyse der Hauptformen der psychischenTatigkeit von groBer Bedeutung ist. Sie zeigt, daB zwischen dem Aufbauder psychischenProzesse und ihrerVerbindung untereinander in doppelterHinsicht eine Abhangigkeit besteht. Einerseits ist diese Verbindung eineFolge der neuen funktionalen Struktur, und andererseits mussen sich,wahrend sich die Verbindung zwischen den einzelnen Funktionen entwickelt,auch die Funktionen selbst verandern.Einem derartigen Schicksal sind bei ihrer Entwicklung zum Beispieldie Wahrnehmung, die Aufmerksamkeit und das Gedachtnis ausgesetzt.<strong>Die</strong> Wahrnehmung der Umwelt, die bei Sauglingen einen unmittelbarenCharakter aufweist und mit seinen unmittelbaren Bediirfnissen undAffekten in engstem Zusammenhang steht, wird allmahlich durch die aufdem Wege der Anschauung gewonnenen friiheren Erfahrungen beeinfluBt,wobei zwischen Wahrnehmung und Oedachtnis enge Beziehungen entstehen.Spater - mit zunehmender Sprechfertigkeit - beginnt die Wahrnehmungdann die Wirklichkeit differenzierter widerzuspiegeln; sie stiitzt


A. N. LEONTJEW u. A. R. LURIA, Psycho!. Anschauungen WYGOTSKIS 173sich dabei auf die Hauptfunktionen des Wortes - Abstraktion und Verallgemeinerung- und tritt in enge Beziehungen zu den Prozessen desDenkens. Das Entstehen solcher Besonderheiten der menschlichenWahrnehmung (ihr orthoskopischer und konstanter Charakter) kannnicht losgelost yon der komplizierten Entwicklungsgeschichte derwechselseitigen Verbindungen zwischen der Wahrnehmung und denanderen Seiten der psychischen Tatigkeit verstanden werden.Einer ahnlichen Veranderung innerhalb seines Entwicklungsprozessesist auch das Gedachtnis ausgesetzt.In den Anfangsetappen seiner Entwicklung ist es eng mit den unmittelbarenBedurfnissen und Affekten des Kindes verbunden und hathier den Charakter eines emotional- bildhaften Gedachtnisses ; spatersteht es dann mit der gegenstandlichen Wahrnehmung in Verbindungund verwandelt sich in ein konkretes bildhaftes Gedachtnis. SchlieBlichnimmt es, wahrend es sich zunehmend auf das Wort stutet, immer mehreinen mittelbaren Charakter an und entwickelt sich nach und nach zujenem komplizierten logischen Gedachtnis ; es verbindet sich mit demabstrakten Denken, und es entsteht das logische Gedachtnis,Das gleiche kann man auch yon der Struktur der menschlichen Aufmerksamkeitsagen.In allen diesen Fallen bedeutet die Entwicklung der sich auf irgendeinMittel stirtzenden, d. h. der mittelbaren psychischen Prozesse gleichzeitigauch die Entwicklung neuer Verbindungsformen der psychischen Prozesseuntereinander, neuer Formen der "interfunktionalen Beziehungen".<strong>Die</strong> neuen Formen der Tatigkeit des Kindes, die mit neuen Formen desVerkehrs und dem Gebrauch neuer Mittel in Verbindung stehen, werdenzum entscheidenden Faktor bei dem Entstehen eines neuen Systems derpsychischen Funktionen.Man wird unschwer erkennen, daB alle diese sekundaren, sich historischentwickelnden Verbindungen psychischer Funktionen im Gegensatz zuihren primaren, organischen Verbindungen, die im ProzeB der bio.logischen Evolution entstehen, sich gewisserma3en yon auBen her entwickeln,da der Mensch die objektiven gesellschaftlich entwickeltenArbeitsmittel und -verfahren zu meistern beginnt.Deshalb muB das Mittelbarwerden der psychischen Funktionen unbedingtzum Entstehen neuer Verbindungen und Wechselbeziehungenfiihren ; und gerade diese Wechselbeziehungen sind es, die die spezifischeBesonderheit des menschlichen BewuBtseills ausmachen. Das BewuBtseinist nicht einfach eine Art "Ebene " , durch welche die psychischenProzesse und Erscheinungen gewissermaBen hindurchflieBen; das Be-


174 Z. Psycho!. Ed. 162 Heft 3-4 (1958)wuBtsein, schrieb WYGOTSKI,hat einen systematischen Aufbau. Eswird charakterisiert durch die Verbindung und Wechselbeziehung dereinzelnen psychischen Funktionen, wobei die Besonderheiten dieser Verbindungenihrerseits die Besonderheiten del' einzelnen psychischen Prozessebestimmen. Will man folglich die Besonderheiten eines beliebigenpsychischen Prozesses des Menschen verstehen, so muf man von del'Analyse ihres Systems ausgehen, das heiBt von der Struktur des BewuBtseinsim ganzen.AIle diese Thesen waren von groBem Wert fiir die psychologischeWissensch~ft jener Zeit, in der diese Leitsiitze von WYGOTSKIaufgestelltwurden.1hre progressive Bedeutung bestand vor allem darin, daB sie der damalsherrschenden VorsteHung von den psychischen Prozessen als ein furallemal gegebenen und unveranderlichen "psychischen Funktionen"(Empfindung, Wahrnehmung, Gedachtnis, Aufmerksamkeit) eine andere,bei weitem dynamischere gegeniiberstellten, derzufolge diese Funktionenim ProzeB der psychischen Entwicklung des Kindes von selbstentstehen und ihre Beziehungen mit dem Ubergang zu den immerschwierigeren Formen des psychischen Lebens andern.Wenn auch WYGOTSKIin seinen Arbeiten nicht. zu ciner konsequentenmaterialistischen Auffassung, die die psychischen Prozesse als Produkteder Entwicklung komplizierter Betatigungen des Menschen ansieht, gelangte(dieser Leitsatz wurde in der sowjetischen Psychologie erst spaterentwickelt), so sind die oben dargelegten Thesen fur die Uberwindung del'Vorstellungen von der Unveranderlichkeit der "psychischen Funktionen"doch von groBer Wichtigkeit.<strong>Die</strong> fortschrittliche Bedeutung dieser WYGOTSKISchenThesen bestanddes weiteren darin, daB sie das Problem des BewuBtseins als einProblem des Studiums del' konkreten Entwicklung der spezifischenStruktur del' psychischen Prozesse des Menschen selbst behandelten. Dadurchwurde kategorisch jenes Haupthindernis beseitigt, das so lange derSchaffung einer wahren <strong>psychologischen</strong> Konzeption vom BewuBtsein imWege stand: Einerseits konnte die kunstliche Definition des Bewufltseinsals eines Problems von ganz besonderer Art, das innerlich durchnichts mit der speziellen <strong>psychologischen</strong> Problematik verbunden sein undgewissermaBen auBerhalb stehen sollte, widerlegt werden, und zweitenskonnte verhindert werden, daB die Erforschung des BewuBtseins durchdas Studium einzelner psychischer Funktionen kiinstlich und ungerechtfertigtersetzt wurde.


A. N. LEONTJEW U. A. R. LURIA, Psycho!. Anschauungen WYGOTSKIS 1753. <strong>Die</strong> Lehre vom systematischen Aufbau des BewuBtseins war nur dieerste, schon nach kurzer Zeit durchlaufene Entwicklungsetappe derIdeen WYGOTSKIS.Bereits zu jener Zeit, als gerade die ersten experimentellenForschungen in bezug auf die Entwicklung der mittelbarenpsychischen Funktionen beendet waren, wies WYGOTSKImit Nachdruckauf die Begrenztheit der bei diesen Forschungsarbeiten entworfenen allgemeinenKonzeption hin. Irn Gegensatz zu jenen, die diese Forschungenwegen der - wie sie meinten - ubertrieben komplizierten Probleme allzugern verworfen hatten, sah er ihren Mangel darin, daB sie die Vorstellungvonder menschlichen Psyche ubermafsig schematisierten.<strong>Die</strong> Vulgarisierung und Schematisierung der <strong>psychologischen</strong> Anschauungen,die in den experimentellen Arbeiten jener Zeit entwickeltwurden, fuhrte WYGOTSKIdarauf zuriick, daB sie, wahrend sie sich aufdie Analyse der Struktur der Prozesse konzentrierten, deren inhaltliche,sinnhaltige Seite, die das Wichtigste darstellt, auBer acht lieBen.LaBt man diese sinnhaltige Seite der psychischen Prozesse unberueksichtigt,so ist es ausgeschlossen, den EntstehungsprozeB jener Verbindungenzu erforschen, die die Systematik im Aufbau des Bewulltseinscharakterisieren. Denn ein Knoten wird doch hier erst zum Knoten,indem er den Prozef des Einpragens vermittelt und nicht etwa aufGrund der ihm eigenen materialen Eigenschaften. Erst wenn er fiir denjenigen,der etwas in seinem Gedachtnis festhalten mochte, eine bestimmteBedeutung angenommen hat, kann er seine Funktion erfiillen.Um aber zu einem <strong>psychologischen</strong> Faktum zu werden, muf er eine bestimmteBedeutung erlangen und zum "Trager" dieser Bedeutungwerden.Somit tauchte also eine neue Aufgabe auf: namlich die Bedeutung,ihre Herkunft und diejenigen Gesetze psychologisch zu erforschen, nachdenen sie aufgebaut ist.In ihrer klassischen Grundform begegnet man ihr innerhalb einesWortes. Es ist also ganz natiirlich, daB man sich bei der Erforschung desBegriffs "Bedeutung" vor allem auf diese Seite konzentrierte.Was versteht man nun - psychologisch gesehen - unter der Bedeutungeines Wortes! In der Bedeutung eines Wortes spiegelt sich dieWirklichkeit wider. Deshalb heiBt Bedeutung eines Wortes in ersterLinie Widerspiegelung. Doch haben wir es hier mit einer besonderenForm der Widerspiegelung zu tun. <strong>Die</strong> Bedeutung ist aber keine psychologischeErscheinung etwa van der Art einer Empfindung. Ein Wort vermitteltvielmehr durch seine Bedeutung den Prozels der unmittelbaren,


176 Z. Psycho!. Ed. 162 Heft 3-4 (1958)sinnlichen Widerspiegelung der Welt: der Mensch sieht nicht nur etwasRechtwinkliges, Weilies, mit Linien Bedecktes; er sieht auch nicht nurein gewisses Ganzes, ein komplexes Bild, sondern z. B. ein Blatt Papier,eben: Pap i er. Das kommt einmal daher, daB er tiber fruher gesammeltegegenstandliche Erfahrungen verfugt, die er bei seiner prakbischen,gegensta,ndlichen 'I'atigkeit erworben hat; es kommt aber auch daher,daB diese gegenstandlichen Erfahrungen auf mundlichem Wege in derentsprechenden Bedeutung ("Papier") gesammelt wurden. Wer namliehnicht die Bedeutung des Wortes Papier kennt, wer nicht weili, was manunter Papier versteht, wird in der Tat nur etwas Weilles, Langliches usw.sehen. Wenn man aber Papier wahrnimmt, so ist es eben dieses realePapier und nicht die Bedeutung "Papier"; die Bedeutung als solche trittgewohnlich nicht im Bewulltsein in Erscheinung: wenngleich sie einensichtbaren Gegenstand in sich aufnimmt und verallgemeinert, bleibt sieselbst unbemerkt.<strong>Die</strong> Bedeutung des Wortes erschopft sich niemals durch den Hinweisauf eine individuelle Sache; vielmehr versteht man darunter jene Verallgemeinerung,wie sie durch die Bedeutung fixiert wurde. Sie ist stetsein gewisses System von Verbindungen und Beziehungen, das eben durchdie Bedeutung gekennzeichnet wird; sie ist eine ideelle, geistige Kristallisationsformder gesellschaftlichen Erfahrung, der gesellschaftlichenPraxis der Menschheit. Der Vorstellungskreis der Gesellschaft, ihreWissenschaft, ja selbst ihre Sprache - alles das ist ein System von Bedeutungen.Der Mensch, der sich innerhalb der Bedingungen der Gesellschaftentwickelt, macht sich mit bereits vorhandenen Bedeutungen vertraut;sornit ist sein individuelles BewuBtsein seiner Natur nach gesell.schaftlich. Der Mensch nimmt die Welt als eine konkrete historische Erscheinungwahr, genauso stellt er sie sich auch vor; er ist daruber hinausauch an Vorstellungen und Begriffe seiner Epoche und seiner Klasse gebunden.Somit existiert die Bedeutung, die zum Kreis der objektivengesellschaftlichen Erscheinungen, zu den Erscheinungen des gesellschaftlichenBewulstseins gehort, auch als Faktum des individuellen Bewulltseins,als psychologische Erscheinung.Wie kann man nun die Bedeutung psychologisch erforschen l Man muBdiese Frage, vor der sich seinerzeit WYGOTSKIsah, in ihrer ganzenKompliziertheit sehen.Jede Art von Bedeutung ist eine Verallgemeinerung. Somit wird dieBedeutung erstens dadurch charakterisiert, auf welchen Kreis- von Erscheinungensie sich bezieht, welcher Kreis von Erscheinungen in ihr verallgemeinertist. Doch das macht noch nicht ihre psychologische Cha-


A. N. LEONTJEW U. A. R. LURIA, Psycho!. Anschauungen WYGOTSKIS 177Ir[rakteristik aus. <strong>Die</strong> Frage, was objektiv in der Bedeutung "Dreieck" verallgemeinertist, gehort Z. B. in das Gebiet der Geometrie, aber nicht derPsychologie. Man konnte diese Frage allerdings etwas anders stellen undfragen: Worin sehe ich selbst die jeweilige Bedeutung? Denn das, was ichmir unter einem Dreieck vorstelle, welche Auffassung ich davon habeund was ich daruber weiB, braucht nicht immer mit dem wissenschaftlichenBegriff ubereinzustimmen. Es handelt sich hier jedoch nicht umeinen prinzipiellen Unterschied. In beiden Fallen haben wir es nicht miteinem Gegensatz zu tun, denn die Bedeutungen existieren nirgendsanders als in konkreten menschlichen Kopfen. Folglich darf man derwissenschaftlichen Bedeutung nicht jene im BewuBtsein des Menschenals "psychologische" Bedeutung gegeniiberstellen. Kann denn ein wissenschaftlicherBegriff aufhoren, ein Begriff zu sein, wenn er mir selbst zumBegriff wirdi Kann es iiberhaupt einen "Begriff an sich" gebeniEs ist aber auch moglich, noch von einer anderen Seite an die Bedeutungheranzugehen, und zwar konnte man sich die Aufgabe stellen,die historische Entwicklung und Veranderung der Bedeutung einesWortes zu untersuchen. Doch auch diese Aufgabe gehort offensichtlichnicht zu dem Kreis der <strong>psychologischen</strong> Aufgaben, sondern viehnehr inden Bereich der Sprachwissenschaft. So bleibt fur die PsychologieschlieJ3lichlediglich die Aufgabe zu untersuchen, welchen Eindruck dieBedeutung hinterlalrt. Wie allerdings viele Forschungen gezeigt haben,wird die Bedeutung als solche meistens nicht nachempfunden; derMensch gibt sich keine Rechenschaft dariiber ab, er erfaBt nicht die Bedeutungan sich, sondern nur die durch das jeweilige Wort bezeichneteSache. Nur in Ausnahmefallen kann die Bedeutung selbst zum Gegenstandseines BewuBtseins, seines Gedankens werden.Dadurch wird - das ist unschwer zu erkennen - die psychologischeForderung recht kompliziert. Fuhren wir noch ein Beispiel an: Wennich einen weiBen rechtwinkligen Gegenstand usw. sehe und gleichzeitigerkenne: "Das ist ein Stuck Papier", so denke ich selbstverstandlichnicht an meine Empfindungen, nicht an das nacherlebte Abbild einesweiBen rechtwinldigen Gegenstandes und auch nicht an die Verallgemeinerung"Papier", sondern ich meine den Gegenstand selbst, den esjeweils zu verallgemeinern gilt. Beide Falle muB man also zu unterscheidenwissen. <strong>Die</strong> klassische biirgerliche Psychologie des Denkens tatdas, indem sie einmal den Begriff des "Inhalts" einfuhrte, worunter manden sinnvollen Inhalt des BewuBtseins verstand, und zum anderen denBegriff des "Gegenstandes", worunter man das, was man denkt, was man"vor Augen hat", verstand.


178 lZ. Psycho!. Bd. 162 Heft 3-4 (1958)<strong>Die</strong> Erscheinungen und Prozesse, die zum "Inhalt" des BewuBtseinsgehoren, d. h. seine sinnlichen Elemente, charakterisieren nicht - undkonnen das auch nicht - die eigentliche Auffassung des Gegenstandes.,;Derjenige, der sich mit der Absicht triigt, die Auffassung und den Gedankenumfassend zu charakterisieren, und zu diesem Zwecke die darinenthaltenen Empfindungen und Abbilder beobachtet, wurde einemMenschen ahneln, der sich zum Ziel gesetzt hat, das Wesen des Geldeseinzig und allein an Rand des Stoffes zu ergriinden, aus dem es hergestelltist", schrieb bereits MESSER.So wurde es als unumstolslich anerkannt,daf das Verstiindnis, das Erkennen eines Gegenstandes nichtauf die Empfindungen, die sinnlichen Abbilder zuriickzufiihren ist, diehierbei entstehen, und daB dieser ProzeB zwar dem Begriff, der Bedeutungentspricht, aber durchaus nicht den sinnlichen Elementen desBewuBtseins. Andererseits wurde der Beweis erbracht, daf es unmogliehist, die Bedeutungen und Begriffe selbst psychologisch zu charakterisieren :"Man kann sagen", so schrieb MARBE,einer der bekanntesten Vertreterder Wiirzburger Schule, "daB es fiir den Begriff keinerlei psychologischesAquivalent gibt". Selbst dann, wenn der Begriff zum Gegenstanddes Studiums gemacht wurde, war eine Erforschung in Wirklichkeitdoch nicht moglich. Wir denken hier an die bekannte Forschungsarbeitvon J. ACH,einem Vertreter der gleichen <strong>psychologischen</strong> Schule.In seinen Forschungen gelang es ACHnachzuweisen, daB die Bildungdes Begriffes nicht eine Auswirkung jener Gesetze ist, die die Reihenfolgeder sinnlichen Abbilder bestimmen, und daB diese Gesetze den Begriffauch nicht zu erliiutern vermogen. Ein Begriff kann sich nur infolgeeines besonderen Prozesses bilden. ACHwar dariiber hinaus bestrebt zuzeigen, daf dieser ProzeB jeweils durch die Aufgabe selbst bestimmt wird,vor der ein Priifling steht. Somit nahm der Gegenstand der Forschungeine andere Gestalt an, und die Aufgabe, nicht der Begriff oder die Bedeutung,erhielt eine psychologische Charakteristik.<strong>Die</strong> Forderung, die sich unvermeidlich aus diesen SchluBfolgerungenergibt, die wiederum aus einer groBen An~ahl friiherer Arbeiten zurPsychologie des Denkens gewonnen wurden, bestand darin, in del'<strong>psychologischen</strong> Forschung die Lehre von der Einheit zwischen Wort undBedeutung durchzusetzen. Doch gerade der Versuch del' Psychologen derWiirzburger Schule, das Wort zu "entkleiden" und unmittelbar zum Begriff,zur Idee vorzudringen, wirkte sich auf die psychologische Forschungverhiingnisvoll aus. Ein Wort - das ist keine "Riille"; ein Wort ruft unsseine Bedeutung keineswegs so ins Gediichtnis, wie es der Mantel einesBekannten tut, der uns sofort an diesen Menschen erinnert; das Wort


A. N. LEONTJEW U. A. R. LURIA, Psychol, Anschauungen WYGOTSKIS 179ist untrennbar mit der Bedeutung verbunden, die Bedeutung untrennbarmit dem Wort. <strong>Die</strong> psychologische Bedeutung studieren, heiBt, das Wortim Hinblick auf seine Funktion, seine Verwendung im ProzeB der Verallgemeinerungzu untersuchen. Das waren die ersten Voraussetzungender von WYGOTSKIbegonnenen experimentellen Forschungen im Hinblickauf die Entwicklung der Begriffsbildung. Der Weg dieser Forschungenwurde durch die Gedanken WYGOTSKISbestimmt.<strong>Die</strong> einzelnen Bedeutungen unterscheiden sich vor allem durch denobjektiven Inhalt voneinander, der in ihnen verallgemeinert ist. Dochin psychologischer Hinsicht ist noch etwas anderes wesentlich, namlich,daB der auf verschiedene Art verallgemeinerte Inhalt fur seine Widerspiegelungim BewuBtsein auch verschiedener psychischer Prozesse, verschiedenergeistiger Operationen bedarf. Hierbei kann, je nach dem Aufbaudes entsprechenden Systems der Prozesse, ein und derselbe objektiveInhalt auf verschiedene Art, auf verschiedenen Verallgemeinerungsstufen,verstanden werden.So sind beispielsweise fur die Entstehung solcher Bedeutungen wie"wollig" und "rauh" lediglich elementare Prozesse erforderlich, die mitder Hervorhebung und sinnlichen Verallgemeinerung der entsprechendenEigenschaften in Verbindung stehen. Anders verhalt es sich mit den abstraktenBedeutungen wie "mittelbar" und "funktional"; hier sindzweifellos die komplizierten Prozesse der logischen Verarbeitung des entsprechendenInhalts erforderlich, der sich in diesen Bedeutungen widerspiegelt.Will man also die Bedeutung eines Wortes untersuchen, so muB manjenes System von Prozessen studieren, das durch den Gebrauch des jeweiligenWortes, das einen objektiven, in seiner Bedeutung verallgemeinertwidergespiegelten Inhalt vermittelt, zu wahrem Leben erwecktwird. Auf diese Weise laBt sich eine falsche Gegenuberstellung del'"Objekte" und der "Inhalte" des BewuBtseins, seiner "Funktionen"und "Erscheinungen" grundsatzlich vermeiden.<strong>Die</strong> Versuche L. S. SACHAROWS, eines der Schuler WYGOTSKIS,diespater von WYGOTSKIselbst fortgefuhrt wurden, sollten die Funktionendes Wortes bei der Begriffsbildung bloBlegen. Dadurch verlief die ForschungWYGOTSKISdiametral zu jenem Weg, den ACHbeschritten hatte.ACHsah in der Aufgabe, dem Ziel, das die "determinierende Tendenz"hervorbrachte, den Verlauf des Prozesses bestimmenden Hauptfaktor.Fur WYGOTSKIbestand umgekehrt das Hauptproblem darin, diegeistigen Prozesse selbst, die zur Bildung einer Verallgemeinerungfiihrten, zu studieren.


180 Z. Psychol. Ed. 162 Heft 3-4 (1958)Wie die experimentelle Forschung zeigte, konnen die Prozesse der"funktionalen Verwendung eines Wortes", nach denen die Verallgemeinerungvor sich geht, zutiefst verschieden sein.Sie bestehen einmal in der Hervorhebung von Merkmalen auf derGrundlage unmittelbar sinnlicher Eindrucke und zum anderen in derVereinigung yon Objekten gemiW ihrer Beteiligung an einer konkretenSituation (Verbindungen der Anschaulichkeit und der Situation);schlieBlich konnen sie auch in der Herstellung von Wechselbeziehungenzwischen den verschiedenen abstrahierten und verallgemeinerten Merkmalenbestehen (theoretische, logische Verbindungen).<strong>Die</strong> Ergebnisse dieser Forschung gestatten es vor allem, die einzelnenEtappen der Begriffsentwicklung bei Kindern ,ZU erkennen. Sie zeigen,daB sich im EntwicklungsprozeB des Kindes jener Typus der Verbindungenund Wechselbeziehungen zwischen den Dingen wesentlichandert, den das Kind selbst zu bestimmen in der Lage ist und der denentsprechenden Grad der Begriffsentwicklung charakterisiert. <strong>Die</strong>WYGOTSKIScheBeschreibung der Entwicklungsetappen der Verallgemeinerungsfahigkeitvom unmittelbar Sinnlichen, Synkretistischenzum anschaulich Situationsmaliigen und von diesem zum Logischen, Begrifflichen,gehort zu jenen Errungenschaften der sowjetischen Psychologie,die in der internationalen <strong>psychologischen</strong> Literatur ein groBesEcho fanden.Doch von nicht geringerer Bedeutung ist auch, daB diese Forschungeneine wichtige psychologische Tatsache erkennen lassen: <strong>Die</strong> Veranderungder Struktur der Verallgemeinerungen, die sich in den aufeinanderfolgendenStufen der psychischen Entwicklung des Kindes bemerkbarmacht, kennzeichnet gleichzeitig die Veranderung jener psychischen Prozesse,mit deren Hilfe diese Verallgemeinerungen vorgenommen werden.<strong>Die</strong> vorhergehende Rolle des unmittelbaren, oft emotionalen Eindrucksauf der ersten Stufe, die fuhrende Rolle der unmittelbaren praktischenErfahrung und des Gedachtnisses auf der zweiten und die entscheidendeRolle des Wortes mit seinen Hauptfunktionen (Abstraktion und Verallgemeinerung)auf der dritten Stufe der Begriffsentwicklung - alles daszeigt, daB hinter jeder Stufe der verallgemeinernden Tatigkeit des Kindestatsachlich verschiedene psychologische Prozesse stehen und daB derPsychologe, der den folgerichtigen Wechsel der Formen der Widerspiegelungstudiert, gleichzeitig auch diekonsequenten Veranderungender psychischen Prozesse, mit deren Hilfe diese Widerspiegelung vor sichgeht, untersuchen muB.


A. N. LEONTJEW U. A. R. LURIA, Psycho!. Anschauungen WYGOTSRIS 181Gerade dieser Umstand veranlaBte WYGOTSKI zu der Feststellung, daBdas Studium der Begriffsentwicklung den Psychologen zu einem weiterenZiel fiihrt: zum Studium des - wie er es nannte - sinnvollen undsystematischen Aufbaus des Bewu Bt.aeins.<strong>Die</strong> Verfahren zur Erforschung der Begriffsentwicklung, wie sieWYGOTSKIbenutzte, wurden mehrmals mit Recht kritisiert, wobei aufihren gekunstelten Charakter sowie auf die Tatsache hingewiesen wurde,daB sie unvermeidlich zu einer von der praktischen Tatigkeit des Kindeslosgelosten Betrachtung der Begriffe fiihren mussen, Ungeachtet dessenleistete WYGOTSKImit seinen Forschungen im Hinblick auf die Begriffsentwicklungeinen Beitrag zum experimentellen Studium der Denktatigkeit,wodurch es moglich war, die eben genannten wichtigen Fragenzu beruhren, die uns wiederum zu einem der umfassendsten Problemeder modernen Psychologie fuhren.4. Das menschliche BewuBtsein ist ein Produkt der gesellschaftlichenEntwicklung des Menschen, ist ein Produkt seines gesellschaftlichenLebens. Das BewuBtsein spiegelt die Wirklichkeit nicht nur in ihren unmittelbaren,sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften wider. Es ist stetsdas BewuBtsein eines denkenden Menschen. Nicht die sinnlichen Eindrueke,die durch die engen Grenzen der personlichen Erfahrung beschranktsind, bilden das menschliche BewuBtsein. Sie konnen nur alsseine Quelle angesehen werden. Das BewuBte ist die Widerspiegelung derWirklichkeit, gebrochen durch die allgemein menschliche Erfahrung, diesich in der Sprache darstellt. In der Bedeutung der Worter, in denGedanken spiegelt sich die Wirklichkeit differenzierter, umfassender alsim unmittelbaren Eindruck, denn in ihnen kristallisiert sich nicht nurdie verschwindend geringe Erfahrung eines einzelnen Menschen, sondernauch die unbegrenzte Erfahrung von Generationen, die Erfahrung derganzen Menschheit.Der Mensch nimmt seine Umwelt in ihrer ganzen Schonheit, in demReichtum ihrer Formen und Tone wahr, er erduldet ihren Widerstand,ihre niederschlagenden und ihre belebenden Krafte ; doch der Mensch erkenntseine Umwelt an Hand von Verbindungen und Beziehungen, diedurch die Praxis der Menschheit in dieser Umwelt entdeckt wurden, ererkennt sie an Hand ihrer wesentlichen Merkmale - der Bedeutungen.<strong>Die</strong> Aneignung der Bedeutungen geht mit dem Erlernen der Sprache,der Worter - den Tragern der Bedeutungen - Hand in Hand. <strong>Die</strong>Sprache ist nicht nur das Korrelat des Denkens, sondern des gesamtenBewuBtseins. Der Mensch, der sich beim Gebrauch der Worte ihre Bedeutungenaneignet, spiegelt in seinem BewuBtsein die objektiven Ver-14 Z. Psychologie 152


182 Z. Psycho!. Ed. 162 Heft 3-4 (1958)bindungen und Gesetzmalsigkeiten der aulseren gegenstandlichen Weltwider und bringt sein eigenes Verhalten damit in Einklang. Das Verhaltendes Menschen wird verstandesbetont.Der Mensch, der in der Gesellschaft lebt, lernt auch die Bedeutungseiner eigenen Handlungen begreifen; er erkennt sie in ihrer Notwendigkeit,in ihren objektiven gesellschaftlichen Resultaten. Demzufolgenimmt das Verhalten des Menschen willkiirliche, volitionale Ziige an.Doch er lernt nicht nur sein aufseres Verhalten beherrschen, er erkenntauch die Prozesse seines Denkens, das ebenfalls yon ihm gelenkt undkontrolliert wird.In seiner inneren Welt findet der Mensch einen besonderen Kreistiefer, fur ihn selbst oftmals verschwommener Erlebnisse. Erst wenn ersie ergriindet, erkennt er darin Erscheinungen der menschlichen Gefiihle,Leidenschaften und Impulse, die in der Sprache und in den Kunstwerkenverallgemeinert und objektiviert sind. Er tritt in erkenntnismaJ3igeBeziehungen zu seinen intimen Erlebnissen, er wird sich ihrerbewuJ3t. Nicht nur das Denken des Menschen, sondern auch sein Gefuhlslebenwird "begrifflich".In der Bestatigung der Vernunft und Freiheit des -Menschsn - desErben eines unermeJ3lichenkulturellen Reichtums, der sich in einer jahr.tausendealten Erfahrung der menschlichen Generationen angesammelthat - ist ebenfalls der Hauptkern der WYGOTSKISchenLehre vom BewuJ3tseinzu suchen.Es gilt aber noch das Hauptproblem zu behandeln, namlich die Fragenach den treibenden Kraften innerhalb der BewuJ3tseinsentwicklung.Ein Kind steht der Welt vor allem praktisch gegeniiber. Erst wennsich seine praktischen Beziehungen zur Welt entwickeln, beginnt es siezu erkennen. Wie geht nun diesel' ProzeJ3vor sich tEin Kind verhalt sich nicht gleichmallig del' Welt gegeniiber; die Entwicklungswegedes menschlichen BewuJ3tseinskonnen sich bei ihm selbstverstandlichnicht wiederholen. So, wie es die materiellen Bedingun,gender menschlichen Existenz bereits vorfindet, sieht es sich auch denmenschlichen Kenntnissen und Vorstellungen gegeniiber, die in del'Sprache und der Wissenschaft - im System der Wortbedeutungen - verallgemeinertsind. Ein Kind verallgemeinert nicht die Erscheinungenseiner Umwelt als isoliert lebendes Einzelwesen. Das ist ausgeschlossen.Wenn dem so ware, wurde seine bewuJ3tseinsmaJ3igeEntwicklung unendlichlangsam vor sich gehen, wuhrend sie in Wirklichkeit doch miteiner erstaunlichen Schnelligkeit erfolgt. Es geniigen einige Jahre, hisdas Kind die kompliziertesten Zusammenhange entratselt- Zusammen-


A. N. LEONTJEW u. A. R. LURIA, Psycho!. Anschauungen WYGOTSKlS 183hange, die der Menschheit erst auf Grund einer tausendjahrigen Erfahrung,auf Grund einer sich milliardenfach wiederholenden Praxis zumBewuBtsein gekommen sind. Man kann jene naive padagogische Ansicht,derzufolge der EntwicklungsprozeB des kindlichen BewuBtseinsund der des allgemeinen menschlichen BewuBtseins als grundsatzlichgleichartig bezeichnet werden und derzufolge in beiden Fallen die gleichenGesetze des Ubergangs yon der Unwissenheit zum Wissen existierensollen, nur darauf zuruckfuhren, daB diese Auffassung nicht auf demStudium des wirklichen Entwicklungsprozesses der kindlichen Psychebasiert. <strong>Die</strong> erste Aufgabe beim Studium der Entwicklung des kindlichenBewuBtseins besteht vielmehr darin, die Besonderheit dieses Prozesseszu erkennen und seine realen, nicht aber imaginaren Triebkraftezu erforschen.In Wirklichkeit ist das Kind keinesfalls in der Lage, jenen Wortern,deren Bedeutung ihm unbekannt ist, selbstandig einen Inhalt zu geben,wie das in den kunstlichen Bedingungen des Experiments demonstriertwird; es eignet sich vielmehr gewissermaBen fertige Bedeutungen an, dieden Worten der Sprache durch die Gesellschaft verliehen wurden. Andererseitskann ein Wort natiirlich nicht yon sich aus mit Hilfe seinerBedeutung im BewuBtsein des Kindes "keimen"; das Wort ist nicht derDemiurg der Bedeutung. Folglich kann man bei Kindern den ProzeB, derzur Entwicklung der Bedeutungen fuhrt, weder mit dem ProzeB derpraktischen Aneignung jener Wirklichkeit identifizieren, die in diesen Bedeutungenverallgemeinert ist, noch mit dem ProzeB des Aneignens derWorter selbst, die die Trager der jeweiligen Bedeutungen sind.Was stellt nun in jenem Fall dieser spezifische ProzeB dadDas Wort als Verallgemeinerung und das Wort als Verstandigungsmittelbilden eine Einheit, und zwar keine zufallige, sondern eine notwendige.Denn der Mensch tritt nur mit Hilfe anderer Menschen in Beziehungzur gegenstandlichen Welt, d. h. im Verkehr mit Menschen. Geradedieser Verkehr der Menschen untereinander hatte die Entstehungder Sprache zur Folge, gerade innerhalb dieses Verkehrs entwickelte sichdas System der Bedeutungen, die die Wirklichkeit verallgemeinern. <strong>Die</strong>Verallgemeinerung und der Verkehr der Menschen untereinander sindinnerlich miteinander verbundene Prozesse. Der sprachliche Verkehr istundenkbar ohne Verallgemeinerungen: "Jedes Wort (die Sprache) verallgemeinert"(LENIN). Folglich muB man gerade rm Verkehr derMenschen untereinander die konkreten Bedingungen fur die Entwicklungder Bedeutungen suchen.U'


184 z. Psycho!. Ed. 162 Heft 3-4 (1958)Bereits die allerersten Schritte in der Entwicklung des kindlichen Bewulitseinssind mit der Entwicklung seiner Umgangssprache verbunden.<strong>Die</strong> Notwendigkeit, sprechen zu lernen, liegt beim Kind bereits in derArt und Weise seines Lebens, in seiner Unselbstandigkeit, seiner Abhangigkeitvon den Erwachsenen begriindet. Noch nicht einmal ein Jahralt, beginnen die Kinder bereits die Worte, die die Erwachsenen an sierichten, zu verstehen; im zweiten Lebensjahr versuchen sie bereits selbstzu sprechen. Nachdem das Kind zuerst die Namen der ihm bekanntenPersonen und Gegenstande sprechen gelernt hat, sondert es die Dinge ausjenen anschaulichen und zufalligen Komplexen aus, in denen es sie sinnlicheingeordnet sieht. Nun werden sie in seinem BewuBtsein nach wesentlichenMerkmalen, differenzierteren Verbindungen und Beziehungenwort- oder namensmalsig vereinigt. Es entstehen bewulite sprachlicheVerallgemeinerungen.<strong>Die</strong> wortmalsige Bezeichnung der Dinge ist jedoch kein bestimmterisolierter, "auBerordentlicher Akt des BewuBtseins". Sie ist die naturlicheFolge davon, daf der Erwachsene das Kind in die reale Wirklichkeiteinfiihrt, daB er es nicht sich selbst oder der Willkiir der Umstandeuberlalrt, sondern verniinftig anleitet, es eingehend mit den Erscheinungender Wirklichkeit vertraut macht und entgegen der padagogisehenForderung ROUSSEAUSbestrebt ist, es rechtzeitig vor falschen "Erfahrungen"zu bewahren.Mit anderen Worten: das Kind eignet sich .in dem MaBe Kenntnissean, wie die Erwachsenen seine Beziehungen, seine praktischen Verbindungenzur Umwelt bestimmen.Anfangs wird das Kind mit solchen Wortern bekannt gemacht, die sichdirekt auf diesen oder jenen Gegenstand, auf diese oder jene Erscheinungbeziehen. Auf diese Weise entstehen die ersten, noch etwas starren undverschwommenen Bedeutungen. <strong>Die</strong>se fruhen Bedeutungen entsprechenaber in keiner Weise den lexikalischen der Erwachsenensprache. Daszeigt sieh, wenn das Kind diese Worte zum ersten Mal aktiv verwendet.Man muf deshalb einmal zwischen der "realen" Bedeutung unterscheiden,d. h. jener, die ein Wort in Wirklichkeit fur das Kind besitzt,und zum anderen zwischen der Bedeutung in ihrer hoheren Entwicklung,d. h. der "idealen" Wortbedeutung, der man mit ihrer mehr oder wenigerengen Konvergenz in der Sprache der Erwachsenen begegnet. Nach Ansichtvon WYGOTSKIkann sie nicht nur deshalb als "ideal" bezeichnetwerden, weil sie am weitesten entwickelt ist, sondern auch aus demGrunde, weil sie jenen Punkt darstellt, dem sich die reale Bedeutung desKindes allmahlich nahert, und gleiehzeitig auch jenen Mabstab bildet,


A. N. LEONTJEW U. A. R. LURIA, Psycho!. Anschauungen WYGOTSKIS 185mit Hilfe dessen der Entwicklungsgrad des Kindes beurteilt werdenkann. Somit begegnen sich in der Umgangssprache des Kindes und desErwachsenen die "realen" und die "idealen" Bedeutungen, die gleichzeitigaufeinander einwirken.Wie ist diese Wechselwirkung moglich ? Mit anderen Worten: Wie istes zu erklaren, daB sich die Kinder und die Erwachsenen uberhaupt verstehen,wenn ein und dieselben Worter im Hinblick auf ihren Entwicldungsgradfur sie verschiedene Bedeutungen habenj Das ist deshalbmoglich, weil sie bei aller Verschiedenheit der Bedeutungen dennocheine reale Grundlage besitzen, die sich dank der Identitat jenes objektiven,konkreten Gegenstandes entwickelt, auf dem sich die jeweiligeWortbedeutung im Rahmen des Gesprachs beider Partner - des Kindessowie des Erwachsenen - in gleicher Weise bezieht. <strong>Die</strong> Verbindung derBedeutungen untereinander und die Veretandigung uberhaupt ist auf dieobjektive Wirklichkeit zuruckzufuhren, die gerade dadurch, daB sie unabhangigvom BewuBtsein existiert, gleiehmafiig durch ihre Qualitatenauf das Kind und den Erwachsenen einwirkt, obwohl beide verschiedenvera.llgcmeincrn und erkennen.Man kann also sagen, daB ein Kind im Umgang mit den Erwachsenendie Sprache und sprechen lernt, d. h., daB es sich die Bedeutungen aneignet.Doch das ist nur die erforderliche Voraussetzung fur die Entwicklungdes BewuBtseins, denn der Verkehr mit Erwachsenen selbst erfordertunbedingt eine reale Wechselwirkung zwischen den Kindem undder sie umgebenden objektiven gegenstandlichen Wirklichkeit; und einKind beginnt damit, daB es praktische Beziehungen zur Welt aufnimmt,d. h., daB es in ihr zu handeln beginnt. "Im Anfang war dieTat" - diese Formel wurde auch yon WYGOTSKIin ihrem ganzen Gedankenreichtumakzeptiert.<strong>Die</strong> Lage der Dinge andert sich jedoch entschieden, sobald wir uns mitdem Problem des Lernens nicht im allgemeinen, sondern im speziellenSinne befassen, namlich mit dem Unterricht in der Schule.<strong>Die</strong> Unterrichtstheorie ist das letzte Glied in der Reihe del' ArbeitenWYGOTSKrs;deshalb soll ihr auch das letzte Wort gewidmet sein.Es ware sinnlos, wollte man uber das Lemen sprechen und es als Ergebnisdes allgemeinen Umgangs und der allgemeinen Erfahrung desKindes bezeichnen, die ihm gewisse Kenntnisse vermitteln. Unter demWort Lern.en muB man jenen speziellen systematischen ProzeB verstehen,wie es fur den Unterricht in der Schule typisch ist.Der Schulunterricht unterscheidet sich qualitativ vom Lemen schlechthin.In der Schule sieht sich das Kind einer speziellen Aufgabe gegen-


186 Z. Psychol, Ed. 162 Heft 3-4 (1958)uber, namlich der Aufgabe, sich die Grundlagen der Wissenschaften, d. h.das System der wissenschaftlichen Begriffe anzueignen.Im Schulunterricht gehen die Kinder von ihren eigenen Verallgemeinerungenund Kenntnissen aus; d. h. sie betreten vielmehr mitdiesen Verallgemeinerungen und Kenntnissen einen neuen Weg, denWeg der gedanklichen Analyse, des Vergleichs, der Synthese und der Herstellunglogischer Beziehungen: Sie urteilen an Hand der ihnen gegebenenErklarungen und schaffen neue lagische Voraussetzungen desDbergangs van einer Verallgemeinerung zu anderen. <strong>Die</strong> friiheren Begriffe,die sich im Leben des Kindes gebildet haben, das durch den Umgangmit den Mitmenschen bedingt war (WYGOTSKInannte sie "alltagliehe"oder "spantane" Begriffe; spontan deshalb, weil sie auBerhalbdes Prozesses entstehen, der speziell auf die Aneignung von Begriffenhinzielt), werden jetzt in den neuen ProzeB, in die neue erkenntnismaBigeBeziehung zur Welt mit einbezogen, wobei sie gleichzeitig eineandere Gestalt annehmen, ihre Struktur andern. Zum entscheidendenFaktar bei der BewuBtseinsentwicklung des Kindes wird jetzt die Aneignungder wissenschaftlichen Grundlagen, des Systems der wissenschaftlichenBegriffe.Nach Meinung van WYGOTSKI ist diese Veranderung von entscheidenderBedeutung; denn der Ubergang, der im Rahmen der Aneignung desSystems der wissenschaftlichen Begriffe stattfindet, ist auch ein Ubergangzu einer anderen, hoheren Form des BewuBtseins. Dem Kind zeigtsich die Umwelt nicht nur in einem vollig anderem Licht; es andert sichauch das ganze System seiner Beziehungen, sein ganzes Verhalten, seineganze psychische Tatigkeit. Auf dieser Stufe vollziehen sich auch diewichtigsten Veranderungen im Hinblick auf die Entwicklung der Personlichkeitund des SelbstbewuBtseins des Kindes. GewiB, alles das, wasdas Kind in dieser Zeit lernt, in der die Entwicklung seiner erkenntnismafsigenBeziehungen zur Wirklichkeit besonders deutlich wird - allesdas ist in seinen friiheren Entwicklungsstufen bereits vorbereitet worden.Entscheidend aber ist nicht das Friihere, sind nicht die Anfangsetappendieses Weges, sondern das Neue, die letzte entwicklungsmaffige Errungenschaft.Somit erhielt das GOETHE-Wort ,,1m Anfang war dieTat" durch WYGOTSKIeine neue logische Betonung: Irn Anfang wardie Tat.Es ist hier zwar vom Schulunterricht die Rede, in dem WYGOTSKIdenallgemeinen Weg der BewuBtseinsentwicklung sah. Doch durch denSchulunterricht allein, ja iiberhaupt durch das Lernen schlechthin lassensich die Hauptriebkrafte der Entwicklung natiirlich nicht verandern,


A. N. LEONTJEW u. A. R. LURIA, Psycho!. Anschauungen WYGOTSKIS 187Denn auch ein Kind, das aus irgendeinem Grunde nicht die Schule besucht,wird - wenn auch in anderer Weise - grundsatzlich den gleichenEntwicklungsweg durchlaufen und auch die gleiche hohere Stufe erreichen,so will es der allgemeine Entwicklungsverlauf des BewuBtseins,seine innere Logik. Der Ubergang zu einem hoheren, wahrhaft begriffshaltigenTyp der Bedeutungen ist nur moglich, wenn sich die Beziehungenzur Welt andern, die es zu erkennen gilt; denn eine hohere Stufe der Bedeutungenkann praktisch nicht im Rahmen eines Verallgemeinerungsprozesseserreicht werden, der nur von dem Bedurfnis ausgeht, das durchdie praktische Erfahrung, d. h. gewissermaBen "von unten nach oben",durch die Erscheinungen selbst geweckt wird. Der Schulunterricht istnur jene konkrete historische Form, in der der Ubergang zu dieserhoheren Stufe der bewufltseinsmalligen Entwicklung vor sich geht. Auchein Kind, das keine Schule besucht hat, steht im Laufe der Entwicklungseiner Lebensbeziehungen unvermeidlich vor der Aufgabe, in die Weltder menschlichen Ideen, des Wissens einzudringen. Auch dieses Kind verspiirtden Drang nach Kenntnissen, hat seine Ideale und wird sich jenenGedanken und Vorstellungen gegeniiber, denen es im Leben begegnet,nicht gleichgiiltig, sondern aufgeschlossen verhalten und sich. mit ihnenauseinandersetzen. Es tritt in Beziehung zu gesellschaftlich entwickeltenVorstellungen und Begriffen von jenen Erscheinungen der Wirklichkeit,die ihm bereits bekannt sind oder die es jetzt erst kennenlernen wird. Eslernt; es bemiiht sich nicht, von sich aus hinter die geheimen Verbindungenund Beziehungen del' Wirklichkeit zu kommen (kein Menschist dazu in der Lage), sondern es versucht, das zu erfahren, was dieanderen Menschen daruber wissen; es lernt jetzt nicht nur das Problem"Welt", sondern auch das der Weltanschauung kennen.Im Lichte dieser Thesen muBte die allgemeine SchluBfolgerung, diesich im Laufe der Forschungsarbeit allmahlioh ergab, noch einmal durchdachtwerden. <strong>Die</strong> logische Betonung des GOETHE-Wortes erschienWYGOTSKInun nicht mehr zu befriedigen. Deshalb wird in der letztenPhase, die er auf der letzten Seite seines letzten Buches diesen Wortenfolgen laBt, ihr Sinn noch einmal geandert : Das Wort ist das Ende, daseine Sache kront.Ist diese letzte SchluBfolgerung nun so zu verstehen, daB die Sprache,die Umgangssprache und allgemein die theoretische Beziehung zur Wirklichkeit,die zuerst nur als Bedingung der BewuBtseinsentwicklung galt,in Wirklichkeit eben als dasjenige anzusehen ist, was dieses BewuBtseinbestimmt ? Und welches sind andererseits die praktischen Beziehungen,d. h. das, was - wie die Forschungen ergaben - am Anfang das BewuBt-


188 Z. Psycho!. Ed. 162 Heft 3-4 (1958)sein zu bestimmen scheint, sowie jenes, was nur die Bedingung, nur einegewisse allgemeine Voraussetzung fur die BewuBtseinsentwicklungschafft ~Das Studium des realen Entwicklungsprozesses des kindlichen BewuBtseinslaBt eindeutig erkennen, daB die Aneignung der Bedeutungenkeinesfalls von der Entwicklung der personlichen praktischen Beziehungendes Kindes zu einer gegenstandlichen Umwelt bedingt ist.WYGOTSKIerinnerte sich, wahrend er diesem Gedanken nachging, gernan jenen von ihm beobachteten Jungen, der bereits seit seiner fruhenKindheit gelahmt war und sich in geistiger Hinsicht dennoch schnell entwickelte.<strong>Die</strong> Sphare des sprachlichen und geistigen Umgangs des Kindesist gewohnlich bei weitem umfangreicher als diejenige seiner Praxis undseiner sinnlichen Erfahrung, und diese Nichtubereinstimmung nimmt besondersim Schulalter, auf jener entscheidenden Etappe der BewuBtseinsentwicklung,ein groBes AusmaB an. An dieser offensichtlichen Tatsachedarf man keinesfalls achtlos vorubergehen, Doch wenn wir sie anerkennen,so mussen wir auch anerkennen, daB es das gesellschaftlicheBewuBtsein ist, welches die Entwicklung des individuellen BewuBtseinsin erster Linie entscheidet. Oder gibt. es etwa Menschen, die sich imLaufe ihres Lebens ihre eigene Weltanschauung schaffen ~ Sie wird unmittelbarin ihr BewuBtsein hineingetragen. Sie ist es auch, die letztenEndes die Einstellung des Menschen zu seiner Umwelt und sein eigenesSein in dieser Welt bestimmt. Das muB man wissen.Beschrankt man sich jedoch auf diese Erkenntnis, so werden die Ausgangspositionendel' Forschung, die besagen, daB das BewuBtsein desMenschen durch seine Lebensbedingungen innerhalb der materiellen Umweltbestimmt wird, aufgegeben, und das BewuBtsein des Menschenmutet eher als das Produkt seines geistigen Umgangs als seiner allseitigenund im Grunde stets praktischen Beziehungen zur Wirklichkeitan.Doch zwischen der Logik der Forschung und der Logik des Forschendenherrscht nicht immer in allen Phasen eine unbedingte Ubereinstimmung.<strong>Die</strong> Gegensatze werden in den letzten Arbeiten WYGOTSKISbesondersdeutlich, was beweist, daB seine Forschung im ganzen doch unvollendetblieb.WYGOTSKItrat auf seinem gesamten wissenschaftlichen Weg innerhalbder Psychologie gerade mit Nachdruck gegen die Versuche auf, dieEntwicklung des individuellen BewuBtseins des Kindes als unmittelbaresProdukt der Entwicklung des gesellschaftlichen BewuBtseins zubetrachten. Das war auch der Hauptpunkt in der Kritik PIAGETS.


A. N. LEONTJEW U. A. R. LURIA, Psycho!. Anschauungen WYGOTSKIS 189WYGOTSKIkehrte in seinen Arbeiten aber auch wiederholt zu jenemGedanken zuruck, daB die Psychologie die Wissenschaft von der besonderen,der hoheren Lebensform des Menschen sei, deren Grundlagesein materielles Leben bildet. "Hinter dem BewuBtsein offenbart sichdas Leben", das war der maBgebende, der Hauptleitsatz WYGOTSKIS.Doch vor allem war es ihm urn die objektive Logik der Forschungselbst zu tun, wobei er sich bemuhte, seine theoretischen Tendenzendieser Forschung unterzuordnen, auf alle Falle aber davon Abstandnahm, sie ihr "von oben herab" aufzuzwingen, und besonders daraufacht gab, daB er nicht etwas Unbekanntes durch etwas noch Unbekanntereserklarte.Der Widerspruch zwischen seiner Grundhaltung - das BewuBtsein istdas Produkt der Wechselwirkung zwischen Mensch und Umwelt - undjenen Thesen, die er an Hand seiner Ergebnisse bei der Erforschung derkindlichen BewuBtseinsentwicklung aufsteIlte, erschien WYGOTSKIalsein Widerspruch, der auf der nachstfolgenden, sich bereits abzeiohnendenEntwicklungsstufe einer Losung zugefuhrt werden soUte. Deshalbblieb dieser Widerspruch auch in den Arbeiten WYGOTSKISbestehen;man findet ihn ebenfalls in dem nach seinem Tode veroffentlichten Buch"Denken und Sprechen". Jene Isolierung des BewuBtseins vom realenLeben der Personlichkeit und jene inteIlektualistische Auffassung des BewuBtseinsselbst, die diesen Widerspruch hervorriefen, fiihrte der Verfassereinzig und allein darauf zuruck, daB die eine Seite seiner Theorieeben noch nicht griindlieh genug ausgearbeitet ist. <strong>Die</strong>sen Mangel sah erin der isolierten Behandlung der Affekte und des Intellekts. Deshalbmachte er die Leser - sowohl am Anfang als auch am SchluB seines.Buches - theoretisch so eingehend mit diesem Problem vertraut."<strong>Die</strong> Isolierung der intellektuellen Seite unseres BewuBtseins vonseiner affektiv- volitionalen ist einer der entscheidendsten und sehwerwiegendstenFehler der gesamten traditionellen Psychologie", so schriebWYGOTSKI.- "Das Denken verwandelt sich hierbei unvermeidlich ineine autonome Stromung sich selbst produzierender Gedanken und isoliertsich vom gesamten unmittelbaren Leben.""Der Gedanke ist nicht die letzte Instanz. Er wird nicht aus einemanderen erzeugt, sondern aus einer motivierenden Sphare unseres BewuBtseins,die unsere Neigungen und Bedurfnisse, Interessen und Irnpulse,Affekte und Emotionen umfaBt. Hinter dem Gedanken steht eineaffektive und volitionale Tendenz. Nur sie kann bei der Analyse desDenkens auf das letzte ,Warum' eine Antwort geben."


190 Z. Psycho!. Bd. 162 Heft 3-4 (1958)Es war WYGOTSKInicht vergonnt, diese letzten yon ihm formuliertenLeitsatze weiterzuentwickeln. Wir wissen nur, daB er sich in seinem Plan,der die Erweiterung der <strong>psychologischen</strong> Charakteristik der Bedeutungals "Einheit des BewuBtseins" vorsah, mit der Erforschung der Rolle desAffekts zu befassen beabsichtigte.5. <strong>Die</strong> zentrale Frage, die in Verbindung mit den letzten GedankenWYGOTSKISauftaucht, ist: Fiihrt der in diesem Gedanken bezeichneteWeg in der Tat zur Uberwindung des weiter oben genannten Widerspruchsund zu einer konsequenten Verwirklichung des Leitsatzes vomBewuBtsein als einem Produkt des menschlichen Lebens innerhalb derGesellschaft, als einer Widerspiegelung des realen menschlichen Seins tSelbstverstandlich werden die affektiven Erscheinungen - Emotionen,Gefiihle, Neigungen - .xluroh Prozesse hervorgerufen, die eine Wechselwirkungzwischen Mensch und Wirklichkeit ermoglichen ", auBerdemgeben sie AufschluB iiber den eigentlichen Sinn dieser Prozesse. Das istwohl auch der Grund, warum WYGOTSKIdas Studium der Affekte alsSchliissel zum Verstandnis der Determination des BewuBtseins durch dieLebensbedingungen und die Entwicklung des menschlichen Lebens ansah.Doch hieraus ergibt sich eine neue, diesmal kaum zu iiberwindendeSchwierigkeit. <strong>Die</strong> affektiven Prozesse hangen namlich ihrerseits davonab, wie im Kopf des Menschen dasjenige widergespiegelt wird, was dieseProzesse hervorrufen, d. h. wiederum vom System der Bedeutungen, diedas BewuBtsein bilden. Somit ist auch auf diesem Wege die Gefahr einerUnterbrechung der <strong>psychologischen</strong> Forschung "im Kreise des Bewulitseins'


A. N. LEONTJEW u. A. R. LURIA, Psycho!. Anschauungen WYGOTSKIS 191Fragen wurden weiterentwickelt, das allgemeine theoretische, methodelogischeNiveau der Forschungen ist merklich gestiegen. Deshalb wirdder Leser in den Arbeiten WYGOTSKISvieles vorfinden, was nicht demmodernen Stand und den modernen Auffassungen der sowjetischenychologie, sondern vielmehr einer zuruckliegenden Etappe entspricht.Das bezieht sich vor allem auf die allgemeine Konzeption der Entwicklungder Psychologie. Ausgehend von jenem materialistischenGrundsatz, daB die spezifischen Besonderheiten der Psyche des Menschendurch seine Lebensbedingungen in der Gesellschaft bestimmt werden unddaB die Entwicklung seiner praktischen Beziehungen zur Wirklichkeitder Entwicklung seines BewuBtseins zugrunde liegt, sagte sich Wy-GOTSKIgleichzeitig mit Recht von jenen simplen Versuchen los, das BewuBtseindes Menschen unmittelbar aus seiner praktischen Tatigkeit abzuleiten.Dagegen hat er in seiner <strong>psychologischen</strong> Theorie vom BewuBtseindie reine erkenntnismalsige Beziehung des Menschen zur Welt vondessen praktischen Beziehungen abstrahiert. Das fand auch seinenNiederschlag in der These, daB die Grundeinheit des individuellen BewuBtseinsdie Bedeutung sei, die ein rein erkenntnistheoretisches Gebilde,ein Produkt der geistigen Kultur der Gesellschaft darstelle.Deshalb ging seine allgemeine psychologische Konzeption vom BewuBtseinnicht fiber den Rahmen einer - wie sie der Verfasser selbst bezeichnete- "kulturhistorischen" Entwicklungstheorie hinaus. WichtigeUmstande blieben unberiicksichtigt, z. B. daB die Aneignung der gesellschaftlichentwickelten Vorstellungen, Begriffe und Ideen durch denMenschen ·sowie deren jeweilige Funktion innerhalb der menschlichenTatigkeit direkt von den objektiven Bedingungen und dem Inhalt desLebens, vom wirklichen Sein des Menschen abhangt. Doch der Menschverhalt sich nicht gleiohgultig gegenuber. den Vorstellungen und Begriffen,die durch die Mitmenschen in sein BewuBtsein hineingetragenwerden, <strong>Die</strong> einen bleiben fur ihn, obwohl er sie versteht, nur auBerlichwahrgenommene Begriffe und Vorstellungen und nehmen fur ihn keinea.da qu a.te und aktive Bedeutung an; andere wiederum eignet er sichmit Eifer an, sie spielen in seinem Leben eine aktive, entscheidendeRolle. Doch alles das hangt nicht einfach von den intellektuellen Moglichkeitendes Menschen ab, sondern von dem Boden, auf den diese wahrgenommenenVorstellungen und Begriffe fallen und der im praktischenLeben des Menschen selbst bereitet wird. Das letzte, d. h. die Lebenspraxisim weitesten Sinne des Wortes, ist auch das Entscheidende.Ein anderer wichtiger theoretischer Widerspruch, der den ArbeitenWYGOTSKISinnewohnt, besteht gewissermaBen in der falschen Gegen-


192 z. Psycho!. Bd. 162 Heft 3-4 (1958)iiberstellung del' beiden Spharen del' psychischen Prozesse: del' "naturlichen"Prozesse und del' "kultivierten" Prozesse, die ihrer Natur nachgesellschaftlicher Art sind.Das gilt z. B. fur die Gegenuberstellung des "naturlichen" und desmittelbaren "kultivierten" Gedachtnisses. <strong>Die</strong> Beibehaltung diesel'Gegenuberstellung ist um so weniger gerechtfertigt, als in den Arbeitensowohl WYGOTSKISals auch seiner Schuler beharrlich an dem Gedankenfestgehalten wird, daB sich die elementaren Prozesse im Laufe del' Entwicklungin kompliziertere Systeme verwandeln, was zur Folge hat, daBauch hohere, spezifisch menschliche psychische Funktionen entstehen.Als gleichfalls unvollkommen und kritikbedurftig gilt auch jenepsychologische Terminologie, del' sich del' Autor in seinen Arbeiten bedient.Viele diesel' Termini bedurfen heute einer kritischen Betrachtungund Erlauterung. Hierzu gehort z. B. die Terminologie, die WYGOTSKIbenutzt, um die Begriffe auf ihren einzelnen Entwicklungsstufen zucharakterisieren ("Synkret", "Komplex", "Vorbegriff"). <strong>Die</strong>se Bezeichnungen,die zum graBten Teil del' auslandischen Psychologie entnommenwurden, haben aber in seinen Arbeiten eine wesentlich andere Bedeutung;sie bringen VOl'allem die Besonderheiten jener geistigen Prozessezum Ausdruck, die das Kind zur Verallgemeinerung hinfiihren unddie Struktur seiner Begriffe charakterisieren. So bedeutet beispielsweisedel' Leitsatz WYGOTSKIS, daB die echten Begriffe beim Kind auf relativspaten Entwicklungsstufen entstehen, durchaus nicht, daB man beimfruhen Alter del' Kinder nicht auch yon Begriffen sprechen darf. Es istlediglich damit gemeint, daB die geistigen Prozesse erst im spateren Alterden Charakter entwickelter logischer Operationen annehmen, die mit demtheoretischen Denken verbunden sind, und daB eben das seinerseits ineiner komplizierteren Struktur del' Verallgemeinerungen selbst zum Ausdruckkommt, die im Ergebnis diesel' Operationen entstehen.Einer kritischen Betrachtung sind auch viele Bezeichnungen zu unterziehen,in denen sich die Konzeption WYGOTSKISvom Unterricht undyon del' psychischen Entwicklung des Kindes widerspiegelt. Wir habenbereits weiter oben auf die begrenzte Bedeutung hingewiesen, die er denTermini "spontan" oder "alltaglich" beimaB, angewandt auf solche Begriffedes Kindes, die - wenn auch im Umgang mit den Erwachsenen angeeignet- doch nicht im Rahmen einer speziellen Unterrichtstatigkeiterworben werden. Das gleiche gilt auch fur den Inhalt bestimmteranderer Bezeichnungen wie z. B. des Begriffs "Mitarbeit" , del' dazudient, um zu verdeutlichen, daB das Kind seine Aufgabe mit Hilfe einesErwachsenen gelost hat.


A. N. LEONTJEW U. A. R. LURIA, Psycho!. Anschauungen WYGOTSKIS 1936. Ein spezielles Problem, auf das wIT noch besonders eingehenmussen, ist die Beziehung WYGOTSKISzur physiologischen Lehre PAW-LOWSsowie sein nicht zu unterschatzender Beitrag zur deterministischenAnalyse bestimmter Mechanismen der hoheren <strong>psychologischen</strong> Prozesse.Bereits in seinen fruhen Arbeiten - in der "Padagogischen Psychologie"und einer Reihe yon Facharbeiten - auBerte er wiederholt die Ansicht,daB die Psychologie sich nicht erfolgreich entwickeln konne, wennsie sich nicht auf jene feste physiologische Grundlage sttitzt, die ihr inder physiologischen Lehre PAWLOWSgegeben ist. <strong>Die</strong> refiektorischenReaktionen auf die Reize, die yon der Wirklichkeit ausgehen, schienenWYGOTSKIstets die Hauptprozesse zu sein, die jeglicher <strong>psychologischen</strong>'I'atigkeit zugrunde liegen. Das ist auch, wie in der <strong>psychologischen</strong> Literaturzu Recht festgestellt wurde, die Ursache, warum sich WYGOTSKIfruher als viele andere Psychologen der Lehre PAWLOWSzugewandt hat,die es ermoglichte, die physiologische Grundlage der psychischen Tatigkeitwissenschaftlich zu erfassen.Es tauchte allerdings eine ganz naturliche Frage auf: Wenn die LehrePAWLOWSyon den Refiexen die physiologische Grundlage der materialistischenPsychologie sein solI, heiBt das dann, daB die ganze Vielfaltdes bewuBten menschlichen Lebens auf jene relativ einfachenphysiologischen Erscheinungen zuruokgefuhrt werden kann, die PAWLOWbeim Studium der Prozesse der bedingten Refiexe der Tiere beobachtethat? Kann man das BewuBtsein des Menschen auf die Aktionen der bedingtenRefiexe zuruckfuhren?Wie wir wissen, haben sich die mechanistisch denkenden Forscherwiderspruchslos mit dieser Auffassung identifiziert, wahrend die Idealistenunter den Psychologen, die die Ansicht vertraten, die Psychologienehme eine "Sonderstellung" ein, diese Frage ·verneinten. Im menschlichenBewuBtsein, das sie auch weiterhin als einen bestimmten, unseremgeistigen Leben eigenen subjektiven Zustand auffaBten, existierte fur sienoch ein gewisses Etwas, das sich prinzipiell nicht auf die refiektorischenProzesse zuruckfuhren lieB; das BewuBtsein blieb fur sie ein Stuckinnere "geistige" Welt, in welche die naturwissenschaftliche Forschungnicht eindringen sollte. Deshalb wies PAWLOWmehrfach darauf hin, daBin den Auffassungen vieler Psychologen noch immer jener Animismusherrsche, der mit der wahren Wissenschaft unvereinbar sei.WYGOTSKIvertrat in bezug auf diese Frage eine vollig andere Ansicht.Wenngleich er sich in keiner Weise der animistischen, subjektiv-idealistischenAuffassung vom BewuBtsein als einer "inneren Welt" naherte, dieder wissenschaftlichen Analyse unzuganglich sein sollte, so identi-


194 Z. Psycho!. Ed. 162 Heft 3-4 (1958)fizierte er sich doch auch nicht mit der mechanistischen Riohtung, diebestrebt war, in den Aktionen der einfachen bedingten Reflexe einenMechanismus zu sehen, der alle - selbst die schwierigsten - Formen derbewuBten Tatigkeit erlautert.Er brachte wiederholt zum Ausdruck, daB der reflektorische Prozefzweifellos die universalste Erscheinung des psychischen Lebens darstelltund daf der bedingte Reflex, wie ihn PAWL OWan den Tieren studierthat, tatsachlich das Elemen t eines jeden Verhaltens darstellt. HeiBt dasaber, daf die Gesetze, die fur dieses Element gelten, auch fur aIle konkretenMechanismen der kompliziertesten Formen der menschlichenTatigkeit uneingeschrankt Gultigkeit besitzen iNiemand wundert sich daruber, daB Wasser aus zwei Teilen Wasserstoffund einem Teil Sauerstoff besteht. Doch kann man, wenn man dieEigenschaften des Sauerstoffs weill, auch die konkreten Eigenschaftendes Wassers erkennen ?Wir verfolgen hier den gleichen Gedankengang, der auch WYGOTSIUveranlaBte, zwei Hauptbegriffe zu unterscheiden - den Begriff des "Elements"und den der "Einheit" -, was fur ihn yon groBer, prinzipiellererkenntnistheoretischer Bedeutung war.Jeder Zweig del' Wissenschaft sollte das in den einzelnen Fallen zustudierende Objekt der Wirklichkeit in seine Bestandteile zerlegen undVOl'allem Analysen vornehmen, urn dann aus den Ergebnissen del' einzelnenAnalysen jenes synthetische System zu schaffen, auf Grund dessendie Verbindungen und Beziehungen del' realen Welt grundlieher widergespiegeltwerden konnen, HeiBt das nun, daf wir die Analyse bis aufdie elementarsten Teile ausdehnen und die Wirklichkeit in ihre Grundbestandteilezerlegen solleni Das hangt yon del' Aufgabe ab, die mit derjeweiligen Forschung verbunden ist, sowie davon, welche Verbindungenurid Beziehungen durch die jeweiligen Forschungsarbeiten bloBgelegtwerden sollen.Wollen wir die Hauptelemente des Verhaltens ergrunden, die gleichmafsigin jeder beliebigen Form del' Tatigkeit anzutreffen sind, sowie dieGesetze, denen sie unterworfen sind, so tun wir recht, wenn wir das Verhaltenanalysieren und die einfachsten zeitweiligen Verbindungen studieren.Doch konnen diese Gesetze der bedingten Reaktionen (die sichin gleichem MaBe auf die elementaren Gewohnheiten und den kompliziertestenWillensakt, die Bewegungen del' Augen, die einen Gegenstandbetrachten, sowie auf die Mittel des Lesens und Schreibens beziehen)etwas Wesentliches bei der Beschreibung jenes Konkreten aussagen,durch das sich diese Formen der 'I'a.tigkeit spezifisch voneinander


A. N. LEONTJEW U. A. R. LURIA, Psycho!. Anschauungen WYGOTSKIS 195untersoheiden ! Man hat nicht zufallig darauf verzichtet, die Begriffe"Mittel" und "Verfahren" sowie die Bezeichnungen der verschiedenenFormen der Vermittlungen mit in die Physiologie der hoheren Nerventatigkeiteinzubeziehen, die sich mit den allgemeinen Gesetzen derNervenprozesse beschaftigt, durch welche die Mechanismen der Hauptformendes Verhaltens zusammengestellt werden (diese Formen sind ingleichem MaBe charakteristisch fur Tier und Mensch). Erst in den letztenJahren entwickelte PAWLOWdie Lehre vom "Zweiten Signalsystem",jener "auBerordentlichen Erganzung", die "ein neues Prinzip derNerventatigkeit, das Prinzip der Abstraktion und gleichzeitig der Verallgemeinerungunzahliger Signale" einfuhrte, das unser .,speziellmenschliches Denken" ausmacht.Wie kann man nun diese spezifischen Besonderheiten der menschlichen'I'atigkeit analysieren, ohne etwas Spezifisches zu ubergehen, ohneden Vorgang einer konkreten Analyse durch einen anderen logischen Vorgang(Klarung der allgemeinsten, universalen Gesetze der reflektorischenTatigkeit) zu ersetzen, ohne gleichzeitig in eine idealistische Isolierungdes BewuBtseins yon seiner reflektorischen Grundlage zu verfallen undsich beim Studium der Erscheinungen deterministischer Verfahren zu bedienen?WYGOTSKIsah die Losung dieser Frage darin, daB die zu studierendeErscheinung nicht in ihre einfachsten Elemente, sondern in die fur dieseErscheinung spezifischen Einhei ten zerlegt wird, daB die Analyse biszu den Teilen fortgefuhrt wird, die in einfachster Form jene Eigenschaftenund Merkmale erkennen lassen, durch welche sich die gegebene Erscheinungauszeichnet.Eine solche "Analyse bis auf die Einheiten" ist fur jeden Zweig derWissenschaft charakteristisch. Ein Physiker, der die Eigenschaften derFliissigkeit studiert, wird einen Wassertropfen nicht in seine Wasserstoff-und Sauerstoffelemente zerlegen, sondern ein Molekul H 2 0 sowiedessen Eigensehaften studieren, die bei der weiteren Analyse verschwinden.Soll nun der Psychologe, der sich die Aufgabe stelIt, die spezifischenEigenschaften der kompliziertesten Formen der bewuBten 'I'atigkeit zustudieren, anders vorgehen?Es ist bekannt, daB das BewuBtsein nur auf del' Grundlage del' 'I'atigkeitder bedingten Reflexe entstehen kann und daB es niemals dieGrenzen jener Mechanismen uberschreitet, die durch die Physiologie derhoheren Nervenprozesse studiert werden. Es ist aber auch bekannt, daBdie bewuBte 'I'atigkeit nur dort einsetzt, wo die gesellschaftliche Arbeit,


196 z. Psychol, Bd. 162 Heft 3-4 (1958)die Benutzung yon Werkzeugen und der Sprache, die als Hauptumgangsmitteldient, diese reflektorischen Prozesse qualitativ verandert undspezielle Voraussetzungen fur die historische Entwicldung der hochstenund kompliziertesten Formen der Widerspiegelung der Wirklichkeitschafft. Naturlich darf der Psychologe, der sich die Aufgabe stellt, dieMechanismen dieser uberaus schwierigen Formen der 'I'atigkeit zu studieren,sich nicht darauf beschranken, auch bei der Analyse dieser Erscheinungendie Hinweise auf jene elementaren Mechanismen zu wiederholen,die allen, auch den einfacheren Formen des Verhaltens, eigen sind.Als Materialist muB er nach den einfachsten Kombinationen oderSystemen dieser reflektorischen Prozesse Ausschau halten, diesich beim Menschen im Rahmen des historischen Prozesses bildeten undalle Besonderheiten und Merkmale, die fur diese uberaus schwierigenFormen der Tatigkeit charakteristisch sind, erkennen lassen. Mit anderenWorten, er muB auch hier die komplizierten Erscheinungen inihre f'ur sie charakteristischen Teile zerlegen und stets daraufbedacht sein, daB auch sie in noch einfachere Elemente zergliedertwerden konnen. Gleichzeitig aber muB er auch achtgeben, daB er, wahrender sich mit der weiteren "Analyse bis auf die einzelnen Elemente"befaBt, nicht die Spezifik der zu studierenden Erscheinung und gleichzeitigdie Spezifik seiner Wissenschaft aus dem Auge verliert.Das ist die Ursache, warum WYGOTSKIdie "Analyse bis auf die Einheiten"als grundlegend fur die wissenschaftliche Psychologie bezeichnete.Es ist aber auch die Ursache, warum er bereits bei seinem fruhen wissenschaftlichenWirken bestrebt war, die Aufgaben dieses Weges theoretischzu umreiBen und in seinen experimentellen Arbeiten den Wegselbst praktisch zu beschreiten.<strong>Die</strong> einfache "Willensanstrengung" vermag nicht den Verlauf der<strong>psychologischen</strong> Prozesse in irgendeiner Weise zu beeinflussen. Es wareein prinzipieller Fehler und hieBe den Weg einer adeterministischenDenkweise beschreiten, wollte man glauben, daB wir mit Hilfe der"Willensanstrengung" unser Verhalten wesentlich verandern konnen,Nur wenn wir reflektorisch auf unsere auliere Welt einwirken und unsdann jenen Veranderungen unterwerfen, die durch unsere Handlungenin dem aufleren Milieu hervorgerufen wurden, nur dann konnen wir diesenReflex in ein Mittel verwandeln, um unser eigenes Verhalten zu meistern.Zwei Reflexe - die reflektorische Antwort auf den aulseren Reiz und diereflektorische Unterordnung unter dieses veranderte Milieu - bilden zusammen ein funktionales System: das System des vermittelndenAktes, der Ziige des BewuBten und Willkurlichen annimmt.


A. N. LEONTJEW U. A. R. LURIA, Psycho!. Anschauungen WYGOTSKIS 197Indem wir einen Knoten in unser Taschentuch machen, verandern wirdas auliere Milieu, wahrend wir diesen Knoten wahrnehmen und damitzu den Vorstellungen zuriickkehren, an die er uns erinnern soll, erwirkenwir den ProzeB des Sich-Einpragens und meistern auf diese Weise unserGedachtnis. Fiihren wir eine bestimmte materielle Handlung aus,schaffen wir uns ein Merkzeichen, und ordnen wir uns dann den Bedingungendieses veranderten Milieus unter, so beginnen wir - mit Hilfesolcher Vermittlungen - unsere Aufmerksamkeit zu lenken "). Wahrendwir das System der wortmafsigen Verbindungen, die wir uns friiher imUmgang mit unseren Mitmenschen angeeignet haben, reproduzieren,ki:innen wir uns ihrem EinfluB unterordnen und zu komplizierterenFormen des willkiirlichen und bewuBten Verhaltens iibergehen.In allen diesen Fallen liegen den komplizierten Formen der TatigkeitVerbindungen der bedingten Reflexe zugrunde; doch diese Verbindungenbilden ein bestimmtes System, in dem das SchluBglied des erst en ReflexesgewissermaBen zum Subjekt zuriickkehrt und zur Entstehungneuer, entsprechend veranderter Reflexe fiihrt. Aus diesem Grundenannte WYGOTSKIseine Versuche zur Entwicklung mittelbarer Artender Tatigkeit : Versuche nach der "Methodik der doppelten Stimulation",die - wie jede adaquate Methodik - die wesentlichen Merkmale der zustudierenden Erscheinung wiedergibt. Es besteht kein Zweifel daran,daB sowohl die Hervorhebung der Grund- "Einheit" der <strong>psychologischen</strong>Forschung, die er in der Entstehung des automatischen Reflexsystemssah, das zur Beherrschung des eigenen Verhaltens mit Hilfe bestimmterMi ttel fuhrt, als auch die Einfiihrung der "Methodik der doppeltenStimulation", die als adaquates Verfahren zum Studium dieser einfachstenEinheiten der "hi:iheren psychischen Funktionen" dienensollte, ein groBes Verdienst WYGOTSKISdarstellt, der sowohl diemechanistische Ignorierung der Spezifitat des menschlichen BewuBtseinsals auch die idealistischen Vorstellungen vom BewuBtsein als einemsubjektiven Zustand widerlegte, der sich objektiv nicht erforschen laBt.In einem seiner fruhen Aufsatze uber das BewuBtsein 2) versuchteWYGOTSKI in allgemeiner, aber doch konkreter Form den reflektorischenCharakter des BewuBtseins nachzuweisen.1) <strong>Die</strong> Analyse dieses Prozesses wird von WYGOTSKI in dem Aufsatz "<strong>Die</strong>Entwicklung der aktiven Aufmerksamkeit des Kindes" wiedergegeben, der indem Sammelband (a. a. 0.) enthalten ist.2) WYGOTSKI, L. S.: "Das BewuJ3tsein als Problem der Psychologie des Vel"haltens", in: "<strong>Die</strong> Psychologie und der Marxisrnus", 1925.15 Z. Psychologie 162


198 z. Psycho!. Bd. 162 Heft 3-4 (1958)"Das elementarste und allgemeine Grundgesetz fur die Verbindung derReflexe", so schrieber, "kann folgendermaBen formuliert werden: <strong>Die</strong>Reflexe verbinden sich untereinander nach den Gesetzen der bedingtenReflexe, wobei der antwortende (motorische, sekretorische) Teil des einenReflexes bei entsprechenden Bedingungen zum Reizerreger (oder Hemmreiz)eines anderen Reflexes werden kann, wahrend er uber den sensorischenWeg der mit ihm verbundenen peripheren Reizerreger einenReflexbogen mit neuem Reflex bildet ... Das Akademiemitglied P AWLOWnennt diesen Mechanismus einen Kettenreflex und benutzt ihn bei derErklarung des Instinkts. Selbst wenn man nicht nur ein und dasselbeReflexsystem, sondern auch andere in Betracht zieht und die Mogliehkeiteiner Transmission yon einem System in ein anderes beriicksichtigt,so wird auch das im Grunde genommen eben jener Mechanismus des BewuBtseinsin seiner objektiven Bedeutung sein."Spater kehrte WYGOTSKIjedoch nicht zu diesen, yon ihm am Anfangseines theoretischen Weges aufgestellten allgemeinen Leitsatzen zuruck,sondern wurde vielmehr durch die eingehende Analyse der wahrenStruktur des BewuBtseins und durch das Erforschen der kompliziertenEntwicklungsprozesse der Personlichkeit vonr unmittelbaren Studiumder physiologischen Mechanismen der ihn interessierenden Prozesse ab.gelenkt.Man muB jedoch mit aller Entschiedenheit feststellen, daB sowohl dasPrinzip der Hervorhebung der fur den Menschen spezifischen "Einheiten"als auch der Hinweis, daB die Sprache und ihr Hauptelement -das Wort - der Entstehung der recht komplizierten funktionalenSysteme zugrunde liegen, zu Leitaatzen wurden, die in seinem wissenschaftlichenWirken bis zum Ende seines Lebens einen zentralen Platzeinnahmen und auch als eines der wesentlichsten Elemente seiner <strong>psychologischen</strong>Konzeption weiterleben werden.7. Unsere Dbersicht uber die Bedeutung der Arbeiten WYGOTSKISware unvollstandig, wollten wir nicht auch auf eine Frage eingehen, diein seinem Schaffen einen besonderen Platz einnimmt.<strong>Die</strong> Psychologie war yon jeher bestrebt, sich nicht nur als eine Wissenschaftzu betrachten, die sich auf das abstrakte Studium der Gesetze derpsychischen Prozesse beschrankt, sondern als ein Wissensgebiet, das einegroBe lebenswichtige und praktisohe Bedeutung besitzt. Hervorgegangenaus den Beobachtungen yon Arzten und Denkern aus den Reihen derPadagogen der Antike und des Mittelalters, erforschte die Psychologiedie Gesetze des psychischen Lebens zu dem Zweck, Krankheiten zuheilen, den Menschen zu erziehen und dem Unterricht der Kinder eine


A. K. LEONTJEW U. A. R. LURIA, Psychol. Anschauungen WYGOTSKIS 199wissenschaftliche Grundlage zu geben. <strong>Die</strong> fuhrenden Vertreter des<strong>psychologischen</strong> Denkens hielten nicht nur an diesen Aufgaben fest,sondern bezeichneten sie sogar als erstrangig.Als die Psychologie jedoch unter den EinfluB der idealistischen Philosophie geriet, die die geistigen Erscheinungen vom Leben des Korpersund von der gesellschaftlichen Existenz des Menschen isolierte, muBtesie sich unvermeidlich von ihrer Praxis losen und ihre lebenswichtige Bedeutungeinbullen.Das ist auch die Ursache, warum die einzelnen Zweige der praktischenPsychologie - die piidagogische, die medizinische oder die Arbeitspsychologie-, die in der allgemeinen Theorie des psychischen Lebensnicht die erforderliche Grundlage fanden, unvermeidlich den Rahmen deroffiziellen idealistischen Psychologie sprengten und infolge ihrer Beschaffenheitein System spezieller, jedesmal neu formulierter Begriffe erdenkenmuBte. Folglich blieben einzelne Zweige der praktischen Psychologiefaktisch ohne wissenschaftlich- theoretische Grundlage, was zu einerunaufhaltsamen, empfindlichen Krise fuhrte, Es geniigt, an jene Sackgassezu erinnern, in welche die auslandische "Psychometrie" oder"Psychotechnik" (die die wissenschaftliche Erkenntnis der sich entwickelndenPsyche durch oberflachliche psychometrische, pseudowissenschaftlicheTeste ersetzte) oder auch die auslandische medizinischePsychologie hineingeraten ist (die zu einer Zufluchtstiitte der oberfliichlichenEmpirie geworden ist), um die ganze Tiefe jener Krise zu verstehen,die durch die Fruchtlosigkeit der idealistischen Psychologie undihr Unvermogen, sich einer wissenschaftlich begriindeten Lebenspraxiszu nahern, hervorgerufen wurde.Es kam also darauf an, die gesamte Grundlage der <strong>psychologischen</strong>Wissenschaft, die Auffassungen vom Wesen der psychischen Prozesse zuverandern, damit die Lebenspraxis der Psychologie ein wissenschaftlichesFundament erhielt.An dieser Uberprufung der Hauptausgangspositionen der <strong>psychologischen</strong>Wissenschaft, an der wissenschaftlichen Begriindung der Hauptaufgabenhaben die Arbeiten WYGOTSKISeinen groBen Anteil.WYGOTSKI,der von Anfang an nicht die metaphysische Auffassungvon der Psyche als einer Summe von isolierten und unveranderlichen"psychischen Funktionen" teilte, hat bereits zu Beginn seiner Forschungendie Psychologie als die Wissenschaft vom psychischen Lebenbezeichnet. Das bedeutete, daB innerhalb des Entwicklungsprozesses dieverschiedenen Lebensformen einander abwechseln und daB das Leben aufseinen hoheren Stufen eine besondere Form annimmt, die den Charakter15*


200 Z. Psycho!. Ed. 162 Heft 3-4 (1958)eines bewuBten, psychischen Lebens besitzt und mit der kompliziertenArt der Widerspiegelung der Wirklichkeit verbunden ist, die durch denUmgang mit anderen Menschen - durch die Arbeit, das Wort - bedingtwird. <strong>Die</strong> Vorsteilung von der Entstehung des psychischen Lebens entwickeltesich bei WYGOTSKIin enger Ubereinstimmung mit der Vorsteilungvon der Entstehung der Hauptbeziehungsarten zwischen demKind und der Wirklichkeit. <strong>Die</strong> Hilflosigkeit eines Sauglings, der physischvon der Mutter getrennt wird, aber biologisch noch von ihr abhangigist, die elementaren Formen des Umgangs zwischen dem Kindund den Erwachsenen, innerhalb deren sich das ganze psychische Lebendes Kindes entwickelt, die erste praktische Betatigung, die regelrecht dieForm einer gegenstandlichen Handlung, eines Spiels, einer Lehre annimmt- alles das bildete den Hauptbestandteil jener Theorie der psychischenEntwicklung, mit deren Ausarbeitung WYGOTSKIdie bestenJahre seines Schaffens verbrachte.Das fuhrte aber auch zu einer grundlegenden Uberprufung der in jenerZeit herrschenden Vorstellungen von der Psyche sowie zur Ersetzungder subjektiven idealistischen Konzeptionen von den seelischen Erscheinungendurch objektive und in ihrer Grundlage materialistischeVorsteilungen vom psychischen Leben des Menschen und seiner Entwicklung.Wahrend WYGOTSKIdie gegenstandliche 'I'atigkeit des Kindes unddessen Umgang mit den Erwachsenen zu den Bestandteilen und Triebkraftender Entwicklung rechnete und als Faktoren bezeichnete, die daspsychische Leben des Kindes bestimmen, brach er endgiiltig mit der Ideedes spontanen Reifens der geistigen Fahigkeiten sowie mit dem Gedanken,daB das aulsere Milieu nur die Entwicklung der inneren psychischenEigenschaften hemmt oder nur zu ihrer Entdeckung beitragt.Er wies die Mangelhaftigkeit der metaphysischen Konzeptionen derpsychischen Entwicklung nach, die im Ausland herrschten, und steiltejenen weitverbreiteten Thesen wie der STERNSvon der spontanen Entwicklungder psychischen Prozesse des Kindes (das ungefahr mit eineinhalbJahren die wichtigste Entdeckung seines Lebens macht, namlichdaB die Worte eine Bedeutung haben) oder der von PIAGET(nach der diepsychische Entwicklung des'Kindes eine Verdrangung der dem Kindselbst eigenen inneren Formen des psychischen Lebens durch neue sozialeVerhaltensformen darstelle) neue materialistische Leitsatze entgegen.Der Gedanke, daB aile komplizierten Formen des psychischen Lebensdes Kindes im UmgangsprozeB entstehen, daB eine Funktion, die sichfriiher zwischen zwei Menschen entwickelte, spater zu einer inneren


A. N. LEONTJEW U. A. R. LURIA, Psycho!. Anschauungen WYGOTSKIS . 201psychischen Funktion des Kindes wird, und schlieBlich der Leitsatz, daBdie Aneignung der allgemeinmenschlichen Erfahrung, die mit Hilfe derSprache weitervermittelt wird, den wichtigsten Faktor der psychischenEntwicklung darstellt - alles das wurde zum Ausgangspunkt fur dieLosung jener wichtigen Frage nach dem Verhiiltnis zwischen der Unterrichtungund der Entwicklung, wie sie WYGOTSKIin einer Reihe seinerArbeiten forderte, wahrend er sich selbst damit befaBte, die Hauptthesender praktischen piidagogischen sowie der Kinderpsychologie zu uberpriifen.Zu der Zeit, als jene Arbeiten WYGOTSKISerschienen (Anfang der30er Jahre), von denen hier die Rede ist, herrschte in der auslandischenPsychologie die feste Meinung, daB einzig und allein das Reifen derpsychischen Prozesse des Kindes den Erfolg seiner weiteren Ausbildunggarantiere. Der Unterricht ist durch die Entwicklung bedingt - so lautetedie praktische SchluBfolgerung aus dieser Theorie.WYGOTSKIsetzte sich griindlich mit dieser Konzeption auseinander.Wenn die gesamte Entwicklung des psychischen Lebens des Kindes imUmgangsprozeB vor sich geht, so heiBt das, daB dieser Umgang - undseine systematische Form, der Unterricht, - diese Entwioklung bestimmt,daB er neue psychische Formationen schafft und hohere Prozessedes psychischen Lebens zur Folge hat. Der Unterricht, der von derEntwicklung abhiingig zu sein schien, erweist sich in Wirklichkeit alsdiejenige Kraft, die diese Entwicklung am entschiedensten vorantreibt.Mit der Entwicklung andern sich nur die Formen des Unterrichts, undWYGOTSKIwies, wahrend er die Prozesse der psychischen Entwicklungim Vorschul- und Sehulalter analysierte, konkret die Besonderheiten derUnterrichtsformen nach, die fur jede Altersstufe charakteristisch sind.Man kann unschwer erkennen, daB diese Thesen vor allem von groBerund prinzipieller theoretischer Bedeutung sind. Wahrend WYGOTSKIfeststellt, daB der Unterricht die psychische Entwicklung bestimmt, daBdie Aneignung von Kenntnissen sich auch auf den Aufbau der psychischenProzesse auswirkt und sogar neue, besondere Formen der willkiirlichenund bewuBten psychischen Tiitigkeit schafft, niihert er sichmerklich der neuen materialistischen Auffassung von der psychischenEntwicklung, die vor ihm in derart priizisen Formen innerhalb der<strong>psychologischen</strong> Forschungen noch nicht zum Ausdruck gekommen war.<strong>Die</strong> Aneignung der allgemein-menschlichen Erfahrung, dieim UnterrichtsprozeB vor sich geht, ist eine wichtige, spezifischmenschliche Form der psychischen Entwicklung.<strong>Die</strong>se zutiefst materialistische These bestimmt im wesentlichen die neue


202 Z. Psycho!. Ed. 162 Heft 3-4 (1958)Art der Behandlung des uberaus wiehtigen theoretisehen Problems derPsyehologie, des Problems der psyehisehen Entwieklung. Hierin bestehtdie eigentliehe Bedeutung dieser Seite der WYGOTSKISehenForsehungen.Es ist jedoeh unverkennbar, daB diese neue Konzeption von der psychischenEntwieklung aueh noeh eine andere wiehtige Seite besitzt.<strong>Die</strong> Charakteristik jener Unterriehts- und Entwicklungsverhaltnissedie fur die verschiedenen Etappen des psyehisehen Lebens typiseh sind,ermoglioht es, jene Formen des padagogischen Einflusses, die die Vorsehulpadagogikvon del' Sohulpadagogik unterseheidet, wissensehaftliehzu begrunden, und es ist zweifellos das Verdienst WYGOTSKIS, den ganzenReiehtum des zu diesem Punkt vorhandenen Materials sorgfaltig gesiehtetzu haben. Gerade in seinen Werken, angefangen mit der fruhenVeroffentlichung der "Padagogisehen Psyehologie" bis zu den Arbeiten,die in diesem Bueh enthalten sind, findet die Padagogik viel wertvollesMaterial, das fur eine konkrete Begrundung maneher didaktischer Leitsatzeunerlafslich ist. Hierzu gehoren vor allem: die Thesen von denpsyehologisehen Besonderheiten der Unterweisung im Vorsehulalter undvon den "sensiblen Unterriehtsperioden", auf Grund deren del' geeigneteZeitpunkt fur den Elementarunterrieht im Lesen und Sehreiben bestimmtwerden kann, sowie die These von den Besonderheiten bei der Aneignungwissensehaftlieher und alltdglicher Begriffe im Sehulalter usw.<strong>Die</strong> neue Konzeption der psychischen Entwieklung, wie sie vonWYGOTSKIausgearbeitet wurde, besitzt aber noeh eine weitere Seite,deren Bedeutung den Rahmen des Unterriehtsproblems sprengt. Wirdenken hier an die psyehologisehen Methoden zur Beurteilung dergeistigen Entwieklung eines normalen und anormalen Kindes.<strong>Die</strong> Autoren, die die psyehisehe Entwieklung des Kindes als spontanbetraehteten, lieBen sieh aueh bei der Sehaffung einer Methodik zur Erforsehungder verschiedenen Formen von Storungen innerhalb der psychischenEntwieklung sowie zur Beurteilung der Mogliehkeiten fur eineWeiterentwieklung des Kindes von dieser Ansieht leiten. Gerade auf derGrundlage soleher Vorstellungen waren die sog. psyehologisehen Testeentstanden, die in einigen Landern weit verbreitet sind und das zuktinftigeSehieksal des Kindes bestimmen.<strong>Die</strong>se psychologische Praxis, die auf einer falschen theoretischenGrundlage basierte, eine Praxis, die dieses Wissensgebiet in eine Sackgassefuhrte, wurde in den Arbeiten WYGOTSKISeiner eingehendentheoretischen Kritik unterzogen.WYGOTSKIstellt fest, daB die Tatsache, daB ein Kind eine ihm gestellteAufgabe nieht von sieh aus zu losen in der Lage ist, noeh niehts


A. N. LEONTJEW u. A. R. LURIA, Psycho!. Anschauungen WYGOTSKIS 203iiber die psyehisehen Moglichkeiten des Kindes aussagt. Es kann sein,da13diese Unfahigkeit die Folge eines geistigen Defekts ist, sie kann aberaueh darauf zuruckzufuhren sein, da13 ein Kind nieht iiber die entsprechendenKenntnisse und Fertigkeiten verfiigt, um selbstandig dierichtige Losung zu finden. Hei13t das nun, da13 die Kinder in beidenFallen "minderwertig" sind und die weitere psychische EntwicklungMangel mit sich bringen mu13? <strong>Die</strong>se Frage wird von WYGOTSKIentschiedenverneint.<strong>Die</strong> psychisehe Entwicklung, so sagt er, geht bei den Kindem im Umgangmit Erwaehsenen im Proze13des Lernens vor sieh. In diesem Proze13entstehen neue Formen des psyehisehen Lebens, neue Fertigkeiten. Deshalblernt das Kind alles das, wozu es nicht selbstandig in der Lage ist,mit Hilfe eines Erwachsenen zu erledigen; darin besteht die ganze Weiterentwicklung;denn das, was ihm heute nur mit fremder Hilfe gelingt,wird ihm morgen schon aus eigener Kraft moglieh sein.<strong>Die</strong>se Auffassung fuhrte zu einer grundlegenden Anderung der <strong>psychologischen</strong>Methoden zur Beurteilung der geistigen Entwicklung desKindes, und die WYGOTSKISche Idee der "Zone der nachstfolgenden Entwicklung"eroffnete diesem wichtigen Gebiet der <strong>psychologischen</strong> Praxisvollig neue Moglichkeiten.WYGOTSKI,der von der eben genannten Vorstellung vom Wesen derpsychischen Entwieklung des Kindes ausging, schlug gleichzeitig neueVerfahren zur Erforschung der Besonderheiten der geistigen 'I'atigkeitdes Kindes vor. Er hielt es fiir zweckmallig, sich nicht nur auf ein einmaligeseinfaches Studium der geistigen Tatigkeit des Kindes zu beschranken,und davon abzugehen, sich bei der Beurteilung der geistigenTatigkeit mit einer einzigen Feststellung zu begniigen, namlich damit,inwieweit ein Kind die ihm gestellten Aufgaben selbstandig lost. ZumUnterschied von der angewandten Psychologie empfahl er, derartigeForschungen zweifach durchzufiihren, einmal, um zu iiberpriifen, inwieweitdas Kind die ihm aufgetragenen Aufgaben selbstandig lost, undzum anderen, um festzustellen, wie es die gleiehen Aufgaben mit Hilfeder Erwachsenen meistert. <strong>Die</strong> Differenz zwischen beiden Ergebnissen(und keinesfalls das absolute Urteil) kann dann die "Zone der nachstfolgendenEntwieklung" bestimmen und folglich zum wichtigen Bestandteilbei der allgemeinen Beurteilung der geistigen Moglichkeiten desKindes werden.Erst wenn ein Kind au13erstande ist, eine seinem Alter entsprechendeAufgabe weder selbstandig noch mit fremder Hilfe zu losen, wenn es dieHilfe eines Erwachsenen sowie die im Unterricht erhaltenen Regeln nicht


204 z. Psycho!. Bd. 162 Heft 3-4 (1958)zu nutzen weiB, erst dann ist man berechtigt, von einein wahren Defektin der geistigen Entwicklung eines Kindes sowie von geistiger Zuruckgebliebenheitzu sprechen. Ist aber ein Kind, das eine Aufgabe nichtselbstiindig bewiiltigen konnte, in der Lage, sie mit Hilfe eines Er.wachsenen zu losen, eignet es sich spater die erhaltenen Ratschliige anund berucksiohtigt sie bei der selbstiindigen Losung ahnlicher Aufgaben,so kann man annehmen, daB sich dieses Kind in geistiger Hinsicht gutentwickeln wird.Der Gedanke der "Zone der niichstfolgenden Entwicklung" und d eempfohlenen Verfahren zum Studium dieser Zone gestatteten es Wy-GOTSKI,ein dynamisches Prinzip in bezug auf die Erforschung dergeistigen Entwicklung des Kindes einzufuhren und die weiteren Moglichkeitenseiner Entwicklung zu erforschen, was auch zur Losung eineranderen wichtigen Aufgabe beitrug, namlich zur wissenschaftlichen Begrundungder rationellen padagogischen Beeinfiussung des Kindes. Dadurch,daB sich der Piidagoge daruber im klaren ist, welche Operationenein Kind mit Hilfe der Erwachsenen durehfuhren kann und welche Maglichkeitenfolglich durch die "Zone der niichstfolgenden Entwicklung"gegeben sind, ist er imstande, nicht nur die weitere psychische Reifeseines Schulers vorauszusehen, sondern diesen ProzeB auch rationell zubeeinfiussen und die psychische Entwicklung auf wissenschaftlicherGrundlage zu lenken. Daran liiBt sich muhelos erkennen, daB in diesenLeitsiitzen WYGOTSKISdas Fundament fur viele erfolgreiche Forschungengelegt ist, die es gestatten, die Unterrichtstheorie wissenschaftlich zufundamentieren, mit anderen Worten, die geistige Entwicklung desKindes nach psychologisch begrundeten Gesichtspunkten zu lenken.Wenn wir auch den wissenschaftlichen und praktischen Wert dieserIdeen WYGOTSKIShervorheben, so konnen wir doch andererseits nichtdarauf verzichten, auf gewisse Inkonsequenzen und direkte Entstellungenhinzuweisen, die den vorliegenden Zyklus von Arbeiten charakterisierenund ihren deutlichsten Ausdruck in WYGOTSKISEinstellung zur sog.Padologie fanden. Wie wir soeben festgestellt haben, kritisierte er besondersjene ihrem Wesen nach fatalistischen Konzeptionen der psychischenEntwicklung des Kindes, die der Piidologie zugrunde lagen; dasgleiche gilt auch fur die in der Piidologie ublichen psychometrischenTeste. Doch sah er keine innere Verbindung zwischen der Haltlosigkeitder von ihm kritisierten Theorien und deren Methodik und der Haltlosigkeitdes Gedankens von der Existenz einer gewissermaBen speziellen"Wissenschaft vom Kind", der Padologie. Deshalb ging er, obwohl er dieUnwissenschaftlichkeit der von den damaligen Piidagogen benutzten


A. N. LEONTJEW u. A. R. LURIA, Psycho!. Anschauungen WYGOTSKIS 205Theorien und Testmethodiken entlarvte, nicht gegen die Piidologie (undihre Terminologie wie Krisis des Reifens, Denkens usw.) vor, in der ervor allem eine Plattform sah, von der aus die <strong>psychologischen</strong> Erkenntnissein das Schulleben praktisch eindringen konnten. Mehr noch, erselbst veroffentlichte sogar einige seiner psyehologisehen Arbeiten inpiidologischen Publikationen. Das war naturlich ein Fehler, durch denallerdings all das Positive, das er zur Losung praktisch wichtiger psychologischerFragen beigetragen hatte, nicht geschmiilert wird.Es sind aber nicht nur die erwiihnten Arbeiten, die die Tendenz erkennenlassen, stets Neues in die praktischen Gebiete der Psychologiehineinzutragen, sondern die gesamte Tiitigkeit WYGOTSKISiiberhaupt.Daruber hinaus ist es ihm sogar gelungen, tatsachlich viel Neues auf deneinzelnen Gebieten der Psychologie zu leisten. Seine Arbeit an den Prinzipiender Kompensation von Defekten und des Unterrichts bei taubstummenKindern, an prinzipiellen Verfahren der patho<strong>psychologischen</strong>Forschung unter Beurteilung der primaren und der daraus entstehendensekundiiren (systematischen) Defekte, seine Arbeiten an den wichtigstenProblemen der Logopadie, der Nervenkliniken und lrrenanstalten sindaus diesen Gebieten nicht mehr wegzudenken.WYGOTSKIsetzte sich beharrlich dafur ein, daB die Psychologie aufharte,nur eine piidagogische Wissenschaft zu sein, daf sie den Rahmenrein abstrakter theoretischer Erkenntnisse sprengen und aktiv in dasmenschliche Leben eindringen konnte, um aktiv an seiner Gestaltung mitzuwirken.<strong>Die</strong> Psychologie, so sagte er, muf ihren Gleichmut aufgebenund zur Leidenschaftliehkeit iibergehen, sie dad weder die groBenethischen Probleme im Leben des Menschen noch die kleinen alltaglichenauBer acht lassen. Der Psychologe aber muf sowohl ein Denker als auchPraktiker sein. "leh bin del' Meinung, daB die Psychologen genau wie dieArzte praktisch arbeiten sollten, praktiseh im weitesten Sinne; ich binfur Kuhnheit und dafur, daB unsere Wissenschaft aktiv in das Lebeneindringt" , so schrieb WYGOTSKI.Wir glauben, daB die Forderung WYGOTSKIS,die wissenschaftlichePsychologie mogliehst eng mit dem Leben, mit del' Praxis zu verbinden,auch in unserer Zeit noch ihre Aktualitiit behalten hat und daf wir auchheute noch vor del' gleichen Aufgabe stehen.Anschrift des Verfassers:Prof. Dr. A. N. LEONTJEW und Prof. Dr. A. R. LURIALomon OSSOW·Uni versi tatMoskau, UdSSR15 a Z. Psychologie 162

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