ThemaWer ist wer oder was?weiblich und/ oder männlichAls vor sechs bis sieben Millionen Jahren in denWäldern Ostafrikas die Teilung von menschlichenArten und Affenarten begann, nahm ein ungeheurerEntwicklungsprozess seinen Lauf, welcherder Erde schließlich wieder einmal ein neues Geschöpfbescherte. Während Schimpansen und Gorillasweiterhin mittels Aggression ums Überlebenkämpften, entwickelte sich eine Primatenart, dieauf Kooperation, Fürsorglichkeit und Friedfertigkeitsetzte. Dieses „weichere“ Sozialverhalten ermöglichteoffenbar ebenso das Überleben und führtezu einem neuen Verhältnis zwischen Männlichemund Weiblichem, in welchem Rangordnungskämpfeund Balzgehabe nebensächlich wurden.Stattdessen trat die gemeinsame Sorge für denNachwuchs in den Vordergrund. Das sich nun imLaufe der Evolution entwickelnde Menschenkindtendierte mit wachsendem Gehirn- und Schädelumfangzur vorzeitigen Geburt, denn es hätte „alsvoll ausgereifter Fötus… den Geburtskanal nichtmehr passieren können, so dass das Neugeboreneim Vergleich zu anderen Säugetieren vonbeispielloser Hilflosigkeit ist. Als solches wares nicht nur auf die hohe Fürsorgebereitschaftder Mütter angewiesen, sondern auch auf dieRücksichtnahme und den Schutz der männlichenGruppenmitglieder“ (Carola Meier-Seethaler).Die Empfindung dessen, was um ihn und in ihmist, wurde vom Menschen zunächst als Einheitbegriffen und als solche bildete er sie in gemeinschaftsstiftendenKulten und Projektionen ab,was anhand von gefundenen Höhlenzeichnungen,Figuren, Gefäßen u.ä. sowie ältesten mythologischenÜberlieferungen nachzuvollziehen ist. DieBeobachtung der Natur, die Entdeckung zyklischerGesetzmäßigkeiten und das Empfinden desmenschlichen Lebens als Teil des Naturkreislaufsbis hin zu der Erkenntnis, das zyklische Prinzipsogar in sich selbst zu tragen, verhalfen demMenschen zu einem reflexiven Bewusstsein, welchesihn gegenüber dem Tier hinsichtlich seinerArterhaltung von der totalen Triebgesteuertheitbefreite. Auf der Grundlage dieser Wahrnehmungseiner Selbst in der Welt, gelangen ihm dieHerausbildung von menschlich - sozialen Verhaltensweisensowie eines „feinfühligen Reaktionsvermögensauf ökologische Bedingungen“. Diesermöglichte ihm die „Gründung von nachhaltigenGemeinschaften… [mit] einer zuverlässigenLebensproduktion“ (Joan Marler).Im weiteren Verlauf der Menschheitsgeschichteverursachten sowohl die Fähigkeit des Menschensich selbst zu reflektieren, als auch verschiedensteEinflüsse und Entwicklungen, wie z.B.Klimaveränderungen, die zu Lebensmittelknappheitführten und durch das Erleben von Mangel dieEntstehung von Privateigentum nach sich zogen,dass der Mensch sich aus dem Kreislauf der Naturherausnahm, sich über die Natur stellte, „Mitwelt“zunehmend als „Umwelt“ erlebte und sichdamit aber selbst aus seiner eigentlichen Existenz„herauswarf“. Damit begann der unglaublicheVersuch des Menschen, die Natur zu beherrschenund somit aber auch sich und seine Artgenossen.Einige letzte indigene Völker kennen bis heutekeine Hierarchien; alle „zivilisierten“ Völker aberund im Endeffekt eben doch die ganze Menschheit,müssen mit den Folgen und dem Andauerndieses Experiments zurechtkommen.Reflexionsvermögen samt dem Schritt „raus ausder Natur“ zogen eine Bewusstseinsspaltungnach sich, die sich schließlich in der Trennungvon Körper und Geist äußern sollte. Dadurch entstandenGegensätze, die vorher keine gewesenwaren, sondern eine Einheit gebildet, einanderbedingt hatten, sich nun aber bald unversöhnlichgegenüber standen.Auguste Stärk, 5 JahreSo erfolgte eine Aufteilung in oben und unten,hell und dunkel, außen und innen, gut und böseund letztlich Mann und Frau. Die Einsetzungdieses dualen Denkens führte zu einer geteiltenWahrnehmung im Sinne von „ich und das Andere/die Anderen“, wobei das Andere/ das Fremdezuerst in einem selbst entdeckt, im ungünstigstenFalle abgewertet bzw. mit massiven Ängstenbelegt und dann ins Außen projiziert wird. DiesemMechanismus entspringen alle Arten von Diskriminierungund Marginalisierung.Wie nun Archäologinnen Hinweise auf frühesteKulturen fanden, die gewalt- und herrschaftsfreigelebt und das Leben an sich, seine Weitergabeund Pflege als Sinn und Zentrum ihres Lebenserfasst hatten, so stießen Ethnologen bei derErforschung indigener Völker auf Gesellschaftsformenhierarchiefreier und geschlechtsegalitärerNatur und in diesem Zusammenhang auf dieunterschiedlichsten Vorstellungen davon, wasdie Geschlechtlichkeit des Menschen anbelangt.GeschlechterstereotypenBestimmung für:AUSSENWeiteÖffentliches LebenAKTIVITÄTEnergie, Kraft, WillenskraftFestigkeitTapferkeit, KühnheitTUNselbstständigstrebend, zielgerichtet, wirksamerwerbendgebendDurchsetzungsvermögenGewaltAntagonismus (Widerspruch)RATIONALITÄTGeistVernuftVerstandDenkenWissenAbstrahieren, UrteilenTUGENDWürdeDiese Studien zeigen, dass die Auffassungenvon Weiblichkeit und Männlichkeit unermesslichvariieren können, demnach nicht zwangsläufigbiologisch determiniert zu sein scheinen, sondernkulturell bedingt und künstlich hergestellt sind.Indem jede Kultur „Geschlecht“ selbst definierenkann, ist es vorrangig eine soziale Kategorie, diein der Regel zugewiesen wird; mitunter kann sieauch frei gewählt werden.So gebären natürlich überall auf der Welt dieFrauen, denen es möglich ist, die Kinder, aberdie Pflege und Betreuung übernehmen in einigenKulturen die Männer, da ihnen die höhere Emotionalitätund Fürsorglichkeit zugeschrieben wird.Die Frauen dagegen gelten dort als vernünftigerund somit befähigter für repräsentative und wirtschaftlicheAufgaben. Wiederum gibt es Völker,in denen sich beide Geschlechter gleichermaßenum die Kinderbetreuung kümmern, weil Fürsorglichkeit,Aggressionslosigkeit und Friedfertigkeitals adäquates Verhalten für beide Geschlechtergelten. Und ebenso gibt es Kulturen, in denendie Kinder sich weitestgehend selbst überlassen<strong>FAS</strong> Schulzeitung Ausgabe Dezember 09 Seite 4
der westlichen WeltBestimmung für:INNENNäheHäusliches LebenPASSIVITÄTSchwäche, Ergebung, HingebungWankelmutBescheidenheitSEINabhängigbetriebsam, emsigbewahrendempfangendSelbstverleugnung, AnpassungLiebe, GüteSympathieEMOTIONALITÄTGefühl, GemütEmpfindungEmpfänglichkeitRezeptivität (Aufnahmefähigkeit)ReligiositätVerstehenTUGENDENSchamhaftigkeit, KeuchheitSchicklichkeitLiebenswürdigkeitTaktgefühlVerschönerungsgabeAnmut, SchönheitChrista Spannbauer „Das verqueere Begehren“, Würzburg 1999, S. 23werden, da das Erlernen von Eigenverantwortlichkeitund Selbstfürsorge höher bewertet werden,als die Fürsorge für andere.Wiederum den Ethnologinnen ist jene Entdeckungzu verdanken, dass eine solche Geschlechterpolarität,wie wir sie kennen, nichtauf der ganzen Welt üblich ist. Bei etlichenindigenen Stämmen Nordamerikas gilt geradeder Weibmann oder die Mannfrau als ein ganzbesonders zu ehrendes Geschlecht, da diesenMenschen ein Brückenschlag zwischen den Geschlechternmöglich ist. Außerdem wird Kindernim Laufe ihrer Entwicklung die Entscheidungdarüber, welcher Geschlechtsgruppe sie sich zugehörigfühlen, selbst überlassen, was sich z.B.auch in einer neutralen Namensgebung äußert.Was also als männlich oder weiblich definiertwird, unterliegt in erster Linie der jeweiligenkulturellen Konstruktion und indem globalgesehen da eine unermessliche Bandbreite zuverzeichnen ist, zeigen weibliche Männer undmännliche Frauen jedweder Gesellschaft sowieTranssexuelle, Intersexuelle und vielleicht auch„Geschlechtsneutrale“, dass es vermutlich mehrals zwei Geschlechterkategorien gibt. Aberletztendlich wird es nicht um eine „Kategorisierung“gehen, sondern um die Balance der injedem Menschen vorhandenen Anteile.Mittlerweile werden diese Erkenntnissevon Seiten der Biogenetik unterstützt, dieGeschlecht als biologische Kategorie überverschiedene innere Parameter und nicht nurüber das äußerlich sichtbare Genital und andereMerkmale im Körperbau zu bestimmen vermag.Verschiedene Methoden zur innerkörperlichenGeschlechtsbestimmung zeigen, dass vieleMenschen gar nicht so eindeutig, wie uns imallgemeinen dünkt, dem einen oder anderenGeschlecht zuzuordnen sind, sondern jeder inunterschiedlichem Maße weibliche und männlicheAnteile in sich trägt, die sogar biogenetischnachzuweisen sind. Transsexuelle Menschenzum Beispiel, die von einer grundlegendenNichtübereinstimmung ihres Geschlechtskörpersmit ihrer Geschlechtsidentität berichten,weisen damit deutlich auf diesen Umstand hin,dass Geschlechtszugehörigkeit nicht erzwungenwerden kann, sondern einzig das eigene Gefühl,welches natürlich beeinflusst ist von dem derjeweiligen Kultur innewohnenden Geschlechterverständnisses,über die eigene sexuelleIdentitätsfindung bestimmt.ThemaIm Zuge der Entstehung von patriarchalenGewalt- und Herrschaftsformen in weiten Teilender Welt führte die scharfe Polarisierung derGeschlechter zur Abwertung des Weiblichen,zur Heteronormativität - wobei die Norm dermännliche, weiße, gesunde und heterosexuelle,möglichst monogam lebende Mittelschicht-Mensch ist - sowie zur Zwangsheterosexualisierung.Dass dieser „widernatürliche“Geschlechterdualismus, welcher die Herrschaftdes „weißen Mannes“ über den Großteil derMenschheit, bestehend aus Frauen, Mannweibern,Weibmännern, Schwarzen, Kindern,Alten, Kranken, Homosexuellen usw. legitimiert,zu erheblichen Konflikten im Selbstkonzeptder Individuen führen kann, belegen unzähligeStatistiken zu entsprechenden Krankheitsbildernund Gewaltakten gegen sich und andere.Die Struktur unserer polaren und hierarchischenGeschlechterordnung sorgt immer wieder für dieBeibehaltung des herrschenden Geschlechterverhältnisses,bedingt durch den Umstand, dass„die männliche Sozialisation seit Jahrtausendenum das Ideal des Kriegers, der Eroberersund des Drachentöters kreist, dazu berufen,das Böse im Namen des Guten zu vernichten“(Carola Meier-Seethaler).Wenn wir nun in diesem (oder auch einem anderen,z.B. genau umgekehrten) Geschlechterverhältnis„hängen“ bleiben, in welchem Gegensatzpaarenur zwei Ausprägungen ermöglichen, diesich logischerweise immer wieder gegenseitigausschließen, bleiben wir ebenfalls in einemBewertungs-/ Moralsystem „stecken“, welchesden einen Geschlechterstereotyp gegenüberdem anderen abwertet. Die dann bestehenbleibende Hierarchie zwischen den Geschlechternverschleiert den Blick auf die Machtverhältnisse,denn in den Rollenbildern werdendie Merkmale der einzelnen Geschlechter alswesenhaft bzw. naturgegeben manifestiert, umdie Dominanz einiger weniger „Auserwählter“ zubegründen. Das Individuum hat dann in seinemSozialisationsprozess innerhalb der gegebenenGeschlechterordnung den Kampf zu bestehen,„in Konfrontation mit den geschlechtsspezifischwirkenden Ausgrenzungs- und Eingrenzungsmechanismengesellschaftlicher Institutionen undRegelsysteme handlungsfähig [zu] werden und[zu] bleiben“ (Barbara Stiegler).Wie nun also kann unser massiv einschränkendes,geradezu beschränktes Weltbild von derZweigeschlechtlichkeit aufgebrochen werden???Indem wir beginnen, individuelle Realitäten ohneWertung wahrzunehmen, Geschlechtsidentitäten,die aus den gesellschaftlich bestimmten Zuweisungenherausfallen;uns trennen von der Vorstellung der naturgegebenenGeschlechterdifferenz, auch die Politisierung(Frauen brauchen Quoten usw.) und die Mythisierung(Sehnsucht des einen nach dem ganzanderen) dieser Problematik überwinden und vorallem jede Moralisierung der Geschlechterdifferenzhinter uns lassen, denn auch Moral ist eineausschließlich kulturelle Erfindung, die auf derZweigeschlechtlichkeit basiert und diese benutzt,um sich selbst aufrecht zu erhalten, also Machtum der Macht willen beansprucht und damit dasMenschliche korrumpiert.Claudia KarpfLiteraturempfehlungen:Aufsätze:Praxis-Leitfaden zur emanzipatorischen Jungenarbeit, hrsg. vomJugendamt der Stadt Nürnberg;Michael Schenk: Aufsätze zur emanzipatorischen Jungenarbeit 1991 – 1999;Barbara Stiegler: Berufe brauchen kein Geschlecht: zur Aufwertung sozialerKompetenzen im Dienstleitungsberufen /. - [Electronic ed.]. - Bonn, 1994.;Hilge Landweer: Kritik und Verteidigung der Kategorie ‚Geschlecht‘.Wahrnehmungs- und symboltheoretische Überlegungen zur sex/gender-Unterscheidung. In: Feministische Studien, Jg. 11, Heft 2, S. 34-43.;Joan Marler: Die Ikonographie und soziale Struktur Alteuropas: Diearchäo-mythologische Forschung von Marija Gimbutas. Aus: Gesellschaftin Balance, 2003, Hrsg. Heide Göttner-Abendroth, S.195ff.www.sciencemag.org zum Thema Primaten/MenschheitsentwicklungBücher:Jutta Voss: Das Schwarzmondtabu, Stuttgart 2006 ;Christa Spannbauer: Das verqueere Begehren, Würzburg 1999;Heide Göttner-Abendroth und Kurt Derungs: Matriarchate als herrschaftsfreieGesellschaften; dies.: Gesellschaft in Balance, Luxemburg 2003; u.v.a.Carola Meier-Seethaler: Ursprünge und Befreiungen, Zürich 1988;Macht und Moral: 16 Essays zur Aufkündigung patriarchaler Denkmuster,Zürich 2007; im Internet zu finden unter: www.opus-magnum.deFrigga Haug: Erinnerungsarbeit, Hamburg 1990<strong>FAS</strong> Schulzeitung Ausgabe Dezember 09 Seite 5