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Kampf gegen die Drogen - Adlas - Magazin für Sicherheitspolitik

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ADLAS<strong>Magazin</strong> <strong>für</strong> Außen- und <strong>Sicherheitspolitik</strong>AUSGABE 2/20137. JahrgangISSN 1869-1684SCHWERPUNKT<strong>Kampf</strong> <strong>gegen</strong> <strong>die</strong> <strong>Drogen</strong>JAPANS STRATEGIEWANDELAuf KonfrontationskursAMERIKANISCHE GEOPOLITIKBoden der TatsachenADLAS www.adlas-magazin.de2/2013 ISSN 1869-1684 Publikation <strong>für</strong> den 1


Titelfoto: MoD UK/Dave HusbandsEDITORIALKriege sollte man nur beginnen, wenn auch <strong>die</strong> Chance besteht, sie zu gewinnen.Ein Feldzug <strong>gegen</strong> Rauschmittel gehört sicher nicht dazu. Dennochhat Richard Nixon 1971 den »Krieg <strong>gegen</strong> <strong>die</strong> <strong>Drogen</strong>« ausgerufen, denn <strong>für</strong>ihn war der zunehmende Konsum in den USA der Sechzigerjahre eine»Flutwelle, <strong>die</strong> über das Land gekommen ist, und <strong>die</strong> Körper und Seele Amerikasquält.«40 Jahre später hält sich der Erfolg <strong>die</strong>ses Krieges in Grenzen: <strong>Drogen</strong> sindüberall auf der Welt billig und leicht verfügbar. Allein in Mexiko starben inden letzten sieben Jahren mehr als 70.000 Menschen im Feuer zwischen Kartellenund Sicherheitsapparat. Friedemann Schirrmeister findet, dass <strong>die</strong> Verbrecherorganisationenaus <strong>die</strong>ser blutigen Auseinandersetzung sogar als Siegerhervorgehen (Seite 15). Damit nicht genug: Die organisierte Kriminalität,<strong>die</strong> erst durch <strong>die</strong> Prohibition gedeiht, ist ein transnationales und globalesPhänomen, wie auch Beispiele aus Mali (Seite 31) und Iran (Seite 37) zeigen.Umso bemerkenswerter ist, wie lange es gedauert hat, bis sich in Lateinamerikapolitischer Widerstand <strong>gegen</strong> den repressiven Ansatz formiert. Ausgerechnetkonservative Staatschefs wie Kolumbiens Juan Manuel Santos o-der Guatemalas Otto Pérez Molina scheinen jetzt dem Motto zu folgen:»Legalize it!« Florian Lewerenz erklärt, wie es dazu gekommen ist (Seite 7).Was solche Initiativen erreichen können, zeigt Dorotea Jestädt (Seite 46)mit ihrem Blick nach Portugal, das das <strong>Drogen</strong>problem seit 2000 mit einigemErfolg angeht – in erster Linie als Angelegenheit der öffentlichen Gesundheits<strong>für</strong>sorgeund nicht als Kriminalitätsproblem.Aber auch in den USA beginnt ein Umdenken. Das Weiße Haus will den»War on Drugs« neuerdings nicht mehr so nennen, und andere gehen nochweiter: Mehrere Bundesstaaten haben inzwischen den Gebrauch von Marihuanalegalisiert, worüber Frank Wilker berichtet (Seite 18).Ausgerechnet konservativeStaatschefs scheinen jetzt dem Mottozu folgen: »Legalize it!«Eine neue Reihe beginnt in <strong>die</strong>sem ADLAS mit dem Blick auf <strong>die</strong>»Konfliktzone Ostasien«. Den Auftakt macht David Adebahr, der analysiert,wie Japan sich seit den 1990er Jahren strategisch neu orientiert (Seite 52).Ist Nippons konstitutioneller Pazifismus am Ende?Wie nötig Tokios Partner Washington jede Verstärkung des sicherheitspolitischenEngagements seiner Verbündeten benötigt, erklärt Cedric Biergannsim allgemeinen Teil <strong>die</strong>ser Ausgabe (Seite 61). Nach dem »imperialoverstretch« der Ära Bush scheint <strong>die</strong> Supermacht auf dem, fiskalischen, Bodender Tatsachen angekommen zu sein.Zu guter Letzt gibt ADLAS einen Filmtipp: Die Dokumentation »Töte zuerst«des Israelis Dror Moreh gibt nicht nur einen tiefen Einblick in das Wesenvon Geheim<strong>die</strong>nsten, sondern erklärt <strong>für</strong> Dominik Peters nebenbei auchnoch, wie der Nahostkonflikt funktioniert (Seite 72).Stefan DöllingHERAUSGEBERADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 2


INHALTSCHWERPUNKT: KAMPF GEGEN DIE DROGEN7 LATEINAMERIKA: Die Tabubrecher40 Jahre Krieg <strong>gegen</strong> <strong>die</strong> <strong>Drogen</strong> haben einen hohen Blutzoll gefordert.Die Präsidenten Lateinamerikas diskutieren nunoffen über Alternativen zum bisherigen Prohibitionsmodell.15 MEXIKO: Lernkurve der VerbrecherTrotzt massiven Einsatzes von Sicherheitskräften verliertMexiko den Krieg <strong>gegen</strong> <strong>die</strong> <strong>Drogen</strong>. Die Kartelle haben sich besserangepasst als der Staat.18 USA: Der Hanf wird freiDas Ursprungsland des »Kriegs <strong>gegen</strong> <strong>die</strong> <strong>Drogen</strong>« liberalisiert seine<strong>Drogen</strong>politik - zumindest auf Eben der Bundesstaaten.Verbote lockern Seite 724 FOTOESSAY: Wahl der WaffenVerbrecher und Ermittler rüsten <strong>gegen</strong>einander auf. Und legenErfindungsgeist an den Tag.31 HANDELSWEGE I: Drehkreuz im FadenkreuzDer <strong>Drogen</strong>handel in Westafrika hat bedrohliche Ausmaßeangenommen. Der Fall Mali hat nun <strong>die</strong>westlichen Ordnungsmächte auf den Plan gerufen.36 NOTIZ / NARKO-SYSTEM: Putschist und Dealer37 HANDELSWEGE II: Gottes TransitstaatDank seiner geographischen Lage ist der Iran einer der wichtigstenSchauplätze des internationalen <strong>Drogen</strong>schmuggels.Krieg führen Seite 24ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 3


INHALT41 MARKTANALYSE: Peitsche und ZuckerbrotWeil sich eine lückenlose Strafverfolgung so schwierig gestaltet,versucht <strong>die</strong> EU mit einer angepassten Strategieden florierenden <strong>Drogen</strong>handel in Europa einzudämmen.Japan umorientieren Seite 5246 LEGALISIERUNG: Heile Welt am Rande EuropasSeit zehn Jahren sind <strong>Drogen</strong> in Portugal entkriminalisiert. Die Erfolgesprechen <strong>für</strong> sich und laden zum Nachahmen ein.REIHE: KONFLIKTZONE OSTASIEN52 STRATEGIEWECHSEL: Berechenbarer KonfrontationskursJapan intensiviert seit zehn Jahren seine <strong>Sicherheitspolitik</strong> auf globalerEbene und hält zugleich fest am Bündnis mit den USA fest.57 NOTIZ / DISLOZIERUNG: Pazifische Rochade58 EXPANSIONSFOLGEN: Der Fluch des ErfolgsChinas wirtschaftlicher Aufstieg scheint nicht zu bremsen. DieAmbitionen der rohstoffhungrigen Volksrepubliktreffen allerdings besonders in Afrika auf Widerstand.DIE WELT UND DEUTSCHLAND61 KRIEGSFOLGEN: Boden der TatsachenUS-Außenpolitik steht seit dem Abzug aus dem Irak unterden Vorzeichen begrenzter amerikanischer Militärmacht.Déjà vu erleben Seite 61ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 4


INHALT67 NOTIZ / EINSATZFÄHIGKEIT: FlügellahmNahostkonflikt erklären Seite 7268 RAKETENABWEHR: Äpfel <strong>gegen</strong> BirnenExperten sind sich uneinig darüber, was <strong>die</strong> Nato durch den Einsatzvon »Iron Dome« angeblich lernen kann und eigentlich lernen sollte.72 DOKUMENTARFILM: 95 Minuten KlartextDer Israeli Dror Moreh hat sechs ehemalige Direktoren des Schin Bethvor <strong>die</strong> Kamera gebracht und ein Filmmeisterwerk geschaffen.Das leistet mehr, als nur Einblicke in Geheim<strong>die</strong>nstarbeit zu gewähren.BEDIENUNGSANLEITUNG: Liebe Leserinnen und Leser,2 EDITORIAL3 INHALT35 WELTADLAS76 LITERATUR78 IMPRESSUM UND AUSBLICKwussten Sie schon, dass Sie sich durch den ADLAS nicht nur blättern,sondern dass Sie sich auch durch unser eJournal klicken können?Neben den Internetverknüpfungen, denen Sie über unsere Infoboxen»Quellen und Links« in das World Wide Web folgen können, ist jedeAusgabe unseres <strong>Magazin</strong>s intern verlinkt.Über das Inhaltsverzeichnis können Sie durch das Heft navigieren:Klicken Sie hier einfach auf einen Eintrag, oder das Bild dazu, und schonspringen Sie in unserem PDF-Dokument auf <strong>die</strong> gewünschte Seite.Am Ende eines jeden Beitrags finden Sie <strong>die</strong> Text-Endzeichen oder einen Autorennamen. Klicken Sie einmal darauf und schonkommen Sie wieder auf <strong>die</strong> Seite im Inhaltsverzeichnis, von der aus Sie inden Beitrag gesprungen sind. Welchen Weg Sie auchbevorzugen – wir wünschen Ihnen eine interessante Lektüre!ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 5


Foto: BundeszollverwaltungKAMPF GEGEN DIE DROGENVor mehr als 40 Jahreneinigte sich <strong>die</strong> Welt in denUN auf eine gemeinsameLinie <strong>gegen</strong>über demdrittgrößten Industriezweigder Welt: dem <strong>Drogen</strong>handel.Behörden von Washingtonbis Teheran scheinen seitherstur »unnachgiebigeHärte« als Allheilmittel im<strong>Kampf</strong> <strong>gegen</strong> den Rauschzu sehen. Doch <strong>die</strong> Erfolge<strong>die</strong>ser Strategie sindmager und <strong>die</strong> Kosten enorm.Wie im RauschDie Entscheidungsträgerbeginnen jetzt umzudenken.Geht der Krieg <strong>gegen</strong> <strong>die</strong><strong>Drogen</strong> zu Ende? ADLAS ziehtBilanz, schaut nachAlternativen und zeigtPerspektiven auf.ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 6


Fotos: UN/Marco Castro, Rick Bajornas, J CarrierKAMPF GEGEN DIE DROGEN: LATEINAMERIKADie Tabubrechervon Florian LewerenzDer Krieg <strong>gegen</strong> <strong>die</strong> <strong>Drogen</strong> hat in Lateinamerika enormengesellschaftlichen Schaden verursacht, das <strong>Drogen</strong>angebot abernicht verringert.Nun stellen südamerikanische Staatschefs den repressiven Ansatz,den vor allem <strong>die</strong> USA bislang forciert haben, offen in Frage undfordern Alternativen – einschließlich der Legalisierung. Gleichzeitigbedeutet eine Reihe von pragmatischen Gesetzesreformen eineAbkehr von der Null-Toleranz-Politik.>> Kolumbiens Präsident Juan Manuel Santos warvermutlich nicht klar, was er auslösen würde, alser Regierungen weltweit aufforderte, eine Debatteüber <strong>die</strong> Legalisierung von <strong>Drogen</strong> zu beginnen.In jedem Fall war das Interview des britischenObserver mit ihm im November 2011 einTabubruch: So deutlich hatte ein amtierenderlateinamerikanischer Präsident noch nie zuvorgewagt, den prohibitionistischen US-Ansatz inder <strong>Drogen</strong>politik in Frage zu stellen. Dass Santosbis dato einer der engsten VerbündetenWashingtons im Krieg <strong>gegen</strong> <strong>die</strong> <strong>Drogen</strong> war und>>ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 7


LATEINAMERIKAJuan Manuel Santos,Präsident Kolumbiens,richtete einen Appellzum Umdenken anRegierungen weltweitFoto: Word Economic Forum»Die Debatteüber <strong>die</strong> Legalisierungbeginnen«Richard Nixon den »War on Drugs« aus. In derFolge beeinflusste Washington <strong>die</strong> <strong>Drogen</strong>politikLateinamerikas, traditionell als »Hinterhof«der USA angesehen, durch eine Kombinationaus repressiver Strafverfolgung, militärischerIntervention, technischer Unterstützung undEntwicklungsfinanzierung.Lateinamerika wurde zum Hauptschauplatzdes Kriegs <strong>gegen</strong> <strong>die</strong> <strong>Drogen</strong>: insbesondere Kolumbien,Peru und Bolivien, wo Koka angebautund zu Kokain weiterverarbeitet, sowie Zentralamerikaund Mexiko, durch <strong>die</strong> das Kokain aufden weltgrößten Konsummarkt, <strong>die</strong> VereinigtenStaaten, geschmuggelt wird. Staaten wie Bolivien,<strong>die</strong> aus Sicht der USA im <strong>Kampf</strong> <strong>gegen</strong> <strong>die</strong><strong>Drogen</strong> nicht genügend kooperieren, wurdenJahr <strong>für</strong> Jahr »dezertifiziert«, was <strong>die</strong> Zurückhaltungvon US-Entwicklungsgeldern bedeutenkonnte. Kooperationsabkommen zur Unterstützungbei der <strong>Drogen</strong>bekämpfung wie der »PlanColombia« mit Kolumbien und <strong>die</strong> »Mérida-Initiative« mit Mexiko sicherten und sichernden Einfluss der USA in der Region.Nach 40 Jahren Krieg <strong>gegen</strong> <strong>die</strong> <strong>Drogen</strong> undüber 50-jährigem Bestehen der UN-Einheitskonventionist <strong>die</strong> Bilanz allerdings ernüchternd,der repressive Prohibitionsansatz gescheitert:Trotz globaler Ausgaben von geschätzten 2,5Billionen Dollar konnte das <strong>Drogen</strong>angebotnicht nachhaltig verringert werden, <strong>Drogen</strong>anbaugebieteund Handelsrouten wurden schlichtwegverlagert. Laut dem »United Nations Officeon Drugs and Crime« (UNODC) sind RauschgifteKolumbien auf eine jahrzehntelange blutige Geschichtein <strong>die</strong>sem <strong>Kampf</strong> zurückblickte, verliehder Forderung zusätzliches Gewicht.Der »Krieg <strong>gegen</strong> <strong>die</strong> <strong>Drogen</strong>«, den <strong>die</strong> USA inLateinamerika bereits seit über 40 Jahren führen,hat massive gesellschaftliche Kosten und enormeSchäden <strong>für</strong> <strong>die</strong> staatlichen Institutionen und <strong>die</strong>öffentliche Sicherheit verursacht. Nun formiertsich in ganz Lateinamerika auf höchster EbeneWiderstand. Das lange bestehende Tabu, Kritikam drogenpolitischen Paradigma zu äußern,scheint gebrochen.»Der Reformgeist wurde aus der Flasche befreit«,stellte <strong>Drogen</strong>- und LateinamerikaexpertinColetta Youngers im Frühling 2012 in einemgleichnamigen Artikel im Blog Foreign Policy inFocus fest. Zur Debatte stehen in Lateinamerikanun alternative Strategien: von einer stärkerenOrientierung der <strong>Drogen</strong>politik an Gesundheitszielen,Schadensminderung und Menschenrechten,über <strong>die</strong> Entkriminalisierung des privaten<strong>Drogen</strong>konsums und -besitzes bis hin zur vollständigenLegalisierung einzelner <strong>Drogen</strong>, insbesondereso genannter »weicher« Rauschgifte wieMarihuana.Wie ist es dazu gekommen? Die »Einheitskonventionüber <strong>die</strong> Betäubungsmittel« der VereintenNationen (Single Convention on NarcoticDrugs) legte 1961 einen prohibitionistischen Ansatzin der internationalen <strong>Drogen</strong>politik fest.Zusammen mit zwei weiteren UN-Konventionenbildet sie das internationale Rahmenwerk in der<strong>Drogen</strong>politik, das fast universell unterzeichnetwurde. Zehn Jahre später rief US-Präsidentmit einem geschätzten Wert von jährlich 365Milliarden US-Dollar <strong>die</strong> wichtigste Einnahme- >>ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 8


LATEINAMERIKAquelle <strong>für</strong> das organisierte Verbrechen – undnach Öl und Lebensmitteln sogar der weltweitprofitträchtigste Industriezweig.Gleichzeitig führte der repressive Ansatz zumassiven nicht beabsichtigen Konsequenzen: DieProhibition schuf einen enormen Schwarzmarkt.Die Einnahmen aus <strong>Drogen</strong>anbau und -handelfinanzieren seit Jahrzehnten Aufständische, Paramilitärsund organisiertes Verbrechen in derAndenregion, Zentralamerika und Mexiko. Lateinamerikaist zu einer der unsichersten Regionender Welt geworden, endemische Gewalt undKorruption sind ständige Begleiter der illegalen<strong>Drogen</strong>märkte. Seit 2006 fielen allein in Mexikolaut Economist 70.000 Menschen dem Krieg zwischenStaatsmacht und Kartellen, sowie den Kartellenuntereinander, zum Opfer. Staaten wieHonduras, Guatemala und El Salvador kämpfenmit den weltweit höchsten Mordraten. Weite Teilevon Politik, Justiz und Sicherheitsbehördensind vom organisierten Verbrechen durch Korruptionunterwandert, <strong>die</strong> staatliche Funktionsfähigkeitist in Zentralamerika akut bedroht.Auch führte <strong>die</strong> von den USA propagierte Politikder harten Hand <strong>gegen</strong> <strong>Drogen</strong>, <strong>die</strong> eine re-pressive Strafverfolgung einfordert, zu hohengesellschaftlichen Kosten: Massenhafte Verhaftungenvon <strong>Drogen</strong>konsumenten und Kleindealernals sichtbarste Individuen im <strong>Drogen</strong>marktbrachte <strong>die</strong> Justiz- und Strafvollzugssysteme vielerlateinamerikanischer Staaten an den Rand desKollaps. Sie band Mittel, <strong>die</strong> sonst <strong>für</strong> <strong>die</strong> Verfolgungder Drahtzieher im <strong>Drogen</strong>geschäft sowie<strong>für</strong> Sozial- und Gesundheitsprogramme bereitgestandenhätten. Das »Null-Toleranz«-Dogma <strong>gegen</strong>über<strong>Drogen</strong> verhinderte zudem effizienteMaßnahmen zur Minderung von Gesundheitsschäden,<strong>die</strong> beim <strong>Drogen</strong>konsum auftreten.Die immensen Kosten <strong>für</strong> Staat und Gesellschaftin Lateinamerika haben in der letzten Dekadeeine Debatte um <strong>die</strong> Wirksamkeit des aktuellenParadigmas und <strong>die</strong> Suche nach Alternativenangestoßen. Bereits 2009 publizierte <strong>die</strong>»Latin American Commission on Drugs and Democracy«,ein Zusammenschluss verschiedener40 Jahre nachdem Richard Nixon den Krieg<strong>gegen</strong> <strong>die</strong> <strong>Drogen</strong> erklärt hat,bleibt eine ernüchternde Bilanz.lateinamerikanischer Ex-Präsidenten und andererwichtiger Persönlichkeiten, einen Bericht, derden Krieg <strong>gegen</strong> <strong>die</strong> <strong>Drogen</strong> <strong>für</strong> gescheitert erklärteund Alternativen forderte. Im Juni 2011wiederholte <strong>die</strong> »Global Commission on Drug Policy«in ihrem Bericht »On Drugs« den Ruf nacheiner Neuausrichtung der <strong>Drogen</strong>politik. Diesesolle sich stärker an Menschenrechten und wissenschaftlichenFakten orientieren, den Fokusauf Schadensminimierung und Gesundheitsaspektelegen, <strong>Drogen</strong>konsum entkriminalisierenund regulative Alternativen zum Prohibitionsmodellsuchen. Die »Global Commission onDrug Policy« war nach dem Vorbild der Kommission<strong>für</strong> Lateinamerika gegründet wordenund vereinte zahlreiche renommierte Persönlichkeitenwie den ehemaligen UN-GeneralsekretärKofi Annan oder den früheren US-Außenminister George Shultz. Die Empfehlungender Kommissionen legten den Grundstein<strong>für</strong> <strong>die</strong> späteren Forderungen von amtierendenlateinamerikanischen Präsidenten nach einerReform der <strong>Drogen</strong>politik.Im September 2011 forderte der damaligemexikanische Präsident Felipe Calderón in einerRede vor dem »Council of the Americas« in NewYork <strong>die</strong> Suche nach »anderen Lösungen« in der<strong>Drogen</strong>politik, »einschließlich von Marktalternativen,um <strong>die</strong> astronomischen Einnahmen derKartelle zu reduzieren«. Anfang 2012 ging derguatemaltekische Präsident Otto Pérez Molinanoch weiter: Er forderte offen <strong>die</strong> Entkriminalisierungund Legalisierung.Umgehend begab sich US-Vizepräsident JoeBiden auf eine Reise durch Zentralamerika undversuchte, <strong>die</strong> aufkeimende Reformdebatte wiedereinzudämmen. Doch ohne Erfolg: Schon imApril 2012 wurde beim interamerikanischenPräsidentschaftsgipfel, dem »Summit of theAmericas« im kolumbianischen Cartagena, auf>>ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 9


LATEINAMERIKADrängen von Santos und Pérez Molina erstmalsin der Geschichte des Gipfels eine Diskussionüber <strong>die</strong> »Legalisierung von <strong>Drogen</strong> und Alternativenzum vorherrschenden Paradigma« auf <strong>die</strong>offizielle Agenda gesetzt – <strong>gegen</strong> den Willen derWashingtons. Präsident Barack Obama bekräftigteden prohibitionistischen Standpunkt der USA,erklärte sich aber dann doch zu einer Debatteüber <strong>die</strong> <strong>Drogen</strong>politik bereit. Der Gipfel beauftragte<strong>die</strong> Organisation Amerikanischer Staatenmit der Erstellung einer Stu<strong>die</strong>, <strong>die</strong> bis zum Sommer2013 <strong>die</strong> bisherige <strong>Drogen</strong>politik einer kritischenBilanz unterziehen und mögliche Alternativszenarienentwickeln soll.Der nächste Paukenschlag in der <strong>Drogen</strong>reformdebattekam bei der UN-Generalversammlungim September 2012: In einer gemeinsamenErklärung forderten <strong>die</strong> Präsidenten Santos,Calderón und Pérez Molina ein Ende des Kriegs<strong>gegen</strong> <strong>die</strong> <strong>Drogen</strong> und eine Reform der UN-Konvention. Kurz darauf verabschiedete <strong>die</strong> UN-Generalversammlung eine von Mexiko eingebrachteResolution, <strong>die</strong> eine Sondersitzung <strong>für</strong>das Jahr 2016 vorsieht, in der <strong>die</strong> aktuelle Strategiein der internationalen <strong>Drogen</strong>politik auf denPrüfstand gestellt werden soll.Hannah Hetzer, Lateinamerikakoordinatorinder »Drug Policy Alliance«, einer US-amerikanischenNichtregierungsorganisation, <strong>die</strong> <strong>für</strong> drogenpolitischeReformen eintritt, resümiert: »Die<strong>Drogen</strong>reformdebatte war wie ein Dominoeffekt.«Besonders Guatemalas Präsident Pérez Molinahabe sich seit seinem Amtsantritt zu einem vehementenVerfechter der Reform entwickelt: »Eswar erstaunlich, Molina wurde ins kalte Wassergeworfen und kam damit [der <strong>Drogen</strong>reform] wiederheraus. Seitdem hat er es auf jedem hochrangigenTreffen vorgebracht. Auf internationalerEbene ist Molina der größte Unterstützer«.Dies wurde auch jüngst beim Weltwirtschaftsforumin Davos im Januar 2013 deutlich, wo PérezMolina zusammen mit dem ehemaligen FinanzspekulantenGeorge Soros seine Forderungenbekräftigte. Für Juni 2013 hat Pérez Molinamehrere amtierende und ehemalige lateinamerikanischeStaatschefs sowie Vertreter aus Politik,Wirtschaft und Zivilgesellschaft nach Guatemalaeingeladen, um neue Wege in der <strong>Drogen</strong>politikauszuloten. Und schließlich wird auf InitiativeGuatemalas, das <strong>die</strong>ses Jahr Gastgeber <strong>für</strong> <strong>die</strong> Generalversammlungder Organisation AmerikanischerStaaten (OAS) Anfang Juni 2013 ist, dasOtto Pérez Molina,Präsident Guatemalas undeiner der größtenBe<strong>für</strong>worter einesradikalen Kurswechsels im»Krieg <strong>gegen</strong> <strong>die</strong> <strong>Drogen</strong>«Foto: Word Economic Forum»Alternativenzum vorherrschendenParadigma«Thema »Alternative Strategien im <strong>Kampf</strong> <strong>gegen</strong><strong>Drogen</strong>« diskutiert.Neben den ӧffentlichkeitswirksamen Reformforderungenamtierender Präsidenten vollziehenviele Staaten Lateinamerikas auch aufder Umsetzungsebene pragmatische Reformenihrer nationalen <strong>Drogen</strong>politik, <strong>die</strong> de facto eineAbkehr von der US-geprägten Politik der hartenHand bedeuten. Zunehmend werden auch Strategienzur Schadensminderung eingeführt, <strong>die</strong>in Teilen Europas bereits seit den 1980er und1990er Jahren erfolgreich umgesetzt werden.Argentinien, Brasilien, Ecuador, Kolumbien undMexiko haben ihre <strong>Drogen</strong>gesetzgebung undRechtsprechung entsprechend reformiert sowieStrafen <strong>für</strong> den privaten <strong>Drogen</strong>konsum und-besitz reduziert oder abgeschafft. Präventions-,>>ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 10


LATEINAMERIKABehandlungs- und Wiedereingliederungsmaßnahmen,<strong>die</strong> freie Abgabe von Spritzen <strong>für</strong> Heroinabhängigezur Vorbeugung <strong>gegen</strong> HIV/AIDS,Hepatitis und andere Blutübertragungskrankheitensowie <strong>Drogen</strong>substitutionsprogramme sollen<strong>die</strong> Folgen des Rauschgiftkonsums mindern.Auch Kolumbiens Präsident Santos – bislangeiner der engsten Verbündeten Washingtons imKrieg <strong>gegen</strong> <strong>die</strong> <strong>Drogen</strong> – wendet sich auf legislativerEbene verstärkt vom repressiven US-Modellab. So hat er jüngst ein Gesetz auf den Weg gebracht,das den Besitz kleiner Mengen von Marihuana,Kokain und bestimmter synthetischer <strong>Drogen</strong>entkriminalisieren soll.Mit dem Eintritt in Friedensverhandlungen mitder FARC zeichnet sich zudem eine neue Strategieprivaten Konsum legalisiert und unter staatlicheKontrolle gestellt werden (siehe Infobox), wasden Bruch mit der UN-Einheitskonvention bedeutenwürde.Auch der bolivianische Präsident Evo Morales,ein ehemaliger Kokabauer, hat in den letzten Jahren<strong>die</strong> UN-Einheitskonvention auf <strong>die</strong> Probe gestellt.Er trat seit seiner Wahl 2006 <strong>für</strong> <strong>die</strong> Abschaffungeines Artikels ein, der <strong>die</strong> Tradition desKokakauens der indigenen Bevölkerung in denAnden unter Strafe stellt. Nachdem ein Reformantrag2011 am Veto mehrerer westlicher Staaten,einschließlich Deutschlands, gescheitertwar, verließ Bolivien zunächst <strong>die</strong> Einheitskonvention.Schon im Januar 2013 trat das Land derKonvention mit dem Vorbehalt wieder bei, dasDass der harte Ansatz Washingtons solange <strong>die</strong> <strong>Drogen</strong>politik dominierte, ist mehrals verwunderlich.<strong>gegen</strong>über einem der wichtigsten Akteure im kolumbianischen<strong>Drogen</strong>geschäft ab. Ausgerechnetder stärkste Verfechter von Reformen, PräsidentPérez Molina, hat da<strong>gegen</strong> bislang noch keinekonkreten Vorschläge zur Änderung der Gesetzgebungunterbreitet.Die weitestgehenden Änderungen der <strong>Drogen</strong>gesetzgebungplant Uruguay: Noch in <strong>die</strong>semJahr soll der nationale Marihuanamarkt <strong>für</strong> denKokakauen auf seinem Territorium zu erlauben.Der Versuch der G8-Staaten unter Führung derUSA sowie anderer hauptsächlich westlicherStaaten, den Wiedereintritt zu verhindern, scheiterte,weil <strong>die</strong> notwendige Stimmanzahl von einemDrittel der Mitglieder verfehlt wurde. HannahHetzer sieht hierin einen wichtigen Präzedenzfall,der unter Umständen zu weiteren Reformender UN-Konvention führen kann.>>Marihuanalegalisierungin UruguayIn Uruguay zeichnet sich <strong>die</strong> bisher weitreichendsteReform in der <strong>Drogen</strong>politik auf demamerikanischen Doppelkontinent ab: Jenseits derinternationalen Reformdebatte kündigte PräsidentJosé Mujica im Juni 2012 an, den Marihuanamarkt<strong>für</strong> privaten Gebrauch zu legalisieren und staatlichzu regulieren. Die Marihuanaproduktion undder Verkauf sollen unter staatliche Kontrolle gestelltwerden, Konsumenten müssten sich registrieren,um Marihuana zu kaufen. Qualitätskontrollensollen das gesundheitliche Risiko beimKonsum minimieren. Durch <strong>die</strong> Regulierung könnteaußerdem das Abrutschen von Konsumentenins kriminelle Milieu verhindert werden. Dem illegalenMarkt wird zudem ein Geschäftsfeld entzogenund der Staat bekommt durch <strong>die</strong> Besteuerungeine neue Einnahmequelle.Mit der absehbaren Verabschiedung des Gesetzes<strong>gegen</strong> Ende 2013 wäre Uruguay der ersteStaat, der den gesamten Marihuanamarkt auf nationalerEbene legalisiert. Der Schritt würde einenBruch mit der geltenden UN-Einheitskonventionbedeuten, deren Mitglied Uruguay ist. Diese erlaubtbei flexibler Auslegung zwar <strong>die</strong> Entkriminalisierung,nicht aber <strong>die</strong> staatliche Regulierungvon <strong>Drogen</strong>. Uruguay könnte damit zu einemTestfall <strong>für</strong> <strong>die</strong> Reformfähigkeit der UN-Einheitskonventionwerden.ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 11


LATEINAMERIKAFelipe Calderón, von 2006 bis2012 Mexikos Präsident,scheint auch vom harten Kursabzukehren.Foto: Word Economic Forum»Marktalternativen, um<strong>die</strong> astronomischenEinnahmen der Kartellezu reduzieren«<strong>die</strong>ser vom großen Nachbarn USA in einigenBundesstaaten erlaubt wird (Lesen Sie dazuauch den Beitrag von Frank Wilker ab Seite 18).Schließlich kann auch der insgesamt abnehmendepolitische Einfluss der Vereinigten Staatenunter der Obama-Administration auf Lateinamerikaund ein zunehmendes Selbstbewusstseinder lateinamerikanischen Staaten alsErklärung <strong>die</strong>nen: Während <strong>die</strong> USA ihren Blickverstärkt auf <strong>die</strong> aufstrebenden Märkte in Asienrichten, hat Lateinamerika durch konstantesWirtschaftswachstum, erfolgreiche Armutsreduzierungsowie neue Handelspartner wie Chinaund In<strong>die</strong>n in der letzten Dekade an Handlungsspielraumgewonnen.Es erscheint paradox, dass bisher ausgerechnetkonservative Präsidenten wie Santos, PérezMolina oder auch Calderón als Protagonisten inder <strong>Drogen</strong>reformdebatte aufgetreten sind –zumal gerade Santos und Calderón bisher denKrieg <strong>gegen</strong> <strong>die</strong> <strong>Drogen</strong> in enger Kooperationmit den USA geführt haben. Sie sind daher <strong>gegen</strong>den Vorwurf gefeit, sicherheitspolitischeTauben zu sein, was ihnen auch über liberaleKreise hinaus Resonanz verschaffte.Für <strong>die</strong> Perspektive einer <strong>Drogen</strong>reform inLateinamerika kann <strong>die</strong>s von Vorteil sein. Abzuwartenbleibt, ob sich langfristig eine Reformallianzmit Links- und Mitte-Links-Regierungenin der Region schmieden lässt. Insbesondere <strong>die</strong>Regierungen Brasiliens, Ecuadors und Venezuelassind in der Debatte bisher relativ leiseaufgetreten, auch wenn sie einige ForderungenAngesichts der immensen sozialen und wirtschaftlichenKosten <strong>für</strong> <strong>die</strong> lateinamerikanischen Gesellschaftenerscheint es folgerichtig, dass <strong>die</strong> Debatteum eine Reform der <strong>Drogen</strong>politik von Lateinamerikaausgeht. Es ist verwunderlich, dass es den USAüberhaupt gelang, den politischen Widerstand <strong>gegen</strong>ihren repressiven Ansatz im Krieg <strong>gegen</strong> <strong>die</strong><strong>Drogen</strong> in der Region so lange im Zaum zu halten.Warum aber wurde <strong>die</strong> Reformdebatte geradejetzt ausgelöst? Entscheidend <strong>für</strong> den Meinungswandellateinamerikanischer Staatsoberhäupterdürfte <strong>die</strong> neue Dimension der Gewalt in Mexikound Zentralamerika sein, mit vorher nie dagewesenenOpferzahlen und extremer Brutalität. Auch<strong>die</strong> zunehmende Gefährdung der staatlichen Institutionenund der nationalen Sicherheit mag<strong>die</strong> Staatschefs zum Nachdenken bewogen haben.Hinzu kommt eine lang aufgestaute Frustrationlateinamerikanischer Regierungen mit dem Krieg<strong>gegen</strong> <strong>die</strong> <strong>Drogen</strong>. Sie werfen dem Westen vor,dass Lateinamerika einen überproportional hohenPreis <strong>für</strong> <strong>die</strong> US-geführte <strong>Drogen</strong>strategiebezahlen müsse. Während ein starker Fokus aufder repressiven Bekämpfung des Rauschgiftangebotsliege, unternähmen <strong>die</strong> USA und Europa alsHauptkonsumentenmärkte von Kokain und anderen<strong>Drogen</strong> zu wenig bei der Reduzierung derNachfrage. Die Legalisierung von Marihuana inden US-Bundesstaaten Colorado und Washingtonim Herbst 2012 – sieben weitere könnten in Kürzefolgen – hat <strong>die</strong>se Stimmung zusätzlich befeuert.So sehen <strong>die</strong> lateinamerikanischen Präsidentennicht ein, warum sie daheim <strong>gegen</strong> Marihuanaanbauund -konsum vorgehen sollen, wenninhaltlich durchaus teilen dürften. Bolivien hatüber <strong>die</strong> Frage des Kokakauens hinaus bisher >>ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 12


LATEINAMERIKAebenfalls keine großen Ambitionen gezeigt, <strong>die</strong><strong>Drogen</strong>reformdebatte voranzutreiben. Ein geeintesAuftreten der lateinamerikanischen Staaten<strong>für</strong> eine Reform wäre aber eine wichtige Voraussetzung<strong>für</strong> eine Abkehr vom Krieg <strong>gegen</strong> <strong>die</strong><strong>Drogen</strong> in Lateinamerika.Selbstverständlich ist auch von zentraler Bedeutung,wie sich <strong>die</strong> USA verhalten. Es bleibtabzuwarten, ob sich Präsident Obama in seinerzweiten Amtszeit der <strong>Drogen</strong>reformdebatte <strong>gegen</strong>überaufgeschlossener und flexibler zeigenwird. Dass er sich auf dem interamerikanischenPräsidentschaftsgipfel in Cartagena 2012 zumindestgesprächsbereit zeigte und auch das Reformthemader <strong>die</strong>sjährigen OAS-Generalversammlungin Guatemala akzeptierte, sind Zeichen<strong>für</strong> eine zunehmende Dialogbereitschaft.Eine Abkehr der USA vom bisherigen Ansatzerscheint da<strong>gegen</strong> eher unwahrscheinlich. So istder Krieg <strong>gegen</strong> <strong>die</strong> <strong>Drogen</strong> <strong>für</strong> Washington einwichtiges Instrument zur Wahrung seines Einflussesin Lateinamerika und <strong>die</strong> mächtige Lobbyder Sicherheitsindustrie in den USA wird allesdaran setzen, sich ein profitables Geschäftsfeldzu bewahren.Der Gipfel von Cartagena zeigte: Die StaatenLateinamerikas wollen nicht länger <strong>für</strong> <strong>die</strong> USA <strong>die</strong>Kohlen aus dem Feuer holen.Was <strong>die</strong> Reform des drogenpolitischen UN-Rahmenwerkes angeht, so fehlt es bisher anwichtigen globalen Führungsmächten, <strong>die</strong> <strong>die</strong>sesZiel unterstützen. Solange wichtige Führungsmächtewie <strong>die</strong> USA, aber auch Russland und Chinakein Interesse an einer Veränderung des Statusquo haben, wird es keine wesentlichen Reformengeben. Der drogenpolitische Experte DanielBrombacher konstatiert: »Potentielle Änderungenan den drei fast universell gültigen UN-<strong>Drogen</strong>konventionen bedürften eines globalenKonsenses, der selbst in Lateinamerika nicht abzusehenist. Veränderungen hin zu Legalisierungoder Entkriminalisierung einzelner <strong>Drogen</strong>artendürften sich aus <strong>die</strong>sem Grund anstatt auf globalereher auf nationalstaatlicher Ebene abspielen,sei es im Rahmen der Spielräume der UN-Konventionen oder in offenem Bruch mit derenGeist.« In <strong>die</strong>ser Hinsicht dürften <strong>die</strong> Erfahrungenmit der Marihuanalegalisierung in Uruguay<strong>die</strong> Entwicklung der <strong>Drogen</strong>politik in der ganzenRegion und darüber hinaus beeinflussen.Ob es in Lateinamerika auch zu der staatlichenRegulierung des Handels mit härteren <strong>Drogen</strong>wie Kokain kommt, ist laut Brombacher da<strong>gegen</strong>sehr fraglich, da <strong>die</strong> Gesundheitsfolgennicht abschätzbar seien und daher momentanvon keinem Vertreter in der Region ernsthaft inBetracht gezogen werde. Interessant wird, ob esden lateinamerikanischen Staatschefs gelingt,<strong>die</strong> Unterstützung <strong>für</strong> ihre Reformen beim Volkzu bekommen – bisherige Umfragen ergebenbeispielsweise <strong>für</strong> Kolumbien eine mehrheitlicheAblehnung der Entkriminalisierungspläneder Regierung Santos.Das Paradigma des Kriegs <strong>gegen</strong> <strong>die</strong> <strong>Drogen</strong>und <strong>die</strong> militarisierte Strategie, <strong>die</strong> von den USAin Lateinamerika massiv unterstützt wurde, istaber inzwischen nicht nur in Lateinamerika Gegenstandkontroverser Diskussionen: Der Berichtder »Global Commission on Drug Policy«und <strong>die</strong> Entwicklungen in Lateinamerika habenauch in den USA und Europa hohe Wellen geschlagen.In einem offenen Brief schlossen sichvor kurzem zahlreiche internationale Prominente,unter anderem <strong>die</strong> ehemaligen US-PräsidentenJimmy Carter und Bill Clinton, den Forderungennach einer alternativen <strong>Drogen</strong>politikan. Dies sind wichtige Signale <strong>für</strong> eine langfristigeNeuausrichtung der <strong>Drogen</strong>politik auf globalerEbene.Präsident Pérez Molina, zeigte sich in einemInterview mit Reuters vom 13. Februar 2013 jedenfallsoptimistisch: »Wir sehen <strong>die</strong> erstenSchritte in Richtung eines Paradigmenwandels.Es braucht Zeit, globale Trends zu verändern,aber es gibt einen Wandel im Denken hin zurRegulierung von <strong>Drogen</strong>«.Vielleicht kommt <strong>die</strong>ser Paradigmenwechselin der <strong>Drogen</strong>politik schneller als man denkt.>>ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 13


LATEINAMERIKAWer hätte schließlich noch vor zwei Jahren gedacht,dass Juan Manuel Santos sich zu einem derstärksten Be<strong>für</strong>worter einer <strong>Drogen</strong>reform mausernund mit anderen Staatschefs offen über Alternativenzum US-geführten Krieg <strong>gegen</strong> <strong>die</strong><strong>Drogen</strong> diskutieren würde?Florian Lewerenz hat an der FU Berlin Politikwissenschaftenstu<strong>die</strong>rt und als Fellow des MercatorKollegs unter anderem <strong>für</strong> UNODC in Myanmar undLaos zu internationaler <strong>Drogen</strong>politik gearbeitet.Quellen und Links:Themenportal »Drugs and Democracy« desTransnational InstituteWebpräsenz des International Drug PolicyConsortiumWebpräsenz des <strong>Drogen</strong>politikprogramms desWashington Office on Latin AmericaHintergrundbericht »Towards a ceasefire« desEconomist vom 23. Februar 2013Weltdrogenbericht 2012 des United NationsOffice on Drugs and Crime vom 26. Juni 2012Bericht »Drug-Law Reform Genie FreedFrom Bottle at Summit of the Americas« des BlogsForeign Policy in Focus vom 18. April 2012Stu<strong>die</strong> »On Drugs« der Global Commission onDrug Policy vom Juni 2011CALL FOR PAPERSWissenschaft und Sicherheit | Band 8Die Bundeswehr im Spannungsfeld zwischen Politik, Recht und EthikDieser Call for Papers richtet sich insbesondere an Hochschulprofessoren, Doktoranden und wissenschaftliche Mitarbeiter Angehörige der öffentlichen Verwaltung, von Verbänden und der Rechtpflege im Einzelfall auch Stu<strong>die</strong>rende rechts-, politik- odersozialwissenschaftlicher Stu<strong>die</strong>ngänge in der Abschlussphase des StudiumsCall for Papers offen bis 01.07.2013 Festlegung der Autoren/Themenbeiträge bis 15.07.2013 Lieferung der Beiträge bis 21.10.2013 Veröffentlichung und Buchvorstellung in Berlin im März/April 2014Autoren- und Themenvorschläge mit kurzer Erläuterung und Vorstellungder Person werden bis zum 01.07.2013 erbeten an:Bundesverband <strong>Sicherheitspolitik</strong> an Hochschulen | Redaktion WISIStellv. Bundesvorsitzende Katharina KohlhaasE-Mail: wisi@sicherheitspolitik.deWeitere Informationen im ausführlichen Call for Papers oder unterDie Bundeswehr hat in den letzten Jahrenden größten Wandel seit ihrem Bestehenvollzogen – welche juristischenRahmenbedingungen sind erforderlich,damit sie ihrer neu gefundenen Rolle alsEinsatzarmee gerecht werden kann?Der Bundesverband <strong>Sicherheitspolitik</strong> anHochschulen (BSH) wird sich im nächstenBand seiner Schriftenreihe „Wissenschaft &Sicherheit“ mit dem Thema „AktuelleEinsatzszenarien der Bundeswehr –rechtliche Herausforderungen“ befassenund sucht da<strong>für</strong> jetzt Autorinnen undAutoren aus Wissenschaft, Politik und Praxis.www.sicherheitspolitik.deADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 14ANZEIGEFoto: Bundeswehr / Walter Waymann


Militärpolizei in Meixko-Stadt. Foto: saikofish/flickr/CC BY-NC-SA 2.0KAMPF GEGEN DIE DROGEN: MEXIKOLernkurve der Verbrechervon Friedemann Schirrmeister<strong>Drogen</strong>kartelle sind lernende Organisationen, <strong>die</strong> sich denBemühungen sie auszuschalten widersetzen, indem sieihre Geschäftsmodelle anpassen. Nur <strong>die</strong> Bedrohung <strong>für</strong> Staatenund ihre Bevölkerung bleibt eine Konstante.Im Norden Mexikos zeigt sich, dass auch der massive Einsatz vonSicherheitskräften den Rauschgifthandel nicht unterbinden kann.Im Gegenteil, Korruption und Gewalt schwächen den Staat, der <strong>die</strong>Kontrolle längst zu verloren haben scheint.>> Mit dem Tod von Pablo Emilio Escobar Gaviria,der im Dezember 1992 erschossen wurde,ging eine Ära im Rauschgiftgeschäft zu Ende.Escobar war der einflussreichste <strong>Drogen</strong>baron inganz Lateinamerika gewesen, spezialisiert darauf,Kokain zu produzieren, in <strong>die</strong> USA zu schmuggelnund dort zu verkaufen. Alles war aus einerHand geplant und <strong>die</strong> ganze Organisation auf ihnallein zugeschnitten.Nach seinem Tod zerfiel sein Kartell. StaatsfeindNummer Eins Kolumbiens war Pablo Escobaraber weniger durch seine illegalen Geschäfte ge->>ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 15


MEXIKOworden als durch politische Ambitionen und denTerror, den er entfachte, um sie durchzusetzen.Aus <strong>die</strong>sen Erfahrungen haben <strong>die</strong> heutigenKartelle in Mexiko ihre Lehren gezogen. Nur noch<strong>die</strong> Hälfte ihres Umsatzes erwirtschaften <strong>die</strong> großenkriminellen Organisationen Mexikos mitProduktion, Logistik und Verkauf von <strong>Drogen</strong>.Die andere Hälfte erzielen sie durch andere Aktivitätenim Bereich der organisierten Kriminalität:Schutzgelderpressung, Menschenhandel, Internetkriminalität,Auftragsmorde und Erdöl<strong>die</strong>bstahlin großem Stil. Mit Geschäftsmodellen wie<strong>die</strong>sen sind <strong>die</strong> Verbrechergruppierungen inzwischenfest verwurzelt.Das Beispiel des Sinaloa-Kartells liest sich wieein Lehrbuch <strong>für</strong> den Aufbau einer kriminellenOrganisation. Ihr Anführer: Joaquín Guzmán Loera,genannt El Chapo, der Kurze. Er ist nur 1,55Meter groß, Sohn eines Kleinbauern aus demnördlichen Bundesstaat Sinaloa. In den 1980erJahren macht sich Guzmán als Logistiker beimmächtigen Kartell von Miguel Félix Gallardo einenNamen. Nach der Verhaftung des Bosses1989 spaltet sich das Kartell und Guzmán gründetsein eigenes Netzwerk in der Hauptstadt vonSinaloa, Culiacán.Der Kurze gilt als kühl, berechnend und unnachgiebig.Allerdings achtete er sehr lange darauf,keine öffentlichen Morde zu begehen, wasihn in den Augen der Öffentlichkeit auch langenicht zur Gefahr machte. Zunächst konzentriertesich sein Kartell darauf, Kokain in großem Stildurch Tunnel von der mexikanischen Grenze hinüberin <strong>die</strong> USA zu schmuggeln. 1993 wurde Guzmandann in Guatemala verhaftet und an Mexikoausgeliefert. Er wurde zu 20 Jahren Haft in einemHochsicherheitsgefängnis verurteilt.Schon damals hatte er anscheinend so gutepolitische Beziehungen, dass er es sich recht bequemmachen konnte. Im Gefängnis organisierteder <strong>Drogen</strong>boss rauschende Partys und konnteseine Geschäfte von dort aus weiterführen. ImJahr 2001 geschah dann das Unglaubliche: ElChapo gelang, zusammen mit 30 Wärtern, <strong>die</strong>Flucht aus dem Gefängnis. Über <strong>die</strong> Umständeseines Entkommens gibt es unterschiedliche Angaben.Eine Version besagt, er habe sich in einemBehälter <strong>für</strong> schmutzige Wäsche versteckt und seiso nach draußen gelangt; andere behaupten, ersei einfach durch den Haupteingang spaziert.Der Ausbruch kostete Guzmán eine halbe MillionUS-Dollar – sehr gut angelegtes Geld, wennStaatsfeind Nummer Eins:Joaquín Guzmán Loeraist der mächtigste Boss der<strong>Drogen</strong>kartelle Mexikos.Foto: US Department of StateMit guten politischenBeziehungenhat El Chapo es sichbequem gemacht.man bedenkt, dass sein Privatvermögen auf übereine Milliarde Dollar geschätzt wird. Dass es der<strong>Drogen</strong>boss im Jahr 2009 auf Platz 41 der so genanntenForbes-Liste der mächtigsten Entscheiderder Welt geschafft hat, zeigt, dass das <strong>Magazin</strong>seinen Einfluss größer eingeschätzt hat alsden von Frankreichs und Russlands damaligenPräsidenten Dmitri Medwedjew und Nicolas Sarkozy.Schon hier wird deutlich, was sich im Folgendenbestätigen soll: Das <strong>Drogen</strong>problem und<strong>die</strong> damit verbundene Kriminalität sind nicht daseinzige Problem, das <strong>die</strong> Kartelle verursachen –es ist <strong>die</strong> Bedrohung des Staates und seiner Kernfunktionen.Reist man durch Sinaloa, wird man keine Auskunftüber den Aufenthaltsort des mächtigen ElChapo bekommen – <strong>die</strong> Menschen haben schon >>ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 16


MEXIKOlange den Glauben an <strong>die</strong> Regierung in Mexiko-Stadt verloren. Arbeitsplätze, Perspektiven <strong>für</strong>Jugendliche, Sanierung von Schulen und Altersheimen– all das übernimmt nicht der Staat, sondernGuzmáns Gefolgschaft.Bilanziert man Präsident Felipe Calderóns erneuerten»Krieg <strong>gegen</strong> <strong>die</strong> <strong>Drogen</strong>«, der mit seinemAmtsantritt im Dezember 2006 begann, sofällt das Fazit ernüchternd aus. Je mehr Bundespolizistenund Militärs <strong>die</strong> Regierung einsetzt um<strong>die</strong> Kartelle zu bekämpfen, desto mehr Menschenfallen der Gewalt zum Opfer. In den letzten Jahrensind konservativen Schätzungen zufolge10.000 Tote pro Jahr <strong>die</strong> Regel – Tendenz steigend.Weite Teile des Nordens, insbesondere inGrenznähe zu den USA, sind nicht mehr unterKontrolle des Staates.Diese unbequeme Wahrheit bestreitet <strong>die</strong> mexikanischeRegierung heftig. Noch unangenehmersind Schätzungen der Vereinten Nationen,Transport über <strong>die</strong> zentralamerikanischen Staatenbis in <strong>die</strong> USA.Allein in der gefährlichsten Stadt der Welt CiudadJuarez werden täglich <strong>Drogen</strong> im Wert zwischen1,5 und 10 Millionen US-Dollar geschmuggelt.So ist es dann auch kein Zufall, dass auf deramerikanischen Seite der Grenze <strong>die</strong> Zahl der Waffengeschäftebesonders hoch ist. Sind <strong>die</strong> <strong>Drogen</strong>einmal auf dem größten Markt der Welt verkauft,werden Waffen in den USA beschafft und der Restdes Geldes, zwischen 18 und 39 Milliarden Dollarjährlich, wieder über <strong>die</strong> Grenze geschmuggelt undim mexikanischen Finanzsystem gewaschen.Wenn in einer Stadt wie Ciudad Juarez tausendeBundespolizisten und Soldaten durch <strong>die</strong> Straßenpatrouillieren, aber <strong>die</strong> Zahl der Morde nichtsinkt, sondern steigt, läuft etwas falsch. Der renommierteUS-Autor und Journalist Charles Bowdenbezeichnet denn auch das Militär selbst als<strong>die</strong> »größte kriminelle Organisation Mexikos«.Die Entwicklungen der letzten Jahre haben gezeigt,wie wandlungsfähig <strong>die</strong> Kartelle sind: Hattensich <strong>die</strong> Kolumbianer nur auf <strong>die</strong> Produktionund den Handel mit <strong>Drogen</strong> konzentriert, so haben<strong>die</strong> mexikanischen Kartelle ihre Einnahmendiversifiziert. Zudem machen sie sich bei Teilender Bevölkerung beliebt, indem sie staatlicheAufgaben übernehmen und Arbeitsplätze schaffen.Gelingt es der mexikanischen Regierungnicht, <strong>die</strong> Kontrolle über das gesamte Staatsterritoriumzurückzugewinnen, droht eine weitereAusbreitung der Herrschaft der Kartelle. Eine Debattedarüber, ob Mexiko ein gescheiterter Staatist, würde dann neu entflammen. Friedemann Schirrmeister hat Politikwissenschaft,öffentliches Recht und Ethnologie in Heidelberg, Oslo,Potsdam und Berlin stu<strong>die</strong>rt. 2004 bis 2010 war erRegionalgruppenleiter und Redakteur beim HeidelbergerInstitut <strong>für</strong> Internationale Konfliktforschung. Derzeitarbeitet er als selbständiger Journalist.95 Prozent der Morde in Ciudad Juarezwerden nicht untersucht.Quellen und Links:Hintergrundbericht des Council on ForeignRelations vom 13. Januar 2013nach denen <strong>die</strong> Hälfte der lokalen Behörden korruptist. Dies scheint einleuchtend, zumal Mexikozum Drehkreuz des <strong>Drogen</strong>handels geworden ist.Kokain wird in Peru, Kolumbien und Bolivienproduziert und <strong>die</strong> mexikanischen GroßkartelleGolfo – das <strong>die</strong> Westflanke des Landes kontrolliert–, Sinaloa und Los Zetas übernehmen denDie Zahlen zur Strafverfolgung in der Stadt sinddeutlich: 95 Prozent der Morde werden nicht einmaluntersucht, Straffreiheit ist <strong>für</strong> Mörder so gutwie sicher. Hier kann von der Herrschaft desRechts keine Rede mehr sein, <strong>die</strong> staatliche KernfunktionGewaltmonopol existiert nur noch aufdem Papier.Chronik und Beitragssammlung der Los AngelesTimes seit 2008Steckbrief von Joaquín Guzmán Loera beimUS Department of StateEintrag von Joaquín Guzmán Loera bei ForbesADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 17


Medizinisches Marihuana zu Discountpreisen in Denver, Colorado. Foto: O'Dea/Wikimedia Commons/CC BY-SA 3.0KAMPF GEGEN DIE DROGEN: USADer Hanf wird freivon Frank WilkerDer »Krieg <strong>gegen</strong> <strong>die</strong> <strong>Drogen</strong>« durchläuft im Land seinesUrsprungs eine bemerkenswerte Wandlung.In mehreren Bundesstaaten sorgen Volksinitiativen <strong>für</strong> eineLockerung der Gesetzgebung in Sachen Rauschmittel.Gerät <strong>die</strong> Cannabisprohibition in <strong>die</strong> Defensive?>> Richard Nixon hatte ihn ursprünglich erklärt.Unter Ronald Reagan hatte er zu einer noch niedagewesenen Schwemme von Inhaftieren in denUSA geführt. Der »War on Drugs« gibt aber heuteangesichts bürgerkriegsähnlicher Zustände inMexiko und immenser Profite der da<strong>für</strong> direktverantwortlichen Kartelle reichlich Grund, ihn zuhinterfragen. Zudem machen sich immer mehrsoziale Ungerechtigkeiten bemerkbar, <strong>die</strong> er eherzu fördern als zu bekämpfen scheint.Der 1971 ausgerufene »Krieg <strong>gegen</strong> <strong>die</strong> <strong>Drogen</strong>«hat seine klaren Verlierer. Angehörige von>>ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 18


USAethnischen Minderheiten sind in den USA inüberproportionaler Anzahl in den Gefängnissenvertreten. Die Verbindung von unverhältnismäßighärteren Strafen aufgrund des spezifischen<strong>Drogen</strong>deliktes – crack cocaine im Unterschied zupowder cocaine – und eine statistisch unübersehbare,»race-based« Befangenheit der Justiz sindda<strong>für</strong> verantwortlich, dass in manchen Bundesstaaten<strong>die</strong> Rate der <strong>für</strong> <strong>Drogen</strong>delikte verhängtenGefängnisstrafen <strong>für</strong> schwarze Amerikaner 20- bis 50-mal höher ausfällt als <strong>für</strong> Weiße. Dabeibelegen Stu<strong>die</strong>n, dass Konsumenten und Verkäufervon illegalen <strong>Drogen</strong> in gleicher Proportionalitätin allen ethnischen Bevölkerungsteilen zufinden sind.Die Bürgerrechtsanwältin Michelle Alexanderbezeichnet <strong>die</strong>se systematische Verfolgung unddamit einhergehende gesellschaftliche Ausgrenzungals »Fortsetzung der gesetzlichen Rassensegregation«der 1950er Jahre. Verstöße <strong>gegen</strong> <strong>die</strong>Cannabisprohibition spielen in <strong>die</strong>sem Kontext<strong>die</strong> mit Abstand größte Rolle und waren in den1990er Jahren <strong>für</strong> 80 Prozent des Anstiegs derVerhaftungen <strong>für</strong> <strong>Drogen</strong>delikte verantwortlich.Das Problem, dass bei vergleichsweise geringemgesellschaftlichem Schaden <strong>die</strong> Strafe einenoch höhere Perspektivlosigkeit und einen oftnicht zu verhindernden Wiedereintritt in <strong>die</strong> Illegalitätfördert, entgeht mittlerweile auch eingefleischtenBe<strong>für</strong>wortern harter Ahndung nichtmehr. Statistisch gesehen erfolgte im Jahre 2005nur eine von fünf drogenbezogenen Verhaftungen<strong>für</strong> eine festgestellte Absicht des »Handeltreibens«,der Rest lediglich <strong>für</strong> den Eigenkonsum.Aufgrund <strong>die</strong>ser Schieflage hat sich in Kalifornienin Bezug auf Cannabisdelikte in den letztenJahren der Trend zu immer mehr Gefängnisinsassenumgekehrt.Zwar scheiterte der 2011 angestoßene Volksentscheidzur Legalisierung nur knapp, allerdingslinderte der damals scheidende Gouverneur ArnoldSchwarzenegger mit seinem letzten Amtsaktdas Strafmaß so sehr, dass Kleinstmengen <strong>für</strong> denEigenkonsum forthin als eine Ordnungswidrigkeitbehandelt werden. Dementsprechend sank inKalifornien <strong>die</strong> Zahl der Verhaftungen <strong>für</strong> Cannabisdelikte2011 <strong>gegen</strong>über dem Vorjahr um 86Prozent und kommt der Entkriminalisierung nachholländischem Vorbild sehr nahe.Eine noch deutlichere Statistik wird sich nunvoraussichtlich in den Bundesstaaten Coloradound Washington einstellen, <strong>die</strong> jüngst per Volksentscheideiner vollständigen Legalisierung vonCannabisprodukten zugestimmt haben. Die Verfolgungund Ahndung von CannabisdeliktenUm 86 Prozent im Vergleich zumVorjahr sank 2011 in Kalifornien<strong>die</strong> Zahl der Verhaftungen <strong>für</strong> Cannabisdelikte.durch <strong>die</strong> dortigen Polizeibehörden in ihrer Jurisdiktionist seither praktisch obsolet.Der jüngste kulturelle Anstoß <strong>für</strong> <strong>die</strong>se Lockerungliegt dabei zweifelsohne in der wachsendenAkzeptanz von Marihuana <strong>für</strong> den medizinischenGebrauch. Die Gesetzesgrundlagen auf Einzelstaatsebeneführten seit 1996 gerade in Kalifornienzu einem massiven Wachstum an Institutionenund Infrastruktur, <strong>die</strong> den Zugang zu Cannabisals Heilmittel erleichtert haben.»Safe access«, also ein sicherer Zugang, zumerwählten Rauschmittel Cannabis <strong>für</strong> den Konsumentenist natürlich erst einmal das Zauberwortder Legalisierungsadvokaten. Und in derTat hat sich bei der Beschaffung, also in der Beziehungdes Kleinhandels mit dem Endverbraucherseit der gesetzlichen Etablierung des medizinischenGebrauchs einiges getan.Die Organisation »Americans for Safe Access«(ASA), <strong>die</strong> schon lange <strong>für</strong> einen straffreien,kontrollierten und regulierten Zugang zuCannabisprodukten eintritt, bezeichnet <strong>die</strong> Einführungvon sogenannten »dispensaries« oder»compassion clubs« als einen Segen <strong>für</strong> denKonsumenten. Vergleichbar mit den niederländischen»coffeeshops«, kann sich hier jeder Patient,der im Besitz einer gültigen ärztlichenEmpfehlung ist, mit den unterschiedlichstenMarihuanasorten, Haschisch, Tinkturen, Keksenoder sogar Hautlotionen versorgen.Die Aktivisten der ASA zeigen sich hocherfreutangesichts <strong>die</strong>ser Entwicklung. Endlich>>ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 19


USAwürden <strong>die</strong> »weichen« von den »harten« <strong>Drogen</strong>getrennt, der Konsument müsse sich nicht mehrden unzähligen Gefahren der Straßenkriminalitätaussetzen und zudem wird <strong>die</strong> »Medizin« labortechnischauf Qualität und Reinheit geprüft. Dasslaut Gesetz <strong>die</strong> Konsumenten hier erst einmal nurMenschen mit einer ernsthaften Erkrankung seinsollten, gerät allerdings allzu oft in Vergessenheit.Und in der Tat lautet der Vorwurf bundesstaatlicherVollzugsbehörden wie der »Drug EnforcementAdministration« (DEA), dass <strong>die</strong> einzelstaatlichenGesetze <strong>für</strong> den medizinischen Gebrauchzu lasch seien und lediglich <strong>für</strong> den Alltagskonsummissbraucht würden.Natürlich ist es nicht verwunderlich, wennsich der Einzelkonsument in den »sicheren Hafen«des gesetzlich zumindest ansatzweise geregeltenmedizinischen Marktes flüchtet und <strong>die</strong>dadurch geschaffenen Strukturen und Institutionendankend in Anspruch nimmt. Daher stelltsich <strong>die</strong> Frage, wie auf Bundesebene mit <strong>die</strong>serEntwicklung umgegangen wird.Aufgrund der rasanten Entwicklung der einzelstaatlichenGesetzgebung <strong>für</strong> den medizinischenGebrauch fehlt es <strong>für</strong> <strong>die</strong> Durchsetzung derbundesbehördlichen Cannabisgesetze erst einmalschlicht an Personal. Daraus resultiert auch <strong>die</strong>momentan eher schizophrene Handhabe deramerikanischen Bundesregierung. Mit der Liberalisierungder Gesetzeslage auf Einzelstaatsebenegeht zwangsweise auch eine gelockerte Haltungder Bundesbehörden einher.Das Justizministerium unter Eric Holder legteschon kurz nach Präsident Barack Obamas ersterMitten im Vietnamkriegrief US-PräsidentRichard M. Nixon 1971den »Krieg <strong>gegen</strong><strong>die</strong> <strong>Drogen</strong>« aus – dasKriegsende erlebtenweder er nochseine Nachfolger.Foto: US National ArchivesAmtseinführung seine offizielle Haltung <strong>gegen</strong>überdem unter Einzelstaatsgesetzgebung legitimiertenPatientenkonsum vor und machte denmedizinischen Gebrauch von Cannabis zu einerder niedrigsten Prioritäten des Justizministeriums.Die jüngsten Entscheidungen in Washingtonund Colorado kommentierte sein Chef Obamadann höchstpersönlich mit den Worten:»We’ve got bigger fish to fry than pot smokers.«Auf der anderen Seite sind <strong>die</strong> bundesbehördlichenRazzien und Schließungen von»cannabis dispensaries« unter Obama zahlreicherals unter Präsident George W. Bush. Dazumuss allerdings angemerkt werden, dass mit derzunehmenden Legitimität auch ein größererfinanzieller Anreiz und eine niedrigere Risikoschwelle<strong>für</strong> den Eintritt in den rapide wachsendenMarkt der medizinischen Cannabisversorgerentstanden ist.Die Zahl der »dispensaries« allein in Kalifornienist seit 2009 rasant in <strong>die</strong> Höhe geschnellt.Wobei <strong>die</strong> Bundesregierung noch versucht, <strong>die</strong>serEntwicklung repressiv zu begegnen, sieht siesich nun durch <strong>die</strong> komplette Legalisierung inColorado und Washington gezwungen, sich mitdem Thema auf höchster politischer Ebene auseinanderzusetzen.Hier werden dann wiederum ganz neu Tönelaut. In einem Interview mit dem Sender ABCkurz nach seiner Wiederwahl wurde der Präsidentnach der Einstellung seiner Regierung <strong>gegen</strong>überder Cannabislegalisierung jener Einzelstaatenbefragt. Seine Antwort fiel diplomatischeraus als erwartet. »Zum jetzigen Zeitpunkt«unterstütze er <strong>die</strong> Legalisierung auf Bundesebe->>ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 20


USAne nicht. Einigen Kommentatoren entging es danicht, dass es genau <strong>die</strong>se Wortwahl war, <strong>die</strong>Obama anfangs ebenfalls gerne benutzte, wenner zu seiner Einstellung <strong>gegen</strong>über der Homo-Ehebefragt wurde. Außerdem beschrieb der Präsident<strong>die</strong> Situation als einen Konflikt zwischen Einzelstaats-und Bundesgesetzgebung, über den einDialog geführt werden müsse. Nichts mehr zuhören war von der sonst üblichen Feststellung,Bundesrecht breche kategorisch immer Einzelstaatsrecht.Es ist allgemein nicht verwunderlich, dass nunauch <strong>die</strong> Bundesregierung Handlungsbedarf sieht.Seit den Volksentscheiden in Washington und Coloradoist es klar, dass es Cannabis ab Januar 2014völlig normal als Einzelhandelsprodukt zu erwerbengeben wird. Der Joint in der Zigarettenpackungund <strong>die</strong> Haschkekse als Nachtisch im Restaurantsind <strong>für</strong> jene Einzelstaaten auf dem Weg,Alltagsrealität zu werden. Diese Kommerzialisierungwirft demnach dringende Fragen auf Bundesebeneauf. Wie sieht es mit der Besteuerung vonEinkommen aus Verkäufen von Cannabisproduktenaus? Wer beschäftigt sich mit der Sicherheitund Verträglichkeit der neuen Produkte? Und vorallen Dingen: Was geschieht, wenn jene Produktejenseits der Grenzen Washingtons und ColoradosPräsident Obama erklärte: »We’ve got bigger fishto fry than pot smokers.«auftauchen? Dies sind alles Fragen, <strong>für</strong> <strong>die</strong> es zuständigeBundesbehörden gibt – in den vorhergehendenBeispielen IRS, ATF, FDA und DEA –, derenAufgabenbereich entweder erweitert oderkomplett umdefiniert werden müsste.Auch bleibt abzuwarten, wie das Justizministeriummit den Institutionen der Einzelstaatenumspringt, <strong>die</strong> eine aktive Rolle in der Regulierung– sprich: Lizensierung und Besteuerung –der künftigen Produzenten und Vertreibern vonCannabis spielen.Ein Blick auf <strong>die</strong> offizielle Webseite des »LiquorControl Boards« des Staates Washington versprichteinen detaillierten Zeitplan <strong>für</strong> <strong>die</strong> Implementierungder neuen Gesetzeslage, komplett mitFristen <strong>für</strong> <strong>die</strong> institutionelle Vergabe von Produzenten-und Einzelhandelslizenzen <strong>für</strong> Cannabiserzeugnisse.Dies kommt einer Einbindung einerauf Bundesebene komplett illegalen Substanz indas System neoliberaler Märkte gleich – paradoxerweisebegrenzt auf <strong>die</strong> einzelstaatliche Ebene.Wird das Justizministerium <strong>die</strong> Einzelstaaten hiermit einer Prozesswelle überziehen? Ebenso sindmassive Streichungen zukünftiger Bundesmittelals Strafmaßnahme denkbar. Oder werden einzelneKiffer vor den Kadi gezerrt um eine abschreckendeWirkung zu erzielen?Fazit ist, dass <strong>die</strong> schleichende Legitimierungvon Cannabis auf Einzelstaatsebene einenwachsenden Handlungs- und Wandlungsdruckauf jene Institutionen ausübt, <strong>die</strong> durch <strong>die</strong>Bundesregierung im Krieg <strong>gegen</strong> <strong>die</strong> <strong>Drogen</strong> geschaffenwurden. Aber <strong>die</strong> Problematik machtauch vor den amerikanischen Landesgrenzennicht halt. International zieht <strong>die</strong> derzeitigeEntwicklung ebenso seine Kreise.In Mexiko verfolgt man <strong>die</strong> Legalisierungsinitiativenbeim nördlichen Nachbarn sehr genau.Einem Land, welches unter dem vorangegangenenPräsidenten Felipe Calderón auf60.000 bis 70.000 Opfer im sogenannten »Krieg<strong>gegen</strong> <strong>die</strong> <strong>Drogen</strong>« zurückblickt, ist schon langeklar, dass es sich hier eindeutig mit einem Kriegum <strong>die</strong> <strong>Drogen</strong> konfrontiert sieht.Mit der »Merida Initiative« hat sich Washingtonnoch unter Präsident George W. Bushverpflichtet, Mexiko und andere mittelamerikanischeStaaten mit 1,6 Milliarden US-Dollar inder <strong>Drogen</strong>bekämpfung zu unterstützen. DieseGelder sind von vorneherein zu einem großenTeil gesetzlich an den Kauf militärischer Ausrüstungund <strong>die</strong> Beauftragung privater Militär<strong>die</strong>nstleisteraus den USA gebunden. Sie spüleneinerseits Geld zurück in <strong>die</strong> amerikanischeStaatskasse und schütten andererseits Öl in einenohnehin schon zum Flächenbrand ausgeartetenBürgerkrieg. Die Erfolge sind eher spärlich,<strong>die</strong> Resultate oft nur noch höhere Umdrehungszahlenin der Spirale der Gewalt.Der jüngst aufgedeckte »ATF Gunwalk«-Skandal ist ein Paradebeispiel: Das »United StatesBureau of Alcohol, Tobacco, Firearms and>>ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 21


USAExplosives« (ATF) ließ zwischen den Jahren 2006und 2011 wissentlich Schusswaffen an Strohmännerder mexikanischen <strong>Drogen</strong>kartelle verkaufen –mit der Absicht, <strong>die</strong>se dann bis in <strong>die</strong> höheren Etagender kriminellen Organisationen zu verfolgen,deren Bosse zu verhaften und <strong>die</strong> Waffen wiedereinzusammeln. Es wurde allerdings bekannt, dassin der bisher größten jener Aktionen namens »Fastand Furious« bis zu 2.000 Schusswaffen in <strong>die</strong>Hände der Kartelle fielen und <strong>die</strong>se im Anschlussan Tatorten in Mexiko und den USA über 150 Zivilopferforderten.Lediglich 710 <strong>die</strong>ser Waffen wurden späterwieder sichergestellt, Verhaftungen ranghoherKartellbosse blieben vollständig aus und diplomatischeBeziehungen zwischen den beiden Ländernwurden nachhaltig beschädigt. Es sind Beispielewie <strong>die</strong>se, <strong>die</strong> zeigen, wie kompliziert <strong>die</strong>Verflechtungen von <strong>Drogen</strong>nachfrage, Waffenschiebereiund fehlgeleiteter Strafverfolgung seinkönnen, und so <strong>die</strong> Logik des »War on Drugs« adabsurdum führen.Da verwundert es kaum, dass nach der einzelstaatlichenLegalisierung von Cannabis in Coloradound Washington sowie der Freigabe <strong>für</strong> denmedizinischen Gebrauch in weiteren 18 Bundesstaateneinige Politiker in Mexiko <strong>die</strong> Legalisierungals Lösung <strong>für</strong> das Gewaltproblem in ihremLand sehen. Kurz nach den erfolgreichen Legalisierungsinitiativenbeim nördlichen Nachbarnnahm dann auch Fernando Belaunzarán, Oppositionspolitikerder linksliberalen »Partei der DemokratischenRevolution« <strong>die</strong> Gelegenheit wahr,einen Gesetzesentwurf zur Cannabislegalisierungim mexikanischen Kongress einzubringen.2009 strichen sie denBegriff »Krieg <strong>gegen</strong><strong>die</strong> <strong>Drogen</strong>« aus ihremVokabular: Aber führenUS-Präsident BarackObama und sein oberster<strong>Drogen</strong>beauftragter GilKerlikowske wirklicheine liberalere<strong>Drogen</strong>politik?Foto: The White House/Pete SouzaDer Vorstoß hatte zwar nicht viel Aussicht aufErfolg, er zeigt jedoch, welchen Vorbildcharakternicht nur <strong>die</strong> von den USA viel gepredigte Prohibitionspolitik,sondern zugleich auch <strong>die</strong> dort angestoßenenLegalisierungskampagnen habenkönnen. Schon lange ist in Mexiko sowie in vielenanderen lateinamerikanischen Staaten bekannt,dass das Problem bei weitem nicht nur auf derHerstellerseite zu suchen ist, sondern dass <strong>die</strong>immense Nachfrage nach illegalen <strong>Drogen</strong> in denUSA eine sich ständig erneuernde Angebotsmaschineriesüdlich der Grenze schafft. Jüngst erstellteStu<strong>die</strong>n der RAND Corporation und desMexican Competitiveness Institute deuten demnachan, dass legal produziertes Marihuana ausWashington und Colorado einen 20- bis 30-prozentigen Einkommensausfall <strong>für</strong> mexikanischeKartelle bedeuten könnte.Andere Experten weisen allerdings auf <strong>die</strong>extreme Anpassungsfähigkeit der Kartelle hinund bezweifeln, dass <strong>die</strong> Profiteinbußen vonDauer wären. In Bezug auf Marihuana geht Uruguaydaher unlängst auch einen vollkommenneuen Weg. Es hat Ende 2012 den Besitz und <strong>die</strong>Produktion <strong>für</strong> den Eigengebrauch legalisiertund schickt sich an, eine noch weitreichendereKommerzialisierung unter staatlicher Aufsichtvoranzutreiben.Vorsichtig ausgedrückt, schaffen <strong>die</strong> jüngstenLegalisierungskampagnen in den USA somithöchst gemischte Signale im Hinblick auf <strong>die</strong>Zukunft des Krieges <strong>gegen</strong> <strong>die</strong> <strong>Drogen</strong> und füh->>ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 22


USAren in der nördlichen, sowie in der südlichen Hemisphäredes Kontinents zu neuen Ansätzen. Allerdingssind <strong>die</strong> USA weitestgehend an jene internationalenVerträge zur <strong>Drogen</strong>bekämpfunggebunden, <strong>die</strong> sie selbst in den 1960er, 1970erund 1980er Jahren weltweit mit immensem diplomatischenDruck erwirkt haben.Erwähnenswert ist <strong>die</strong> vertragliche Festschreibungvon vereinheitlichter Gesetzgebung zur <strong>Drogen</strong>bekämpfungaller Unterzeichnerländer, welchemit der »Single Convention on NarcoticDrugs« im Jahr 1961 in Kraft trat. Diese schuf permanenteinternationale Institutionen wie dasMit der Legalisierung von Cannabis würden <strong>die</strong>USA dementsprechend komplett aus <strong>die</strong>sem internationalenVertragsgeflecht ausscheren und<strong>die</strong> Türe <strong>für</strong> andere Länder öffnen, ihre gesetzlichenRegelwerke gerade in Hinsicht auf Produktionund Export zu lockern. Dies würde dem so oftvon den USA selbst beschworenen Mythos der»City upon the Hill« – dem leuchtenden VorbildcharakterAmerikas – komplett ent<strong>gegen</strong>laufen.Die momentane Bewegung <strong>für</strong> eine gesetzlicheLockerung oder eine vollständige Legalisierungvon Cannabis in den USA ist vorwiegend einbasisdemokratisch organisiertes Unterfangen. Sieder neuen Gesetze durch <strong>die</strong> Bundesregierungund be<strong>die</strong>nen sich damit einer Wortwahl <strong>die</strong> anfrühere Konflikte zwischen Einzelstaats-undBundesgesetzgebung erinnern.Dass es eine Überraschung hinsichtlich deroffiziellen Reaktion des Justizministeriums gebenwird, ist aufgrund des institutionellenDrucks auf nationaler und internationaler Ebeneeher unwahrscheinlich. Allerdings offenbart dergesellschaftliche Trend einen sichtlichen Wandlungsdruckhin zu einer Alltagsrealität, der sich<strong>die</strong> zuständigen Behörden nicht weiter verschließenkönnen.Die Bewegung <strong>für</strong> eine vollständige Legalisierungvon Cannabis ist in den USA vorwiegend einbasisdemokratisch organisiertes Unterfangen.Frank Wilker wurde an der Freien Universität Berlinin Nordamerikanistik promoviert.»International Narcotics Control Board« (INCB)oder das »United Nations Office on Drugs and Crime«(UNODC), <strong>die</strong> in enger Zusammenarbeit <strong>die</strong>Einhaltung internationaler Gesetze zur Bekämpfungvon Produktion, Verbreitung und Konsumillegaler <strong>Drogen</strong> sicher stellen sollen. Obwohl <strong>die</strong>ehemaligen Präsidenten von Brasilien, Mexikound Kolumbien schon im Jahre 2009 eine staatenübergreifendeDebatte um <strong>die</strong> Entkriminalisierungvon <strong>Drogen</strong> angestoßen hatten, wehren sichspeziell jene sehr konservativen Sektoren derUNO, <strong>die</strong> mit der Einhaltung der internationalenGesetze zur <strong>Drogen</strong>bekämpfung vertraut sind.ist teils das Ergebnis der Gegenkultur der 1960erJahre und ihrem Hang zum medizinischen sowieprivaten Konsum, teils Aufbegehren <strong>gegen</strong> dasvon der mächtigen Lobby der Gefängnisindustrieerwirkte, unverhältnismäßig hohe Strafmaß. DieKonflikte, <strong>die</strong> sich mit den bundesbehördlich geschaffenenInstitutionen im »Krieg <strong>gegen</strong> <strong>die</strong><strong>Drogen</strong>« ergeben, werden sich voraussichtlichnoch verschärfen.Unmittelbar bevor steht <strong>die</strong> offizielle Reaktiondes Justizministeriums auf <strong>die</strong> Volksentscheide inWashington und Colorado. Ranghohe Offizielleder DEA forderten erst jüngst <strong>die</strong> »Nullifizierung«Quellen und Links:Zeitplan des »Washington State Liquor ControlBoard« vom 9. Januar 2013 zur Umsetzung derMarihuana-Reforminitiative »I-502«Webpräsenz der Drug Policy AllianceWebpräsenz der Americans for Safe AccessWebpräsenz des White House Office of NationalDrug Control PolicyADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 23


Von der US-Küstenwache zerstörtes Schmuggler-Speedboat auf Hoher See zwischen Haiti und Kuba, August 2012. Foto: US Coast Guard/Richard BrahmKAMPF GEGEN DIE DROGEN: AUFRÜSTUNGWahl der WaffenRedaktion: Stefan DöllingDen Feldzug <strong>gegen</strong> das Rauschgift führen <strong>die</strong> USA und ihre Partnermit großem technischen und finanziellen Aufwand.Das zwingt <strong>die</strong> Kartelle immer wieder dazu, sich anzupassen undneue Wege zu finden, um sich der Verfolgung zu entziehen.Dank der enormen Gewinnmargen im <strong>Drogen</strong>geschäft ist ihnendas bislang immer wieder gelungen. Mit ihren Schmuggel-U-Bootenhaben sie derzeit sogar <strong>die</strong> Nase vorn –zumindest bis zur nächsten Drehung der Rüstungsspirale.Die Grenze zwischen Kriminalistik undKriegführung löst sich indes vollkommen auf.>>ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 24


AUFRÜSTUNGGruppenbild mit Droge: Amerika führt den »War onDrugs« mit einem unübersichtlichen Apparat ausGeheim<strong>die</strong>nst-, Militär-, Justiz- und Polizeibehörden.Zoll, Grenzschutz und Küstenwache unterstehendabei dem mächtigen »Department of HomelandDefense«. Hier beispielsweise Customs andBorder Protection, Drug Enforcement Administrationund Coast Guard nebst örtlicher Polizei sowieStaatsanwaltschaft bei der Präsentationbeschlagnahmter <strong>Drogen</strong> im Juni 2012 in Puerto RicoFoto: US Coast Guard/Ricardo CastrodadGemeinsam <strong>gegen</strong>Windmühlenflügel –unter dem Dachder »Homeland Security«Leise Fahnder: In den USA sind bereits seit 2005Aufklärungsdrohnen im Einsatz <strong>gegen</strong> den<strong>Drogen</strong>schmuggel aus Mexiko. Hier eine MQ-9»Reaper« des Zoll und Grenzschutzesunter Oberhoheit der Homeland SecurityFoto: US Customs and Border Protection/Gerald L Nino>>ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 25


AUFRÜSTUNGSeltener Erfolg: Wird ein Schmugglerschiff von denBehörden entdeckt, versenkt es <strong>die</strong> Besatzungin der Regel selbst, getreu dem Motto: keine Beweise,kein Prozess. Hier schafft ein Angehöriger derKüstenwache im August 2012 Kokain in Florida anLand, das vor Honduras‘ Küste aufgegriffen wurde.Foto: US Coast Guard/Crystalynn A. KneenAbgetaucht: Mit solchen »semi-submersibles«können knapp unter der Wasseroberfläche bis zu12 Tonnen Fracht unter dem Radar vorbeigeschmuggelt werden. Dieses Boot haben US-Zollund Küstenwache im Ost-Pazifik entdeckt.Foto: US Coast Guard>>ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 26


AUFRÜSTUNGFliegendes Auge: Das »Department of HomelandSecurity« verfügt <strong>für</strong> <strong>die</strong> Jagd aufRauschgiftschmuggler über eine eigene Flottespezialisierter Überwachungsflugzeuge. Hier eineP-3B »Orion« AEW mit leistungsfähigem RadarFoto: US Customs and Border ProtectionDie <strong>Drogen</strong>jäger zählenihre Erfolge stolz wie <strong>die</strong>Jagdflieger.Abschussmarkierung: Jede durchgestricheneMarihuanapflanze auf der Brückenwandder in Kalifornien stationierten USCGC »Narwhal«steht <strong>für</strong> eine abgefangene <strong>Drogen</strong>lieferung.Foto: US Coast Guard/Seth Johnson>>ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 27


AUFRÜSTUNGAuslandseinsatz: Agenten der amerikanischen Drug Enforcement Administration (DEA) helfen gerne in Lateinamerika aus. Im März 2011 etwaschnappten sie den Kartellboss Juan Albertoa Ortiz im guatemaltekischen Quetzaltenango. Foto: Presidencia de la Republica, Guatemala>>ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 28


AUFRÜSTUNGOb zu Land, unterWasser ...Stahlmonster: Mit solchen »Narco-Panzern«,an denen Geschosse bis zu Kaliber 12,7Millimeter abprallen, schützen <strong>die</strong> mexikanischenKartelle ihre <strong>Drogen</strong>lieferungennicht vor der Polizei – sondern voreinander.Foto: SEDENASchwer zu fassen: Selbstgebaute Kartell-U-Bootewie <strong>die</strong>ses in Ecuador sichergestellte sind <strong>die</strong>nächste Evolutionsstufe der »semi-submersibles«.Sie können ihre <strong>Drogen</strong>frachtin bis zu 10 Metern Tiefe befördern.Foto: DEA>>ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 29


AUFRÜSTUNGTransportflieger: Im Mai 2009 wurde eine Boeing 727abgestürzt und aufgegeben in der malischenSahara gefunden. Die geschätzte Last: bis zu 20Tonnen Kokain; <strong>die</strong> vermutete Herkunft:Venezuela. Hier eine 727 in Miami 1997Foto: Axel J./FRA-Spotterforum.de… oder in der LuftAbfangjäger: Die Behörden setzen <strong>gegen</strong> denSchmuggel auf dem Luftweg auch<strong>Kampf</strong>flugzeuge ein. Spezialisiert auf solcheMissionen sind Maschinen wie <strong>die</strong>se Embraer 314»Super Tucano« der dominikanischen Luftwaffe.Foto: Fuerza Aerea Dominicana/Jonas ReynosoADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 30


Bordschütze in einem französischen Hubschrauber in der Nähe von Timbuktu, Januar 2013. Foto: Olivier Debes/SIRPA TerreKAMPF GEGEN DIE DROGEN: HANDELSWEGE IDrehkreuz im Fadenkreuzvon Menko BehrendsWestafrikas <strong>Drogen</strong>markt entwickelt sich dynamisch: InternationaleRauschgiftschmuggler und am <strong>Drogen</strong>handel beteiligteterroristische Gruppen haben ihr Tun in <strong>die</strong> Region verlagert.Fragile Staaten und <strong>die</strong> schwer zu überwachende Sahara bietenideale Bedingungen <strong>für</strong> illegale Aktivitäten.Die damit verbundene Destabilisierung der Region hat auch <strong>die</strong>internationale Staatengemeinschaft in Alarmbereitschaftversetzt. Die westliche Intervention in Mali zielt letzten Endesauch auf den Rauschgifthandel.>> »Save West Africa from the drug barons« – solautete <strong>die</strong> Überschrift eines im Januar 2012 imbritischen Guardian publizierten Artikels desfrüheren UN-Generalsekretärs Kofi Annan. Westafrikaliege in den Händen von <strong>Drogen</strong>bossenund <strong>die</strong> Entwicklung der Region hinge entscheidenddavon ab, ob sie sich aus dem Griff derRauschgiftbarone befreien kann.Im vergangenen Jahrzehnt häuften sich Berichteüber <strong>Drogen</strong>transporte in und über Westafrika:In Nigeria wurden 2006 in einer einzigenAktion 14,2 Tonnen Kokain beschlagnahmt. 2009>>ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 31


HANDELSWEGE Ientdeckten Sicherheitskräfte in der malischenWüste eine ausgebrannte Boeing 727, <strong>die</strong> bis zu20 Tonnen des illegalen Stoffs geladen hatte. Und<strong>die</strong> US-<strong>Drogen</strong>behörde DEA deckte im Juli 2010einen internationalen <strong>Drogen</strong>ring auf, der annäherndsechs Tonnen südamerikanisches Kokainüber Liberia nach Europa transportieren wollte.Nach Angaben des United Nations Office onDrugs and Crime (UNODC) gelangten 2011 rund30 Tonnen Kokain und 400 Kilogramm Heroinnach Westafrika. Sicherheitsbehörden aus Westafrikaund den USA schätzen, dass <strong>die</strong> tatsächlicheKokain-Schmuggelmenge mittlerweile sogarbei 100 bis 200 Tonnen liegen könnte. Damit liegen<strong>die</strong> vermuteten Gewinne aus dem illegalenGeschäft über dem Gesamtwert aller legalen ExportprodukteWestafrikas. Zudem rückt <strong>die</strong> Regionseit 2009 als Produzent und Exporteur chemischer<strong>Drogen</strong> ins Visier der Ermittler.Aufgrund der Nähe zu Europa, der prekärenSicherheitslage, <strong>die</strong> das Risiko von Kontrollenund Beschlagnahmungen begrenzt, und den gutvernetzten lokalen kriminellen Organisationengilt Westafrika als idealer Standort <strong>für</strong> illegaleSchmuggelaktivitäten jeglicher Art. Zunehmendverlagern auch ausländische Akteure ihre illegalenAktivitäten in <strong>die</strong> Region. So wichen beispielsweiseim Zuge des »War on Drugs« lateinamerikanischeKartelle auf alternative Handelsroutenin Westafrika aus, um den verschärftenSicherheitsvorkehrungen im karibischen Raumzu entgehen und ihren Zugriff auf den europäischen<strong>Drogen</strong>markt zu sichern.Auch süd- und osteuropäische Mafiaorganisationen,<strong>die</strong> radikal-islamische Hisbollah aus demLibanon und <strong>die</strong> kolumbianische GuerillagruppeFARC beteiligen sich am Rauschgifthandel überWestafrika. Alle <strong>die</strong>se Gruppierungen schöpfenProfit aus der Schwäche der westafrikanischenStaaten und tragen durch Korruption und Gewalt,<strong>die</strong> mit dem <strong>Drogen</strong>geschäft einhergehen,zu deren Fragilität bei.Ihre auf dem Rauschgifthandel basierendeFinanzmacht verschafft den beteiligten AkteurenZugang zu höchsten Regierungskreisen, wie ein2012 veröffentlichter gemeinsamer Bericht verschiedenerinternationaler Organisationen überden Einfluss des <strong>Drogen</strong>schmuggels in Westafrikakonstatiert. Bereits 2010 beschrieb der ghanaischeSicherheitsexperte Kwesi Aning in der Stu<strong>die</strong>»Understanding the Intersection of Drugs,Politics & Crime in West Africa«, wie hochrangigeBeamte, Politiker und Militärs in sechs westafrikanischenStaaten direkt oder indirekt am<strong>Drogen</strong>handel beteiligt sind oder waren. Das illegaleGeschäft und seine Begleiterscheinungenbeeinträchtigen so <strong>die</strong> sozioökonomische undpolitische Entwicklung der gesamten Region.Dies konterkariert wiederum <strong>die</strong> zaghaften Stabilisierungserfolge,<strong>die</strong> einige Staaten Westafrikasseit Ende der 1990er Jahre verzeichnen.Ein extremes Beispiel ist Guinea-Bissau, wo dasherrschende Militär das <strong>Drogen</strong>geschäft kontrolliertsowie Infrastruktur und Logistik <strong>für</strong>dessen Abwicklung bereitstellt. Längst hat sichdas Land zum Hauptumschlagplatz des Rauschgifthandelsin und über Westafrika entwickeltund wird in der internationalen Presse bereitsals »Africas first narco-state« bezeichnet. Bis zueiner Tonne südamerikanisches Kokain soll Guinea-Bissautäglich erreichen, um anschließendweiter nach Europa und Nordamerika transportiertzu werden. Die Machtkämpfe um den Zugangzum lukrativen <strong>Drogen</strong>geschäft haben zueiner anhaltenden Destabilisierung der politischenVerhältnisse des Landes geführt. VieleExperten vermuten, dass sowohl <strong>die</strong> Ermordungvon Präsident João Bernardo Vieira 2009 alsauch der Militärputsch 2012 in enger Verbindungzum Rauschmittelgeschäft stehen.Der Ursprung <strong>für</strong> <strong>die</strong> Entwicklung Westafrikaszu einem der Hauptoperationsgebiete desinternationalen Rauschgifthandels liegt bereitsin den 1980er Jahren, als infolge einer wirtschaftlichenKrise herrschende Militärs undPolitiker in Staaten wie Nigeria, Liberia undGhana verstärkt auf illegale Einkommensquel- >>Die Gewinne aus dem <strong>Drogen</strong>handel übersteigen denGesamtwert von Westafrikas legalem Export.ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 32


HANDELSWEGE IFrankreichs PräsidentFrançois Hollandeerklärte im Februar demEuropäischen Parlament<strong>die</strong> Zusammenhänge in Mali.Foto: Jean-Marc Ayrault/CC BY 2.0»Der Terrorismus aufder ganzen Weltwird vom <strong>Drogen</strong>handelbefördert, insbesonderein Westafrika.«len zurückgriffen. Der <strong>Drogen</strong>handel spielte dabeieine zentrale Rolle.Obgleich also kein junges Phänomen, istWestafrikas Rolle als internationales <strong>Drogen</strong>drehkreuzerst vor kurzer Zeit in den Fokus derWeltöffentlichkeit gerückt und hat <strong>die</strong> internationaleStaatengemeinschaft in Alarmbereitschaftversetzt. Auf Druck des Westens sind <strong>die</strong> Sicherheitskontrollenvor Westafrikas Küsten in denletzten Jahren deshalb ebenso angestiegen, wiegemeinsam koordinierte afrikanisch-europäischeund afrikanisch-amerikanische Beschlagnahmungsaktionenstattfinden.Obwohl <strong>die</strong>se Anstrengungen zu vordergründigenErfolgen in Form von vermehrten Konfiszierungenführten, ist ihre langfristige Wirksamkeitzu bezweifeln. Wie im Falle Lateinamerikasdiversifizieren sich vornehmlich <strong>die</strong> Transportweisenund -routen: Um Kontrollen zu entgehen,weichen Schmuggler immer häufiger auf kaum zuüberwachende und ständig wechselnde Überlandstreckenaus, <strong>die</strong> durch den Sahelraum führen.Malis früherer Präsident Amadou ToumaniTouré – 2012 aus dem Amt geputscht – nannte <strong>die</strong>Sahara jüngst den »weltgrößten Supermarkt« <strong>für</strong>Waffen, Geiseln und <strong>Drogen</strong>. Durch <strong>die</strong> jüngstenpolitischen Umbrüche in Nordafrika und dasdadurch entstandene sicherheitspolitische Vakuumwerden auch Staaten wie Algerien, Marokko, Libyenund Ägypten immer öfter als Durchgangsländer <strong>für</strong>den <strong>Drogen</strong>transport nach Europa genutzt.Um den Überlandtransport der illegalenFracht zu organisieren, machen sich <strong>die</strong> <strong>Drogen</strong>händlerund -kartelle <strong>die</strong> Schmuggelkenntnisseund logistischen Fähigkeiten lokaler Gruppierungenzunutze. So sollen sowohl einige Tuareg-Stämme als auch <strong>die</strong> aus Algerien stammendeTerrororganisation »Al-Qaida des IslamischenMaghreb« (AQMI) Teil des transkontinentalen<strong>Drogen</strong>handels sein. Diese Gruppierungen erhalten<strong>für</strong> ihre logistischen Dienstleistungen Berichtenzufolge circa 2.000 US-Dollar pro Kilogeschmuggelten Kokains. Derartige Beträge ad<strong>die</strong>rensich zu mehreren Millionen Dollar proJahr, mit denen Organisationen wie AQMI <strong>die</strong>Ausbildung und Ausrüstung <strong>für</strong> ihre politischund religiös motivierten Kämpfer finanzieren.In einem 2009 mit dem Kommandeur desamerikanischen »Africa Command«, General WilliamE. Ward, geführten Gespräch musste Touréeingestehen, dass <strong>die</strong> Gewinne aus dem <strong>Drogen</strong>handelin Mali größtenteils direkt in <strong>die</strong> Finanzierungvon Terroristen flössen. Ward äußertedarauf <strong>die</strong> Besorgnis, der malische Staat böte<strong>Drogen</strong>- und Waffenhändlern sowie Terroristennoch größere Handlungsspielräume, sollte <strong>die</strong>Regierung <strong>die</strong> schlecht kontrollierten Gebiete imNorden des Landes nicht in den Griff bekommen.Der General sollte mit seiner Be<strong>für</strong>chtung Rechtbehalten, wie <strong>die</strong> Ereignisse seit dem Militärputschim April 2012 verdeutlichen: Durch <strong>Drogen</strong>gelderfinanzierte, separatistische, radikalreligiöse und kriminelle Gruppen kämpfen seitherSeite an Seite und fordern den Staat und desseninternationale Verbündete heraus.Auf dem Weltwirtschaftsforum im schweizerischenDavos im Januar 2013 erklärte auch NigeriasPräsident Goodluck Jonathan, dass <strong>die</strong> Erlöse,<strong>die</strong> in Westafrika mit dem <strong>Drogen</strong>handel und >>ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 33


HANDELSWEGE Ion ihr Engagement als Beitrag, <strong>die</strong> miteinanderverknüpften Gefahren von <strong>Drogen</strong>handel undTerrorismus in der Sahelzone zu verringern.Auch in Zahlen verdeutlicht sich der neue Fokusdes Westens, haben <strong>die</strong> USA ihre finanziellenHilfen <strong>für</strong> Afrikas Anti-<strong>Drogen</strong>kampf doch von7,5 Millionen US-Dollar im Jahr 2009 auf mittlerweile50 Millionen Dollar jährlich erhöht.Inwiefern <strong>die</strong> vor allem technisch und finanziellausgerichtete Unterstützung dazu beiträgt,den <strong>Drogen</strong>handel tatsächlich einzudämmen,bleibt abzuwarten. Beispiele aus Lateinamerika,wo seit Jahren eine ähnliche Strategie verfolgtwird, lassen jedoch be<strong>für</strong>chten, dass sich <strong>die</strong> ohnehinangespannte Sicherheitssituation in Westafrikanoch verschlimmern könnte. Menko Behrends hat Regionalwissenschaften an derUniversität zu Köln stu<strong>die</strong>rt und seine Diplomarbeitüber organisierte Kriminalität in Zentralamerikaund Westafrika geschrieben.Quellen und Links:Das Beispiel Lateinamerika lässt be<strong>für</strong>chten, dasssich <strong>die</strong> Situation in Westafrika noch verschlimmert.dem Erpressen von Lösegeldern <strong>für</strong> Geiseln erzieltwerden, dem afrikanischen TerrorismusAuftrieb verliehen. Die zunehmenden Verbindungenzwischen Rauschgifthändlern sowie terroristischenund militanten Gruppen sind somitein weiteres Sicherheitsrisiko <strong>für</strong> <strong>die</strong> Region.Der ehemalige nigerianische Präsident undVorsitzende des 2013 gegründeten Think Tanks»West Africa Commission on Drugs«, OlusegunObasanjo, bezeichnete <strong>die</strong> ausufernde Macht desorganisierten Verbrechens in Mali als »Weckruf«<strong>für</strong> andere Staaten, auf <strong>die</strong> Gefahren zu reagieren,<strong>die</strong> sich aus den Verbindungen zwischenOrganisierter Kriminalität und Terrorismus ergeben– zumal <strong>die</strong>se Gefahren <strong>die</strong> Grenzen Westafrikasdeutlich überschreiten.Dieser Weckruf scheint deshalb mittlerweileauch Europa und <strong>die</strong> USA erreicht zu haben undhat Westafrika ins Fadenkreuz des globalen Anti-<strong>Drogen</strong>-<strong>Kampf</strong>es befördert. So begründete derfranzösische Präsident François Hollande dasjüngste Eingreifen Frankreichs in den Konflikt inMali mit der Pflicht Europas und seines Landes,nicht nur Demokratie und Menschenwürde zuverteidigen, sondern <strong>die</strong> internationale Gemeinschaftauch vor den Gefahren des Terrorismus zuschützen. In einer Rede am 5. Februar 2013 vordem Europäischen Parlament wies Hollande dabeidem <strong>Kampf</strong> <strong>gegen</strong> den <strong>Drogen</strong>handel einezentrale Rolle zu, »da der Terrorismus auf derganzen Welt vom <strong>Drogen</strong>handel befördert wird,insbesondere in Westafrika.«Die EU sieht das Eingreifen Frankreichs undihre eigene im April 2013 gestartete Ausbildungsmission<strong>für</strong> <strong>die</strong> malische Armee, an dersich auch <strong>die</strong> Bundeswehr beteiligt, auch unter<strong>die</strong>sen Vorzeichen. Wie <strong>die</strong> Frankfurter AllgemeineZeitung im März berichtete, verstehe <strong>die</strong> Uni-Webpräsenz der West Africa Commission on DrugsGemeinsamer Bericht des NYU Center onInternational Cooperation u.a.: »The Impact ofOrganized Crime and Drug Trafficking onGovernance, Development & Security in WestAfrica« vom April 2012Hintergrundbericht »Revealed: how Saharancaravans of cocaine help to fund al-Qaeda interrorists' North African domain« des Telegraphvom 26. Januar 2013Kofi Annan: »Save West Africa from the drugbarons« im Guardian vom 29. Januar 2012Meldung »WikiLeaks: President of Mali LinksDrug Trafficking to Terrorism« desOnlinemagazins Crethi Plethi vom 29.Dezember 2010ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 34


WELTADLAS: DROGENHANDEL IN WESTAFRIKADie Spur des KokainsF r a n k r e i c hDeutschlandDas »United Nations Office on Drugs and Crime«, kurz UNODC, mit Sitz in Wien protokolliertseit seiner Gründung 1997 das Weltgeschehen von Rauschgiftgeschäft und organisiertemVerbrechen. Wichtigste Publikation ist der jährliche »Weltdrogenbericht« – der nur <strong>die</strong> Spitzeeines Eisbergs beschreibt.Allein in Westafrika haben <strong>die</strong> Behörden von 2005 bis 2009 mehr als 37 Tonnen Kokainbeschlagnahmt – ein Bruchteil des tatsächlichen Schmuggelvolumens, und auch nur gut einProzent der im jährlichen Durchschnitt weltweit abgefangenen illegalenSubstanzen. Aus Südamerika gelangt das Kokain auf dem Seewegzu den westafrikanischen Küstenstaaten, um von dort hauptsächlichper Lufttransport nach Europa geschafft zu werden. Die Behördenzeichnen <strong>die</strong> Schmuggelrouten nach, indem sie akribisch Ort und Mengeder abgefangenen Ladungen aufzeichnen. Das sich darausergebende Bild des illegalen Handelsnetzwerks kann aber nureine Annäherung sein – <strong>die</strong> tatsächliche Transportmengeund <strong>die</strong> zugehörigen Routen bleiben im Verborgenen. mmoK o l u m b i e nV e n e z u e l aEinzelne Beschlagnahmungenvon Kokain in Tonnen *2008200720062005B r a s i l i e nLänder, <strong>die</strong> Beschlagnahmenan Land gemeldet haben2.000 Kilometer3,01,3übrige Länder der Region Westafrika2,1KapVerde0,11,50,5Guin ea -Bissau3,11,33,70,63,20,80,6 0,71,23,7West-SaharaSenega l0,20,72,5Portug al1,9M a u r e t a n i e nGamb iaGuin eaSier raLeon eM a r o k k o0,1Côted‘IvoireLiberiaS p a n i e nM a l iBurkinaFasoBeninGhana0,30,40,40,6A l g e r i e n1,90,8TogoI t a l i e nL i b y e nN i g e rN i g e r i aKamerun* nur Mengen über 100 kgQuellen: UNODC West Africa Report 2009; UNODC World Drug Report 2012Karte: mmoADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 35


KAMPF GEGEN DIE DROGEN: NARKO-SYSTEMNOTIZPutschistund DealerEiner geduldigen Undercover-Aktionamerikanischer <strong>Drogen</strong>fahnderging ein Kokain-Admiral aus Guinea-Bissau ins Netz.Ein Jahr nach ihrem letzten Putsch haben <strong>die</strong>Generäle Guinea-Bissau noch immer fest im Griff.Seit ihrer Unabhängigkeit 1974 hat <strong>die</strong> ehemaligeportugiesische Kolonie eine ständige Abfolge vonStaatsstreichen erlebt und ist zum traurigen Inbegriffpolitischer Instabilität und Armut geworden.Dass das westafrikanische Land nicht in Bürgerkriegsgewalt,wie zuletzt <strong>die</strong> Elfenbeinküste, abgesunkenist, liegt an der relativen Geschlossenheitdes einzig starken Machtfaktors und seines einträglichengemeinsamen Nenners: Das Militär hatGuinea-Bissau als Umschlagplatz <strong>für</strong> den transatlantischen<strong>Drogen</strong>- und Waffenhandel etabliert.Wie <strong>die</strong>ser »Narko-Staat« funktioniert undvielleicht in Zukunft aus den Angeln gehobenwerden könnte, legten US-<strong>Drogen</strong>fahnder im Apriloffen. Seit 2010 waren <strong>die</strong> Ermittler der »DrugEnforcement Administration« (DEA) führendenMilitärs Guinea-Bissaus auf den Fersen gewesen.Sie hatten sich als Vertreter der kolumbianischenFARC-Rebellen ausgegeben, denen <strong>die</strong> Putschistenim Tausch <strong>für</strong> <strong>die</strong> Lagerung von mehrerenTonnen Kokain Flugabwehrraketen <strong>für</strong> den Guerilla-<strong>Kampf</strong>in Aussicht stellten – inklusive 13Prozent Provision des Kokain-Warenwertes.Als der frühere Marinechef José Américo BuboNa Tchuto in <strong>die</strong>sem Frühjahr das Geschäft aufeiner Yacht auf hoher See besiegeln wollte, schlugen<strong>die</strong> verdeckten Ermittler zu. Über <strong>die</strong> Kapverdenwurde Na Tchuto in <strong>die</strong> USA ausgeliefert –und sitzt nun in New York auf der Anklagebank.Die Junta ließ vorsichtshalber seine Gefolgsleuteund Familienangehörige festsetzen, weil sie NaTchutos Aussagen als Kronzeuge <strong>für</strong>chtet.Der größere Fisch ging den <strong>Drogen</strong>fahndern aberdurch <strong>die</strong> Lappen. Antonio Indjai, Armeechef undPutschführer, hatte Verdacht geschöpft und wardem Offshore-Deal kurzfristig ferngeblieben. Erist nun aber ebenso offiziell wegen <strong>Drogen</strong>handelund Terrorismusfinanzierung angeklagt.Robert ChatterjeeQuellen und Links:Bericht von AlJazeera vom 6. April 2013Pressemitteilung der DEA vom 4. April 2013Bericht der New YorkTimes vom 2. November 2012ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 36


Teheran. Foto: Maryam Ashoori/Wikimedia Commons/CC BY 2.5KAMPF GEGEN DIE DROGEN: HANDELSWEGE IIGottes Transitstaatvon Konstantin FlemigBeim Namen Iran haben <strong>die</strong> meisten Deutschen das gleicheBild vor Augen: Eine islamische Diktatur, in der – anders als imWesten – religiöse Zucht und Ordnung verhindern, dass <strong>die</strong>Bevölkerung solchen Versuchungen wie Alkohol oder <strong>Drogen</strong> erliegt.Doch <strong>die</strong>ses Bild hat mit der Wirklichkeit nicht viel zu tun:Als Nachbarland von Afghanistan spielt der Iran längsteine bedeutende Rolle im internationalen Rauschgiftschmuggel.Millionen von Süchtigen sind <strong>die</strong> Folge.>> Es waren unangenehm vertraute Bilder, <strong>die</strong>im Juni 2012 durch verschiedene Menschenrechtsorganisationenveröffentlicht wurden: fünfMänner, mit schwarzen Augenbinden und gefesseltan Händen und Füßen, aufgeknüpft an einemmittelgroßen Lastwagenkran, bewacht vonmaskierten Männern mit Sturmgewehren. Absperrungenhalten eine Menge von Schaulustigenauf Abstand, <strong>die</strong> sich das Ereignis nicht entgehenlassen wollen. Szenen aus dem Iran, <strong>die</strong>einen mittlerweile nicht mehr wirklich zu überraschenvermögen.Doch anders als <strong>die</strong> meisten solcher Meldungen,<strong>die</strong> ihren Weg über Amnesty Internationaloder Human Rights Watch bis in <strong>die</strong> westlichenLeitme<strong>die</strong>n finden, handelte es sich bei den imsüdiranischen Shiraz hingerichteten Männern>>ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 37


HANDELSWEGE IIwas <strong>für</strong> ein Problem das Geschäft mit den <strong>Drogen</strong><strong>für</strong> <strong>die</strong> Islamische Republik geworden ist.Eine besondere Bedeutung haben dabei Opiumund das daraus hergestellte Heroin. Iran teiltsich eine 1.800 Kilometer lange Grenze mit Afghanistan,dem weltweit größten Produzentendes Rauschgiftes. Dessen Produktion hat sich seitBeginn des ISAF-Einsatzes <strong>gegen</strong> <strong>die</strong> Taliban vervielfacht,eine Entwicklung, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Nachbarn unmittelbarzu spüren bekommen: Über Schmugglerroutenfindet mehr als ein Drittel des in Afghanistanangebauten Opiums seinen Weg inden Iran, von wo aus der traditionelle Handelswegüber <strong>die</strong> Türkei und den Balkan bis zu denEndabnehmern in Mittel- und Westeuropa führt.Um <strong>die</strong>se Routen stillzulegen, setzen <strong>die</strong> Behördeneine kleine Armee ein: Über 12.000 Polizistenund Soldaten sollen <strong>die</strong> östliche Landesgren-42 Prozentaller Opiumkonsumenten weltweit leben im Iran.Jahre zu einem regelrechten Krieg aus. Über3.900 iranische Soldaten fanden den Tod; mitNachtsichtgeräten und schweren Waffen ausgestattete<strong>Drogen</strong>banden aus Afghanistan und Pakistanüberschritten <strong>die</strong> Grenze und griffen zumTeil sogar gezielt Regierungstruppen an.Doch <strong>die</strong> Situation scheint sich gewendet zuhaben. 700 Millionen US-Dollar steckte der Iranin <strong>die</strong> Sicherung seiner Grenze. Die Zahl der wiein Shiraz an Baukränen aufgeknüpften <strong>Drogen</strong>schmugglersteigt und steigt. Amnesty Internationalgeht davon aus, dass von den über 600Menschen, <strong>die</strong> im Iran jedes Jahr hingerichtetwerden, über 80 Prozent wegen <strong>Drogen</strong>vergehenverurteilt werden. Kaum ein anderer Staatkämpft den einst von den USA ausgerufenen»War on Drugs« mit so harten Bandagen.Und kaum ein anderes Land hat mehr zu verlieren.Staatliche Quellen geben <strong>die</strong> Zahl derSüchtigen im Land mit 1,2 Millionen an. DieDunkelziffer dürfte deutlich höher liegen.400.000 Menschen spritzen sich regelmäßigHeroin, und Opium ist in vielen Regionen billigerals Bier. Die Vereinten Nationen schätzen,dass der Iran mit seinen 78 Millionen Einwohnern<strong>für</strong> 42 Prozent des weltweiten Opiumkonsumsverantwortlich ist.Über <strong>die</strong> Gründe da<strong>für</strong> herrscht Uneinigkeit.Mohammad Reza Rahimi, Erster Vizepräsidentdes Iran, sucht <strong>die</strong> Schuld bei den »Zionisten«.Im Rahmen des Internationalen Tages <strong>gegen</strong> den<strong>Drogen</strong>missbrauch sagte er: »Der Talmud lehrtsie, wie sie Nicht-Juden zerstören können.« Wäh-nicht um Dissidenten, politische Gefangene oderEhebrecher. Wenn man den iranischen BehördenGlauben schenkt, waren <strong>die</strong> Fünf organsierte<strong>Drogen</strong>schmuggler, und denen, so lautet <strong>die</strong> unmissverständlicheBotschaft des Regimes, wurdeder <strong>Kampf</strong> angesagt.Fast eine halbe Tonne Crack, so <strong>die</strong> Vorwürfe,hätten <strong>die</strong> Männer besessen oder bereits verkauft,dazu kleinere Mengen an vergleichsweiseharmlosem Haschisch. Das klingt nach viel. Dochein Blick auf <strong>die</strong> amtlichen Zahlen zeigt, dass essich dabei – wenn <strong>die</strong> Vorwürfe denn stimmen –lediglich um <strong>die</strong> Spitze des Eisbergs handelt.Ein halbes Jahr vor den Hinrichtungen vonShiraz äußerte sich der Chef der iranischen Antidrogenpolizei,General Ali Moayyedi, zum Umfangdes im Gottesstaat um sich greifenden <strong>Drogen</strong>handels.So hätten <strong>die</strong> staatlichen Sicherheitskräftein den neun Monaten zuvor 1.192Kilogramm Rauschgift beschlagnahmt – durchschnittlichpro Tag. Dazu kämen täglich fünfzerschlagene <strong>Drogen</strong>banden; was auf 30 Dealerund Süchtige pro Stunde hinauslaufen würde.Insgesamt wären also knapp 200.000 Menschenverhaftet worden. Wie zuverlässig <strong>die</strong>se Zahlensind, kann bezweifelt werden. Die Dimensionen,in denen sie sich bewegen, macht aber deutlich,ze sichern und verhindern, dass das Land – undletzten Endes damit verbunden Europa – vonharten <strong>Drogen</strong> überschwemmt wird.Lange Zeit war es ein ungleicher <strong>Kampf</strong>, in dem<strong>die</strong> schlecht ausgerüsteten und nur notdürftigausgebildeten Sicherheitskräfte einem schwer bewaffnetenGegner <strong>gegen</strong>überstanden. In der südöstlichenGrenzprovinz Sistan und Belutschistanweitete sich <strong>die</strong>ser <strong>Kampf</strong> zu Beginn der 2000errend <strong>die</strong> »Zionisten« direkt in den illegalen <strong>Drogen</strong>handelverstrickt seien, »können Sie keinen >>ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 38


HANDELSWEGE IIeinzigen Süchtigen unter den Zionisten finden«.Beweise <strong>für</strong> <strong>die</strong>se Theorien lieferte er keine.Eine andere Erklärung <strong>für</strong> das iranische <strong>Drogen</strong>problembietet der Spielfilm »Santouri« ausdem Jahr 2007. In dem Drama des mehrfach preisgekröntenRegisseurs Dariush Mehrjui driftet einjunger Musiker immer mehr in <strong>die</strong> Heroinsuchtab, nachdem <strong>die</strong> Sittenwächter den Vertrieb seinerKassetten verbieten. In einer Schlüsselszenefällt der Satz: »Ich hasse <strong>die</strong>ses aggressive, verlogene,gnadenlose Land, das <strong>die</strong> Leute zu <strong>Drogen</strong>abhängigenmacht!« Der Film wurde ein einzigesMal innerhalb Irans gezeigt. Sämtliche weitereVorführungen verhinderte der zuständige Minister<strong>für</strong> Kultur und Islamische Führung. StaatlicheUnterdrückung als Ursache <strong>für</strong> rauschartige Realitätsflucht– das ging dann doch zu weit.Überhaupt fühlt sich <strong>die</strong> Regierung in Teheranungerecht behandelt. Immerhin würde ihre Politikder starken Hand doch gerade jene Staaten voreiner <strong>Drogen</strong>flut beschützen, <strong>die</strong> <strong>für</strong> härtere Sanktionen<strong>gegen</strong> den Iran stimmen. Das machte VizepräsidentRahimi noch einmal deutlich: »Wirkönnten Geld nehmen und <strong>Drogen</strong>transportedurch den Iran in westliche Länder erlauben, ohnedass <strong>die</strong> <strong>Drogen</strong> in <strong>die</strong> iranische Gesellschaft einsickernwürden«, so Rahimi. »Aber unsere religiösenLehren erlauben uns das nicht.«Damit spricht er indirekt einen wunden Punktan. Denn wie durch <strong>die</strong> Wikileaks-Veröffentlichungenbekannt wurde, glaubt zumindest <strong>die</strong>US-Botschaft in Aserbaidschan, dass RahimisDrohung längst Realität ist. In einer nicht zurVeröffentlichung bestimmten Nachricht ist <strong>die</strong>Brigadegeneral AliMoayyedi, Irans oberster<strong>Drogen</strong>jägerFoto: irna.irWird der <strong>Drogen</strong>transitunter der Hand geduldet?Rede von einem explosionsartigen Anstieg desiranischen Heroinschmuggels nach Aserbaidschan.So seien 2006 gerade einmal 20 Kilogrammbeschlagnahmt worden. Allein im erstenQuartal 2009 wäre <strong>die</strong>se Menge auf 59 Tonnengestiegen.Iranische Staatsangehörige, <strong>die</strong> beim <strong>Drogen</strong>schmuggelnin der Kaukasusrepublik erwischtund in ihr Heimatland ausgewiesen wurden,seien bald darauf wieder im Geschäft gewesen.So etwa beklagt sich der stellvertretendeaserbaidschanische Außenminister: »Manchmalnehmen wir <strong>die</strong>selben Leute etwas später wiederfest, <strong>die</strong> wir eben erst ausgeliefert hatten.«Für <strong>die</strong> Botschaft ein Zeichen da<strong>für</strong>, dass offizielleStellen involviert sein müssen – Vermutungen,<strong>die</strong> angeblich durch Aussagen gefangengenommener Schmuggler gestützt würden.Zwar handelt es sich bei den Botschaftsdepeschenbestenfalls um Mutmaßungen. Dass <strong>die</strong> US-Regierung zumindest in Teilen gleicher Ansichtist, zeigt <strong>die</strong> Tatsache, dass sie 2012 BrigadegeneralGholamreza Baghbani auf <strong>die</strong> Liste internationalagierender <strong>Drogen</strong>händler gesetzt hat.Angeblich habe Baghbani, Mitglied der mächtigeniranischen Revolutionsgarde, afghanischenSchmugglern <strong>gegen</strong> Bestechung freies Geleitdurch das von ihm kontrollierte Gebiet gewährt.>>ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 39


HANDELSWEGE IIANZEIGEOb sich daraus aber eine systematische Involvierungdes iranischen Machtapparates in den internationalenRauschgifthandel ableiten lässt,wie es einige konservative Tageszeitungen tun,ist zweifelhaft. Da<strong>gegen</strong> spricht auch der WorldDrug Report der Vereinten Nationen, demzufolgeder Iran mittlerweile als das Land gilt, das <strong>die</strong>größten Erfolge im <strong>Kampf</strong> <strong>gegen</strong> den <strong>Drogen</strong>schmuggelfeiern kann. 350 Tonnen wurden imvergangenen Jahr beschlagnahmt, mehr als injedem anderen Land der Welt. Das ist in der Tatein Erfolg. Allerdings einer, der zu einem hohenPreis erkauft wurde.Wissenschaft zu Deutsch!Konstantin Flemig stu<strong>die</strong>rt Dokumentarfilm ander Filmakademie Baden-Württemberg und arbeitetals freier Journalist.Quellen und Links:Website des »Iran Drug Control Headquarters«Bericht der New York Times vom11. Oktober 2012Meldung der österreichischen Presse vom29. Juni 2012World Drug Report des UNODC vom Juni 2012Meldung des CNN-Blogs Security Clearance vom7. März 2012Meldung der Welt vom 14. Mai 2011Bericht der Welt vom 21. Januar 2011ADLAS – <strong>Magazin</strong> <strong>für</strong> Außen- und <strong>Sicherheitspolitik</strong> erkundetNeuland und macht akademische Erkenntnisse verständlich.Das eJournal informiert über Außen- und <strong>Sicherheitspolitik</strong>,regt zum Diskutieren an und bringt Themen in<strong>die</strong> Debatte ein.Außergewöhnlich ist sein Anspruch: aus dem akademischenUmfeld heraus einen Ton finden, der den Bogen zwischenFachsprache und Verständlichkeit schlägt. ADLAS – Wissenschaftauf Deutsch.ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 JETZT HERUNTERLADEN BEI WWW.ADLAS-MAGAZIN.DE40


Heroin. Foto: DEAKAMPF GEGEN DIE DROGEN: MARKTANALYSEPeitsche und Zuckerbrotvon Hartmut HinkensKriminelle ver<strong>die</strong>nen gut am <strong>Drogen</strong>geschäft in Europa.Dabei interagieren sie grenzübergreifend und bestens vernetzt mitanderen Verbrechergruppen. Geschmuggelt werden vor allemHeroin, Marihuana und »Crystal Meth«. Eine lückenloseStrafverfolgung gestaltet sich aufgrund wechselnder und vielfältigerTransportrouten schwierig.Mit einer angepassten Strategie versucht <strong>die</strong> EU, den florierenden<strong>Drogen</strong>handel einzudämmen.>> Europas <strong>Drogen</strong>markt war relativ eng auf einigewenige Rauschgiftsorten beschränkt. Spezialisiertekriminelle Gruppen führten sie entlang festerRouten ein und verbreiten sie auf dem Kontinent.Das hat sich geändert.Bei der Vorstellung des aktuellen Berichts derEuropäischen Beobachtungsstelle <strong>für</strong> <strong>Drogen</strong> und<strong>Drogen</strong>sucht (European Monitoring Centre forDrugs and Drug Addiction / EMCDDA) im Januar2013 stellte <strong>die</strong> EU-Innenkommissarin CeciliaMalmström fest, der <strong>gegen</strong>wärtige Markt seiwechselhaft und weise unterschiedliche Schmug->>ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 41


MARKTANALYSEgelrouten sowie eine große Bandbreite verschiedenster<strong>Drogen</strong> auf.Diese Einschätzung deckt sich mit den Erkenntnissenvon Europol. Deren 2011er Berichtzur organisierten Kriminalität (European OrganizedCrime Threat Assessment / OCTA) sprichtvon einer verstärkten grenzübergreifenden Zusammenarbeitkrimineller Gruppen und zwar –und das ist neu – unabhängig von ihrer ethnischenZugehörigkeit und ihren sonstigen geschäftlichenInteressen. Bei den derzeitigen Akteurenauf dem <strong>Drogen</strong>markt handelt es sich umhoch flexible und mobile Gruppen, <strong>die</strong> von einembreiten Geschäftsportfolio wie beispielsweiseMenschenhandel, Prostitution, Internetkriminalitätund <strong>Drogen</strong>handel in diversen nationalenKontexten profitieren.miert haben. Ebenso enorm sind aber auch <strong>die</strong>negativen Auswirkungen: so sterben laut demWorld Drug Report 2012 von UNDOC pro Jahretwa 200.000 Menschen an den Folgen von <strong>Drogen</strong>missbrauch.Die Wege der <strong>Drogen</strong> nach Europa folgenlängst nicht mehr den alten, relativ festen»klassischen Routen«. Stattdessen werden »immermehr legale kommerzielle Transportmöglichkeitenwie Container, Flugzeuge sowie Kurier- undPost<strong>die</strong>nste« genutzt, so der Chef von Europol,Direktor Rob Wainwright. Durch <strong>die</strong>se Vielzahl anEinfuhrmöglichkeiten wird <strong>die</strong> Unterbindung desSchmuggels illegaler Güter nach Europa erheblicherschwert. Fünf Knotenpunkte des heutigen <strong>Drogen</strong>schmuggelshat Europol identifiziert: Die Niederlandeund Belgien im Nordwesten, PortugalTrotz Stabilisierungseinsatz in Afghanistan –Europas Heroin kommt vom Hindukusch.stammt – trotz ISAF – weiterhin vom Hindukusch.Das Rohopium wird <strong>für</strong> den über <strong>die</strong> 1344Kilometer lange, zerklüftete afghanischiranischeGrenze auf Schleichpfaden in den Irangeschmuggelt. Dort wird es von Zwischenhändlernaufgekauft und zu Heroin weiterverarbeitet.Anschließend geht der Stoff über den Norden inRichtung Türkei oder Aserbaidschan über <strong>die</strong>Balkanroute auf <strong>die</strong> Reise nach Europa. Dabeidurchläuft er Bulgarien, <strong>die</strong> ehemaligen jugoslawischenStaaten und Österreich als Zwischenstationen.Alternativrouten sind der Weg über Albanien,das Mittelmeer und Italien oder Rumänien,Ungarn und Tschechien.Europol spricht daher vom südöstlichen Knotenpunkt,einem <strong>für</strong> <strong>die</strong> Organisierte Kriminalitätessentiellen Transitgebiet, in dem vor allemalbanisch- und türkischstämmige Gruppen sowieKriminelle aus der ehemaligen Sowjetunion aktivsind. In welchen Größenordnungen hier <strong>Drogen</strong>nach Europa gebracht werden, zeigt beispielsweiseein aufsehenerregender Schlag <strong>gegen</strong>den <strong>Drogen</strong>schmuggel auf der Balkanroute,der dem bayrischen Zoll 2011 auf der A3 zwischenRegensburg und Passau gelungen war. Miteiner mobilen Röntgenanlage hatten <strong>die</strong> Beamten150 Kilogramm Heroin im Kühlaufleger einesaus der Türkei stammenden Lkws aufgespürt.Für Europa bestimmtes Kokain – etwa einViertel der weltweiten Jahresproduktion desweißen Rauschmittels wird hier konsumiert –stammt hin<strong>gegen</strong> aus den Anrainerstaaten derAnden: Kolumbien, Peru und Bolivien. Üblicher-Dieser Schattenwirtschaft beschert der <strong>Drogen</strong>handeljedes Jahr Milliardengewinne. Nach Angabendes Büros der Vereinten Nationen <strong>für</strong> <strong>Drogen</strong>- und Kriminalitätsbekämpfung (United NationsOffice on Drugs and Crime / UNODC) belief sichder Umsatz allein im Jahr 2011 auf etwa 411 MilliardenUS-Dollar. Die Nachfrage ist enorm: Insgesamtsollen 2010 weltweit zwischen 153 und300 Millionen Menschen im Alter von 15 bis 64Jahren mindestens einmal illegale <strong>Drogen</strong> konsuundSpanien im Südwesten, das südliche Italien,der Balkan im Südosten sowie <strong>die</strong> baltischen Staatenim Nordosten.Das Heroin <strong>für</strong> den europäischen Markt kommtdabei meistens über den südöstlichen Knotenpunktauf den heimischen Markt. Hauptproduzentendes <strong>für</strong> <strong>die</strong> Herstellung von Heroin notwendigenRohopiums sind dabei vor allem Afghanistansowie Myanmar und Laos. Der Großteil des <strong>für</strong>den europäischen Markt bestimmten Heroinsweise wird <strong>die</strong>se Droge in handelsüblichenSchiffscontainern über den Seeweg verfrachtet. >>ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 42


MARKTANALYSEZollbehörden können <strong>die</strong>se aufgrund der Massean Containern allenfalls stichprobenartig überprüfen:allein der Hamburger Hafen schlug 2012etwa 9 Millionen Container um. Erfolg hattenkürzlich belgische Zöllner im Hafen von Antwerpen.Sie beschlagnahmten 8 Tonnen Kokain imWert von einer halben Milliarde Euro in einemContainer voller Bananen.Eine Transportalternative zum direkten Seewegaus Südamerika ist <strong>die</strong> Route über Afrika.Aufgrund schwacher staatlicher Kontrolle einigerwestafrikanischer Staaten (Lesen Sie dazu auchden Beitrag von Menko Behrens auf Seite 31),lassen sich über <strong>die</strong>sen Weg auf dem Luft- undSeeweg relativ gefahrlos erhebliche Mengen anKokain transportieren. Wie ungestört <strong>die</strong> <strong>Drogen</strong>schmugglerdabei vorgehen können, zeigt dasWrack einer Boeing 727 mitten in der WüsteNordmalis. Das Flugzeug hatte, wahrscheinlichaus Venezuela kommend, bis zu 20 Tonnen Kokaingeladen und war vermutlich bei der Landung inder Wüste beschädigt und aufgegeben worden.Legt man den Marktwert der potenziell transportierten20 Tonnen Kokain zu Grunde, dürfte sichder Flug trotz des Verlustes der etwa 800.000Dollar teuren Gebrauchtboeing <strong>für</strong> <strong>die</strong> Kartellegelohnt haben. Nicht nur <strong>für</strong> <strong>die</strong> Rebellen in Mali,welche durch ihren erfolgreichen <strong>Kampf</strong> <strong>gegen</strong><strong>die</strong> Regierung in Bamako kürzlich eine französischeIntervention provozierten, ist der Schmuggeldes südamerikanischen Kokains neben Entführungeneine wichtige Einnahmequelle undträgt so erheblich zur Instabilität der Region bei.Der EU zufolge werden illegale <strong>Drogen</strong> jedochnicht nur nach Europa importiert, sondern auchHauptquartier der Anti-<strong>Drogen</strong>-Kooperation:der Sitz des »EuropeanMonitoring Centre forDrugs and DrugAddiction« in LissabonFoto: Carcharoth/WikimediaCommons/CC BY-SA 3.0hier produziert. Spitzenreiter sind dabei vor allemsynthetische <strong>Drogen</strong> und Cannabis. Laut desletzten EMCDDA-Berichts stieg <strong>die</strong> Anzahl deutlichan. Dies betrifft besonders synthetische Cannabinoide,im Volksmund »Badesalz« oder »Kräutermischungen«genannt. Bis Mitte 2012 fielen<strong>die</strong>se Substanzen in Deutschland nicht unter dasBetäubungsmittelgesetz und fanden gerade beiJugendlichen erhöhten Absatz. Experten attestieren<strong>die</strong>sen Stoffen stärkere Nebenwirkungen alsCannabis, etwaige negative Langzeitfolgen sindbisher noch nicht erforscht.Anders als beim als höchstgefährlich geltenden»Crystal Meth«. Diese Methamphetamine in kristallinerForm sind relativ einfach zu produzierenund daher weit verbreitet. Schon einmaliger Konsumkann zu Abhängigkeit führen; fortschreitenderkörperlicher Verfall und Nebenwirkungenwie Depressionen, Aggressivität und Psychosensind <strong>die</strong> fast garantierten Folgen. Gerade in derBundesrepublik nimmt ihre Verbreitung rasantzu. »Entweder wird Crystal von Süchtigen inkleinen Mengen in der Tschechischen Republikgekauft und nach Deutschland eingeführt, odervon mehr oder weniger organisierten Bandennach Deutschland geschmuggelt«, so Tom Bernhardtvom Landeskriminalamt Sachsen zumwachsenden Crystal-Meth-Problem.Cannabis hin<strong>gegen</strong> wird entweder direkt vonMarokko oder über den Balkan nach Europa importiert.Die meistkonsumierte Droge Europas –immerhin drei Millionen Europäer rauchen siemindestens fünfmal in der Woche – wird aberauch innerhalb aller EU-Mitgliedsstaaten illegal>>ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 43


MARKTANALYSEangebaut. Als relativ genügsame Pflanze wird siesowohl im kleinen Stil in Privatwohnungen alsauch in eigens da<strong>für</strong> angelegten Indoor-Farmenmit professionell organisierten BewässerungsundBeleuchtungsanlagen gezüchtet. Von Zeit zuZeit werden aber auch, meist zwischen anderenNutzpflanzenplantagen versteckte, Cannabisfarmenunter freiem Himmel entdeckt.Das Geschäft lohnt sich. Der Bundesnachrichten<strong>die</strong>nstgeht davon aus, dass in der EuropäischenUnion mit <strong>Drogen</strong>geschäften, illegaler Prostitution,Waffenhandel und Wettbetrug jährlich etwa100 Milliarden Euro ver<strong>die</strong>nt werden.Doch wie kann das organisierte Verbrechenillegal erworbenes Geld in den legalen Wirtschaftskreislaufbringen, ohne den Verdacht derFinanzbehörden zu wecken? Eine Methode ist dasVortäuschen legaler Geschäftseinnahmen. Dazubieten sich Restaurants, Bars und vor allem Spielhallenwegen des hohen Bargeldumsatzes und derhäufig wenig transparenten Buchhaltung an. So istes relativ einfach, durch fingierte Einnahmen das<strong>Drogen</strong>geld als legale Gewinne zu deklarieren.Ein zweiter Ansatz ist <strong>die</strong> Einzahlung kleinererBeträge auf ein Bankkonto durch mehrere Personen.Um <strong>die</strong>se Form der Geldwäsche zu unterbinden,sind deutsche Banken dazu angehalten, <strong>die</strong>Identität jeder Person zu ermitteln, <strong>die</strong> mehr als15.000 Euro auf ein Konto einzahlt. In Ländern wieLuxemburg oder Monaco gilt <strong>die</strong>se Regelung jedochnicht, was der Schattenwirtschaft hilft,»schmutziges« Geld zu waschen. Anschließende,mehrfache Finanztransaktionen zu verschiedenenKonten bei unterschiedlichen Banken weltweit <strong>die</strong>nender weiteren Verschleierung der Herkunft des<strong>Drogen</strong>geldes. Danach wird es in Bauprojekte, Firmenund andere Geschäftsmodelle investiert. Dasdaraus gewonnene Kapital kann dann als legitimesVermögen ausgegeben werden.Um dem zu begegnen, hat <strong>die</strong> EU ein vier Säulenumfassendes Strategiekonzept auf globaler,regionaler und nationaler Ebene entwickelt: Säuleeins beinhaltet <strong>die</strong> Reduzierung des <strong>Drogen</strong>angebotsdurch Strafverfolgung und <strong>die</strong> Unterbindungvon Import und Export illegaler Substanzen.Um dem grenzübergreifenden <strong>Drogen</strong>handeleinen Riegel vorzuschieben, schuf <strong>die</strong> EU Instrumenteund Behörden, <strong>die</strong> <strong>die</strong>ser Entwicklung gerechtwerden. Beispiele hier<strong>für</strong> sind ein Rahmenbeschlusszur Festlegung von Mindestvorschriftenund Mindeststrafen in den Mitgliedsstaaten,<strong>die</strong> Gründung des Europäischen Polizeiamts(Europol) und Eurojust sowie ein europäischerHaftbefehl, der <strong>die</strong> Übergabeverfahren von Straftäternzwischen den einzelnen Mitgliedsstaatenbeschleunigen und vereinfachen soll. Hinzu kommenpräventive Maßnahmen zur Verhinderungvon <strong>Drogen</strong>delikten.Säule zwei setzt auf <strong>Drogen</strong>präventionsprogrammeund verstärkte Aufklärung, Frühinterventionsmaßnahmen,verbesserten Zugang zuTherapieprogrammen sowie auf <strong>die</strong> Präventionund Behandlung von Folgeerkrankungen des<strong>Drogen</strong>konsums, wie beispielsweise HIV/AIDS.Ziel ist hier vor allem <strong>die</strong> Verringerung derNachfrage auf der Konsumentenebene.Säule drei umfasst <strong>die</strong> internationale Zusammenarbeit,denn »nur wenn es uns gelingt, <strong>die</strong>Rauschgiftproduktion in den Herkunftsländern zuunterbinden, können wir den Zufuhrdruck nachEuropa und Deutschland nachhaltig schwächen«,so der Präsident des Bundeskriminalamts, JörgZiercke. Daher ist <strong>die</strong> Zusammenarbeit mit Drittländernund internationalen Organisationen beider Bekämpfung von <strong>Drogen</strong>anbau und Schmuggelein wichtiger Bestandteil der EU-Bemühungen.<strong>Drogen</strong> wie Heroin und Kokain werden vorallem in Staaten mit geringer Rechtsstaatlichkeitangebaut. Daher bilden Entwicklungszusammenarbeitund der Aufbau funktionierender Staatsstruktureneinen entscheidenden Schlüssel beider Begrenzung <strong>die</strong>ses Anbaus.Säule vier umfasst Information, Forschungund Evaluation. Denn auch auf dem Gebiet der<strong>Drogen</strong>bekämpfung gilt: Wissen ist Macht.Eine entscheidende Rolle bei der Optimierungder europäischen Wissensinfrastruktur, <strong>Drogen</strong>- >>Der internationale <strong>Drogen</strong>handel ist alsWertschöpfungskette organisiert.ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 44


MARKTANALYSE»Wer <strong>Drogen</strong> nimmt,ist nicht kriminell,sondern krank.«João Goulão, Chef derportugiesischen<strong>Drogen</strong>aufsicht undVorsitzender desVerwaltungsrat derEMCDDAFoto: EMCDDAinformationssysteme und -instrumente spielt dabei<strong>die</strong> Europäische Beobachtungsstelle <strong>für</strong> <strong>Drogen</strong>und <strong>Drogen</strong>sucht (EMCDDA) sowie Europol.Auch <strong>die</strong> hier stattfindende Auswertung der bereitsgetroffenen Maßnahmen und Strategien istfester Bestandteil der Bekämpfung von <strong>Drogen</strong> aufeuropäischer Ebene. Durch <strong>die</strong> bisher getroffenenMaßnahmen hat <strong>die</strong> EU das Netz im <strong>Kampf</strong> <strong>gegen</strong>den <strong>Drogen</strong>handel enger gezurrt. Organisierte kriminelleGruppen passen sich jedoch an, indem sieihre Schmuggelrouten variieren und Einnahmequellenim <strong>Drogen</strong>handel diversifizieren. Organisiertist der <strong>Drogen</strong>handel wie eine Wertschöpfungskette,in der <strong>Drogen</strong>produzenten, Schmuggler,Zwischenhändler und Dealer arbeitsteiligeFunktionen übernehmen. Polizeiaktionen wirkenhier hemmend, können den <strong>Drogen</strong>fluss nach Eu-ropa aber nicht stoppen. Die enormen Gewinnspannensind <strong>für</strong> Kriminelle zu attraktiv, Strafverfolgungsmaßnahmendaher nur bedingt effektiv.Portugal bietet mit einem drogenpolitischenExperiment eine mögliche Alternative <strong>für</strong> <strong>die</strong>sesDilemma (siehe auch Beitag von Dorotea Jestädtauf Seite 46). Der Konsum von Rauschgift jederArt wird dort seit 2001 toleriert. Der Missbrauchvon <strong>Drogen</strong> bleibt verboten, allerdings wird beimBesitz geringer Mengen von einer Strafverfolgungabgesehen – <strong>die</strong> erwischten Konsumenten müssensich vielmehr binnen 72 Stunden einer obligatorischen<strong>Drogen</strong>beratung unterziehen. Dasneue Paradigma fasste João Goulão, der Chef derportugiesischen <strong>Drogen</strong>aufsicht, <strong>gegen</strong>über demSpiegel so zusammen: »Wer <strong>Drogen</strong> nimmt, istnicht kriminell, sondern krank.«Entsprechend wurden Aufklärungsprogrammeund <strong>die</strong> Therapieangebote <strong>für</strong> Süchtige deutlichverbessert. Die Be<strong>für</strong>chtung, das Land würdesich durch <strong>die</strong>se Liberalisierung zu einem unkontrollierbaren<strong>Drogen</strong>sumpf entwickeln, hatsich auch nach mehr als zehn Jahren nicht bewahrheitet.Das Gegenteil ist der Fall: <strong>Drogen</strong>bezogenegesellschaftliche Probleme nehmenvielmehr ab. Portugals Modell der Entkriminalisierungvon Konsumenten könnte so ein gangbarerKompromiss sein – der goldene Mittelwegzwischen dem bisher fast überall verfolgten,prohibitionistischen Ansatz bei der <strong>Drogen</strong>bekämpfungund der oft geforderten, komplettenLegalisierung aller <strong>Drogen</strong>.Hartmut Hinkens hat Politikwissenschaft an derWestfälischen Wilhelms - Universität Münster undder RWTH Aachen stu<strong>die</strong>rt.Quellen und Links:Informationsseite der EU zu ihrerAntidrogenstrategieWebauftritt von UNDOCBericht über Portugals <strong>Drogen</strong>politik aufSpiegel-Online vom 20. März 2013EMCDDA-Stu<strong>die</strong> über den europäischen<strong>Drogen</strong>markt vom Januar 2013Bericht »Organised Crime Threat Assessment« derEuropol vom 4. Mai 2011ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 45


Altstadt von Porto. Foto: Olegivvit/Wikimedia Commons/CC BY-SA 3.0KAMPF GEGEN DIE DROGEN: LIBERALISIERUNGHeile Welt am Rande Europas von Dorothea Jestädt<strong>Drogen</strong>konsum steht in den meisten Ländern unter Strafe. Trotzdemsinkt <strong>die</strong> Zahl der Rauschgiftabhängigen nicht. In Portugal hatsich darum ein radikales Umdenken vollzogen. <strong>Drogen</strong>besitz und-konsum sind seit 2001 entkriminalisiert, Therapienstehen im Vordergrund. Die be<strong>für</strong>chtete Katastrophe blieb aus.Im Gegenteil: Es gibt weniger <strong>Drogen</strong>tote und -abhängige,weniger HIV-Infektionen und weniger Verbrechen. Das könnte demRest Europas einschließlich Deutschland als Vorbild <strong>die</strong>nen.>> Klein, katholisch, konservativ – so denkenviele über Portugal. Doch das Land kann auchanders. Als erster EU-Staat verabschiedete Portugalim Juli 2001 ein Gesetz, das den Erwerb, Konsumund Besitz aller <strong>Drogen</strong> entkriminalisiert.Ob Marihuana, Kokain, Heroin oder Amphetamine– wen <strong>die</strong> Polizei mit <strong>die</strong>sen <strong>Drogen</strong> aufgreift,muss keine strafrechtliche Verfolgung mehr be<strong>für</strong>chten.Vorausgesetzt, <strong>die</strong> Menge <strong>für</strong> den persönlichenGebrauch wird nicht überschritten.Zulässig sind in der Regel bis zu zehn Tagesdosender entsprechenden Droge – zum Beispiel>>ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 46


LIBERALISIERUNG25 Gramm Cannabis, fünf Gramm Haschisch,zwei Gramm Kokain, ein Gramm Heroin oderzehn Pillen LSD beziehungsweise Ecstasy. Nachder neuen Regelung werden <strong>Drogen</strong>konsum und-besitz nur noch als Ordnungswidrigkeit eingestuft,auch wenn <strong>Drogen</strong> an sich sowie der Handelmit ihnen nach wie vor als illegal gelten.Doch anstatt <strong>Drogen</strong>abhängige als Täter zu stigmatisieren,werden sie unter gesundheitlichenAspekten als Patienten betrachtet, <strong>die</strong> Hilfe stattBestrafung benötigen.Portugal war kein Land mit einem besorgniserregenden<strong>Drogen</strong>problem. Zwar war der <strong>Drogen</strong>konsumnach dem Ende der Kolonialkriege inAfrika, der Rückkehr der Portugiesen aus denKolonien sowie dem Ende der Diktatur 1974 gestiegen,doch eine Stu<strong>die</strong> aus dem Jahr 2001ergab, dass Portugal noch immer zu den Ländernmit dem niedrigsten <strong>Drogen</strong>konsum in Europagehörte. Nur rund acht Prozent der befragtenPortugiesen gab an, schon einmal <strong>Drogen</strong> konsumiertzu haben – in Großbritannien waren dasim selben Jahr 34 Prozent.Die öffentliche Wahrnehmung war jedoch eineandere. Eine EuroBarometer-Umfrage aus demJahr 1997 ergab, dass <strong>die</strong> Portugiesen <strong>Drogen</strong> alsdas größte soziale Problem des Landes betrachteten.Das war vermutlich darauf zurückzuführen,dass in einigen Gebieten Lissabons <strong>Drogen</strong> sehroffen konsumiert wurden. Als weiterer Faktorgilt, dass Portugal aufgrund seiner geographischenLage ein Einfallstor und Umschlagplatz <strong>für</strong><strong>Drogen</strong> aus aller Welt war. Womit Portugal allerdingsseit den späten 1980er Jahren tatsächlichzu kämpfen hatte, war der hohe Konsum von Heroin.In Europa verzeichnete das Land <strong>die</strong> zweithöchsteRate derer, <strong>die</strong> mindestens ein Mal inihrem Leben Heroin konsumiert hatten (0,7 Prozentder Bevölkerung). Von den rund 10 MillionenPortugiesen galten im Jahr 2000 rund 80.000als heroinabhängig. Damit verbunden war <strong>die</strong>höchste Quote an HIV-infizierten Heroinkonsumentenin Europa: Beinahe jeder zweite <strong>die</strong>serHIV-Fälle wurde durch intravenösen <strong>Drogen</strong>konsumhervorgerufen. Vor <strong>die</strong>sem Hintergrundsetzte <strong>die</strong> portugiesische Regierung 1998 einenExpertenausschuss ein, der Empfehlungen <strong>für</strong>eine neue Strategie zur Bekämpfung des <strong>Drogen</strong>problemserarbeiten sollte.Die Regierung des sozialistischen PremierministersAntónio Guterres übernahm fast alle Empfehlungendes Ausschusses: Entkriminalisierungdes Besitzes und des Konsums sowohl harter alsauch weicher <strong>Drogen</strong>, Intensivierung der Präventionund Aufklärung sowie <strong>die</strong> Ausweitung undVerbesserung von Therapiemöglichkeiten <strong>für</strong><strong>Drogen</strong>abhängige. Ein Kernelement der Strategiewar <strong>die</strong> Schaffung von insgesamt 18 landesweitenKommissionen zur Vermeidung des <strong>Drogen</strong>missbrauchs.Gemäß dem neuen Ansatz, <strong>Drogen</strong>als gesundheitliches statt als juristisches Problemeinzustufen, wurden <strong>die</strong>se Kommissionendem Gesundheitsministerium, und nicht wiesonst üblich, dem Justizministerium unterstellt.<strong>Drogen</strong>konsumenten, <strong>die</strong> von der Polizeiaufgegriffen werden, müssen seither eine <strong>die</strong>serKommissionen aufsuchen, <strong>die</strong> aus einem Juristen,einem Mediziner und einem Sozialarbeiterbestehen. Gemeinsam mit dem <strong>Drogen</strong>konsumentenwird über <strong>die</strong> Häufigkeit und <strong>die</strong> Ursachendes <strong>Drogen</strong>konsums sowie <strong>die</strong> beruflichenund familiären Hintergründe gesprochen. DasGremium kann Bußgelder verhängen oder <strong>die</strong>Mitarbeit in einem sozialen Dienst verordnen.<strong>Drogen</strong>konsum wird als gesundheitliches stattals juristisches Problem eingestuft – Gelegenheitsverbraucherkommen meist straflos davon.Ersttäter beziehungsweise Gelegenheitskonsumentenkommen meist straflos davon. VorrangigesZiel ist jedoch, den <strong>Drogen</strong>konsumentenbei entsprechender Bereitschaft in eine Therapiezu überführen. Die Kommissionen habenzudem <strong>die</strong> Aufgabe, Aufklärungsarbeit über Gesundheitsrisikenzu leisten und <strong>die</strong> Menschenvom <strong>Drogen</strong>konsum abzubringen.Die Bilanz der Kommissionen: Von den jährlichrund 6.000 Fällen betreffen 94 ProzentMänner und meist geht es um Cannabis- und>>ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 47


LIBERALISIERUNGHeroinkonsum. Die Altersgruppe der <strong>für</strong> <strong>Drogen</strong>suchtbesonders anfälligen 15- bis 24-Jährigen istmit knapp der Hälfte vertreten (47 Prozent), mitrund einem Drittel (31 Prozent) <strong>die</strong> 25- bis 34-Jährigen. Das Gros der Fälle sind Ersttäter undGelegenheitskonsumenten. Sie werden nach demGespräch und einer Belehrung in Ruhe gelassen.Bei 68 Prozent aller Fälle werden <strong>die</strong> Ermittlungennach den Gesprächen eingestellt. Rund einViertel der Konsumenten, <strong>die</strong> bereits mehrfachauffällig wurden oder schon sehr lange abhängigsind, unterzogen sich einer Therapie.Die Kehrtwende in der portugiesischen <strong>Drogen</strong>politikblieb nicht ohne Kritik. Schreckensszenarien,Portugal werde zum »Eldorado des unkontrolliertenRausches« und zum »Mekka <strong>für</strong> <strong>Drogen</strong>touristen«wurden beschworen. Auch das»International Narcotics Control Board« als unabhängigesKontrollorgan <strong>für</strong> <strong>die</strong> Umsetzung der UN-<strong>Drogen</strong>konventionen reagierte skeptisch undbe<strong>für</strong>chtete, dass Portugal <strong>gegen</strong> <strong>Drogen</strong>abkommender Vereinten Nationen verstoße.António Guterres,MinisterpräsidentPortugals von1995 bis 2002, hat<strong>die</strong> <strong>Drogen</strong>politikseiner Heimat deutlichliberalisiert.Foto: Marcello Casal Jr./Agencia BrasilDie Portugiesen be<strong>für</strong>chteten, ihr Land würdenun zum »Eldorado des unkontrollierten Rausches«.Kritiker der Entkriminalisierung argumentieren,dass <strong>die</strong> Bestrafung ein wesentliches Elementsei, um <strong>die</strong> Verbreitung von <strong>Drogen</strong> zu unterbinden.Doch hier<strong>für</strong> gibt es keine Beweise. Sokonnte <strong>die</strong> europäische <strong>Drogen</strong>beobachtungsstellekeinen Zusammenhang zwischen Strafenund einem Rückgang des Konsums feststellen. InLändern, in denen härtere Gesetze gelten, ist derKonsum eben nicht gefallen, wo<strong>für</strong> <strong>die</strong> USA einesder drastischsten Beispiele darstellen. Vorbestrafte<strong>Drogen</strong>konsumenten haben darüberhinaus auch noch Schwierigkeiten bei der Wiedereingliederung,was Rückfälle in <strong>die</strong> <strong>Drogen</strong>suchtund <strong>die</strong> Kriminalität letztlich fördernNachahmung empfohlen werden kann. Selbst <strong>die</strong>Vereinten Nationen konstatierten im Weltdrogenbericht2009, dass sich eine Reihe drogenbe-Doch knapp zwölf Jahre später sind <strong>die</strong> meistenKritiker verstummt. Mehrere Stu<strong>die</strong>n belegen,dass der portugiesische Ansatz überwiegend erfolgreichist und Politikern aus aller Welt zurzogener Probleme in Portugal verringert hätte.Auch <strong>die</strong> Europäische Beobachtungsstelle <strong>für</strong><strong>Drogen</strong> und <strong>Drogen</strong>sucht äußerte sich positivüber <strong>die</strong> Entwicklung.kann. Verbote treiben <strong>Drogen</strong>abhängige in denUntergrund, wo sie <strong>für</strong> Hilfsangebote, Präventi- >>ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 48


LIBERALISIERUNGon und AIDS-Tests nicht mehr erreichbar sind.Eine <strong>Drogen</strong>politik, <strong>die</strong> auf Strafen setzt, riskiertdamit letztlich auch <strong>die</strong> AIDS-Verbreitung.Auf einer Pressekonferenz anlässlich deszehnjährigen Jubiläums der neuen <strong>Drogen</strong>politikerläuterte der Architekt der Reform und Präsidentdes Instituts <strong>für</strong> <strong>Drogen</strong> und <strong>Drogen</strong>abhängige,João Goulão, dass <strong>die</strong> Zahl der als problematischeingestuften <strong>Drogen</strong>abhängigen sichseit 1990 um mehr als <strong>die</strong> Hälfte reduziert habe.Im Vergleich zu damals noch 100.000 <strong>Drogen</strong>konsumentengalten 2011 nur noch rund 40.000als problematisch. Goulão unterstrich jedoch,dass <strong>die</strong> gesunkenen Zahlen nicht nur auf <strong>die</strong>Entkriminalisierung zurückzuführen seien, sondernauch auf den ganzheitlichen Ansatz, denPortugal verfolge. So seien Prävention, Behandlungder <strong>Drogen</strong>süchtigen, Maßnahmen zur sozialenIntegration sowie zur Risikominderung, wieetwa der Einsatz von Streetworkern, ebensowichtig <strong>für</strong> den Rückgang gewesen.Die Ergebnisse verschiedener Stu<strong>die</strong>n belegen,dass das portugiesische Experiment geglücktist: In der <strong>für</strong> <strong>Drogen</strong>konsum besondersanfälligen Gruppe der Jugendlichen nahm der<strong>Drogen</strong>konsum stark ab. Insgesamt hat Portugaleine der niedrigsten <strong>Drogen</strong>konsumraten innerhalbder EU. Auch <strong>die</strong> beiden größten ProblemePortugals – der Heroinkonsum sowie eine großeAnzahl drogenbedingter Erkrankungen – habensich deutlich verbessert (siehe Infobox).Aus Portugals Erfahrungen können daherauch Deutschland und Europa wichtige Erkenntnisseziehen. Dazu gehören: Entkriminalisierungist nicht gleichbedeutend mit Legalisierung. Der >>Die <strong>Drogen</strong>wende in ZahlenNach knapp zwölf Jahren sind <strong>die</strong> Kritiker derEntkriminalisierung verstummt.Der Rauschgiftkonsum in Portugal hat seit 2001insgesamt abgenommen, besonders bei der kritischenGruppe der 15- bis 19-Jährigen. Der Anteilder 13- bis 15-Jährigen, <strong>die</strong> schon einmal <strong>Drogen</strong>genommen haben, fiel von 14,1 Prozent (2001)auf 10,6 Prozent (2006). In der Altersgruppe der16- bis 18-Jährigen, in der es zwischen 1995 und2001 fast eine Verdoppelung von 14,1 auf 27,6Prozent gegeben hatte, sank der Anteil nach derEntkriminalisierung bis 2006 auf 21,6 Prozent.Bei den 19- bis 24-Jährigen gab es jedoch beim<strong>Drogen</strong>konsum einen leichten Anstieg im Zeitraumvon 2001 bis 2006.Die <strong>Drogen</strong>konsumrate in Portugal gehört weiterhinzu den niedrigsten in der EU. Im Zeitraum2001 bis 2005 hatte das Land in der Gruppe der15- bis 64-Jährigen <strong>die</strong> geringste Cannabis-Konsumratein ganz Europa: Nur rund 8 Prozent gabenan, schon einmal Cannabis probiert zu haben.In anderen EU-Staaten liegt <strong>die</strong>se Rate doppeltbis dreimal so hoch. Europäischer Spitzenreiter istDänemark mit 31 Prozent, <strong>die</strong> USA liegen bei 39Prozent, Deutschland bei 19 Prozent.Der Anteil der Heroinabhängigen in der Altersgruppeder 15- bis 19-Jährigen hat sich von 1999bis 2005 von 2,5 auf 1,8 Prozent reduziert. DieZahl der Todesfälle im Zusammenhang mit Heroinund vergleichbaren <strong>Drogen</strong> sank sogar um mehrals <strong>die</strong> Hälfte – von 281 im Jahr 2000 auf 133 imJahr 2006.Die Zahl drogenbedingter Erkrankungen wie HIVsowie Hepatitis B und C ging zurück. Im Jahr 2000gab es rund 2.800 Fälle neuer HIV-Infektionen,von denen 52 Prozent auf <strong>Drogen</strong>konsumentenentfielen. Im Jahr 2008 war <strong>die</strong> Zahl der Neuinfektionenauf rund 1.800 gesunken, von denen 20Prozent <strong>Drogen</strong>konsumenten waren.ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 49


LIBERALISIERUNGFokus richtet sich jedoch auf Hilfe statt Bestrafung.Ebenso hat Entkriminalisierung positiveEffekte auf den Rückgang von <strong>Drogen</strong>konsum,drogenbedingten Erkrankungen sowie drogenbezogenerKriminalität. Sie ist als ganzheitlicherAnsatz zu verstehen, der von Aufklärung, Präventionund Therapie begleitet werden muss.Im Vergleich zu anderen europäischen Ländernund den USA, <strong>die</strong> eine sehr viel repressivere<strong>Drogen</strong>politik verfolgen, sind <strong>die</strong> bisherigen Resultatevielversprechend. Portugal ist zum Vorreiterund internationalen Vorbild <strong>für</strong> eine Reformder <strong>Drogen</strong>politik geworden. Dorothea Jestädt ist promovierte Politologin, freieRedakteurin, Lektorin und Übersetzerin in Berlin.Quellen und Links:Webpräsenz des Portugiesischen Instituts <strong>für</strong><strong>Drogen</strong> und <strong>Drogen</strong>abhängigkeitWebpräsenz der Europäischen Beobachtungsstelle<strong>für</strong> <strong>Drogen</strong> und <strong>Drogen</strong>suchtArtur Domosławski: »<strong>Drogen</strong>politik in Portugal«,Stu<strong>die</strong> der Open Society Foundations vom Juni2011Bericht »Krieg <strong>gegen</strong> <strong>die</strong> <strong>Drogen</strong>« derWeltkommission <strong>für</strong> <strong>Drogen</strong>politik vom Juni 2011Glenn Greenwald: »Drug Decriminalization inPortugal«, Weißpapier des CATO-Institute vom 2.Juni 2009Der FÖRDERVEREIN SICHERHEITSPOLITIK AN HOCHSCHULEN E.V.bietet jungen Wissenschaftlern eine Plattform.Der akademische Nachwuchs, der sich auf sicherheitspolitische Themen spezialisiert,muss früher und besser qualifiziert in den fachlichen Dialog der deutschen»STRATEGIC COMMUNITY« eingebunden werden! Sicherheitspolitische Bildung und Forschungmüssen unterstützt werden!Wir stehen daher ein <strong>für</strong> eine Belebung der sicherheitspolitischen Kultur und Debattein Deutschland. Wir unterstützen: Weiterbildungen <strong>für</strong> Stu<strong>die</strong>rende in Tagungen und Seminaren, <strong>die</strong> Arbeit des BUNDESVERBANDS SICHERHEITSPOLITIK AN HOCHSCHULEN und vor allem <strong>die</strong> SCHRIFTENREIHE »WISSENSCHAFT & SICHERHEIT«, erscheinend im BerlinerWissenschafts-Verlag.Engagieren auch Sie sich <strong>für</strong><strong>die</strong> <strong>Sicherheitspolitik</strong> von Morgen! Im FSH.ANZEIGEWenn Sie <strong>die</strong> Ziele des Vereins unterstützen wollen oder an weiteren Informationen interessiertsind, wenden Sie sich an: Förderverein <strong>Sicherheitspolitik</strong> an Hochschulen e.V.z.H. Richard Goebelt Rottweiler Straße 11 A 12247 Berlin und natürlich unsere Webpräsenz unter WWW.SICHERHEITSPOLITIK.DE.ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 50


REIHE: KONFLIKTZONE OSTASIENWirtschaftsdominanzundGeopolitikADLAS – <strong>Magazin</strong> <strong>für</strong> Außen- und<strong>Sicherheitspolitik</strong> zieht es zum StillenOzean: Mit <strong>die</strong>ser Ausgabe beginntunsere neue Reihe, <strong>die</strong> wir ein gutes Jahrlang verfolgen werden.Wer sind <strong>die</strong> wichtigen Akteure im RaumAsien-Pazifik? Wie empfindlich ist dasGleichgewicht zwischen China und denUSA? Wie beeinflussen Überbevölkerungund Ressourcenknappheit <strong>die</strong> <strong>Sicherheitspolitik</strong>in Ostasien? Und welche Rollespielt eigentlich Europa?Den Anfang machen Nippons strategischeSelbstfindung und <strong>die</strong> negativeAußenwirkung der Volksrepublik.ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 51


Fotos: US Navy/Denver ApplehansREIHE: STRATEGIEWECHSELBerechenbarerKonfrontationskursvon David AdebahrLockerungen des Waffenexportverbotes, neueBasen in Übersee, voranschreitendeFlexibilisierung der Selbstverteidigungsstreitkräfte– <strong>die</strong> Ausweitung der japanischer<strong>Sicherheitspolitik</strong> ist kaum zu übersehen.Wer Japans neues gewandeltes Engagementjedoch nur im Zusammenhang mit seinergestiegenen Bedeutung als Partner der USAversteht, übersieht <strong>die</strong> grundlegendeNeuausrichtung von Tokios Außen- und<strong>Sicherheitspolitik</strong>.>> Tokios geopolitische Lage war einmal einfacher: Seit der Besatzungszeitnach dem Zweiten Weltkrieg und vor allem in der wirtschaftlich boomendenHochwachstumsphase in den 1950er und 1960er Jahren, konnte sich Japanvor allem als Handelspartner der USA etablieren. Bei seiner wirtschaftlichenEntwicklung war das Land dank des amerikanischen »security umbrella« vormöglichen Bedrohungen durch China, <strong>die</strong> Sowjetunion oder später dem nuklearenGefahrenpotential aus Nordkorea weitgehend abgesichert.Doch bereits der erste Irak-Krieg 1990 und <strong>die</strong> zunehmende Nachfragenach Blauhelmeinsätzen seit Ende des Kalten Krieges forderten von Tokio,sich zu positionieren. Zögerliches außenpolitisches Handeln, das Verweigernmilitärischer Unterstützung <strong>für</strong> <strong>die</strong> von den USA angeführte Koalition zurBefreiung Kuwaits und innenpolitische Kontroversen über <strong>die</strong> Rolle und Befugnisseder Selbstverteidigungsstreitkräfte – »Jieitai« oder »Self DefenseForces« (SDF) – vor dem Hintergrund des pazifistischen Artikels 9 der Verfassunghatten zur Isolierung Japans geführt.Um eine neuerliche außenpolitische Ächtung zu vermeiden und wiederals verlässlicher Partner innerhalb der internationalen Gemeinschaft sowie>>ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 52


STRATEGIEWECHSELals Bestandteil der US-Außenpolitik auf <strong>die</strong> Weltbühne zurückzukommen,leitete Tokio in den 1990er Jahren eine außenpolitische Wende zum Proaktivenein. Hierzu gehörte <strong>die</strong> Verabschiedung einer Reihe von Gesetzen, wie1997 <strong>die</strong> Reform der 1976 eingeführten »Nationalen Verteidigungsrichtlinien«und erneut 2004. Außerdem weiteten <strong>die</strong> von der LiberaldemokratischenPartei Japans (LDP) geführten Regierungen der 2000er Jahre <strong>die</strong> Befugnissedes SDF-Personals hinsichtlich ihrer Bewaffnung und ihrer militärischenEinsatzmöglichkeiten auf Regionen aus, <strong>die</strong> nicht unmittelbar in JapansNachbarschaft liegen und veränderten so grundlegend <strong>die</strong> außenpolitischeIdentität.Zur selben Zeit führten <strong>die</strong> regionalen Bedrohungen in Ostasien durchChina und Nordkorea dazu, dass auch nach dem Ende des Ost-West-Konflikts <strong>die</strong> US-Japanische Allianz fortgesetzt wurde und sich sogar nochintensivierte. Hier<strong>für</strong> gab es mehrere Gründe: Zunächst konnte Tokio durch<strong>die</strong>ses Verbleiben in einer Allianz mit Washington seine militärischen Ausgabengering halten, was in Anbetracht der wirtschaftlichen Krise, in der sichJapan seit Anfang der 1990er Jahre befand, vernünftig schien. Das Fehleneiner eigenen sicherheitspolitischen Strategie und <strong>die</strong> möglichen entstehendenKosten – finanzielle wie politische – einer Aufkündigung der Sicherheitspartnerschaftmit den USA bedeutete <strong>für</strong> Japan, dass es zur Fortführungder Allianz keine Alternative zu geben schien.Was sich als verpasste Möglichkeit einer strukturellen strategischen Neuausrichtungin den 1990er Jahren einschätzen lässt, zwang Japan jedoch zueiner Reihe sicherheitspolitischer Maßnahmen, <strong>die</strong> auch <strong>die</strong> politischenGrundlagen seiner Außenpolitik grundlegend änderten. Den Anfang machtehierbei Premierminister Junichiro Koizumis Ankündigung 2001, <strong>die</strong> USA im»Krieg <strong>gegen</strong> den Terror« uneingeschränkt zu unterstützen. Ob Japans militärischeHilfe nach den 9/11-Anschlägen allerdings eine reine Kooperationsmaßnahmeim Rahmen der bilateralen Allianz war, scheint hin<strong>gegen</strong> fraglich.Vielmehr sieht es so aus, dass Nippons Beitrag im Krieg <strong>gegen</strong> den Terror– bei Aufbaumaßnahmen im Irak und bei Manövern von SDF und US-Truppen – weniger den jeweiligen regionalen Konflikten geschuldet war,sondern eher als vertrauensbildende Maßnahmen gedacht waren, <strong>die</strong> Tokioals verlässlichen Partner stärker an Washington binden sollten. Durch <strong>die</strong>seenge Bindung sollte einer von Japan be<strong>für</strong>chteten Abkehr der USA von derbilateralen Sicherheitskooperation ent<strong>gegen</strong>gewirkt werden. Dieser Verdachtverstärkt sich unter anderem dadurch, dass der Jahresbericht des japanischenAußenministeriums von 2003 Nordkorea als »dringlichste Bedrohung«<strong>für</strong> Japans Sicherheit auflistet – weit vor einer möglichen irakischen Gefahrdurch biologische oder chemische Waffen. Dennoch unterstützte Japan <strong>die</strong>USA bei ihren Einsätzen in der Golfregion 2003.Dabei könnten in Ostasien selbst Konflikte entstehen, <strong>die</strong> Japan dazuzwingen würden, seiner militärischen Bündnispflicht nachzukommen. AxelBerkofsky, Experte <strong>für</strong> Außenpolitik Japans von der italienischen UniversitätPavia, weist auf ein mögliches Szenario hin, in dem Washington bei einemmilitärischen Einsatz in der Straße von Taiwan <strong>die</strong> Unterstützung von Tokioauf Grundlage der Verteidigungsrichtlinien anforderte – was dann wiederumvon Peking als japanische Beteiligung an einem amerikanischen Unternehmen<strong>gegen</strong> China interpretiert werden könne. Japan brächte sich in einemsolchen Fall entweder in <strong>die</strong> Gefahr eines Krieges im Chinesischen Meer oderin eine Lage außenpolitischer Unparteilichkeit, welche de facto <strong>die</strong> Sicherheitsallianzmit den USA in Frage stellen könne. Auch wenn man BerkovskysSzenario nicht in allen Punkten folgen muss – das Potential <strong>für</strong> Verstimmungenin der japanisch-amerikanischen Allianz ist offensichtlich.Das Fehlen einer eigenen Strategieführte Japan vor Augen, wiealternativlos das Bündnis mit denVereinigten Staaten ist.Christopher Hughes von der London School of Economics and Political Sciencefragt in <strong>die</strong>sem Zusammenhang, warum sich Japan seit 2001 verstärkt anverschiedenen internationalen Missionen beteiligt hat, zugleich jedoch an derengen Kooperation mit den USA im ostasiatischen Raum festhält. Beide Phänomenesollten seine Meinung nach nicht isoliert, sondern als Folge oder garzunehmend als unausgesprochene Bedingung seitens Amerikas betrachtet >>ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 53


STRATEGIEWECHSELwerden. Gerade <strong>die</strong> militärischen Operationen und <strong>die</strong> Kriege der Bush-Administration führten zu einer Beanspruchung der US-Streitkräfte, <strong>die</strong> vermehrtauch Kooperationsleistungen von Allianzpartnern beanspruchten.Man kann besonders im Hinblick auf <strong>die</strong> schrittweise Intensivierung derBeteiligung an internationalen Operationen verstärkt verteidigungspolitischeBemühungen Japans erkennen. Zumal sein außenpolitisches Selbstbewusstseinseit den UN-Missionen in den 1990er Jahren bis hin zur Beteiligungan Anti-Piraterie-Einsätzen im Indischen Ozean stetig gewachsen ist.Außenpolitischer Hardliner: Shinzō Abeskonfrontatives Verhalten soll denFlügelkämpfen seiner Regierungsparteigeschuldet sein.Foto: TTTNIS/CC0 1.0Das Potential <strong>für</strong> Verstimmungen inder japanisch-amerikanischen Allianzist offensichtlich.Diese Verstärkung seiner globalen Militärpräsenz ist jedoch nicht nur undnicht in erster Linie das Ergebnis eigener strategischer Interessen Tokios,sondern vor allem dem Bemühen geschuldet, ein passives Verhalten wieeinst im Golfkrieg 1990/91 und <strong>die</strong> damit verbundene außenpolitische Isolierungum jeden Preis zu verhindern. Die Sicherheitspartnerschaft mit denUSA, <strong>die</strong> 2001 gerade erst stabilisiert worden war, sollte nach nur knapp zweiJahren auf keinen Fall gefährdet werden. Gleichzeitig war <strong>die</strong>se Strategie nunmit der Gefahr verbunden, vermehrt in außenpolitische Konflikte verwickeltzu werden und Positionen einnehmen zu müssen, <strong>die</strong> der Washingtons entsprachen– und dabei teilweise Tokios eigenen Interessen ent<strong>gegen</strong> standen.Als Beispiel hier<strong>für</strong> kann man den Konflikt um das iranische Atomprogrammansehen, das <strong>die</strong> USA und eine breite internationale Koalition andersstrategisch bewerten als Japan. 2001 hatten japanische Firmen Förderrechteam iranischen Azadegan-Ölfeld erworben und rund 2 Milliarden US-Dollar in<strong>die</strong> Förderung investiert. Japans vorrangiges außenpolitisches Interesse wardeshalb in erster Linie <strong>die</strong> Stabilität, nicht <strong>die</strong> »Demokratisierung« des MittlerenOstens und der arabischen Region. So vertrat es in Bezug auf das Azadegan-Feldeine andere geopolitische Einschätzung als Washington. Einekriegerische Auseinandersetzung mit dem Iran ist alles andere als im Interessedes erdölarmen Japan.Neben der Sicherheitskooperation mit den USA, <strong>die</strong> nach wie vor einewichtige Konstante der japanischen Verteidigungspolitik ist, modernisiertund erhöht Japan seit Beginn des 21. Jahrhunderts kontinuierlich seine eigenenmilitärischen Kapazitäten. Die Übernahme einer größeren Verantwortungim globalen wie auch ostasiatischen Kontext löst dabei <strong>die</strong> bestehendebilaterale Sicherheitskooperation mit den USA jedoch nicht ab, sondernkomplementiert sie. Seit der Ausdehnung der japanischen Sicherheitsinteressenauf <strong>die</strong> Gebiete um Japan herum – »Nihon no shūhen«, wie es in einerFormulierung in den Neuen Verteidigungsrichtlinien heißt – engagieren sich<strong>die</strong> SDF immer häufiger an der Beilegung regionaler Konflikte. Auseinandersetzungenfernab Japans rücken verstärkt in den sicherheitspolitischen FokusTokios und markieren Nippons neue Sicherheitsinteressen.Bhubhundar Singh von der Rajaratnam School of International Stu<strong>die</strong>sder Nanyang Technological University in Singapore weist daraufhin, dass >>ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 54


STRATEGIEWECHSELJapan schon 1999 mit der Entwicklung eines eigenen Spionagesatelliten begonnenund bis zum Jahr 2007 bereits acht solcher Satelliten ins All gesandthat. Zudem stockte <strong>die</strong> japanische Regierung in den letzten Jahren kontinuierlich<strong>die</strong> Kapazitäten der japanischen Luftwaffe auf und beschloss im Dezember2011 den Kauf von 42 F-35-<strong>Kampf</strong>flugzeugen von den USA <strong>für</strong> knappfünf Milliarden Dollar.Diese Schritte deuten einerseits auf den Versuch hin, langfristig – zumindestin Ostasien – im Bereich konventioneller Kapazitäten unabhängiger vonden USA agieren zu können. Andererseits können <strong>die</strong>se Maßnahmen vor allemals Steigerung der japanischen Abschreckung im Hinblick auf <strong>die</strong> Modernisierungder chinesischen Volksbefreiungsarmee und das nordkoreanischeAtomprogramm interpretiert werden.Zwar unterhalten auch Südkorea und weitere ostasiatische Staaten Sicherheitsabkommenmit den USA. Dennoch besitzt <strong>die</strong> amerikanischjapanischeVerteidigungskooperation einen besonderen Charakter, da <strong>die</strong>USA neben <strong>die</strong>ser nur noch mit Israel und Taiwan so exklusive Sicherheitspartnerschaftenunterhalten und <strong>die</strong> Allianz mit Japan sehr umfassend ist.Bei der Entwicklung eigener Verteidigungskapazitäten und der Arbeit ininternationalen Gremien befindet sich Japan häufig in das Dilemma, dass es<strong>die</strong> Unterstützung der USA braucht, um <strong>die</strong> Voraussetzungen da<strong>für</strong> zu schaffen,in Zukunft häufiger im Rahmen einer Außenpolitik agieren zu können,<strong>die</strong> multilateral ausgerichtet ist und auf internationalen Organisationen,vornehmlich der UN, basiert. Im Hinblick auf das chinesische Veto-Rechtscheinen zudem Japans Chancen auf einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat mehr als gering. Daher bleibt ihm als Alternative hauptsächlich<strong>die</strong> Steigerung seines Engagements in regionalen Regimen, wie beispielweisedem ASEAN Regional Forum oder der ASEAN+3.Das Einflusspotential <strong>die</strong>ser regionalen Foren ist jedoch bisher aufgrundvon Differenzen mit den anderen asiatischen Staaten – hauptsächlich mitChina – bei tatsächlichen Sicherheitskonflikten sehr eingeschränkt geblieben.Vor <strong>die</strong>sem Hintergrund bleibt Tokio als einzige aktive Gestaltungsmöglichkeiteine weitgehend unabhängige Außenpolitik, <strong>die</strong> weitestgehendeEntwicklung eigener sicherheitspolitischer Akzente innerhalb der bilateralenAllianz mit den USA. Und <strong>die</strong>s wird sich wohl auf Dauer nicht ohne <strong>die</strong> Übernahmenoch größerer militärischer Verantwortung umsetzen lassen.Vor <strong>die</strong>sem Hintergrund ist auch <strong>die</strong> jüngste »Charmeoffensive« Japans zurStabilisierung der Beziehungen zu seinen Nachbarn im Rahmen der ASEANdifferenziert zu betrachten. Während Prashanth Parameswaran von The Diplomatin der Neubelebung des ASEAN Regional Forum seit Anfang 2013 denAnsatz <strong>für</strong> eine begonnene Multilateralisierung der japanischen Außenpolitiksieht, scheint es indes fraglich, inwieweit hierbei wirtschaftspolitischeund sicherheitspolitische Interessen Hand in Hand gehen.Tatsächlich ist China seit über fünf Jahren der wichtigste Außenhandelspartner<strong>für</strong> Japan; <strong>die</strong> wachsende, wohlhabende chinesische Mittelschicht ist<strong>für</strong> <strong>die</strong> chronisch schwächelnde japanische Wirtschaft ein unverzichtbarerMarkt – mehr noch seit der andauernden Wirtschafts- und Finanzkrise inden USA. Die politischen Spannungen zwischen den beiden asiatischenNachbarn erscheinen daher streckenweise nach einem bestimmten, beinaheeinstu<strong>die</strong>rten Muster zu verlaufen, in dem jede Seite das Handeln der anderenbereits im Vorfeld zu kennen scheint.Fünf Milliarden Dollar gibtTokio <strong>für</strong> <strong>die</strong> neuestenamerikanischen <strong>Kampf</strong>jets aus.Bestes Beispiel sind <strong>die</strong> jährlichen Besuche japanischer Ministerpräsidentenam Yasukuni-Schrein in Tokio, an dem auch verurteilte japanische Kriegsverbrecherals kami, japanische Götter, verehrt werden. Die chinesische Reaktionerfolgt meistens auf dem Fuße in Form von – meist staatlich orchestrierten– Demonstrationen und Verwüstungen von Geschäften, <strong>die</strong> japanischeElektronikartikel oder Autos verkaufen. Der Fortführung oder gar demNeuabschluss bilateraler Handelsabkommen zwischen beiden Nationen tun<strong>die</strong>se Vorfälle in der Regel keinen Abbruch.Daneben erscheinen weitere Gründe <strong>für</strong> <strong>die</strong> proaktivere japanische <strong>Sicherheitspolitik</strong>denkbar: Die nahezu ununterbrochene Alleinregierung der >>ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 55


STRATEGIEWECHSELNeben der veränderten Wahrnehmungseiner außenpolitischenVerantwortung modernisiert Japankontinuierlich seinmilitärisches Potential.LDP von 1955 bis 1993 und von 1996 bis 2009 liegt vor allem in ihrem breitenpolitischen Spektrum begründet. Tatsächlich findet <strong>die</strong> programmatischeAusdifferenzierung politischer Inhalte in Japan vor allem innerhalb der vielenFlügel, der so genannten habatsu, der Liberaldemokratischen »Catchall«-Parteistatt. Durch den nach festen innerparteilichen Regeln und Absprachenstattfindenden Wechsel des Ministerpräsidenten war stets der politische»Friede« der vielen Faktionen innerhalb der Partei gewährleistet. Provokationenvon Ministerpräsidenten, zum Beispiel das Leugnen von Massakern,<strong>die</strong> <strong>die</strong> japanische Armee im Zweiten Weltkrieg begangen hatte, warendaher nicht selten extremen Flügelinteressen innerhalb der LDP geschuldet.Der Amtsantritt des neuen japanischen Ministerpräsidenten Shinzō Abe(LDP) am 26. Dezember 2012 lässt daher im Hinblick auf <strong>die</strong> Beziehungenmit China einen radikaleren Kurs vermuten. Wilhelm Vosse von der InternationalChristian University in Tokio weist darauf hin, dass Japan zwar in Zukunftin Bereichen wie der Erdbebenhilfe, dem Wiederaufbau und bei derNutzung der Ressourcen im Ostchinesischen Meer enger mit der Volksrepublikzusammenarbeiten wolle. Tokio betont aber nach wie vor, <strong>die</strong> Senkaku-Inseln zwischen Okinawa und Taiwan, von China Diaoyu genannt, gehörteneindeutig zum japanischen Hoheitsgebiet; in <strong>die</strong>ser Frage sei langfristig keinEinlenken seitens Japan zu erwarten.Schon einmal, von 2006 bis 2007, war Shinzō Abe als Premierminister vorallem durch einen härteren Kurs <strong>gegen</strong>über Nordkorea, durch <strong>die</strong> Infragestellungder Tokioter Kriegsverbrecherprozesse nach dem Zweiten Weltkriegund durch Äußerungen zum Yasukuni-Schrein aufgefallen. Besonders bei inPeking und Seoul hatte <strong>die</strong>se Politik <strong>für</strong> Verstimmungen gesorgt. Trotz derohnehin schon angespannten Lage auf der koreanischen Halbinsel und demweiterhin ungelösten Disput um <strong>die</strong> sowohl von China wie auch Japan beanspruchtenSenkaku-Inseln wird Abe in seiner zweiten Amtszeit wohl kaumeine konziliante Außenpolitik an den Tag legen.Die in den 2000er Jahren eingeleitete Modernisierung der SDF und <strong>die</strong>geostrategisch breitere Orientierung der japanischen Außen- und <strong>Sicherheitspolitik</strong>erscheinen in Anbetracht <strong>die</strong>ser Situation nur wie <strong>die</strong> Ouvertürezu einer längeren konfliktreichen Sonate. Sowohl Japans eigene, neuformuliertensicherheitspolitischen Ansprüche als auch <strong>die</strong> gestiegene Bedeutungder US-japanischen Allianz <strong>für</strong> <strong>die</strong> von Präsident Barack Obama 2012 verkündeteFokussierung der USA auf den Raum Asien-Pazifik im 21. Jahrhundertwird <strong>die</strong> sicherheitspolitische Bedeutung Ostasiens verändern. Fraglichhin<strong>gegen</strong> bleibt nicht, wie viel außenpolitisches Profil sich Japan innerhalb<strong>die</strong>ser Allianz geben will – sondern sich geben kann.David Adebahr hat Japanologie in München und Kyoto stu<strong>die</strong>rt. Er promoviertzu Zeit am Japan-Zentrum der Ludwig-Maximilians-Universität.Quellen und Links:Hintergrundbericht »Japan’s ASEAN Charm Offensive« in The Diplomat vom 22.Januar 2013Weißbuch 2012 »The Defense of Japan« des japanischenVerteidigungsministeriumsBericht: »The United States and the Asia-Pacific Region: Securiy Strategyfor the Obama Administration« des Pacific Forum CSIS/IDA, des Centerfor a New American Security und des Institute for National Strategic Stu<strong>die</strong>svom Februar 2009ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 56


US-Marines para<strong>die</strong>ren gemeinsam mit australischen Soldaten am 25. April 2013 in Darwin. Foto: US Marine Corps/Savannah MoyerREIHE: DISLOZIERUNGNOTIZPazifischeRochadeChina interpretiert <strong>die</strong> Stationierungvon US-Marines in Australienals Bedrohung. Tatsächlich stehtAmerika vor einer, teuren,Umgruppierung seiner Präsenzim West-Pazifik.Es ist der »pivot to Asia«: Im November 2011erklärte Präsident Barack Obama während einesStaatsbesuchs in Australien, <strong>die</strong> USA würden alsbaldMarineinfanterie in dem Land stationieren.Als Reaktion warnte etwa <strong>die</strong> staatsnahe chinesischeGlobal Times: »If Australia uses its militarybases to help the US harm Chinese interests, thenAustralia itself will be caught in the crossfire.«Dennoch brach am 20. April <strong>die</strong>ses Jahr nun bereitsdas zweite Kontingent von 200 Marines nachDown Under auf, vor allem <strong>für</strong> Übungen mit australischenund neuseeländischen Truppen.Plan ist, ab 2016/17 eine komplette »MarineExpeditionary Unit« in Bataillonsgroße <strong>für</strong> je sechsMonate pro Jahr nach Darwin in Nordaustralien zuverlegen – insgesamt 2.500 Soldaten mit Kriegsschiffen,Hubschraubern und <strong>Kampf</strong>jets.Was <strong>die</strong> Volksrepublik nun <strong>für</strong> Aufrüstung an ihrerSüdostflanke hält, ist eine Umgruppierung.Am 4. April haben <strong>die</strong> USA ein Abkommen mitJapan abgeschlossen, das <strong>die</strong> US-Präsenz auf O-kinawa deutlich verringert: Von 19.000 Marineswerden in den kommenden Jahren 9.000 nachGuam und Hawaii abgezogen. Die größte US-Militärbasis in Ostasien ist ein Zankapfel zwischenden beiden Verbündeten, vor allem weil esimmer wieder zu Zusammenstößen von Amerikanernmit der örtlichen Bevölkerung kommt. 1995hatte ein Marine ein japanischen Mädchen vergewaltigt;im Nachhall des Skandals wurde <strong>die</strong>Truppenreduzierung versprochen.Unklar ist noch, wie Canberra und Washington<strong>die</strong> Stationierungskosten ab 2016 aufteilen. LautThe Australian wird <strong>die</strong> Rotation nach Darwinrund 1,6 Milliarden US-Dollar kosten, von gut13,4 Milliarden <strong>für</strong> <strong>die</strong> gesamte Um-Stationierungaus Okinawa. Australiens VerteidigungsministerStephen Smith habe zugegeben, <strong>die</strong> Regierungnoch keine Entscheidung getroffen, was <strong>die</strong> Unterbringungvon 2.500 Amerikanern betrifft. mmoQuellen und Links:Bericht des Australian vom 22. April 2013Meldung der Marine Corps Times vom20. April 2013Bericht der New York Times vom 5. April 2013Kommentar der GlobalTimes vom 16. November 2011ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 57


Foto: UN/Marco CastroREIHE: EXPANSIONSFOLGENDer Fluch des Erfolgsvon Gunnar Henrich und Vu TruongChinas internationaler Aufstieg erzeugt nichtnur Bewunderung, sondern auch negative Reaktionen.In einigen der ärmsten Ländern der Welt im südlichenAfrika entsteht eine Bewegung, deren globaleAuswirkungen noch nicht abzusehen sind: Ein regelrechterAntichinaismus kommt in Sambia und Namibia auf.>> Gut zehn Jahre alt ist der Begriff »chinesisches Jahrhundert«. Zugleich bemühtsich <strong>die</strong> Volksrepublik China um ein freundliches, möglichst wenig bedrohlichesinternationales Image. Aber auch <strong>die</strong>se weiche Macht führt in denStaaten, <strong>die</strong> mit China interagieren, dazu, sich <strong>gegen</strong> zunehmenden wirtschaftlichenund/oder politischen Einfluss zu wehren. Besonders in Afrika.Der Kontinent ist exemplarisch <strong>für</strong> Widerstand <strong>gegen</strong> ein aufstrebendesChina, weil <strong>die</strong> Volksrepublik nach dem Ende des Kalten Krieges und derKonkurrenz der Blöcke um Einfluss in Afrika besonders in den vergangenenzehn Jahren nahezu ungestört neue außenpolitische Konzepte ausprobierenkonnte. Die Art und Weise, wie Interessengruppen in einzelnen afrikanischenStaaten mit dem chinesischen Engagement umgehen, führt aber immerhäufiger zu Konflikten. Welche Form <strong>die</strong>se Auseinandersetzungen jeweilsannehmen, variiert: Ausschlaggebend sind Erfahrungen mit Kolonialismus,fortdauernde rassistische Dynamiken und lokale Machtbeziehungen.Zwei Beispiele sind Sambia und Namibia, zwei südafrikanische Staaten,mit denen China seit längerem intensive Handels- und Wirtschaftsbeziehun-gen pflegt. Diesen Austausch begleiten Probleme, auf <strong>die</strong> Peking bisher keineüberzeugende Antwort gefunden hat.Feldstu<strong>die</strong>n von Yoon Jung Park vom Centre for Sociological Stu<strong>die</strong>s derUniversität Johannesburg zeigen, wie in der namibischen Hauptstadt Windhoekchinesische Aktivitäten im kaufmännischen und im Bau-Gewerbe imZentrum antichinesischer Diskurse stehen. Ursache seien nach Yoon vor allemsprachliche und kulturelle Unterschiede. Laut Aussagen von Namibiernhätte es vor der Unabhängigkeit 1990 keine Chinesen im Land gegeben. Niemandkönne genau sagen, wie viele von ihnen im Land lebten. Außerdemwürden <strong>die</strong> Chinesen sich nicht an namibische Arbeitsschutzgesetze haltenund ihr Englisch wäre schlecht. Chinesische Händler in Namibia verbündetensich mit lokalen Eliten, um illegal an Vorteile zu kommen, heißt es.Zuschreibungen wie <strong>die</strong>se beeinflussen das öffentliche Bild von der wachsendenchinesischen Gemeinschaft zum Negativen. Presseberichten zufolgelebten bereits 2006 rund 40.000 Chinesen in Namibia, zwei Prozent der Gesamtbevölkerung.>>ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 58


EXPANSIONSFOLGENMichael Chilufya Sata: Der sambischePräsident hat seinen Wahlkampfmit antichinesischen Parolen geführt.»Sambia denSambiern!«Foto: UN/Evan SchneiderIm ganzen südlichen Afrika versuchen freien Oppositionsbewegungen, politischenNutzen aus der chinesischen Präsenz zu ziehen. Einige südafrikanischeOppositionsparteien mobilisierten ihre Anhänger <strong>gegen</strong> <strong>die</strong> vermeintlichen»Neokolonialisten« aus Ostasien: Sie beschuldigten <strong>die</strong> chinesischen Firmen,»Ausbeuter« zu sein und <strong>die</strong> lokale Wirtschaft zu schwächen. Die häufigstenAusbrüche antichinesischer Ressentiments kommen vor allem von Kleinhändlern,<strong>die</strong> Erfahrungen mit konkurrierenden chinesischen Kaufleuten machen.In Namibia kritisieren Geschäftsleute, Gewerkschaftsvertreter, Bauunternehmerund <strong>die</strong> meisten Oppositionspolitiker einstimmig <strong>die</strong> »chinesischeArt und Weise Geschäfte zu machen«. Auch werfen sie der Regierung vor,den Chinesen zu erlauben, namibisches Recht zu brechen. Einzelhändler, <strong>die</strong>sich von chinesischer Konkurrenz bedroht fühlen, heizen das Feuer der antichinesischenStimmung an. Die Bewegung ist im Norden Namibias, <strong>die</strong> Regionmit der größten Bevölkerungsdichte des Landes, so stark geworden, dasssich eine eigene Interessengemeinschaft, eine »Anti-Chinese Group«, gebildethat. Finanziert durch den lokalen Geschäftsmann Epafras Mukwilongohat sie über hundert Mitglieder und fordert von der namibischen Regierung,alle Chinesen aus dem Einzelhandelsbereich zu verbannen.Der chinesische Einfluss in Afrika soll laut Me<strong>die</strong>nberichten nirgendwo sostark sein wie in Sambia. Betrug das Handelsvolumen zwischen Sambia undChina im Jahr 2000 noch 100 Millionen US-Dollar, wurde es zehn Jahre späterbereits auf 2,8 Milliarden Dollar taxiert. Die Volksrepublik ist seit Beginnder 1970er Jahre in dem Land aktiv, als <strong>die</strong> chinesische Regierung eine Eisenbahnverbindungzwischen der sambischen Landesmitte und dem nächstgelegenenHafen im tansanischen Dar es Salaam bauen ließ.In Sambia kam es Mitte 2006 auch zu den größten antichinesischen Ausschreitungenin Afrika. Sie waren vor allem innenpolitisch motiviert und <strong>gegen</strong><strong>die</strong> »Pro China«-Politik der »Movement for Multi-Party-Democracy«, <strong>die</strong>seit 1991 an der Macht war, gerichtet.Im Wahlkampf 2006 hatte Oppositionskandidat der »Patriotic Front« MichaelChilufya Sata seine Präsidentschaftskampagne explizit <strong>die</strong> Chinesenim Land gestartet: »Sambia den Sambiern!«. Von 80.000 Einwanderern ausder Volksrepublik ging er aus, <strong>die</strong> er mit den früheren westlichen Kolonialherrenverglich und warnte, sie im Falle seines Wahlsiegs ausweisen zu wollenund Taiwan anzuerkennen. Zum gleichen Zeitpunkt schätzte das sambischeInnenministerium den Anteil von Chinesen unter der Bevölkerung von14 Millionen auf nur 10.000.Vor der Wahl hatte der chinesische Botschafter in Lusaka gedroht, <strong>die</strong>Volksrepublik würde <strong>die</strong> diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungenzu Sambia abbrechen, falls Sata gewinnen sollte. Dies war das erste Mal seitder Mao-Ära, dass der chinesische Staat den Ausgang einer afrikanischenWahl zu beeinflussen suchte.Sata erreichte <strong>die</strong> Mehrheit der Stimmen in den beiden Regionen mit dergrößten chinesischen Präsenz: der Hauptstadt Lusaka sowie der BergbauregionCopperbelt. Dennoch verlor er <strong>die</strong> Wahl, gewann aber mit 29 Prozentder Stimmen rund 26 Prozentpunkte im Vergleich zu seiner vorherigen Kandidaturhinzu. Sein Wahlkampf hatte <strong>die</strong> Stimmung anscheinend so aufgepeitscht,dass es dann zu massiven antichinesischen Protesten kam: Satasenttäuschte Anhänger demonstrierten und plünderten chinesische Geschäfte.Aus <strong>die</strong>sem Grund sagte der chinesische Präsident Hu Jintao eine geplanteReise in den Copperbelt Sambias ab. Um den Protesten den Nährboden zu >>ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 59


EXPANSIONSFOLGENnehmen, erklärte er aber, dass China dem Land 800 Millionen US-Dollar inForm eines gestützten Kredits gewähren und darüber hinaus 350 MillionenDollar alter Schulden streichen würde.Michael Sata legte im Wahlkampf 2008 noch einmal nach und spielte erneut<strong>die</strong> antichinesische Karte. Den Wahlsieg konnte er wieder nicht erringen.Erst beim dritten Anlauf, 2011, gelang es ihm, sich mit 43 Prozent derStimmen in einer Stichwahl <strong>gegen</strong> den bisherigen Amtsinhaber Rupiah Bandadurchzusetzen. Seine Politik <strong>gegen</strong>über China wird nun aufmerksam beobachtet.Offiziell begrüßte Peking seine Wahl und drückte <strong>die</strong> Hoffnung auf»weitergehende Kooperation zum <strong>gegen</strong>seitigen Nutzen« aus.Der wachsende Einfluss der »kommenden Weltmacht« begünstigt dasEntstehen eines »Antichinaismus«. In Sambia und Namibia ist <strong>die</strong> Volksrepublikzu einem wichtigen kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Faktorgeworden. Besonders Namibia, das erst vor relativ kurzer Zeit seine Unabhängigkeiterlangt hat, könnte in eine neue Abhängigkeit von China geraten.In beiden Staaten sehen unterschiedliche Akteure <strong>die</strong> staatliche Souveränitätbedroht.Wie Peking auf <strong>die</strong>se Gefahr eines »Antichinaismus« reagiert, ist unklar.Peking betreibt <strong>gegen</strong>über jedem afrikanischen Land eine eigene Außenpolitikmit jeweils anderen Schwerpunkten. Und weil <strong>die</strong> Volksrepublik über keinEntwicklungshilfeministerium verfügt, wird <strong>die</strong> Afrikapolitik zugleich imAußen- wie im Handelsministerium koordiniert. Unter <strong>die</strong>sen Umständenscheint es schwierig, eine kohärente Politik zu entwickeln und durchzuhalten,<strong>die</strong> auch der Gefahr von Rückschlägen Rechnung trägt. Daher ist eswahrscheinlich, dass in der näheren Zukunft antichinesische Stimmungeneher zu- als abnehmen. Das »chinesische Jahrhundert« wird wohl auch zumZeitalter des »Antichinaismus« werden.Gunnar Henrich ist Doktorand <strong>für</strong> Politikwissenschaft an Center for Global Stu<strong>die</strong>s,Universität Bonn. Er ist Mitglied der Forschungsgruppe »China in Afrika«am Center for Global Stu<strong>die</strong>s der Universität Bonn.Vu Truong ist Doktorand <strong>für</strong> Politikwissenschaft an Center for Global Stu<strong>die</strong>s,Universität Bonn. Seit 2011 ist er Gastdozent an der Faculty of International Relations,Vietnam National University, Ho-Chi-Minh-Stadt.Chinesisch-afrikanische Beziehungenhaben eine anti-koloniale Tradition ausder Zeit des Kalten Krieges:Propagandaposter aus dem Jahr 1971.Die häufigstenAusbrücheantichinesischerRessentimentskommen vorallem vonKleinhändlern.Quellen und Links:Webpräsenz des chinesischen »Forum on China–Africa Cooperation«Padraig Carmody und Ian Taylor: »Flexigemony and Force in China’sGeoeconomic Strategy in Africa« in der Geopolitics, Ausgabe 3/2010Bericht »Overseas and under Siege« des Economist vom 11.August 2009Omu Kakujaha-Matundu und John E. Odada: »China-Africa EconomicRelations: The Case of Namibia«, Stu<strong>die</strong> <strong>für</strong> das African Economic ResearchConsortium vom März 2008ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 60


DIE WELT UND DEUTSCHLAND: KRIEGSFOLGENBoden derTatsachenvon Cedric BiergannsUS-Präsident Barack Obama während einerDiskussion über Etatkürzungen im Oval Office.Foto: The White House/Pete SouzaADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 61>>


KRIEGSFOLGENDie Friedenskonsoli<strong>die</strong>rung imIrak hat den Vereinigten Staatenschmerzlich <strong>die</strong> Grenzen ihrerkonventionellen Übermachtaufgezeigt. Zehn Jahre später istder Handlungsspielraum derzweiten Administration Obamaimmer noch erheblicheingeschränkt.Wie steht es heute um <strong>die</strong>Fähigkeit der USA, <strong>die</strong> Welt nachihren Vorstellungen zu formen?Ihre künftige Außenpolitik stehtim Zeichen einer Renaissancevon Vietnam-Syndrom undEindämmungspolitik. Dabeisteht sich das Pentagon mitseinen Schlussfolgerungen teilsselbst im Weg.>> Militärische Überlegenheit garantiert keinen Sinne Lippmanns einzugehen. Wo sind <strong>die</strong>politischen Erfolg – so viel hat der Versuch einer schmerzlich gemachten Erfahrungen der Aufstandsbekämpfungin der Nachkriegszeit seitFriedenskonsoli<strong>die</strong>rung im Irak erneut bestätigt.Mit einer Bilanz von 115.000 getöteten Zivilisten, 2003 geblieben?4.500 toten US-Soldaten und Kosten in Höhe von Weil der Irak auch zehn Jahre nach der US-800 Milliarden US-Dollar, welche ausschließlich Invasion ein tief gespaltenes Land bleibt, das indurch kreditbasierte Zusatzhaushalte finanziert seine alten autoritären Herrschaftsstrukturen zurückzufallendroht – und sich <strong>die</strong> Lage in Afgha-wurden, hat <strong>die</strong> Aufstandsbekämpfung im Landzwischen Euphrat und Tigris <strong>die</strong> derzeitige Haushalts-und Finanzkrise in den Vereinigten Staa-der Vereinigten Staaten auf Konsoli<strong>die</strong>rung undnistan ähnlich gestaltet – ist <strong>die</strong> politische Praxisten mit ausgelöst.Schadensbegrenzung ausgerichtet. Die wohl bedeutendsteFolge ist aber, dass Amerika als globa-Die unipolare Vormachtstellung der USA, so wiesie führende Neokonservative am Anfang des 21. le Ordnungsmacht über Jahre hinweg gelähmt istJahrhunderts überschätzten, ergibt sich somit und angesichts der demonstrierten Verwundbarkeitweltweit an Respekt und Prestige eingebüßtnicht aus dem wohlorchestrierten Zusammenspieleines hochtechnisierten Militärapparats mit ökonomischerStärke. Vielmehr beschreibt militärische USA zukünftig weder genug Soldaten noch denhat. Ihre neuen Rivalen vertrauen darauf, dass <strong>die</strong>Macht <strong>die</strong> Fähigkeit, <strong>die</strong>se auch so einzusetzen, politischen Mut <strong>für</strong> ähnliche Stabilisierungsmissionenhaben. Undenkbar, dass unter <strong>die</strong>sen Um-dass <strong>die</strong> verfolgten politischen Ziele erreicht werden.Walter Lippmann, einer der profiliertesten ständen ein längeres Engagement, etwa im Iranamerikanischen Journalisten des 20. Jahrhunderts, oder in Pakistan, deren Bevölkerungen drei- beziehungsweisesechsmal größer als <strong>die</strong> irakischehat <strong>die</strong>s einst so ausgedrückt: »[A successful] foreignpolicy consists in bringing into balance, with a sind, auch nur annähernd gelingen würde.comfortable surplus of power in reserve, the nation’scommitments and the nation’s power.« Staaten das »nation building« als strategischeAuf unabsehbare Zeit werden <strong>die</strong> VereinigtenDennoch macht <strong>die</strong> aktuelle Zukunftsstu<strong>die</strong> Option aufgeben und nur noch selektive Militärschlägezur Ausschaltung vermeintlicher Risikendes amerikanischen National Intelligence Councilimmer noch <strong>die</strong> klassischen Machtdeterminanten führen können, wie auch das Pentagon in seinemwie Bruttosozialprodukt, Verteidigungsausgaben, Strategiepapier <strong>für</strong> das 21. Jahrhundert ernüchtertfeststellt: »US forces will no longer be sizedBevölkerungszahl und den wirtschaftlich-technologischenVorsprung zur exklusiven Berechnungsgrundlageseiner Prognosen, ohne aber detions.«Somit wird das ungewohnt zurückhalten-to conduct large-scale, prolonged stability operarenUmsetzung in politische Macht ausreichend de Vorgehen der USA, wie jüngst in Libyen, imzu berücksichtigen, geschweige denn auf <strong>die</strong> gesundeBalance von Potenzial und Intention im angesichts diskreditierter Alternativen, <strong>die</strong> neueKonflikt in Nordmali oder auch im Falle Syriens,>>ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 62


KRIEGSFOLGENRegel sein. Die Strategie des »offshore balancing«,welche das Gleichgewicht der Mächtedurch diplomatische Instrumente sichert, vondirekten militärischen Interventionen absiehtund potentielle Gefahren präventiv regional eindämmt,gewinnt im akademischen und politischenDiskurs wieder zunehmend an Konjunktur.Ausgelöst durch <strong>die</strong> negative Stimmung in derBevölkerung der USA als Ausdruck <strong>für</strong> <strong>die</strong> mangelndeGeduld einer Demokratie <strong>gegen</strong>über opferreichenAuslandseinsätzen, werden besondersfinanzpolitische Fragen und <strong>die</strong> dringend notwendigeninnenpolitischen Sozialreformen breiterenRaum einnehmen.Nichtsdestotrotz vertritt auch Präsident BarackObama, der im Dezember 2011 <strong>die</strong> letztenUS-Truppen aus dem Irak abzog, nachdrücklichFrontbesuch 2009: Derneu gewählte PräsidentObama machteden amerikanischenAbzug aus demIrak zur Priorität.Foto: The White House/Pete SouzaDer vom Pentagon vorgeschlagene Verteidigungshaushaltvon 614 Milliarden US-Dollar <strong>für</strong> das Fiskaljahr2013 sieht zwar schon jetzt bis 2017 <strong>die</strong>Verkleinerung der über <strong>die</strong> beiden Landkriege inAfghanistan und Irak stark angewachsenen US-Armee um 72.000 auf 490.000 und der Marineinfanterieum 20.000 auf 182.000 Soldatinnen undSoldaten vor. Verstärkte Rüstungsanstrengungenhin<strong>gegen</strong> nehmen <strong>die</strong> US-Streitkräfte angesichtseiner erstarkenden Volksrepublik mit der Entwicklungeines neuen Tarnkappenbombers und derWeiterentwicklung von U-Booten der Virginia-Klasse vor.So hat <strong>die</strong> wiederbelebte Eindämmungspolitikverbunden mit der Trägheit des militärischindustriellenKomplexes zur Folge, dass sich Investitionenin <strong>die</strong> irreguläre Kriegsführung, nebendem stark ausgebauten Drohnen-Programm,vor allem auf <strong>die</strong> »Special Operations Forces« undauf neue Cyberwar-Kapazitäten beschränken.»We are shaping a Joint Force for the future thatKönnen postheroische Gesellschaften überhaupt»nation building« betreiben?den globalen amerikanischen Führungsanspruch,wie ein Blick in <strong>die</strong> aktuelle Nationale Sicherheitsstrategieder USA zeigt. Die sicherheitspolitischeNeuausrichtung in Richtung des pazifischenRaums lässt sich dabei als Abkehr vonasymmetrischen Konflikten hin zu einem traditionellenMächteduell mit China interpretieren.Dies birgt jedoch <strong>die</strong> Gefahr, in strategischeDenkmuster des Kalten Krieges zurückzufallen.will be smaller and leaner, but will be agile, flexible,ready, and technologically advanced«, urteiltdas Strategiepapier des Pentagons, welchesmehr Kontinuität mit der Regierung Bush aufweist,als <strong>die</strong> offizielle Rhetorik Obamas vermutenlässt.>>ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 63


KRIEGSFOLGENDa somit eine konventionelle Konfrontation mitden USA aufgrund ihres absoluten Rüstungsvorsprungsin absehbarer Zeit <strong>für</strong> keinen potentiellenHerausforderer zu gewinnen wäre, wird sichjeder rational operierende Gegner zwangsläufigwieder irregulärer Mittel be<strong>die</strong>nen, um Amerikaan seiner Achillesferse zu treffen.Doch obwohl, oder gerade weil das Pentagonmit dem »Quadrennial Defense Review 2010«schon der zunehmenden Bedeutung nichtstaatlicherAkteure Rechnung getragen hat, besteht <strong>die</strong>Gefahr, dass kostspielige Investitionen in größeredes Vereinigten Generalstabs, General MartinDempsey, verteidigte Maßstab, zwei »major regionalwars« gleichzeitig führen zu können, wurdeschon unter Verteidigungsminister Robert Gatesauf einen großen regionalen Konflikt und einenAufstand minimiert und wird weiter gesenkt werdenmüssen.Schienen <strong>die</strong> hochtechnisierten US-Streitkräfteangesichts der Aufstände im Irak zunächstungeeignet zu sein, mit <strong>die</strong>ser Kriegsform umzugehen,so haben durch <strong>die</strong> stark ausgeweitetenDrohneneinsätze Hightech-Waffen, wenn auchUnsicherheitsfaktor, zugleich Nährboden <strong>für</strong> deninternationalen Terrorismus und kommt einerRückkehr zur unterschiedslosen Aufstandsbekämpfungmit unnötig hohen zivilen Opferzahlengleich. Das bedeutet eine Abkehr von der»Counterinsurgency«-Doktrin von David Petraeus:Dank des inzwischen zurückgetretenenGeneralleutnants besitzen US-Armee und Marineinfanteriemit Feldhandbuch 3-24 zum erstenMal nach den verheerenden Erfahrungen in Vietnameinen Leitfaden, der bei der Aufstandsbekämpfungeindeutig zwischen Freund und Feind >>Der Drohneneinsatz bedeutet eine Abkehr vonder Counter-Insurgency-Doktrin des David Petraeus.Waffensysteme <strong>für</strong> <strong>die</strong> konventionelle Kriegsführungweitgehend ungenutzt bleiben. Das Ergebnisist ein sehr begrenzter Nutzen des amerikanischenmilitärischen Primats. Zusätzlich sollen inden nächsten zwölf Jahren allein im Verteidigungsetatetwa 400 Milliarden US-Dollar eingespartwerden. Ein wenig Abhilfe verspricht <strong>die</strong>neue Verteidigungskooperation der Nato, »SmartDefense« genannt, bei der militärische Kapazitätenauf Kosten staatlicher Souveränität gebündeltund geteilt werden sollen.Weil Irakkrieg und Finanzkrise <strong>die</strong> USA zumSparen zwingen, müssen ihre Streitkräfte mit wenigerGeld mehr leisten und ihren »militärischenFußabdruck« verkleinern. Der inoffiziell immernoch geltende und vom derzeitigen Vorsitzendenquasi durch <strong>die</strong> Hintertür, unter Obama wieder anBedeutung gewonnen. So stieg <strong>die</strong> Zahl der Einsätzevon bereits 36 im Jahr 2008 auf 118 im Zeitraum2009/10. 2011 sind <strong>die</strong> Einsätze etwas zurückgegangen,waren mit insgesamt 70 aber immernoch zahlreich. Einen besonderen Fokus legt<strong>die</strong> Obama-Administration dabei auf Somalia,Jemen, das afghanisch-pakistanische Grenzgebietund jüngst auch auf Mali.Anders als der massive Einsatz von Infanteristenvor Ort, kurz »boots on the ground«, sindDrohnen <strong>für</strong> flächendeckende Kontrollen zur Befriedungvon Räumen begrenzter Staatlichkeitjedoch nicht geeignet. Schlimmer noch: Trotz des»Präzisionsversprechens« ist ihr Einsatz besonders<strong>für</strong> <strong>die</strong> lokale Bevölkerung ein verheerender»Boots on the ground«James Dobbins und weitere Kollegen von der renommiertenSicherheitsdenkfabrik RAND haben ineiner historisch fun<strong>die</strong>rten Formel <strong>die</strong> Truppenstärkekalkuliert, <strong>die</strong> <strong>für</strong> <strong>die</strong> Stabilisierung eines besetztenGebietes benötigt würde, und sind auf zwanzigSoldaten pro tausend Einwohner gekommen.Für den Irak mit seinen 26 Millionen Einwohnernergab sich 2003 daraus eine Zahl von520.000 Soldaten – eine Stärke, <strong>die</strong> jedoch, andersals im Golfkrieg von 1991, nie annähernderreicht wurde. Nur 200.000 GIs und verbündeteBriten und Australier marschierten 2003 im Irakein. Im Verhältnis zur Einwohnerzahl war <strong>die</strong>amerikanische Truppenpräsenz im Irak zwanzigmalkleiner als in Deutschland nach dessen Kapitulation1945.James Dobbins u.a.: »The Beginner’s Guide toNation-Building«, herausgegeben von der RANDCorporation, Santa Monica 2007ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 64


KRIEGSFOLGENVietnamveteranen undspätere Kriegsgegner:der heutige US-Außenminister JohnKerry (rechts) in den»Fulbright-Anhörungen«1971 und der heutigeUS-VerteidigungsministerChuck Hagel (links)1968 an der Front inSüdostasien.Fotos: Library of Congressunterscheidet. Petraeus und <strong>die</strong> von ihm forcierte»Surge«-Strategie – <strong>die</strong> Truppenaufstockung imIrak – haben bewiesen, dass Räume begrenzterStaatlichkeit in asymmetrischen Konflikten nurdurch militärische Präsenz in der Fläche und intensiveKontakte mit der lokalen Bevölkerung geordnetund befriedet werden können. Be<strong>für</strong>worter <strong>die</strong>serDoktrin gehen sogar so weit, in der bewiesenenInnovationsfähigkeit des amerikanischen Militärswährend eines laufenden Konflikts eine wichtigeVoraussetzung <strong>für</strong> den Erhalt der militärischenVorherrschaft im 21. Jahrhundert zu sehen.Drohnen hin<strong>gegen</strong> passen primär in <strong>die</strong> übergreifendemilitärische Entwicklung, den Krieg vonder eigenen Gesellschaft zu separieren und ihnDas totgeglaubte »Vietnam-Syndrom« istzurückgekehrt und lähmt <strong>die</strong> USA außenpolitisch.kostengünstig und unter Schonung des eigenenLebens nahezu unsichtbar zu führen. Ein Teufelskreis,der erst durchbrochen werden kann, sobaldfriedensverwöhnte westliche Gesellschaften denWert menschlichen Lebens nicht mehr mit zwei-erlei Maß messen. Eine höhere Wertschätzungwestlichen Lebens schafft zwangsläufig zwei Klassenvon Menschen – ein Signal, dass sich schonim Irak nicht mit der Vorstellung einer Befreiungvereinen lies. Getrieben von einer kulturellenFremdheit und Angst vor den Irakern, neigtenmilitärische Entscheidungsträger dazu, Opfer unterder Zivilbevölkerung als zwangsläufige Begleiterscheinungzu betrachten und rieten ihrenSoldaten, aus Gründen des Selbstschutzes, zu einempräventiven aber vorschnellen Gebrauch derWaffe <strong>gegen</strong>über als »bad boys« generalisiertenIrakern. Ein trauriges Beispiel hier<strong>für</strong> ist das Massakervon Haditha vom 19. November 2005.Letzten Endes muss <strong>die</strong> postheroische Gesellschaftdes Westens <strong>die</strong> Tatsache akzeptieren, dassAuslandseinsätze auf Augenhöhe mit der einhei- >>ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 65


KRIEGSFOLGENmischen Bevölkerung – denn das ist der einzigeWeg zu einer nachhaltigen Friedensordnung –zwangsläufig eigene Leben kosten können. Da einesolche Akzeptanz in der Öffentlichkeit jedoch nurschwer zu erreichen ist, müssen vor allem <strong>die</strong> VereinigtenStaaten <strong>die</strong> Vorstellung aufgeben, jedeninternationalen Konflikt lösen zu können. Vielmehrsei hier auf <strong>die</strong> Worte Abraham Lincolns verwiesen,der seiner Nation schon seinerzeit nahegelegthatte, sich von dem überhöhten Werteanspruchund der selbst auferlegten VorbildrolleAmerikas in der Welt »freizumachen«.So haben <strong>die</strong> Erfahrungen der USA in der Post-Konflikt Phase im Irak zur ärgsten Beschneidungdes amerikanischen Handlungsspielraums seitdem Vietnamkrieg geführt. Das zwischenzeitlichtotgeglaubte »Vietnam-Syndrom« ist, als »Irak-Syndrom« verkleidet, zurück – auch wenn sichGeorge Bush senior nach dem Blitzfeldzug imZweiten Golfkrieg 1991 noch sicher gewesen war,es überwunden zu haben: »We‘ve kicked [it] onceand for all«.Das heißt jedoch nicht, dass der Stern der Supermachtim Begriff ist zu sinken. Die Angst vordem amerikanischen Niedergang ist keineswegsneu. Tatsächlich kann sie als Antriebsfeder deramerikanischen Außenpolitik verstanden werden:Die »Eindämmungspolitik«, bekanntaus Zeiten des Kalten Krieges, hat plötzlichwieder Konjunktur.Vom »Sputnik-Schock« der 1950er Jahre und derangeblichen Bedrohung durch <strong>die</strong> »Missile Gap«im Wahlkampf John F. Kennedys über <strong>die</strong> »CarterMalaise« der 1970er Jahre sowie dem gefährlichenökonomischen Aufstieg Japans in den 1980er Jahrenbis hin zur von Paul Kennedy prognostizierten»imperialen Überdehnung« Amerikas – <strong>die</strong> Thesedes Abstiegs der USA ist ein altes Phänomen.Dennoch sind <strong>die</strong> Vereinigten Staaten auf absehbareZeit außenpolitisch gelähmt und berechenbargeworden. Nicht zuletzt durch <strong>die</strong> Ernennungvon John Kerry als Außen- und ChuckHagel als Verteidigungsminister sind zwei Vietnam-Veteranenunter Präsident Obama ins WeißeHaus eingezogen, <strong>die</strong> sowohl körperlich alsauch seelisch von einer <strong>Sicherheitspolitik</strong> geprägtsind, <strong>die</strong> wie im Irak, vor allem durch kulturelleund politische Ignoranz <strong>gegen</strong>über den Gegebenheitenvor Ort und dem begrenzten Nutzen amerikanischerMilitärmacht gescheitert ist. Cedric Bierganns stu<strong>die</strong>rt Neueste Geschichte, InternationaleBeziehungen sowie Anglistik und Amerikanistikan der Universität Bonn.Quellen und Links:Bericht »Kerry und Hagel – Rückkehr derVeteranen« der Süddeutschen Zeitung vom 20.Dezember 2012Zukunftsstu<strong>die</strong> »Global Trends 2030«des National Intelligence Council vomDezember 2012Stu<strong>die</strong> »Living under Drones«, herausgegebenvon der Standford Law Schoolund der NYU School of Law, September 2012Zusammenfassung des Etatantrags<strong>für</strong> das Fiskaljahr 2013 desUS-Verteidigungsministeriums vomFebruar 2012Strategiepapier »Sustaining US Global Leadership.Priorities for 21st Century Defense« desamerikanischen Verteidigungsministeriums vom3. Januar 2012Nationale Sicherheitsstrategie des Weißen Hausesvom Mai 2010»Quadrennial Defense Review Report« des US-Verteidigungsministeriums vom 1. Februar 2010Kommentar »Pull Those Boots Off The Ground«von John J. Mearsheimer in der Newsweek vom 30.Dezember 2008ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 66


F-16-<strong>Kampf</strong>jets auf dem Gelände der 309th Aerospace Maintenance and Regeneration Group in Tucson, Arizona. Foto: Frank Kovalchek/CC-A 2.0DIE WELT UND DEUTSCHLAND: EINSATZFÄHIGKEITNOTIZFlügellahmTeheran, Damaskus und Pjöngjangkönnen ein wenig durchatmen– solange Washington imBudgetstreit der Parteien feststeckt,bleiben große Teileder US-Luftwaffe am Boden.»Sprich sanft, aber trage einen großen Knüppel«– von Theodore Roosevelt in <strong>die</strong> amerikanischePolitkultur eingeführt, beschreibt <strong>die</strong>ses eigentlichafrikanische Sprichwort seit 1901 mehr oderweniger zutreffend <strong>die</strong> Grundstruktur amerikanischerAußenpolitik. Als großer Knüppel <strong>die</strong>nt vorallem <strong>die</strong> US-Luftwaffe. Mit ihrer Fähigkeit, Militärmachtmassiv an jeden Punkt der Erde zu projizieren,hält sie tatsächliche und potenzielleGegner im Zaum und verschafft der »sanftenStimme« Geltung.Bislang jedenfalls. Denn da sich Republikanerund Demokraten im Streit um den US-Haushaltnicht auf eine Regelung verständigen konnten,traten im März 2013 durch den 2011 verabschiedeten»Budget Control Act« automatische Ausgabenkürzungenin Kraft: Das Verteidigungsministeriummuss dabei <strong>gegen</strong>über dem Vorjahresbudgetvon 670,3 Milliarden US-Dollar ein sattesMinus von rund 42,7 Milliarden verkraften.Davon bleibt auch <strong>die</strong> Luftwaffe nicht verschont.Am 9. April <strong>die</strong>ses Jahres wurde sie von dervollen Wucht der »budget sequestration« getroffen.Um laufende Einsätze und wichtige Beschaffungsprogrammenicht zu gefährden und <strong>die</strong> gefordertenEinsparungen dennoch umzusetzen, griff <strong>die</strong> Führungder US Air Force auf ein Mittel zurück, dasPiloten der Bundeswehr bekannt vorkommen dürfte:Man strich <strong>die</strong> Flugstunden zusammen.44.000 Stunden weniger bis September 2013sollen so mit etwa 591 Millionen Dollar <strong>die</strong> klammenKassen entlasten. Da <strong>die</strong> übrigen 242.000Flugstunden nicht <strong>für</strong> alle Einheiten ausreichen,bleiben 17 Staffeln am Boden, andere verlierenihren »Combat Ready«-Status und erhalten lediglich<strong>die</strong> Flugscheine der Piloten durch ein starkreduziertes Flugprogramm. Knapp ein Drittel alleraktiven fliegenden <strong>Kampf</strong>staffeln der Air Forcesind so bis auf Weiteres nicht oder nur begrenzteinsatzbereit.doeQuellen und Links:Hintergrundbericht »Sequester is anAfterthought in ‘14 Negotiations« derdefensenews.com vom 21. April 2013Bericht der Air Force Times vom 8. April 2013Bericht der defensenews.com vom 5. April 2013ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 67


DIE WELT UND DEUTSCHLAND: RAKETENABWEHRÄpfel <strong>gegen</strong>Birnenvon Dirk SchuchardtBe<strong>für</strong>worter der Raketenabwehrsind voll des Lobes <strong>für</strong> dasisraelische System »Iron Dome«.Sie ziehen aus dessen Einsatzpositive Rückschlüsse <strong>für</strong> <strong>die</strong>Diskussion über <strong>die</strong> territorialeNato-Raketenverteidigung.Tatsächlich aber besitzt derEinsatz der neuestenHigh-Tech-Waffe Israels wenigRelevanz <strong>für</strong> <strong>die</strong>se Debatte.>>>>ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 68


Foto vorherige Seite links: SM-3-Raketentest der US Navy (US Navy); Foto rechts: Iron-Dome-Start im November 2011 (IDF)RAKETENABWEHR>> Als Antwort auf den zunehmenden Raketenbeschussseines Staatsgebietes griffen IsraelsStreitkräfte im November 2012 Einrichtungenund Mitglieder der Hamas an. Im Verlauf der israelischenOperation »Pillar of Defense« verstärkten<strong>die</strong> palästinensischen Extremisten wiederumihre Angriffe mit Raketen auf Ziele in Israel. Soweitfolgte der Konflikt bekannten Mustern, allerdingsverfügten <strong>die</strong> israelischen Streitkräfte<strong>die</strong>ses Mal über eine militärische Fähigkeit, <strong>die</strong>bei internationalen militärischen Beobachterngroßes Interesse ausgelöst hat: das Luftverteidigungssystem»Iron Dome«.Diesem System, das vor allem Flugkörper undArtilleriegeschosse, aber auch Flugzeuge in einerEntfernung von bis zu 70 Kilometern bekämpfenkann, gelang nach Angaben des israelischen Militärsder Abschuss von etwa 84 Prozent der Hamas-Raketen, <strong>die</strong> ansonsten bewohnte Gebiete in Israelgetroffen hätten. Diese bemerkenswerte angeblicheAbschussquote hat mögliche internationaleKäufer <strong>für</strong> das System, wie In<strong>die</strong>n und Südkorea,auf den Plan gerufen und in den Me<strong>die</strong>n sowiezahlreichen Expertenbeiträgen Begeisterung ausgelöst.Der Tenor etlicher <strong>die</strong>ser Beiträge warähnlich: Der Einsatz von Iron Dome habe ein-drücklich belegt, dass Raketenabwehr funktioniere.Dies sei <strong>die</strong> Lektion, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Kritiker der Nato-Raketenabwehr zu lernen haben, schrieb zumBeispiel Karl-Heinz Kamp vom Nato Defense Collegein der FAZ Ende November 2012.Iron Dome könnte zahlreiche Menschenlebengeschützt haben.Erstens, so Kamp, habe <strong>die</strong> hohe Zahl an Abschüssendurch Iron Dome belegt, dass eine erfolgreicheRaketenabwehr sehr wohl technischmöglich sei. Die technischen Schwierigkeiten, vordenen <strong>die</strong> Nato-Raketenabwehr stehe, zu lösen,sei folglich ebenfalls nur eine Frage der Zeit.Zweitens habe Iron Dome den politischen Handlungsspielraumder israelischen Regierung gewahrt,indem es ihr durch Vermeidung hoher zivilerVerluste, und dadurch öffentlichen Drucks,erlaubt habe, eine Bodenoffensive im Gaza-Streifen und so eine weitere Eskalation zu vermeiden.Diese Lehre ließe sich auch auf <strong>die</strong> Raketenabwehrdes Nordatlantikbündnisses übertragen,<strong>die</strong> <strong>gegen</strong>über Staaten wie dem Iran im Fallevon Erpressungsversuchen oder anderem aggressivemVerhalten Handlungsfreiheit sichern soll,so <strong>die</strong> Schlussfolgerung Kamps.Iron Dome weist anscheinend bemerkenswerteFähigkeiten auf und könnte zahlreiche Menschenlebengeschützt haben – auch <strong>die</strong> von Palästinensern,<strong>die</strong> in einem längeren Bodenkriegums Leben gekommen wären. Wie erfolgreichdas System aber letztlich war, lässt sich bislangnicht verlässlich ermitteln, da <strong>die</strong> israelischenZahlen nicht von unabhängiger Seite überprüftwerden können. Namhafte Raketenexperten wieTheodore Postol vom Massachusetts Institute ofTechnology und Richard M. Lloyd, Ingenieurund Berater bei der Tesla Laboratories aus Virginia,bezweifeln aber nach Sichtung ersten Materials<strong>die</strong> Zahlen von israelischer Seite. Sie halteneine Abschussquote von maximal 40 Prozent,vielleicht sogar nur 5 bis 10 Prozent <strong>für</strong> deutlichrealistischer. Ohne unabhängige Überprüfungder Abschussquote lässt sich keine qualifizierteAussage über <strong>die</strong> Leistungsfähigkeit von IronDome machen und auch nicht darüber, ob esdem System gelungen ist, <strong>die</strong> erheblichen technischenSchwierigkeiten, <strong>die</strong> das Abfangen vonRaketen bereitet, zu überwinden.Zudem ließen sich aus der Leistungsfähigkeitvon Iron Dome ohnehin nur wenige Schlüsse auf<strong>die</strong> Überwindung der technischen Schwierigkeitenziehen, vor denen <strong>die</strong> USA und ihre europäischenPartner bei ihrem Raketenabwehrsystemzum Schutz des Bündnisgebietes stehen. IronDome richtet sich mit seinem Splittergefechtskopfhauptsächlich <strong>gegen</strong> ungelenkte und einfacheFlugkörper kurzer Reichweite mit dem Preisvon einigen hundert US-Dollar. Die territorialeNato-Raketenabwehr, basierend im Wesentlichenauf dem SM-3-Abfangflugkörper, richtetsich aber in erster Linie <strong>gegen</strong> Mittelstreckenraketenmit 800 bis 5.500 Kilometern Reichweite,<strong>die</strong> gelenkt sind, eine rund zehnfach höhere Ge->>ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 69


RAKETENABWEHRschwindigkeit aufweisen als <strong>die</strong> palästinensischenRaketen und verhältnismäßig leicht mitTäuschkörpern ausgestattet werden können. DieseMittelstreckenraketen soll <strong>die</strong> Nato-Raketenabwehrzukünftig außerdem außerhalb der Erdatmosphäremit einem direkten Treffer zerstören.Insofern sind natürlich <strong>die</strong> technischen Schwierigkeiten,<strong>die</strong> es beim Abfangen zu meistern gilt,um einiges komplexer als <strong>die</strong>jenigen, mit denenIron Dome zu kämpfen hat.Folgerichtig haben amerikanische BeratungsundForschungseinrichtungen wie das DefenseScience Board, das Government AccountabilityOffice und der National Research Council kürzlichin verschiedenen Stu<strong>die</strong>n <strong>die</strong> Effektivität vonlaufenden Raketenabwehrprogrammen ernsthaftin Frage gestellt. Und während Iron Dome bereitsseine Fähigkeiten unter Gefechtsbedingungenunter Beweise stellen musste, gilt nach wie vor,dass das Rückgrat der Nato-Raketenabwehr, <strong>die</strong>SM-3, bislang zumeist unter höchst wirklichkeitsfernenRahmenbedingungen getestet wurdeund zuletzt bei einem realistischeren Testszenarioam 25. Oktober 2012 keinen Abfangerfolg erzielenkonnte.Aber selbst wenn es gelingen sollte, ein Nato-Raketenabwehrsystem aufzustellen, das ähnlichhohe Abschusszahlen erzielen könnte wie offiziellIron Dome, also über 80 Prozent, würde <strong>die</strong>snicht zwangsläufig mehr politischen Handlungsspielraum<strong>gegen</strong>über etwa einem aggressiven,nuklear bewaffneten Iran bedeuten. Denn hierkommt der wahrscheinlich größte Unterschiedzwischen beiden Systemen zum Tragen, der <strong>die</strong>Vergleichbarkeit ihrer jeweiligen strategischenund politischen Implikationen so zweifelhaftmacht: Iron Dome richtet sich <strong>gegen</strong> konventionelleSysteme, das Nato-System <strong>gegen</strong> nukleare.Zwar wird auch von Nato-Seite bisweilen auf<strong>die</strong> Bedrohung durch konventionelle Raketen verwiesen,aber <strong>die</strong> hohen Kosten des Abwehrsystemslassen sich nur mit der Abwehr nuklearerRaketen rechtfertigen. So kostet ein einziger SM-3 Abfangflugkörper, je nach Version, zwischen 10und 24 Millionen US-Dollar. Dies bedeutet zunächsteinmal, dass das Nato-System sich nichterlauben kann, wie Iron Dome nur <strong>die</strong>jenigen Raketenzu bekämpfen, <strong>die</strong> relativ sicher bewohntesGebiet treffen würden, sondern alle anfliegendenRaketen abfangen muss, um eine nukleare Detonationzu verhindern. Iron Dome musste da<strong>gegen</strong>im vergangenen November nur etwa ein Drittelaller anfliegenden Raketen überhaupt bekämpfen.Selbstverständlich ist es erstrebens- und wünschenswert,wenn es gelingt, von zehn auf Europaabgefeuerten Nuklearraketen acht abzufangen– wie wahrscheinlich ein solches Szenario auchimmer sein mag. Allerdings bedeutet, in <strong>die</strong>semBeispiel, <strong>die</strong> erfolgreiche Verbringung von immernoch mindestens zwei Nuklearsprengköpfen inihre Ziele eine glaubwürdige Abschreckung undwürde der Nato in einem Konflikt keinesfallseine gestiegene Handlungsfreiheit verschaffen.Diese wäre nur gegeben, wenn mit hundertprozentigerWahrscheinlichkeit alle Nuklearwaffeneines Aggressors vernichtet beziehungsweiseabgefangen werden könnten – eine Zusage, <strong>die</strong>Militärs ihrer politischen Führung auf absehbareZeit nicht werden geben können.Der möglicherweise erfolgreiche Einsatz vonIron Dome lässt also weder Rückschlüsse auf <strong>die</strong>technische Machbarkeit territorialer Raketenabwehrzu noch <strong>die</strong> Folgerung, ein solches Systemkönnte der Nato mehr Handlungsspielraum ineinem Konflikt mit nuklear bewaffneten Aggressorenverschaffen. Allerdings lassen sich ausdem Einsatz von Iron Dome durchaus Schlüsseziehen, <strong>die</strong> Kritiker von Raketenabwehrsystemenin ihren Ansichten bestätigen.Be<strong>für</strong>worter der Raketenabwehr – wie auch<strong>die</strong> deutsche Bundesregierung – argumentieren,Das Rückgrat der Nato-Raketenabwehrwurde bislang eher unter wirklichkeitsfernenRahmenbedingungen getestet.das Vorhandensein eines effektiven Abfangsystemsauf einer Seite schrecke eine Gegenseitevom Erwerb und dem Einsatz von Raketen ab.Insbesondere der Blick auf <strong>die</strong> sicherheitspoliti->>ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 70


RAKETENABWEHRsche Situation Israels lässt <strong>die</strong>ses Argument aberzweifelhaft erscheinen: Nicht nur rüsten sowohlHamas als auch Hisbollah ihre Raketenarsenale,den israelischen Abwehrsystemen zum Trotz,massiv auf – es ist auch davon auszugehen, dassDirk Schuchardt ist Wissenschaftlicher Mitarbeiterder Akademie der Bundeswehr <strong>für</strong> Informationund Kommunikation. Der Beitrag entstand ausschließlichneben <strong>die</strong>ser Tätigkeit und gibt <strong>die</strong> persönlicheAuffassung des Autors wieder.Offensive Raketensysteme bleiben deutlich günstigerals der Aufbau einer Raketenabwehr.<strong>die</strong>se Raketen in zukünftigen Konflikten einezentrale Rolle spielen werden, eben wie in derOperation »Pillar of Defense« und anderen vergangenenKonflikten. Nicht nur versagt <strong>die</strong> angenommene,abschreckende Wirkung der Raketenabwehr:vielmehr findet genau der Rüstungswettlauf»im Kleinen« statt, vor dem <strong>die</strong> Kritiker derRaketenabwehr warnen, und der sich »im Großen«<strong>gegen</strong>wärtig mit Blick auf das chinesischeNuklearwaffenarsenal als Antwort auf <strong>die</strong> US-Raketenabwehr vollzieht.Natürlich lässt sich <strong>die</strong> Situation im NahenOsten nicht einfach auf <strong>die</strong> Nato-Raketenabwehrübertragen, da beispielsweise <strong>die</strong> Raketen derHamas und Hisbollah sehr viel preiswerter undeinfacher zu beschaffen sind als etwa <strong>die</strong> iranischenMittelstreckensysteme. Dies demonstriertaber noch einen zweiten Punkt: Die Anschaffungvon offensiven Raketensystemen ist deutlichgünstiger als der Aufbau einer Raketenabwehr.Besonders in Zeiten knapper Verteidigungshaus-halte sollten sich politische Entscheidungsträgerdaher der erheblichen Kosten der Raketenabwehrbewusst sein.Zusammengenommen bedeutet das alles, dassder Einsatz von Iron Dome nur wenig zu der Diskussionum <strong>die</strong> territoriale Raketenabwehr derNato beiträgt. Die zugrundeliegenden Bedrohungen,<strong>die</strong> Einsatzszenarien, <strong>die</strong> Rahmenbedingungen,<strong>die</strong> technischen Anforderungen und <strong>die</strong> strategischenImplikationen der beiden Systeme sindda<strong>für</strong> zu verschieden. Letztlich bleibt <strong>die</strong> Nato-Raketenabwehr ein System, das <strong>die</strong> Allianz durcheinen gemeinsamen Beitrag zur Bündnisverteidigungstärkt und im Falle eines Falles den Schadeneines Angriffs reduzieren kann.Weitere Vorzüge, <strong>die</strong> ein Gefechtsfeldsystemwie Iron Dome möglicherweise besitzt, sind nichtzu erwarten, und im Falle der Nato-Raketenabwehrkommen noch erhebliche Nachteile wiezum Bespiel das gespannte Verhältnis zu Russlandund Folgen <strong>für</strong> <strong>die</strong> nukleare Abrüstung undRüstungskontrolle hinzu. Es gilt also weiterhin,<strong>die</strong> Vorzüge und <strong>die</strong> Nachteile einer territorialenRaketenabwehr klar zu benennen und vor allemum <strong>die</strong> Unterschiede zu einer strategischen»missile defense« zu wissen.Quellen und Links:Bericht »Weapons Experts Raise Doubts AboutIsrael’s Antimissile System« in der New York Timesvom 21. März 2013.Bericht »Government Accountability Office SeesFlaws in Missile Defense Plan« in Arms ControlToday, Ausgabe März 2013Hintergrundbericht » Israel’s Antimissile SystemAttracts Potential Buyers« der New York Timesvom 29. November 2012Analyse »Making Sense of Ballistic MissileDefense« des National Research Council,Washington D.C., 2012Bericht »Science and Technology Issues on EarlyIntercept Ballistic Missile Defense Feasibility« desDefense Science Board vom September 2011ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 71


Fotos: CinephilDIE WELT UND DEUTSCHLAND: DOKUMENTARFILM95 Minuten KlartextSechs ehemalige Schin-Beth-Chefs erzählen in»Töte zuerst« ihre Sicht auf den Nahost-Konflikt– schonungslos, spannend und selbstkritisch.Dem israelischen Dokumentarfilmer Dror Morehist mit seiner neuesten Arbeitein beeindruckendes Werk gelungen.>> Über Benjamin Netanjahus Filmgeschmack ist nicht gerade viel bekannt,einzig: »Schomrei ha-Saf – Hüter der Schwelle« hat der israelische Premierbisher nicht gesehen und das nach Angaben seines Pressesprechers auchnicht vor. Dror Moreh, der Regisseur des Films, findet, das sage mehr überNetanjahu aus, als über seine Dokumentation. Moreh hat alle sechs nochlebenden ehemaligen Chefs des Inlandgeheim<strong>die</strong>nstes Schin Beth vor seineKamera interviewt. Das alleine ist bemerkenswert.Noch beeindruckender ist indes <strong>die</strong> Botschaft, <strong>die</strong> <strong>die</strong>se Männer unisono verkündenund <strong>die</strong> enorme Sprengkraft in sich birgt: Die politische Elite des Landes>>ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 72


DOKUMENTARFILMDa ist Avraham Schalom, Veteran der einstigen Haganah-Elite-Truppe Palmach,Mitglied des Sonderkommandos, das Adolf Eichmann in Argentinienaufspürte und nach Israel entführte, wo er vor Gericht gestellt wurde, und ander Spitze des Inlandsgeheim<strong>die</strong>nstes von 1981 bis 1986. Da sind Jaakov Peri,der dem »Scherut Bitachon – Sicherheits<strong>die</strong>nst« seit 1966 angehörte und von1988 bis 1995 dessen Direktor war, und Carmi Gillon, in dessen kurze Amtszeit1995/96 <strong>die</strong> Ermordung Jitzchak Rabins fiel.»Ich wollte keine Terroristen mehrvor Gericht sehen.«Zeitzeugenverhöre und Computeranimationen: »Töte zuerst« orientiert sicham Stil von Erol Morris‘ »The Fog of War«.Avraham Shalom, Direktor des Schin-Beth von 1981 bis 1986führt Israel in eine Katastrophe, <strong>die</strong> Besatzung ist unmoralisch und eine Zwei-Staaten-Lösung dringend notwendig, derzeit aber in weiter Ferne. Mehr Klartextgeht nicht. 95 Minuten lang. Ihre Botschaft kommt ohne pathetisches Tremoloin der Stimme daher und mäht das politische Establishment Israels gleichsammit der Wucht eines Sturmgewehrs nieder, zu vernichtend ist ihr Urteil.Moreh ist mit seiner Dokumentation ein cineastisches Meisterwerk gelungen,hochpolitisch und intelligent, eine Dokumentation, spannungsgeladenerund komplexer als jeder Thriller. Dieser Film fesselt den Zuschauer vonder ersten bis zur letzten Minute, weil <strong>die</strong> Realität schonungslos und damitauch hoffnungslos gezeigt wird; <strong>die</strong> Nominierung <strong>für</strong> einen Oscar war <strong>die</strong>Bestätigung hier<strong>für</strong>.Die sechs Schin-Beth-Männer sind <strong>die</strong> »Schomrei ha-Saf«, <strong>die</strong> Hüter jenerSchwelle, <strong>die</strong> infolge des Sechstagekrieges 1967 entstanden ist, als Israel nebender Sinai-Halbinsel und den Golanhöhen auch das Westjordanland undden Gazastreifen besetzte. An <strong>die</strong>ser Türschwelle Israels stehen seither, sointerpretiert es der Film, <strong>die</strong> palästinensischen Terroristen.Die Schin-Beth-Chefs sind dem Regierungschef direkt unterstellt und beratenihn in Sicherheitsfragen; <strong>die</strong> sechs, <strong>die</strong> Moreh interviewt hat, waren beiallen relevanten Entscheidungen über Krieg oder Frieden in den letzten Jahrzehntendabei. Sie alle sind keine Tagträumer, verblendete Spinner oder Pazifisten– hier sprechen knallharte Realpolitiker und hochdekorierte Soldaten;ihre Biographien geben den Worten besonderes Gewicht.Dazu gehört, als zentrale Figur, Ami Ayalon, der als Mitglied der Eliteeinheit»Schajetet 13« mit der höchsten militärischen Ehrung des Landes Israel ausgezeichnetworden war und Oberbefehlshaber der israelischen Marine war,bevor er Gillons Nachfolge antrat. In seiner Zeit als Direktor bis 2000 sollteer den in seiner Truppenmoral getroffenen Dienst wieder aufrichten. Er saßspäter als Mitglied der Arbeiterpartei in der Knesset.Die Reihe komplettieren Avi Dichter, ehemaliger Angehöriger der Kommandoeinheit»Sajeret Matkal«, 2012/13 Minister <strong>für</strong> Heimatschutz im KabinettNetanjahu und davor von 2000 bis 2005 Schin-Beth-Chef mit Lieblingswerkzeug»targeted killings«, sowie dessen Nachfolger bis 2011 Juval Diskin,der als Soldat in einer Spezialeinheit an der Südfront ge<strong>die</strong>nt hatte, später<strong>für</strong> den Dienst den Nablus-Distrikt koordinierte und während des Ersten Libanonkriegsin Beirut und Sidon im Einsatz war.Dass ausgerechnet <strong>die</strong>se sechs Männer nun vor laufender Kamera ein vernichtendesUrteil über <strong>die</strong> <strong>gegen</strong>wärtige Regierung und <strong>die</strong> politische Kaste>>ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 73


DOKUMENTARFILMinsgesamt fällen, ist auch angesichts der vorherrschenden Stimmung in Israelbeachtenswert. Ayalon wiederholt und betont damit eine Friedensinitiative,<strong>die</strong> er gemeinsam mit Shalom, Geri und Pion sowie dem PalästinenserSari Nusseibeh, dem Präsidenten der Jerusalemer Al-Quds-Universität,schon 2003 vorgebracht hatte.Den Schin-Beth-Männern geht es nicht darum, das wird klar, Israelschutzlos auszuliefern. Sie wollen keinen staatlichen Selbstmord begehen.Sie wollen Sicherheit. Und sie wollen Frieden. Da<strong>für</strong> braucht es, so <strong>die</strong> Sicherheitsexperten,aber mehr als <strong>die</strong> Taktiken der Geheim<strong>die</strong>nste. Da<strong>für</strong>brauche es Politiker, <strong>die</strong> eine Strategie vorgeben, innerhalb derer <strong>die</strong> Taktikenangewandt werden. Sonst seien <strong>die</strong>se sinnlos, nackte Gewalt als Antwortauf selbige, was wiederum Gewalt auslöse und so eine Spirale des Hassesfortlaufend nähre. Doch in ihren Augen hat <strong>die</strong> Politik seit 1967 keine Strategiein Bezug auf das »Palästinenserproblem«.Dabei ist es der Regelfall und ein natürlicher Reflex, das ein Volk bei Bedrohungvon außen im Inneren politisch zu extremen Reaktionen neigt nachrechts rückt – mehr vielleicht noch, weil in dessen kollektivem GedächtnisRegisseur Dror Moreh vermitteltseine Botschaft mit der Wucht einesSturmgewehrs.Zeitzeugenverhöre und Computeranimationen: »Töte zuerst« orientiert sicham Stil von Erol Morris‘ »The Fog of War«.sind zweitausend Jahre Verfolgung fest verankert. Und an Israels Grenzen rumortes: Syrien zerfällt in Schutt und Asche und ertrinkt im Blut, im Libanonlauert <strong>die</strong> schiitische Hizbullah-Miliz, im Gazastreifen herrscht <strong>die</strong> nicht minderradikale Hamas und in Ägypten regiert ein Präsident der Muslimbruderschaft,der Juden als »Nachkommen von Affen und Schweinen« bezeichnet.Kurzum: Die Lage ist düster. Auch das ist eine Erklärung, warum der konservativeLikud-Block von Benjamin Netanjahu, wenngleich mit herben Verlusten,<strong>die</strong> jüngsten Wahl <strong>für</strong> sich entscheiden konnte. Die Sehnsucht nach einemstarken Mann, einer Führungspersönlichkeit, ist groß – ob der Wahlsiegerein solcher wirklich ist, steht auf einem anderen Blatt.Es gab in Israel einen Politiker, der <strong>für</strong> viele im Land <strong>die</strong>ser starke Mannwar – und zugleich <strong>für</strong> Frieden bereit: Jitzchak Rabin, der vom Feldherrn zumFriedensstifter avanciert war und dabei stets Realpolitiker blieb. Er ließ <strong>die</strong>Sicherheit des jüdischen Staates nie außer Acht, aber seine persönliche. CarmiGillon hatte seinen Premier gebeten, angesichts zunehmender Hetze vonrechts <strong>gegen</strong> seine Friedenspolitik, mehr persönliche Sicherheitsmaßnahmenzu treffen. »Da bekam ich was zu hören!«, erinnert sich Gilon, und Rabin habeihm gesagt: »Ich war in der Palmach, ich trage keine kugelsichere Weste!«Am 4. November 1995 wurde Rabin von dem radikal-religiösen Jigal Amirermordet. Und damit auch der seinerzeit avisierte Friedensplan. Begraben,wie es scheint – ohne Aussicht auf Auferstehung. Dror Moreh hat nun mitseinen sechs Protagonisten Männer versammelt, <strong>die</strong> aus ähnlichem Holz geschnitztsind, wie es Rabin war, und <strong>die</strong> aus ihrer Verehrung <strong>für</strong> den Generalund Friedensnobelpreisträger keinen Hehl machen.Sie scheuen sich ebenso wenig, vor der Weltöffentlichkeit ethische Fragenzu beantworten. Etwa, was es <strong>für</strong> ein Gefühl ist, mit einem Befehl ein Menschenlebenauslöschen zu können. Avraham Shalom gibt unverwunden zu,>>ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 74


DOKUMENTARFILMwie er 1984 den Befehl gab, zwei gefangen gesetzten Terroristen und Busentführern»den Rest zu geben«. »Weil ich keine Terroristen mehr vor Gerichtsehen wollte«, erklärt der großväterlich wirkende Shalom seine Order aufNachfrage von Moreh aus dem Off. Das verstärke den Terror doch nur. »BeimTerrorismus gibt es keine Moral«, rechtfertig sich Shalom und stellt <strong>die</strong> Gegenfrage:»Welche Moral hat ein Terrorist?«<strong>die</strong> sechs Geheim<strong>die</strong>nstpraktiker von ihrer Arbeit. Das Ziel: Maximale Sicherheit<strong>für</strong> Israel. Die Taktik: Spionage, Folter, gezielter Mord – das ganzeSpektrum geheim<strong>die</strong>nstlicher Praktiken.Und Avi Dichter – der wohlgemerkt <strong>gegen</strong>wärtig im Netanjahu-Kabinettein Ministeramt bekleidet – bedauert noch heute, dass ein Treffpunkt derHamas-Führung im Gazastreifen mit einem zu schwachen Sprengkörper»Wenn man den Schin Bethverlässt, wird man ein bisschenzu einem Linken.«Jaakov Peri, Direktor des Schin-Beth von 1988 bis 1995Juval Diskin scheint <strong>die</strong> moralische Frage differenzierter zu sehen: Er erinnertan den von Gerald Seymour 1975 geprägten Satz: »Für den einen ist esein Terrorist, <strong>für</strong> den anderen ein Freiheitskämpfer.« Und Jaakov Peri, derden Schin Beth während der Ersten Intifada leitete, konstatiert: »Wenn manden Schin Beth verlässt, wird man ein bisschen zu einem Linken.«Dror Moreh, der bereits mit einer gefeierten Dokumentation über ArielScharon vor einigen Jahren auf sich aufmerksam machte, ist ein bekennenderLinker. Das macht den 51-Jährigen angreifbar. So erklärte der stellvertretendeisraelische Ministerpräsident Mosche Yaalon im Armeeradio jüngst, Moreh seieinseitig vorgegangen und habe Aussagen so gewählt, »dass sie in sein Narrativpassen, das meiner Meinung nach ein palästinensisches Narrativ ist.«Zumindest das israelische Fernsehpublikum wird sich ein differenzierteresBild davon machen können, hat doch Channel 2 bereits angekündigt, dassman <strong>die</strong> Ausstrahlung einer fünfstündigen Langfassung plane. Aber auchschon in den eineinhalb Stunden der regulären Doku – <strong>die</strong> in DeutschlandArte und der NDR unter dem Titel »Töte zuerst« im März gezeigt haben –erhärtet sich der Verdacht Yaalons nicht. Schonungslos und kühl berichtenbombar<strong>die</strong>rt wurde und deshalb alle flüchten konnten. »Selbst Scheich Yassinsoll davon gerannt sein«, sag Dichter und meint damit den an den Rollstuhlgefesselten ehemaligen spiritus rector der Hamas. Er lacht sarkastisch.Es ist das einzige Mal, das im Film ein Lachen zu hören ist. Zu ernst ist derFilm, der das Dilemma des Nahost-Konflikts so anschaulich zeigt, wie es bishernoch keiner geschafft hat.Dominik Peters»Töte zuerst« / »The Gatekeepers«Cinephil / Sony Pictures Classics, Israel,2012, 95 Minutenauf DVD ab 9. Juli 2013ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 75


LITERATUR: MILITÄRPOLITISCHE ANALYSEVom Kriege mit,unter, <strong>gegen</strong> und<strong>für</strong> Zivilisten2005 lieferte General Sir Rupert Smithmit »The Utility of Force« einemaßgebliche Untersuchung militärischer Gewaltin der modernen Welt.Auf Deutsch liegt das Buch bis heute nicht vor –dabei wäre <strong>die</strong> Lektüre geradesicherheitspolitischen Entscheidungsträgernder Bundesrepublik zu empfehlen.Grunderfahrung der »Neuen Kriege«:Trauernde in Sarajevo 1992Foto: Mikhail Evstafiev/CC BY-SA 3.0>> Woran liegt es nur, dass <strong>die</strong> britische Debatte zu außen- und sicherheitspolitischenThemen der hiesigen – zumindest gefühlt – so weit voraus ist?Vielleicht ja daran, dass Bücher wie »The Utility of Force« dort nicht nur geschrieben,sondern auch gelesen werden. Bereits kurz nach seinem Erscheinenim Jahr 2005 avancierte das Buch zur Pflichtlektüre der Stu<strong>die</strong>renden anpolitikwissenschaftlichen Lehrstühlen auf der gesamten Insel – ist aber immernoch nicht ins Deutsche übersetzt worden.Ein Grund mehr, es der hiesigen »strategic community« einmal wärmstensans Herz zu legen. Denn in dem Buch geht es um nicht weniger als einegrundlegende Analyse der Praxis militärischer Gewaltanwendung durchwestliche Demokratien in der heutigen Welt. Der Autor weiß, wovon erschreibt, denn Sir Rupert Smith war 40 Jahre Soldat der britischen Armee –zuletzt im Rang eines Vier-Sterne-Generals. Seine Erkenntnisse zum modernenKriegshandwerk, <strong>die</strong> er dem Leser auf rund 400 Seiten weitergeben will,lernte er unter anderem in Nordirland, am Persischen Golf und in Bosnien.Seine grundlegende, und das Buch leitende, Erkenntnis aus <strong>die</strong>ser Dienstzeitfindet sich bereits auf Seite eins. Sie ist kurz und prägnant: Es gibt keinenKrieg mehr – »war no longer exists.« Unter »Krieg« versteht Smith dabeivor allem <strong>die</strong> althergebrachte Vorstellung davon, nämlich den klassischen,industriell geführten, zwischenstaatlichen Krieg. Dieser ist nach Smith passéund wird durch ein neues Paradigma ersetzt: »war amongst the people«, einschwer akkurat ins Deutsche zu übersetzender Ausdruck. Smith definiert <strong>die</strong>sesneue Verständnis vom Krieg als den Umstand, dass <strong>die</strong> Schlachtfeldermitten unter uns sind: »the people in the streets and houses and fields – all>>ADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 76


MILITÄRPOLITISCHE ANALYSERupert Smith alsGeneralmajor im Golfkrieg1991.Foto: MoD UK»Es gibtkeinen Kriegmehr.«the people, anywhere – are the battlefield.« Militärische Auseinandersetzungenkönnten demnach überall stattfinden – mitten unter Zivilisten, <strong>gegen</strong>Zivilisten, zum Schutz von Zivilisten. »Civilians are the targets, objectives tobe won, as much as an opposing force.« Welche Veränderungen <strong>die</strong>ses neueParadigma <strong>für</strong> <strong>die</strong> Anwendung militärischer Gewalt bedeutet, erläutert Smithanschaulich an Beispielen aus seiner eigenen Karriere. Insbesondere seineAusführungen zum kleinen, aber entscheidenden Unterschied zwischen»deployment« und »employment« militärischer Gewaltmittel sind so anschaulichwie aufschlussreich.Wo Licht ist, ist aber bekanntlich immer auch Schatten. So darf man nichtzuletzt mit Blick auf <strong>die</strong> aktuellen Entwicklungen in Ostasien mit gutemGrund hinterfragen, ob der zwischenstaatliche Krieg tatsächlich so obsoletist, wie Smith behauptet. Zudem ist sein Buch sicher keine leichte Lektüre –stellenweise muss man sich geradezu durchbeißen. So erklärt er beispielsweiseim Mittelteil lang, zu lang, das Paradigma des industriellen Krieges angeschichtlichen Beispielen von Napoleon bis zum Golfkrieg. Historiker dürftendabei wegen der zeitweise etwas kühnen Analyse historischer Begeben-heiten einige Male hart schlucken müssen. Da – anders als beispielsweise beiHerfried Münklers »Neue Kriege« – Smiths Kernargument aber nicht mit derAkkuratesse seiner historischen Analyse steht und fällt, mag man darüberhinweglesen. Ebenso sollten Clausewitz-Liebhaber bei so mancher kreativerAuslegung von »Vom Kriege« besser einfach weiterblättern. Ein»zeitgemäßes Update« des alten Preußenstrategen, wie es etwa seinerzeitder Evening Standard in einer Besprechung versprach, ist »The Utility ofForce« mit Sicherheit nicht.Auch wenn Smith demnach nicht das Buch über den modernen Krieg vorgelegthat – seine Überlegungen zwingen durch <strong>die</strong> Lektüre zum Überprüfenliebgewonnener Denkstrukturen und Deutungsmuster. Insbesondere dort,wo sie sich direkt auf seine unmittelbaren Erfahrungen beziehen, sind <strong>die</strong>Erkenntnisse, <strong>die</strong> er präsentiert, von bemerkenswerter Klarheit, seine darausresultierenden Forderungen an <strong>die</strong> politischen Entscheidungsträger richtigund wichtig. »The Utility of Force« liefert so vielleicht nicht alle Antworten,wirft aber essentielle Fragen auf, bezieht eine begründete Position und fordert<strong>die</strong> weiterführende Debatte heraus. Das macht das Buch auch acht Jahrenach seinem Erscheinen zur gewinnbringenden Lektüre.doeRupert Smith»The Utility of Force. The Art of War in theModern World«London (Penguin) 2005, Taschenbuch,448 Seiten, circa 13,00 EuroADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 77


Foto: MoD UK/Owen KingIMPRESSUMAUSBLICKADLAS <strong>Magazin</strong> <strong>für</strong> Außen- und <strong>Sicherheitspolitik</strong>ist aus dem »Aktualisierten Dresdner InfoLetter <strong>für</strong> Außen- und <strong>Sicherheitspolitik</strong>«des Dresdner Arbeitskreises <strong>für</strong> Sicherheits- und Außenpolitik hervorgegangen undbesteht seit 2007. Er erscheint seit 2010 als bundesweites, überparteiliches, akademischesJournal <strong>für</strong> den Bundesverband <strong>Sicherheitspolitik</strong> an Hochschulen (BSH).Der ADLAS erscheint quartalsweise und ist zu beziehen über www.adlas-magazin.de.Herausgeber: Stefan Döllingc/o Bundesverband <strong>Sicherheitspolitik</strong> an HochschulenZeppelinstraße 7A, 53177 BonnRedaktion: Stefan Dölling (doe), Sophie Eisentraut (eis), Sebastian Hoffmeister (hoff),Dieter Imme (dim), Christian Kollrich (koll) (V.i.S.d.P.), Marcus Mohr (mmo), SebastianNieke (nik), Isabel-Marie Skierka (isk), Stefan Stahlberg (sts)Layout: mmoAutoren: David Adebahr, Menko Behrends, Cedric Bierganns, Robert Chatterjee,Konstantin Flemig, Gunnar Henrich, Hartmut Hinkens, Dorothea Jestädt,Florian Lewerenz, Dominik Peters, Friedemann Schirrmeister, Dirk Schuchardt,Vu Truong, Frank WilkerDanke: mseiFotos Seite 51: (von lins oben nach rechts unten) Fotos: US Navy/Chad J. McNeeley,US Navy/Denver Applehans, David W./CCA 2.0 Generic, Vladimir V. Samoilov CCA-SA2.5 GenericCopyright: © ADLAS <strong>Magazin</strong> <strong>für</strong> Außen- und <strong>Sicherheitspolitik</strong>Zitate nur mit Quellenangabe. Nachdruck nur mit Genehmigung. Für <strong>die</strong> Namensbeiträgesind inhaltlich <strong>die</strong> Autoren verantwortlich; ihre Texte geben nicht unbedingt <strong>die</strong>Meinung der Redaktion oder des BSH wieder.DER BUNDESVERBAND SICHERHEITSPOLITIK AN HOCHSCHULENverfolgt das Ziel, einen angeregten Dialog über Außen- und <strong>Sicherheitspolitik</strong> zwischenden Universitäten, der Öffentlichkeit und der Politik in Deutschland herzustellen.Durch seine überparteilichen Bildungs- und Informationsangebote will derBSH vor allem an den Hochschulen eine sachliche, akademische Auseinandersetzungmit dem Thema <strong>Sicherheitspolitik</strong> fördern und somit zu einer informiertenDebatte in der Öffentlichkeit beitragen. Unterstützt wird der BSH durch seine Mutterorganisation,den Verband der Reservisten der Deutschen Bundeswehr. Weitere Informationen zum BSH gibt es unter www.sicherheitspolitik.de.Ausgabe 3/2013SchwerpunktUNKLARE VERHÄLTNISSEMaritime SicherheitADLAS 2/2013 ISSN 1869-1684 78

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