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MARITIME SICHERHEIT - Adlas - Magazin für Sicherheitspolitik

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ADLAS<strong>Magazin</strong> <strong>für</strong> Außen- und <strong>Sicherheitspolitik</strong>AUSGABE 3/20137. JahrgangISSN 1869-1684CHINAS SEEGRENZENTauziehen in trüben GewässernDEUTSCHES UN-ENGAGEMENTUnauffällige PremiereSCHWERPUNKT<strong>MARITIME</strong> <strong>SICHERHEIT</strong>ADLAS www.adlas-magazin.de3/2013 ISSN 1869-1684 Herausgegeben <strong>für</strong> den 1


Titelfoto: Crown Copyright / Keith Morgan Foto diese Seite: www.mediaserver.hamburg.deEDITORIALDie Deutschen lieben das Meer: Umfragen von Tourismusverbänden zufolgeverbringen knapp 63 Prozent ihren Urlaub am liebsten an der Küste. Leiderendet der maritime Horizont mindestens ebenso vieler Landsleute ambewachten Badestrand. Für ein Land, dessen Reedereien die weltweit größteContainer- und drittgrößte Handelsflotte kontrollieren, ist das ein schwacherBefund.Grund genug, mit dieser ADLAS-Ausgabe etwas Nachhilfe zu leisten. EinenCrashkurs »maritime Sicherheit« hat Sebastian Bruns <strong>für</strong> uns zusammengestellt(Seite 31). Sein Fazit: Lesen lohnt, aber noch gibt es mehr empfehlenswerteLiteratur auf Englisch als auf Deutsch.Fern der heimischen Küsten erinnert eine sich abzeichnende maritimeRüstungsspirale im Westpazifik daran, dass in Ostasien die Uhren anders ticken:Großmachtpolitik wie im Europa des frühen 20. Jahrhunderts scheinthier an der Tagesordnung. Besonders die Territorialkonflikte zwischen Chinaund Taiwan sowie der Volksrepublik mit einer ganzen Reihe von maritimenNachbarn – allen voran Japan – um kleinste Inseln betonen, wie sehr es inder Region um <strong>Sicherheitspolitik</strong> in einem engeren Sinn geht. Unsere AutorenTobias Burgers (Seite 14), Franziska Plümmer (Seite 24), Christoph Unrast(Seite 20) und Tore Wethling (Seite 7) nähern sich diesem Aspekt ausunterschiedlichen Richtungen. Damit wird zugleich klar, dass wir mit demSchwerpunkt »Maritime Sicherheit« keine scharfe Trennlinie zu unserer Reihe»Konfliktzone Ostasien« ziehen können.Natürlich fällt unter das Hauptthema mehr als Flottenrüsten und Gebietsstreitigkeiten.Sicherheit zur See im erweiterten Sinne umfasst Phänomenwie organisierte Kriminalität und internationalen Terrorismus, die häufiggenug als Piraterie auftreten, aber auch die Sensibilität des Seehandels <strong>für</strong>alle Störungen in der Logistikkette oder die Folgen des Klimawandels. Aufletztere weist Vanessa Tiede hin: Am Beispiel von – im wahrsten Sinne desWortes – untergehenden Staaten gibt sie uns einen Vorgeschmack auf dieProbleme, die uns bei steigenden Wasserpegeln künftig erwarten (Seite 72).Knapp die Hälfte der Weltbevölkerung lebt in der Nähe von Küsten – Tendenzsteigend.haben wir befragt, welche Aufgaben in Sachen Verteidigungspolitik denn aufder Agenda des 18. Bundestags stehen. (Seite 98)Ergänzend dazu haben wir die »Piratin« Carolin Mahn-Gauseweg interviewt(Seite 107). Auch wenn zu Redaktionsschluss noch nicht klar ist, obihre Partei die Fünf-Prozent-Hürde überwindet – die Piratenpartei Deutschlandserlebt gerade einen Diskussionsprozess zur sicherheitspolitischen Positionsbestimmung,der vielleicht exemplarisch sein kann <strong>für</strong> das, was außerhalbder etablierten »strategic community« geschieht.Ihre ADLAS-Redaktion»Maritime Sicherheit« hat wenig mitbewachten Badestränden zu tun.Die deutsche Politik indes ist in diesen Zeiten mit dem Wahlkämpfen beschäftigt.ADLAS blickt in die nächste Legislaturperiode: Fünf AbgeordneteADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 2


INHALTSCHWERPUNKT: <strong>MARITIME</strong> <strong>SICHERHEIT</strong>7 TECHNOLOGIE I: Aus heiterem HimmelChina geht mit ballistischen Raketen auf Flugzeugträgerjagd.14 TECHNOLOGIE II: Drohnen über dem PazifikSteht der Stille Ozean vor einem Rüstungswettlauf zwischenden Vereinigten Staaten und der Volksrepublik?20 AUFRÜSTUNG: Stille KonkurrenzChina macht die Schlagzeilen, aber Japan macht mehr richtig.Beide bauen ihre Seestreitkräfte aus, noch aber aneinander vorbei.24 SEEGRENZEN I: Tauziehen in trüben GewässernPekings maritime Gebietsansprüche im westlichen Pazifik steckenim Dilemma zwischen erstarktem Nationalbewusstseinund der wirtschaftlichen Verflechtung mit den Nachbarn.Aufrüsten Seite 2031 FACHLITERATUR I: Mahan war gesternMaritime Lyrik, Prosa und Bildbände gibt es zuhauf – nützlichewissenschaftliche Werke sind in Deutschland eher selten.37 FACHLITERATUR II: LückenfüllerEin Sammelband lässt Fragen offen, belebt aber endlich die Debatte.39 DEUTSCHLAND: Vorhut des SparzwangsIm Zeitgeist von »smart defence« vertieft die Deutsche Marineihre multilaterale Interoperabilität.45 EUROPA: Seebeine <strong>für</strong> BrüsselTrotz vergleichbarer Probleme fehlt es den maritimen Akteurender EU an einer echten gemeinsamen seebezogenen Agenda.48 NOTIZ / ASYMMETRISCHE KRIEGFÜHRUNG: FreibeuterFreischwimmen Seite 45ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 3


INHALT50 PIRATERIE: Die falsche LektionVor Nigerias boomt die Piraterie – und die lokalen Elite verdienenkräftig mit. Wird hier das Beispiel »Atalanta« helfen können?56 PIRATENABWEHR: Tödlicher IrrtumEine indisch-italienische Justizaffäre zeigt, welche Kollateralschädenbewaffneter Schutz vor Piraten nach sich ziehen kann.62 LOGISTIK: »Ein guter Hafen ist schnell und sicher«Frank Martin Heise, Leiter der Hamburger Wasserschutzpolizei, undseine Mitarbeiter müssen täglich den Kompromiss suchen.67 SEEGRENZEN II: Meer ohne MenschenrechteFrontex soll Europas Außengrenzen sicherer machen –und steht in der Kritik wegen mangelnderTransparenz und problematischer Praktiken.Abtauchen Seite 7272 OZEANIEN: Leben ohne LandIhr prognostizierter Untergang mag fern sein, aber ein Paradies sinddie Inselstaaten des Pazifik <strong>für</strong> ihre Bevölkerung längst nicht mehr.REIHE: KONFLIKTZONE OSTASIEN78 TRANSNATIONALE BEDROHUNGEN: Janus über FernostJapan, Südkorea und China gewinnen eine Perspektive auftransnationale Sicherheitsbedrohungen.84 NOTIZ / MINDERHEITENPOLITIK: Fasten verboten86 MENSCHENRECHTE: Deportation in die FluchtHumanitären Verpflichtungen zum Trotz ignoriert China dieMisere der Flüchtlinge aus der Nachbarvolksrepublik.Einsehen Seite 78ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 4


INHALTDIE WELT UND DEUTSCHLAND91 UN-ENGAGEMENT: Unauffällige PremiereDer »Tag des Peacekeepers 2013« war eine historische Besonderheit<strong>für</strong> die Bundesrepublik – und blieb von den Mediennahezu komplett ignoriert. Ein Gastbeitrag von Winfried Nachtwei97 NOTIZ / UN-EINSATZ: Kein zweites Ruanda98 PARLAMENTSVORBEHALT: Parteien zur BundestagswahlADLAS blickt auf vier Jahre voraus und hat fünf Abgeordnete nach dersicherheitspolitischen Agenda <strong>für</strong> die nächste Legislatur befragt.107 MEINUNGSBILDUNG: »Kein Gründungsthema«»Klarmachen zum Ändern« auch in der <strong>Sicherheitspolitik</strong>? CarolinMahn-Gauseweg von der Piratenpartei Deutschland im Gespräch111 POLIZEIMETHODEN: Insel der VergessenenZweieinhalb Jahre nach den Protesten des »Arabischen Frühlings«in Bahrain ist die Bilanz einer Polizeireform mager.117 DATENANALYSE: Schwache SignaleBig Data wird zum Frühwarnsystem <strong>für</strong> Diplomaten und Investoren.2 EDITORIAL3 INHALT59 WELTADLAS121 LITERATUR122 IMPRESSUM UND AUSBLICKWahlkämpfen Seite 98BEDIENUNGSANLEITUNG: Liebe Leserinnen und Leser,wussten Sie schon, dass Sie sich durch den ADLAS nicht nur blättern,sondern dass Sie sich auch durch unser eJournal klicken können?Neben den Internetverknüpfungen, denen Sie über unsere Infoboxen»Quellen und Links« in das World Wide Web folgen können, ist jedeAusgabe unseres <strong>Magazin</strong>s intern verlinkt.Über das Inhaltsverzeichnis können Sie durch das Heft navigieren:Klicken Sie hier einfach auf einen Eintrag, oder das Bild dazu, und schonspringen Sie in unserem PDF-Dokument auf die gewünschte Seite.Am Ende eines jeden Beitrags finden Sie die Text-Endzeichen oder einen Autorennamen. Klicken Sie einmal darauf und schonkommen Sie wieder auf die Seite im Inhaltsverzeichnis, von der aus Sie inden Beitrag gesprungen sind. Welchen Weg Sie auchbevorzugen – wir wünschen Ihnen eine interessante Lektüre!ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 5


<strong>MARITIME</strong> <strong>SICHERHEIT</strong>UNKLARE VERHÄLTNISSEIm 21. Jahrhundertreicht die Palette derBedrohungen <strong>für</strong>die Sicherheitauf den WeltmeerenvomMenschenschmuggelüberPiraterie bis hin zuFlutkatastrophen.Und schlimmsteranzunehmenderFall wäre derKollaps derGlobalisierung,die von denLebensadern derWeltwirtschaftauf See und inHäfen abhängt.Können Marinenund Küstenwachenda nochmithalten?Auslaufzeremonie der USS »Nimitz« im Nordostpazifik, März 2013. Foto: US Navy / Kole E. CarpenterADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 6


TECHNOLOGIE Iden, also paradoxerweise treffen. Zweitens ließesich ein Angriff mit ASBM, in einer Anzahl, diezur Überwindung von Abwehrmaßnahmen ausreicht,beim Start als umfassender Angriff mit,auch nuklear bestückten, ballistischen Raketengegen Landziele interpretieren. Das könnte eineentsprechende Reaktion hervorrufen, solange dieFlugbahnen nicht genau ermittelt sind.Der beste Schutz gegen ASBM besteht <strong>für</strong> einenFlugzeugträger in seiner Beweglichkeit: ASBMsile Defence Program« der USA basiert zum Teilauf landgestützten Abfangraketen und Radaranlagen,weitestgehend aber auf Kreuzern und Zerstörernmit Aegis-Radarsystem und den von diesenSchiffen gestarteten Abfangraketen. Obwohldiese Kombination bereits mehrfach erfolgreichgetestet wurde, bestehen noch Zweifel an der Zuverlässigkeitdes Systems. Das Abfangen ballistischerAnti-Schiffsraketen ist technisch sehr anspruchsvollund noch nie im Ernstfall erprobtDER NACHTEIL DES AUFWENDIGEN SYSTEMS:WARNSCHÜSSE SIND UNMÖGLICH.müssen erst auf ein Zielgebiet eingestellt werden, worden. Allerdings haben die USA während derwährend das anvisierte Schiff dieses eventuell Koreakrise im Frühjahr dieses Jahres erstmalswieder verlassen hat, nachdem jene gestartet wurden.Die amerikanischen Träger haben allerdings Altitude Air Defense« (THAAD) nach Guam ver-eine Batterie der landgestützten »Terminal Highkeine Möglichkeit, ASBM aktiv zu bekämpfen, ohnesich in deren Reichweite zu begeben. Die weit-einem Umkreis von 200 Kilometern um die amelegt.Mit dieser könnten im Falle eines Falles ingehend gefahrlose Bekämpfung der Startanlagen rikanische Inselbasis auch ballistische Raketenwäre wahrscheinlich nur mit von U-Booten gestartetenCruise Missiles möglich, sofern es sich nicht ASBM sind aber nur eine Komponente in denaus China abgefangen werden.um mobile Systeme handelt. Bei beweglichen chinesischen Plänen, um der wahrgenommenenStartrampen wäre entscheidend, wie lange diese Bedrohung durch amerikanische TrägerkampfgruppenHerr zu werden. In einem Konflikt mitbrauchen, um die Feuerbereitschaft herzustellen.Die USA verfügen zudem über ein umfassendesNetz von Aufklärungssatelliten zum Erfassen tiert, der zum einen in der Lage ist, sie auf offe-China wären die USA mit einem Gegner konfron-und Verfolgen ballistischer Raketen. Daher ist es nem Ozean anzugreifen, zum anderen aber aucheher unwahrscheinlich, dass ein Überraschungsangriffmit ASBM gegen eine Trägerkampfgruppe des basiert auf technisch relativ fortgeschrittenenüber eine starke Küstenverteidigung verfügt. Bei-möglich ist. Das daran gekoppelte »Ballistic Mis- Mitteln, die zudem in großen Stückzahlen vorhan- >>Mobile Startrampen der DF-21C bei einerParade 2010. Diese Mittelstreckenraketeist der nächste bekannte Verwandte der DF-21D,dem »carrier killer«. Der ballistischeAnti-Schiff-Flugkörper hat eine Reichweitevon knapp 3.000 Kilometern, also rund 1.600Seemeilen.Bildquelle: www.ausairpower.net (letzter Abruf: 5.9.2013)ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 9


TECHNOLOGIE Iden sind: Mit Schnellbooten sowie landgestütztenSeezielraketen könnten die chinesischen StreitkräfteSättigungsangriffe gegen Flugzeugträgerführen, bei denen die Verteidigung der Kampfgruppeüberwunden wird, indem mehr Flugkörperangreifen, als bekämpft werden können.Mit vielen der Waffensysteme, über die Chinaheute verfügt, sah sich die amerikanische Marineschon im Kalten Krieg mit der Sowjetunion konfrontiert.Zu großen Teilen besitzen die VolksbefreiungsarmeeLangstreckenbomber. Mit diesen Waffen könntedie Volksbefreiungsarmee die Kampfentfernungweitestgehend selbst bestimmen, um die US-Trägergruppenauf Distanz zu halten. Die Volksrepublikwäre auch in der Lage, innerhalb der »ZweitenInselkette« alle US-Luftstützpunkte zu zerstörenoder durch politischen Druck auf die StationierungsländerJapan und die Philippinen deren Nutzungzur Verfügung steht –, dürften allerdings nochetwa zwei Jahre vergehen. Um dann wirklich voneiner funktionierenden, allzeit einsatzbereitenTrägerwaffe sprechen zu können, benötigt dieMarine der Volksbefreiungsarmee noch mindestenszwei weitere Träger. Chinas Aufbau einerhochseefähigen »blue-water navy« ist die ersteHerausforderung der amerikanischen Seeherrschaftund ihre Marine leicht moderni-CHINAS AUFBAU EINER »BLUE-WATER NAVY« ISTsierte Formen bekannter Waffen, gegen die eserprobte Abwehrmittel und -taktiken gibt. Trotzdem:Die US Navy könnte ihre SeevorherrschaftDIE ERSTE HERAUSFORDERUNG DERim Operationsgebiet Westpazifik nicht als gegebenAMERIKANISCHEN SEEHERRSCHAFT SEIT ENDEansehen, sondern müsste sie zumindest ver-teidigen, wenn nicht erst erobern.DES KALTEN KRIEGES.Für die Verteidigung seiner Küsten hat Chinazwei Seebereiche definiert, <strong>für</strong> die es die Fähigkeitdes so genannten »anti access/area denial«, militärfachlichkurz A2/AD, anstrebt – die Fähigkeit,einem Gegner den Zugang und die Bewegungsfreiheitin bestimmten Räumen zu verweigern. Für dieVolksrepublik sind das die Seegebiete, die durchdie »Erste« und die »Zweite Inselkette« begrenztwerden. Die »Erste Inselkette« verläuft von Japanüber Taiwan, entlang der westlichen Philippinenund der Nordküste Borneos bis zur Südküste Vietnams.Die »Zweite« erstreckt sich weit in den Pazifikhinein und reicht von Südost-Japan über dieBonin-Inseln, die Marianen und die westlichenKarolinen zur Nord-West Spitze Neuguineas.Die Verteidigung von Chinas selbstdeklarierter»Zweiten Inselkette« stützt sich vor allem aufASBM und mit Lenkflugkörpern ausgerüstetezu verhindern. In dieser Seezone, zwischender ersten und der zweiten »Inselkette«, könnteein Flugzeugträger wahrscheinlich alle feindlichenAngriffe abwehren – vielleicht mit Ausnahme vonASBM-Angriffen – und die Seeherrschaft der USAgewährleisten. Innerhalb der »Ersten Inselkette«bestünde durchaus die Gefahr erfolgreicher Sättigungsangriffe.Parallel zum Aufbau dieses Abwehrnetzes betreibtPeking den massiven Ausbau und die strategischeNeuausrichtung seiner Flotte. Dazuzählt auch die Schaffung einer Flugzeugträgerkomponente.Bis das erste Schiff dieses strategischenNeubauprogramms, die »Liaoning«, volleinsatzbereit ist – also ein entsprechenderStamm an ausgebildeter Besatzung und Pilotenseit Ende des Kalten Krieges – und imPazifik seit Ende des Zweiten Weltkriegs –,wenn auch zunächst nur in einem begrenztenSeegebiet und dort auch nur in der Kombinationmit den A2/AD-Fähigkeiten Chinas.Die Genese einer chinesischen »blue-waternavy« und die Errichtung der A2/AD-Zone sindeng miteinander verknüpft: Sie bilden gemeinsamden Hintergrund der maritimen Expansion derVolksrepublik. Wäre der Einsatz von Flugzeugträgerninnerhalb der »Zweiten Inselkette« nichtmehr möglich, weil zu riskant, wären die USA indiesem Bereich mit ihren anderen Kriegsschiffennicht mehr die dominierende Seemacht, sonderneiner chinesischen Flotte, die selbst Flugzeugträgereinsetzen kann, unterlegen. Dann könnte Chi- >>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 10


TECHNOLOGIE IKONFLIKTZONE WEST-PAZIFIK IV R C h i n aSüdkoreaJapanisches MeerSaseboOstchinesischesMeerJapanKurilen (zu Russland)MisawaYokosukaP A Z I F I S C H E R O Z E A NIwo Jima(zu Japan)na die Rolle einer hegemonialen Seemacht übernehmen,erhielte also die Fähigkeit zur direktenMachtprojektion und könnte diese anwenden,ohne ein Eingreifen der USA <strong>für</strong>chten zu müssen.Unter diesem Gesichtspunkt wäre der Aufbaueines weitreichenden ASBM-Schildes nicht defensiv,um eine amerikanische Einmischung inchinesische Angelegenheiten zu verhindern, sondernaggressiv, um der Volksrepublik die direkteEinflussnahme auf die Anrainer des Seegebietsinnerhalb der »Zweiten Inselkette« zu ermöglichen.»Hätte China eine solche Waffe«, kommentierteMichael Richardson, Forscher am Institut<strong>für</strong> Südostasien-Studien in Singapur, 2011 in der>>TaiwanIshigaki (zu Japan)Okinawa (zu Japan)Kampfreichweite einer US-Trägergruppe(Kampfreichweite der FA-18E/F »Superhornet«)HainanPhilippinenseeReichweite der chinesischen ASBM DF-21Dchinesische Verteidigungslinien:ThailandVietnam»Erste Inselkette«»Zweite Inselkette«Straße vonMalakkaGolf vonThailandSüdchinesischesMeerP h i l i p p i n e nGuam (zu USA)US-Militärstützpunkte:LuftwaffeMarineMarineinfanterieM a l a y s i anach Neu-Guinea1.000 Seemeilen (entspricht 1.852 Kilometer)Karte: mmoADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 11


TECHNOLOGIE IJapan Times spekulierend über die Einsatzfähigkeitder DF-21D, »würde sie es Washington erschweren,wenn nicht sogar unmöglich machen, Flugzeugträgerkampfgruppenzu schicken, um Japan,Südkorea, Taiwan oder jede andere verbündeteoder befreundete Nation im westlichen Pazifik zuverteidigen, die von chinesischen Kräften bedrohtoder angegriffen wird.«Noch haben die chinesischen Fähigkeiten zwarnicht das Niveau erreicht, um den US-Flugzeugträgerverbändenden Zugang zum Ostchinesischenund Südchinesischen Meer zu verwehren,aber dies wird wohl nicht von Dauer sein. Undwenn China die Fähigkeit wirklich erwirbt undtatsächlich einsetzt? »Amerika würde Rache verlangen«,ist Geopolitik-Experte John Pike überzeugt.»Würde Peking das riskieren?« Tore Wethling hat an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Politikwissenschaft studiert undwar als freier Mitarbeiter am Institut <strong>für</strong> <strong>Sicherheitspolitik</strong>der Universität Kiel tätig.Auslaufmodelle? Flugzeugträger der »Nimitz«-Klasse im US-Marinestützpunkt Norfolk, Virginia. Die Zukunft der»Super Carriers« der US Navy, der größten Waffensysteme der Welt, scheint zur Zeit auch aus finanziellenGründen unsicher: Während der Bau der letzten »Nimitz«, der USS »George H.W. Bush«, von 2006 bis 2009 rund6 Milliarden US-Dollar kostete, liegt die Rechnung <strong>für</strong> das erste Schiff der Nachfolgeklasse, der seit 2009 imBau befindlichen USS »Gerald R. Ford«, mittlerweile schon bei über 13 Milliarden Dollar. Foto: US Navy / Kevin J. SteinbergQuellen und Links:Kommentar »Could a maritime conflict starta Sino-American war?« von Mark Valencia in derJapan Times vom 2. September 2013Bericht »US Navy’s carriers costly relics of thepast?« der Japan Times vom 2. April 2013Robert Haddick: »Shipping Out. Are aircraftcarriers becoming obsolete?« in der Foreign Policyvom 31. August 2012Hillary Clinton: »America's Pacific Century« in derForeign Policy vom 10. November 2011Henry J. Hendrix und J. Noel Williams: »Twilight of the$UPERfluous Carrier« in der Proceedingsdes United States Naval Institue vom Mai 2011Craig Hooper und David M. Slayton:»The Real Game-Changers of the Pacific Basin«in der Proceedings vom April 2011Kommentar »China targeting US deterrence« vonMichael Richardson in der Japan Times vom 5.Januar 2011Bericht »China’s Carrier Killer Ballistic Missiles areOperational« der US-Website Defense Tech vom 28.Dezember 2010Andrew S. Erickson und David D. Yang: »Using theLand to Control the Sea? Chinese Analysts Considerthe Antiship Ballistic Missile« im Naval War CollegeReview, Ausgabe Herbst 2009ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 12


Foto: US Navy / Sean Furey<strong>MARITIME</strong> <strong>SICHERHEIT</strong>: ERKLÄRSTÜCKSchnellbootersatzFARBENLEHREUm den Einsatzbereich von Seestreitkräften und ihreFähigkeiten zu beschreiben, existieren im angloamerikanischenSprachraum drei spezifische Begriffe,um Marinen weltweit zu qualifizieren. Es gibt keineeinzelne allgemein akzeptierte Definition,generell orientieren sich die Bezeichnungen an dieFarberscheinung von Wassertiefen und -oberflächen.>> Eine »blue-water navy«, zu Deutsch ungefährHochseemarine, ist eine maritime Streitmacht, die inder Lage ist, monatelang unterwegs zu bleiben undüber Ozeane hinweg zu wirken: ihre Waffensystemezum Einsatz zu bringen und Expeditionsstreitkräftean Küsten fern ihrer Heimatstützpunkte anzulanden.Auch wenn international einige Marinen diesen Statusanstreben, können noch nur sehr wenige als echte»blue-water navy« gelten. Allen voran die US Navy,die vor allem seit dem Krieg im Pazifik von 1941bis 1945 ein äußerst komplexes System von seegestütztenStreitkräften aufgebaut hat.Bausteine sind Flugzeugträger, Hubschrauberträger,Docklandungsschiffe sowie Kreuzer und Zerstörerzur Luft- und U-Boot-Abwehr. Hinzu kommenMarineinfanterieeinheiten, seegestützte Luftstreitkräfte,Transport- und Versorgungsschiffe, Tankersowie eine Vielzahl von kleineren Hilfsschiffen und-booten. Diese komplexe Armada stützt sich auf einweltweites Netzwerk von Marinebasen – ja, in internationalenGewässern vor einer fremden Küstewerden die Trägerverbände und »Amphibious ReadinessGroups« mit ihren Flugzeugen und Marinesselbst zu schwimmenden Stützpunkten.Die politische Bedeutung dieser Streitmacht hatUS-Präsident Bill Clinton einmal zusammengefasst:»Wenn Washington von einer Krise irgendwo hört,ist es kein Wunder, dass die erste Frage ist, die jederstellt: ›Wo ist der nächste Träger‹?« PolitischmilitärischeMachtprojektion mit Flugzeugträgern undanschließend die Drohung mit Landetruppen – derHauptzweck einer »blue-water navy« ist es, weltweitals ultima ratio der Diplomatie benutzt zu werden.In deutlich geringerem Maße, mit entsprechender»Breite vor Tiefe« in ihren Fähigkeiten, besitzen Großbritannienund Frankreich eine solche Hochsee-Expeditionsstreitmacht.Mit dem Bau von Flugzeugträgernsteht eine Anzahl von weiteren Staaten an derSchwelle zu einer »blue-water navy«, allen voran dieVolksrepublik China und Indien.Im Gegensatz dazu ist eine »green-water navy« da<strong>für</strong>gedacht, heimatnahe Seegebiete und die eigene Küstevor Eindringlingen wie feindlichen Schiffen, Flugzeugenund U-Booten zu schützen. Prinzipiell könnenalle Marinen so klassifiziert werden, die zwar hochseefähigeSchiffe wie Kreuzer, Zerstörer und Fregattenbesitzen, aber über keine echten Fähigkeiten zurexpeditionären »power projection« verfügen.In diese »grüne« Kategorie fallen Seestreitkräftewie etwa die Deutsche Marine, aber auch noch diewesentlich größeren Japanischen Maritimen Selbstverteidigungskräfte.Alle übrigen, »brown-water navies« sind nur in derLage, wenig mehr als die eigenen Binnengewässer zuschützen. Boote einer solchen Streitmacht sind praktischausschließlich zum Einsatz auf Flüssen, Seen undin einer schmalen Küstenzone geeignet. Hierunter fälltetwa die kleine finnische Marine, aber auch die»Seestreitkräfte« vieler Entwicklungsländer. KuriosestesBeispiel ist wohl die Marine Boliviens: Ihre Bootebefahren hauptsächlich den Titicaca-See und haltendie Tradition einer seegehenden Streitmacht aufrecht,seit das südamerikanische Binnenland 1884seinen Zugang zum Pazifik an Chile verloren hat.Zu berücksichtigen ist, dass die höhere Klassifizierungin der Regel die niedrigere mit einschließt.Während die US-Marine die weltgrößte Expeditionsstreitmachtist, entwickelt sie ebenfalls eigene»green-water«-Fähigkeiten weiter, wie etwa mitden so genannten »Littoral Combat Ships«, wörtlich»Küstenkampfschiffen« (oben die USS »Freedom«).Auch verfügt Amerika mit der US Coast Guard übereine große, spezialisierte »green-water navy«. mmoQuellen und und Links:Webpräsenz der US NavyFlugzeugträger-Credo der US NavyWebpräsenz der Royal NavyWebpräsenz der Marine NationaleWebsite der Japan Maritime Self Defense ForceBericht des Blogs China Realtime Report des WallStreet Journal vom 25. Februar 2011ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 13


<strong>MARITIME</strong> <strong>SICHERHEIT</strong>: TECHNOLOGIE IIDROHNEN ÜBER DEM PAZIFIKvon Tobias BurgersChinas Aufstieg zur Weltmacht begleitet eine Ausdehnung seinerMarineoperationen in den ostasiatischen Meeren. Die USA,die diese Region seit dem Zweiten Weltkrieg militärisch dominierthaben, reagieren indes mit ihrem »pivot to Asia«.Im Wetteifern um die maritime Kontrolle im Westpazifikwerden unbemannte militärische Systeme zukünftigeine große Rolle spielen. Könnte das in ein High-Tech-Wettrüstenzwischen Peking und Washington münden?>> Der strategische Schwerpunktwechsel Washingtonsin Richtung Asien – ursprünglich eineReaktion auf das wachsende diplomatische undmilitärische Gewicht Pekings – wird den geopolitischenFokus der internationalen <strong>Sicherheitspolitik</strong>grundlegend in die Region Pazifik verlagern.Obwohl dieser »pivot to Asia« vor allem politischdiplomatischerNatur ist, stellen Vertreter derObama-Administration auch klar, dass er ebenfallseine militärische Reaktion beinhaltet. So istan erster Stelle mit einer deutlichen Verstärkungamerikanischer Seestreitkräfte in der Region zurechnen. US-Verteidigungsminister Leon Panettakündigte im Sommer 2012 auf einer Sicherheitskonferenzin Singapur an, dass um das Jahr 2020die US Navy 60 Prozent ihrer Stärke im pazifischenRaum stationiert haben wird, daruntersechs von zehn Flugzeugträgern. Dass das aufeine Konfrontation mit der Volksrepublik hinauslaufenkönnte, stritt Panetta ab: »Our effort to renewand intensify our involvement in Asia is fullycompatible […] with the development and growthof China.«Zugleich sind die USA bemüht, ihre Sicherheitskooperationenmit den langjährigen regionalenVerbündeten Australien, Japan, Südkorea undSingapur auszubauen sowie ihre Beziehungen zuden Philippinen und Vietnam zu intensivieren.Das Pentagon entwickelt zudem Pläne zum umfangreichenAusbau regionaler Stützpunkte. Diesesollen sich von den australischen Kokosinselnrund 600 Seemeilen südwestlich von Sumatra überdie philippinische Insel Palawan nördlich von Borneobis zum US-Inselterritorium Guam 1.200 Seemeilenöstlich der Philippinen erstrecken. Doktri- >>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 14


TECHNOLOGIE IInär spiegeln sich diese Maßnahmen im 2010 übernommenenKonzept der »Air-Sea Battle« wider –ein strategischer Ansatz, der die effektive Kooperationvon amerikanischer Marine und Luftwaffein den Weiten des Pazifiks zum Ziel hat.Währenddessen ist der Ausbau der chinesischenSeestreitkräfte in vollem Gange. So hat dieVolksbefreiungsarmee ihrer bislang nur »brownwater«-fähigenTeilstreitkraft mittlerweile zu»green-water«-Fähigkeiten verholfen. Der großeSprung vorwärts zu einer »blue-water«-Marine,die weit über chinesisches Seegebiet hinaus zuumfassenden globalen Einsätzen in der Lage wäre,scheint damit nicht mehr fern.Den strategischen Überbau dieser Entwicklungbildet »yuanhai zuozhan«, was als »Konzept zurSee-Fernverteidigung« übersetzt werden kann. EsEINE MÖGLICHE KONFRONTATION MIT CHINASTRITT PENTAGON-CHEF PANETTA AB.In einem Test landet die X-47B im Mai 2013 aufeinem US-Flugzeugträger, um gleich wiederdurchzustarten. Die Drohne wird als Demonstratorgenutzt; die Entwicklung eines einsatzfähigen»unmanned combat aerial vehicle« (UCAV), das aufihr basiert, steht noch aus.Foto: US Navy / Tony D. Curtis Foto vorige Seite: US Navy / Timothy Waltersieht unter anderem vor, dass die Volksbefreiungsarmee-Marine(»People’s Liberation ArmyNavy«, kurz PLAN) innerhalb der nächsten siebenJahre ihre Operationsreichweite in die von Chinaso genannte »Zweite Inselkette« und möglicherweisedarüber hinaus in die Weite des Pazifiksausdehnt. Das US-Überseeterritorium Guam istTeil dieser Inselkette, welche zwischen Japan undNeuguinea verläuft. Washington stuft diesesStrategie (A2/AD) ein, also das Bemühen, denausgewählten Seeraum selbst nach Belieben kontrollierenund anderen den Zugang versagen zukönnen; speziell als Reaktion hierauf haben USNavy und Air Force die »Air-Sea Battle«-Doktrinentwickelt.Experten sehen die Volksrepublik auf einemguten Weg, dieses Ziel zu erreichen. So bestätigtder RAND-Analytiker David Gompert in einemauf bestem Wege dahin befände. Die Seeflächeinnerhalb der »Ersten Inselkette«, welche zwischenJapan und Vietnam entlang Okinawa, Taiwan,den Philippinen und Borneo verläuft, betrachtetChina hingegen schon lange als seineKernsicherheitszone.Angesichts des Washingtoner »pivot« undPekings Herausforderung des Status quo erscheintsomit ein regionaler RüstungswettlaufKonzept als eine »anti-access/area denial«- jüngst erschienenen Bericht, dass sich die PLAN vorprogrammiert – zumindest theoretisch sind >>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 15


TECHNOLOGIE IIVorbedingungen vorhanden. Üblicherweise entwickeltsich ein Wettrüsten entlang von Schlüsseltechnologien,wie etwa im Falle des konkurrierendenbritischen und deutschen Schlachtschiffbausvor dem Ersten Weltkrieg, der Entwicklungvon Panzern und Flugzeugen in der Zwischenkriegszeitund zuletzt im Kalten Krieg im Bereichder Atomtechnologie und der Raketenrüstung.Was gegenwärtige Technologien betrifft, fällt derBlick zwangsläufig auf die Evolution im Bereichder digitalen und robotischen Kriegführung,mittlerweile mit dem Begriff »Digital and RoboticRevolution in Military Affairs« (DRRMA) belegt.Gegenwärtig streben über 70 Staaten nach entsprechendenSystemen.Die Vereinigten Staaten sind als Pionier undTechnologieführer der DRRMA mit der Integrationihrer Systeme in Taktik und Strategie in denNOCH SIND DIE USA DER QUANTITATIVE UNDQUALITATIVE TECHNOLOGIEFÜHRER, ...Der unbemannte Hubschrauber RQ-8A »Firescout«setzt hier im Jahr 2006 zu seiner ersten autonomenLandung auf einem Schiff der US-Marine an.Mittlerweile wird diese taktische Drohne als MQ-8Bin Serie gefertigt.Foto: US Navy / Kurt M. Lengfieldvergangenen Jahren weit vorangeschritten. Sostützt sich auch das Air-Sea Battle-Konzept entscheidendauf die Fähigkeiten unbemannter Systeme,insbesondere aufgrund deren Fähigkeit zurÜberwachung ausgedehnter Seegebiete wie ebenim Pazifik. Ein Paradebeispiel hier<strong>für</strong> ist diejüngst zu ihrem Jungfernflug gestartete MQ-4C»Triton« der Navy, die auf dem System »GlobalHawk« der Air Force basiert. Die <strong>für</strong> die »Triton«vorgesehene Dislozierung deutet denn auchwieder die strategische Schwerpunktsetzung derUSA an: Vier der sieben eingeplanten Basen <strong>für</strong>die große Langstrecken- und Hochleistungsdrohneliegen im Pazifik.Geradezu ikonisch <strong>für</strong> die Fokussierung derUSA auf den Pazifikraum ist die Flugerprobungihrer jüngsten Drohnenkonstruktion, der BoeingX-47B, die über Stealthtechnologie und rundzwei Tonnen Ladekapazität <strong>für</strong> Waffen verfügt.Im Mai 2013 startete und im Juli 2013 landeteder Nurflügler erstmals von beziehungsweiseauf dem Deck eines Flugzeugträgers, der USS»George H.W. Bush«, und bot so einen Ausblickauf künftige Einsatzverfahren. Der wesentlichkleinere unbemannte Helikopter MQ-8B »Firescout«hingegen findet bereits an Bord einer zunehmendenZahl amerikanischer Schiffe zu AufklärungszweckenVerwendung. Das Forschungsunternehmendes Pentagons DARPA arbeitetwiederum bereits an einem völlig neuen Hochleistungsdrohnentyp,der von allen größeren US-Schiffen aus einsetzbar sein soll – was potentielldie meisten amerikanischen Überwassereinheitenzu Drohnenträgern machen könnte.Die US Navy der Zukunft wird somit eine Seestreitkraftsein, die sich in ihren Operationen im>>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 16


TECHNOLOGIE IIPazifik stark auf Drohnen stützen wird. Und dasgilt keineswegs nur <strong>für</strong> Luftfahrzeuge, denn dieUSA arbeiten ebenso an unbemannten Unterwasserfahrzeugen(»unmanned underwater vehicles«,UUV; auch »autonomous underwater vehicles«,AUV), deren Einsatzspektren von der Aufklärungbis zum torpedoartigen Kamikazeeinsatz reichen.Auch unter Wasser kommt den Drohnen vor allemim Bereich Aufklärung eine große Bedeutung zu,da sie ohne die Einschränkungen menschlicherPhysis beispielsweise wochen- oder monatelangePatrouillen durchführen können.Der Blick in den US-Verteidigungshaushaltbestätigt die wachsende Bedeutung von Robotersystemen<strong>für</strong> die Navy, da Ausgaben speziell <strong>für</strong>sie relativ stabil bleiben, während die geplantenBudgets <strong>für</strong> übrige UAVs bis 2017 stark schrumpfen.Das Pentagon scheint somit selbst in ZeitenDas amerikanische AUV »Seahorse« sieht, wieviele der in Entwicklung befindlichenUnterwasserdrohnen, aus wie ein Torpedo.In der bewährten Form steckt allerdings einprogrammierbarer Roboter, der <strong>für</strong>Aufklärungszwecke eingesetzt werden kann.Viele ähnliche UUVs stehen bereits heuteschon zum Beispiel zur sicheren Minenerkundungund -bekämpfung zur Verfügung – darunterder »SeaFox« der deutschen Atlas Elektronik.Foto: US Navy / John F. Williams… ABER DIE VOLKSREPUBLIK HAT DIE NÖTIGENRESSOURCEN UM AUFZUHOLEN.haushalt <strong>für</strong> die Entwicklung unbemannter Systemeleicht den Betrag einholen, den die USA da<strong>für</strong>ausgeben. Noch verfügt die Volksrepublik im Gegensatzzum vierstelligen US-Arsenal gegenwärtigzwar nur über rund 280 einsatzfähige Drohnen,doch ihre Absicht aufzuholen ist ebenso deutlich.Eine Reihe gegenwärtig in Entwicklung befindlicherchinesischer Systeme wird innerhalb diesesJahrzehnts einsetzbar sein. Zunächst einmal entwickeltdie Volksrepublik UAVs, die ihre weitreichendenRaketen unterstützen sollen. SolcheDrohnen würden sehr wahrscheinlich in Kombinationmit der Mittelstreckenrakete DF-21D eingesetzt,ein Typ auch bekannt als »anti-ship ballisticmissile«, oder prägnanter »carrier killer«, mit einerReichweite von rund 3.000 Kilometern. Die UAVswürden diesen Anti-Schiff-Raketen, die ein sehrgenaues Visieren erfordern, als Zielaufklärer die-drastischer Kürzungen im Militäretat bemüht, nen. Ein solches System würde Operationen imden amerikanischen Vorsprung unbemannter bislang US-dominierten Luftraum weit über dieSysteme in den Weiten des Pazifiks nicht nur zu amerikanischen Basen in Südkorea und Japan hinausermöglichen. Trotzdem sind diese Drohnenhalten, sondern auszubauen.Auch Anzeichen auf der östlichen Seite des StillenOzeans lassen einen Rüstungswettlauf im RoneOffensivwaffen; die USA werden sie daher we-nur <strong>für</strong> Aufklärungszwecke gedacht und damit keibotikbereichmöglich erscheinen. So könnte laut niger als signifikante Bedrohung ansehen.Angaben des »Defense Science Board« im Pentagondas anteilige Budget im chinesischen Militär- nimmt sich dagegen die Entwicklung chinesischerAus Sicht des Pentagons weitaus bedenklich>>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 17


TECHNOLOGIE IIDrohnen zu direkten Angriffszwecken aus. Im Gegensatzzur technologielastigen US-Philosophiesollen diese Fluggeräte jedoch einmal so kostengünstigsein, dass sie in »Sättigungsangriffen« inso großer Zahl eingesetzt werden könnten, dassLuftabwehr und elektronische Gegenmaßnahmenmit ihrer Bekämpfung überfordert wären. DieseIdee erfährt nach Ansicht des Washingtoner Thinkzwei Jahrzehnten drastisch aufzustocken. Zweitensverfügen Peking und Washington über relativgroße finanzielle Ressourcen zur Entwicklungund Fertigung solcher Systeme. Drittens führendie Streitkräfte beider Staaten regelmäßig Operationenim westlichen Pazifik durch, was dasständige Risiko einer Eskalation vor Ort mit sichbringt. Viertens existiert zwischen beiden SeitenKLEIN, UNBEMANNT UND KOSTENGÜNSTIG –FÜR EINE »SCHWARMTAKTIK« WÄREN DROHNENIDEAL GEEIGNET.Chinas Drohnenprogramme sind in der Regelvon einem Schleier der Geheimhaltung umgeben.Militärpolitisch gezielte Neuigkeitenlanciert die Volksrepublik jedoch von Zeit zu Zeit.Am 4. Juni 2013 etwa meldete dasStaatsorgan People‘s Daily, das Transportministeriumhabe ein unbemanntes Boot entwickelt.Dieses autonom fahrende, »unmanned surfacevehicle« (USV) soll angeblichhydrografischen Forschungszwecken imSüdchinesischen Meer dienen.Bildquelle: www.naval-drones.com (letzter Abruf: 5.9.2013)Tank »Project 2049 Institute« oder der US NationalDefense University zunehmende Unterstützung inder Volksrepublik, da sich so eine Möglichkeit böte,der technologischen Überlegenheit AmerikasParoli zu bieten. Drohnen scheinen <strong>für</strong> die so genannte»Schwarmtaktik« ideal geeignet, da sie vergleichsweisesehr günstig herstellbar sind, keineeigenen Piloten in Gefahr bringen und <strong>für</strong> ausgedehnteZeitspannen im Einsatz bleiben können.Nicht zuletzt scheint China auch auf den Fortschrittder USA mit der trägergestützten Drohne X-47B zu reagieren. Die Medien der Volksrepublikdenken bereits laut darüber nach, den Flugzeugträger»Liaoning« ebenfalls mit UCAVs auszurüsten.Können alle diese Faktoren in einem Rüstungswettlaufmünden? Mehrere Faktoren sprechentatsächlich da<strong>für</strong>. Erstens planen beide Seitenihre Roboter-Fähigkeiten in den kommendenein hohes Maß an Misstrauen. Wenngleich diegegenwärtigen sino-amerikanischen Beziehungennicht mit den Verhältnissen des Kalten Kriegeszu vergleichen sind, erscheint es dennochunwahrscheinlich, dass sich in naher Zukunftdas nötige gegenseitige Vertrauen aufbaut, daseinen Rüstungswettlauf auf jeden Fall ausschließenwürde.Für den RAND-Experten Gompert laufen dieseFaktoren potentiell auf eine Konfrontationmit historischem Präzedenzfall hinaus: »ForChina and the United States today, the Anglo-German dreadnought race is a cautionary tale«,warnt er. Gleichwohl gibt es keinen militärischenDeterminismus, beiderseits des Pazifiksstehen politische Entscheidungen hinter denEntwicklungen. Mehrere Argumente sprechendaher <strong>für</strong> eine »détente«.>>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 18


TECHNOLOGIE IIAllein angesichts der ausgeprägten amerikanischchinesischenHandelsbeziehungen wäre eine militärischeKonfrontation <strong>für</strong> beide Seiten desaströs,von einem ausgewachsenen Krieg ganz zu schweigen.Die chinesische Führung setzt ohnehin trotzaller Expansionsbestrebungen im Westpazifik zuvorderstauf die Stabilisierung der nationalenÖkonomie. Mit deutlich vergrößertem Zugang zuBildung, internationalen Medien und wachsendemWohlstand in der chinesischen Bevölkerungdürfte dies <strong>für</strong> die politische Führung eine größereHerausforderung sein als ein »Durchbrechen«der »Zweiten Inselkette«.Mit Blick auf Chinas wirtschaftlichen Aufstieggerade in den vergangenen Jahren erscheint eslogisch, dass Peking seine Streitkräfte vor allemausbaut, um seine erweiterten ökonomischenInteressen zu schützen. Diese Perspektive, so derJournalist und Strategieexperte Robert Kaplanschon 2005, gleiche im Grunde der Amerikas.Zu bedenken bleibt letztlich auch, dass dieVolksbefreiungsarmee einschließlich ihrer Marinenur über begrenzte Kampf- beziehungsweiseEinsatzerfahrung verfügt. Der letzte Krieg, denChina 1979 gegen Vietnam führte, endete <strong>für</strong> dieVolksrepublik unrühmlich. Die chinesischen Seestreitkräfteselbst sind erst seit wenigen Jahrenjenseits ihrer Heimatgewässer präsent – ganz imUnterschied zur über 200-jährigen Tradition derUS Navy, die auch auf jüngste Analysen undTechnologieauswertungen aus den eigenen Operationenzurückgreifen kann wie zuletzt aus derLibyen-Intervention 2011.Die chinesische Führung räumt diese militärischeUnterlegenheit gegenüber den USA offenein: General Yao Yunzhu, von der MilitärwissenschaftlichenAkademie in Peking, sprach von einemNachholbedarf von »mindestens 30, vielleicht50 Jahren«. Eingedenk dessen ist kaum damitzu rechnen, Peking würde die US-Streitkräftemithilfe der Volksbefreiungsarmee direkt provozieren.Mit verstärkten Bemühungen, den amerikanischenVorsprung in manchem Feld zu verkleinern,hingegen umso mehr.Ein Rüstungswettlauf in Ostasien und demPazifik erscheint somit immer noch möglich, wobeigegenwärtig mit mancher Parallele zum KaltenKrieg zu rechnen ist. Die USA und Chinakönnten dauerhaft nach einem militärischenVorteil streben und zugleich stets bemüht sein,einen tatsächlichen Waffengang auszuschließen.Die Entscheidung, in punkto Roboterwaffen aufzurüsten,ist zudem keine Determinante, sondernbleibt stets eine politische Entscheidung. Wennalso eine Lehre der vergangenen Konfrontationvon USA und UdSSR sein mag, dass Rüstungswettläufefriedlich enden können, aber nichtmüssen, sollten die politischen Entscheidungsträgersich bemühen, eine solche gefahrvolleKonkurrenz zu vermeiden. Die 13 Tage der Kubakrise1962 verbleiben als eine Erinnerung daran,wie schnell sie andernfalls außer Kontrollegeraten können.Tobias Burgers promoviert am Otto-Suhr-Institut<strong>für</strong> Politikwissenschaften der FU Berlin mit Schwerpunktkybernetische und Roboter-Kriegführung. Erist zudem Mitarbeiter des Projekts »Crisis Simulationfor Peace«.Quellen und Links:Bericht der People‘s Daily vom 30. August 2013Bericht »How the US Is Encircling China withMilitary Bases« des Blogs Killer Apps der ForeignPolicy vom 20. August 2013Präsentation des »Air-Sea Battle«-Konzepts desUS-Verteidigungsministeriums vom 12. Mai 2013Bericht der DefenseNews vom 30. April 2013Bericht der DefenseNews vom 9. April 2013Ian M. Easton und L.C. Hsiao Russel: »The ChinesePeople’s Liberation Army’s UnmannedAerial Vehicle Project«, herausgegeben vomProject 2049 Institute am 11. März 2013Bericht des Blogs Danger RoomTechnologiemagazins Wired vom 4. März 2013David C. Gompert: »Sea Power and AmericanInterests in the Western Pacific«, herausgegebenvon der RAND Corporation, 2013Philip C. Saunders: »The Chinese Navy«,herausgegeben von derNational Defense University, 2013Bericht des Blogs Dangerroom vom18. September 2012Bericht der Defense Update vom 17.September 2012Bericht der Washington Post vom 1. Juni 2012Hintergrundbericht »The dragon’s new teeth« desEconomist vom 7. April 2012ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 19


<strong>MARITIME</strong> <strong>SICHERHEIT</strong>: AUFRÜSTUNGSTILLE KONKURRENZvon Christoph UnrastChinas Flugzeugträgerprogrammsorgt seit Jahren <strong>für</strong>Schlagzeilen. Obwohl noch weitdavon entfernt, <strong>für</strong> wirklicheinsatzfähig zu sein, beobachtendie Nachbarn der Volksrepublikschon jede Seemeile der»Liaoning« mit Argusaugen.Japan hingegen nutzt denSpielraum, den seinepazifistische Verfassung bietet,um seine Streitkräfte unauffälligzu modernisieren. Anstattsich auf ein Wettrüsteneinzulassen, setzt die japanischeMarine auf Kontinuität.>> Mehr und mehr beunruhigende Nachrichtenkommen aus dem asiatisch-pazifischen Raum:Territoriale Streitigkeiten, seit Jahrzehnten ungelöst,aber bisher oft ohne negative Konsequenzen,beeinflussen den diplomatischen Alltag. DieVolksrepublik China steht dabei im Mittelpunkt,ist sie doch Partei in mehreren Konflikten. PositiveNachrichten, wie kürzlich eine Einigung zwischenJapan und Taiwan in Bezug auf Fischereirechtein bestimmen Bereichen der umstrittenenSenkaku- beziehungsweise Diaoyu-Inseln, sinddie Ausnahme.ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 20>>


Vorige Seite: Japans Hubschrauberträger »Hyuga« im Hafen von Yokohama; im Vordergrund der Lenkwaffenkreuzer »Kongo«. Foto:ほしけん/ CC BY 2.1 JPAUFRÜSTUNGZu diesem Geflecht an Konflikten gesellt sich derTrend in der Region, dass die Akteure zunehmendin ihre maritimen Streitkräfte investieren.Zwar konnten größere Auseinandersetzungenbisher vermieden werden, aber gerade zwischenJapan und China ist ein erhebliches Potential <strong>für</strong>Missverständnisse und militärische Eskalationvorhanden. Das jüngste Weißbuch des japanischenursprünglich sowjetischen Bau basierende undvon der Ukraine erworbene, Schiff wird alsHauptbeweis angeführt, wenn es darum geht, dasgestiegene Selbstbewusstsein der Volksrepublikund ihr Verlangen nach maritimer Stärke zu belegen.In Verbindung mit Chinas Verhalten in seinenterritorialen Streitigkeiten – mit Japan, Vietnam,den Philippinen und nicht zuletzt Taiwan –Army Navy (PLAN), noch Nachholbedarf. Eineinzelner Flugzeugträger macht noch keinekampffähige Trägergruppe. Nimmt man dieMeldungen über die Entwicklung neuer Zerstörerklassenhinzu, so besteht Chinas maritimesModernisierungsprogramm aus viel PR, welcheszwar viel Potential offenbart, aber noch weitvom beabsichtigten Endprodukt entfernt ist.Verteidigungsministeriums stellt dieVolksrepublik China explizit als Bedrohung dar.Auch bleibt der tödliche Vorfall, bei dem ein taiwanesischerFischer Anfang Juni bei einem Zu-CHINESISCHE MEDIEN BEZEICHNEN EINENsammenstoß mit der philippinischen Küstenwacheverstarb, momentan eine Ausnahme – sieRÜSTUNGSWETTLAUF ALS »UNAUSWEICHLICH«.erinnert jedoch an das große Konfliktpotential inder Region.Während bei einigen Streitkräften erheblicherNachholbedarf herrscht, können andere auf eineschlagkräftige Marine aufbauen. Die Annahme, diegroßen Seestreitkräfte der Region rüsteten gegeneinander,wird das Reich der Mitte dadurch in der Meinungwestlicher Experten zu einer »assertive power«,die gerade auf See dominant und bisweilen aggressivauftritt. Dabei stehen diese beiden Faktoren(noch) in keinem Zusammenhang.Anders liegt der Fall bei den Japanischen Seestreitkräften,den Japan Maritime Self-DefenseForces (JMSDF). Sie gelten als die fähigsten derRegion, einzustufen direkt hinter der US Navy,wenn in reinen Zahlen betrachtet auch kleinerscheint nicht weit hergeholt. Würden Die erfolgreiche Landung eines J-15- als die PLAN. Lange Jahre war der Vorteil derJapan und die USA die chinesische Marine als Gefahransehen, könnte dies sehr leicht zu einemWettrüsten führen, so Yang Yi, Admiral a.D. undehemaliger Direktor des Instituts <strong>für</strong> StrategischeStudien der National Verteidigungs-Universitätvon Peking. Chinesische Medien bezeichnen einenRüstungswettlauf teils sogar als »unausweichlich«.Es lohnt daher, einen genaueren Blick auf die momentanenEntwicklungen zu werfen und die Modernisierungsprozesseder beiden großen MächteChina und Japan in Kontext zu setzen, um die düsterstenProphezeiungen zu entkräften.Chinas erster Flugzeugträger »Liaoning« stehtin der Debatte im Mittelpunkt. Das, auf einemKampfjets auf der »Liaoning« Ende 2012 war auchaußerhalb maritimer Fachkreise eine Meldungwert. Es könne nur noch eine Frage der Zeit sein,bis die Volksrepublik die neugefundenen Mittelauch einsetzen und am Status Quo der regionalenSicherheitsarchitektur rütteln werde, so DeanCheng von der amerikanischen, konservativenHeritage Foundation. Weniger pessimistischeBeobachter sehen die »Liaoning« momentan vorallem als ein kostspieliges politisches Instrument,welches noch nicht wirklich einsatzfähigist. Sowohl im logistischen Bereich als auch inder personellen Ausbildung hat das Schiff wohl,wie auch die gesamte die People’s LiberationJMSDF, dass sie sich auf die Entwicklung ihrerdefensiven Kapazitäten konzentrieren konntebeziehungsweise aufgrund ihrer pazifistischenVerfassung nach dem Zweiten Weltkrieg, auchkonzentrieren musste. Zu ihrem Bestand gehörtenvor allem Schiffe und Helikopter, die einenentscheidenden Vorteil im Kampf gegen U-Boote bieten sollten. Den offensiven Part übernahmendie USA. Diese strategische Aufteilung,geboren im Kalten Krieg gegen die Sowjetunion,gilt im Grunde genommen bis heute. Die Verteidigungder japanischen Heimatinseln und ihrerüberlebenswichtigen »Sea Lines of Communication«hat Priorität vor allem anderen. Tokio >>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 21


AUFRÜSTUNGChinas Prestigeprojekt: Die »Liaoning« befindet sich zur Zeit in einer ausführlichen Erprobungsphase;hier ein Test der Dekontaminationsanlage. Foto: People‘s Liberation Army NavyDIE »LIAONING« IST MOMENTANVOR ALLEM EIN KOSTSPIELIGES POLITISCHESINSTRUMENT.kann so den begrenzten Spielraum seines vonder Verfassung erlaubten Verteidigungsbudgetsausreizen, ohne in symbolische Großprojekte zuinvestieren oder die historisch misstrauischenNachbarn über Gebühren aufzuschrecken.So ist auch die <strong>für</strong> 2015 vorgesehene Anschaffungzweier neuer Hubschrauberträger <strong>für</strong>die JMSDF zu verstehen. Geplant <strong>für</strong> bis zu 14Helikopter, ermöglicht die Größe der Schiffeauch Spekulationen über eine zukünftige Ausstattungmit F-35-Kampfflugzeugen. Die Trägersind eine Erweiterung der zwei bestehendenEinheiten der »Hyuga«-Klasse, übertrumpfendiese aber signifikant in Größe und Bewaffnung.Ähnlich wie ein offensiv ausgerichteter Flugzeugträgerkönnen sie als Kommandozentraledienen und Aufträge weit jenseits der Heimatgewässerausführen. Und im Vergleich mit ihrenchinesischen Kameraden sind die japanischenMarinesoldaten besser geschult und durch vielfältigeOperationen vertrauter im Umgang mitihren Schiffen und Systemen.Entscheidend ist jedoch, dass dieser – imVergleich zu China – gemächliche Aufrüstungsprozessvor allem Kontinuität widerspiegelt,sowohl was die Strategie als auch die Kapazitätenbetrifft. So gelingt es Japan, im maritimenWettstreit die Deutungshoheit zu behalten. Diewenigen kritischen Stimmen, sowohl im In- alsauch im Ausland, die im Ausbau der bestehendenKapazitäten der JMSDF eine Verletzung derpazifistischen Verfassung Nippons sehen, stehenin keinem Verhältnis zum Misstrauen, welchemsich China mit seinen Marineambitionenausgesetzt sieht. Diese betrachten regionale Ak->>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 22


AUFRÜSTUNGteure als große Gefahr: In einem Schlagabtauschmit dem offiziellen KPCh-Organ People’s Dailywarnte der philippinische Außenminister Albertdel Rosario im Juni dieses Jahres, die Militarisierungdes Südchinesischen Meers durch die Volksrepubliksei eine Bedrohung <strong>für</strong> alle Anstrengungen,den »maritimen Frieden und die Stabilität inder Region zu wahren«.Japan ist noch weit davon entfernt, die Rolle despotentiellen Bösewichtes komplett an China abzugeben.Dazu ist die Historie zu sehr im politischenund kulturellen Denken der Region verankert.Dennoch, auch dank der Allianz mit den VereinigtenStaaten, hat sich Japan eine formidable Seestreitmachtaufgebaut, die ihren Aufgaben gerechtwerden kann. Selbst wenn China erfolgreich darinsein sollte, das symbolische Projekt »Liaoning«mittel- bis langfristig zu einem Programm mehrererfunktionierender Trägergruppen fortzuentwickeln– es wird da<strong>für</strong> einen hohen finanziellen alsauch politischen Preis zahlen.Christoph Unrast promoviert an der Christian-Albrechts-Universität Kiel über die USA im Asiatisch-PazifischenRaum und ist Analyst <strong>für</strong> die internationalePolitikberatung Wikistrat.nellbootersatzFLOTTENVERGLEICHJMSDF PLAN US NavyFlugzeugträger - 1 10Hubschrauberträger 4 - 9Kreuzer 4 - 22Zerstörer 18 26 62Fregatten, Korvetten 19 53 18Patrouillenboote 6 131 13Schnellboote - 122 -Minensucher 29 66 13Strategische U-Boote - 4 14Jagd-U-Boote* 16 58 54Landungsschiffe** 3 3 20Flottenversorger** 5 6 19Träger-Kampfflugzeuge - ? 580Seefernaufklärer 95 20 150U-Jagd-Hubschrauber 97 52 257Soldaten 46.000 290.000 320.000* mit und ohne Nuklearantrieb ** nur Schiffe über 10.000 Tonnen Wasserverdrängung Quellen: Wikimedia / Military Balance 2012Quellen und Links: in The Diplomat vom 21. Januar 2013Bericht »Japan says faces increasing threats fromChina, North Korea« von Reuters am 9. Juli 2013Bericht »Japan’s Navy: Sailing Towards the Future«James Holmes: »The Sino-Japanese Naval War of2012«, in der Foreign Policy vom 22. August 2012Bericht »China’s ›Security Dilemma‹ Risks Arms Racein Asia« im Time <strong>Magazin</strong> vom 16. Mai 2012Kommentar » Arms race will happen, but who to blame?«in der People’s Daily Online vom 20. März 2012Yoji Koda: »A New Carrier Race? Strategy,Force Planning, and JS Hyuga«, im Naval War CollegeReview, Ausgabe 3/2011ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 23


Eskorte: In den Gewässern um die umstrittenen Senkaku-Inseln bewachen Schiffe der japanischen Küstenwache die Fischer aus Nippon. Foto: Osakabe Yasuo<strong>MARITIME</strong> <strong>SICHERHEIT</strong>: SEEGRENZEN ITAUZIEHEN IN TRÜBEN GEWÄSSERNChina befindet sich imDilemma zwischen wirtschaftlicherKooperation mit seinen Nachbarnund Durchsetzung seiner Gebietsansprücheim Ost- und im Südchinesischen Meer.Während die Volksrepublik mit wachsendemSelbstbewusstsein ihreterritorialen Ansprüche durchsetzenwill, steigt das Eskalationsrisiko.Multilaterale Kooperationsversuche scheiternan den komplexen Konfliktlinien.von Franziska Plümmer>>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 24


SEEGRENZEN I>> Als Japan im September 2012 die Senkaku-Inseln erwarb, erwachte der Konflikt um territorialeAnsprüche im Ostchinesischen Meer in internationalenMedien wie aus einem Winterschlaf.Japans Regierung unter Yoshihiko Noda hatte dieInseln von ihren privaten Eigentümern gekauft,um dem rechtsnationalen Gouverneur von Tokio,Shintaro Ishihara, zuvorzukommen. Dieser hattezuvor angekündigt, die Eilande unter die Stadtverwaltungder japanischen Hauptstadt zu stellen.Auf diesen Kauf folgte eine diplomatischeKrise, die China und Japan bis heute beschäftigt.Vor allem chinesische Medien betrieben inder Folgezeit eine hitzige Rhetorik und warfenJapan »nationalistische Interessen« und »faschistischePolitik« vor. Der damalige chinesischeVizeaußenminister Zhang Zhijun schlosssich dieser Ausdrucksweise an, indem er der japanischenRegierung unterstellte, sie missbraucheden rechten Flügel des Parteienspektrumsin Nippon als Trittbrett <strong>für</strong> die eigenen Interessenin der Region und betreibe eine »Politik derProvokation«. Die Volksrepublik beanspruchtdie Inseln ebenfalls, allerdings unter dem Namen»Diaoyu Dao«.Diese Eskalation reiht sich in eine lange Konfliktgeschichteum territoriale Ansprüche im Ostundim Südchinesischen Meer, die nicht nur Japanund China erheben, sondern auch Vietnam,die Philippinen, Malaysia und Taiwan betreffen.Das starke Interesse der Anrainerstaaten an denumstrittenen Seegebieten begründet sich aus demBedürfnis nach sicheren Schifffahrtsrouten zumEinen, aus dem Fischreichtum sowie den ErdölundErdgasvorkommen der Region zum Anderen.>>Kollisionskurs: Ein japanischer Fischer wird im Mai 2013 von einem Schiff der »China Maritime Surveillance«des chinesischen Transportministeriums blockiert. Foto: Osakabe YasuoAUF DEN KAUF DER SENKAKU-INSELN FOLGTEEINE DIPLOMATISCHE KRISE,DIE CHINA UND JAPAN BIS HEUTE BESCHÄFTIGT.ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 25


SEEGRENZEN IDie vielbefahrenen Seestraßen rund um die InselTaiwan bilden eine strategische Verbindung zwischendem Pazifischen und Indischen Ozean.Wichtigster Indikator ihrer Bedeutung ist derUmstand, dass rund die Hälfte des globalenSchiffsverkehrs durch sie verläuft – eine Bedeutungübrigens, die die zunehmende Piraterie inder Region nur betont. Besonders ressourcenreichsind die zwischen Vietnam, Malaysia undden Philippinen gelegenen Spratly-Inseln undweiter nördlich die Paracel-Inseln im SüdchinesischenMeer. Diese Inselgruppen haben keineSiedlungsgeschichte, weswegen historische Ansprücheschwer geltend zu machen sind. Chinaaber ignoriert dieses Argument und verweist aufseine 2.000-jährige Seefahrtstradition in diesenund anderen Gewässern.Zuletzt hat die Regierung der Volksrepublik ineinem 2012 herausgegebenem Weißpapier ihreAnsprüche erneuert: Die Beweisführung darinbeginnt im Jahr 1579 zu Zeiten der Ming-CHINA BEGINNT SEINE BEWEISFÜHRUNGIM JAHR 1579 ZU ZEITEN DER MING-DYNASTIE.Dynastie. Historische Karten sollen beweisen,dass die Diaoyu-Inseln zu China gehören würden,weil es sie zuerst entdeckt habe. Zweierlei machtdiese Beweisführung fragwürdig: Erstens ist»Entdeckung« nicht gleichbedeutend mit»Inbesitznahme«, zudem ein damals nur in Europaverbreitetes Konzept von Territorialgewinnmittels eines symbolischen Aktes. Zweitens istder völkerrechtliche Status alter Karten grundsätzlichfragwürdig, da diese keine politische Realitätdarstellen, sondern Ausdruck einer selektivenWeltsicht oder gar Wunschdenken des Kartographensind.Dennoch: Im Südchinesischen Meer zeigenchinesische Karten heute die so genannte »Neun-Striche-Linie«, die um die von der Volksrepublikbeanspruchten Inseln verläuft und sowohl Spratly-wie Paracel-Inseln umfasst. Die Karte wurdeerstmals 1947 veröffentlicht, und Peking hat sie2009 das erste Mal offiziell verwendet, als es seineGebietsansprüche gegenüber vietnamesischenund malaysischen Ansprüchen geltend machenwollte. Im Schulunterricht und von den Medienin der Volksrepublik verwendet, prägt diese Darstellungdie Perspektive der Chinesen bis heute.Nun ist die Frage, wo Grenzen verlaufen, eineSache, die Durchsetzung und Kontrolle ihres Verlaufseine ganz andere. Chinas Landesgrenzen etwasind bis auf wenige Ausnahmen akzeptiert; derTerritorialstreit mit Indien etwa ruht seit Jahrzehnten.Der letzte Grenzkonflikt der Volksrepublik– mit Vietnam – liegt über dreißig Jahre zurück.Chinas Staatsgebiet auf dem Festland ist auch daherprinzipiell defensiv gesichert: In der Regel sindan den Landesgrenzen hinter den Grenzposten nur>>SchnellbootersatzLAUSCHANGRIFFSABWEHRAm 5. März 2009 lag die USNS »Impeccable«, einAufklärungsschiff der amerikanischen Marine, vorder chinesischen Küste – allerdings noch weit außerhalbder Hoheitsgewässer der Volksrepublik –,als sich eine Fregatte der Volksbefreiungsarmee-Marine ihr näherte und sie aufforderte, die Gewässerzu verlassen. Erst nach weiteren deutlichenDrohgebärden seitens der Chinesen entschlossensich die Amerikaner nach einigen Tagen, ihrenmutmaßlichen Auftrag, U-Boot-Bewegungen zubeobachten, zu unterbrechen und sich abdrängenzu lassen. Am 12. März schließlich stellte die USNavy den Zerstörer USS »Chung-Hoon« ab, um die»Impeccable« bei weiteren Operationen im SüdchinesischenMeer zu eskortieren.Die »Impeccable« hatte 75 Seemeilen vor derKüste Hainans geankert und sich damit innerhalbder vom internationalem Seerecht garantiertenAusschließlichen Wirtschaftszone aufgehalten, diesich 200 Seemeilen von der Küste ins Meer erstreckt.Washington beharrt darauf, dass die Ausschlusszonetrotz Zuordnung zu einem Staat freivon Schiffen aller Nationen befahren werden darf.Peking bewertete die Geschehnisse als unerwünschteEinmischung in den Konflikt im SüdchinesischenMeer und betonte, die USA sollten sichnicht »Steine auf die eigenen Füße werfen«.Das sino-amerikanische Verhältnis litt unterdiesem Vorfall beträchtlich. Die Spannungenkonnten erst gelöst werden, nachdem Chinas AußenministerYang Jiechi persönlich bei US-Präsident Barack Obama im Weißen Haus zu Gesprächengeladen wurde.ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 26


SEEGRENZEN IStraße vonMalakkaKONFLIKTZONE WEST-PAZIFIK IIThailandGolf vonThailandV R C h i n aHainanVietnamM a l a y s i aParacel-InselnSüdchinesischesMeerSpratly-InselnTaiwanSüdkoreaSenkaku-InselnJapanisches MeerSaseboOstchinesischesMeerIshigaki (zu Japan)P h i l i p p i n e nJapanOkinawa (zu Japan)Kurilen (zu Russland)MisawaPhilippinenseeYokosukaIwo Jima (zu Japan)Chinas »Neun-Striche-Linie«US-MarinestützpunkteP A Z I F I S C H E R O Z E A NGuam (zu USA)1.000 Seemeilen (entspricht 1.852 Kilometer)Karte: mmowenige leichte Armeeeinheiten stationiert, währendder Großteil der Volksbefreiungsarmee, wieetwa alle Panzerdivisionen, sich Hunderte Kilometerentfernt im Landesinnern befindet.Bei der maritimen Grenzziehung beziehungsweiseGrenzsicherung ist die Lage eine andere:Das Verhalten der Volksrepublik auf See erscheintentschieden offensiv. Von einer»Rückeroberung verlorener Gebiete« auf demFestland spricht auf offizieller Seite in Pekingniemand, die Meeresgebiete dagegen betrachtenPolitiker als »noch nicht aufgegeben«: Im offiziellenSprachgebrauch berührt die Frage nachdem Verlauf der Seegrenzen Chinas »Kerninteressen«.Dieser Begriff hebt gerade den Konfliktim Ostchinesischen Meer auf eine Ebenemit den kompromisslosen Ansprüchen derVolksrepublik auf Taiwan. Hua Chunying, Sprecherindes Außenministeriums, kommentierteim April dieses Jahres, »der Konflikt um dieDiaoyu-Inseln betrifft Chinas territoriale Integrität«.Eine harte Linie, die auch auf das SüdchinesischeMeer zutrifft.Verwirrend scheint die Vielzahl der Beteiligtenauf chinesischer Seite. Die mangelhafte Zusammenarbeitder verschiedenen Stellen erschwertdas Konfliktmanagement und erhöht das Risikoeiner unbeabsichtigten Eskalation in den umstrittenenGewässern. Zunächst ist es die politischeElite, die die eigenen Souveränitätsansprüche mitden territorialen Ansprüchen verknüpft und artikuliert– sie schätzt den Rohstoffreichtum geradein der Südchinasee besonders hoch ein, und derwachsende Bedarf der expandierenden Wirtschaftder Volksrepublik will gedeckt sein.>>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 27


SEEGRENZEN IDiese maritimen Ambitionen unterstützt die People’sLiberation Army Navy (PLAN), indem dieFlotte hohe Präsenz zeigt, wobei es mit Regelmäßigkeitzu Zusammenstößen mit Schiffen kommt,die unter anderer Flagge fahren. In einigen Fällenhat die PLAN sogar U-Boote eingesetzt, um fremdeFischerboote zu überwachen – um bei Anzeichender Verletzung chinesischer Ansprücheüberraschend neben diesen aufzutauchen.Zusätzliche Patrouillen der People’s ArmedPolice, zuständig <strong>für</strong> die innere Sicherheit undHafensicherheit, sollen wiederum die regulärente den »Spionageeinsatz« und Ma Zhaoxu, Sprecherdes Außenministeriums, wies die amerikanischeBeschwerden gegen das Vorgehen der chinesischenBehörden mit den Worten ab, die USAwürden »Schwarz und Weiß verwechseln«.Von Seiten der internationalen Gemeinschaftund der regionalen Partner gab es mehrere Vorstöße,zwischen den konkurrierenden Gebietsansprüchenzu vermitteln. In den 1990er Jahren habenalle Anrainer des Südchinesischen Meers dasinternationale Seerechtsübereinkommen unterschriebenund ratifiziert – es könnte also alsGrundlage einer regionalen Streitlösung dienen.Als China, neben Indien, 2003 dem »Treaty ofAmity and Cooperation« der südostasiatischenLändergemeinschaft ASEAN beitrat, der mit einem»Code of Conduct« ein gemeinsames Vorgehender Anrainerstaaten der westpazifischen Seegebietefestlegen soll, versprach dies einen großenSchritt hin zur friedlichen Entwicklung in derRegion. Dieses Abkommen aber wurde bis heutenicht umgesetzt, obwohl alle Beteiligten ihr großesInteresse daran versichern, die Idee einesVerhaltenskodex liegt bis auf weiteres auf Eis.Mit gestiegenem außenpolitischen Selbstbewusstseinwidersetzt sich China außerdem zunehmendeiner umfassenden vertraglichen Regelungder Konflikte. Westliche Beobachter be->>CHINAS GRENZSICHERUNG AUF SEE ERSCHEINTUNKOORDINIERT. HAT DAS METHODE?Fischereipatrouillen unterstützen, die dem Landwirtschaftsministeriumunterstehen. Die Küstenwache,die im Fall des Eindringens fremder Schiffein Hoheitsgewässer eingreift, untersteht wiederumdem chinesischen Ministerium <strong>für</strong> Staatssicherheit.Das Handelsministerium ist schließlich<strong>für</strong> Schmugglerpatrouillen zuständig.Allein der zwischen den Ministerien entstehendeAbstimmungsbedarf erschwert eine bewusste,deeskalierende Reaktion im Konfliktfall.Die vergangenes Jahr geschaffene interministerielle»Abteilung <strong>für</strong> Grenz- und Meeresangelegenheiten«soll künftig Reaktionen auf solche Ereignissekoordinieren und potentielle Konflikte entschärfen– bis das Gremium die bestehenden Rivalitätenzwischen den Ressorts und ihren Unter-organisationen überwinden und diese Bündelungsfunktionvoll übernehmen kann, wird aberwohl noch einige Zeit vergehen.Trotzdem lässt sich schon bei dem Zwischenfallmit der USNS »Impeccable« im März 2009 eineausgereifte Koordination unterstellen – auchwenn es nicht den Anschein hatte. Die Warnungenund Drohgebärden gegenüber dem amerikanischenAufklärungsschiff, als sich dieses 75 Seemeilensüdlich von Hainan aufhielt, kamen vonverschiedensten Organen von Chinas Militär- undPolizeiapparats. Die Regierung in Peking kritisier-SchnellbootersatzDER ASEAN-KOMPLEXDie »Association of Southeast Asian Nations« wurde1967 zur Verbesserung der wirtschaftlichenund politischen Zusammenarbeit gegründet. IhreMitglieder sind Brunei, Indonesien, Laos, Kambodscha,Malaysia, Myanmar, die Philippinen, Singapur,Thailand und Vietnam.Mittlerweile sind weiterführende Kooperationenentstanden: ASEAN+1 (China), die 2004 einAbkommen über eine beabsichtige Freihandelszoneunterzeichneten; ASEAN+3 (China, Japan, Südkorea);das ASEAN Regional Forum, dessen ersteSicherheitskonferenz 2004 mit 27 Ländern in Pekingstattfand und Antipiraterie wie Terrorismusbekämpfungthematisierte; die »ASEAN-Dialogpartner«und der »East Asian Summit«, an demauch die USA und Russland teilnehmen. Einer derDialogpartner ist die Volksrepublik – und mit 11,6Prozent Import aus den ASEAN-Staaten größterHandelspartner der Organisation.ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 28


SEEGRENZEN IPropagandaspiel: In dem Shooter »Glorious Mission Online«, entwickelt mit Hilfe der Volksbefreiungsarmee,dürfen die Spieler die Diaoyu-Inseln von ihren japanischen Besatzern »befreien«. Illustration: Plagame.cnzeichnen die Volksrepublik mittlerweile als »assertivepower«, als sowohl auf diplomatischer wieauf militärischer Ebene aggressiv auftretende Regionalmacht.Besonders die von China in denletzten Jahren massiv betriebene qualitative wiequantitative Aufrüstung seiner Seestreitkräftesteht einem vermeintlichen Kooperationswunschoffenkundig entgegen.Ja, die chinesische Regierung scheint diplomatischeSpannung geradezu zu inszenieren, umihre Souveränitätsansprüche zu bestärken. AmerikanischeBeteiligung – wie beim Zwischenfallmit der »Impeccable« – bewertet Peking als unerwünschteEinmischung der USA. Diese steht auschinesischer Sicht weiteren Verhandlungen überdie regionalen Konflikte im Weg. Entsprechenderklärte der ehemalige chinesische AußenministerYang Jiechi kürzlich auch: »China und die beteiligtenLänder sind fähig und erfahren genug,angemessen mit dem Konflikt umzugehen und<strong>für</strong> Frieden und Stabilität im SüdchinesischenMeer zusammenzuarbeiten.« Eine Abfuhr an dieVersuche Washingtons, seine Verbündeten in derRegion zu unterstützen. Die USA betonten wiederholt,Südostasien sei <strong>für</strong> sie eine Region»nationalen Interesses«: ein Schutzversprechen,das die vorige Außenministerin Hillary Clintonauf dem ASEAN Regional Forum im Juli 2010 inHanoi bekräftigte.Die Unnachgiebigkeit Pekings nach außen istverknüpft mit einem Rechtfertigungszwangnach innen: Noch stärker als an eine »harte Linie«der Außen- und <strong>Sicherheitspolitik</strong> allerdingsist die Legitimation der Herrschaft derKPCh gebunden an wirtschaftliche Prosperität,die unter anderem eine stabile Entwicklung derHandelsbeziehungen mit den südostasiatischenNachbarn garantieren soll – im Falle Vietnams,der Philippinen und Japans genau die Nachbarn,mit denen China im Territorialstreit liegt. Alsgrößter Absatzmarkt <strong>für</strong> alle ASEAN-Staatenwiegt China ökonomisch schwer und beeinflusstso aktiv wie passiv die politischen und ökonomischenAbwägungen der ASEAN-Mitglieder zuseinen Gunsten. Letztere setzen viel daran, ihrenbesten Kunden China nicht zu verprellen.Diese Abhängigkeiten kommen Peking entgegen,wenn es die Konfliktlinien und divergierendenInteressen zwischen den Ländern ausnutzt:ASEAN-interne Streitigkeiten, wie zumBeispiel unabhängig von China bestehende Territorialkonfliktezwischen Vietnam, Malaysiaund den Philippinen, verstärkt die Volksrepublik,indem sie mittels einer »Abwerbetaktik« dieteils historischen Gräben zwischen den Ländernvertieft. Peking nutzt die kulturelle und wirtschaftlicheHeterogenität der ASEAN aus, indemes separat mit einzelnen Ländern bilaterale Verträgeunterzeichnet. Diese »Salamitaktik« spielt>>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 29


SEEGRENZEN Idie Staaten gegeneinander aus und erschwert derengemeinsames Vorgehen.Beispielsweise erreichte China 2009 einen vorläufigenKonsens über die Spratly-Inseln mit Malaysiaund schloss mit ihm gleichzeitig ein bilateralesAbkommen über Kooperation im BankenundFinanzwesen. Auch unterschrieben China,Vietnam und die Philippinen 2005 ein so genanntes»Joint Maritime Seismic Undertaking«, daseine gemeinsame Erkundung des Meeresbodensim Südchinesischen Meer beinhaltet. Obwohl dasAbkommen ein Kooperationsgewinn ist, stehtdem gegenüber, dass Brunei und Malaysia, ebenfallsAnrainer der Südchinasee, von dieser Zusammenarbeitausgeschlossen wurden.Dass aus solchen Abkommen aber keine kohärenteKooperation entsteht, konnte man spätestensim Juni 2011 feststellen, als Vietnam und diePhilippinen gemeinsam mit Japan erstmals offiziellBeschwerde gegen chinesisches Vordringenmilitarisierung in der Region scheinen unrealisierbar,da entweder auf eine chinesische Beteiligungverzichtet werden müsste oder das notwendigeGrundvertrauen <strong>für</strong> solche Gespräche fehlt.Praktische Vorschläge zur Deeskalation beschränkensich auf Themen wie vertrauensbildendeMaßnahmen im militärischen Bereich, wieetwa den Vorschlag, U-Boot-Bewegungen gegenseitigvorher anzumelden, um Zwischenfälle zuvermeiden.Es fehlt an Handlungsoptionen, während dasEskalationsrisiko weiter hoch bleibt. Was bleibt,sind unklare Fronten, vielschichtige Konfliktlinienund ein verhärteter »Ressourcennationalismus«– alle Anrainer der Ostchinesischen undSüdchinesischen Meere erheben den Anspruch,die Rohstoffvorkommen der strittigen Gebieteallein auszubeuten. Ob eine weitere Initiativeder ASEAN wie <strong>für</strong> den ursprünglich auch mitChina vereinbarten »Verhaltenskodex« von Erfolggekrönt sein könnte, ist daher fraglich. DieKonflikte werden zur Zerreißprobe ostastasiatischerKooperation.Franziska Plümmer hat Politikwissenschaft undSinologie in Tübingen und Peking studiert. Sie promoviertan der Eberhard Karls Universität Tübingenzu chinesischen Grenzkonzepten.DIE ASEAN-MITGLIEDER SETZEN VIEL DARAN,IHREN BESTEN KUNDEN NICHT ZU VERPRELLEN.im Südchinesischen Meer formulierten. In Folgeweiterer Vorfälle beantragten die PhilippinenAnfang dieses Jahres bei den Vereinten Nationen,den Streit mit China vor einem Schlichtungsgerichtdes von beiden Staaten unterzeichneteninternationalen Seerechtsabkommens – UnitedNations Convention on the Law of the Sea(UNCLOS) – zu verhandeln. Der philippinischeAußenminister Albert del Rosario betonte dabei,die chinesische Neun-Striche-Linie sei »inkonsistentmit UNCLOS« und daher illegal.Trotz der vielfältigen Kooperationsbemühungeninnerhalb der ASEAN und ihrer Dialogpartner,trotz internationaler Rechtsabkommenund gemeinsamer Absichtserklärungen schiebendie Verhandlungspartner die »Souveränitätsfrage«weiter auf. Im September 2010 verhindertendie Vertreter der ASEAN-Staaten auf einem Treffenmit US-Präsident Barack Obama sogar eineErwähnung des Südchinasee-Konflikts im gemeinsamenAbschlusscommuniqués. Was Chinagerne als »unstrittige Diskussion«, sprich die eigenePosition, bezeichnet, erdulden die anderenbetroffenen Ländern unter leisem Protest.Das Dilemma – regionale wirtschaftliche Kooperationversus territoriale Ansprüche – lässtsich nicht lösen. Rüstungskontrollvereinbarungenund vertrauensbildende Maßnahmen zur De-Quellen und Links:Meldung der Washington Post vom 26. Juli 2013Pressemitteilung des chinesischenAußenministeriums vom 2. Juli 2013Analyse im Chinese Leadership Monitor vom 6. Juni 2013Bericht der BBC vom 22. Januar 2013Positionspapier des Staatsratsinformationsbürosder VR China vom 25. September 2012Bericht der Japan Times vom 9. September 2012Hintergrundbericht der Chicago Tribune vom24. Mai 2012ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 30


»Sicherheit« spielt an Deck eines Flugzeugträgers, wie auf jedem Schiff, eine enorm wichtige Rolle. Foto: US Navy / Justin Wesley<strong>MARITIME</strong> <strong>SICHERHEIT</strong>: FACHLITERATUR IMAHAN WAR GESTERNWas der Preuße Carl von Clausewitz <strong>für</strong> denKrieg zu Lande geliefert hatte, gelangdem Amerikaner Alfred T. Mahan mit »TheInfluence of Sea Power upon History« <strong>für</strong> dieMeere: das klassische strategischeTheoriewerk zu schreiben. Die verschiedenenPerspektiven spiegeln sich bis heutein einem missverständlichen Begriff von»maritimer Sicherheit« wieder. Wer sich<strong>für</strong> das Thema interessiert, sollte allerdingszunächst zu aktuelleren Werken greifen.von Sebastian Bruns>>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 31


FACHLITERATUR I>> Die Geschichte der modernen Seefahrt ist vollvon Missverständnissen. Kapitän Edward J. Smithunterschätzte 1912 auf der Brücke der RMS»Titanic« die Eisberggefahr im Nordatlantik undüberschätzte die vorgebliche Unsinkbarkeit desihm anvertrauten Schiffes; 100 Jahre später beurteilteSmiths Kollege Francisco Schettino Geschwindigkeitund Tiefgang der ihm anvertrauten»Costa Concordia« in einer Weise, die ein spektakuläresKentern zum Ergebnis hatte, das 32 Menschenmit ihrem Leben bezahlten.Nun gibt es freilich auch weniger weltbewegendeIrrtümer im maritimen Bereich, einer istallerdings durchaus <strong>für</strong> die folgende Abhandlungvon Belang: Es geht um die Frage, was »maritimeSicherheit« eigentlich bedeutet. Den Begriff deutenMilitär, Politik und Wissenschaft, aber auchdie Medien im deutschen Sprachraum als Querschnittsaufgabeim Rahmen der so genannten»vernetzten Sicherheit«. Sie umfasst den SchutzDIE DEUTSCHE DEFINITION <strong>MARITIME</strong>R<strong>SICHERHEIT</strong> IST ZUNEHMEND VERWÄSSERT.und die Sicherung der Seewege, berührt internationaleVerträge und Vereinbarungen ebenso wiestaatliche Hoheitsaufgaben und Föderalismusprobleme,schließt Freizeit- und Tourismusschifffahrtebenso ein wie Handels- und DeutscheMarine – kurzum: Die deutsche Definition maritimerSicherheit ist zunehmend verwässert.Das ist vor dem Hintergrund zunehmender sicherheitspolitischerKomplexität durchaus nachvollziehbar.In der Ära des Kalten Krieges warendie deutschen Seestreitkräfte nur eine »Marinemit begrenzten Aufgaben« – so beschrieb es jedenfallsAdmiral Friedrich Ruge, der erste Inspekteurder Bundesmarine. Damals warenhauptsächlich die Nord- und Ostsee, später auchTeile des Nordatlantiks, sehr eng umrissene Tätigkeitsfeldereiner deutschen »escort navy« gegenklar definierte Bedrohungen durch sowjetischeU-Boote und Flugzeuge. Nach dem Ende derBlockkonfrontation und seit die beschleunigteGlobalisierung mit allen ihren Facetten die Weltnachhaltig verändert, entwickelt sich die DeutscheMarine zu einer »expeditionären Streitkraft«mit weltweiten Aufgaben.Zum, im wahrsten Sinne des Wortes, Missverständnisüber maritime Sicherheit trägt wohlauch bei, dass der deutschen Sprache die Unterscheidungzwischen »maritime security« und»maritime safety« fehlt. Das mag man noch bedauern;problematisch wird es jedoch, wenn dieAufgaben von Seestreitkräften von der deutschenPolitik und Öffentlichkeit häufig zivil beziehungsweiseeher polizeilich denn militärisch gedeutetwerden. Die Deutsche Marine ist – manziehe das Grundgesetz zu Rate – mitnichten einverlängerter Arm der Bundespolizei See, dochgenau das übersieht die Berliner Republik gerne.Immerhin sind »maritime security operations«im englischen Sprachraum – und das ist der polizeilicheEinsatz von Marinen – <strong>für</strong> die größerenSeemächte nur eine der zahlreichen Aufgaben,die ihre Seestreitkräfte wahrnehmen müssen. Zurderen Leistungsbeschreibung gehören ferner soverschiedene Facetten wie Machtprojektion, nukleareund konventionelle Abschreckung, ballistischeRaketenabwehr, Flugzeugträgeroperationen,Embargomaßnahmen, Transport von militärischemGerät in oder aus Krisenregionen, Evakuierungvon Staatsbürgern, Ausbildungsunterstützungund so weiter. Das schlägt sich daherinsbesondere im anglo-amerikanischen Bereichin einem weitaus größeren wissenschaftlichenKanon als hierzulande nieder.Die Bundesrepublik als Mittelmacht musssich zwar glücklicherweise nicht etwa mit Fragenmaritimer Abschreckung auseinandersetzen,denn die Maßgaben der deutschen SicherheitsundVerteidigungspolitik sind andere. Vor demHintergrund des oft beschworenen »maritimen21. Jahrhunderts«, in dem Abhängigkeiten undBedrohungen von und über See auch <strong>für</strong> Mittelmächtedeutlicher denn je zu Tage treten, ist dasWissen um das enorme Aufgabenspektrum vonSeestreitkräften aber nicht gering zu schätzen.Aus dem Fremdeln mit maritimen Begriffenund maritim-militärischen Notwendigkeitenerwächst bei unsauberer Übersetzung die Möglichkeit,im internationalen Bereich missverständlichzu wirken – beziehungsweise andere>>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 32


FACHLITERATUR Izu missverstehen – und damit <strong>für</strong> Unmut zu sorgen.Wenn auf Deutsch also von breiter »maritimerSicherheit« die Rede ist, denkt der Anglo-Amerikaner an nur an »maritime security operations«– und wundert sich bisweilen über die sehreng gefasste, auf die Sicherheit der Seewege <strong>für</strong>Handelsschiffe interpretierte tatsächliche Selbstbeschränkungder Deutschen Marine.Noch bedeutender ist die entsprechende Fortsetzungdieser Problematik in Forschung undPublizistik in Deutschland: Die Tendenz der wissenschaftlichenBeschäftigung mit Seesicherheitgeht zunehmend in Richtung der weichen maritimenSicherheitsaufgaben (»soft power«) und umfasstviel zu selten auch die eigentlichen Fähigkeitenund Rollen von Seestreitkräften (»hardpower«). Nicht zuletzt, weil eine moderne Marinegeschichteals akademische Teildisziplin inDeutschland völlig daniederliegt, obwohl siewichtiges Hintergrundwissen vermitteln könnte.Obendrein mangelt es ohnehin noch immer anpolitikwissenschaftlichen Lehrstühlen mit Fokusauf Strategische Studien und Konfliktanalyse.Immerhin: Langsam öffnet sich der hiesigewissenschaftliche Raum zeitgenössischen maritim-sicherheitspolitischenFragen. Denkschriftenrenommierter wissenschaftlicher Einrichtungenund privater Denkfabriken werden zunehmendherausgegeben, einschließlich einer Analyse von»Herausforderungen <strong>für</strong> Nato-Marinen in Zeitender Euro- und Wirtschaftskrise« vom Autorendieser Sammelrezension selbst aus dem vergangenenJahr. Darüber hinaus sind in naher Zukunftverstärkt einige operationalisierbare Doktorarbeitenzu erwarten – allein am Institut <strong>für</strong> Si-cherheitspolitik an der Universität Kiel (ISPK)entstehen derzeit gleich drei Dissertationen zumaritim-sicherheitspolitischen Fragen.Nach mehreren Jahrzehnten Vakanz – dieletzten Bände datieren aus den 1970er und1980er Jahren – drängen nunmehr auch die erstendeutschsprachigen Sammelbände zum Themenkomplex»maritime Sicherheit(spolitik)« aufden Markt. So befasste sich seit Anfang 2010 derHamburger Forschungsverbund »PiraT« strukturiertmit Piraterie und maritimem Terrorismus,im Rahmen dessen jetzt zwei Sammelbände entstandensind. Der Autor dieser Zeilen selbst hatverantwortlich an einem 2013 im WiesbadenerVS-Verlag erschienen Sammelband unter demTitel »Maritime Sicherheit« mitgewirkt.Trotz dieser zunehmend regelmäßigen Publikationenin Forschungsliteratur und Fachzeitschriftenfehlt es in Deutschland an echten Überblicksarbeitenund strategischen Perspektiven.Wer tiefschürfendere Erkenntnisse in Sachen»maritime security« sucht, muss immer noch denanglo-amerikanischem Kanon konsultieren. Unddas ist eben längst nicht mehr Alfred T. Mahans»The Influence of Sea Power Upon History« ausdem Jahr 1890.Die maßgebliche Publikation, vorgetragen imerfrischend nicht-akademischem Duktus, ist undbleibt seit 2004 Geoffrey Tills Glanzstück »Seapower.A Guide for the 21st Century«. Dieser»Seemachtführer« ist dieses Jahr bereits in seinerdritten Auflage erschienen. Till, Professor amGEOFFREY TILL LIEFERT DAS BESSEREVERSTÄNDNIS FÜR <strong>MARITIME</strong> FÄHIGKEITENUND GEFAHREN.Londoner King’s College und seit den 1980er Jahreneiner der maßglichen Strategieanalytikerweltweit, beschreibt darin in verständlicher Sprache,was Seemacht eigentlich ausmacht und inwieweitdas System maritimer Sicherheit mit denkomplexen internationalen Beziehungen inter-Geoffrey Till»Seapower.A Guide for the21st Century«London(Routledge) 2013(3. aktualisierteAuflage),broschiert, 432Seiten, 32,99 GBP>>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 33


FACHLITERATUR Ipower ashore […] and to expand the range of theirinterests, activities and responsibilities.« Diesebeinhalteten eben nicht nur die klassischen Marineaufgabenim Bereich Macht und Herrschaft,sondern im modernen Verständnis Seemacht alsTriebfeder von und gleichzeitig Garant <strong>für</strong> Ressourcenzugang,Transport und Handel sowie denallgemeinen weltweiten Informationsaustausch.KLEINE BOOTE, SCHWACHE STAATENUND SCHMUTZIGES GELDcherheit einschließlich der Rolle von Küstenwacheund Küstenschutz handelt Till in präzisemDuktus ab. Nicht zuletzt sind auch maritimeDiplomatie und die nukleare Abschreckung vonSee her Bestanteile dieses <strong>für</strong> Laien und Fachleutegleichermaßen unverzichtbaren Handbuches.Das bessere Verständnis maritimer Fähigkeitenund Gefahren ermögliche, so befindetTill, eine maritime Politik aus einem Guss, dieVerlässlichkeit bietet und Vertrauen schafft, umeigene Interessen durchzusetzen.Ebenfalls von Wert mit Blick auf die maritimestrategische Kultur, das Denken im maritimenRaum und den damit zusammenhängendenpolitischen und strategischen Möglichkeitenund Einschränkungen ist Roger Barnetts »NavyStrategic Culture: Why the Navy Thinks Differently«aus dem Jahr 2009. Ihm gelingt es, diePsychologie der Seefahrt und der Seestreitkräfteagiert; und folglich Einbettung in eine strukturierteAußen- und <strong>Sicherheitspolitik</strong> bedarf.Von dem Wesen der internationalen Beziehungen,die sich im Zeitalter der Globalisierung zueinem ganz erheblichen Teil über See entfalten,über den Wert der Theorie von Seekrieg und Strategiegelangt Till zu moderner und sogar postmodernerSeemacht: »Navies have always provideda way of policing, and sometimes exploiting,the [increasingly globalised world trading] system«,schreibt Till. »In contemporary conditions,navies – and other forms of maritime power – arehaving to adapt, in order to exert the maximumDie Zukunft von Machtprojektion, also die Rolleexpeditionärer Einsätze und amphibischer Operationensamt Hintergründen und politischenZwecken, die Rolle von Logistik in der Seemachtausübungund die Nützlichkeit von maritimer Si-hervorragend zu beschreiben: Insbesondere dieNaturgewalten, die Weite der Ozeane, die relati- >>Roger W. Barnett»Navy StrategicCulture. Why theNavy ThinksDifferently«Annapolis (NavalInstitute Press)2009, 256 Seiten,28,95 USDRobert D. Kaplan»Monsoon. TheIndian Ocean andthe Future ofAmerican Power«New York(Random House)2010, 384 Seiten,17,00 USDMartin N. Murphy»Small Boats,Weak States,Dirty Money«New York(Columbia UniversityPress) 2010,540 Seiten, 29,50USDADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 34


FACHLITERATUR Ive Einsamkeit und das daraus erwachsene geradezuintime Verhältnis der Seefahrer zu ihrenSchiffen machen die maritime Kultur intellektuell,emotional und politisch einzigartig.Gerade <strong>für</strong> Personen, die nicht zur See fahrenund Interesse an einem vertieften Verständnisder Zusammenhänge auf See haben, ist das Buch– obschon auf die US-Marine fokussiert – durchauswertvoll. Gnädig möge man allerdings überdas reaktionäre Kapitel zur Rolle von Frauen undHomosexuellen in den Streitkräften hinwegsehen,in dem es Barnett gelingt, den Gesamteindruckseiner Auseinandersetzung zu schmälern.Besser machen es wieder Robert D. Kaplanund Martin Murphy, deren Werke ebenfalls zurStandardliteratur <strong>für</strong> derzeitige und künftige See-Experten gehören. Der amerikanische JournalistKaplan, der sich in anderen Publikationen unteranderem mit militärischer Kultur beschäftigte,indem er auf einem Zerstörer, einem U-Boot undbei den SEALs embedded war, hat 2010 ein wirk-Alfred T. Mahan»The Influenceof Sea Powerupon History«(1890), online beiProjekt Gutenberg,kostenloslich lesenswertes Buch zu einem kommenden,maritim geprägten Konfliktfeld vorgelegt: »Monsoon– The Indian Ocean and the Future of AmericanPower« ist eine beeindruckende, geopolitischeingeordnete Schilderung der Geschichtedes Indischen Ozeans und eine Skizze der aktuellenHerausforderungen an dessen Küsten. Mitdem Wiederaufstieg Chinas zur Seemacht, vomindischen Subkontinent ausgehenden maritimenAmbitionen, den Konfliktherden Arabisches Meerund Persischer Golf sowie – last, but not least –der Piraterie vor Somalia gibt es laut Kaplan hinreichendIndizien, dass dieses Weltmeer künftigmehr denn je in den Fokus, übrigens auch in Europa,rücken wird.Von Martin Murphy, einem britischen Analystenin Diensten einer Forschungseinrichtung inWashington, D.C., kommt das immer noch maßgeblicheBuch zu den Sonderproblemen modernePiraterie und maritimer Terrorismus. Sein »SmallBoats, Weak States, Dirty Money«, 2010 vorgelegt,bietet die beste Auseinandersetzung mit dem Sujetund trifft nachvollziehbare Unterscheidungenzwischen Seeräuberei und anderen, diffuserenWER TIEFSCHÜRFENDERE ERKENNTNISSESUCHT, MUSS IMMER NOCHDEN ANGLO-AMERIKANISCHEM KANONKONSULTIEREN.Problemen wie Terrorismus auf See, WaffenundDrogenschmuggel oder Menschenhandel.Für angloamerikanische Seestreitkräfte sinddas ausdrücklich keine zentralen Aufgaben.Doch aufgrund politischer und juristischer Gegebenheitenhaben sie durchaus eine Rolle bei derBegegnung jener Gefahren zu spielen, wie GeoffreyTill schon unterstrichen hat. Dennoch: Übermoderne asymmetrische maritime Herausforderungensollten die unterschiedlichen Missionen,<strong>für</strong> die die Schiffe, Boote und Flugzeuge dereinstbeschafft wurden, nicht vergessen werden.Genau eine solche feingliederige Unterscheidungmaritimer Gefahren und deren Begegnung– wie von Murphy angestoßen – führt zurück zurAusgangsüberlegung: Das komplexe Feld maritimeSicherheit entfaltet sich vor dem Hintergrundeiner oft in sich geschlossenen strategischenKultur. Umso wichtiger ist das präzise undverständliche Herausarbeiten dieser unterschiedlichenDimensionen <strong>für</strong> all jene, die nichtzur See fahren oder einen direkten Bezug zumMeer und zur Marine haben. Freilich müssenauch Anreize geschaffen werden, damit die>>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 35


FACHLITERATUR IProbleme – insbesondere mit Blick auf Deutschlands<strong>Sicherheitspolitik</strong> – auch von »Landratten«zunehmend wissenschaftlich bearbeitet werdenkönnen. Immerhin versucht die Deutsche Marineseit 2004 mit ihrem jährlichen Jahresbericht desFlottenkommandos, einschlägige Fakten und Zahlenzur maritimen Abhängigkeit der Bundesrepublikder Öffentlichkeit vor Augen zu führen.Es gibt im deutschsprachigen Wissenschaftsraumimmerhin Bemühungen, dies auf eine fundierteBasis zu stellen und so der maritimen Sicherheitkünftig den Stellenwert in der Debatteeinzuräumen, der ihr gebührt. Das zeigt ein zunehmendesInteresse der Politik- und Friedensforschungder noch jungen »Berliner Republik«an der Beschäftigung mit maritimer <strong>Sicherheitspolitik</strong>– was sich natürlich mit der Hoffnungverbindet, dass mehr private und öffentlicheForschungsgelder in diese Bereiche investiertwerden. Entscheidend ist, dass aus dieser bisherigen»Seeblindheit« keine »Scheuklappenmentalität«wird, in der maritime Sicherheitsproblemenur nach einem diffusen Wohlfühlfaktoranalysiert werden. Ein strukturierter Literaturkanonist dagegen ein erster Schritt in die richtigeRichtung.Sebastian Bruns, Regionalwissenschaftler Nordamerika,ist Doktorand an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und dort wissenschaftlicher Mitarbeiteram Institut <strong>für</strong> <strong>Sicherheitspolitik</strong>.Quellen und Links:Bericht »Fakten und Zahlen zur maritimenAbhängigkeit der Bundesrepublik Deutschland«,jährlich herausgegeben vom Bundesministeriumder VerteidigungCarlo Masala/Konstantinos Tsetsos: »Die maritimeDimension der Sicherheits- und Verteidigungspolitikder Europäischen Union und Deutschlandsim 21. Jahrhundert«, herausgegeben vomInternational Relations and Security Network derETH Zürich im Mai 2013Felix Seidler: »Maritime Machtverschiebungen imIndo-Pazifischen Raum. Geopolitische undstrategische Trends«. Forschungspapier desInstituts <strong>für</strong> <strong>Sicherheitspolitik</strong> an der UniversitätKiel (ISPK) vom Januar 2013Sascha Albrecht: »Seemacht Brasilien? MaritimeAmbitionen einer aufstrebenden Macht imSüdatlantik«. Studie der Stiftung Wissenschaftund Politik (SWP) vom September 2011Stefan Mair: »Piraterie und Maritime Sicherheit.Fallstudien zu Afrika, Südostasien undLateinamerika sowie Beiträge zu politischen,militärischen, rechtlichen und ökonomischenAspekten«. Studie der SWP-Studien vom Juli 2010DAS CHAOS SchnellbootersatzVERSTEHENDass die Erde zu drei Vierteln von Ozeanen bedecktist, daran erinnert nachhaltig William Langewiesche.Der amerikanische Journalist hat von 1990 bis 2006<strong>für</strong> das renommierte Kultur- und Politikmagazin TheAtlantic Monthly gearbeitet; und aus dieser Zeit vereint»The Outlaw Sea« sechs seiner eindrucksvollsten,ausführlichen Reportagen über Leben und Sterben ineiner Welt, die von den Meeren dominiert ist: von brutalenPiratenüberfällen im indonesischen Archipelüber das dramatische »Estonia«-Desaster im Golf vonFinnland bis zu grausamen Arbeitsbedingungen aufAbwrackwerften an den Stränden Indiens.Mit diesen Beispielen gelingt Langewiesche vorallem eines: den ans Land gebundenen Menschen zudemonstrieren, dass ihre Regierungen zwar versuchen,das Geschehen auf den Weltmeeren zu kontrollieren –aber immer wieder an der natürlichen, elementarenAnarchie des blauen Planeten scheitern. Ideale Ergänzungzur wissenschaftlichen Lektüre.mmoWilliamLangewiesche»The Outlaw Sea. AWorld of Freedom,Chaos, and Crime«New York(North Point Press)2005, 256 Seiten,15,00 USDADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 36


Foto: Crown Copyright / Mark Connell<strong>MARITIME</strong> <strong>SICHERHEIT</strong>: FACHLITERATUR IISchnellbootersatzLÜCKENFÜLLERDer Sammelband »Maritime Sicherheit« stößtvielleicht eine neue politikwissenschaftlicheDebatte zum einer Materie an, die in Deutschlandbisher eher als Nischenthema galt.>> »The maritime domain carries the lifeblood of aglobal system that links every country on earth«,heißt es in der »Cooperative Strategy for 21stCentury Seapower« der USA. 90 Prozent des Welthandelsund 60 Prozent der globalen Ölversorgungwerden über den Seeweg bewältigt. Daher zählt dieGewährleistung sicherer Handels- und Verkehrswegeim maritimen Raum zu den Grundvoraussetzungen<strong>für</strong> das geopolitische Gleichgewicht und damit<strong>für</strong> den freien Welthandel.Aber – man mag es kaum glauben – ausgerechnetin Deutschland, das über die weltweit größteContainer- und drittgrößte Handelsflotte verfügt,galt die Maritime Sicherheit in der sicherheitspolitischenStrategiediskussion bisher eher als ein Nischenthema.Fast vierzig Jahre liegt die Veröffentlichungdes letzten politikwissenschaftlichen Bandszu diesem Thema zurück: »Seemacht und Außenpolitik«,herausgegeben 1974 von Hans-Peter Schwarzund Dieter Mahnke. Jetzt endlich schließt eine neuePublikation die bestehende Forschungslücke. DenAutoren des von Sebastian Bruns, Kerstin Petrettound David Petrovic herausgegebenen Sammelbandes»Maritime Sicherheit«, unter ihnen auch derinternational renommierte Geoffrey Till, Direktordes »Corbett Centre for Maritime Policy Studies« amLondoner King’s College, gelingt es, die Thematikauch aus der deutschen Perspektive umfassend undfundiert zu analysieren und dabei <strong>für</strong> den Diskurs interessierterLeser – mit oder ohne sicherheitspolitischenHintergrund – eine aufschlussreiche wie anregendeLektüre zu bieten.In sechzehn Beiträgen beleuchten die Autorinnenund Autoren aus verschiedenen Perspektiven die wirtschaftlichen,rechtlichen und geostrategischen Dimensionendes maritimen Raums. Es wird deutlich, wiesehr Maritime Sicherheit ein eng miteinander verwobenesGeflecht <strong>für</strong> das Funktionieren unseres globalenSystems, den Umweltschutz oder die Ressourcenversorgungbildet. Und wie sehr diese Aspekte im Gesamtzusammenhanggesehen werden müssen. Viel zuoft wird Maritime Sicherheit im allgemeinen Sprachgebrauchlediglich mit dem Schutz globaler Handelswegegleichgesetzt. Dass maritime (Un)sicherheit weitüber diese eng gefasste Definition hinausgeht, zeigendie kenntnisreichen Autoren in ihren Beiträgen zu denThemen Piraterie, Terrorismus, organisierte Kriminalität,Umwelt- und Klimaveränderungen und dem Wettlaufum Ressourcen in der Tiefsee schlüssig auf.Gerade die Vorfälle von Piraterie und maritimen Terrorismusverdeutlichen, wie sehr politische Problematikenwie fragile Staatlichkeit in den maritimenRaum hineinreichen und diesen beherrschen. DieseThemenvielfalt und fundierte Recherche zu zahlreichenTeilaspekten ist eine der großen Stärken desSammelbands. Im Hinblick auf die aktuellen Debattenzum Grenzschutz an den Küsten und der Migrationauf dem Seeweg hätte ein kurzer Beitrag dazudas Themenspektrum jedoch noch abrunden können.VIEL ZU OFT WIRD <strong>MARITIME</strong> <strong>SICHERHEIT</strong>NUR MIT DEM SCHUTZ GLOBALER HANDELSWEGEGLEICHGESETZT.Wie betroffene Akteure mit maritimer (Un)sicherheitumgehen, wird vor allem im Durchsetzen geostrategischerund wirtschaftlicher Interessen deutlich, wasauch militärische Mittel involviert. Und wie aktuelldie Debatte um den Einsatz militärischer Mittel zurSee ist, zeigen die gegenwärtigen Planungen zu ei- >>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 37


FACHLITERATUR IIner militärischen Intervention in Syrien, die sich mithilfevon größeren Flottenverbänden durchführenließe. Eine interessante Fallstudie dazu ist GeoffreyTills und Martin Robinsons Kapitel zur Kooperationder britischen Luft- und Seestreitkräfte bei derDurchsetzung der Flugverbotszone in Libyen 2011.Der Einsatz habe, so Till und Robinson, die Vorzügeeines maritimen Strategie-Ansatzes deutlich gezeigt.Aus dem Band geht hervor, dass insbesonderedie ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats denAusbau ihrer maritimen Kapazitäten forcieren – insbesonderezum Einsatz von Expeditionsstreitkräften.Das hängt auch mit der Verschiebung des Zentrumsgeopolitischer Interessen nach Asien und der Sicherungdes indopazifischen Raums zusammen. Dabeibleiben die USA nach wie vor auch auf See die unangefochteneSupermacht. Zugleich rüsten aber Russlandund China auf. Ob Russland seine Seemachtwie geplant bis 2030 zu einer Geltung wie seinerzeitder sowjetischen wiederherstellen kann, bleibt jedochungewiss. China scheint eher seine geopolitischePosition und seinen Einfluss in der indopazifischenRegion zu stärken, als <strong>für</strong> einen militärischenKonflikt aufzurüsten. Felix Seidler schätzt, dass dieVolksrepublik zudem erst 2025 über eine vollständigeinsatzbereite Flotte verfügen wird.Wie auch in vielen anderen sicherheitspolitischenZusammenhängen, wird Deutschland <strong>für</strong> dasFehlen einer Debatte zu maritimer Sicherheit undmangelnde Kooperationsbereitschaft mit Bündnispartnerngetadelt. Seinen europäischen Nachbarnhinke es klar hinterher. Das liege laut Kerstin Petrettoauch daran, dass »kein Bundesministerium die[...] Federführung über den maritimen Raum unddessen Sicherheit innehat« und Deutschland daherkeine klare politische Linie verfolge. Die Autorinzeigt sich jedoch optimistisch und glaubt, dass einUmdenken immerhin bereits eingesetzt hat. Allerdingssolle die Bundesrepublik sich demnach auchinnerhalb der Nato und der EU <strong>für</strong> mehr Kooperationmit seinen Bündnispartnern einsetzen.DASS DEM BAND NOCH EINIGE ASPEKTE FEHLEN,BESTÄTIGT NUR SEINE EIGENE WICHTIGKEIT.Mit der Analyse der maritimen Strategien und Kapazitätender fünf permanenten Mitglieder im UN-Sicherheitsrat China, England, Frankreich, Russlandund den USA, sowie Deutschlands, der EU und derNato decken die Autoren einen wichtigen Teil dermaritimen Akteure ab. Leider beachten sie die maritimenStrategien anderer aufstrebender Mächte alsRussland und China, wie zum Beispiel Indien oderBrasilien, wenig. Dabei bietet gerade Indien eine interessanteFallstudie zum Aufstieg eines BRIC-Staatesund dem damit verbundenen Ausbau seiner Seestreitkräfte:Am 12. August dieses Jahres ließ Indien seinenersten in Eigenregie gebauten Flugzeugträger, dieSebastian Bruns,Kerstin Petretto undDavid Petrovic (Hrsg.)»Maritime Sicherheit«Wiesbaden(VS-Verlag) 2013, 257Seiten,29,99 Euro»Vikrant«, vom Stapel laufen und überholte damitChina, welches zwar größere Streitkräfte, aber keinenTräger aus eigener Produktion besitzt.Ein Thema, das vielleicht ebenso noch hätte beleuchtetwerden sollen, ist der Umstand, dass inzwischenauch nichtstaatliche Akteure, wie die zumSchutz vor Piraterie-Angriffen angeheuerten privatenSicherheitsunternehmen – zum Beispiel dieBowline Defence oder die Gulf of Aden Group Transits– an Bedeutung gewinnen. Dass dem Leser solchesFehlen einiger Aspekte auffallen kann, bestätigt nurdie Notwendigkeit einer diversen und breiteren Debatteüber maritime Sicherheit in Deutschland, diedieser Sammelband hoffentlich anstößt.Insgesamt gibt der Sammelband einen umfassendenund vielseitigen Einblick in die Lage derinternationalen maritimen Sicherheit und schafft esdabei dem Leser trotz der Themenfülle, detailliertewissenschaftliche Expertise zu den einzelnen Teilaspektenzu vermitteln. Das macht das Buch zu einemweiteren Must-Read <strong>für</strong> alle an maritimen Themeninteressierte Leserinnen und Leser. iskQuellen und und Links:Bericht der National Post aus Torontovom 13. August 2013»Cooperative Strategy for 21st Century Seapower«der US Navy, des US Marine Corps und der US CoastGuard vom Oktober 2007Webpräsenz der Bowline DefenceWebpräsenz der Gulf of Aden Group TransitsADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 38


<strong>MARITIME</strong> <strong>SICHERHEIT</strong>: DEUTSCHLANDDie Sicherheitsinteressen derBundesrepublik sind besondersim Bereich Marinestrategieuntrennbar mit transatlantischenund europäischenBündnisinteressen verknüpft.Im Einklang mit dem Zeitgeistvon »smart defence« und»pooling and sharing« macht dieDeutsche Marine dabei politischwie militärisch deutlicheSchritte in Richtung vertiefterKooperation und Interoperabilität– während sie sichimmer weiter zur Expeditionsstreitmachtumformt.VORHUT DES SPARZWANGSvon Kai Peter Schönfeld>> »Steinbrück stellt Deutsche Marine infrage.«Der Aufschrei, den diese Schlagzeile ausgehendvom Berliner Tagesspiegel im vergangenen Märzin Seefahrerkreisen und der sicherheitspolitischenCommunity Deutschlands losgebrochenhat, klingt bis heute nach. Außen- und sicherheitspolitischeAhnungslosigkeit, Leichtsinn undRealitätsverlust warfen Politiker aus der Koalitiondem SPD-Kanzlerkandidaten damals vor. Voneinem »Schlag ins Gesicht <strong>für</strong> jeden Marineangehörigen«sprachen gar die CDU-Bundestagsabgeordnetenund Mitglieder des Verteidigungsaus->>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 39


Vorige Seite: Fregatte »Sachsen« beim Einlaufen in Djibouti 2012 auf dem Weg zum »Atalanta«-Einsatz. Foto: Bundeswehr / Gunnar WolffDEUTSCHLANDschusses Ernst-Reinhardt Beck und Ingo Gädechens.Es ist fraglich, inwiefern diese verknappendeund polemisierende Schlagzeile die IntentionPeer Steinbrücks korrekt abgebildet hat. Betrachtetman den Gesamtzusammenhang jener Fachkonferenz»Europäische Sicherheit« der ArbeitsgruppeSicherheit und Verteidigung der SPD-Bundestagsfraktion im Frühjahr 2013 – an der imÜbrigen auch Sachkenner aus Politik, Militär undWissenschaft beteiligt waren –, so kommt man zuVerteidigungspolitik deutlich in Richtung mehrKooperation, mehr Koordination und vertieftewechselseitige Partnerschaft. Das Subsidiaritätsprinzipin der EU und in der Nato bleibt zwar davonzunächst unangetastet. Aber zum einen zwingendie mit wenigen Ausnahmen europaweitschrumpfenden Verteidigungsbudgets zu derartigenMaßnahmen. Zum anderen wächst allmählichdie Erkenntnis, dass die Stimme Europas in derphisch als auch ökonomisch ein zentrales Landin Europa, und damit in einem gewissen Maßauch politisch. Militärisch und marinestrategischweist dieses Verhältnis historisch begründeteAsymmetrien auf. Die Bundesrepublik istgerade im Vergleich zu Frankreich, Großbritannienoder gar den USA keine Seemacht. Mansollte von solcherlei Ansprüchen an die deutschePolitik oder die Bundeswehr auch deutlichdem Schluss, dass Steinbrück wohl eher am Beispielder Marine seine Ideen von Verteidigungs-WIRD EINE EUROPÄISCHE SEESTREITMACHT DERkooperation, von »smart defence« und »pooling ENDPUNKT DER ENTWICKLUNG SEIN?and sharing« in EU und Nato darbieten wollte. DerSozialdemokrat dachte zum Beispiel laut darübernach, warum nicht alle Nord- und Ostseeanrainer»am Ende eine gemeinsame Marine aufstellen«sollten, allein angesichts der Personalknappheitbei den Deutschen. Die vielleicht etwas schnodderigvorgetragene steinbrücksche Marinevision voneinem maritimen »Großen und Ganzen« im Bündnisbeweist somit durchaus ein gewisses Maß anAktualität. Sie kann als Ausgangspunkt <strong>für</strong> einekonstruktive Diskussion im maritimen Kontextüber Verteidigungskooperation, »pooling andsharing«, »smart defence« und über das deutschePrinzip der »Breite vor Tiefe« dienen.Um es bereits zu Beginn vorweg zu nehmen:Eine europäische Marine mit einem Flottenkommandoin Brüssel wird es in den nächsten Jahrzehntennicht geben. Die nationale, Deutsche Marinewird nicht ernsthaft zur Disposition stehen.Gleichwohl weisen die aktuellen Tendenzen europäischerund transatlantischer Sicherheits- undglobalen Außen- und <strong>Sicherheitspolitik</strong> künftignur im Gleichklang wahrgenommen werden wird.Insbesondere auf See kommt allerdings nocheine ganz andere Komponente von Internationalitäthinzu: Die maritimen Agenden der europäischenNachbarstaaten, die gemeinsam Anrainervon Regionalgewässern wie beispielsweise derNord- oder Ostsee sind, weisen oft Analogien auf.Mehr Zusammenarbeit verspricht stärkere Synergien.Zudem sind die Ziele des UN-Seerechtsübereinkommensvon 1982, freie Seehandelswegeoder die Bekämpfung von Piraterie maritime Interessenvon globalem Gewicht. Marinepolitikund -strategie bieten sich aus deutscher und europäischerSicht also sowohl traditionell als auchtagesaktuell <strong>für</strong> Kooperationsprojekte an.Welches ist nun die Perspektive <strong>für</strong> die DeutscheMarine und welchen Kurs fährt sie in dieserEntwicklung? Deutschland ist sowohl geogra-Abstand nehmen, wenngleich Deutschland alsExportnation natürlich zu einem hohen Gradvon der Lebensader freier Handelswege über dieWeltmeere abhängig ist.Die Deutsche Marine befindet sich seit demEnde des Kalten Krieges in einem Transformationsprozessvon einer »escort navy« hin zu einer»expeditionary navy«. Strategen im In- undAusland erwarten zu Recht von ihr, dass sieüberregional beziehungsweise global Verantwortung<strong>für</strong> maritime Sicherheit mitträgt, sichinternational beteiligt und im Kontext von EU,Nato oder UN Kompetenzen und Fähigkeitenzur Beantwortung akuter maritimer Fragen einbringt.Das tut die Deutsche Marine. Ob sie personellund materiell in der Lage ist, diese vonder Regierung und dem Parlament an sie gestelltenAufgaben in einem ausreichenden oderangemessenen Maßstab nachhaltig zu erfüllen, >>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 40


DEUTSCHLANDDank jahrzehntelanger Kooperation sind die Nato-Marinen eigentlich bestens auf »pooling and sharing«vorbereitet. Hier der britische Zerstörer »York« und das italienische Landungsschiff »San Marco«, denen derdeutsche Versorger »Frankfurt am Main« während des UNIFIL-Einsatzes 2006 neuen Treibstoff liefert.Foto: Bundeswehr / Ann-Katrin Wingesdarüber lässt sich freilich streiten. Dennoch leistetsie über die Einsätze »Atalanta«, »UNIFIL«und »Active Endeavour«, über das Engagement inden »Standing Nato Maritime Groups« und»Standing Nato Mine Countermeasures Groups«sowie über die Teilnahme an verschiedenstenmultinationalen Manövern und Übungen, wiezuletzt dem »Westlant Deployment« in amerikanischenGewässern, zweifelsfrei wichtige maritimsicherheitspolitischeBeiträge.In der künftigen strategischen und operativenAusrichtung der Deutschen Marine stand undstehen Verteidigungsministerium und Flottenkommandoaber vor einer Grundsatzentschei-dung: Hält man am Konzept der »Breite vor Tiefe«– also an einer möglichst breiten Fähigkeitspalettezu Ungunsten einer marinetaktischenSchwerpunktsetzung – fest oder ist man bereit,gewisse Fähigkeiten gänzlich aufzugeben, auf dieSolidarität der Bündnispartner zu vertrauen undda<strong>für</strong> wenige, fest umrissene Kernfähigkeitenauszubilden?Unter den Sparzwängen der Staatsschuldenkrisenstehen die meisten europäischen Marinenähnlichen Fragen gegenüber. Von radikalen Einschnittenwar zuletzt aus Spanien zu hören gewesen,wo der Flugzeugträger »Príncipe de Asturias«bereits außer Dienst gestellt ist und das Versorgungsschiff»Cantabria« nach Australien verliehenwird. Großbritannien steht vor ähnlichenProblemen, weil bis heute unklar ist, ob der geplantezweite Flugzeugträger der »Queen Elizabeth«-Klassejemals in Dienst gestellt wird.Frankreich hat sich bereits gegen den Bau einesSchwesterschiffs <strong>für</strong> die »Charles de Gaulle« entschieden.Belgien und die Niederlande pflegenseit Jahren eine enge Marinekooperation, die beinaheden Anschein einer gemeinsam betriebenenFlotte erweckt, nicht zuletzt weil die größtenschwimmenden Einheiten der belgischen Marineex-niederländische Fregatten sind. Ihre Kooperationerstreckt sich insgesamt über weite Teile derAusbildung, Versorgung, Wartung und Operation,bis hin zu einem Flottenkommando <strong>für</strong> beide Marinenim niederländischen Den Helder.Die Liste ließe sich beliebig weiterführen.Deutschland indes bleibt bislang offiziell beimKonzept »Breite vor Tiefe«. Die Bundeswehr sollals Instrumentarium deutscher Außen- und Si->>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 41


DEUTSCHLANDcherheitspolitik ein möglichst breites Angebot anmilitärischen Fähigkeiten zur Verfügung stellen.Auf die maritimen Fähigkeiten bezogen, handeltes sich präzise formuliert allerdings um eine eingeschränkte»Breite vor Tiefe«. Gewisse Fähigkeitenbesitzt die Bundesrepublik nicht und strebtdiese auch nicht an, wie beispielsweise Flugzeugträger,Einheiten mit atomarem Antrieb oder amphibischeEinheiten, also hochseefähige Landungsschiffe.Andere Fähigkeiten werden momentanergänzt, erweitert oder modernisiert, wiebeispielsweise das Projekt eines oder mehrerer»joint support ships«, der Ausbau und die Aufwertungder Marineinfanterie oder das Konzeptvon flexibel einsetzbaren Missionsmodulen imRahmen der geplanten »Mehrzweckkampfschiffe180« (siehe Infoboxen diese und folgende Seite).Diese Projekte sollen die bereits bestehendenKompetenzen, etwa der konventionellen U-Boote, der Minenabwehr, der Verwundetenversorgungauf See oder der vielseitigen Fähigkeitender Fregatten und Korvetten, weiter abrunden.Dieses Konzept einer »Breite vor Tiefe« mitAugenmaß und Realitätssinn soll dem deutschenSpannungsverhältnis zwischen geographischerund wirtschaftlicher Zentralität und relativemmilitärischem und strategischem Begrenztseingerecht werden. Etwas salopp könnte man auchsagen, dass Deutschland als »Großer« in EU, Natound UN militärisch vieles kann, aber sich nichtalles leisten muss.An dieser Haltung wird jedoch auch Kritik laut:So ist von unseren Bündnispartnern gelegentlichder Einwand zu hören, Deutschland werde aufgrundder beschriebenen Eingeschränktheit seinermilitärischen Fähigkeiten seiner Verantwortung<strong>für</strong> die maritime Sicherheit nicht ausreichend gerecht.Sie fordern mehr Engagement, mehr»Breite«. Von anderer Seite wird das Festhalten ander »Breite« dagegen grundsätzlich in Frage gestellt– wie von Peer Steinbrück auf der SPD-Fachkonferenz. Nicht jeder müsse innerhalb einesBündnisses alles können, sondern jeder gewissemilitärische Kernkompetenzen einbringen. Erst inder Summe müsse das Bündnis alles können.Eine gewisse Mindestbreite und -tiefe solltenaus deutscher Sicht nicht unterschritten werden.EU und Nato benötigen <strong>für</strong> ihre maritime Handlungsfähigkeitnationale Seestreitkräfte, die einbreites Spektrum an Kernkompetenzen in dieWaagschale werfen können, Staaten, die initiativVerantwortung übernehmen. Dazu sind größereLänder wie die USA, Großbritannien und Frankreich,aber mit einem gewissen Abstand auchDeutschland prädestiniert.Zudem sind Planer und Gestalter notwendig,die den Fähigkeitsabbau unter den vielen europäischenund transatlantischen Marinen koordinieren.Dieses Desideratum könnten zentrale Organewie der Nato-Rat oder die Europäische Verteidigungsagenturausfüllen. Eine stärker subsidiärorientierte Lösung könnte am Beispiel der EUaber auch ein Netz bilateraler Kooperationsprojektesein, bei dem maritim breit aufgestellteLänder wie Frankreich, Großbritannien undDeutschland nicht nur untereinander stärker kooperieren,sondern auch kleineren Marinen mitlückenhaften Fähigkeitsprofilen mehr Anknüpfungspunkte<strong>für</strong> die eine oder andere Möglichkeitzur Zusammenarbeit böten. >>SchnellbootersatzEXPEDITIONSUNTERSTÜTZUNGEin »joint support ship« (JSS) ist ein vielseitig einsetzbarerSchiffstyp mit bewusst breitem Aufgabenspektrum,der sich in unterschiedlichen Variantenbereits in vielen europäischen Marinen durchgesetzthat. Eine Anschaffung von zwei Unterstützungsschiffenist <strong>für</strong> die Deutsche Marine <strong>für</strong> 2025 vorgesehen– auch wenn die Finanzierung laut Blog augengeradeausnoch alles andere als gesichert ist.Im Zentrum der Fähigkeiten eines JSS steht der»Joint«-Gedanke, also die Nutzung der Plattformdurch alle Teilstreitkräfte, vornehmlich Marine undHeer. Die in der Deutschen Marine <strong>für</strong> eine »expeditionarynavy« klaffende Fähigkeitslücke der »gesichertenmilitärischen Seeverlegefähigkeit« sollendie JSS schließen. JSS dienen somit der breitenlogistischen und operativen Unterstützung vonweltweit möglichen, streitkräftegemeinsamen Einsätzen.Sie sollen die Führungsplattform auf See<strong>für</strong> Landeinsätze bilden, Evakuierungen und Hilfsoperationenausführen, im Einsatzgebiet Flugbetriebermöglichen sowie logistische und medizinischeVersorgung bereitstellen – und eine besonderslange Durchhaltefähigkeit beweisen.Die kanadische Marine hat unlängst entschieden,auf Basis eines deutschen Modells eine solchemaritime Unterstützungsplattform neu zu beschaffen:die Versorgungsschiffe der »Berlin«-Klasse,gebaut von der ThyssenKrupp Marine Systems ausKiel. Für die Deutsche Marine wird es allerdingswohl einen neuen Entwurf geben, der noch weiterüber die Fähigkeiten der »Berlin« hinausgeht.ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 42


DEUTSCHLANDSchnellbootersatzSCHNELLBOOTERSATZDas »Mehrzweckkampfschiff 180«, kurz MKS 180,ist ein Schiffbauprojekt in der Planungs- und Konzeptionsphase<strong>für</strong> die Deutsche Marine, mit dessenIndienststellung man voraussichtlich in den2020er Jahren rechnet. Nach jetzigem Stand sollensechs Einheiten beschafft werden, um dieSchnellboote der »Gepard«-Klasse zu ersetzen,die noch aus den frühen 1980er Jahren stammen.Das MKS 180 soll technisch und personelldurch Intensivnutzung, missionsmodulare Ausstattungund Mehrbesatzungskonzepte durchhaltefähigersein als bisher in der Deutschen MarineDagewesenes. »Missionsmodularität« bedeutet indiesem Zusammenhang, standardisierte Ausrüstungssystemean den jeweiligen Einsatz angepasstauszutauschen. Das Schiff kann damit auchpersonell je nach Anforderung besetzt werden.Mit dem Betrieb von MKS 180 verspricht sich dieBundeswehr den ressourceneffizienten Erhalt einesmöglichst breiten Fähigkeitsspektrums; dieFachzeitschrift MarineForum nennt das Projektprägnant »das Schweizer Armeemesser der DeutschenMarine«.nen. Sie kann aber auch selbst als Dreh- und Angelpunkt,als Nukleus, agieren, indem sie mit kleinerenNachbarstaaten wie mit den Niederlandenund Belgien, mit Dänemark oder Polen zusammenarbeitet.Auf diese Weise werden Fähigkeitslückenausgeglichen, Lasten und Kosten verteiltund Erfahrungen und Know-how ausgetauscht.Wie genau sehen diese Planspiele auf der politischenEbene und im Alltag der Flotten aus? Woliegen weitere Entwicklungschancen? Die Bundesregierungund die Deutsche Marine haben inden vergangenen Monaten und Jahren wichtigeWeichenstellungen unternommen, die es weiterzu ergänzen gilt. Zunächst laufen die bereits erwähntenmaritimen Einsätze und Manöver imBündnisrahmen weiter. Darüber hinaus sind dreibilaterale Projekte von besonderem Interesse,nämlich die deutsch-französische, die deutschniederländischeund die deutsch-polnische Marinekooperation.Mit der regelmäßigen Aktivierungaktiviert. Wünschenswert wären eine zeitlicheAusdehnung oder gar eine dauerhafte Bildungeines deutsch-französischen Marineverbandes,der gemeinsam Auslandseinsätze bestreitenkönnte. Deutschland könnte mit einer Fregatteoder Korvette auch zu einem Trägerverband umdie »Charles de Gaulle« beitragen. So wie Anfangdieses Jahres die Fregatte »Hamburg« <strong>für</strong> vierMonate der amerikanischen Trägergruppe um dieUSS »Dwight D. Eisenhower« zugeteilt war.Deutschland und die Niederlande haben am28. Mai 2013 eine Absichtserklärung zur vertieftenVerteidigungskooperation beschlossen, in derauch dezidiert maritime Projekte genannt werden.Man wolle, so der Originalwortlaut»opportunities for establishing more permanentforms of cooperation and deeper integration«ergründen. Eine Roadmap, die der Absichtserklärungbeigefügt ist, schlägt konkrete Projekte unteranderem im Bereich des U-Bootdesigns undBEI ALLER BERECHTIGTEN KRITIK – EINMINDESTMASS AN BREITE VOR TIEFE SOLLTE DIEDEUTSCHE MARINE NICHT UNTERSCHREITEN.Die Deutsche Marine kann durch militärpolitischeKooperation an die geopolitisch zentrale Lage derBundesrepublik, umringt von Freunden, <strong>für</strong> dieErhaltung ihrer Kernkompetenzen anknüpfen.Dabei kann sie sowohl als kleiner Partner, beispielsweiseeingegliedert in Verbände der US Navyoder der französischen Marine nationale die-der DEFRAM (siehe Infobox auf der folgendenSeite) haben Frankreich und Deutschland seit1992 Strukturen einer auf Dauer angelegten maritimenPartnerschaft geschaffen. Leider wurdeder gemeinsame Marineverband der beidenNachbarländer bislang lediglich jedes Jahr <strong>für</strong>einige Wochen im Rahmen von Übungsfahrten-baus, der Minenabwehr, der Nutzung von Drohnenauf See und der seebasierten Flugkörperabwehrauf der Basis des gemeinsam genutztenWeitbereichsradars SMART-L vor. Ferner sollenbeide Marinen den Austausch von Personal,Know-How und Erfahrungen vertiefen und Ausbildungskapazitätengemeinsam nutzen. >>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 43


DEUTSCHLANDTags zuvor hatte Verteidigungsminister Thomasde Maizière bereits eine Absichtserklärung zurmaritimen Kooperation mit seinem polnischenAmtskollegen Tomasz Siemoniak unterzeichnet.Dieses Dokument scheint in einigen Punktennoch weiter zu gehen: Neben ähnlichen Projektenwie mit den Niederländern sind grundlegenddie Bildung einer deutsch-polnischen Marinearbeitsgruppesowie die zeitlich begrenzte Aufstellungeines gemeinsamen Minenabwehrverbandesin der Ostsee im Rahmen der »Nato Mine CountermeasureGroups« angedacht. Ferner wolle manbei der Entwicklung, Beschaffung und personellenAusstattung des »joint support ship« koope-SchnellbootersatzDEUTSCH-FRANZÖSISCHE FLOTTILLEDie »Force navale franco-allemande« (FNFA) beziehungsweiseder »Deutsch-Französische Marineverband«(DEFRAM) ist die maritime Varianteder deutsch-französischen Verteidigungszusammenarbeit.Seit 1992 wird der Verband – andersals etwa die deutsch-französische Brigade – regelmäßig<strong>für</strong> einen begrenzten Zeitraum aus variierendenEinheiten beider Marinen zusammengestelltund normalerweise <strong>für</strong> multinationale Manöverund Ausbildungsvorhaben aktiviert.Lediglich in den Jahren 2003 und 2004 übernahmer operative Aufgaben im Zusammenhangmit der »Operation Enduring Freedom«. Zuletztwurde der DEFRAM im Mai dieses Jahres zum U-Jagdmanöver »Spontex 2013« vor der französischenAtlantikküste aktiviert.rieren, gemeinsam neue Tank- und Versorgungsschiffeentwickeln, gemeinsam Missionsmodule<strong>für</strong> das Mehrzweckkampfschiff 180 bauen und immarineinfanteristischen Bereich, beispielsweisedurch den Austausch von Boardingteams, engerzusammenarbeiten. Begleitet wurde das De-Maizière-Siemoniak-Papier von der Meldung,Polen prüfe den Kauf deutscher U-Boote – deutscheAusbilder mit eingeschlossen.Während man sich in der deutsch-französischenMarinekooperation noch auf alten Pfadenbewegt, scheint sich mit den Niederlanden undPolen eine neue Qualitätsstufe maritimer Kooperationabzuzeichnen, die richtig und wichtig ist.Wie viele Aspekte der Absichtserklärungen letztlichnationalstaatlichen Prüfungen standhaltenwerden, lässt sich freilich noch nicht mit Gewissheitvorhersagen.Fest steht allerdings, dass Deutschland Initiativenin Richtung eines maritimen »pooling andsharing« mit seinen Nachbarstaaten auf den Weggebracht hat. Zu einer europäischen Marine à laSteinbrück wird dies gewiss (noch) nicht führen.Zu mehr Kooperation, mehr Lastenteilung undmehr Effektivität in der europäischen und transatlantischenMarinestrategie und Operationsfähigkeithingegen sehr wohl.Kai Peter Schönfeld ist Leutnant zur See. Er hat ander Helmut-Schmidt-Universität Hamburg und derUniversité Paul-Valéry Montpellier Geschichte undSoziologie studiert.Quellen und Links:Peter Hefele: »Fragile Wertschöpfungsketten.Zur Notwendigkeit eines deutschen maritimenEngagements«, Forschungspapier der Konrad-Adenauer-Stiftung vom 5. Juli 2013Gemeinsame Absichtserklärung zur vertieftenZusammenarbeit der Deutschen und NiederländischenStreitkräfte vom 28. Mai 2013Gemeinsame Absichtserklärung zur vertieftenZusammenarbeit der Deutschen und PolnischenMarine vom 27. Mai 2013Auszug aus der Rede Peer Steinbrücks auf derSPD-Fachkonferenz »Europäische Sicherheit« am13. März 2013Studie »The maritime dimension of CSDP. Geostrategicmaritime challenges and their implicationsfor the European Union« des Generaldirektorats<strong>für</strong> Außenpolitik des EuropäischenParlaments vom Januar 2013Sebastian Bruns: »Herausforderungen <strong>für</strong> Nato-Marinen in Zeiten der Euro- und Wirtschaftskrise«,Forschungspapier des Instituts <strong>für</strong> <strong>Sicherheitspolitik</strong>der Universität Kiel vom Dezember 2012Nato Alliance Maritime Strategy vom18. März 2011Parrein, Pieter-Jan: »Some Ideas for European DefenceCooperation from the Case Study of theBelgian-Dutch Navy Cooperation«, Forschungspapierdes belgischen Royal High Institute forDefence Centre for Security and Defence Studiesvom December 2010ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 44


<strong>MARITIME</strong> <strong>SICHERHEIT</strong>: EUROPADie Inselnation Zypernscheint den richtigen Gedankenbefördert zu haben:Die »Europäische MaritimeSicherheitsstrategie«, die geradeentsteht, kann die Kooperationvon ziviler und militärischerSchifffahrt nur begünstigen.SEEBEINE FÜR BRÜSSELvon Markus HarderJa, sie muss dringend alsWegweiser dienen. Denn trotzvergleichbarer Probleme fehltes den betroffenen Akteurenan einer echten gemeinsamenseebezogenen Agenda.>> Eigentlich ist Europa sich der existentiellenwirtschaftlichen Bedeutung von Seehandel undmaritimer Infrastruktur bewusst. Die EuropäischeUnion treibt deren Förderung mit ihrer »IntegriertenMeerespolitik« (IMP) sichtbar voran; sie mussjedoch der erkennbaren Verwundbarkeit der maritimenInteressen Europas, über die bereits bestehendennationalen Schutzmechanismen hinaus,noch deutlicher Rechnung tragen. Dies ist der Unionbislang – auch mittels der eher landfokussierten»Europäischen Sicherheitsstrategie« (ESS), dieden maritimen Bereich einzig in Zusammenhangmit der Piraterie betrachtet – nicht gelungen.Die EU hat ihre maritimen Interessen in der IMPin erster Linie wirtschaftlich und ökologisch definiert,jedoch versäumt, mögliche diesbezüglicheBedrohungen zu benennen und hieraus Handlungsoptionenzum Schutze besagter Interessenzu entwickeln. Eine »Europäische Maritime Sicherheitsstrategie«(EMSS), die die Union bis Jahresende2013 anstrebt zu erstellen, ist somit – imSinne einer gemeinsamen maritimen Interessenwahrung– mehr als überfällig. Der letzte, informelleAnschub zu dieser EMSS ist noch von ZypernsRatspräsidentschaft Ende 2012 ausgegangen;die Aufgabe, sie zu erarbeiten, liegt bei derKommission und Catherine Ashtons EuropäischemAuswärtigen Dienst.Eine ausführliche EMSS könnte dazu beitragen,einen europäischen Sicherheitsansatz zukonsolidieren. Mit ihr kann die EU den sicherheitspolitischenProblemen auf See stärker, weileinheitlicher, begegnen. Darüber hinaus kann dieStrategie das zwischen der IMP und der ESS bestehendemaritime Strategievakuum füllen, alsPlanungsgrundlage <strong>für</strong> ein noch gezielteres undsomit erfolgreicheres »pooling and sharing« zwischenden europäischen Marinen dienen sowienicht zuletzt damit Europas Rolle im globalen>>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 45


Vorige Seite: Europas Außenkommissarin Catherine Ashton zu Besuch bei der EU-Mission »Atalanta« im August 2012. Foto: EEAS / Riccardo GangaleEUROPAmaritimen Umfeld ausbauen. Dies ist zweifelsohneim Sinne der maritimen Verteidigungskooperation,die sich zwischen einzelnen EU-Mitgliedstaatenentwickelt, und zugleich ein weitererSchritt <strong>für</strong> »smart defence«, die die Nato propagiert.Damit die Strategie aber all dies leistenkann, ist es unumgänglich, maritime Bedrohungenumfänglich zu analysieren und daraus Handlungsoptionen– von präventiv bis reaktiv – abzuleiten.Die Notwendigkeit ist augenscheinlich: In Anbetrachtder aktuellen innerstaatlichen Entwicklungenund insbesondere bei der absehbar anhaltendenGeldknappheit können Europas Seestreitkräfteihre Leistungsfähigkeit nur gemeinsam aufrechterhalten,um so den globalen maritimenHerausforderungen mit einer ausreichendenDurchhaltefähigkeit gerecht zu werden.als auch in einem multinationalen Marineverbandorientieren können. Andernfalls werden diebilateralen maritimen Kooperationsvorhaben –wie etwa die niederländisch-belgische Flottenzusammenarbeit,oder die gemeinsamen britischfranzösischenFlugzeugträgerpläne – das Niveaueiner interessengemeinschaftlichen Nachbarschaftshilfezwischen befreundeten Anrainerstaatennicht übersteigen. Der Gedanke an eine»europäische Marine« drängt sich zwangsläufigauf – ihn müssen die europäischen Partner jedochnicht zwingend verfolgen, erscheint seineUmsetzung doch nicht zuletzt aufgrund der Souveränitätsansprücheund Eigeninteressen dereinzelnen Akteure als eher unwahrscheinlich.Sofern es der EU aber gelingen sollte, alle Akteure– also nicht nur Repräsentanten der Einzelstaaten,sondern auch ihre nationalen MarinenAUSGEWÄHLTE PARTNER HELFEN EINANDER,DEN ENG GESCHNÜRTENHAUSHALTSGÜRTEL ZU ENTLASTEN.SchnellbootersatzBRÜSSEL ZU WASSERDie »Integrierte Meerespolitik der EU« ist ein Instrumentzur Förderung der nachhaltigen Entwicklungmaritimer Sektoren in Europa, wie Schiffbau,Fischerei und maritime Infrastruktur. Sie wurde2006 von der Europäischen Kommission mit dem»Grünbuch zur Meerespolitik« initiiert und befasstsich mit folgenden Kernbereichen:Beitrag der maritimen Wirtschaft zu Wachstumund Beschäftigung: »Blaues Wachstum«,Seeverkehr, Energie, Schiffbau, Fischereiund Aquakultur;sektor- und grenzübergreifende Zusammenarbeit<strong>für</strong> optimale Wachstumsbedingungender maritimen Wirtschaft;Forschung, Wissen und Endnutzer: Lückenschlusszwischen Forschung und Industrie;territorialer Nutzen der Meerespolitik;Schutz der Meeresökosysteme als Voraussetzungund Faktor <strong>für</strong> Wachstum sowiebessere Verwaltung im maritimen Sektor.Dies erfordert über nationale Umdenkungsprozessehinaus – das heißt, von der klaren Definitioneigener maritimer Interessen, die selbstDeutschlands »Weißbuch zur <strong>Sicherheitspolitik</strong>und zur Zukunft der Bundeswehr« und seine»Verteidigungspolitischen Richtlinien« nur vageabhandeln, bis hin zur Evaluierung mittel- undlangfristiger Rüstungsvorhaben – eine EMSS, ander sich die einzelnen Akteure sowohl singulärund Vertreter der zivilen Schifffahrt und desSchiffsbaus – gleichberechtigt an einen Tisch zubringen und ihre maritimen Sicherheitsinteressennebst erforderlicher Handlungsoptionen gemeinsamzu einer maritimen Sicherheitsstrategiezu formen, wird sie sich auf dem globalen außenundsicherheitspolitischen Parkett noch erfolgreicherals bisher positionieren können. Darüberhinaus könnten die EU und Nato die EMSS dazunutzen, ihre Fähigkeiten gemeinsam in einenumfassenderen strategischen Handlungsrahmeneinzubetten.Die einzelnen Akteure wiederum könntenmittels der EMSS ihre länderübergreifenden Kooperationsvorhabennoch zielgerichteter ausbauenund so interne Freiräume schaffen – diesim Sinne einer gemeinsamen Fähigkeitssteigerungihrer selbst und der EU bei gleichzeitiger >>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 46


EUROPALastenteilung und Maximierung der Kosteneffizienzjedes Einzelnen. Deutschland hat hierbei bereitsheute durch seine maritimen Kooperationsvorhabenmit ausgewählten Nord- und Ostseeanrainerneine Vorreiterrolle auf dem europäischenWeg zu »pooling and sharing« eingenommen undbegünstigt damit die nun gedeihende maritimeIdee der EU. Das ist zumindest ein guter Anfang –und lässt hoffen, dass die Bundesrepublik auch abEnde des Jahres die EMSS tatkräftig und kompromissbereitunterstützen wird.Markus Harder ist Fregattenkapitän und wissenschaftlicherMitarbeiter der Forschungsgruppe <strong>Sicherheitspolitik</strong>an der Stiftung Wissenschaft undPolitik in Berlin.Quellen und Links:Website der Europäischen Kommission zum»Grünbuch zur Meerespolitik«Website der Europäischen Kommissionzur »Integrierten Meerespolitik«Rede von Louis Telemachou, Vertreter Zyperns imeuropäischen Politischen und SicherheitspolitischenKomitee auf dem »EU WashingtonForum« am 14. März 2013Fortschrittsbericht der EuropäischenKommission zur »Integrierten Meerespolitik derEU« vom 11. September 2012EU-Ratsbeschluss zur »Europäischen MaritimenSicherheitsstrategie« vom 26. April 2010ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 47


»Steve Irwin« im Südpazifik, Januar 2012. Foto: Sea Shepherd / Steven Ager<strong>MARITIME</strong> <strong>SICHERHEIT</strong>: ASYMMETRISCHE KRIEGFÜHRUNGNOTIZFREIBEUTERSeit bald zehn Jahren gehen dieradikalen Aktivisten der »SeaShepherd Conservation Society« mitparamilitärischen Methoden vorallem gegen den japanischenWalfang vor. In der letzten Saisonerreichte die Eskalation wiederneue Ausmaße.Am 20. März 2013 erklärten sie ihren Sieg in derSchlacht im Südpolarmeer: die Aktivisten der »SeaShepherd Conservation Society« (SSCS). Ihr Feind,der sich angeblich schmählich zurückziehen musste:die japanische Walfangflotte. Laut der radikalenTierschutzorganisation brachen die Schiffe des»Institute of Cetacean Research« praktisch unverrichteterDinge die Fangsaison 2012/13 ab. Wenigerals 75 Wale sollen sie erlegt haben – nur einBruchteil der von der Regierung in Tokio genehmigtenZahl von 985 Mink- und Finnwalen, die dasInstitut <strong>für</strong> wissenschaftliche Zwecke hätte tötendürfen. Kritiker halten diesen Forschungsauftrag<strong>für</strong> einen Fassade, um das 1986 verhangene Moratoriumder Internationalen Walfangkommission(IWC) zu umgehen und weiterhin auf die kommerzielleJagd nach den Meeressäugern zu gehen.Seit 2003 fahren die international organisiertenWalschützer der SSCS unter ihrem charismatischenund umstrittenen Anführer, dem KanadierPaul Watson, in die ebenfalls von der IWC ausgeschriebeneSchutzzone <strong>für</strong> Wale südlich des 60.Breitengrades, um dort die Fangschiffe aus Japanan ihrem Tun zu hindern. Tokio betrachtet Watsonund seine Mitaktivisten als Terroristen.Die Gefechte, bislang noch unblutig verlaufen,werden mit immer härteren Bandagen geführt.Dieses Jahr rammte das Fabrikschiff »Nisshin Maru«drei der vier Schiffe der SSCS, die mit mittelschwerenSchäden ins australische Williamstownzurückgekehrt sind. Unter ihnen die »Sam Simon«,das neueste Schiff der Aktivisten: Ehemals ein meteorologischesForschungsschiff der japanischenRegierung, wurde es 2012 an die New Atlantis Venturesaus den USA veräußert – eine Tarnfirma derSea Shepherds. Die Kaufsumme in Höhe von zweiMillionen US-Dollar hatte der Namensgeber SamSimon, einer der Mitbegründer der Fernsehserie»The Simpsons«, gespendet. Die achtzehn Knotenschnelle, und eisgangsichere »Sam Simon« ist nachihrer Kollision mit der »Nisshin Maru« mittlerweilewieder repariert und hat – ganz den militärischenTaktiken der Sea Shepherds entsprechend – einen»Dazzle«-Tarnanstrich erhalten, den Kriegsmarinenseit dem Ersten Weltkrieg benutzen.Überhaupt hat die SSCS seit ihren Anfängendeutlich aufgerüstet. Waren Watson und seine Gefährtenanfangs noch mit nur einem ehemaligenFischtrawler unterwegs, verfügt »Neptune‘s Navy«,wie sich die Flottille der Sea Shepherds selbstnennt, mittlerweile über ein ehemaliges Patrouil- >>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 48


ASYMMETRISCHE KRIEGFÜHRUNGlenschiff mit Hubschrauberlandedeck und -hangar,einen hochseefähigen Trimaran sowie zivile Drohnenzur Seeraumüberwachung. Die Waffen der SeaShepherds sind Rammsporne, Stinkbomben undschwere Taue, die sich in den Schrauben gegnerischerSchiffe verfangen sollen. Japans Walfangflotte– ein Fabrikschiff, drei Fangschiffe und mehrereVersorgungsfahrzeuge – wird mittlerweile von Beamtender Küstenwache begleitet.In der Schwebe hängt im Moment das SchicksalWatsons: Gegen ihn, der auch die amerikanischeStaatsbürgerschaft besitzt, hat im Dezemberein US-Gericht auf eine Klage Japans hin eineeinstweilige Verfügung erlassen, die ihm untersagt,sich persönlich den japanischen Walfängernauf eine Distanz von unter 500 Yards zu nähern.Sicherheitshalber ging der Medienstar im Märznicht an Land, als seine Flottille in Williamstowneinlief, sondern blieb außerhalb australischerHoheitsgewässer, solange die Behörden ihm nichtfreies Geleit zusicherten.mmoDer FÖRDERVEREIN <strong>SICHERHEIT</strong>SPOLITIK AN HOCHSCHULEN E.V.bietet jungen Wissenschaftlern eine Plattform.Der akademische Nachwuchs, der sich auf sicherheitspolitische Themen spezialisiert,muss früher und besser qualifiziert in den fachlichen Dialog der deutschen»STRATEGIC COMMUNITY« eingebunden werden! Sicherheitspolitische Bildung und Forschungmüssen unterstützt werden!Wir stehen daher ein <strong>für</strong> eine Belebung der sicherheitspolitischen Kultur und Debattein Deutschland. Wir unterstützen: Weiterbildungen <strong>für</strong> Studierende in Tagungen und Seminaren, die Arbeit des BUNDESVERBANDS <strong>SICHERHEIT</strong>SPOLITIK AN HOCHSCHULEN und vor allem die SCHRIFTENREIHE »WISSENSCHAFT & <strong>SICHERHEIT</strong>«, erscheinend im BerlinerWissenschafts-Verlag.Engagieren auch Sie sich <strong>für</strong>die <strong>Sicherheitspolitik</strong> von Morgen! Im FSH.ANZEIGEQuellen und Links:Bericht des Guardian vom 10. Juli 2013Meldung und Bericht der ABC vom 29. März 2013Bericht der Japan Times vom 27. Februar 2013Videobericht der neuseeländischen 3 News vom21. Februar 2013Bericht der Tageszeitung vom 17. Dezember 2012Bericht des Sydney Morning Herald vom 11.Dezember 2012Wenn Sie die Ziele des Vereins unterstützen wollen oder an weiteren Informationen interessiertsind, wenden Sie sich an: Förderverein <strong>Sicherheitspolitik</strong> an Hochschulen e.V.z.H. Richard Goebelt Rottweiler Straße 11 A 12247 Berlin und natürlich unsere Webpräsenz unter WWW.<strong>SICHERHEIT</strong>SPOLITIK.DE.ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 49


<strong>MARITIME</strong> <strong>SICHERHEIT</strong>: PIRATERIEDie Seeräuberei an derWest- wie der Ostküste Afrikassind Symptome desselbenKernproblems, der Abwesenheitfunktionierender Staatlichkeit.Die organisierte Kriminalität imGolf von Guinea ähneltaber nur vordergründig der vorSomalias Küste –in Nigeria verdienteine korrupte Elite kräftig amDiebstahl von Öl mit.DIE FALSCHE LEKTIONvon Moritz BrakeOb internationaleLösungsansätze aus demIndischen Ozean sichauch <strong>für</strong> die westafrikanischenGewässer eignen, erscheintfraglich.>> Die weltweite Piraterie erreichte 2012 eineneue Rekordmarke: Laut der Studie »The HumanCost of Piracy« der unabhängigen amerikanischenProjektgruppe »Oceans Beyond Piracy« überstiegendie gemeldeten Vorfälle und Opferzahlen imGolf von Guinea erstmals diejenigen im Golf vonAden und im westlichen Indischen Ozean mit 966im Vergleich zu 851 angegriffenen Seeleuten. Die-ser Trend wird durch die Ereignisse des erstenHalbjahres 2013 bestätigt. Zwar gehen die Zahlensomalischer Piraterie bedingt durch beachtlicheErfolge der internationalen Marinepräsenz, denEinsatz bewaffneter privater Sicherheitsteamsund schrittweise Stabilisierungsansätze an Landzurück. Doch dem stehen die seit Jahren zunehmendenVorfälle vor Nigeria gegenüber.Ein Grund da<strong>für</strong> ist der Ölreichtum, mit dem diemoderne Piraterie ihren Einzug in den Golf vonGuinea genommen hatte. In einer aktuellen Studiedes britischen Think Tanks Chatham Houseaus dem Juli dieses Jahres schätzt Adjoa Anyimadu,dass nicht nur die regionale Öl- und Gasförderungvon der Bedrohung durch Seeräuberbetroffen ist, sondern darüber hinaus sogar bis zu >>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 50


Vorige Seite: Navigationsdemonstration eines US-Marineoffiziers im Hafen von Dakar <strong>für</strong> afrikanische Marinesoldaten. Foto: US Navy / Gary KeenPIRATERIE40 Prozent der europäischen Ölimporte und etwa30 Prozent der US-Importe an Petroleumproduktendas Risikogebiet passieren müssen.Doch neben dem Rohstoffhandel schufen auchandere Faktoren ein günstiges Umfeld <strong>für</strong> das Gedeihender Piraterie: Einerseits konnte das postkolonialeNigeria aufgrund seiner innenpolitischenentführt werden und Teile der Ladung unfreiwilligden Besitzer wechseln.Längst schon beschränken sich die Angriffeauch nicht mehr nur auf das Küstengebiet Nigerias,sondern haben sich bis in die Gewässer vorder Elfenbeinküste ausgeweitet. Die Vorgehensweiseder Kriminellen zeugt nicht nur von simplerDIE PIRATEN IM GOLF VON GUINEAKALKULIEREN ANDERS ALS DIE SEERÄUBER VORSOMALIAS KÜSTEN.Steffen, Director Maritime Security des dänischenmaritimen Sicherheitsberaters »Risk Intelligence«,spricht hier von der Existenz einesinoffiziellen »Katalogs« <strong>für</strong> Lösegelder. Demnachsei bei Entführungsfällen vor den KüstenWestafrikas von etwa fünfstelligen gefordertenGeldsummen auszugehen.Hierbei handelt es sich allerdings um ein e-her lokales Phänomen, das im Schwerpunkt dieBesatzungen von kleinen Offshore-Versorgungsschiffenbetrifft. 2012 wurden fünf solcherFälle bekannt. Diese Entführungen im Küstenbereichwerden an Land abgewickelt und geheneher auf das Konto örtlicher krimineller Netzwerkeim Nigerdelta.Den Piraten im Golf von Guinea fehlen <strong>für</strong>das ganz große Lösegeldgeschäft schlicht die»sicheren Häfen«, die ihren somalischen KonterpartsZeit und Rückzugsraum <strong>für</strong> eine aussichtsreicheGeiselnahme und erfolgreiche Lösegeldverhandlungenermöglichen. Daher spielt Erpressungbei der Festsetzung von Schiffsbesatzungenvor Nigeria eine geringe Rolle. Die über206 Seeleute, deren Gefangennahme am Golfvon Guinea 2012 gemeldet wurde, wurden imSchnitt <strong>für</strong> vier Tage festgehalten, während diePiraten ihrem eigentlichen Ziel nachgehenkonnten: dem Diebstahl der Ladung. Dass dabeidie Crew im Zweifelsfall sogar hinderlich werdenkann, lässt sich an der Tötung von insgesamtfünf Besatzungsmitgliedern bei Vorfällen desvergangenen Jahres ablesen.Aber auch wenn das somalische Lösegeldge-Zerrissenheit kein Staatswesen aufbauen, das eineausgleichende Verteilung der großen Ressourcendes Landes gewährleistet hätte. Andererseits führtdie Korruption auf allen Ebenen dazu, dass wederder Abbau der Ölvorkommen umwelt- und sozialverträglichstaatlicher Regulation unterliegt, nochdass ein proportionaler Teil der Einkünfte aus demExportgeschäft seinen Weg an die Bevölkerung inden ölfördernden Küstenregionen findet.Neben den zahlreichen Offshore-Einrichtungender Ölindustrie versprechen die Tankschiffe,die das Schwarze Gold aus dem Golf von Guineaabtransportieren, höchst lukrative Beute zu sein.Während Anfang der 2000er Jahre hauptsächlich»bewaffnete Raubüberfälle« in Küstennähe, vorAnker oder im Hafen stattfanden, hat sich mittlerweileein professionell organisiertes Geschäftentwickelt, bei dem gleich ganze Tanker <strong>für</strong> TageBrutalität: Die Durchführung von Verladeoperationendeutet auf einen hohen Grad an Organisationund weitreichende Unterstützung an Land hin.Der Fokus auf die Ladung beziehungsweise ihrenWert und eine vergleichsweise Geringschätzungder Besatzungen als potentielle Geiseln hat einweit höheres Gewaltmaß und persönliches Risiko<strong>für</strong> die betroffenen Seeleute zur Folge, als es dassomalische »Geschäftsmodell« mit sich bringt.Im Gegensatz zu Somalia, wo Seeleute als Entführungsobjekteeinen hohen Wert besitzen,sieht diese Kalkulation im Golf von Guinea andersaus. An somalische Piraten sind vor allemwährend der Jahre von 2009 bis 2011 siebenstelligeBeträge an Lösegeld gezahlt worden; in Einzelfällenbis zu acht Millionen Euro <strong>für</strong> Schiff undCrew. Diese Summen werden vor Nigeria zumindestmit dem Geiselgeschäft nicht erreicht. Dirkschäft lukrativer erscheint – in Summe sorgt dasnigerianische Modell jedoch <strong>für</strong> eine beachtliche >>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 51


PIRATERIEAusbeute. Gemäß der oben angeführten Studievon »Oceans Beyond Piracy« aus dem Juni 2013wurden 2012 zwischen zwei Millionen und sechsMillionen US-Dollar an Ladungswert pro entsprechendemÜberfall entwendet. Hinzu kommtdie vom International Maritime Bureau (IMB)angenommene Dunkelziffer von gemeldeten zutatsächlichen Vorfällen im Verhältnis eins zudrei. Somit könnte sich zusätzlich zu den imgesamten Seegebiet von Besatzungsmitgliederngestohlenen Werten und den Bargeldreservender betroffenen Schiffe <strong>für</strong> 2012 die Gesamtsummeder Beute auf zwischen 34 Millionen und101 Millionen US-Dollar belaufen. Der geringereder beiden Beträge, wissen Insider zu berichten,deckt sich in etwa mit den Versicherungsschäden,die <strong>für</strong> elf Tankerentführungen im vergangenenJahr geltend gemacht worden waren.Die Folgeschäden an Verdienstausfällen, Sicherheitskosten,Umleitungen des Schiffsverkehrsund negativen Auswirkungen auf dieWirtschaft Nigerias und seiner Nachbarn sindGolf von Guinea auf mindestens zwei MilliardenUS-Dollar jährlich. So gehen die Risiken maritimerUnsicherheit vor allem <strong>für</strong> die betroffenenAnrainerstaaten deutlich über die unmittelbareSchädigung von Wirtschaftsinteressen westlicherÖlkonzerne oder Reedereien hinaus. In einerGegenüberstellung von individuellem kriminellemProfit und gesamtgesellschaftlichemSchaden bedeutet es <strong>für</strong> Nigeria zudem, dass <strong>für</strong>jeden Dollar, den Piraten mit Gewalt erbeuten,die sie hervorbringende Gesellschaft mindestensden zwanzigfachen Schaden erleidet.Trotzdem: Im Jahre 2012 ist nicht ein einzigerFall von Piraterie in Nigeria vor Gericht geahndetworden. Eine Ursache da<strong>für</strong> liegt in der Arbeit derstaatlichen Stellen: Die Meldung eines Vorfallsbringt vor Westafrika nur wenig Aussicht auf unmittelbareHilfe und oft langwierige, ergebnislosebehördliche Untersuchungen mit sich.Die <strong>für</strong> die hohe Dunkelziffer entscheidendverantwortliche Untätigkeit der Behörden ist wenigerein Symptom fehlender staatlicher OrdnungFÜR DAS GANZ GROSSE LÖSEGELDGESCHÄFTFEHLEN DIE »SICHEREN HÄFEN«.Investitionsrisiko: Die globale Ölindustrie hatein vitales Interesse an der Sicherheit im Golf vonGuinea. Hier die Produktions- und Verladeplattform»Bonga« der Royal Dutch Shell vor dernigerianischen Küste.Foto: Shell / CC BY-NC-ND 2.0allerdings noch einmal deutlich höher. SusanRice, damals noch als UN-Botschafterin derUSA, schätzte bereits 2011 den regionalen wirtschaftlichenSchaden allein durch die Angriffeauf Offshore-Einrichtungen der Ölindustrie imals Ausdruck der Korruptheit und kriminellen Unterwanderungder vorhandenen staatlichen Organe.Aus Südostasien ist diese Art enger Zusammenarbeitzwischen Behörden und Kriminellenhinlänglich bekannt. Fälle in denen mit viel Geld>>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 52


PIRATERIEaus dem Westen ausgebildete und ausgerüstete»Anti-Piraterie-Spezialeinheiten« nach Feierabendihren Sold mit Piraterie aufbessern, sind dort leiderkeine Seltenheit. In Nigeria scheint sich dies inumgekehrter Weise zu manifestieren: In Abwesenheitstaatlicher Sicherheitsgarantien werden Piratenselbst – teils offiziell über Verträge, teils inoffiziellüber Schutzgeld – als »Sicherheitsdienstleister«tätig. Dies noch begünstigt dadurch, dass inder nigerianischen Gesetzgebung die Beschäftigungausländischer Sicherheitsfirmen <strong>für</strong> bewaffneteSchutzaufgaben verboten ist.Für die auch aktuell vom European Union Institutefor Security Studies angemahnte Korruptionund kriminelle Vernetzung am Golf von Guineasprechen zudem die hervorragenden Hintergrundinformationen,mit denen Piraten ihre Opferausfindig machen und zielgenau Schiff undLadung anvisieren. Auch wenn Nigerias Politikergelegentlich in der heimischen Presse und Öffentlichkeitunter Druck geraten, gegen die organisierteKriminalität vorzugehen: Die politischeMacht ist oft – insbesondere im Nigerdelta – tiefmit der Schattenwirtschaft vernetzt. Wie von Medienhäufig aufgegriffen, pflegt selbst der nigerianischePräsident, Goodluck Jonathan, ausgezeichneteKontakte zu führenden Schattenakteurenim Nigerdelta, allen voran dem RebellenführerGovernment Ekpemopolo, bekannt als»Government Tompolo«.Eine staatliche Begrenzung der kriminellenAktivitäten erfolgt daher nach EinschätzungDAS AUSNEHMEN DER ÖLINDUSTRIE ERFOLGTIN EINEM BALANCEAKT ZWISCHENOFFIZIELLEM »SCHUTZ« UND PERSÖNLICHERBEREICHERUNG.von Insidern wie Steffen nur dann, wenn dieÜbergriffe drohen das lukrative Geschäft nachhaltigzu gefährden. So seien Reedereien undÖlfirmen in Nigeria – in seinen Worten – nichtsanderes als die sprichwörtliche »Gans, die goldeneEier legt«. Eine »Schlachtung« solle zwaraus Sicht der Behörden vermieden werden.Doch das kontinuierliche Ausnehmen der Unternehmenerfolge in einem Balanceakt zwischenoffiziell bereit gestelltem »Schutz« undlukrativen persönlichen Profiten aus der kriminellenAusbeutung. In diesem System offiziell»gemanagter Kriminalität« bedeutet jede Schaffungvon »mehr Sicherheit«, so Steffen, <strong>für</strong> NigeriasEliten »weniger Möglichkeiten zur eigenenBereicherung«.Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht,dass bislang durchschlagende Erfolge im Kampfgegen die Piraterie im Golf von Guinea ausgebliebensind. Wobei durchaus regionale Ansätze<strong>für</strong> eine gemeinsame Strategieentwicklung zurBekämpfung von Piraterie und maritimem Terrorismusvorhanden sind. So zum Beispiel unterdem Dach der westafrikanischen WirtschaftsgemeinschaftECOWAS. Grenzübergreifende Kooperationenzwischen Togo, Benin und Nigeriazeigen auch in eine richtige Richtung. Doch siebleiben ohne ernsthafte politische Rückendeckungin Nigeria und aufgrund mangelndertechnischer und personeller Ressourcen hinterihren Möglichkeiten zurück, und können daherdas unverringert hohe Aufkommen an Übergriffennicht eindämmen.Gemeinsam mit anderen, auch europäischenPartnern führt das »Africa Command« der US-Streitkräfte (USAFRICOM) im Rahmen seiner»African Partnership Station« (APS) seit 2007eine langfristig angelegte Ausbildungsmissionim Golf von Guinea durch. 2013 sind mit demBesuch der britischen Fregatte HMS »Argyll«und dem Aufenthalt des niederländischen LandungsschiffesHNLMS »Rotterdam« auch weitereeuropäische Kriegsschiffe <strong>für</strong> Ausbildungskooperationenmit westafrikanischen Marinen vorOrt. Nicht zuletzt zeigt Frankreich bereits seit1990 ein weiteres unilaterales Interesse in demSeegebiet mit der Mission »Corymbe«, einschließlichder Bereitschaft zu einer robusten»kurzfristigen Intervention«.Jegliche direkte internationale Kooperationmit Nigeria birgt aber die Gefahr, dass empfind->>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 53


PIRATERIEliche Daten und Lagebilder eins-zu-eins den Piratenzur Verfügung stehen. Bereits jetzt muss jedesHandelsschiff, das sich an offizielle BehördenNigerias wendet, davon ausgehen, dass seine Datenmit hoher Wahrscheinlichkeit in die Händeder Seeräuber gelangen.In Nigeria sind die Verflechtungen zwischenPolitik und organisierter Kriminalität zu weitfortgeschritten, um aus sich allein heraus schnelleBesserung zu erwarten. Eine kurzfristige Lösungin Form einer internationalen maritimenTask Force – speziell <strong>für</strong> die Region aufgestelltund mit effektiven Befugnissen eines robustenUN-Mandats ausgestattet – wäre daher sicherlichwünschenswert. Allerdings wäre eine Zustimmungaus Abuja hierzu derzeit nicht sonderlichwahrscheinlich.Für die Pirateriebekämpfung ist es sowohl Voralsauch Nachteil, dass viele der Übergriffe imGolf von Guinea innerhalb der Zwölf-Meilen-Zone, den Territorialgewässern Nigerias stattfindet.Der Vorteil: Die Bedrohungsschwerpunkte,auf die sich dieser Einsatz konzentrieren müsste,also die Reeden und Umschlagplätze vor der Küste,wären wegen des wesentlich begrenzterenRaums deutlich besser zu kontrollieren als diesim Indischen Ozean der Fall ist. Der entscheiden-Ausbildungspartnerschaft: Im Rahmender »Africa Partnership Station«patrouilliert die USCGC »Legare« deramerikanischen Küstenwachegemeinsam mit der »Poponquine«der senegalesischen Marine vor derwestafrikanischen Küste.Foto: US Coast Guard / Thomas M. BlueIN DEN INTERNATIONALEN GREMIEN TUT SICHIN DER SACHE NOCH RECHT WENIG.de Nachteil: Jeglicher internationaler Marineeinsatzhängt von der unmittelbaren Zustimmungund Unterstützung Nigerias ab. Gelänge es, eineehrliche und vorbehaltlose Zustimmung deswestafrikanischen Landes zu einem internationalenVorgehen zu gewinnen, wäre dieses wohl imselben Atemzuge nicht mehr notwendig. Ressourcenzur Pirateriebekämpfung sind ja weitgehendin Nigeria vorhanden. Lediglich der politischeWille fehlt.Somit ist klar, dass es weniger Aufgabe einesinternationalen Engagements sein müsste, einenicht vorhandene staatliche Ordnungsfunktionzu übernehmen – wie dies vor Somalia der Fallist. Vielmehr könnte internationale Präsenz undeine Integration möglichst vieler Anrainerstaatenüber Nigeria hinaus dazu führen, dass korrupteVerflechtungen zwischen Behörden und Piratendurch mehr Weltöffentlichkeit in Bedrängnis geraten.Länderübergreifende Kooperation in derPirateriebekämpfung könnte unter substantiellerneutraler Begleitung konkrete und vor allem integreFormen annehmen.Tatsächlich aber tut sich in internationalenGremien und bei politischen Entscheidungsträgernnoch recht wenig in der Sache. Einzig derUN-Sicherheitsrat hat im November vergangenenJahres das Problem westafrikanische Piraterieangesprochen. »Die Antwort im Golf von Guineakönnte auf den Lehren aus Somalia aufbauen«,schlussfolgerte der Stellvertretenden UN-GeneralsekretärJan Eliasson im Bericht zur Ratssitzung.Eine multilaterale Initiative resultiert ausdieser Wahrnehmung des Problems auf der Welt- >>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 54


PIRATERIEbühne bislang nicht. Die Aktivitäten der internationalenGemeinschaft bleiben auf unilateraleAktivitäten wie die des USAFRICOM oder diefranzösische Operation »Corymbe« beschränkt.Das Ziel einer multilateralen Interventionsollte als keine Fremdübernahme nigerianischernalität leidende Bevölkerung, die Wählerschaftdes demokratischen Nigeria. Ihre Unterstützunghängt jedoch wieder von einem umfassenden internationalenEngagement <strong>für</strong> die Anliegen dieservon Armut und einem zerfallenden Bildungssystemgebeutelten Menschen ab.Quellen und Links:Pressemitteilung des USAFRICOM vom4. September 2013Meldung der nigerianischen Bürgerjournalisten-Website Sahara Reporters vom 20. August 2013WÜRDE ABUJA EINEM INTERNATIONALENVORGEHEN ZUSTIMMEN, WÄREDIESES WOHL IM SELBEN ATEMZUG NICHTMEHR NOTWENDIG.Adjoa Anyimadu: »Maritime Security in the Gulf ofGuinea: Lessons Learned from the IndianOcean«, Forschungspapier des Chatham Housevom Juli 2013Arbeitspapier »The Human Cost of Piracy2012« der Projektgruppe »Oceans Beyond Piracy«vom 18. Juni 2013Schutzverantwortung sein, sondern ein möglichstumfassendes Konzept, Anreize zu schaffen, dieNigeria langfristig selbst von der Notwendigkeitder Übernahme der Aufgabe einer effektiven Pirateriebekämpfungüberzeugen. Hier liegt derwesentliche Unterschied zum Fall Somalia.Auch wenn die Situation in dem afrikanischenLand festgefahren scheint, ist Nichtstun <strong>für</strong> Europakeineswegs als Handelsoption zu empfehlen.Denn neben der wachsenden Bedrohung <strong>für</strong>vitale Ressourcenquellen und Handelswege ist esvor allem menschliches Elend, das mit einerdurch Piraterie beschleunigten Staatszerfallsspiraleeinhergeht.Der wichtigste Verbündete wäre langfristigalso die unter den beträchtlichen negativen Auswirkungenvon Piraterie und organisierter Krimi-Alle diese Umstände gebieten dringend zum Handeln.Weiter darauf zu hoffen, dass Nigeria, dasbereits so lange – allen katastrophalen Prognosenzum Trotz – seine brüchige Existenz bewahrenkonnte, dies auch weiterhin tun wird, isthöchst gefährlich.Moritz Brake ist Kapitänleutnant und hat Nautik ander Jade Hochschule Elsfleth studiert. An Bord derFregatte »Köln« war er 2010 und 2011 vor Somalia imEinsatz. Seit 2012 belegt er das Fernstudium »War inthe Modern World« des King’s College London.Cristina Barrios: »Fighting Piracy in the Gulf ofGuinea«, Forschungspapier des European UnionInstitute for Security Studies vom Mai 2013Meldung des nigerianischen Daily Trustvom 13. Februar 2013Übersicht »Piracy and ArmedRobbery Map 2012« des International MaritimeBureau der Internationalen HandelskammerBericht von der 6.865. Sitzung desUN-Sicherheitsrats am 19. November 2012Hintergrundbericht »Tompolo: The BillionaireMilitant« der nigerianischen Sahara Reporters vom17. August 2012Bericht des US Department of State vom20. Oktober 2011ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 55


<strong>MARITIME</strong> <strong>SICHERHEIT</strong>: PIRATENABWEHREin Zwischenfall mititalienischen Marineinfanteristen,bei dem zweiindische Fischerumgekommen sind, wird zumPräzedenzfall da<strong>für</strong>, welcheKollateralschädender bewaffnete Schutz vonHandelsschiffen vor Piratennach sich ziehen kann.Rom und Neu-Delhi sind wegender Angelegenheit in einediplomatisch-juristischen Affäreverstrickt, deren Ausgang nochvöllig offen ist.TÖDLICHER IRRTUMvon Stefan DöllingFoto: Marina Militare>> Massimiliano Latorre und Salvatore Gironewähnten sich von Piraten bedroht. Die beidenitalienischen Marineinfanteristen waren Teil einessechsköpfigen »Vessel Protection Detachment«(VPD) an Bord des italienischen Öltankers»Enrica Lexie«, als sich am 12. Februar 2012 etwa20 Seemeilen südwestlich der Küste des indischenBundesstaats Kerala ein verdächtiges Bootihrem Schiff näherte. Latorre und Girone glaubten,an Bord des anderen Schiffes bewaffneteMänner ausmachen zu können, und da sie mitihrem VPD <strong>für</strong> die Sicherheit des Tankers verantwortlichwaren, reagierten sie umgehend: MitWarnschüssen vor den Bug des Piratenbootestrieben sie die vermeintlichen Angreifer in dieFlucht – ein Irrtum mit tödlichen Folgen.Denn die angenommenen Seeräuber waren inWirklichkeit unbewaffnete indische Fischer, vondenen zwei durch die angeblich ins Wasser abgefeuertenSchüsse tödlich getroffen wurden. Dader Vorfall unmittelbar vor den indischen Hoheitsgewässernin der so genannten »Anschlusszone«stattgefunden hatte und indische Staatsbürgerdie Opfer waren, beanspruchte Indien kurzerhanddie juristische Zuständigkeit, leitete die»Enrica Lexie« in den Hafen Kochi um und nahmdie beiden Marineinfanteristen aus Italien fest,um ihnen wegen Mordes den Prozess zu machen.Darauf folgte eine handfeste diplomatischeKrise, da Rom die juristische Zuständigkeit Indiensin Abrede stellt und nach wie vor auf derFreilassung der Soldaten besteht. Italien beharrtdabei auf dem Standpunkt, dass, da sich der Vorfallaußerhalb der Zwölf-Meilen-Zone – also denunmittelbaren indischen Hoheitsgewässern – ininternationalen Gewässern abgespielt habe undda die »Enrica Lexie« unter italienischer Flaggefuhr, die Strafverfolgung Sache der italienischenJustiz sei. >>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 56


PIRATENABWEHRIndien macht hingegen geltend, dass sich dieSchießerei innerhalb der »Anschlusszone« abgespielthabe. Diese reicht laut dem Seerechtsabkommender UN von 1982 in der Regel zwölf Seemeilenüber die unmittelbaren Hoheitsgewässerhinaus und räumt dem angrenzenden Staat gewisserechtliche Befugnisse ein, um effektiv auf Verstößegegen seine Zoll-, Einreise-, Steuer- undGesundheitsregularien und -gesetze reagieren zuIndien beharrte daher auf seiner Position underhob Anklage gegen Latorre und Girone, währenddie übrigen Mitglieder des VPDs nach Italienzurückreisen durften. Die Angehörigen der Opfer,welche zunächst von der indischen Regierung mitumgerechnet rund 7.500 Euro entschädigt wordenwaren, verklagten die Reederei der »EnricaLexie« im Februar 2012 auf Entschädigungszahlungenzwischen umgerechnet 200.000 undROM ZAHLTE ALS GESTE DES GUTENWILLENS ENTSCHÄDIGUNG, GESTEHT ABERKEINE SCHULD EIN.Massimiliano Latorre und Salvatore Gironebei ihrer Ankunft zum »Weihnachtsurlaub« in Italienim Dezember 2012. Foto: Marina Militarekönnen. Und da zwischen Indien und Italien kein»Status of Forces Agreement« – ähnlich etwa demNato-Truppenstatut – besteht, welches den italienischenSoldaten Immunität vor der indischenStrafverfolgung geben würde und darüber hinausindische Staatsbürger die Opfer waren, sieht Neu-Delhi hier seine Justiz in der Pflicht.Dass das italienische VPD zudem die indischenRegeln <strong>für</strong> das Befahren seiner »ausschließlichenWirtschaftszone«, der »Exclusive Economic Zone«(EEZ), missachtet hatte, war der italienischenPosition sicher nicht zuträglich. Denn diese sehenvor, dass sich Handelsschiffe, welche bewaffneteWachen an Bord haben, mindestens 96 Stundenvor dem Befahren der EEZ mit detaillierten Angabenüber Größe und Bewaffnung des Wachteamsbei den Behörden anmelden müssen. Die »EnricaLexie« hatte dies unterlassen.400.000 Euro, zogen diese Anklage aber zurück,nachdem die italienische Regierung – ausdrücklichohne eine Schuld anzuerkennen und rein als»Geste guten Willens« – jeweils 150.000 Euro andie Hinterbliebenen auszahlte.Auch die indische Seite zeigte sich großmütigund erlaubte den beiden Soldaten zuerst zuWeihnachten 2012 und dann noch einmal imFebruar 2013 <strong>für</strong> die Wahlen in Italien längereHafturlaube – allerdings nur unter der Bedingung,dass sie anschließend wieder nach Indienzurückkehren würden. Was beim ersten Besuchnoch weitgehend geräuschlos klappte, eskaliertedann im März 2013 zum vorläufigen Höhepunktder Affäre.Denn nachdem die immerhin unter Mordanklagestehenden Latorre und Girone bei ihremzweiten Hafturlaub in Italien sowohl von PräsidentGiorgio Napolitano und AußenministerGiulio Maria Terzi di Sant‘Agata als auch vonVerteidigungsminister Admiral Giampaolo diPaola unter viel Medienbegleitung jeweils demonstrativpersönlich empfangen wurden – eineBehandlung, die kaum zur Beruhigung derangespannten diplomatischen Lage mit Indienbeigetragen haben dürfte – gab die italienischeRegierung bekannt, die Soldaten würden trotzschriftlicher Zusagen nun doch nicht wiedernach Indien zurückkehren. Neu Delhi protestiertelautstark und reagierte, indem es seinerseitsdie diplomatische Etikette verletzte unddem italienischen Botschafter kurzerhand dieAusreise untersagte.Bereits nach kurzer Zeit musste Italien feststellen,dass es international wenig Unterstützung<strong>für</strong> seine Position erhalten würde, nach- >>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 57


PIRATENABWEHRBeweismittel: die »Enrica Lexie«, vorübergehendinterniert im Hafen von Kochi im April 2012.Foto: Sugeesh / Malayalam Wikipedia / CC BY 3.0dem sowohl die EU als auch die USA deutlichmachten, dass sie sich an diesem zwischenstaatlichenTauziehen nicht beteiligen würden. Angesichtsdes potenziellen diplomatischen FalloutsKanälen im Stillen beizulegen, reichte deswegen– noch vor dem Ende des Kabinetts Monti EndeApril – seinen Rücktritt ein. Im Gegenzug <strong>für</strong> dieRückkehr nach Neu-Delhi erlaubte Indien denbeiden Soldaten, ihren Prozess in der italienischenBotschaft abzuwarten.Da die Beweisaufnahme sich allerdings alsschwierig erweist, könnte dies noch etwas dauern,zumal Italien in der vorerst letzten Wendung dieserKrise die Zeugenvorladung der restlichen Mitgliederdes VPDs nach Indien zurückwies. Wohl auch,da verschiedene, im Laufe der Zeit an die Öffentlichkeitgelangte Ergebnisse indischer Ermittler undder zwischenzeitlich an die italienische Presse geleakteAbschlussbericht eines Untersuchungsteamsder italienischen Marine nahelegen, dass die tödlichenSchüsse möglicherweise gar nicht aus denWaffen der Angeklagten, sondern aus den Gewehrenvon zwei ihrer Kameraden stammten. Daher istderzeit noch völlig offen, ob Girone und Latorre amEnde verurteilt werden – obgleich der bisherigeNEU-DELHI ERLAUBT DEN BEIDENSOLDATEN, IHREN PROZESS INDER ITALIENISCHEN BOTSCHAFT ABZUWARTEN.Einsatz bewaffneter Wachen an Bord von Handelsschiffenergeben kann. Die deutsche Bundesregierungund besonders Außen- und Verteidigungsministeriumsollten den hierzulandebisher kaum zur Kenntnis genommenen Fall derbeiden italienischen Marineinfanteristen dahergut im Auge behalten. Denn auch deutsche Soldatenfahren mittlerweile regelmäßig alsSchutzpersonal auf Handelsschiffen unter deutscherFlagge oder unter deutschem Schutz mit.Und mit der gerade angelaufenen Zertifizierungziviler Sicherheitsdienstleister <strong>für</strong> den bewaffnetenEinsatz auf Schiffen unter deutscher Flaggewird sich die Anzahl des bewaffneten Schutzpersonalsnoch einmal erhöhen. Und auch siekönnten Fehler machen.Quellen und Links:Bericht der Repubblica vom 6. April 2013(in Italienisch)Bericht des Spiegel vom 27. März 2013Bericht der Times of India vom 26. März 2013Analyse »Managing the Indian Ocean‘s PrivateSecurity Boom« des Lowry Institute forInternational Policy vom 12. September 2012beschloss die italienische Regierung daher wenigeTage später, die beiden Marineinfanteristendoch wieder nach Indien zurückzuschicken. AußenministerTerzi, der mit seiner kompromisslosenHaltung bereits von Anfang an wenig dazubeigetragen hatte, die Affäre auf diplomatischenErmittlungsstand des Tathergangs durchaus inRichtung eines strafwürdigen Fehlverhaltens vonMitgliedern des VPDs weist.Die Affäre veranschaulicht das erhebliche diplomatischebeziehungsweise völkerrechtliche Eskalationspotenzial,das sich im Ernstfall aus demBericht zum Einsatz deutscher AVPDs im BlogMorgenlage.de am 15. Oktober 2012Übersicht zum Rechtsstatus der Anschlusszonevon Prof. Dr. Alexander Proelß, Christian-Albrechts-Universität Kiel, aus dem Jahr 2007ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 58


Foto: www.mediaserver.hamburg.deWELTADLAS: SEEHANDELVOM SUPERTANKER BIS ZUM SEELENVERKÄUFERMEHR ALS 104.000 HOCHSEEGEHENDEHANDELSSCHIFFE WARENANFANG 2012 WELTWEIT REGISTRIERT.13 % CONTAINERSCHIFFE33% ÖLTANKERSCHIFFSTYPEN *Jenseits des Horizonts der Konsumenten existiert eine Welt, von dersie abhängig sind – ohne sich dessen bewusst zu sein. Die erdumspannendeLieferkette ist enorm komplex und bietet reichlich Spielraum <strong>für</strong>dunkle Geschäfte. Ohne den globalen Warentausch aber wäre unseraller Leben nicht so, wie wir es kennen.Der Gradmesser dieser Globalisierung im Jahr 2011: Acht MilliardenTonnen Fracht wurden allein in jenem Jahr laut »United Nations Conferenceon Trade and Development« (UNCTAD) über die Weltmeere verschifft,mehr als doppelt so viel wie noch 1990. Das Ende des Kalten Krieges hat denfriedlichen Austausch der Völker offensichtlich beflügelt; oder zumindestihren Handel untereinander. Würde diese Vernetzung der Welt gestört – dieFolgen wären möglicherweise schlimmer als die der Sperrung desSuezkanals 1967 und des Ölpreisschocks 1973. Selbst die Finanz- undWirtschaftskrise von 2008/2009 hat nur eine kleine Delle in den Bilanzen desWelthandels bewirkt, 2010 war sie schon längst wieder ausgeglichen.Der »Jahresbericht des Flottenkommandos« der Deutschen Marine beziffertden Anteil des deutschen Exports, der Deutschland 2011 über das Meerverließ, auf 57 Prozent der gesamten Ausfuhr, im Gesamtwert in Höhe von249 Milliarden Euro. Der »Exportweltmeister« ist also überwiegendauf freie Seehandelswege angewiesen. Umgekehrt kommt ebenso ein >>6% SONSTIGE(EINSCHL. Z.B. KREUZFAHRTSCHIFFEUND FLÜSSIGGASTANKER)7% STÜCKGUTFRACHTER41 % MASSENGUTFRACHTERÜBER 71% ALLER HANDELSSCHIFF-TONNAGEFÄHRT UNTER ANDERER FLAGGEALS DIE DER NATIONALITÄT DER EIGNER.REGISTRIERUNG 2011 **DEUTSCHLAND: 868 SCHIFFE UNTER DEUTSCHER FLAGGE MIT 17.500.000 TUSA: 6.461 SCHIFFE MIT 12.000.000 T LADEKAPAZITÄTPANAMA: 8.127 SCHIFFE MIT 328.200.000 T LADEKAPAZITÄT* in Prozent der globalen Handelsschiff-Tonnage ** nur drei ausgewählte Registrierungen als Auszug Quelle: UNCTADADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 59


19901991199219931994199519961997199819992000200120022003200420052006200720082009201020112012SEEHANDELÜBER 95% DES WELTWEITEN FERNGÜTERHANDELSFINDET AUF DEM SEEWEG STATT.600500?8 % UNBEKANNT16 % GRIECHENLAND400300EIGNERNATIONEN*15 % JAPAN200100043 % ÜBRIGE9 % VR CHINA9 % DEUTSCHLANDVON 1990 BIS 2012 GEMELDETE VORFÄLLE VON PIRATERIE WELTWEIT1.534.000.000 TBETRÄGT DIE LADEKAPAZITÄT DER GLOBALENHANDELSFLOTTE.>> Großteil der Einfuhren der Bundesrepublik über See herein. Die größtendeutschen Handelspartner liegen jedoch auf dem gleichen Kontinent,darunter ist Frankreich der wichtigste – mit zwei Ausnahmen: die USA undChina. Dass von diesen beiden die Volksrepublik heute die »Werkstattder Welt« ist, belegt gerade die Tatsache, dass sie über 9 der 20 größtenContainerumschlagplätze weltweit verfügt.Bedroht wird das globale Handelsnetzwerk auf unterschiedliche Weise,das größte Risiko dabei ist die Piraterie: 226 erfolgreiche Überfällezählte die »International Maritime Organization« (IMO) im vergangenenJahr, neben 115 gescheiterten Versuchen. Die Mehrzahldavon hat im Südchinesischen Meer stattgefunden. mmoVON 126.000.000 TDER GLOBALEN LADEKAPAZITÄT LÄSST SICH DEREIGNER NICHT FESTSTELLEN.3,2 MRD. T CONTAINERUND STÜCKGÜTERSEEHANDEL 20112,3 MRD. T MASSENGÜTER2,5 MRD. T ÖL UND GAS0,9 MRD. TSEEHANDEL 19901,2 MRD. T1,5 MRD. T* in Prozent der globalen Handelsschiff-Tonnage nach Nationalität der Eigner Quellen: IMO, UNCTADADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 60


SEEHANDELAntwerpenRotterdamHamburgTianjinQingdaoDalianShanghaiPREKÄRE LOGISTIK15 10 14118191Jap an35 Mrd. €62 %5Busan16Los Angeles20Long BeachU S A121 Mrd. € 52 %6KaribikATL ANTISCHEROZEANBrasilien13 Mrd. € 62 %Nordatlantik145Westafrika168 Mrd. € 0 %Frankreich6MittelmeerVR Ch ina144 Mrd. € 65 %Indien18 Mrd. € 65 %1022Arabisches MeerStraße von Malakka1426OstafrikaIndischer Ozean852FernostSüdchinesischesMeer6Ningbo18Xiamen12Kaohsiung4Shenzen7Guangzhou3Hong KongPAZIFISCHEROZEAN8Südamerika(Pazifikküste)1Südamerika(Atlantikküste)S üdafrika14 Mrd. € 57 %INDISCHEROZEAN913172Dubai Port Klang Tanjung SingapurPelepas57% SEINER EXPRORTE FÜHRTEDEUTSCHLAND 2011 ÜBERDEN SEEWEG AUS – MIT EINEM GESAMTWERT VON249 MRD. EURO.deutsches Außenhandelsvolumen 2011 (Wert der Ein- und Ausfuhren)mit ausgewählten Handelspartnern; und der davon über See transportierte Anteilweltgrößte Containerhäfen 2011 nach Ranking der UNCTADvon Platz 1, Shanghai mit 31,7 Mio. TEU/Jahr, bis Platz 20, Long Beach mit 6,1 Mio. TEU/Jahr(TEU: »twenty-foot equivalent unit« / Standardcontainer von 20 Fuß bzw. 6,1 Meter Länge)Anzahl der gemeldeten Piratenangriffe 2012 nach Seeregion laut IMO-BerichtQuellen: Sandfire AG, IMO, UNCTAD, Jahresbericht des Flottenkommandos 2012Mrd. € %#XKarte: mmoADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 61


Foto: Uli Sonntag / foto-sonntag.de<strong>MARITIME</strong> <strong>SICHERHEIT</strong>: LOGISTIK»EIN GUTER HAFEN IST SCHNELL UND SICHER«Die Sicherheit des wohl wichtigstenWarenumschlagplatzes Deutschlands liegtim Spannungsfeld zwischenwirtschaftlichen Bedürfnissen undbehördlicher Sorgsamkeit. Der Leiter derHamburger Wasserschutzpolizei,Frank Martin Heise, und seine Mitarbeitermüssen den täglichen Kompromiss suchen.Interview: Marcus Mohr>>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 62


LOGISTIK>> Häfen sind Start und Endpunkt der maritimenHandelskette, sie sind die Zentren der weltweitenLogistikketten und der Globalisierung schlechthin– somit sind sie auch Kristallisationspunktesicherheitspolitischer Probleme und Herausforderungen.Die Palette reicht von Drogenschmuggelund illegaler Einwanderung bis zu Ölkatastrophenund der Atombombe im Schiffscontainer –ein Szenario, das bereits Albert Einstein beschäftigte:»A single bomb of this type, carried by boatand exploded in a port«, warnte der Physiker ineinem Brief vom 2. August 1939 an US-PräsidentFranklin D. Roosevelt, »might very well destroythe whole port together with some of thesurrounding territory.«Vor dem Hintergrund dieser Spannbreite anRisiken arbeitet die Hamburger Wasserschutzpolizei,der die Sicherheit von Deutschlands größtemSeehafen obliegt. ADLAS sprach mit ihremChef, dem Leitenden Kriminaldirektor Frank-Martin Heise.ADLAS: Herr Heise, Sie sind mit rund 500 Kolleginnenund Kollegen nicht nur Teil einer »normalen«Landespolizei, sondern in Hamburg als Deutschlands»Tor zur Welt« tragen Sie eine ganz besondereVerantwortung. Welches sind die Hauptproblemeder Wasserschutzpolizei Hamburg? Beziehungsweisewelche sind <strong>für</strong> Sie die größten sicherheitsrelevantenProbleme in Ihrer täglichen Arbeit?chen Aufgaben im gesamten Hafengebiet zu Wasserund zu Lande sind wir <strong>für</strong> eine Reihe speziellerAufgaben zuständig. Dazu gehört die Überwachungvon Gefahrguttransporten in ganz Hamburg aufallen Verkehrsträgern außer des Luftverkehres, dieWahrnehmung der grenzpolizeilichen Aufgaben –Hamburg ist Schengen-Außengrenze – sowie dieErmittlung im Bereich der Umweltkriminalitätebenfalls im gesamten Hamburger Stadtgebiet. Einwichtiger, und wohl der neueste, Bestandteil unserertäglichen Arbeit ist die Sicherung von Hafenanlagen,den Terminals, sowie des gesamten Hafengebietesin Übereinstimmung mit internationalenbeziehungsweise europäischen Regelungen.Welche Folgen hatte denn die weltweite Einführungdes »International Ship and Port Facility SecurityCode«, auf den man sich im Rahmen der InternationalenSeeschifffahrtsorganisation im Dezember2002 geeinigt hatte – als eine der vielen Maßnahmendes »War on Terror« – <strong>für</strong> die HafensicherheitHamburgs? Wie hat der Code die Arbeit der HamburgerWasserschutzpolizei verändert?Geschwindigkeit erfolgen. Die Einhaltung desTermins 1. Juli 2004 erforderte eine intensiveZusammenarbeit aller zuständigen Behördender Küstenländer sowie des Bundes mit den Hafenbetriebensowie deren Verbänden. Wir habendamals enge Kontakte untereinander aufgebaut,die bis heute gepflegt werden. Es entstand eineneue Form der Kooperation zwischen Behördenund Wirtschaft.»2004 ENTSTAND EINE NEUE FORMDER KOOPERATION ZWISCHEN BEHÖRDENUND WIRTSCHAFT.«Hamburg hat seinerzeit zusammen mit Bremenfederführend die Grundlage <strong>für</strong> eine erfolgreicheUmsetzung des ISPS-Codes geschaffen. Als wirdann 2004 termingerecht an den Start gingen,hatte der Hafen sein Gesicht verändert. Erstmalswaren sämtliche, auch die kleineren, Hafenanlagengegen den unbefugten Zugang gesichert,was zu gehöriger Verwunderung bei See- undSehleuten führte, also auch der »normale Bürger«konnte plötzlich nicht mehr zu den großenSchiffen gelangen.Sind denn in der gleichen Zeit auch die Zuweisungenaus dem Haushalt des Innensenators und IhrePersonalstärke angewachsen?Frank-Martin Heise: Ich könnte jetzt antworten:»Probleme haben wir nicht, wir bieten Lösungen…«.Dies wäre jedoch zu kurz gegriffen. Nebenden polizeilichen und schifffahrtspolizeili-Die Umsetzung der Anforderungen aus dem ISPS-Code musste seinerzeit in außerordentlich hoher Ja. Damals wurde mit der »Designated Authority >>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 63


LOGISTIKHafensicherheit« quasi eine neue Dienststellegeschaffen. Unter personeller Beteiligung derHamburg Port Authority ist diese als Sachgebietbei der Wasserschutzpolizei angesiedelt.Hamburg ist der größte Hafen Deutschlands, derzweit- beziehungsweise drittgrößte Europas. Wieviele der vielen Millionen Standardcontainer – nachder Wirtschaftskrise 2008/2009 schon wieder aufneun Millionen im Jahr 2011 angewachsen –, diepro Jahr in der Hansestadt umgeschlagen werden,können überhaupt adäquat inspiziert werden?Ein guter Hafen ist »schnell und sicher«. Diesebeiden Eigenschaften stehen in einer Wechselbeziehung,wobei wir in unserer täglichen Arbeitden gelungenen Kompromiss suchen. Der Trans-port in Containern ist dabei nur eine von vielenTransportketten, die es zu überwachen gilt.Was lässt sich denn einfacher kontrollieren?Container, Stück- oder Massengüter?Das lässt sich nicht pauschal sagen. Wir haben<strong>für</strong> alle Transportarten jeweils unsere Fachleute.Sicherheitskontrollen bedeuten Zeitverzögerung <strong>für</strong>den Warenverkehr. Das kann zu einem gravierendenWettbewerbsnachteil <strong>für</strong> den Hafen und seine Nutzerwerden. Wie stark ist der Druck aus Industrieund Handel auf die Polizei, die Sicherheitsprozessezügig zu gestalten? Und auf der anderen Seite: BekommenSie von Handel und Industrie immer dasNiveau an Kooperation, dass Sie sich wünschen?Wie hält man die Balance zwischen einem möglichstSchnellbootersatzWASSERORDNUNGSHÜTERDer Leitende Kriminaldirektor Frank-Martin Heiseleitet seit 2010 die Wasserschutzpolizei Hamburg.Der 45-jährige gebürtige Braunschweiger trat1987 in den Polizeidienst und begann nach demStudium seinen Dienst in der Hansestadt als Kriminalbeamterim Stadtteil St. Georg.»2004 HAT DERHAFEN SEIN GESICHTVERÄNDERT.«unbehinderten Warenverkehr und notwendigenSicherheitskontrollen?Der Hafen ist <strong>für</strong> Hamburg, Deutschland undüber die Grenzen hinaus von sehr großer Bedeutung.Die Schnelligkeit der logistischen Prozesseauf der einen Seite und ein Höchstmaß an Sicherheitauf der anderen, sind zwei Ziele, diesich nicht trennen lassen. Insofern fühlen wiruns auch beiden Zielen verpflichtet.Im Hafen gibt es eine große Anzahl unterschiedlicherAkteure: Reeder, Terminalbetreiber,Makler, Besatzungen … Mit allen pflegen wir, beiklar definierten Rollen, ein partnerschaftlichesMiteinander und wir haben unser tägliches Geschäftdem Rhythmus des Hafens angepasst. Soführen wir beispielsweise Kontrollen, die nachunserer Erfahrung einen Nachbesserungsbedarfauf Schiffen ergeben könnten, gleich zu Beginnder Liegezeit durch. So hat die Schiffsleitunggenügend Zeit <strong>für</strong> die Abstellung erkannterMängel, und wir vermeiden einen Eingriff in deneng gesetzten Zeitplan der Schifffahrt.Das heißt, Sie versuchen die Möglichkeiten, dieIhnen der Zeitplan der Schifffahrt bietet, so optimalwie möglich <strong>für</strong> Bedürfnisse der Sicherheit zunutzen, damit Reibungen mit der Wirtschaft garnicht erst entstehen?Umgekehrt, wir versuchen, den Fluss der Wirtschaftso wenig wie möglich zu behindern. Diesbedeutet nicht, dass wir nicht zu gegebener ZeitMaßnahmen veranlassen müssen, die im EinzelfallKosten verursachen.>>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 64


LOGISTIKDie Furcht vor Terroranschlägen auf «Kritische Infrastrukturen»wie eben Häfen und ihre Anlagen hatseit den »9/11«-Attacken deutlich zugenommen.Aber auch der Angriff auf den französischen Tanker»Limburg« – mithin auf die globale Logistikkette –2002 im Golf von Aden spielt hier wohl eine Rolle.Wie begegnet man in Hamburg den Bedrohungendurch potenzielle terroristische Anschläge? Für wiegroß halten Sie sie – allein eingedenk dessen, dassWorld-Trade-Center-Attentäter ausgerechnet inHamburg-Harburg studiert haben?Die Gefahr terroristischer Anschläge ist abstraktund gleichwohl stets präsent. Und das gilt nichtnur <strong>für</strong> Hamburg. Hier an der Elbe versuchen wirmit verschiedenen polizeilichen Mitteln, dieseGefahr auf ein Minimum zu reduzieren. Dabeigehen wir mit der gebotenen Gelassenheit undNüchternheit einerseits und der erforderlichenpolizeilichen Professionalität andererseits vor.Herausforderungen. Die WasserschutzpolizeiHamburg nutzt dabei ihre Vernetzung auf nationalerund internationaler Ebene. Der hier vorhandeneAustausch – wie etwa während des»World Port Security Summit« 2012 bei uns inHamburg oder der laufende Kontakt mit Stellender EU in Brüssel – und die daraus gezogenenLehren fließen in die laufend aktualisierten Risikoanalysenein. Darüber hinaus sind wir Teil einermodernen Großstadt- und Landespolizei, diesich auch insgesamt mit solchen Fragestellungenbeschäftigt.Welche Lehren wären das?Das kann ich Ihnen aus Sicherheitsgründen leidernicht sagen.Die Wasserschutzpolizei Hamburg ist zuständig <strong>für</strong>ein verhältnismäßig großes Gebiet, das nicht nurbeziehungsweise im »Gemeinsamen LagezentrumSee des Bundes und der Küstenländer«? Haben SieWünsche offen?Das Grundgesetz sieht vor, dass alles, was nichtspeziell geregelt ist, Ländersache ist. Dazu gehörtals ein Kernbereich die Innere Sicherheit.Es sind also die Länder, die die Polizeiaufgaben– von sehr wenigen Ausnahmen abgesehen –wahrnehmen. Örtlich reicht die Zuständigkeitder Länder bis zur Zwölf-Seemeilen-Grenze derdeutschen Hoheitsgewässer. Die Wasserschutzpolizeiender Küstenländer führen die diesbezüglichenpolizeilichen und schifffahrtspolizeilichenAufgaben in diesem Raum gemeinsamdurch. Auch Hamburg ist aktiver Teil der Wasserschutzpolizei-Leitstellein Cuxhaven.So wird gewährleistet, dass an den deutschenKüsten – nicht nur im Maritimen Lagezentrumbeziehungsweise Gemeinsamen Lagezentrum –Früher war es undenkbar, aber heutzutage kannman per Google-Maps Häfen längst genau kartieren,dank der automatischen Warenverfolgung lässtsich zudem die Logistikkette gut nachverfolgen, undich weiß immer, wo genau mein Paket oder meinContainer gerade ist – egal, was ich in ihm verpacktoder versteckt habe. Terroristen bietet dies Möglichkeiten<strong>für</strong> gezielte Anschläge – beispielsweise mitferngezündeten Sprengsätzen in Frachtcontainern.Wie begegnet man solchen Bedrohungen?»MASSNAHMEN, DIE IM EINZELFALLKOSTEN VERURSACHEN«alle Verantwortlichen – die Wasserschutzpolizeien,die Bundesanstalt <strong>für</strong> Landwirtschaft undErnährung, die Bundeszollverwaltung, die Wasser-und Schifffahrtsverwaltung, die DeutschenMarine, das Havariekommando und auch dieden Hamburger Hafen einschließt, sondern auch dieSeeschifffahrtsstraße Elbe bis hinauf nachCuxhaven. Wie verläuft die Zusammenarbeit mit derBundespolizei See, die darüber hinaus <strong>für</strong> die deutschenHoheitsgewässer verantwortlich ist? Wie ge-In einer sich immer schneller verändernden Weltstehen die Sicherheitsbehörden bei der Anpassungstaltet sich aus Ihrer Sicht die Kooperation im seit Bundespolizei – zielführend zusammenarbeiten.der Schutzmaßnahmen generell vor großen 2007 bestehenden »Maritimen Sicherheitszentrum« Das hat bislang dank eines guten kollegialen>>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 65


LOGISTIKVerhältnisses immer geklappt, und insofern habenwir auch keine Wünsche offen.Der Bundespolizei See obliegt auch die präventiveAuseinandersetzung mit Piraterie. Ist die HamburgerWasserschutzpolizei als Vertrauensträger ebenfallszum Beispiel als Berater oder in Amtshilfe ander Pirateriebekämpfung beteiligt?geleitet werden. Was tut die Wasserschutzpolizei, umsicherzustellen, dass hier keine Gefahr ausgeht?lisierten Zuständigkeit liegt auf der Hand: Esentstehen keine Reibungsverluste an denSchnittstellen beim Wechsel des Verkehrsträgers.Darüber hinaus hat sich in Hamburg dasüber Landesrecht geschaffene »Gefahrgutinformationssystem«,kurz GEGIS, bewährt. Die dortzur Verfügung gestellten Daten gewähren derWasserschutzpolizei eine engmaschige Darstellungsämtlicher mit Seeschiffen über den Hafenlaufenden Gefahrguttransporte. Somit ist einniedrigschwelliger Kontrollansatz bereits im Zulaufder Transporte möglich. Hamburg ist hierVorbild <strong>für</strong> andere Häfen.Der Brand auf der »Atlantic Cartier« hat gezeigt,dass dieses System aus Information und Kontrollefunktioniert. So lagen bereits kurz nach Ausbruchdes Feuers allen beteiligten Einsatzkräften detaillierteAngaben über das an Bord vorhandene Gefahrgutvor, was eine sichere Bewältigung dieserLage durch die beteiligten Behörden ermöglichte.Hat der Vorfall Veränderungen mit sich gebracht?(Lacht) Darf ich Ihnen leider auch nicht verraten.Haben Sie vielen Dank <strong>für</strong> das Gespräch!»DIE GEFAHR TERRORISTISCHERANSCHLÄGE IST ABSTRAKT UND GLEICHWOHLSTETS PRÄSENT.«Quellen und Links:Webpräsenz der Wasserschutzpolizei HamburgWebpräsenz des Maritimen Sicherheitszentrumsdes Bundes und der KüstenländerDie Wasserschutzpolizei Hamburg kommt beieiner Piraterielage dann ins Spiel, wenn das gekaperteSchiff einer Reederei mit Sitz in Hamburggehört. Sofern dann die hier<strong>für</strong> zuständigeStaatsanwaltschaft Hamburg bei der Ermittlungmaritimen Sachverstand benötigt, bittet sie inder Regel uns um Unterstützung.Eine Aufgabe der Wasserschutzpolizei ist das Beobachtenund Begleiten von Gefahrguttransporten.Am Kirchentag in Hamburg am 1. Mai dieses Jahreserlebte die Stadt einen Schreckmoment, als in Sichtweiteder Eröffnungsveranstaltung ein Frachtschiffmit mehreren Tonnen explosiver Ladung und hochgefährlichemUranhexafluorid brannte. Im Zuge dessenwurde bekannt, dass, auch radioaktive, Gefahrguttransporte,oft zwischen harmloser Ladung, durchden Hafen gleich neben der Hamburger InnenstadtDie Wasserschutzpolizei ist in Hamburg umfassend<strong>für</strong> die Überwachung des Transportes gefährlicherGüter zuständig – sei es auf der Straßeoder der Schiene, in der Binnen- oder derSeeschifffahrt. Der Vorteil einer solchen zentra-FAQ der International Maritime Organizationzum ISPS-CodeInterview des Deutschlandfunk mit demHafenexperten Anjes Tjarks von Bündnis 90/DieGrünen vom 18. Mai 2013Hintergrundberichte von NDR 90,3 vom17. Mai 2013Rede des Ersten Bürgermeisters Hamburg,Olaf Scholz, anlässlich des »World Port SecuritySummit« am 10. September 2012Profil von Frank-Martin Heise in Der Hamburger,Ausgabe März 2011Interview mit Frank-Martin Heise im Landesjournalder Deutschen Polizei vom 2. November 2010Albert Einsteins Briefe an Franklin D. RooseveltADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 66


<strong>MARITIME</strong> <strong>SICHERHEIT</strong>: SEEGRENZEN IIIm Namen der europäischenBürger soll Frontexden EU-Mitgliedstaaten dabeihelfen, die Außengrenzen derUnion zu sichern.Im Mittelmeer soll dieGrenzschutzagenturdabei allerdings systematischgegen die Rechte Asylsuchenderverstoßen – und damitgegen ihre eigenen Statuten.MEER OHNE MENSCHENRECHTEMangelnde Transparenz trägtwenig dazu bei,diese schweren Vorwürfe zuentkräften.>> Seine erste Reise als katholisches Kirchenoberhauptführte Papst Franziskus ausgerechnetnach Lampedusa. Seit den 1990er Jahren ist dieitalienische Insel südlich von Sizilien <strong>für</strong> tausendeMigranten aus Afrika das Tor nach Europa.Schätzungen zufolge sollen seitdem bis zu 20.000Menschen die Überfahrt auf die europäische»Flüchtlingsinsel« nicht überlebt haben – sie sindbeim Versuch, das Mittelmeer zu queren, entwederverdurstet oder ertrunken. Franziskus kam,um die Toten zu beweinen. Er sprach von einer»Globalisierung der Gleichgültigkeit« gegenüberden Migranten und beklagte die »Grausamkeit inder Welt«, insbesondere die Grausamkeit jener,»die in der Anonymität Entscheidungen sozialerund wirtschaftlicher Natur treffen, die den Weg<strong>für</strong> Dramen wie dieses ebnen«.Die deutlichen Worte des Papstes waren Wasserauf die Mühlen der Gegner der derzeitigenFlüchtlingspolitik der Europäischen Union. ImFokus der öffentlichen Kritik steht dabei seit ihrerGründung 2004 die EU-Grenzschutzagentur»Frontex«. Während die einen die angeblich effektiveSicherung der Außengrenzen durch dieAgentur loben, prangern andere ihre Maßnahmenals in höchstem Maße menschenrechtsverletzendan. Inwiefern wird Frontex ihrer Rolle alsgrenzsicherndes EU-Organ gerecht? Und inwiefernwerden der Schutz der EU-Außengrenzenund damit auch Europas Wohlstand und Sicherheitdabei durch einen menschenunwürdigenUmgang mit afrikanischen Migranten erkauft?Die Zahl der Migranten, die über das Mittelmeernach Italien gelangten, stieg 2011 vor allemaufgrund des so genannten »Arabischen Frühlings«sprunghaft auf 52.000 an. Zum Vergleich:Noch 2008 kamen »nur« 38.000 Menschen überden Seeweg nach Italien und Malta. Durch die politischenUmwälzungen fiel in vielen nordafrikani- >>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 67


Vorige Seite: Flüchtlinge in Lampedusa im Mai 2011. Im Hintergrund: aufgebrachte Boote von Menschenschmugglern Foto: UNHCR / F. NoySEEGRENZEN IIschen Ländern die staatliche Ordnung vorübergehendweg. Diese Länder waren gemäß bilateralerVereinbarungen bis dahin als Drittstaaten <strong>für</strong> dieRückführung von irregulären Immigranten und <strong>für</strong>die Sicherung ihrer eigenen Außengrenzen zuständig.Mit der Verringerung der staatlichenGrenzkontrollen in Tunesien, Ägypten und besondersLibyen erlebte die irreguläre Migration überillegale Kanäle – darunter auch mithilfe kaum seetüchtigerFlüchtlingsboote – eine neue Blüte.Frontex engagierte sich aufgrund dieser Entwicklung2011 im Rahmen der Operation»Hermes« in großem Umfang im Mittelmeer. LautIlkka Laitinen, dem Direktor von Frontex, sankdie Zahl irregulärer Migranten daraufhin im vergangenenJahr gegenüber dem »Rekordjahr« 2011um die Hälfte. Die Grenzschutzagentur verbuchtdies als Erfolg der eigenen Anstrengungen. KritischeBeobachter sehen hingegen den Grund auchSchnellbootersatz DUBLIN IIDie Verordnung Nr. 343/2003 des EU-Rates, die sogenannte »Dublin-II-Verordnung«, sieht vor, dassFlüchtlinge nur in dem Land der Union Asyl beantragenkönnen, dessen Grenze sie zuerst übertretenhaben. So können diese Personen nicht in unbegrenztvielen EU-Staaten einen Antrag stellen, wasMissbrauch entgegenwirken soll. Dies führt jedochzu einer Mehrbelastung einzelner Länder, wie ebenItalien oder Griechenland, und somit zu nationalenProblemen statt europaweiten Lösungen bei derBewältigung von Verwaltungsaufgaben.darin, dass sich das Mittelmeer mittlerweile inein »Meer des Todes«, wie die tageszeitung es Anfangdieses Jahres formulierte, verwandelt habe.Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl sprichtin diesem Zusammenhang allein <strong>für</strong> das Jahr2011 von bis zu 1.500 Toten. Die massivenFlüchtlingsströme über das Mittelmeer stellendemnach nicht nur <strong>für</strong> die europäischen Grenzstaatenein gewaltiges Problem dar, sondern sindinsbesondere <strong>für</strong> die Migranten selbst eine oftlebensbedrohliche Situation.Die zehntausenden Personen, die auf verschiedenenWegen jedes Jahr illegal nach Italienkommen, sind als »people of concern« <strong>für</strong> dasLand und die zuständigen Behörden eine erheblicheBelastung. Denn als Grenzstaat der EU obliegtes Italien, die Flüchtlingsströme an seinenPAPST FRANZISKUS BEKLAGTDIE GRAUSAMKEIT JENER, DIE IN ANONYMITÄTENTSCHEIDUNGEN TREFFEN.SPRACHREGELUNGSchnellbootersatzLaut der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951ist ein »Flüchtling« eine Person, die aus einer begründetenFurcht vor Verfolgung ihr Heimatlandverlässt und dessen Schutz nicht in Anspruch nehmenkann oder will.Offizielle Frontex-Dokumente hingegen verwendenden Begriff »irregulärer Migrant«. DieseBezeichnung enthebt der Verantwortung, nachtweisenzu müssen, ob es sich bei Personen, diebeim Grenzübertritt aufgegriffen wurden, umFlüchtlinge handelt oder nicht.Grenzen aufzufangen, die Menschen temporäraufzunehmen und gegebenenfalls ihre Asylanträgezu bearbeiten. Angesichts des hohen Aufkommensist dies nicht erst seit den jüngstenEreignissen in Nahost und Nordafrika eineMammutaufgabe. Da Italien <strong>für</strong> die meisten irregulärenMigranten zudem lediglich als Tor zurEuropäischen Union dient, können diese Folgekostender Migrationsströme nicht von demLand allein getragen werden.Die sich so ergebende Notwendigkeit einergemeinsamen Außengrenzsicherung und entsprechendeneuropäischen Einwanderungspolitikhaben die europäischen Staaten relativ früherkannt. Der Rat der Europäischen Union daherbereits 2004 die »Europäische Agentur <strong>für</strong> dieoperative Zusammenarbeit an den Außengrenzender Mitgliedstaaten der Europäischen Union«– kurz Frontex, aus dem Französischen»frontières extérieures« <strong>für</strong> Außengrenzen – alskoordinierende Behörde ins Leben gerufen. Das>>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 68


SEEGRENZEN IIEuropäische Parlament, als einziges von den europäischenWählern direkt legitimiertes Organder EU, war nicht an der Gründung dieses Akteursbeteiligt, obwohl er letztlich im Namen der europäischenBürger exekutiv tätig wird.Das Hauptaufgabe von Frontex ist es, insbesondereangesichts der durch das Schengen-Abkommen praktisch weggefallenen Binnengrenzkontrollen,den effektiven Schutz der europäischenAußengrenzen zu gewährleisten. Durchtechnische Unterstützung, Bereitstellung vonFachwissen und Koordinierung der nationalenGrenzsicherungsaktivitäten seitens der Agentursollen die Maßnahmen der einzelnen EU-Mitgliedstaaten zum Schutz der Außengrenzenwirksamer werden. Demnach liegt zwar die unmittelbareVerantwortung <strong>für</strong> Kontrolle undÜberwachung der Außengrenzen weiterhin beiden EU-Mitgliedern, doch soll Frontex die Qualitätihrer Maßnahmen verbessern.Am 3. Oktober 2005, knapp ein Jahr nach ihrerGründung, nahm die Agentur den operativen Betriebauf. Seither wurde ihre Rechtsgrundlage zweiMal überarbeitet, was jeweils mit einem Zuwachsan Kompetenzen einherging. Die Veränderungender Ratsverordnung 2007/2004 erlauben es Mitarbeiternder Agentur beispielsweise selbst repressiveMaßnahmen anzuwenden. Ihre Verwendung in»Rapid Border Intervention Teams«, kurz RABIT,gestattet teilnehmenden Beamten dieses Expertenpoolssogar die Anwendung von bewaffneterGewalt. Diesen Umstand kritisieren besondersMenschenrechtsorganisationen, da die Frontex-Verordnung in Artikel 18 gleichzeitig den Mitarbeiternund Beamten der Agentur Immunität vorMit dem Leben davongekommen:Ein Fahrzeug der italienischenKüstenwache hat im Mai2011 Flüchtlinge aus Tripoli vor demErtrinken bewahrt und bringtdie Geretteten in Lampedusa an Land.Foto: UNHCR / F. Noynationaler Strafverfolgung zusichert. De jure ist esseit dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabonzwar möglich, die Agentur <strong>für</strong> die Aktivitäten ihrerMitarbeiter als eigene Rechtsperson vor dem EuropäischenGerichtshof zu belangen. Praktisch jedochwurden bisher nur drei Klagen beim EuropäischenGerichtshof eingereicht.Die zweite und bislang letzte Aktualisierungder Verordnung erfolgte im Oktober 2011. Seitdemist Frontex dazu berechtigt, sich selbst Ausrüstungwie Hubschrauber oder Autos anzuschaffenoder zu leasen. Darüber hinaus darf die Agenturmaterielle und personelle Unterstützung direktvon den Mitgliedstaaten der EU anfordern,anstatt wie zuvor auf deren freiwillige Hilfe hoffenzu müssen. Dies machte die Agentur endgültigzu einer vollwertigen Exekutivbehörde. GenaueZahlen der auf dieser Grundlage beschafftenAusstattung sind zwar aufgrund der geringenTransparenz nicht bekannt. Der »Pool« derRABIT soll aber beispielsweise aus 500 bis 600Grenzschutzbeamten bestehen, welche die Mitgliedsländerstellen und die durch Frontex trainiertwerden. Der Artikel 1 der Änderungsverordnungvom Oktober 2011 betont dabei erstmalsexplizit die Bindung der Agentur an die Chartader Grundrechte der Europäischen Union, an dievölkerrechtlichen Verpflichtungen im Zusammenhangmit dem Zugang zu internationalemSchutz und dabei insbesondere an den Grundsatzder Nicht-Zurückweisung.Diese letzte Änderung der Rechtsgrundlage istwährend eines laufenden Einsatzes von Frontexim Mittelmeer erfolgt: Am 15. Februar 2011 gab>>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 69


SEEGRENZEN IIdie Agentur bekannt, dass der italienische Innenministerangesichts der außerordentlichen Migrationssituationauf den Pelagischen Inseln eineAnfrage nach Unterstützung gestellt hatte. Romforderte demnach eine stärkere Überwachung desbetroffenen Grenzgebietes in Form einer gemeinsamenOperation mit Frontex. Als Reaktion aufden Hilfeantrag Italiens kündigte die EU-Kommissarin<strong>für</strong> Innenpolitik, Cecilia Malmström,fünf Tage später den Beginn der »Operation Hermes«an: Frontex-eigene Schiffe und PersonalES GIBT AUFFÄLLIGE UNTERSCHIEDE ZWISCHEN»HERMES« UND »ATALANTA«.gliedsländer diesen stattdessen ein angemessenesAsylverfahren bieten müssen. Die Einhaltungdieses Prinzips fordern vor allem AmnestyInternational und Human Rights Watch ein, dieim derzeitigen Vorgehen der Grenzschützer eineVerletzung der europäischen Menschenrechtskonventionerkennen: »Auch Küstenwachen undStrafverfolgungsbehörden von EU-Mitgliedstaaten«seien an diesen Menschenrechtsverletzungenbeteiligt, so Judith Kopp von Pro Asyl.Die grundlegenden Fragen, wie mit Migrantenverfahren werden soll und wer in welchemFall die Verantwortung übernehmen muss, sindaber auch nach neun Jahren Frontex-Einsatznoch nicht abschließend geklärt. Dabei wäre esangesichts der aktuellen Lage besonders wichtig,die potenziell lebensrettenden Zuständigkeitenzur Sicherung schiffbrüchiger Flüchtlingeim europäischen Raum verbindlich zu klären.Unterstützung erfuhren die Kritiker letztesJahr durch den Europäischen Gerichtshof <strong>für</strong>Menschenrechte. Dieser urteilte im Februar2012, dass Italien mit seiner Praxis, Migrantenund Asylsuchende auf offener See abzufangen,gegen seine Verpflichtungen aus internationalenMenschenrechtsabkommen verstößt. Demnachdürfe niemand einfach in ein Land zurückgeschicktwerden, in dem er von Menschenrechtsverletzungenbedroht ist. Sieben Monate späterleitete der Europarat dann ein Verfahren ein, dasprüft, ob und inwieweit Italien dem Urteil desGerichtshofes seither nachgekommen ist.Als Resultat dieser Vorgänge waren im Maiund dann »systematisch« und »schnellstmöglich«abzuschieben, ohne ihnen jemals die Möglichkeiteines Asylantrags zu geben.Internationale Bekanntheit erlangte diese Praxisdurch den Fall der »Cap Anamur«. Das Schiffhatte am 20. Juni 2004 im Mittelmeer insgesamt37 Flüchtlinge aufgenommen, woraufhin ihm dasEinlaufen in einen italienischen Hafen verwehrtwurde. Die Flüchtlinge wurden schließlich, ohneje einen Asylantrag stellen zu können, zurücknach Afrika gebracht. Der Chef der Hilfsorganisa-sollten die italienischen Seepatrouillen verstärken,um illegale Grenzübertritte nach Europa zuverhindern. Des Weiteren sollte das RABIT-Fachpersonal aus EU-Mitgliedstaaten durch Befragender aufgegriffenen irregulären ImmigrantenInformationen über deren Identität und Nationalitätsammeln, um dadurch mögliche Menschenschmuggleraktivitätenaufzudecken.tion Cap Anamur, Elias Bierdel, und der Kapitändes Schiffes, Stefan Schmidt, mussten sich anschließendwegen Menschenschmuggels vor einemsizilianischen Gericht verantworten undwurden erst fünf Jahre später freigesprochen.Die Italiener und die Experten von Frontexhinterfragen meist gar nicht erst, ob eine Asylberechtigungvorliegt. Frontex selbst sei nicht dazuMit dieser Hilfestellung <strong>für</strong> die italienischen berechtigt, Asylanträge anzunehmen, erklärtBehörden im Rahmen der »Operation Hermes«unterstützte Frontex allerdings unmittelbar auchderen zum Teil extrem harte Methoden im Umgangmit den Flüchtlingen. Denn der gängige modusoperandi der italienischen Grenzschützer bestehedarin, so Ruth Jüttner von Amnesty International,irreguläre Migranten bereits in internationalenGewässern in ihren Booten aufzubringenKlaus Rösler, operativer Einsatzleiter der Grenzschutzagentur.Dies liege im Zuständigkeitsbereichder Mitgliedstaaten. Laut Amnesty Internationalverletzt eine solche Vorgehensweise aberdas »Nicht-Zurückweisungsprinzip« – das »Non-Refoulment Principle« – der Genfer Flüchtlingskonvention,welches besagt, dass Personen aufSee nicht abgedrängt werden dürfen und Mit-dieses Jahres auch aus dem Menschenrechtsausschussdes Europäischen Parlaments kritische >>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 70


SEEGRENZEN IIStimmen gegenüber Frontex vernehmbar. NachAussage von Paul d’Auchamp, dem Stellvertreterdes Regionalbüros des UN-Hochkommissars <strong>für</strong>Menschenrechte in Brüssel, stellt sich das Problemso dar: »[irregular migrants are] largely viewedas a security concern that must be stopped.This is fundamentally at odds with the humanrights approach concerning the conceptualisationof migrants as individuals and equal holders ofhuman rights.«Obwohl die letzte Rechtsverordnungsänderung<strong>für</strong> Frontex aus dem Jahr 2011 im Vergleich zu dervorangegangenen Version zahlreiche konkreteMenschenrechtsbezüge enthielt, gab es insbesondereaus der Grünen-Fraktion im Europaparlamentdeutliche Kritik. So sei die aus der Veränderungder Verordnung 2007/2004 hervorgegangeneEinführung eines Menschenrechtsbeauftragten»halbherzig und lückenhaft«. Die deutsche Grünen-AbgeordneteSka Keller sagt dazu, diese Regelungbleibe »hinter unseren Forderungen nacheinem starken Schutz der Flüchtlinge zurück«.Auffällig sind hier die Unterschiede von »Hermes«zu der EU-Antipiratenoperation »Atalanta«. Inletzterer setzt beispielsweise die Deutsche Marineregelmäßig Rechtsberater direkt auf ihren Schiffenein, um nach eigener Darstellung »eine mandatskonformeAufgabenerfüllung zu gewährleisten«.Fraglich ist, warum dies auf den von Frontexeingesetzten Schiffen nicht geschieht.Hinzu kommt, dass über Einzelfälle hinaus wenigüber die Operationen von Frontex und insbesonderedie »Hermes« bekannt ist. Organisationenwie Pro Asyl und Amnesty International kritisierendiesen Mangel an Transparenz, denn Infor-mationen über den Hergang ihrer Aktivitätenmacht die Agentur in der Regel selbst auf wiederholteNachfrage hin nicht zugänglich. Außerdemfällt bei der Recherche nach Dokumenten mitFrontex-Bezug im Archiv des Rates der EuropäischenUnion schnell auf, dass Beschlussfassungenoder Berichte nicht öffentlich einsehbar sind. Dieseschwache Quellen- und Informationslage erzeugteine Intransparenz, die eine Kontrolle vonFrontex durch die europäische Öffentlichkeit – inderen Auftrag die Agentur ja eigentlich agiert –praktisch ausschließt. Dies widerspricht jedochdeutlich dem Lissabonner Vertrag, der Transparenzals einen seiner Hauptansprüche formuliert.Eine wirksame Kontrollfunktion könnte dasEuropäische Parlament wahrnehmen – wennFrontex zumindest regelmäßigere und detailliertereBerichte über das eigene Vorgehen vorlegenmüsste. Bisher überwacht das Parlament dieAgentur allerdings allein durch die allgemeineHaushaltskompetenz. Im Sinne einer demokratischerenLegitimation von Exekutivorganen wieFrontex, insbesondere Angesichts der anhaltendenKritik, erscheint eine Ausweitung der Kontrollmöglichkeitendes Parlaments jedoch angebracht.Auch die Einbindung etablierter zivilgesellschaftlicherAkteure, etwa aus dem Bereich derMenschenrechtsorganisationen, in einen transparentenKontrollprozess könnte helfen, auftretendeVorwürfe bezüglich Verstößen gegen dieRechte irregulärer Migranten – und damit letztlichauch gegen die eigenen, in der Frontex-Verordnung kodifizierten Grundsätze – schnellund umfassend zu klären. So würde Frontex seinerRolle als grenzsicherndes EU-Organ besserentsprechen und nicht, wie es derzeit scheint,durch die Unterstützung zweifelhafter nationalerGrenzschutzpraktiken im Rahmen gesetzlicherGrauzonen zusätzliche Unsicherheit <strong>für</strong>irreguläre Migranten schaffen. Die Autoren Lukas Fleischhauer, David Gierszewski,Jana Klonikowski, Sven Kohlscheen,Caroline Mangold, Katharina Meyer, TobiasSchnell und Tanja Schürmann studieren in verschiedenenFachsemestern Politologie an derChristian-Albrechts-Universität zu Kiel. Der Artikelentstand im Rahmen eines Forschungsseminars.Quellen und Links:Webauftritt der Grenzschutzagentur FrontexBericht der BBC vom 8. Juli 2013Bericht der tageszeitung vom 19. April 2013Informationsseite der Organisation Pro Asylzur Flüchtlings- und Asylsituation 2012Meldung der Zeit vom 13. September 2011Dossier »Irreguläre Migration« der Bundeszentrale<strong>für</strong> politische Bildung vom 23. Dezember 2007Verordnung Nr. 2007/2004 desEuropäischen Rates vom 26. Oktober 2004zur Gründung von FrontexADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 71


<strong>MARITIME</strong> <strong>SICHERHEIT</strong>: OZEANIENEntgegen populärenUntergangsvisionen sind dieProbleme, mit denen sichpazifische Inselnationenaufgrund des Klimawandelskonfrontiert sehen, allzu real.Versalzende Böden,schwindendes Trinkwasser undwachsende Umsiedlungszwängeals Folgen des steigendenMeeresspiegels treffen sie hart.Es fehlt vor allem einevölkerrechtliche Lösung <strong>für</strong> denUmgang mit grenzüberschreitendenFolgen derUmweltveränderungen –insbesondere den beginnendenFlüchtlingsbewegungen.>> Die Vereinten Nationen zählen einige vonihnen zu den ärmsten Ländern der Welt: die»Small Island Developing States« im Pazifik. DieGründe sind vielfältig: Naurus Phosphatreichtumetwa hat die Kolonialmacht Australien nach demErsten Weltkrieg ohne Rücksicht auf Umweltschädenausgebeutet. Die Marshallinseln dientenden USA zwischen 1946 und 1958 als Atomtestgebiet.Auf die internationale Agenda gelangtendie Probleme der jungen Inselstaaten aber erst in>>LEBEN OHNE LANDvon Vanessa TiedeKüstenerosion am Stadtrand von Süd-Tarawa in Kiribati. Foto: Government of Kiribati / CC BY 3.0ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 72


OZEANIENden letzten Jahren: durch die Heraufbeschwörungdes Mythos Atlantis, die apokalyptische Visionvom untergehenden Paradies – also die Erwartung,dass ganze Nationen noch in diesem Jahrhundertals Folge des Klimawandels unter demMeeresspiegel versinken werden.ERST DURCH DAS HERAUFBESCHWÖREN DESMYTHOS ATLANTIS GELANGTENDIE PROBLEME DER INSELSTAATEN AUF DIEINTERNATIONALE AGENDA.AM PULS SchnellbootersatzDES KLIMASDas »Intergovernmental Panel on Climate Change«(IPCC) wurde 1988 gemeinsam vom Umweltprogrammder Vereinten Nationen und der Weltorganisation<strong>für</strong> Meteorologie gegründet. Unter derSchirmherrschaft der UN wertet es die internationaleKlimaforschung aus und veröffentlicht denaktuellste Stand unter anderem regelmäßig inSachstandsberichten.Die IPCC-Berichte besitzen zwar immensesGewicht innerhalb der internationalen Debattezum Klimawandel, sind aber auch dementsprechendhoch umstritten.nicht mehr <strong>für</strong> die Bewohner ausreichen werden.Die Suche nach einer neuen Heimat <strong>für</strong> die betroffenenMenschen und daraus folgende Umsiedelungszwängesind also alles andere als Fiktion.Genaue Prognosen über den durchschnittlichenAnstieg des Meeresspiegels bis Ende des 21. Jahr-Diese dramatisierte Darstellung der Situation insbesonderein den Medien geht jedoch teilweisemit einer starken Vereinfachung der tatsächlichenProbleme einher. Die Bevölkerungen der tief liegendenInseln im Pazifik kämpfen alltäglich mitden Auswirkungen des Meeresspiegelanstiegs undder Zunahme von »extremen Wetterereignissen«wie Taifunen. Beispielsweise drohen die Süßwasservorrätesowie der landwirtschaftlich nutzbareBoden aufgrund von Küstenerosion und Überspülungder Landfläche mit Meerwasser zu versalzen.Die Folgen <strong>für</strong> die Landwirtschaft verschlimmerndie ohnehin prekäre Arbeitsmarktsituationeinzelner Staaten und beeinträchtigen die Nahrungsmittelsicherheitauf den betroffenen Inseln.hunderts sind wie alle Vorhersagen der Folgen desKlimawandels wissenschaftlich umstritten. Ausgehendvom Jahr 1990 prognostiziert der vierteSachstandsbericht des IPCC aus dem Jahr 2007eine Zunahme des Meeresspiegelniveaus zwischen0,2 und 0,6 Metern bis zum Jahr 2100, die bis datooptimistischste Einschätzung. Die höchsten Wertefinden sich in einer Studie von Wissenschaftlernder Technischen Universität Helsinki und der UniversitätPotsdam aus dem Jahre 2009, die eine Erhöhungzwischen 0,8 und 1,9 Metern voraussagt.Verkompliziert werden die Prognosen auch durchschwer berechenbare Ereignisse wie das beschleunigteSchmelzen von Gletschern.Die Formel, mit der inzwischen in EntwicklungshilfeorganisationenDas »Intergovernmental Panel on Climate Change«wie der deutschen(IPCC) sieht das Hauptproblem darin, dass dieTrinkwasservorräte in der Pazifikregion ab 2050»Gesellschaft <strong>für</strong> Internationale Zusammenarbeit«(GIZ) und in der Interessenvertretung klei- >>NOTGEMEINSCHAFTSchnellbootersatzDie »Alliance of Small Island States« (AOSIS) vereintseit 1990 Küsten- und Inselstaaten, die durchihre geringe Höhe über dem Meeresspiegel vonden Auswirkungen des Klimawandels, insbesonderevom ansteigenden Meeresniveau, besondersbetroffen sind.Zu den großen AOSIS-Staaten gehören Kubaund Singapur, kleinster Partner ist das winzige,mit Neuseeland assoziierte Niue mit rund 1.400Einwohnern. Das Bündnis repräsentiert seine Angehörigenbei internationalen Klimaverhandlungengemeinsam und umfasst mit 37 Staaten beinaheein Fünftel der Mitglieder der UN, aber nurfünf Prozent der Weltbevölkerung.ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 73


OZEANIENPrekäre Geographie: Die Hauptinselkette Kiribatis mit der 50.000 Einwohner-Hauptstadt Süd-Tarawaliegt an keiner Stelle höher als drei Meter über dem Meeresspiegel. Foto: Government of Kiribati / CC BY 3.0Bengalen, im Meer versunken. Andererseits habenWissenschaftler der Universität Aucklandfestgestellt, dass gerade die pazifischen Korallenatollesich innerhalb der letzten Jahrzehntevon ihrer Landmasse her entweder gar nichtverändert oder sogar an Korallenmasse zugenommenhaben. Einig sind sich die Forscheraber darüber, dass der steigende Meeresspiegelund weitere Folgen des Klimawandels die Inselvölkerbereits vor dem potentiellen Untergangihrer Heimat vor große Probleme stellen. Denn<strong>für</strong> die überwiegende Anzahl der ungefähr 7.500Inseln im Pazifik ist (noch) nicht der vollständigeVerlust ihrer Landmasse ein akutes Problem,sondern die direkten Auswirkungen des Klimawandelsauf die Lebensbedingungen ihrer Einwohner.Die Regierungen der betroffenen Staatenmüssen dementsprechend schon heute übereine Umsiedlung ihrer Bürger entscheiden.Wulf Killmann, Direktor des GIZ-Projekts»Klimawandel in der pazifischen Inselregion«berichtet von einem Treffen mit LokalpolitikernOzeaniens im Juli 2012, dass Kiribati beabsichtige,zu Umsiedlungszwecken Land von der fidschianischenRegierung zu kaufen. Eine weitereIdee sei die Schaffung künstlicher Inseln, dieähnlich wie Ölplattformen errichtet werden sollen.Auch die Salomonen denken über die Umsiedelungder Bevölkerung von zwei ihrer Inselnnach. Grund laut Killmann: die Versalzung derSüßwasservorräte.Als Nauru nach seiner Unabhängigkeit 1968von Australien eine Entschädigung <strong>für</strong> die mas-ner Inselstaaten, der »Alliance of Small IslandStates« (AOISIS) gearbeitet wird, berechnet einenAnstieg zwischen 0,5 und 1,0 Metern bis zum Endedieses Jahrhunderts.Ein wachsendes Niveau der Ozeanoberflächeist besonders <strong>für</strong> niedrigliegende Inselstaaten imPazifik eine Gefahr. Kiribati, bestehend aus 33Korallenatollen, auf denen rund 103.000 Menschenwohnen, muss be<strong>für</strong>chten, noch innerhalbdieses Jahrhunderts zu versinken. Tuvalu könntees spätestens im darauffolgenden Jahrhundertebenso ergehen.Aber auch in Fällen wie diesen gibt es widersprüchlicheIndizien und Ansichten . Einerseitsist 2006 tatsächlich eine bis in die 1980er Jahrehinein bewohnte Insel, Lohachara im Golf vonsiven Umweltschäden durch den Phosphat-Abbau verlangte, lehnten die Vertreter der ehe- >>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 74


OZEANIENmaligen Kolonie Canberras Angebot einer Umsiedelungauf australisches Territorium ab. Nauru<strong>für</strong>chtete die kulturellen Anpassungszwänge, dieauf seinen knapp 10.000 Bürgern bei einer Integrationin eine Gesellschaft von mehreren Millionenlasten würden. Diese Positionen wiederholtenund bekräftigten die beiden Regierungenin den 1990er Jahren und zuletzt 2003.Tuvalu hingegen fragte 2001 bei Australienund Neuseeland an, ob sie grundsätzlich zur Aufnahmevon tuvaluischen Bürgern bereit seien.Canberra lehnte grundsätzlich ab, Wellingtonwar bereit, jährlich 75 Aufenthaltsgenehmigungenzu vergeben, die aber an strikte Bedingungenbezüglich Einkommen, Gesundheit und andereKriterien geknüpft gewesen wären.In Mikronesien bewirken die gleichen Problemewie in Nauru und Tuvalu zunächst eine innerstaatlicheMigration: Viele Menschen siedeln vonsich aus auf höher liegende Inseln um. EinigeMikronesier aber immigrieren schon nach Hawaii,was durch ein Abkommen mit den USA ermöglichtwird.Auch die Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention,die es Menschen aus Krisengebietenerleichtern sollen, in einem anderen LandAsyl zu erhalten, helfen nicht weiter. Menschen,die aufgrund der Folgen des Klimawandels fliehen,berücksichtigt die Konvention nicht. Sie definierteinen Flüchtling als jemanden, der aus Gründenseiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeitzu einer bestimmten sozialen Gruppeoder aufgrund seiner politischen Überzeugungverfolgt wird. Als »Verfolger« gelten Individuenoder Gruppen von Individuen, beispielsweise Mili-konvention genannten Gründe vorliegt. Auch dashöchste australische Gericht hatte 1997 abgestritten,dass Naturkatastrophen eine Verfolgungim Sinne der Konvention darstellten.Die Diskussion um diese Frage ignoriert jedoch,dass die Bewohner der Inselstaaten, sobeispielsweise aus Kiribati oder Tuvalu, übernellbootersatzDIE STAATEN OZEANIENSQuelle: CIA World Fact Book 2013Flächein km 2Einwohnerzen in einem Bürgerkrieg, nicht aber Naturphänomenewie eben der Klimawandel. EinwohnernOzeaniens, die vor Flüchtlingstribunalen Australiensund Neuseelands versucht hatten, einen Statusals Klimaflüchtlinge zu erhalten, wurde diesverweigert. In allen Entscheidungen hieß es, dasskeine Verfolgung aus einem der in der Flüchtlings-Einw.-dichtein E./km 2Bev.-wachstumin %MigrationsrateNauru 21 9.500 452,1 0,6 -1,4Tuvalu 26 10.700 411,5 0,8 -0,7Marshall-Inseln 181 69.800 385,3 1,8 -0,5Palau 459 21.100 46,0 0,4 0,1Mikronesien 702 106.100 151,1 -0,4 -2,1Tonga 747 106.300 142,3 0,1 -1,8Kiribati 811 103.300 127,3 1,2 -0,3Samoa 2.831 195.500 69,1 0,6 -1,0Vanuatu 12.189 261.600 21,5 2,1 -0,2Fidschi 18.274 896.800 49,1 0,7 -0,7Salomonen 28.896 597.300 20,7 2,1 -0,2Neuseeland 267.710 4.365.000 16,3 0,9 0,2Papua-Neuguinea 462.840 6.432.000 13,9 1,9 0Australien 7.741.220 22.263.000 2,9 1,1 0,6zum Vergleich:Niederlande 41.543 16.805.000 404,5 0,4 0,2in %>>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 75


OZEANIENhaupt nicht als Flüchtlinge wahrgenommen werdenwollen. Den Begriff »Flüchtling« assoziiertendie Menschen der pazifischen Inselstaaten mitPassivität, einer Opferrolle und mangelnderHandlungsfähigkeit, schreibt die auf Flüchtlingsrechtspezialisierte australische VölkerrechtlerinJane McAdam.resspiegel das Land, weicht auch die Basisliniezurück und die Ausschließliche Wirtschaftszonewird kleiner.Was das zur Folge haben kann, zeigt das Beispielvon Mikronesien: Ginge die südlichste Inselund damit auch der südlichste Bezugspunkt unter,verlöre der Staat 30.000 Quadratseemeileneine oder andere Weise vollständig unbewohnbarwerden und ihre Einwohner sie verlassenmüssen? »Ob die Menschen dann freiwillig gehenwerden, kann ich schlecht beurteilen«,meint GIZ-Regionalexperte Killmann pessimistisch,»aber wahrscheinlich haben sie kaum Alternativen.«DIE GENFER FLÜCHTLINGSKONVENTION KENNT»VERFOLGER« WIE DEN KLIMAWANDEL NICHT.Vanessa Tiede studiert im Master InternationalePolitik und Internationales Recht an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.Das schwindende Land wirkt sich auch auf diewirtschaftliche Nutzung des umgebenden Meeresaus. Dort finden sich <strong>für</strong> Inselstaaten wichtigewirtschaftliche Ressourcen, vor allem die Fischbestände.So ist denn auch der größte Industriezweigin Tuvalu wie in Kiribati die Fischerei.Die völkerrechtlichen Regelungen über die»Ausschließliche Wirtschaftszone« eines Staates,innerhalb welcher dieser alleine maritime Ressourcenausbeuten darf, finden sich im UN-Seerechtsübereinkommen. Im Falle von Inselstaatenerstreckt sich die Wirtschaftszone nichtum jede Insel einzeln, sondern um den gesamtenArchipel; ihre Berechnung basiert auf demGrundsatz »das Land dominiert die See«, den derInternationale Gerichtshof 1969 festgelegt hat.Ausgehend von den außen gelegenen Inseln desArchipels erstreckt sich die Wirtschaftszone vonder so genannten »Basislinie«, der Uferlinie beidurchschnittlichem Niedrigwasser 200 Seemeilenweit in die See. Schrumpft bei steigendem Mee-seiner ausschließlichen Wirtschaftszone. DieseProblematik entbehrt bis jetzt einer eindeutigenrechtlichen Lösung. Auch Pläne einzelner Staatenzum Bau künstlicher Inseln nützen in diesemFall nichts. Denn laut der UN-Seerechtskonventionlässt sich ein Anspruch nur ausgehend vonnatürlichen Inseln erheben. José Luis Jesus, Richteram Internationalen Seegerichtshof in Hamburg,der von der Seerechtskonvention etabliertenGerichtsbarkeit, schlägt vor, was auch vonRegierungsmitarbeitern der betroffenen Inselstaatenbe<strong>für</strong>wortet wird: Seien Basislinien ersteinmal rechtmäßig errichtet und anerkannt, solltendiese <strong>für</strong> die Zukunft gelten, unabhängig vonVeränderungen der Landmasse.Ob katastrophaler Untergang, langsames Versinkenoder wirtschaftliche Strangulierung – <strong>für</strong>die Bevölkerungen Ozeaniens ist der Kampf gegenden Klimawandel alltägliches Problem, keinevage zukünftige Horrorvision. Was geschieht also,wenn die kleinen pazifischen Inseln auf dieQuellen und Links:Webpräsenz der »Alliance of Small Island States«Projektseite »Klimawandel in der pazifischenRegion« auf der Website der DeutschenGesellschaft <strong>für</strong> Internationale ZusammenarbeitKommentar von Marcus Stephen, 2007 bis 2011Präsident Naurus: »On Nauru, a Sinking Feeling«in der New York Times vom 18. Juli 2011Essay: »We aren’t Refugees« von Jane McAdamund Maryanne Loughry auf der australischenReportage-Website Inside Story vom 30. Juni 2009Idean Salehyan: »The New Myth AboutClimate Change« in der Foreign Policy vom 14.August 2007Zusammenfassung des »Fourth AssessmentReport« des »Intergovernmental Panel on ClimateChange« aus dem Jahr 2007ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 76


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KONFLIKTZONE OSTASIEN: TRANSNATIONALE BEDROHUNGENJanusüber Fernostvon Helge StaffDer Kalte Krieg zwischenNord- und Südkorea, die Frageder Unabhängigkeit Taiwans,die Territorialdispute imOstchinesischen Meer zwischenChina und Japan –<strong>Sicherheitspolitik</strong> in Ostasienscheint fokussiert aufzwischenstaatliche Konflikte.Diese Sicht ist verkürzt. DieLänder der Region blicken nichtnur auf ihre »traditionellen«bilateralen Konkurrenzen,sondern nehmen post-modernegrenzüberschreitendeGefahren wie Terrorismus undPiraterie zunehmend wahr. >>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 78


TRANSNATIONALE BEDROHUNGENEin Student der Internationalen Beziehungen fühlt sich in vergangeneZeiten zurückversetzt. Anhand der momentanen Berichterstattung und Analysenüber die <strong>Sicherheitspolitik</strong> in Ostasien könnte er die Region leicht alsletzte Bastion klassischer Machtpolitik begreifen – geprägt von einem Verständnisvon Außen- und <strong>Sicherheitspolitik</strong>, das die Zeit des Kalten Kriegesin Europa dominiert hatte: China, Taiwan und Japan tragen territoriale Disputemit Flottenmanövern um die Senkaku- beziehungsweise Diaoyu-Inselnaus, Nordkoreas Diktator Kim Jong-un rasselte im Frühjahr 2013 erneut vernehmlichmit dem Säbel.Dieses Bild erscheint umso erstaunlicher, wenn wir es mit Bedrohungsanalysen<strong>für</strong> die Länder des Westens vergleichen. Im Vorwort zum deutschenWeißbuch zur <strong>Sicherheitspolitik</strong> 2006 etwa benennt Bundeskanzlerin AngelaMerkel den internationalen Terrorismus, die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen,regionale Konflikte oder die organisierte Kriminalität als»bedeutsame neue sicherheitspolitische Herausforderungen«. ZwischenstaatlicheKonflikte oder die Konfrontation von militärischen BündnissenFür Südkorea nimmt das Verteidigungsministerium Terrorismus auf der globalenEbene als Bedrohung wahr, jedoch nicht auf der regionalen und nursehr begrenzt auf der nationalen. Die Autoren der Weißbücher betonen vorallen Dingen die Gefahren der Proliferation von Massenvernichtungswaffenin Verbindung mit Terrorismus. Hauptsächlich richtet sich Südkoreas <strong>Sicherheitspolitik</strong>aber natürlich auf einen möglichen Konflikt mit dem nördlichenNachbarn aus.Allerdings durchbricht das Konzept der so genannten »military readinessposture against non-traditional threats« sehr deutlich den ansonsten dominantenFokus auf Nordkorea. Das südkoreanische Weißbuch 2006 beschreibtdieses Konzept einer schnellen Krisenreaktion, die sich mit einem umfassendenBegriff von Sicherheit explizit auch auf Terrorismus bezieht. Die Weißbücher2008 und 2010 benutzen eine ähnliche Terminologie und verstärkensie noch. Damit strebt Südkorea eine multi-dimensionale <strong>Sicherheitspolitik</strong>an, die nicht mehr nur starr auf Pjöngjang blickt. Geringe Anstrengungen imanti-terror-spezifischen Ausrüstungsbereich stehen entsprechende Übungen >>Südkorea kennt inzwischennicht nur die »traditionelle Gefahr«aus dem Norden.sind in einer solchen sicherheitspolitischen Perspektive kaum noch von Bedeutung.Welche Rolle aber spielen transnationale Bedrohungen wie Terrorismusund Piraterie, die westliche Staaten als neue sicherheitspolitischeGefahren definiert haben, in Ostasien – dieser so scheinbar von»herkömmlichen« zwischenstaatlichen Bedrohungen geprägten Region?Eine vorläufige Antwort lässt sich allein schon in den offiziellen Publikationfinden: den Weißbüchern Chinas, Japans und Südkoreas – drei der wichtigstenAkteure in Ostasien. Solche Weißbücher als Dokumentationen undSelbstdarstellungen der <strong>Sicherheitspolitik</strong> eines Staates stellen oftmals einKapitel über Bedrohungswahrnehmungen voran, das viel über die Weltsichtseiner Autoren verrät.Kim Kwan-jin ist seit 2010Verteidigungsminister Südkoreas.Der ehemalige Berufsoffizierblickt auf eine Karriere von mehr alsvierzig Jahren zurück, zuletzt warder heute 64-Jährige 2006 bis 2008Vorsitzender des südkoreanischenGeneralstabs.Foto: US DoD / Chad J. McNeeleyFoto vorige Seite: Seoul Metropolitan GovernmentADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 79


TRANSNATIONALE BEDROHUNGENund einer als »Anti-Terror-Operation« bezeichneten Mission in Afghanistangegenüber.Während die südkoreanischen Weißbücher 2006 und 2008 regional undnational vor allen Dingen die Abhängigkeit des Landes von sicheren Schifffahrtswegendeutlich machen, benennt erst das Weißbuch 2010 Piraterie alsBedrohung auf der globalen Ebene. Die »readiness posture« Südkoreas umfasstdabei auch die Pirateriebekämpfung und zeigt neben der Ausweitungder Rolle der Marine eine deutliche Reaktion auf transnationale Bedrohungen.Das Weißbuch 2010 benennt diesen Aspekt klar: »The Navy will not onlyprotect the nation’s territorial waters but also safeguard national interests,such as the sea lines of communication (SLOCs) and marine resourcesin the high seas.«Im maritimen Ausrüstungsbereich verbleibt die Republik Korea aber inihrem Fokus auf eine zwischenstaatliche Bedrohung. Das Weißbuch 2010benennt Anstrengungen insbesondere in den konventionellen Bereichen derAbwehr von ballistischen Raketen und U-Booten. Südkorea unterhält allerdingsauch eine eigene, wenn im Vergleich zu Japan und China allerdingskleinere, Anti-Piraterie-Mission vor Somalia.Für Japan stellte globaler Terrorismus seit 2006 eine Hauptbedrohungdar. Diese Einschätzung nimmt in den japanischen Weißbüchern jedoch mitzunehmendem zeitlichem Abstand der Anschläge des 11. Septembers 2001ab. Ein mögliches Szenario, welches das japanische Verteidigungsministeriumim Weißbuch 2007 nennt, ist sogar eine Bedrohung durch Marschflugkörper,die mit Hilfe eines Containerschiffes leicht in die Nähe japanischerGroßstädte gebracht werden könnten.Die Reaktionen in Struktur und Ausrüstung der Streitkräfte stützen abertrotz geringerer Betonung die Annahme einer intensiv wahrgenommenenGefahr. So stellt Japans Verteidigungsministerium im Weißbuch 2006 fest:»It is required to transform the defense force from conventional deterrenceorientedto response capability-oriented defense capabilities for various contingenciesin and out of Japan.« Diese strukturelle Umorientierung auf»verschiedene Eventualitäten« umfasst auch Terrorismus, dem laut den >>Itsunori Onodera (rechts) ist im Dezember 2012japanischer Verteidigungsminister geworden. Der1960 geborene Politologe ging nach seinemStudium in die Verwaltung. 1997 wurde er erstmalsAbgeordneter des Unterhauses <strong>für</strong> dieLiberaldemokratische Partei; seither hat er sichals Außenpolitiker einen Namen gemacht.Foto: US DoD / Aaron HostutlerSind Japans Großstädtevon verstecktenMarschflugkörpernbedroht?ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 80


TRANSNATIONALE BEDROHUNGENWeißbüchern von 2006 und 2009 die Selbstverteidigungsstreitkräfte mit einerErhöhung der Personalstärke ihrer Infanterieeinheiten, dem Ausbau vonScharfschützenteams, neuen leichtgepanzerten Fahrzeugen und Helikopternsowie mit Verbesserungen in der Abwehr von nuklearen, biologischen oderchemischen Kampfstoffen begegnen sollen. Ferner visieren die Weißbücher2006 und 2010 eine Stärkung der militärischen Geheimdienste inklusive derErprobung von nicht näher beschriebenen Drohnen, der Umwandlung von F-15 Kampfflugzeugen in Aufklärungsflugzeuge sowie die Gründung eines Armeegeheimdienstesan.Während die Wahrnehmung von Terrorismus als globale Bedrohung abnimmt,steigt die von Piraterie, bis sie 2011 prominent im Weißbuch vertretenist. Regional verortet Tokio die Bedrohung in Südostasien und betont diefast vollständige Abhängigkeit der Nation von Transportrouten über See.WÄHRENDDESSEN IN WASHINGTON ...Der jährliche Bericht des US-Verteidigungsministeriums <strong>für</strong> den Kongress zusicherheitspolitischen Entwicklungen in der Volksrepublik (»Annual Report toCongress. Military and Security Developments Involving the People’s Republicof China«) bietet eine Analyse chinesischer Weißbücher aus amerikanischerSicht. Die Berichterstattung hatte mit dem »National Defense Authorization Actfor Fiscal Year 2000« begonnen, federführend stand seinerzeit dahinter derrepublikanische Senator und ehemalige Marinestaatssekretär John W. Warner.Die Hinwendung zu nicht-traditionellen Bedrohungen in der <strong>Sicherheitspolitik</strong>der Volksrepublik deutet das Pentagon in der 13. Auflage des Berichts indiesem Jahr machtpolitisch: »China’s political leaders have also charged thePLA with developing capabilities for missions such as peacekeeping, disasterrelief, and counterterrorism operations. These capabilities will increaseBeijing’s options for military influence to press its diplomatic agenda, advanceregional and international interests, and resolve disputes in its favor.« Auch dasEngagement Pekings im Kampf gegen Piraterie nehmen die Analysten des US-Militärs nicht unbedingt als rein defensives nationales Sicherheitsinteressewahr, sondern verorten es eher im Lichte der wachsenden internationalen RolleChinas und seiner strategischen Ziele.Ähnlich wie im Bereich des Terrorismus beschreiben die Weißbücher zumeinen strukturelle Anstrengungen. So beschloss das japanische Kabinett imMärz 2008 die Etablierung eines »Basic Plan on Ocean Policy«, der systematischverschiedene Politiken in Bezug auf die maritime Sicherheit integrierensoll. Zentraler Bestandteil dieser »Ocean Policy«, die über die Gewässer derjapanischen Inseln hinaus zielt, ist laut dem Weißbuch 2009 die Bekämpfungvon Piraterie durch japanische Marineeinheiten. Zum anderen bilden dieWeißbücher 2009 und 2010 aber auch Rüstungsvorhaben ab wie die Beschaffungvon neuen Seefernaufklärern oder Zerstörern, mit denen die Seestreitkräfteauf die neue Bedrohungslage reagieren sollen. Und im operativen Bereichführt Japan seit März 2009 eine eigene, in erster Linie durch nationale– also vornehmlich ökonomische – Interessen bestimmte Anti-Piraterie-Mission vor der Küste Somalias und im Golf von Aden durch.In den chinesischen Weißbüchern unterscheidet sich die Wahrnehmungvon Terrorismus als Bedrohung von der Japans und Südkoreas deutlich undverkehrt sich in ihr Gegenteil: National spielt Terrorismus in Verbindung mitden Unruhen in der Provinz Xinjiang ein wichtige Rolle, global aber zeichnendie chinesischen Weißbücher eine weitaus geringere Intensität der Bedrohung.Während im chinesischen Weißbuch von 2006 noch allgemein von»growing interconnections between domestic and international factors andinterconnected traditional and non-traditional factors« in Bezug auf die nationaleSicherheit der Volksrepublik die Rede ist, werden die Weißbücher2008 und 2010 konkreter. »Damages caused by non-traditional security threatslike terrorism, natural disasters, economic insecurity and informationsecurity are on the rise«, heißt es dort. Hinsichtlich der globalen Ebene vermerktdas chinesische Weißbuch 2006 dagegen nur lapidar: »Internationalterrorist forces remain active, shocking terrorist acts keep occurring.«Wie die globale Bedrohungsanalyse der chinesischen Weißbücher liegtauch der Fokus der Entwicklung der Volksbefreiungsarmee klar auf dem traditionellenzwischenstaatlichen Bereich. Anti-Terror-Operationen werdenjedoch als Aufgabe der Streitkräfte verstanden, und die Weißbücher spiegelneinen gewissen Ausbau der Anti-Terror-Fähigkeiten wider. So wurden nachAngaben des chinesischen Weißbuchs 2006 die Fähigkeiten zur Abwehr vonchemischen Angriffen in der chinesischen Miliz verbessert und die Weißbü- >>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 81


TRANSNATIONALE BEDROHUNGENGeneral Chang Wanquan ist seit dem16. März 2013 Verteidigungsministerund Staatsratsmitglied derVolksrepublik China. 1968 ist er in dieKP und die Volksbefreiungsarmeeeingetreten. Der 64-jährige aktiveSoldat ist seit 2002 zugleich Mitglied imZentralkomitee der KP.Foto: US DoD / Glenn FawcettTerrorismus ist <strong>für</strong> die Volksrepublikhauptsächlich einheimisches Problem, keininternationales.cher 2008 und 2010 berichten von der Aufstellung integrierter Einheiten <strong>für</strong>den Schutz vor nuklearen, biologischen und chemischen Angriffen imKriegsfall aber auch im Frieden. Und laut dem Weißbuch 2008 sollen die Pioniereder Volksbefreiungsarmee verbesserte Fähigkeiten »in the fields of accompanyingsupport, rapid barrier breaching, comprehensive protection,counter terrorist explosive ordnance disposal, emergency rescue and disasterrelief« entwickelt haben.Neben dem Schutz der Olympischen Spiele vor terroristischen Angriffennennt das Weißbuch 2008 auch eine offensivere Mission. So heißt es, dieparamilitärische Peoples Armed Police Force »has taken part in operations to[…] hunt down the ›East Turkistan‹ terrorists«. Auch die drastische Spracheverdeutlicht, dass Einheiten der Volksbefreiungsarmee in Xinjiang aus Sichtder chinesischen Regierung einen aktiven Kampf gegen den Terror führen.Verglichen mit den japanischen oder südkoreanischen Weißbüchern istdie Wahrnehmung von Piraterie als Bedrohung im Fall Chinas sehr schwachausgeprägt. Für die globale Ebene nennt sie einzig das Weißbuch 2008 explizit;regional und national bleibt es aber eher vage. Das Weißbuch 2008 beschreibtjedoch auch die mehrdimensionalen Fähigkeiten, die die Marineanstreben soll: »Since the beginning of the new century, […] the Navy hasbeen striving to improve in an all-round way its capabilities of integratedoffshore operations, strategic deterrence and strategic counterattacks, andto gradually develop its capabilities of conducting cooperation in distant watersand countering non-traditional security threats.«Dass diese zusätzlichen Fähigkeiten auch mit der Entwicklung oder Beschaffungneuer Ausrüstung verknüpft sind, legt eine Textstelle im chinesischenWeißbuch 2010 nahe. Sie berichtet über Manöver und Übungen, indenen sich unter anderem auch Ausrüstung bewährt hat, die <strong>für</strong> »escort operations«– der Begriff <strong>für</strong> die chinesischen Einsätze im Golf von Aden – gedachtist. Diese Operationen machen sich nach Angaben des Weißbuchsauch in hohem Maße in den Verteidigungsausgaben bemerkbar, sie werdenunter anderem <strong>für</strong> den Anstieg in Chinas Verteidigungshaushalt verantwortlichgemacht.Nach der Betrachtung der jeweiligen nationalen Wahrnehmungen istauch die regionale Kooperation von Interesse. Verglichen mit Europa oderSüdamerika ist die Kooperation der drei mächtigsten Staaten in Ostasien untereinanderwenig ausgeprägt. Da<strong>für</strong> aber nimmt die bi- und multilateraleZusammenarbeit im Feld der transnationalen und nicht-traditionellen Bedrohungeneinen vergleichsweise größeren Raum ein als die Kooperation intraditionellen Sicherheitsfragen. Das zeigen die vielen dementsprechendenManöver und Übungen, die die verschiedenen Weißbücher beschreiben. DieserProzess wechselseitiger intensiver Versicherheitlichung bestimmter The- >>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 82


TRANSNATIONALE BEDROHUNGENmen wie Piraterie und Terrorismus in Asien insgesamt und auch in Ostasienist eine interessante Entwicklung in einer von herkömmlichen Bedrohungengeprägten Region.Eventuell bieten transnationale Bedrohungen als gemeinsame Aufgabenaller Staaten einer Region die Möglichkeit einer sicherheitspolitischen Annäherungauch in anderen eher traditionellen Fragen. So schreiben die Autorendes südkoreanischen Weißbuchs 2010 über das erste Treffen von 18 asiatischenVerteidigungsministern im Rahmen einer erweiterten ASEAN-Rundeim Oktober desselben Jahres, diese Runde solle » not only remain as a meansof discussing joint responses to transnational and non-military securitythreats but should also develop into a mechanism for multilateral securitycooperation within the region«.Zusammenfassend spielen transnationale Sicherheitsrisiken wie Terrorismusund Piraterie <strong>für</strong> die Staaten Ostasiens tatsächlich eine nicht zu unterschätzendesicherheitspolitische Rolle. Diese Entwicklung drückt sich in derBedrohungswahrnehmung, durch Veränderungen in der Streitkräfteorganisationund -ausrüstung sowie in aktuellen militärischen Operationen undÜbungen aus. Dieses trifft in hohem Maße <strong>für</strong> Japan und in geringerer Intensitätauch <strong>für</strong> China und sogar Südkorea zu. Auch wenn zwischenstaatlicheKonflikte weiterhin das dominierende Element der ostasiatischen Regionbleiben, so stellt sich die vermeintliche Bastion klassischer Machtpolitik zuBeginn des 21. Jahrhunderts doch um einiges vielfältiger dar. Quellen und Links:Japans Weißbücher zur <strong>Sicherheitspolitik</strong> 2005 bis 2013Südkoreas Weißbücher zur <strong>Sicherheitspolitik</strong> 2000 bis 2012Weißbuch »The Diversified Employment of China‘s Armed Forces« desStaatsratsinformationsbüros vom 16. April 2013Weißbuch »Chinas’s National Defence in 2010« desStaatsratsinformationsbüros vom 31. März 2011Weißbücher der chinesischen Regierung einschließlichVerteidigungsweißbücher seit 2000»Annual Report to Congress. Military and Security DevelopmentsInvolving the People’s Republic of China 2013«, herausgegeben vomUS-Verteidigungsministerium am 6. Mai 2013.Pressebriefing von David Helvey, amerikanischer StellvertretenderVerteidigungsstaatssekretärs <strong>für</strong> Ostasien, am 6. Mai 2013Webseite der ASEAN über das »ASEAN Defence Ministers Meeting« unddas »ADMM-Plus«Helge Staff belegt den Masterstudiengang »International Relations« an der UniversitätBremen und der Jacobs University Bremen.ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 83


Aufmarsch von Bewaffneter Volkspolizei in Urumqi im September 2009. Foto: Andrew An / CC BY-SA 2.0REIHE: MINDERHEITENPOLITIKNOTIZFastenverbotenChina versucht sich in seinermuslimisch geprägtenWestprovinz Xinjiang an einemDrahtseilakt zwischen Kontrolleund Entwicklung.Unter welchen Umständen 35 Menschen EndeJuni in der Kleinstadt Lukqun ums Leben kamen,wird wohl nie vollständig aufgeklärt werden –China lässt grundsätzlich keine ausländischenJournalisten in seine westliche UnruheprovinzXinjiang und hält die eigene Presse bei diesemsensiblen Thema an der Kandare. Die staatlicheNachrichtenagentur Xinhua berichtete jedenfalls,»Aufrührer« hätten eine Polizeistation angegriffenund dabei 24 Menschen, einschließlich zweierOrdnungshüter, umgebracht, woraufhin die Polizei11 der Angreifer getötet habe.Nach diesen Vorfällen untersagte die KommunistischePartei Chinas den uigurischen Muslimenwährend des Ramadan 2013 das Fasten undließ ein militärisches Großaufgebot in Urumqiaufmarschieren – eine Mischung aus nervöserÜberreaktion und trotziger Machtdemonstration,so scheint es. Aus Pekings Sicht ist die Sache eindeutig:Ausschreitungen und Gewalt im Westender Volksrepublik sind das Werk von Terroristen,gegen die man entschlossen und gezielt vorgeht.Für die staatliche Global Times besitzen die Unruhestiftersogar Verbindungen zu islamistisch-extremistischenGruppen in Syrien. Uigurische Dissidentendagegen werfen Chinas Führung vor,jeglichen Protest unter dem Deckmantel der Terrorbekämpfungersticken zu wollen.Seit der Besetzung Xinjiangs durch MaosVolksrepublik 1949 gärt der Konflikt zwischendem Turkvolk der Uiguren und Peking. Wegen derstaatlich geförderten Ansiedlung von Han-Chinesenstellen die Uiguren nur noch knapp die Hälfteder Bevölkerung von rund 22 Millionen in ihrereigenen Heimatprovinz. Trotz der Dominanz derZuwanderer sieht China in Xinjiang eine nochweitgehend unerschlossene Schatzkammer: RiesigeRohstoffvorkommen – neben einer strategischenSchlüssellage der Region zwischen SüdundZentralasien – gelten Peking als unabdingbarereFaktoren, um seinen Wirtschaftsmotor inGang zu halten.So verwundert es auch kaum, dass von demFastenverbot ausschließlich uigurische Muslimein Xinjiang, nicht aber etwa muslimische Kasachenoder Hui-Chinesen betroffen waren undsich Pekings Order vor allem an den öffentlichenDienst richtete: Chinas KP geht es um Kontrolle,da<strong>für</strong> nimmt sie religiöse Diskriminierung in Kauf– und setzt die eigene Entwicklungsstrategie <strong>für</strong>die Region aufs Spiel. Wie schnell die Spannun- >>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 84


REIHE: MINDERHEITENPOLITIKANZEIGEgen in offene Gewalt umschlagen können, zeigtendie Unruhen vom Juli 2009, die über 200 Menschenlebenforderten und das öffentliche Lebenin Urumqi <strong>für</strong> einige Tage zum Stillstand brachten– ein Präzedenzfall, dessen Wiederauflage dieKP tunlichst verhindern will.Zwar betrachtet die Partei auch die zunehmendselbstbewusste Mittelschicht aus Angst vorKontrollverlust mit ambivalentem Argwohn,doch solange sie die Uiguren nicht an der wirtschaftlichenDividende beteiligt, werden auch inZukunft übermäßig viele Ressourcen beanspruchtwerden müssen, um die Ausbauziele in der Regionumzusetzen. Die Suche nach der richtigenStrategie <strong>für</strong> Xinjiang ist damit ein weiterer Faktorder Machtneuverteilung zwischen Sicherheitsestablishmentund wirtschaftsliberaler Elitein Chinas KP.Robert ChatterjeeWissenschaft zu Deutsch!Quellen und Links:Bericht des Economist vom 6. Juli 2013Kommentar der Global Times vom 3. Juli 2013Bericht der Global Times vom 1. Juli 2013Meldung von Radio Free Europe/Radio Libertyvom 27. Juni 2013Bericht der jordanischen Nachrichten-WebsiteAl Bawaba vom 24. Juni 2013Analyse der International Crisis Group vom 27.Februar 2013Bericht des Guardian vom 3. August 2012ADLAS – <strong>Magazin</strong> <strong>für</strong> Außen- und <strong>Sicherheitspolitik</strong>erkundet Neuland und macht akademische Erkenntnisseverständlich. Das eJournal informiert über Außen- und <strong>Sicherheitspolitik</strong>,regt zum Diskutieren an und bringt Themenin die Debatte ein.Außergewöhnlich ist sein Anspruch: aus dem akademischenUmfeld heraus einen Ton finden, der den Bogen zwischenFachsprache und Verständlichkeit schlägt. ADLAS – Wissenschaftauf Deutsch.ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 JETZT HERUNTERLADEN BEI WWW.ADLAS-MAGAZIN.DE85


KONFLIKTZONE OSTASIEN: MENSCHENRECHTEDeportationin die Fluchtvon Philipp OlbrichWährend nordkoreanische Flüchtlinge in derChinas Grenzregion zu seiner Nachbarvolksrepubliksich in einer humanitären Notlagebefinden, bleibt Pekings Politik ihnengegenüber am nationalen Interesse und nichtam Völkerrecht orientiert.Die chinesische Führung räumt ökonomischenund sicherheitspolitischen Überlegungen vorhumanitären Verpflichtungen Vorrang ein – undlebt mit einen zweitklassigen Status quo.Als die Vereinten Nationen im März 2013 eine Untersuchungskommissionzur Menschenrechtslage in Nordkorea einsetzten, wurde diese Nachrichtüberschattet von neuen Provokationen und offenen Drohungen des isoliertenLandes gegen Südkorea und die USA. Die Arbeit der Kommission, unterder Leitung des australischen Richters Michael Donald Kirby, befasst sich mitNordkoreanern, die nicht nur unter der generell schlechten Regierungsführungdes Regimes leiden, sondern auch insbesondere an starker Mangelernährungund einer willkürlichen Strafjustiz. Obwohl die Verfassung der»Demokratischen Volksrepublik Korea« (DVRK) diverse Grundrechte garantiert,wie zum Beispiel die Versammlungs-, Religions- und Pressefreiheit,wird deren Ausübung von der politischen Elite regelmäßig untergraben.Derartige Verhältnisse sind die Wurzel der nordkoreanischen Flüchtlingsproblematikim nördlichen Nachbarland China, die mit der großen HungersnotMitte der 1990er Jahre ihren Anfang nahm und bis heute andauert. Aufgrundder Verschlossenheit sowohl der Regime in Pjöngjang wie auch in Pekingfällt es schwer, die Anzahl der Flüchtlinge genau zu beziffern: Währenddas US-Außenministerium von geschätzten 30.000 bis 50.000 Nordkoreanern >>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 86


Vorige Seite: »Brücke der Freundschaft« über den Fluss Yalu bei Dandong, China; Nordkorea auf der gegenüberliegenden Seite. Foto: Bert van Dijk / CC BY-NC-SA 2.0MENSCHENRECHTEin China ausgeht, rechnen manche Nichtregierungsorganisationen eher miteiner Größe von ungefähr 300.000. Egal wie groß ihre genaue Zahl – diejenigen,die es wohlbehalten über die Grenze nach China schaffen, werden häufigOper von Diskriminierung und Misshandlungen; ihnen fehlt der humanitäreSchutz, nachdem sie vor Ernährungsunsicherheit, Menschenrechtsverletzungenund zuweilen Verfolgung geflohen sind.Ihr Dilemma ist das Resultat chinesischer Politik, die ihnen das Recht aufpolitisches Asyl abspricht. Dadurch droht den nordkoreanischen Migrantendie sofortige Rückführung, sobald sie in der Volksrepublik entdeckt werden.Entscheiden bei der Sache ist nun, was bei dieser Rückführung vor sich geht:In China droht nordkoreanischenMigranten die sofortige Abschiebung.Diejenigen, die wieder nach Nordkorea abgeschoben werden, werden nichtnur von Bediensteten des Regimes in Pjöngjang vernommen, sondern ihnendroht auch physische wie psychische Folter sowie Haftstrafen und in Einzelfällensogar die öffentliche Hinrichtung.Bei ihrer Aussage vor der »Tom-Lantos-Menschenrechtskommission«,einer parteiübergreifenden Parlamentsgruppe des US-Repräsentantenhauses,berichtete Flüchtling Bang Mi-sun im September 2010 davon, wie sie2002 geflohen ist, nachdem ihr Mann vor Hunger gestorben war. Sie wurdeunmittelbar von den chinesischen Behörden aufgegriffen und zwangsweiserepatriiert – und zurück in Nordkorea landete sie in einem Arbeitslager. Dortsei sie geschlagen und gefoltert worden. Mithäftlinge, so berichtete sie, hättenInsekten und Frösche gefangen, um nicht zu verhungern. »An einem Tagwurde eine Frau in das Lager gebracht, die in China schwanger gewordenwar«, erzählte Bahng, »sie wurde gezwungen, sich auf den Boden zu legen,und ein Holzbrett wurde ihr auf den Bauch gelegt; zwei männliche Häftlingemussten sich dann auf das Brett stellen. [...] Ein paar Tage später hörte ich,dass die Frau gestorben ist und eine Fehlgeburt hatte; direkt danach wurdeich in die Hölle auf Erden geschickt, das Gefängnis in Hamheung.« Nach ihrerFreilassung gelang Bahng Mi-sun schließlich die erneute Flucht nachChina und von dort weiter nach Südkorea.Eine solche Schwere von Menschenrechtsverletzungen macht die Flüchtlingsproblematikzwischen China und Nordkorea zu einer Angelegenheit, diein der internationalen Gemeinschaft nicht nur die Vereinten Nationen odereinzelne Staaten thematisieren, sondern auch diverse Nichtregierungsorganisationen.Aber obwohl die ehemalige Außenministerin Hillary Clinton2012 zur Frage nordkoreanischer Flüchtlinge eindeutig erklärte, die USA seiender Meinung, »dass die Flüchtlinge nicht abgeschoben und damit nochmalsden Gefahren ausgesetzt werden sollten, denen sie entflohen sind«,stand dieses <strong>für</strong> die Volksrepublik sehr sensible Thema beispielsweise auchnicht auf der Tagesordnung beim Gipfeltreffen von US-Präsident BarackObama und Chinas neuem Staatschef Xi Jinping im Juni 2013.Um juristisch bestimmen zu können, ob Nordkoreaner, die die chinesischeGrenze überqueren, als Flüchtlinge im Sinne des Völkerrechts gelten,spielt ihre ursprüngliche Motivation eine entscheidende Rolle. Die wohl vordringlichstenGründe, die DVRK zu verlassen, sind die schweren Menschenrechtsverletzungensowie die grassierende Nahrungsmittelunterversorgung,häufig auch begleitet von individuellen Notlagen wie Gesundheitsproblemen,Einkommensverluste oder dem Tod von Verwandten. Weil diese Gründenicht der Definition der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 und 1967entsprechen, betrachtet China alle flüchtigen Nordkoreaner als Wirtschaftsmigrantenund verweigert ihnen so das Recht auf Asyl.Es mag Fälle geben, in denen Personen tatsächlich aufgrund ihres Glaubensoder ihrer politischen Meinung in Nordkorea verfolgt werden und somit theoretischalle Anforderungen der Flüchtlingskonvention erfüllen würden. Aberobwohl China Mitglied der UN-Menschenrechtskonvention ist, erlaubt es denMitarbeitern des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen(UNHCR) keinen Zutritt zur betroffenen Grenzregion, wo jene die tatsächlichenBeweggründe der Flüchtlinge effektiv bestimmen könnten. Stattdessen geht dieFührung in Peking schlicht davon aus, dass die Flüchtlinge hauptsächlich wirtschaftlicheBeweggründe hätten und klassifiziert sie damit als illegale Grenzgänger.Darüber hinaus verweist China auch auf zwei bilaterale Vereinbarungenmit Nordkorea aus den Jahren 1961 und 1986, welche es dazu verpflichtet,alle Nordkoreaner zurückzuführen, die die Grenze übertreten haben. >>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 87


MENSCHENRECHTEIm Einklang mit dem Grundsatz der Nicht-Zurückweisung, dem Prinzip des»non-refoulement« im Sinne der Genfer Konvention, Flüchtlinge nicht inGefahr zu bringen, erfüllen nordkoreanische Migranten in China allerdingsdie Bedingung als »Flüchtlinge sur place« – ein Status, den alle jene erhalten,die nach ihrer Abschiebung mit sofortiger Verfolgung rechnen müssen, undmit dem die Zuschreibung aller Flüchtlingsrechte laut Konvention an Ortund Stelle verbunden ist. Würde es dieser Argumentation folgen, müssteChina eingestehen, die Menschenrechte zu verletzen.Unmittelbar nach der Rückführung nach Nordkorea werden die abgeschobenenNordkoreaner, wie bereits erwähnt, einem Verhör unterzogen undunter Umständen gefoltert, inhaftiert oder gar hingerichtet, wie Zeugen undMenschenrechtsorganisationen übereinstimmend berichten. Sollte die Personschwanger sein, so wird sie häufig zur Abtreibung gezwungen, aus Angstvor »fremden« Kindern – wie auch Flüchtling Bang Mi-sun berichtete. Hinrichtungenoder lebenslange Gefängnisstrafen werden nur bei den vermeintlich»schwersten« Fällen angewendet und vor allem, wenn die Flucht als politischmotiviert angesehen wird oder die Geflohenen in China Kontakt mitMissionaren oder Südkoreanern hatten. Aber bereits eine kürzere Inhaftierungkann, aufgrund der verheerenden Bedingungen, <strong>für</strong> die Zurückgezwungenenlebensbedrohlich werden: Sie bedeuten unzureichende Essensrationen,Zwangsarbeit, mangelhafte Sanitäranlagen und regelmäßige Folter.Das heißt also, selbst wenn Nordkoreaner sich nicht von Beginn ihrerFlucht an als Flüchtlinge qualifizieren, sind spätestens die Umstände, denensie unmittelbar nach der Rückführung in ihr Heimatland ausgesetzt sind, sogravierend, dass es China nach internationalem Recht verboten ist, sie abzuschieben.Eigentlich ist die Volksrepublik völkerrechtlich dazu verpflichtet,den geflohenen Nordkoreanern Asyl als Flüchtlinge sur place zu gewähren.Die Regierung in Peking folgt einem anderen Ansatz. In einem offiziellenBericht hat sie bereits 2005 den UN-Ausschuss über Wirtschaftliche, Sozialeund Kulturelle Rechte über ihren Standpunkt informiert, »dass die Bürgerder DVRK, die illegal nach China einreisen, keine Flüchtlinge sind« – eineAnsicht die China bis heute vertritt. Dies führt auch zu der Selbsteinschätzung,dass man kein internationales Recht breche. Nordkoreanische Migrantensind somit weiterhin gefährdet und rechtlich ungeschützt, sobald sie dieGrenze zur Volksrepublik überschreiten.Peking ignoriert seine humanitären Verpflichtungen und richtet seine Entscheidungenvielmehr an nationalen Prioritäten aus, die darin bestehen, dereigenen Wirtschaft und ihrer Entwicklung ein sicheres und stabiles Umfeldzu gewähren. Die ernüchternde Erkenntnis ist, dass es so etwas wie eine unabhängigehumanitäre Politik nicht gibt, da fast alle Umstände zur gleichenZeit mit politischen und ökonomischen Faktoren eng verwoben sind. DieseVerknüpfung veranlasst Peking, seine Außenpolitik an strategischen Kosten-Nutzen-Rechnungen zu orientieren.Weil die Nachbardiktatur als potentielle Quelle <strong>für</strong> Instabilität in der Regiongilt, ist die chinesische Regierung sehr daran interessiert, den geopolitischenStatus quo mit Nordkorea aufrechtzuerhalten – obwohl der aktuelleStand der Dinge wohl nur die zweitbeste Konstellation <strong>für</strong> China ist. Dennobwohl Peking weiterhin hohe Kosten auf sich nimmt, um den Status quo zubewahren, wird es nicht müde zu betonen, dass Nordkorea aus eigenem Antriebheraus den Pfad allmählicher Wirtschaftsreform einschlagen solle, um >>DEFINITION VON FLUCHT UND VERFOLGUNGArtikel 1 der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951, 1967 ergänzt, definierteinen Flüchtling als jede Person, die »aus der begründeten Furcht vorVerfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einerbestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sichaußerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und denSchutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieserBe<strong>für</strong>chtungen nicht in Anspruch nehmen will.«Zusätzlich zu dieser Begriffsklärung etabliert die Konvention in Artikel 33den Grundsatz der Nicht-Zurückweisung (»non-refoulement«). Er legt fest, dass»keiner der vertragschließenden Staaten einen Flüchtling auf irgendeine Weiseüber die Grenzen von Gebieten ausweisen oder zurückweisen wird, in denensein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit,seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegenseiner politischen Überzeugung bedroht sein würde«. Während Nordkorea dieKonvention und das Protokoll nicht unterzeichnet hat, ist China der Konventionbeigetreten und sogar Mitglied des Exekutivausschusses des Flüchtlingshilfswerksder Vereinten Nationen.ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 88


MENSCHENRECHTEDandong am Fuss Yalu: Seine Prosperität und die der gesamten Grenzregionzu Nordkorea will Peking sicherstellen. Foto: Jacky Lee / CC BY 3.0unabhängiger von chinesischer Unterstützung zu werden und die eigene politischeStabilität gegen einen Kollaps abzusichern. Da Pjöngjang daran regelmäßigscheitert, arrangiert sich Peking mit der Lage, wie sie ist.Auch wohlwissend um das Schicksal der ehemaligen DDR, nachdem Ungarn1989 seine Grenze nach Österreich <strong>für</strong> Ostdeutsche geöffnet hatte, dievon dort in die Bundesrepublik flüchteten und somit ihren Beitrag zum Falldes kommunistischen Regimes leisteten, weist China nordkoreanischeFlüchtlinge lieber ab, als die Stabilität des Regimes in Pjöngjang aufs Spiel zusetzen. Gewährte sie Nordkoreanern den Flüchtlingsstatus, würde die Volksrepublikauf diese Weise nur noch größere Anreize <strong>für</strong> Migranten setzen, dieGrenze zu überqueren.Im Interesse einer stabilen Sicherheitslage dient Nordkorea <strong>für</strong> China – wieehedem seit dem Ende des Koreakrieges – als Puffer zu Südkorea und besonderszu den USA, die weiterhin mehr als 20.000 Soldaten auf der Halbinsel stationierthaben. Diese Pufferfunktion würde sofort wegfallen, falls das Regime der DVRKzusammenbräche und Nordkorea unter die Kontrolle Seouls fiele – womit aucheine amerikanische Streitmacht unmittelbar vor Chinas Haustür stünde. Grundsätzlichbleibt das militärische Sicherheitsinteresse der Volksrepublik also solangegewahrt, wie Nordkorea stabil und die Halbinsel konfliktfrei bleibt.Obwohl dieser Faktor – China würde eine amerikanische Präsenz an seinerGrenze <strong>für</strong>chten – überholt scheint, da er bis in die 1950er Jahre in dieZeit des Kalten Krieges zurückreicht, muss man dieses Interesse im Lichteder enormen Veränderungen betrachten, die die Volksrepublik in den letzten35 Jahren durchlebt hat. 1978 leitete Deng Xiao-ping seine drastischen Dekollektivierungsmaßnahmenzur Belebung der Wirtschaft ein, welche letztlichzu einem nachhaltigen Wandel von der Plan- zur Marktwirtschaft geführthaben, mit bedeutenden Konsequenzen <strong>für</strong> die soziale, ökonomischeund politische Entwicklung des Reichs der Mitte. Allein in den letzten fünfJahren hat sich Chinas Bruttoinlandsprodukt mehr als verdoppelt, und dasLand ist mittlerweile fest in die Weltwirtschaft integriert. Natürlich möchtees diese Errungenschaften nicht gefährdet sehen.Obwohl Chinas Handelsvolumen mit Nordkorea ebenfalls wächst unddurchaus Chancen bestehen, aus den dortigen Rohstoffvorkommen Kapitalzu schlagen, bleibt die DVRK im Vergleich zu den anderen Geschäftspartnernder Volksrepublik ein kleiner Fisch. Dennoch finanziert Peking quasidie Regierung Kim Jong-uns durch Handel und Investitionen, wenngleich dasnordkoreanische Regime international isoliert bleibt, regelmäßig von anderenStaaten und UN-Organisationen <strong>für</strong> seine Politik verurteilt wird und denregionalen Frieden durch sein Nuklearprogramm gefährdet.Tatsächlich hat Chinas rasante ökonomische Entwicklung zu einer Verlagerungseiner Prioritäten geführt, die nun auch auf die wirtschaftliche Stabilitätder geographischen Peripherie setzt, um die Fortsetzung der anhaltendenModernisierung zu gewährleisten. Um also das Wachstum in China aufeinem hohen Niveau zu halten, ist die Regierung in Peking an militärischerSicherheit und wirtschaftlicher Stabilität in der regionalen Nachbarschaftinteressiert, da Unordnung und Chaos potentiell die eigene ökonomischeEntwicklung gefährden könnten.Diese verwobenen Interessen beeinflussen auch Chinas Umgang mitnordkoreanischen Flüchtlingen: Migrantenströme als Folge politischer Instabilitätkönnten das Reich der Mitte mit großen humanitären wie wirt- >>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 89


MENSCHENRECHTENordkorea bleibt im Vergleich zu denanderen Geschäftspartnernder Volksrepublik ein kleiner Fisch.schaftlichen Problemen konfrontieren, sofern sie einen gewissen Umfangerreichten. Ein Exodus im großen Stil aus Nordkorea in die angrenzendenchinesischen Provinzen Liaoning, Jilin und Heilongjiang würde sich auchdirekt auf die Beschäftigungslage im chinesischen Nordosten auswirken, derbereits jetzt deutlich niedrigere Wachstumsraten aufweist als das restlicheChina. Stellte Peking seine Unterstützung <strong>für</strong> Pjöngjang ein, läge seine periphereSicherheit allein in den Händen von Kim Jong-uns Regime.Darüber hinaus besiedelt bereits jetzt eine große Zahl ethnischer Koreanerdie chinesische Grenzregion vor der koreanischen Halbinsel, was die Situationnoch verschärfen könnte. »Chinas innerstaatliche Politik gegenüberverschiedenen ethnischen Gruppen und die Möglichkeit, diese könnten sichgegen die Zentralregierung auflehnen, treiben es weiter an, nordkoreanischeFlüchtlinge innerhalb seiner Grenzen nicht zu dulden«, erläutert Han Donghovom südkoreanischen »Institut <strong>für</strong> Außenpolitik und Nationale Sicherheit«,»um zu verhindern, dass jene Verbindungen mit der Gemeinschaftethnischer Koreaner in China knüpfen und damit auch andere Bewegungenethnischer Minderheit auf nationaler Ebene bestärken.«Entgegen einer allgemeinen Annahme, dass China Nordkorea zur Hilfeeilte, sobald dieses in Schwierigkeiten geraten würde, und dass Peking sichdeswegen seiner völkerrechtlichen Verpflichtungen gegenüber nordkoreanischenFlüchtlingen verweigert, lassen chinesische Sicherheits- und Wirtschaftsinteressenalso anderes vermuten. Es scheint, dass nur sobald sich dieKosten-Nutzen-Rechnung <strong>für</strong> Peking ändern würde – und der Status quonicht mehr in seinem Interesse liegen würde –, dies auch zu einer Änderungin seiner Flüchtlingspolitik führen könnte.Bislang aber benutzt die Volksrepublik bis heute die bilateralen Vereinbarungenmit der DVRK, um ihre bisherige Haltung international zu rechtfertigen;nur eine Verlagerung von Chinas Sicherheitswahrnehmung oder seinerökonomischen Überlegungen könnte zu einer Politikänderung Pekings gegenüberden nordkoreanischen Flüchtlingen führen, die sich stärker an internationalemRecht orientiert. Wie der Stand der Dinge jedoch ist, gibt sichdie Volksrepublik bis auf unbestimmte Zeit mit einem zweitbesten Statusquo zufrieden.Philipp Olbrich studiert Politikwissenschaft sowie »East Asian Economy andSociety« auf Masterabschluss an der Universität Wien.Quellen und Links:Website der »Commission of Inquiry on Human Rights in the DemocraticPeople’s Republic of Korea« der UNWebpräsenz der Non-profit-Organisation »US Committeeon Human Rights in North Korea«Konvention und Protokoll über die Rechtsstellung von Flüchtlingenvon 1951/1967Präsentation von Hyeonseo Lee über ihre Flucht aus Nordkorea auf einer TED-Konferenz im Februar 2013 in Long Beach, KalifornienBericht des UN-Sonderberichterstatters <strong>für</strong> die Menschenrechtslage in derDemokratischen Volksrepublik Korea, Marzuki Darusman, vom 1. Februar 2013Auszüge aus: »Witness to Transformation – Refugee Insights into North Korea«von Stephan Haggard und Marcus Noland, herausgegeben vom »PeterG. Peterson Institute for International Economics«, Washington, D.C., 2012Aussage von Bahng Mi-sun vor der Tom-Lantos-Menschenrechtskommissiondes US-Repräsentantenhauses am 23. September 2010Bericht »North Korean Refugees in China and Human Rights Issues« desamerikanischen Congressional Research Service vom 26. September 2007ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 90


DIE WELT UND DEUTSCHLAND: UN-ENGAGEMENTAm »Tag des Peacekeepers2013« ehrten dreiBundesminister erstmaligdeutsche »Hüter des Friedens«in Uniform und Zivilgemeinsam. Das ist einehistorische Besonderheit <strong>für</strong>die Bundesrepublik – undsie ging im Rauschen desBlätterwaldes praktisch unter.Die Medien haben den Festakt<strong>für</strong> die leidenschaftlichendeutschen Friedenspraktikernahezu komplett ignoriert.UnauffälligePremierevon Winfried NachtweiDabei sind in derBerliner Republik mehrVerständnis undEngagement<strong>für</strong> die Missionender VereintenNationendringend nötig.Foto: ZIF / Thomas RosenthalADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 91>>


UN-ENGAGEMENTSie sind engagierte Polizisten, Soldaten, Justizberater,Wahlbeobachter. Neun deutsche Mitarbeiterinnenund Mitarbeiter internationaler Einsätzesind am 12. Juni dieses Jahres <strong>für</strong> ihr Engagementim Dienst <strong>für</strong> Frieden ausgezeichnet worden.Mit dem »Tag des Peacekeepers« hat nunerstmalig auch Deutschland offiziell den »InternationalDay of UN-Peacekeepers« begangen, dendie Generalversammlung der Vereinten Nationenvor elf Jahren <strong>für</strong> den 29. Mai beschlossen hatteund der bisher in der Bundesrepublik keine Beachtungfand. Militärische, polizeiliche und zivileTeilnehmerinnen und Teilnehmer an UNgeführtenFriedensmissionen wie auch an UNmandatiertenEinsätzen insgesamt wurden gemeinsamvon drei Ministern der Bundesregierunggeehrt – das war eine historische Premiere.Die Wahl des 12. Juni statt des 29. Mai wardem Terminkalender der Minister Guido Westerwelle,Thomas de Maizière und Hans-Peter Friedrichgeschuldet. Den wenigsten wird aber bewusstgewesen sein, dass der verschobene Termindennoch ein äußerst passendes Datum war. Am12. Juni 2003, vor genau zehn Jahren, hatte derEuropäische Rat die erste EU-Militärmission beschlossen:Mit Hilfe von »Artemis« soll damalsGretchenfrage: ObPolizeioberkommissarinKarin Grunwald (rechts)ihrer besten Freundinempfehlen könnte,an einem UN-Einsatzteilzunehmen?Foto: ZIF / Thomas Rosenthalangesichts des zugespitzten Gewaltkonflikts inNordostkongo eine humanitäre Großkatastropheverhindert worden sein.Auf Einladung des Auswärtigen Amtes und desZentrums Internationale Friedenseinsätze (ZIF)Der »Tag der Peacekeeper« war eine politischeDemonstration von Praktikern in Uniformund Zivil <strong>für</strong> den Friedensauftrag deutscher Politik.von mit Erfahrung aus multinationalen Friedenseinsätzen.Stellvertretend <strong>für</strong> die zur Zeit insgesamt über6.500 deutschen Teilnehmer an internationalenFriedenseinsätzen – rund 6.000 Soldaten, 350 Polizisten,200 Zivilexperten beiderlei Geschlechts –zeichneten die Minister jeweils drei Militärs, Polizeibeamteund nicht-uniformierte Fachleute ausbedeutenden Einsatzgebieten aus. Für die Missionin Afghanistan: Hauptfeldwebel Andreas Hübner,Soldat bei der ISAF und fünffacher Veteran vonMissionen auch in Bosnien und Kosovo, Jutta AnnaLengsfeld, seit 2010 Rule-of-Law-Beraterin beiEUPOL Afghanistan, und Polizeioberrat der BundespolizeiWolfgang Schäfer, Leiter der GPPT-füllten also am Vormittag dieses 12. Juni weitüber 500 Menschen den »Weltsaal« im Altbau desdeutschen Außenministeriums, die meisten da-Außenstellen in Feyzabad und Kunduz, mit Erfahrungaus dem Balkan und dem Kaukasus. >>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 92


UN-ENGAGEMENTFriedenskämpfer: DieArbeit als Blauhelm imSüdsudan hatOberstleutnant JohannesLammel (rechts)nachhaltig geprägt.Foto: ZIF / Thomas RosenthalFür ihr Engagement im Kosovo: Hauptmann AndreasGroße, KFOR und vorher ISAF, PolizeioberkommissarinKarin Grunwald aus Nordrhein-Westfalen, EULEX, vorher UNMIK, und KirstenJoppe, seit 2009 Chief of Security MonitoringSection der OSZE-Mission Kosovo, die zuvorschon Wahlbeobachterin in fünf OSZE-Mitgliedsstaatengewesen war.Und <strong>für</strong> ihren Einsatz im Südsudan: OberstleutnantJohannes Lammel, Military Liaison OfficerUNMISS, vorher zweimal schon bei der ISAFund dann in Namibia und Uganda gewesen. PolizeioberkommissarOlaf Meilicke aus Berlin, PoliceState Advisor der UNMISS in Jonglei State,zuvor auch schon bei UNMIK gewesen, und NikolaiRogosaroff, Rule of Law and Security InstitutionsSupport Office UNMISS, vorher UN Departmentof Peacekeeping Operations und bei UNA-MID im nordsudanesischen Darfur.Die Moderatorin Christiane Meyer vom ARD-Hauptstadtstudio befragte einzelne Ausgezeichnete:Was die Juristin Lengsfeld nach Afghanistangebracht habe? Ob sie dort Angst empfinde?Ob die Polizistin aus Düsseldorf ihrer bestenFreundin einen Einsatz wie im Kosovo empfehlenkönne? Ob der Oberstleutnant nach seinen vielenEinsätzen nicht mehr anders könne? »Der Eindruck,dass man wirklich gebraucht wird, dassman helfen kann. Das prägt einen«, so Lammel.Über Jahre sehe man, dass es voran gehe. Aberder Kulturschock bei der Rückkehr sei mindestensgenauso stark wie der bei der Ankunft in einemKrisengebiet.Auswärtiges Amt, Innen- und Verteidigungsministeriumstellen seit mehr als 20 Jahren Personal<strong>für</strong> Friedenseinsätze im Auftrag der VereintenNationen. Am »Tag des Peacekeepers« traten ren Dank an die Peacekeeper ein.die Minister die Angehörigen ausdrücklich in ih-die Ressortchefs zum ersten Mal gemeinsam auf, Das ressortübergreifende, einander ergänzendeum ihren Peacekeepern zu danken und um Aufmerksamkeit<strong>für</strong> sie zu werben.Regierungsmitglieder. Selbstverständlich war da-Zusammenwirken ihrer Häuser betonten alle dreiAußenminister Westerwelle nannte sie »Hüter bei bewusst, dass UN-Friedensmissionen ein wichtiges,längst aber nicht das einzige Instrument vondes Friedens« und gab zu bedenken, dass ihre Erfahrungenhierzulande zu wenig genutzt würden. Friedenssicherung und -förderung sind. AndereHans-Peter Friedrich betonte die Schlüsselrolle Akteure und Politikfelder wie gesellschaftlichesvon Polizei in Krisenregionen an der Schnittstelle Peacebuilding und die Entwicklungszusammenarbeitsind gleichermaßen unverzichtbar.zwischen Machthabern und Bevölkerung. Thomasde Maizière erklärte, dass Militär nur einen Beitragzur Krisenbewältigung leisten könne, dass deutsche Spitzen-Peacekeeper: Stefan Feller, seitUnter ihren Zuhörern befanden sich zweider umfassende Sicherheitsbegriff eine deutlichereEinordnung des Militärischen in das gesamt-Generalsekretärs, und Martin Kobler, bisher Son-wenigen Wochen leitender Polizeiberater des UNstaatlicheVorgehen und stärkere Beiträge der dergesandter des UN-Generalsekretärs im Irak,anderen Ressorts erfordere. Wiederholt schlossen künftig Chef der größten UN-Mission weltweit, >>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 93


UN-ENGAGEMENTMONUSCO im Kongo. Letzterer sprach denn auchüber die Motivation der »Friedenshüter«: »Wirwollen die Welt zum Besseren verändern. Wirsind Idealisten und Pragmatiker zugleich.«Kobler lenkte den Blick auf die gegenwärtigeverheerende Terrorwelle im Irak. Sei das einGrund, den Mut zu verlieren? Nein, manchmalwürden sich Müdigkeit und Verzweiflung breitINTERNATIONALE EINSÄTZEISAF International Security Assistance Force,Afghanistan, seit 2001, Stärke 2013: 97.900 *EUPOL Afghanistan European UnionPolice Mission in Afghanistan, seit 2007,Stärke 2013: 350 *KFOR Kosovo Force, seit 1999, Stärke2013: 5.500 *EULEX European Union Rule of Law Mission inKosovo, seit 2007, Stärke 2013: 2.200UNMISS United Nations Mission in SouthSudan, seit 2011, Stärke 2013: 9.000 *UNMIK United Nations Interim AdministrationMission in Kosovo, seit 1999, Stärke 2013: 170 *UNAMID African Union/United NationsHybrid Operation in Darfur, seit 2007, Stärke2013: 21.300 *MONUSCO United Nations OrganizationStabilization Mission in the DemocraticRepublic of the Congo, seit 1999, Stärke 2013:22.100 ** Soldaten, Polizisten und/oder zivile Mitarbeiter aus dem Ausland;lokale Mitarbeiter nicht berücksichtigtmachen, aber dann erlebe man kleine, auch größereErfolge. »Die Peacekeeper teilen ein besonderesEthos«, betonte Kobler, »ein tiefes Gefühlder Solidarität untereinander, aber gerade auchmit den Schwachen und Benachteiligten.« Das seieine besondere Form der Leidenschaft. Für diemeisten sei das kein Job, sondern eine Mission.Für Kobler ändere sich die Welt seit den1990er Jahren zum Besseren. Die Zahl der bewaffnetenKonflikte ging zurück, die Zahl derFriedensinitiativen von UN und anderen nahmzu. Er führte das Beispiel von Sierra Leone an, wonach dem Bürgerkrieg 75.000 Rebellen entwaffnetworden waren, darunter viele Kindersoldaten.Im April dieses Jahres schickte das Land erstmalseigene Blauhelm-Soldaten nach Mogadischu!»Wir Peacekeeper wissen, dass Wandel möglichist!«, so der Diplomat.Doch oft würden die Vereinten Nationen zumSündenbock gemacht. Aber die Organisation seinur so effizient, wie sie von den Mitgliedsstaaten<strong>für</strong> ihre Aufgaben befähigt werde. Peacekeepinggebe es nicht zum Nulltarif. Man vergleiche dieAusgaben <strong>für</strong> UN-Einsätze mit den riesigen Milliardensummen<strong>für</strong> Kriegseinsätze! Und Koblerergänzte noch um eine gesellschaftliche Perspektive:Für viele der deutschen Peacekeeper sei dieRückkehr in die Heimat schwierig. Auch weil ihreErfahrungen nicht genutzt würden. Ein Einsatzdürfe kein Karrierenachteil sein.Nach den Reden der Minister und Koblersspielte ein Streichquartett »No Bravery« von JamesBlunt. Der Song war 1999 entstanden, als der25-jährige Blunt als Hauptmann der britischenArmee beim KFOR-Einmarsch dabei war und einLand voller Zerstörung und Tod erlebte: »Thereare children standing here, arms outstretchedinto the sky, tears drying on their face. He hasbeen here. […] And I see no bravery, no bravery inyour eyes anymore. Only sadness.« Ein sehr emotionalerAbschluss <strong>für</strong> diese Ehrung <strong>für</strong> die neundeutschen Peacekeeper.Seit Jahren habe ich keine offizielle Veranstaltungin Berlin erlebt, wo so sehr Friedensverpflichtungund UN-Orientierung betont wurdenund wo es der Masse der Anwesenden auch ernstdamit war. Alle Teilnehmenden der Feierstunde,die ich nachträglich sprach und von denen ichüber andere hörte, fanden die Veranstaltung»großartig«, »rundum gelungen«, »würdig undrichtig schön«, »historisch«, bezeichneten sie als»Beginn einer guten Tradition«. Ein Mitarbeiterder Deutschen Gesellschaft <strong>für</strong> InternationaleZusammenarbeit (GIZ) votierte da<strong>für</strong>, beimnächsten Mal auch Entwicklungshelfer einzubeziehen,die nicht durchgängig, aber oft im Kontexteiner Friedensmission arbeiten und <strong>für</strong> Friedensentwicklungwirken.Ich empfand – man erlaube die Emotionalität– die Veranstaltung als »politisch beglückend«.Denn auf dem Balkan, in Afrika, Georgien undAfghanistan bin ich seit 1996 bei circa 40 Besuchenvielen Hunderten Polizisten, Soldaten undZivilexperten – Missionsteilnehmern wie Entwicklungshelfernund Friedensfachkräften – begegnet,die mit langem Atem und BodenhaftungBewundernswertes leisten, Entbehrungen, Strapazen,zum Teil höchste Risiken auf sich nehmen– und in der hiesigen Gesellschaft, ja sogar in >>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 94


UN-ENGAGEMENTihren beruflichen Zusammenhängen kaum Aufmerksamkeit,geschweige Anerkennung erfahren.Insofern war ihre Ehrung nicht nur hoch verdient,sondern auch überfällig.Allerdings fällt mir ebenfalls seit Jahren auf,dass in der deutschen Öffentlichkeit, in der sicherheitspolitischenCommunity wie auch unterFriedensbewegten die Vereinten Nationen undUN-Friedenssicherung kaum Beachtung finden –ja, meist ignoriert werden. Vermeintliche »Realpolitiker«reden fast nur von Sicherheit, kaumnoch von Frieden. Gegenüber diesen Trends warder »Tag der Peacekeeper« eine politisch-persönlicheDemonstration von Friedenspraktikernin verschiedenen Uniformen und in Zivil: <strong>für</strong> denFriedensauftrag deutscher Politik, <strong>für</strong> die VereintenNationen als Rahmen globaler und kollektiverFriedens- und <strong>Sicherheitspolitik</strong>, <strong>für</strong> die Wahrnehmungvon Friedenschancen.Dass deutsche Politik dabei keinen Grund zurSelbstzufriedenheit hat, steht auf einem nächstenBlatt: Viel zu mager ist die deutsche Beteiligungan ausdrücklich UN-geführten Missionenmit zur Zeit nur 210 Personen, davon 185 Soldaten– das ist Rang 50 der UN-Personalsteller. HierGibt es unter deutschen Journalisten<strong>für</strong> internationale Politik eine unausgesprocheneFriedensmüdigkeit, gar Friedensverachtung?Außer Fototermin nichtsgewesen: Trotzder vielen anwesendenKameras – berichtethat vom »Tag desPeacekeepers« eigentlichnur das Radio.Foto: ZIF / Thomas Rosenthalgibt es erheblichen Nachholbedarf, insbesonderebei der Polizeikomponente. Wider alle Vernunftund Erfahrung besteht weiterhin ein enormesMissverhältnis zwischen militärischen Kapazitätenund Ressourcen einerseits und Kapazitätender zivilen Konfliktbewältigung andererseits.Und Schatten bleiben auch auf dem Festakt imAuswärtigen Amt. Die vielen reservierten Plätze<strong>für</strong> Bundestagsabgeordnete und die vielen Kamerasvor Ort erweckten den Eindruck von breiterParlamentarier- und Medienpräsenz. Die Wirklichkeitwar leider sehr anders: Außer KerstinMüller und Viola von Cramon sah ich keine anderenbekannten Bundestagsmitglieder.Wegen der gleichzeitigen Sitzungswoche undAusschusssitzungen war eine geringere Abgeordnetenpräsenzunvermeidlich. Dass aber weder derAuswärtige, noch der Verteidigungs- und Innenausschussmit ihren vielen Mitgliedern <strong>für</strong> eineMindestrepräsentanz sorgten, dass auch keinMitglied des Bundestagspräsidiums zugegen war,kann ich nicht nachvollziehen. Angesichts derMitverantwortung des Bundestages <strong>für</strong> Auslandseinsätzeist das – gelinde gesagt – irritierend!Neben den Medien der drei Ministerien brachtenimmerhin mehrere Radioprogramme Beiträge>>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 95


UN-ENGAGEMENTund Interviews zum Tag der Peacekeeper – DeutscheWelle, Deutschlandradio, RBB, NDR. In denFernsehnachrichten, in den Printmedien, in densicherheitspolitischen Blogs aber erschien fastnichts. Die einzigen Ausnahmen: der Schlussabsatzin einem großen Artikel der Welt am Sonntagvom 16. Juni über die Bundeswehr und ein Berichtim Blog der Fachzeitschrift Europäische Sicherheitund Technik.In jedem Einzelfall mag es gute Gründe gegebenhaben – die Flutkatastrophe, die Sitzungswochedes Bundestages, das Euro-Hawk-Desaster,die Grundsteinlegung zum Aufbau des BerlinerStadtschlosses in Sichtweite zum AuswärtigenAmt. Insgesamt ist aber die Nichtberichterstattungzum »Tag der Peacekeeper« notorisch. Genausowar es bei der Zehnjahresfeier des ZIF imMai 2012, der international hochangesehenenfriedenspolitischen Innovation.Hätte es einen Zwischenfall bei der Feierstundegegeben, wäre zumindest auch der Anlass erwähntworden. Aber nur ein solches positives,ermutigendes, einmaliges Ereignis mit so vielen,die anpacken: Das soll keinen Nachrichtenwerthaben? Gibt es in Redaktionen, unter Journalisten<strong>für</strong> internationale Politik eine unausgesprocheneFriedensmüdigkeit, gar Friedensverachtung?In einer Pressemitteilung am Tag nach demFestakt im Auswärtigen Amt kritisierte HeinzWagner, Geschäftsführer des Forum Ziviler Friedensdienst(forumZFD), die Veranstaltung grundsätzlichund massiv: Eine gut gemeinte Ehrungwerde »zum Offenbarungseid der deutschen Frie-denspolitik«. Als Unterstützer des Vorhabens einesPeacekeeper-Tages in Deutschland und langjährigesMitglied des forumZFD antwortete ichihm: Seine Kritik geht an der realen Veranstaltungvorbei, ist unverhältnismäßig und ignoriertdie friedenspolitische Intention und Chance desTages. Hierauf entgegnete Heinz Wagner: DerUnterschied zwischen UN-geführten Friedenseinsätzenund einem UN-mandatierten Kampfeinsatzwie in Afghanistan werde verwischt. Es gebeein Wertschätzungsgefälle zwischen staatlichenMissionen und zivilgesellschaftlichen Initiativen.Bei allem Widerspruch in der Sache bin ichHeinz Wagner grundsätzlich dankbar <strong>für</strong> seine Kritik.Sie ist ein belebender Anstoß – ganz andersals in den Printmedien mit ihrer Nullresonanz aufdie Premiere des »Tag des Peacekeepers«. Winfried Nachtweiwar von 1994 bis 2009 <strong>für</strong> Bündnis 90/Die GrünenAbgeordneter im Deutschen Bundestag. Derrenommierte Friedens- und <strong>Sicherheitspolitik</strong>er istheute Mitglied im Beirat Zivile Krisenpräventionbeim Auswärtigen Amt, im Beirat Innere Führungder Bundeswehr und im Vorstand der DeutschenGesellschaft <strong>für</strong> die Vereinten Nationen.Foto: S. Kaminski»Vermeintliche ›Realpolitiker‹reden fast nurvon Sicherheit, kaumnoch von Frieden.«Quellen und Links:Presseerklärung des Geschäftsführer des ForumZiviler Friedensdienst vom 13. Juni 2013Nachbericht des Zentrum <strong>für</strong>Internationale FriedenseinsätzeNachberichte des Auswärtigen Amts,des Bundesverteidigungsministeriums unddes BundesinnenministeriumsDer »International Day of UnitedNations Peacekeepers« auf der Webpräsenzder Vereinten NationenPolicy-Paper »Ungenutzte ChancenDeutschlands im VN-Peacekeeping nutzen« derDGVN vom Juli 2011ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 96


Generalleutnant Carlos Alberto Dos Santos Cruz, militärischer Kommandeur der MONUSCO nahe Goma am 15. Juli 2013. Foto: UN Photo / Sylvain LiechtiDIE WELT UND DEUTSCHLAND: UN-EINSATZNOTIZKein zweitesRuandaIn Zentralafrika haben Blauhelmewohl gerade noch einmaldas Schlimmste verhindert. Zu tiefsitzt die Erinnerungan den Völkermord von 1994.19.000 Soldaten zählt der MONUSCO-Einsatzder Vereinten Nationen. Dennoch blieb die seit1999 immer wieder personell aufgestockte Friedenstruppehilfloser Beobachter des nicht endenwollenden Krieges in Zentralafrika. So auch imNovember 2012, als die abtrünnigen Soldaten der»M23«-Bewegung die Provinzhauptstadt Goma imOsten der Demokratischen Republik Kongo einnahmenund sich seitdem einen blutigen Guerilla-Krieg mit den regulären Streitkräften liefern, ohnedass eine politische Lösung in Sichtweite rückt.Die Friedensgespräche von elf afrikanischenStaaten im März 2013 verpufften wirkungslos –zu tief sitzt das Misstrauen der am Konflikt beteiligtenAkteure. Und zu viel steht auf dem Spiel,allen voran die Kontrolle über Rohstoffminen,Schmuggelwege und Waffenarsenale im Grenzgebietzwischen Kongo, Uganda, Ruanda und derZentralafrikanischen Republik. Dazu kommenoffene Rechnungen aus den Kongo-Kriegen dervergangenen zwei Jahrzehnte und ein Warlord-System mit Verstrickungen bis auf Regierungsebene,kurzum: eine Konstellation, die der LageMitte der 1990er Jahre ähnelt.Die Erinnerung hat die internationale Gemeinschaftwohl aufgeschreckt: Im Juni beschlossendie UN die Erweiterung des MONUSCO-Mandats. Die jetzt noch »robuster« gemachteTruppe, seit dem Sommer vom deutschen DiplomatenMartin Kobler geleitet, soll die kongolesischeArmee bei der »Entwaffnung« der »M23«unterstützen. 3.000 der 19.000 Blauhelme sindnach Goma beordert worden. Vor allem aber sollein Szenario wie 1994 vermieden werden: Einzweites Ruanda zu verhindern wäre das Mindeste,was die internationale Gemeinschaft in Zentralafrikaerreichen muss, <strong>für</strong> eine politische Lösungdes vertrackten Konflikts wird es wohl zuwenig sein.Robert ChatterjeeQuellen und Links:Webpräsenz der MONUSCOMeldung des kongolesischen Radio Okapi vom19. August 2013Bericht der International Business Timesvom 5. August 2013Analyse der International Crisis Group vom26. Juli 2013Bericht von Reuters am 15. Juli 2013ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 97


Foto: Deutscher Bundestag / Thomas TrutschelDIE WELT UND DEUTSCHLAND: PARLAMENTSVORBEHALTParteienzur BundestagswahlInterviews:Stefan Dölling, Sebastian Nieke und Isabel-Marie Skierka<strong>Sicherheitspolitik</strong> ist inDeutschland in der Regel keinWahlkampfthema – zu großder fast alle Fraktionen desParlaments übergreifendeKonsens. 2013 scheint da eineAusnahme zu bilden, weil die»Euro Hawk«-Affäreausgerechnet in die letztenWochen der altenLegislaturperiode fiel.ADLAS blickt aber schon aufdie kommenden vier Jahreund hat fünf Abgeordnetenach einer Agenda <strong>für</strong> den 18.Bundestag befragt. >>>>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 98


PARLAMENTSVORBEHALTADLAS: Die Bundeswehr befindet sich seit 2010 ineinem der umfassendsten Reformprozesse seit ihremBestehen. Sowohl die grundsätzliche Ausrichtung,sprich Umbau zur »Einsatzarmee« und »Breite vorTiefe«, als auch die praktische Umsetzung der Reformwerden jedoch – auch in der Bundeswehrselbst – zunehmend kritisch gesehen. Stimmt dieRichtung der »Neuausrichtung« noch? Wo sehen Siegegebenenfalls Verbesserungsbedarf?Wolfgang Hellmich (SPD): Unter der Vorgabe derHaushaltskonsolidierung wurde die Neuausrichtungdem Motto »Breite vor Tiefe« untergeordnet.Aufgrund der fehlenden Auswertung der derzeitigenEinsätze gibt es einen strategischen»Blindflug«! Die Reformen wurden von oben nachunten durchgesetzt; viele Soldaten und Zivilbeschäftigtehaben das Gefühl, nicht mitgenommenzu werden. Die Reduzierung von Personal geht zuLasten des Einzelnen. Insbesondere die Zahl von55.000 Zivilbeschäftigen ist willkürlich festgelegtund entspricht nicht dem tatsächlichen Bedarf.Standortentscheidungen müssen auf Effizienzund Notwendigkeit hin überprüft und gegebenenfallsrevidiert werden. Es gilt, die Vereinbarkeitvon Familie und Beruf zu fördern – nicht nur, umdie Attraktivität der Bundeswehr zu verbessern.Darüber hinaus spielte bei der Reform eineintegrierte europäische <strong>Sicherheitspolitik</strong> nureine untergeordnete Rolle. Wir Sozialdemokratenwerden uns außerdem <strong>für</strong> eine harmonisierte europäischeBeschaffungs-und Ausrüstungsplanungstark machen. Wo nötig werden wir die laufendeNeuausrichtung nachjustieren. Dazu ist jedochkeine neue Reform notwendig.Elke Hoff (FDP): Die Entscheidung zur Neuausrichtungder Bundeswehr war richtig. Strukturenund Prozesse der Wehrpflichtarmee waren überholtund mussten vor dem Hintergrund der sichändernden sicherheitspolitischen Rahmenbedingungeneffizienter gestaltet werden. Über einzelneReformschritte kann man sicherlich diskutieren,aber aus meiner Sicht ist es derzeit noch zufrüh, um ein abschließendes Fazit zu ziehen.Handlungsbedarf sehe ich vor allem in den Bereichender Attraktivität der Bundeswehr als Arbeitgebersowie der Vereinbarkeit von Familie undDienst. Der nächsten Bundesregierung empfehleich, die bis jetzt gemachten Fortschritte unabhängigund kritisch überprüfen zu lassen und aufdieser Grundlage gegebenenfalls Anpassungenvorzunehmen.Wolfgang Hellmichhat 2012 <strong>für</strong> die SPD in Nordrhein-Westfalen einMandat im Bundestag übernommen. Er istordentliches Mitglied im Verteidigungsausschuss.Foto: Florian Jaenicke»Aufgrund derfehlenden Auswertungder Einsätze gibt eseinen strategischen›Blindflug‹!«Katja Keul (Bündnis 90/Die Grünen): Zunächst istdie mangelnde sicherheitspolitische Ableitungder Bundeswehrreform zu kritisieren: Die Reformwurde vor allem mit dem Zwang zum Sparenbegründet. Nun wird nicht nur das zunächstversprochene Sparziel von 8,3 Milliarden Eurodeutlich verfehlt, sondern <strong>für</strong> 2014 gar ein Aufwuchsim Verteidigungshaushalt budgetiert.Durch den Ansatz »Breite vor Tiefe« wird außerdemwirkliches Einsparpotential verschenkt,anstatt durch Kooperation mit den europäischenPartnern Effizienzgewinne zu erzielen.Roderich Kiesewetter (CDU): Ja, die Richtungstimmt weiterhin. Ich halte »Breite vor Tiefe«<strong>für</strong> eine wichtige Zielvorstellung, da es Deutschlandeinerseits die Chance bietet als so genann->>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 99


PARLAMENTSVORBEHALTter. »Anlehnungspartner« zu agieren, und andererseitsbraucht es als Land in der Mitte EuropasStreitkräfte, die im gesamten militärischenSpektrum einsetzbar sind. Da wir militärischeOperationen ohnehin – mit Ausnahme nationalermilitärischer Geiselbefreiungen oder Evakuierungsmaßnahmen– ausschließlich multilateralmit einem UN- und/oder Nato-Mandat durchführen,kann das oft angesprochene Problem derDurchhaltefähigkeit aufgefangen werden.Diese kann im Übrigen, ebenso wie die Aufwuchsfähigkeit,durch eine starke Reserve sichergestelltwerden. Zweitens Außerdem erachte ichdie Fortsetzung des einmal eingeschlagenenWegs im Sinne der politischen Fürsorgepflichtgegenüber unseren Soldatinnen und Soldaten alszwingend. Planungssicherheit und Vertrauens-Elke Hoffist seit 2005 Mitglied des Deutschen Bundestags <strong>für</strong>die FDP Rheinland-Pfalz, Mitglied desVerteidigungsausschusses und seit 2009sicherheitspolitische Sprecherin ihrer Fraktion. Fürdie Bundestagswahl 2013 tritt sie nicht wieder an.Foto: Herbert Piel»Das Beschaffungsweseninsgesamt musssich auf die Anforderungeneiner Armeeim Einsatz einstellen.«schutz sollten gerade im Umgang mit Menschengelten.Paul Schäfer (Die Linke): Die Richtung der Reformenstimmt seit den 1990er Jahren nicht. Mitjeder Reform rückt die Fokussierung auf Auslandseinsätzestärker in den Vordergrund – mitdem Wegfall einer militärischen BedrohungDeutschlands nach Ende des Kalten Krieges wäreeine andere Richtung aber durchaus gangbar gewesen.Stattdessen wurde die Bundeswehrschlecht vorbereitet und ungenügend ausgestattetins Ausland geschickt, und daraus wurde danndie Notwendigkeit einer weiteren Reform zur Optimierungauf solche Einsätze abgeleitet.Im Prinzip hat sich die politische Führung immernur dann bewegt, wenn es nicht anders ging.So war es bei der Aussetzung der Wehrpflicht,bei den zaghaften Standortschließungen undbeim Personalabbau. Deswegen sind die Problemebei der Umsetzung auch nicht verwunderlich.Verbesserungsbedarf besteht in allen Bereichen:Beschränkung auf Landesverteidigung,weniger Beschaffungen, Reduktion in der Fläche,Stopp der Privatisierung sind dabei nur einigeder Schlagworte einer langen Liste von Forderungender Linken.ADLAS: Zu spät, deutlich kostspieliger und oft mitweniger Fähigkeiten als geplant: Die »EuroHawk«-Affäre ist nur das letzte Glied in einer langenKette von Fällen, in denen der Steuerzahlerdefizitäre Beschaffungsvorhaben der Bundeswehrteuer bezahlen muss. Welche Strategie wird IhrePartei verfolgen, um solche Debakel zukünftig zuverhindern?Wolfgang Hellmich: Die gesamte Entscheidungskettebei Beschaffungen bedarf einer Grundsatzrevision.Ein ständiges Controlling wird um eineaktive politische Begleitung einschließlich einerBerichterstattung an den Verteidigungsausschussergänzt. Es bedarf einer Neudefinition derindustriellen Kernfähigkeiten, die <strong>für</strong> die Einsatzfähigkeitunserer Streitkräfte notwendigsind. Die Sozialdemokratie bekennt sich zu ihrerVerantwortung gegenüber der deutschen wehrtechnischenIndustrie. Gleichwohl setzen wir aufeine verstärkte europäische und euro-atlantischeKooperation um teure Projekte gemeinsamrealisieren zu können. Impulse zu mehr Zusammenarbeitin der EU können von der Europä->>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 100


PARLAMENTSVORBEHALTischen Verteidigungsagentur ausgehen.Elke Hoff: Der Bundestag bewilligt die <strong>für</strong> die Rüstungsbeschaffungnotwendigen Haushaltsmittel.Die eigentliche Projektierung – also die Definitioneiner Fähigkeitslücke, die Marktsichtung, dieErprobung und der Vertragsschluss – liegt in derVerantwortung des Bundesverteidigungsministeriums.Dabei wurden in der Vergangenheit Großprojektewie die Helikopter »Tiger«, NH90 oderdas Transportflugzeug A400M eher unter industriepolitischenAspekten statt nach Einsatznotwendigkeitbeschafft.Das Beschaffungswesen insgesamt muss sichaber auf die Anforderungen einer Armee im Einsatzeinstellen. Die Weise-Kommission hat inihrem Bericht unter anderem die Einrichtung einerunabhängigen und bei der politischen Leitungverorteten Controlling-Abteilung und dieUmwandlung des Beschaffungsamtes in eineAgenturlösung empfohlen. Sowohl die politischals auch die militärisch Verantwortlichen im Verteidigungsministeriumsollten diesen Teil desWeise-Berichtes noch einmal aufmerksam lesen.Katja Keul: Aus meiner Sicht haben drei gewichtigeGründe <strong>für</strong> diesen Untersuchungsausschussgesprochen: Zunächst gilt es, das Organisationsversagender Führung im Verteidigungsministeriumaufzuklären. Zweitens hat der Minister einJahr zuvor, im Mai 2012, den Haushaltsausschussnicht über die Zulassungsprobleme beim EuroHawk informiert, als dieser über die Beteiligungam Global Hawk zu entscheiden hatte. Amschwerwiegendsten ist <strong>für</strong> mich jedoch das totaleVersagen des Ministeriums bei der Prüfung vonSchadensersatzansprüchen des Bundes gegenüberder Industrie, hier EADS. Daher gilt es, inder nächsten Legislaturperiode bei der dringendenReform des Beschaffungswesens sicherzustellen,dass die Industrie entsprechend den vertraglichenVereinbarungen in die Verantwortunggenommen wird.Roderich Kiesewetter: Minister de Maizière hat bereitsMaßnahmen zur Verbesserung der Beschaffungspolitikangekündigt und umgesetzt. So wirder sich künftig in regelmäßigen Abständen vonseinem Ministerium über alle anstehenden größerenRüstungsprojekte informieren lassen. Er hatzudem dem Parlament angeboten, Rüstungsvorhabengemeinsam periodisch einer Überprüfungzu unterziehen. Ich unterstütze diesen Vorschlag.Die Genese des Auftrags zur Entwicklung der Aufklärungsdrohne»Euro Hawk« reicht bis in die Regierungszeitvon Rot-Grün Anfang des Jahrtausendszurück, es gibt viele Verantwortliche <strong>für</strong> dasMisslingen des Projekts. Entscheidend ist, dassdie Reform des Verteidigungsministeriums fortgesetztwird und dort das Primat der Politik gilt,nicht aber das sogenannte »Primat des Zivilen«.Die Beamten des Ministeriums sollten dem Primatder Politik folgen.»Solange die Regierungsparteien und auch Teile derStreitkräfte die Erhaltung rüstungsindustriellerKapazitäten in Deutschland als unabdingbar sehen,kann sich nichts ändern.« Paul SchäferPaul Schäfer: Natürlich ist es nicht leicht, überJahrzehnte gewachsene Entwicklungs- und Beschaffungsstrukturenumzukrempeln. Es ließesich aber einfach da<strong>für</strong> sorgen, dass der Verteidigungs-und der Haushaltsausschuss umfassenderund unaufgefordert über Vorhaben unterrichtetwerden. Die von Minister de Maiziere angekündigtenMaßnahmen wären erste gute Schritte.Vor allem aber geht es um einen anderen Umgangmit der Rüstungsindustrie. Solange die Regierungsparteienund auch Teile der Streitkräftedie Erhaltung rüstungsindustrieller Kapazitätenin Deutschland als unabdingbar sehen, kann sichnichts ändern. Die Bundeswehr steht in Deutschlandentweder Monopolisten oder Quasi-Kartellengegenüber. Ein Großteil der investivenVerteidigungsausgaben fließt allein an EADS.Bei der Vertragsgestaltung muss sehr viel stärkerauf eine finanzielle Risikoabsicherung des Staatesgeachtet werden, auch wenn damit deutscheUnternehmen verschreckt werden. >>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 101


PARLAMENTSVORBEHALTADLAS: Stichwort Rüstung. Derzeit entscheidetallein der geheim tagende Bundessicherheitsratüber deutsche Rüstungsexporte. Ist diesePraxis, nicht zuletzt angesichts der massiven undanhaltenden öffentlichen Kritik, noch haltbar?Wie sollte das Verfahren gegebenenfalls geändertwerden?Wolfgang Hellmich: Rüstungsexporte bedürfen derTransparenz. Aus diesem Grund wird sich dieSPD in der nächsten Legislaturperiode <strong>für</strong> einBundestagsgremium einsetzen, das die Entscheidungender Regierung kontrollieren und zeitnahdie Öffentlichkeit informieren kann. RestriktiveRichtlinien, die Exporte in Krisengebiete undLänder mit massiven Menschenrechtsverletzungenverbieten, sowie eine möglichst genaue Kon-Katja Keulist seit 2009 <strong>für</strong> Bündnis90/Die Grünen inNiedersachsen Abgeordnete im Bundestag unddort Parlamentarische Geschäftsführerin ihrerFraktion. Sie ist ordentliches Mitglied imVerteidigungsausschuss und in der InterparlamentarischenKonferenz <strong>für</strong> die GASP undGSVP der EU. Foto: Rainer Kurzeder»Es war richtig, dassDeutschland sich amKampfeinsatz in Libyennicht beteiligt hat. «trolle des Endverbleibs der Waffen müssen alsGrundlage <strong>für</strong> Exportentscheidungen gelten.Elke Hoff: Die Entscheidung über den Export vonRüstungsgütern obliegt der Bundesregierung undist zwar Kern exekutiven Handelns, allerdingssollte die parlamentarische Kontrolle verbessertwerden. Die Praxis, den Bundestag nur einmal imJahr über die getroffenen Entscheidungen zu unterrichten,reicht nicht aus. Ich plädiere <strong>für</strong> einGremium analog zum parlamentarischen Kontrollgremium<strong>für</strong> die Geheimdienste, das zeitnahüber Anträge und Entscheidungen unterrichtetwird, sowie <strong>für</strong> einen halbjährlichen Rüstungsexportbericht.Katja Keul: Meine Partei möchte die Kontrollrechtedes Bundestags stärken und mehr Transparenzschaffen. Der Bundessicherheitsrat mussParlament und Öffentlichkeit über seine Entscheidungeninformieren und diese Entscheidungenbegründen. Wir fordern ein parlamentarischesGremium, das über besonders sensibleExporte, beispielsweise Lieferung von Kriegswaffenin Drittstaaten grundsätzlich auch vor derEntscheidung informiert wird. Der existierendeUnterausschuss <strong>für</strong> Abrüstung, Rüstungskontrolleund Nichtverbreitung bietet sich hier an undsollte thematisch und personell erweitert werden.Wir fordern ferner eine gesetzliche Verankerungder Rüstungsexportrichtlinien der Bundesregierung.Roderich Kiesewetter: Ich bin <strong>für</strong> ein transparenteresVerfahren. Die wiederholten Diskussionenzeigen, dass wir hier Defizite haben. Ein Ausschussdes Bundestages könnte im Laufe desGenehmigungsprozesses informiert werden,analog zum Parlamentarischen Kontrollgremium<strong>für</strong> die Nachrichtendienste.Paul Schäfer: Die deutsche Rüstungsexportpraxiswar zumindest seit Anfang der 1990er durch einhohes Maß an Skrupellosigkeit gekennzeichnet.Viele der Entscheidungen waren schon damalseigentlich weder politisch noch moralisch zu vertreten.In erster Linie braucht es mehr Transparenzund mehr Rechte <strong>für</strong> den Bundestag – aberauch <strong>für</strong> die einzelnen Bürger – das Handeln vonRegierung und Unternehmen überprüfen, hinterfragenund gegebenenfalls sogar Rechtsmitteleinlegen zu können. Das fehlt bislang. >>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 102


PARLAMENTSVORBEHALTADLAS: Bei der Entscheidung über das UN-Mandat<strong>für</strong> eine Intervention in Libyen im März 2011 wichDeutschland mit seinem »Nein« zur Resolution 1973klar von der Position seiner westlichen Bündnispartnerab. Bildet das einen Präzedenzfall <strong>für</strong> einekünftige deutsche Sonderrolle in der internationalenPolitik? Wie schätzen Sie die Rolle der Bundesrepublikals außenpolitischen Akteur ein?Wolfgang Hellmich: Die Frage, ob und in welcherForm sich die Bundesrepublik Deutschland aneinem internationalen Einsatz beteiligt odernicht, ist stets eine Einzelfallentscheidung desParlaments. Die deutsche Nicht-Beteiligung inLibyen stellt keinen Präzedenzfall dar, selbstwenn diese Entscheidung an und <strong>für</strong> sich falschwar. Eingebettet in EU, Nato und UN kommtDeutschland seinen Bündnisverpflichtungennach und ist ein relevanter und verlässlicher internationalerAkteur. Globale Verantwortungschließt auch eine Politik der kritischen Einschätzungder jeweiligen Lage ein.Elke Hoff: Die aktuelle Entwicklung in Libyenzeigt, dass eine militärische Intervention die politischeLösung eines Konfliktes nicht ersetzenkann. Es entspricht der langjährigen außenpolitischenHaltung der Bundesrepublik, den Einsatzmilitärischer Mittel nur als letzte Möglichkeit inBetracht zu ziehen. Dies unterscheidet uns vonanderen Ländern. Deutschland war und ist einzuverlässiger außenpolitischer Akteur mit großemund erfolgreichem Engagement beim zivilenWiederaufbau und der damit verbundenen politischenStabilisierung vieler Krisenregionen.Katja Keul: Zunächst leite ich aus der Einzelfallentscheidungzu Libyen keine allgemeine sicherheitspolitischeSonderrolle Deutschlands ab. Füruns Grüne sind die UN der zentrale Rahmen <strong>für</strong>eine an den Zielen des Friedens und der Verwirklichungder Menschenrechte ausgerichteten weltweitenOrdnungspolitik. Deutsche Außenpolitikmuss stärker im Rahmen von UN und EU agierenund sich grundlegend an der Unterstützung derMenschenrechte und demokratischer Bewegungenorientieren.Wir würden uns daher wünschen, dass dieBundesregierung die Fortentwicklung des Konzeptsder »Responsibility to Protect« aktiv unterstützte.Nach meiner persönlichen Einschätzungwar Libyen allerdings kein Anwendungsfall derSchutzverantwortung und es war richtig, dassRoderich Kiesewetterist seit 2009 Bundestagsmitglied <strong>für</strong> die CDU Baden-Württemberg und unter anderem stellvertretenderVorsitzender des Unterausschusses Abrüstung,Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung.Der Oberst a.D. ist zudem seit 2011 Präsidentdes Reservistenverbandes der Bundeswehr.Foto: Reservistenverband»Ich halte ›Breite vorTiefe‹ <strong>für</strong> eine wichtigeZielvorstellung.«Deutschland sich an dem Kampfeinsatz nichtbeteiligt hat.Roderich Kiesewetter: Ich würde aus der Libyen-Entscheidung keinen Paradigmenwechsel in derdeutschen <strong>Sicherheitspolitik</strong> herauslesen. Wirbrauchen stattdessen eine verlässliche deutscheaußen- und sicherheitspolitische Strategie undeine überarbeitete europäische Sicherheitsstrategie.Ich persönlich würde mir in unseremLand, und ganz besonders im Deutschen Bundestag,eine breite Diskussion über eine deutschesicherheitspolitische Strategie wünschen.Deutschland wird in der europäischen GASP/GSVP und in der Nato in Zukunft mehr Verantwortungübernehmen. Daher müssen wir unsgrundsätzliche Gedanken darüber machen, wel->>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 103


PARLAMENTSVORBEHALTche Interessen wir haben, welche Instrumentewir vorhalten wollen und welche Aufgaben undRegionen <strong>für</strong> uns prioritär sind.Paul Schäfer: Das Verhalten Deutschlands in derLibyen-Krise 2011 steht geradezu exemplarisch<strong>für</strong> den allgemeinen Schlingerkurs in der <strong>Sicherheitspolitik</strong>.Offiziell zieht man sich aus völkerrechtlichbedenklichen Einsätzen zurück, unterstütztdiese dann aber doch durch Personal undInfrastruktur. Als Kompensation wird das Engagementin einem anderen Einsatz verstärkt – ingung sicherheitspolitischer Herausforderungen häufigweniger am militärischen Engagement, als vielmehran unzureichend ausgestatteten und mangelhaftaufgestellten Strukturen ziviler Krisenpräventionund -bewältigung kranken. Was ist hier zu tun?»In Afghanistan hat sich trotz aller Fortschrittegezeigt, dass nicht alle Akteurean einem Strang gezogen haben.« Elke Hofffriedlicheren und gerechteren Welt beitragen.Elke Hoff: Der Einsatz von Streitkräften kannlediglich Zeit »kaufen« und eine kurzfristigeStabilisierung erreichen. Die Strategie der vernetztenSicherheit ist ein erfolgversprechenderAnsatz, aber alle daran Beteiligten müssen siebeherzigen. In Afghanistan hat sich trotz allerFortschritte vor allem auf der Durchführungsebenegezeigt, dass nicht alle Akteure an einemStrang gezogen haben und zum Teil unterschiedlicheZiele verfolgten.Sollte Deutschland sich irgendwann erneutan einem ähnlichen Einsatz beteiligen, musseine international gemeinsam anerkannte undumzusetzende Strategie erkennbar sein. DieMaßnahmen aller Akteure müssen in eine Richtungweisen, auch wenn eigene Partikularinteressendem entgegen stehen sollten.diesem Fall durch die Entsendung von AWACS-Personal nach Afghanistan.Eine Sonderrolle Deutschlands gibt es seit Endeder 1980er nicht mehr. Weder vertritt die Bundesregierungandere außen- und sicherheitspolitischeZiele als die größeren Nato- und EU-Staaten, noch setzt sie <strong>für</strong> das Erreichen ihrerZiele andere Instrumente ein. Deutschland hätteaber aufgrund seiner Vorgeschichte, seiner privilegiertenLage in einem sicheren Teil der Weltund seiner Wirtschaftskraft durchaus das Potenzial,eine friedensstiftende Rolle einzunehmen.ADLAS: Afghanistan hat gezeigt, dass die Bewälti-Wolfgang Hellmich: Die Kombination militärischerund ziviler Mittel ist nicht nur in Afghanistaneine Herausforderung. Das durchaus wachsendeinternationale Bewusstsein <strong>für</strong> einen vernetztensicherheitspolitischen Ansatz korreliertaber (noch) nicht mit der Umsetzung zivilmilitärischerZusammenarbeit. Auch aus diesemGrund kann das Potential der Gemeinsamen Sicherheits-und Verteidigungspolitik der EU nichtoft genug erwähnt werden. Europa kann undmuss zu einer handlungsfähigen Friedensmachtfortentwickelt werden. Auf nationaler Ebene bildetder Aktionsplan Zivile Krisenprävention dieGrundlage <strong>für</strong> den ressortübergreifenden vernetzenAnsatz. Richtig ist und bleibt: Das AuswärtigeAmt ist federführend <strong>für</strong> die <strong>Sicherheitspolitik</strong>.Demzufolge sind unsere Streitkräfte nur einInstrument unter vielen und können daher auchnur in Kombination mit diplomatischen, kulturellenund wirtschaftlichen Werkzeugen zu einerKatja Keul: Krisenprävention ist eine Querschnittsaufgabe,die in allen relevanten Politikbereichenintegriert werden muss. In Regierungsverantwortunghaben wir Grüne den Aufbaueiner Infrastruktur <strong>für</strong> zivile Krisenpräventionund Friedensförderung angestoßen. Seitdemwurde es jedoch versäumt, deren Fähigkeiten,Strukturen und Strategien konsequent weiterzuentwickeln.Zivile Krisenprävention hat nurdann Aussicht auf Erfolg, wenn hier<strong>für</strong> ausreichendematerielle wie personelle Fähigkeitenund Strukturen vorhanden sind. Wir wollen, dassder Aktionsplan »Zivile Krisenprävention« derBundesregierung konsequent umgesetzt undweiterentwickelt wird. >>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 104


PARLAMENTSVORBEHALTRoderich Kiesewetter: Das sehe ich nicht so kritisch.Deutschland stand von Anfang an in derersten Reihe des internationalen Engagements inAfghanistan, im zivilen wie im militärischen Bereich:Es war Ausrichter der ersten Wiederaufbau-Konferenz 2001 in Bonn, ist drittgrößtes Geberlandund mit bis zu 4.400 Soldaten auch drittgrößterTruppensteller. Seit 2010 wurden diejährlichen Mittel <strong>für</strong> den zivilen Aufbau von 220Millionen auf bis zu 430 Millionen Euro pro Jahrbis 2016 verdoppelt.Der Fokus unserer an klare Bedingungen geknüpfteFörderung liegt auf guter Regierungsführungund ländlicher Entwicklung. Beim Wiederaufbaukonzentrieren wir uns in Nordafghanistanauf die Bereiche Bildung, Gesundheit, Infrastruktur,Wirtschaftsentwicklung, gute Regierungsfüh-Paul Schäfersitzt seit 2005 <strong>für</strong> Die Linke Nordrhein-Westfalensim Bundestag. Er ist Obmann seiner Fraktion imVerteidigungsausschuss sowie ihr VerteidigungsundAbrüstungspolitischer Sprecher. Zudem ist erMitglied in der Parlamentarischen Versammlungder Nato. Foto: Deutscher Bundestag / Hermann J. Müller»Die Richtung derReformen stimmtseit den 1990er Jahrennicht.«rung - und wir können in diesen Bereichen Erfolgevorweisen.Paul Schäfer: Zivile Krisenprävention muss vomRand der Aufmerksamkeit in den Fokus der <strong>Sicherheitspolitik</strong>rücken. Schlagwörter wie»vernetzte Sicherheit« dienten in der Vergangenheiteher dazu, den militärischen Einfluss auf zivileAnalyse- und Entscheidungsprozesse zu fördern.Hier wäre strukturell ein Umdenken notwendig,auch was die Verteilung von Finanzressourcenangeht.Dies müsste ergänzt werden durch ein stärkerespolitisches und finanzielles Engagement inden UN und der OSZE. Insbesondere innerhalbder EU muss darauf hingewirkt werden, dass dieUnion sich wieder an der Idee einer Zivilmachtorientiert und nicht versucht, sich als kleinerBruder der Nato zu gerieren.ADLAS: Außen- und sicherheitspolitische Bedrohungentreten zunehmend in elektronischer Formauf. Ist Deutschland mit der aktuellen, seit 2010bestehenden, »Cyberstrategie <strong>für</strong> Deutschland«ausreichend <strong>für</strong> die sicherheits-politische Zukunftim virtuellen Raum gerüstet?Wolfgang Hellmich: Die »Cyberstrategie <strong>für</strong>Deutschland« ist ein Element, um Cyberkriminalitätzu begegnen. Jedoch ist das öffentlicheBewusstsein da<strong>für</strong> noch sehr gering. Da die IT-Abhängigkeit der Unternehmen, des Staates undauch der Bevölkerung zunimmt, muss die <strong>für</strong> diedigitale Welt vorhandene Sicherheitsarchitekturstetig überprüft und an neue Erfordernisse angepasstwerden. Die frühzeitige Vermittlungvon Medienkompetenz trägt zur wirksamen Eigenverantwortungder Nutzer der digitalen Medienbei. Maßnahmen zur Stärkung der Cybersicherheitmüssen mit unseren internationalenPartnern abgestimmt werden.Elke Hoff: Diese Herausforderung wird größerwerden, je mehr und je schneller der technologischeFortschritt in diesem Bereich voranschreitet.Auf internationaler Ebene müssen dringendnachvollziehbare und völkerrechtlich akzeptierteKontrollmechanismen <strong>für</strong> die Sicherheit imCyberspace gefunden werden. Vor allem darf eskeine unkontrollierte Totalüberwachung unbescholtenerBürgerinnen und Bürger durch demokratischnicht legitimierte Institutionen geben. >>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 105


PARLAMENTSVORBEHALTKatja Keul: Wir Grüne haben große Zweifel, obdie Cyberstrategie der Bundesregierung und dasneue Cyber-Abwehrzentrum geeignet sind, dieSicherheit des Cyber-Raums in Deutschland zuverbessern.Einerseits fehlt es an technischer Expertiseund Ressourcen, um komplexe und gefährlicheAngriffe überhaupt zu erkennen und darauf zureagieren. Andererseits setzt die Bundesregierungmit Vorratsdatenspeicherung und einer Datensammelwut,die das verfassungsrechtlicheTrennungsgebot zwischen der Arbeit von Polizei,Geheimdiensten und Bundeswehr zu missachtendroht, auf untaugliche Instrumente. Wir wollenein Informationstechnik-Sicherheitsgesetz, dasCyberüberwachung grundrechtskonform einhegtund den Datenschutz stärkt.Roderich Kiesewetter: Die »Cyberstrategie <strong>für</strong>Deutschland« ist eine sehr gute Grundlage. Allerdingszeigen nicht zuletzt die Enthüllungen umdas Überwachungsprogramm PRISM, dass dieschützen. Die überregionalen »KönigsbronnerGespräche« der Karl-Theodor-Molinari-Stiftungdes Bundeswehrverbandes und des Reservistenverbandeszur <strong>Sicherheitspolitik</strong> werden sich imFrühjahr 2014 diesem Thema widmen.»Wir wollen ein Informationstechnik-Sicherheitsgesetz,das Cyberüberwachung grundrechtskonformeinhegt und den Datenschutz stärkt.« Katja KeulQuellen und Links:In ihren Programmen <strong>für</strong> die Bundestagswahl2013 äußern sich die Parteien auch zur <strong>Sicherheitspolitik</strong>.Der »umfassende Sicherheitsbegriff«und parteiabhängig unterschiedliche Gewichtungenbewirken dabei, dass die sicherheitspolitischrelevanten Aspekte der Dokumente höchst unterschiedlichausfallen. Ein direkter Vergleich fälltdeswegen schwer. (d. Red.)Dossier des Monitoringbüros »BerlinerInformationsdienst« vom 24. Juni 2013»Regierungsprogramm« der CDU vom23. Juni 2013Wahlprogramm von Die Linke vom 16. Juni 2013»Bürgerprogramm« der FDP vom 5. Mai 2013Wahlprogramm der Bündnis 90/Die Grünen vom28. April 2013»Regierungsprogramm« der SPD vom 14.April 2013Bundesrepublik hier noch Handlungsbedarf hat.Wir müssen mehr in unsere IT-Sicherheit investierenum unsere Bürger, Unternehmen und öffentlicheInstitutionen vor Spähangriffen zuPaul Schäfer: Bei einer so neuen Art der Herausforderungkann jede Strategie immer nur eineMomentaufnahme sein. Wie geeignet sie ist, wirdsich daran bemessen lassen, wie gut sie auf neueEntwicklungen anwendbar ist. Eine Bewertungder realen »Cyberspace«-Risiken fällt mangelsverlässlicher empirischer Grundlagen, die eineKausalität zwischen Cyberangriffen und sicherheitspolitischenBedrohungen belegen, nochschwer.Gefährlich ist allerdings die zunehmende Tendenz,offensive Kapazitäten <strong>für</strong> den Einsatz infremden Netzen aufzubauen, diese vor allem beiden Streitkräften anzusiedeln und damit auch dieSchwelle zu einer konventionellen Antwort zuüberschreiten. In jedem Fall sollte die Bundesregierungnach Jahren des Herumlavierens endlichKlarheit darüber schaffen, wie und nach welchenKriterien sie auf erfolgte Angriffe im »Cyberspace«reagieren wird.Zum allgemeinen Vergleichder Wahlprogramme empfiehlt ADLAS denWahl-O-Mat der Bundeszentrale <strong>für</strong>Politische Bildung <strong>für</strong> die Bundestagswahl 2013ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 106


DIE WELT UND DEUTSCHLAND: MEINUNGSBILDUNG»Kein Gründungsthema«Interview: Stefan DöllingWahlkampf auf der Spree. Foto: Piratenpartei Deutschlands / Stefan Berkner / CC BY 2.0Unter dem Slogan »Klarmachenzum Ändern« bringt diePiratenpartei seit 2006 denPolitikbetrieb der BerlinerRepublik durcheinander undwirbt vor allem mit Netzthemenum die Wählergunst.Über Außen- und <strong>Sicherheitspolitik</strong>war bislang allerdingseher wenig von ihnen zu hören.Grund <strong>für</strong> ADLAS, bei einerleitenden Expertin der Partei,Carolin Mahn-Gauseweg,einmal nachzuhaken. DasGespräch zeigt: Die Piraten sindin der Bestimmungihrer Positionen schon rechtfortgeschritten.ADLAS: Frau Mahn-Gauseweg, welche Rolle spieleneigentlich außen- und sicherheitspolitischeFragen bei den Piraten? Wie viele Parteimitgliederbefassen sich überhaupt mit dem Thema?Carolin Mahn-Gauseweg: Das ist schwer genau zusagen. Nimmt man den harten Kern der etwa 15Piraten und Piratinnen, die sich einmal in derWoche in der »Arbeitsgemeinschaft Außen und<strong>Sicherheitspolitik</strong>« zusammenschalten oder denerweiterten Kreis von etwa 50 bis 100 Leuten, diesich relativ regelmäßig bei der Arbeitsgruppe engagieren,dann wirkt das erst einmal recht überschaubar.Ein besserer Indikator <strong>für</strong> den Stellenwertsolcher Themen in der Partei ist aber dieTatsache, dass unsere Anträge auf den Parteitagenbislang fast alle zur Behandlung angenommenwurden – üblicherweise schafft es nur einBruchteil der oft mehreren hundert Anträgeüberhaupt auf die Tagesordnung. Außen- undsicherheitspolitische Themen werden von derPartei also an prominenter Stelle rege diskutiert.Und wie läuft die Diskussion?>>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 107


MEINUNGSBILDUNGKontrovers aber Konstruktiv, würde ich sagen.Weil Außen- und <strong>Sicherheitspolitik</strong> im engerenSinne kein Gründungsthema der Piraten war unddaher – im Gegensatz zu Themen wie etwaTransparenz und Netzpolitik – auch kein Grundkonsensbesteht, müssen wir uns viele, auchgrundsätzliche, Positionen eben erst erarbeiten.Ist das auch der Grund, warum der dem Wahlprogrammzugrunde liegende Sicherheitsbegriff zwarwortreich umschrieben, aber nicht klar definiert wird?Ja, genau das wäre so ein noch nicht abschließendgeklärter Punkt. Wir haben im Vorfeld desParteitages viel darüber diskutiert. Es geht ja klaraus unserem Programm hervor, dass <strong>Sicherheitspolitik</strong>nach unserem Verständnis weit über dieklassische »Verteidigungspolitik« hinausgeht undinsbesondere zivile Krisenpräventions und -bewältigungspolitikumfasst. Das wir uns nicht aufeinen zentralen Begriff wie »vernetzte«, »erweiterte«oder »umfassende Sicherheit« einigenkonnten, lag letztlich daran, dass diese Begriffe<strong>für</strong> einige Piraten Konnotationen hatten, die offenbarnicht mehrheitsfähig waren.Welche anderen sicherheitspolitischen Themenhaben die Piraten zuletzt besonders diskutiert?Auslandseinsätze der Bundeswehr beispielsweise.Dazu haben wir Mitte Juli die dritte PotsdamerKonferenz der AG Außen- und <strong>Sicherheitspolitik</strong>veranstaltet, wo wir uns, unterstützt durch externeFachleute, mit dieser Frage ausführlich beschäftigthaben.Carolin Mahn-Gausewegstudierte in Dresden Verkehrs und Ingenieurswesenmit Schwerpunkt auf Safety & Security imLuftverkehr und arbeitet seit 2009 alsSicherheitsingenieurin <strong>für</strong> Schienenfahrzeugtechnik.Sie ist seit 2011 Mitglied der PiratenparteiDeutschland und seit 2012 Hauptkoordinatorin derArbeitsgruppe Außen- und <strong>Sicherheitspolitik</strong>.Was kam dabei heraus?Foto: Bartjez / CC-BY-SA 3.0»Für uns istEuropapolitik keineAußenpolitik.«Der derzeitige Konsens zu Auslandseinsätzen beiden Piraten ist der, dass wir grundsätzlich an derVision einer Welt ohne Krieg festhalten und diesemZiel aktiv entgegenarbeiten wollen. Gleichzeitigerkennen wir aber an, dass zwischenzeitlichmilitärische Interventionen nötig werdenkönnen – und dann, allerdings immer nur als»ultima ratio«, auch möglich sein sollten. Es gibtzwar auch Piraten, die mit durchaus guten ArgumentenAuslandseinsätze, egal warum, rundherausablehnen, diese Position ist in der Partei derzeitaber nicht mehrheitsfähig.Ich persönlich hätte mir gewünscht, dass wirin diesem Zusammenhang noch einen Katalogmit Kriterien beschlossen hätten, der klar festlegt,wann und unter welchen Umständen <strong>für</strong>die Piraten eine militärische Intervention gegebenenfallsin Frage käme, und wann eben nicht.Ein solcher Grund zum Eingreifen könnte jabeispielsweise die »Responsibility to Protect« sein.Wie stehen die Piraten dazu?Die Frage R2P ist ein gutes Beispiel <strong>für</strong> die laufendePositionsbestimmung der Piraten im Bereichder Außen- und <strong>Sicherheitspolitik</strong>. Anfangshaben wir die R2P überaus positiv aufgenommen,da sie insbesondere durch die Einbeziehungder »Responsibility to Prevent« und die»Responsibility to Rebuild« zunächst sehr kompatibelmit unseren Vorstellungen zu seinschien. Doch die Probleme, die bei der prakti->>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 108


MEINUNGSBILDUNGschen Anwendung zu Tage traten, haben die Positionder Partei dazu spürbar verändert.Ohne hier vorgreifen zu wollen, denn auch dazusteht ein Beschluss noch aus, würde ich dennochbehaupten, dass durch die Realität des Einsatzesin Libyen unter dem Mantel der R2P dasKonzept <strong>für</strong> uns nachhaltig beschädigt wurde.Denn was sind harte Kriterien <strong>für</strong> einen Einsatz?Wie verhindert man ein Zweiklassensystem, beidem in kleinen Ländern unter dem Vorwand derR2P interveniert wird, große Staaten aber trotzmassiver Verstöße unbehelligt bleiben?Wie positionieren sich die Piraten zurEinbindung Deutschlands in die EuropäischeUnion und die Vereinten Nationen?Kontrollieren, nicht verbieten – einheitliche Parteiposition oder Kompromiss im Flügelkampf?Wahlkampf der Piraten in Hannover im Sommer 2013 Foto: Piratenpartei Deutschland / Christian Szymanek / CC BY 2.0Für EU und UN gibt es dazu im Wahlprogrammklare Aussagen. Für uns ist Europapolitik keineAußenpolitik. Die Piratenbewegung ist ja auchinsgesamt ein europaweites, eng vernetztes Politikprojekt.Daher macht <strong>für</strong> uns eine wirksameund demokratische Außen- und <strong>Sicherheitspolitik</strong>letztlich nur im europäischen Rahmen Sinn.Wir stehen daher <strong>für</strong> eine Stärkung der Rolle derEU in diesem Bereich – allerdings unter der Prämisse,dass die europäischen Entscheidungswegeund -Gremien viel demokratischer und transparenterwerden müssen. Ähnliches gilt <strong>für</strong> dieVereinten Nationen. Wir Piraten haben im aktuellenProgramm mit großer Mehrheit ein klaresBekenntnis zur UN verankert, auch wenn wir –etwa bei der Rolle des Sicherheitsrates – dringendenReformbedarf sehen.Und wie halten die Piraten es mit der Nato?Dazu gibt es derzeit noch keine offizielle, alsoausdiskutierte und beschlossene Position derPartei. Die Diskussionen darüber laufen noch.Ich persönlich glaube aber die Tendenz ausmachenzu können, dass die Partei der Nato insgesamteher kritisch gegenüber steht. Diese Skepsishat meiner Beobachtung nach zum einendamit zu tun, dass sich <strong>für</strong> viele Piraten die Natomit dem Ende des Kalten Krieges eigentlichüberlebt hat, zum anderen weil wir Piraten wenigtransparente Elitenprojekte grundsätzlichkritisch sehen. Die Nato manifestiert letztlichdie problematische politische Kultur einer kleinenElite von Staaten, die sich vor allem auf militärischeÜbermacht stützt – das steht im Ge- >>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 109


MEINUNGSBILDUNGgensatz zu unserer Vision einer Außen- und Sicherheitspolitk,in der sich die Akteure auf Augenhöhebegegnen.Es fällt auf, dass Ihr Wahlprogramm der nuklearenAbrüstung vergleichsweise breiten Raum einräumt ...Nukleare Abrüstung und Rüstungskontrolle sinduns sehr wichtig. Wir wollen in der Außen- und<strong>Sicherheitspolitik</strong> weg von der Übermachtsdynamik,die Kernwaffen geradezu ultimativ symbolisieren.Der Kalte Krieg ist vorbei – darum wegmit diesen Relikten der Politik der Übermacht!Die gesamte Problematik der nuklearen Proliferationzeigt klar, dass man diesen Schritt schon vorJahren hätte gehen müssen.Derzeit wird an verschiedenen Universitäten wiederverstärkt um die Einführung beziehungsweiseVerhinderung von Zivilklauseln gerungen. Wie stehendie Piraten dazu?»Klarmachen zum Ändern!«. Was wollen Sie in Zukunftgern anders als die anderen Parteien machen?sehen. Die Möglichkeiten aber, welche das Netz<strong>für</strong> eine fortschrittliche, zivile und Krisen imVorfeld verhindernde <strong>Sicherheitspolitik</strong> bietet –so beispielsweise <strong>für</strong> demokratische Grassroots-Bewegungen über Landes oder Kontinentgrenzenhinweg – werden vielfach überhaupt nichtgesehen. Die Initiative »Telecomix« stärkte zumBeispiel während des »Arabischen Frühlings«zivilgesellschaftliche Akteure, indem sie denAktivisten half, der staatlichen Internetzensurzu entgehen. Hier wollen wir ansetzen unddurch konzeptionelle Arbeit aktiv dabei mitwirken,das Netz endlich als Werkzeug zur Förderungglobaler Sicherheit zu etablieren. »Wir wollen aktiv mitwirken, das Netz als Werkzeugzur Förderung globaler Sicherheit zu etablieren.«Wenn ich richtig informiert bin, haben sich diePiraten in Sachsen-Anhalt auf Landesebene dieEinführung einer Zivilklausel ins Programm geschrieben,auf Bundesebene gibt es dazu derzeitaber keinen Konsens. Mir persönliche ist die denZivilklauseln zu Grunde liegende Idee einer demFrieden verpflichteten Wissenschaft grundsätzlichsympathisch. Aber wann genau beginnt Militärforschung?Wie geht man mit dem Dual-Use-Problemum? Ich sehe daher nicht, wie Zivilklauseln praktischumsetz- und anwendbar sein können.Ein Slogan der Piraten in vergangenen Wahlen warEine wichtige Forderung der Piraten ist beispielsweisedie einer transparenten Außenpolitik. Damitmeinen wir jedoch nicht, dass alle diplomatischenDrahtberichte veröffentlicht werden sollen.Vielmehr geht es darum, verbindlich und öffentlichzu klären, auf welcher Grundlage die Bundesrepubliksich außen- und sicherheitspolitisch betätigt.Wie wollen wir die nächsten zwei bis dreiJahre Sicherheits- und Außenpolitik betreiben?Mit welchen Mitteln? Veröffentlicht in einemWeißbuch könnte man die Handlungen der Bundesregierungjederzeit an ihren eigenen Ansprüchenund Zielen messen und bewerten. In anderenLändern ist dies schon längst Usus. Warumnicht auch hierzulande?Ein anderes Projekt stellt unser Bestreben dar,den Netzgedanken auch stärker auf die Außenund<strong>Sicherheitspolitik</strong> zu beziehen. Denn geradedieser Politikbereich ist trotz des vielfach vertretenen»umfassenden« Anspruches vielfach nochstark in klassischen, nationalstaatlichen Musternhängengeblieben. Das Internet als globales undtransnationales Gebilde wird in diesem Bereichderzeit häufig vor allem als Sicherheitsrisiko ge-Quellen und Links:Webauftritt der 3. Potsdamer Konferenz zurAußen und <strong>Sicherheitspolitik</strong> der Piratenparteivom 13./14. Juli 2013Webauftritt der Arbeitsgruppe Außen-und<strong>Sicherheitspolitik</strong> der PiratenparteiAußen- und Sicherheitspolitisches Wahlprogrammder Piratenpartei zur Bundestagswahl 2013ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 110


DIE WELT UND DEUTSCHLAND: POLIZEIMETHODENInsel der Vergessenenvon Heino MatzkenVor zweieinhalb Jahren war der Funke des »Arabischen Frühlings«auch auf Bahrain übergesprungen. König Hamad ließ dieProteste gewaltsam unterdrücken. Nach Kritik daran aber solltedie Polizei des Landes reformiert werden.Die magere Bilanz eines extra engagierten Beraters aus den USAzeigt heute: Kaum jemand außer der schiitischen Bevölkerung desLandes hat Interesse an einer Veränderung des Status quo.>> John Timoneys eindrucksvolle Polizeikarrierewar den sunnitischen Herrschern Bahrains aufgefallen.Im Dezember 2011, zehn Monate nachBeginn des »Arabischen Frühlings« auf der ölreichenGolfinsel, erhielt der erfahrene amerikanischePolizist im Innenministerium der kleinenarabischen Monarchie einen Zweijahresvertragals Berater. Der ehemalige oberste Ordnungshütervon Philadelphia und Miami sollte die PolizeiBahrains reformieren und die negative PR richten,die zu Beginn des Jahres die Schlagzeilen>>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 111


POLIZEIMETHODENNach über zwei JahrenDemonstrationenist das Interesseder westlichen Medienlängst verebbt.Verlorenes Paradies? Ausgerechnet während dieFormel 1 im April 2012 gerade in Bahraingastierte, kam es wieder zu Straßenschlachten.Foto: 14FebTV (The Voice of Revolution)über das Land beherrschte. »Bahrain ist ein wunderschönesLand, und ich glaube, die Ereignisse imMärz haben das Königreich sowie seine Herrschergeschockt«, befand Timoney denn auch prompt ineinem Interview im Januar 2012 mit NPR News.Indes »feierte« der Inselstaat 2013 ein traurigesJubiläum. Am 14. Februar vor zwei Jahren warenTausende erstmalig auf die Straße gegangen, umgegen die Politik des Königshauses zu demonstrieren.Der Friede auf der relativ liberalen und lebensfreudigenInsel im Arabischen Golf schien erst ein-mal vorüber. Seither versucht der sunnitischeMachthaber, König Hamad bin Issa Al Khalifa, dasAufbegehren seines schiitischen Volkes – auch mitexterner Hilfe – zu unterdrücken. Seine Polizeireagierte energisch, zuweilen brutal. Im März 2011verhängte die Regierung sogar das Kriegsrecht.Menschenrechtsorganisationen sprechen von über80 Opfern und hunderten, wenn nicht tausendenDemonstranten, die in den Gefängnissen der Sicherheitskräfteausharren. Keine gute Werbung <strong>für</strong>die Golfmonarchie und ihr Königshaus.Vorige Seite: Küstenpanorama von Manama Foto: UNWTO»Going out on the streets, carrying nothing buta flag and calling for democracy could cost youyour life here«, beschrieb die bahrainische AktivistinZainab al-Khawaja die damalige Situationin der New York Times. »Chanting ›down withthe dictator‹ could lead to your being subjectedto electric shocks. Giving a speech about humanrights and democracy can lead to life imprisonment.Infants have died after suffocating fromtoxic gases used by riot police. And teenage protestershave been shot and killed.« Al-Khawaja>>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 112


POLIZEIMETHODENGeht der saudisch-iranische Gegensatzauf Kosten Bahrains?hatte bereits mehrfach mit der Polizei Bahrainszu tun gehabt und weiß, wovon sie spricht.Bahrain ist das einzige Land der reichen Golfregion,in welchem die Aufstandsbewegung des»Arabischen Frühlings«, der mit der »Jasmin-Revolution« im Dezember 2010 in Tunesien begonnenhatte, fruchtbaren Boden zu findenscheint. Nach über zwei Jahren und wiederholtenMassenkundgebungen stellt sich die Frage, obdas Herrscherhaus den Status quo auch in Zukunftbewahren kann. Oder ob der Samen der»Arabellion« doch noch aufgeht.Der Funke der Revolution war im Februar 2011auf Bahrain übergesprungen, als am 14. jenesMonats erstmalig über 15.000 Demonstranten aufdem »Lulu-Platz« (»Lulu«, arabisch: »Perle«) derbahrainischen Hauptstadt Manama gegen diesunnitischen Machthaber aufbegehrten. Damitbegann die Revolte in Bahrain drei Tage vor derin Libyen und einen Monat vor dem Bürgerkriegin Syrien. Die Protestierenden, mehrheitlich Angehörigeder schiitischen Glaubensrichtung desIslams, hielten den zentralen Ort – wie auch dieÄgypter ihren Tahrir-Platz in Kairo – bis zur Räumungdurch die Polizei drei Tage später besetzt.80 Prozent der 1,3 Millionen Einwohner Bahrainsgehören der muslimischen Glaubensrichtung derSchiiten an. Das Herrscherhaus Al Khalifa jedochist sunnitisch. In Bahrain herrscht somit eineMinderheit über die Bevölkerungsmehrheit. Dieserfundamentale Glaubensunterschied spieltedann auch im Februar und März 2011 eine wichtigeRolle in Bahrain.Nicht allein aus Angst vor einer demokratischenÖffnung des Landes, sondern vor allem gegenübereinem möglichen Einflussgewinn desschiitischen Irans betrachten die Nachbarn Bahrainsdie Situation seither mit Argusaugen. Genaudieser Faktor macht neben dem Ölreichtum derRegion die Lage auf der Insel im Arabischen Golfauch <strong>für</strong> die Weltgemeinschaft interessant.Heute scheint die Revolte aber, zumindest inder westlichen Presse, vergessen. MaßgeblichenAnteil an ihrer Niederschlagung hatte auch dersunnitische Protagonist der Region, Saudi-Arabien. Hatte das Nachbarland doch am 14.März 2011 über 4.000 Soldaten seiner Nationalgardeentsandt, um den bedrängten König Hamadzu unterstützen. Letzterer hatte damals seinePartner im Golf-Kooperationsrat – Kuwait, Saudi-Arabien, Vereinigte Arabische Emirate, Katar undOman – um Hilfe gebeten. Europäer und Amerikanerstimmten der Intervention insgeheim zu.Sie, wie auch die Golfstaaten, sahen das militärischeEingreifen als Schutz gegen einen iranischschiitischenMachtgewinn in der ölreichen Regi->>SUNNITEN UND SCHIITENDer Unterschied zwischen den islamischenGlaubensrichtungen Sunni und Schia ist weitmehr als eine marginale Differenz wie beispielsweisezwischen Protestanten und Katholiken.Seit dem Ableben des Propheten Mohammedsim Jahre 632 streiten die Glaubensbrüderum den wahren Glauben.Geschichtlich gesehen ist die Abgrenzungzwischen Sunniten und Schiiten relativ eindeutig.Nach dem Tod Mohammeds wählte einegroße Anzahl der Muslime (arabisch: »die sichGott Unterwerfenden«) einen langjährigen undtreuen Gefolgsmann Mohammeds, Abu Bakr,zum ersten Kalifen (arabisch: »Nachfolger desGesandten Allahs«). Diese Form der Fortsetzungdes Amtes setzte sich über verschiedene Kalifen-Geschlechterfort und endete erst 1924 mitder Beendigung des Kalifats durch die entstehendemoderne Türkei.Die Gruppe der Sunniten glaubt an den Koran(arabisch, wörtlich: »Lesung«), also die WorteGottes, und zusätzlich an ein weiteres Dokument,die Sunna (arabisch: »Brauch, gewohnteHandlungsweise«) – daher ihr Name. Die erstenSunniten waren zugleich die Gefolgsleute AbuBakrs. Die zweite, kleinere Gruppe der Schiitenhingegen bevorzugte eine familiäre Nachfolgeder Führung des Islam durch MohammedsCousin, Adoptiv- und Schwiegersohn, Ali. Nachdem arabischen Wort <strong>für</strong> Anhänger, »shia«, werdendie Anhänger Alis Schiiten genannt. Religiösmotiviert, sind sie von einer »unsichtbaren«spirituellen Übertragung von Allahs Willen aufdie Nachfahren Mohammeds überzeugt. >>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 113


POLIZEIMETHODENon. Als Stützpunkt und Hauptquartier der 5. US-Flotte ist Bahrain von großer strategischer Bedeutungin der Region. Von hier aus sichern dieAmerikaner die Straße von Hormuz, die den IndischenOzean mit dem Gewässer verbindet, welchesdie Iraner »Persischer Golf« nennen, alleübrigen Anrainer »Arabischer Golf«.Der Inselstaat Bahrain befindet sich geographischgesehen nur 200 Kilometer entfernt vondem »rogue state« Iran. Ein Sturz der sunnitischenMonarchie könnte eine schiitisch dominierteRegierung in Manama zum potentiellen AlliiertenTeherans machen. Saudi-Arabien widersetztWährend der darauf folgenden enormen geographischenExpansion des Islam wechseltendie Konfessionen in den unterschiedlichen Regionenin der Regel gemäß dem Motto »Cuiusregio, eius religio – wessen das Land, dessender Glaube«. Hier liegt der Grund <strong>für</strong> die heutigekomplexe und nicht immer klar trennbareVerteilung von Sunniten und Schiiten in denverschieden muslimischen Ländern. WährendSunniten in den meisten Staaten die Mehrheitbilden, dominieren Schiiten im Iran, Aserbeidschan,Irak, Libanon und auch in Bahrain.Ein Übergreifen der Proteste auf den Nachbarstaatwäre ein Horrorszenario <strong>für</strong> die Familie Al Saud.sich quasi naturgemäß jeglichem iranischen Einflussgewinn.Darüber hinaus be<strong>für</strong>chtet Riad, dassein »Umfallen« Bahrains auch negative Auswirkungenauf die schiitische Minderheit im eigenenLand haben könnte. Besonders im ölreichen Ostendes Wüstenstaats bilden Schiiten die bevölkerungsstärksteGruppe. Ein Übergreifen der Protestevon den 33 Inseln Bahrains auf die OstprovinzSaudi-Arabiens wäre ein Horrorszenario <strong>für</strong> dieherrschende Familie Al Saud. Auch die Aussichtauf eine mögliche Demokratie in Bahrain stößtnicht gerade auf Jubelgesänge in Riad.Auch wenn die Weltpresse weitgehend von politisch-religiösenGründen der schiitischen Revolteim ehemaligen »Perlenparadies« spricht, betont dieOpposition jedoch den sozialen Charakter ihrerZiele. Sie wehrt sich gegen die gesellschaftliche undwirtschaftliche Diskriminierung durch die sunnitischenMachthaber. Die herrschende Klasse profitierthauptsächlich von den Ölmilliarden, währenddie Bevölkerungsmehrheit so gut wie leer ausgeht.Unter den Schiiten herrscht eine hohe Arbeitslosigkeit,sie werden systematisch vom öffentlichenDienst und der Armee ausgeschlossen. DieRegierung begünstigt zudem offensiv ausländische,zumeist sunnitische und hinduistische, Arbeitskräfte,die seit den 1970er Jahren besondersin der Ölindustrie beschäftigt sind. Diese erhaltendann auch schnell die bahrainische Staatsangehörigkeit.Fast schon ließe sich eine geplanteVerschiebung der demographischen Verhältnissezwischen den Glaubensrichtungen vermuten. Indem Aufstand geht es also nicht, wie auf den erstenBlick zu denken, allein um Religion, sondernum soziale Ziele wie Freiheit und Gleichberechtigung.Auch viele Sunniten nehmen an den Protestenteil. Vor zwei Jahren propagierten die Demonstrantensogar: »Keine Schiiten, keine Sunniten– nur Bahrainer!«Bahrain ist zwar wohlhabend, aber die 1932entdeckten Gas- und Ölvorkommen werden voraussichtlichin den nächsten 20 Jahren versiegen.Daher liberalisiert die Regierung die Wirtschaftund wandelt das Königreich zu einemDienstleistungszentrum um. Schwerpunkt istdabei der Bankensektor. Nachbar Saudi-Arabienist der Haupthandelspartner und die ArabischeHalbinsel durch den »King Fahd Causeway« mitdem Inselstaat verbunden.Auf politischer Ebene muss man konstatieren,dass in Bahrain schon länger ein Hauch vonDemokratie weht, weit stärker als in Saudi-Arabien etwa. Seit 2002 finden regelmäßig Parlamentswahlenstatt. Frauen erhielten damalsebenfalls das Wahlrecht. Die stärkste Oppositionspartei,»el-Wefaq«, konnte 2010 sogar 64Prozent der Stimmen auf sich vereinigen. Leiderreichte das Ergebnis aufgrund der <strong>für</strong> die Opposition»ungünstige« Wahlkreiseinteilung lediglich<strong>für</strong> 16 von 40 Mandaten in der Volksvertretung.Die königliche Familie dominiert weiterhindie entscheidenden Ministerien; der Königernennt sowohl die Regierung als auch die Mitgliederdes Oberhauses. Auch das Parlament>>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 114


POLIZEIMETHODENtungen an, welche oft auf durch Folter erzwungenenAussagen beruhen.Nach zwei Jahre andauernden Demonstrationendann erste bescheidene Öffnungen: Anfang2013 suchte die Regierung den Dialog mit der»legalen« Opposition. Eine zunächst sehr bescheideneAnnäherung, da das 2011 verhängte Kriegsrechtweiter in Kraft bleibt. Der Arabische Frühlingist damit auch in Bahrain noch nicht vorbei.Zum zweiten Jahrestag der Unruhen gingen am14. Februar 2013 wieder Tausende auf die Straßen.Zusammenstöße mit der Staatsmacht kostetenerneut Tote – auch auf Seiten der Polizei. Immermehr junge und radikale Demonstranten mischensich unter die Oppositionellen und erhöhendie Gewaltbereitschaft auf beiden Seiten.Und welche Rolle spielt dabei PolizeiberaterJohn Timoney? Nach Unterschreiben seines Vertragesmachte er sich, gemeinsam mit seinem KollegenJohn Yates, einem vorigen stellvertretendenPolizeichef Londons, sofort an die Arbeit unddrängte auf notwendige Reformen: So stellte dasKönigreich weitere 500 Beamten ein, installierteVideokameras in den Polizeistationen, um Missbrauchzu verhindern, und gestaltete den Untersuchungsprozessneu. Die Polizei sollte nach einemneuen, moderateren Verhaltenskodex agieren.In seiner über 40-jährigen Dienstzeit hatteTimoney ein Polizeimodell entwickelt, das besondersdas Einsatzverhalten der Ordnungshüterbei politischen Demonstrationen verbessert.Dabei sollen die Beamten unnötige Gewalt vermeiden,indem sie frühzeitig potentiell explosiveSituationen bei Massenkundgebungen beendenund auf Deeskalation setzen.In Bahrain lag das Hauptinteresse des vor 65Jahren in Dublin geborenen Experten allerdingsnicht darauf Konfrontationen zu verhindern.Timoneys »Miami-Modell« gefällt König Hamad.John F. Timoney Foto: Miami Police Departmentkann er jederzeit auflösen und Neuwahlen ansetzen.Regierungschef ist seit 40 Jahren der Onkeldes Herrschers. Darüber hinaus sitzen acht weitereFamilienangehörige im Kabinett. El-Wefaq undihr Führer Scheich Ali Salman fordern eine konstitutionelleMonarchie, in der das Parlament dieExekutive bestimmt.Bis zu einer echten Demokratie ist es <strong>für</strong> Bahrainalso noch ein sehr langer Weg. Das unterstreichtauch die bahrainische Menschenrechtssituation.So hob ein Gericht im März 2013 in zweiterInstanz einen Freispruch <strong>für</strong> Aktivistin Zainabal-Khawaja auf. Die Tochter des zu lebenslangerHaft verurteilten Abdulhadi al-Khawaja muss nun<strong>für</strong> drei Monate wegen Beleidigung eines Staatsbedienstetenins Gefängnis. Ihr Vater hatte 2002das mittlerweile verbotene, aber immer noch aktive»Bahrain Center for Human Rights« gegründet.Der Hohe Flüchtlingskommissar der VereintenNationen klagt weiter unrechtmäßige Verhaf-Dem Philadelphia Inquirer erklärte Timoney, seinvorrangiges Ziel sei zu vermeiden, »dass die Polizeinicht in den Sechs-Uhr-Nachrichten wild aufDemonstranten einschlagend zu sehen ist«. Andererseitsverdeutlichte sein Einsatz bei Protestengegen die »Free Trade Area of the two Americas«-Verhandlungenin Miami im November2003 eindrucksvoll seine Durchsetzungsfähigkeit:Ein zeitlich begrenztes Versammlungsverbot,Schlagstock- und Tränengaseinsatz machtendem »Spuk« ein Ende – und das ohne großes Medienspektakel.Das »Miami-Modell« schien KönigHamad wohl ideal auch <strong>für</strong> Bahrain.Doch war der amerikanische Polizeiexpertewirklich erfolgreich? Heute, nach anderthalbJahren Beratungstätigkeit, ist seine Erfolgsbilanzsehr mager – so zumindest Menschenrechtler.»Human rights abuses have continued unabated«,erklärt der US-Bürgerrechtsaktivist KrisHermes in der Huffington Post. Auch Zainab al->>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 115


POLIZEIMETHODENdrei davon während Timoneys »Beraterzeit«. SeineAnweisungen, die Gaskanister nicht auf Kopfhöheabzufeuern, schienen dann doch nicht jedenPolizisten erreicht zu haben.Der Berater Timoney konnte die »Polizeikräfte«bislang nicht in einen »Polizeidienst« verwandelnund hat somit sein persönlich gestecktesZiel nicht erreicht – auch wenn es ihm anscheinendgelungen ist, bahrainisches Polizeivorgehengegen Demonstranten aus der internationalendiese Passivität eine sowieso unaufhaltsameEntwicklung eher noch verschlimmert, werdendie nächsten beiden Jahre von Demonstrationenauf dem Perlenplatz in Manama zeigen. Heino Matzken hat an der Universität der BundeswehrMünchen und an der Staffordshire UniversityInformatik studiert, zudem besitzt er einen PhD in»International Relations« der Bircham InternationalUniversity.Der Berater Timoney konnte die »Polizeikräfte«bislang nicht in einen »Polizeidienst« verwandeln.Quellen und Links:Webpräsenz des Bahrain Center for Human RightsKhawaja befand schon im Dezember 2012: »Atpresent, the Bahraini government believes it hasinternational immunity. It commits widespreadhuman rights violations, and business continuesas usual […]. This is why the most prominentBahraini human-rights defenders are languishingin prison.« Eine echte Verbesserung hat Timoneynicht erwirken können, so scheint es.Trotz offizieller Angaben der Behörden, keinepolitisch motivierten Verhaftungen durchzuführen,sieht die Realität anders aus. Im Mai diesesJahres erhielten sechs Aktivisten einjährige Haftstrafen,weil sie sich per Twitter negativ über denKönig geäußert hatten. Drei weitere erhieltensechs Monate Gefängnis wegen »illegaler Versammlung«.Obwohl UN-Kontrollen durch dieObrigkeit nicht erlaubt und selbst JournalistenVisas verweigert wurden, gibt es immer noch ausreichendeHinweise auf Folter in bahrainischenGefängnissen. Democracy Now! berichtet, dassBahrains Sicherheitskräfte seit Beginn der Proteste87 Menschen getötet hätten, mehr als dieHälfte davon nach dem Dezember 2011, als Timoneyseine Arbeit in Manama begann.Selbst der höchst umstrittene, weil massive,Einsatz von Tränengas hat sich nicht vermindertund führte in den letzten beiden Jahren gemäßAmnesty International zu mindestens 13 Toten –Presse weitgehend heraus zu halten. Ob seinesicherlich gut gemeinten Verbesserungsmaßnahmentrotzdem auf mittlere und lange SichtFrüchte im Königreich Bahrain tragen, werdendie kommenden Monate zeigen müssen.Der Westen und die Weltgemeinschaft haltensich mit der Kritik an den Menschenrechtsverletzungendes Regimes bewusst zurück. Trotz fortgesetztenbrutalen Vorgehens gegen Demonstranten,Folter und einem zweifelhaften Rechtssystemdrücken wir die Augen zu. Wie auch inÄgypten oder Syrien befindet sich Bahrain in derscheinbaren Zwickmühle – stabile Diktatur oderchaotische Demokratie? Das Gespenst einer regionalenVorherrschaft des schiitischen Iran am»Persischen Golf« drängt sich immer weiter inden Vordergrund und liefert eine willkommeneEntschuldigung <strong>für</strong> die eigene Untätigkeit. ObHintergrundbericht »John Timoney and theKingdom of Bahrain« in der Huffington Post vom30. Mai 2013Bericht »Bahrain: Reform, Security, and U.S.Policy« des Congressional Research Service vom1. April 2013Bericht »Bahreïn: la révolte oubliée des printempsarabes« des Figaro vom 15. Februar 2013Kommentar »Bahrain, a brutal ally« vonZainab al-Khawaja in der New York Times vom 26.Dezember 2012Forschungspapier »Bahrain: Beyond the Impasse«des Chatham House vom Juni 2012Profil »John Timoney: A tough cop with a tougherjob« in der gulfnews.com vom 10. Juni 2012ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 116


DIE WELT UND DEUTSCHLAND: DATENANALYSESchwache Signalevon Florian PeilEntführungen, mehr Terroranschläge, steigende Kriminalität –das ist die Kehrseite des Arabischen Frühlings. Diplomatenund Unternehmer vor Ort brauchen künftig ein Frühwarnsystem,um in unsicheren Verhältnissen erfolgreich zu agieren.Hilfe könnten Mathematik und Algorithmen bringen: Big Dataheißt das Stichwort.>> Freiheit, Demokratie, Menschenrechte: Auchzwei Jahre nach dem Beginn der RevolutionenAnfang 2011 ruft der Arabische Frühling vor allempositive Assoziationen hervor. Die Bildervon Tunesiern, Jemeniten, Libyern oder Ägyptern,die teils unter Einsatz ihres Lebens auf dieStraße gingen, um gegen ihre verhassten Unterdrückerzu demonstrieren, haben sich fest imkollektiven Gedächtnis des Westens verankert.Aus Europa fließen seither Gelder in Milliardenhöhein die arabische Welt, um den Aufbau von>>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 117


DATENANALYSEZivilgesellschaften und einer unabhängigen Pressezu fördern.Für viele in der Region tätige Organisationenund vor allem Unternehmen hingegen war der ArabischeFrühling ein Schock. Seine Auswirkungendürften <strong>für</strong> sie mit denen eines Vulkanausbruchsvergleichbar sein: Auf lange Sicht mag die Ascheden Boden fruchtbar machen, kurzfristig jedochzerstört sie alles Leben. Die starren Verhältnisseder einstigen Diktaturen sind Vergangenheit –heute bestimmen Instabilität und Unsicherheit denAlltag. Die politischen Umstürze haben die Machtverhältnissekräftig durcheinandergewirbelt undgleichzeitig die Sicherheitskräfte geschwächt. Inder Folge sind vielerorts die Kriminalitätsraten explodiert.Dschihadistische Gruppen breiten sichaus. Terroranschläge sind in Nordafrika zu einerständigen konkreten Gefahr geworden – ebensodas Risiko, Opfer einer Entführung zu werden.Bevorzugtes Ziel militanter Islamisten sindAusländer aus dem Westen. Die bislang größteOperation dieser Art war der Angriff auf die Erdgasanlageim algerischen In Amenas. Die Angreifer,die der nordafrikanischen Filiale von Al-Qaida AQIM nahestanden, hatten dort im Januar2013 mehr als 800 Geiseln genommen, unterihnen rund 100 Ausländer. Im Verlauf der Geisel-Osamas Welt: Dergeokodierte Inhaltglobaler Nachrichten aufGrundlage des britischen»Summary of WorldBroadcasts« über denNamen »bin Laden« vomJanuar 1979 bis April2011.Illustration: Kalev Leetarunahme und der anschließenden Interventiondurch das algerische Militär starben 39 der ausländischenArbeiter.Auch die Attacke auf das US-Konsulat in Benghaziam 11. September 2012 zielte auf westlicheAusländer ab. Gedeckt von einem bewaffnetenFür Unternehmen ist der Arabische Frühling miteinem Vulkanausbruch vergleichbar.Mob, die gegen einen in den USA produziertenSchmähfilm über den Propheten Muhammad protestierten,feuerten die Angreifer – vermutlichDschihadisten – Raketen und Granaten auf dasKonsulat ab. Dabei kamen Botschafter ChristopherStevens, der sich gerade in der Vertretungaufgehalten hatte, und drei weitere amerikanischeMitarbeiter ums Leben. Die genauerenUmstände sind noch immer ungeklärt.Angesichts solcher neuen Unsicherheitenstehen die in der Region aktiven Organisationenund Firmen vor der Frage, wie sie trotz erhöhtenRisikos und Instabilität künftig handlungsfähigbleiben können. Was sie bräuchten, ist ein Frühwarnsystem,das sich abzeichnende Krisen undpolitischen Aufruhr zuverlässig erkennt, umbeispielsweise rechtzeitige Evakuierungen zuermöglichen.Experten alter Schule scheiden als Krisendetektorenaus: Sie taugen zur Erklärung bereits>>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 118


DATENANALYSEeingetretener Entwicklungen – nicht aber zurVorhersage künftiger Ereignisse. Im Gegenteilkönnen sie in letzterem Fall sogar hinderlichsein, neigen Experten doch dazu, von selbst Erlebtemauf die Zukunft zu schließen. Und: Sieschauen besonders gerne dorthin, wo sie sichauskennen. Das verzerrt die Analyse. Im Ergebnisliegen Fachleute statistisch gesehen denn auchtatsächlich häufiger daneben als Laien. Nicht eineinziger der so genannten Nahostexperten weltweithat beispielsweise den Arabischen Frühlingvorhergesagt.Die Lösung könnte anderswo liegen: bei Statistikund Algorithmen. »Big Data« ist das Schlagwortder Stunde. Der Begriff beschreibt das gezielteSammeln und Auswerten der ungeheurenDatenmengen, die die Menschheit seit einigenJahren im World Wide Web hinterlässt. Insbesonderein den »sozialen Medien« breiten die Menschenihre Ängste, Sorgen und Hoffnungen aus.Twitter, Facebook, Google+ und Co. fungieren wieein riesiges Mikroskop, unter das sich immermehr Menschen legen.Die Analyse dieser Daten vereint unterschiedlicheDisziplinen und methodische Ansätze: Mathematik,Computerwissenschaft und Informationstechnologiebilden die Grundlage <strong>für</strong> die Methoden,die sich »predictive modeling«, »informationretrieval« oder »reality mining« nennen.Hinter den jeweiligen Methoden stecken Riesender Computerbranche wie IBM, aber auch Start-Ups – bis hin zu einzelnen Wissenschaftlern.Hätte die Macht derAlgorithmen BotschafterStevens Lebenretten können?Informatiker und Big-Data-Experte Kalev Leetaru.Fotos: privatImmer geht es darum, bislang unerkannte Musterund Zusammenhänge im Datenchaos aufzuspüren,um auf diese Weise zu neuen Erkenntnissenzu gelangen. Dahinter steht der Gedanke, die realeWelt in Form von Daten nachzumodellieren –um dann zu sehen, was passiert, wenn diese Weltsich verändert. Enthusiasten sind sich sicher,dass die Auswertung der Vergangenheit bald einenBlick in die Zukunft ermöglicht. Für sie sindGesellschaften und Geschichte einfach wie eingroßes Datenproblem zu behandeln.Zu diesen Big-Data-Pionieren gehört KalevH. Leetaru. Er forscht an der Universität Illinoisund ist einer der Stars der neuen Disziplin. Fürseine Studie »Culturomics 2.0« fütterte Leetarueinen Supercomputer mit mehr als 100 MillionenNachrichtenartikeln aus den vergangenen30 Jahren. Diese codierte er nach Orten und Tonalität,positiv oder negativ. Er schuf so einNetz aus rund 100 Billionen Verknüpfungen –und gelangte zu überraschenden Ergebnissen.Der Arabische Frühling wäre vorhersehbargewesen, so lässt sich Leetarus Arbeit zusammenfassen.Er verweist auf eine Grafik seinerStudie, einem EKG nicht unähnlich, welche dieEntwicklung der gesellschaftlichen und politischenStimmung in Ägypten abbildet. Diese fälltMitte Januar 2011 steil nach unten ab – am 25.Januar begannen am Nil die Proteste. Eine ähnlicheEntwicklung habe es zuvor in Tunesienund später auch in Libyen gegeben, so Leetaru.Der Grundgedanke hinter seiner Methode:Politische Umstürze und ähnliche Krisen kommennie aus heiterem Himmel. Sie kündigensich vorher an: mittels sogenannter »schwacher>>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 119


DATENANALYSEanderen Inhalten. Die Software erfasst dabei auchdie Tonlage und das »momentum« – ein Maß <strong>für</strong>die Intensität, mit der die Medien über ein bestimmtesThema berichten. Das Interesse an derTechnologie ist groß: Die Firma erhielt Wagniskapitalsowohl von Google als auch von der CIA.Beim »predictive modeling« wiederum gehtvor allem darum, einen Blick in die Zukunft zuFlorian Peil hat Islamwissenschaft in Göttingen,Kairo, Berlin studiert und ist Sicherheitsberater mitdem Schwerpunkt Nahost und Nordafrika. Er unterstütztUnternehmen, die in der Region operieren,im Hinblick auf politische und terroristische Risikensowie in interkultureller Kommunikation. Bei derUnternehmensberatung Riskworkers in Münchenfungiert er zudem als Head of Intelligence.Kritiker bemängeln, dass die Daten ohneExpertenwissen wertlos sind.Signale«. Das sind Informationsbruchstücke, dieauf Diskontinuitäten hinweisen, auf Phänomene,die erst mit einer zeitlichen Verzögerung eintreten.Ein schwaches Signal kann die Häufunggleichartiger Ereignisse sein, aber auch die Verbreitungneuer Ideen und Meinungen. Letztereswar im Falle des Arabischen Frühlings gut zu beobachten:Die signifikant gestiegene Zahl der Anmeldungenvon Nutzern bei Twitter und Facebookin Tunesien und Ägypten Anfang 2011 ist einschwaches Signal.Auch das Versteck von Osama Bin Laden impakistanischen Abottabad will Leetaru alleindurch die Auswertung offen zugänglicher Quellenlokalisiert haben – zumindest konnte er den Radiusauf 200 Kilometer eingrenzen. Der Zufluchtsortdes Terroristen indes wurde erst nachseiner Tötung durch eine amerikanische Spezialeinheitim Mai 2011 bekannt. Aber vielleicht hätteman den Al-Qaida-Chef auf diese Weise tatsächlichschneller aufspüren können. Nur hatteeben niemand nachgesehen.Einen anderen Ansatz als Leetaru verfolgt dasamerikanische Start-Up Recorded Future. DieMethode der Firma nennt sich »information retrieval«.Sie bringt die Suchergebnisse in einezeitliche Reihenfolge und verknüpft sie dabei mitwerfen. Diese Methode wird bereits seit 2005 vonPolizeibehörden in den USA eingesetzt. Die Software»Blue CRUSH (Criminal Reduction UtilizingStatistical History)« von IBM ermöglicht Prognosendarüber, wann an welchem Ort Verbrechenverübt werden könnten. Straftaten lassen sichdadurch immer öfter bereits im Vorfeld vereiteln.Seit die Software in mehreren Städten zum Einsatzkommt, ist die Kriminalitätsrate dort gesunken,teilweise um bis zu 30 Prozent.Kritiker von Big Data bemängeln, dass die Datenallein wertlos seien. Erst Experten könntendem Chaos einen Sinn abringen. Denn bereits dieEntscheidung, welche Daten man betrachte und<strong>für</strong> relevant erkläre, setze voraus, dass man weiß,wonach man sucht. Nur wer schwache Signale alssolche erkennt, mag politische Unruhen vorhersehen– und sich rechtzeitig auf Ereignisse wieden Arabischen Frühling vorbereiten. Quellen und Links:Soziale Netzwerkanalyse »Finding Paul Revere«des Soziologen Kieran Healey der DukeUniversity, North Carolina, vom 9. Juli 2013Website von Kalev LeetaruWebpräsenz von Recorded FutureHintergrundbericht »Big data and the deathof the theorist« des Technologiemagazins Wiredvom 26. Januar 2013Niels Boeing: »Tatort Zukunft« in der TechnologyReview, Ausgabe 3/2011Kalev H. Leetaru: »Culturomics 2.0« im Internet-Journal First Monday vom 5. September 2011Dieser Text ist eine Übernahme mitfreundlicher Genehmigung derzenith – Zeitschrift <strong>für</strong> den Orient.ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 120


LITERATUREin Herz <strong>für</strong> Realpolitik»Kann Töten erlaubt sein?«, fragt der Afghanistanveteran Marc Lindemann.Sein zweites Buch ist eine angenehm sachliche Abhandlung darüber, warumDeutschland zu dem komplexen Problem Stellung nehmen muss. Vor allemdie Praxis »gezielter Tötungen« will er in die Debatte über die Einführung bewaffneterDrohnen bei der Bundeswehr einordnen. Aus militärischen, politischen,juristischen und moralischen Blickwinkeln betrachtet er Chancen undRisiken des »targeted killing« – mit welchen Mitteln auch immer ausgeführt.Kampfdrohnen sind <strong>für</strong> den Politologen und ehemaligen Nachrichtenoffiziereine militärische Entwicklung, bei der Überraschungseffekt und derSchutz der eigenen Soldaten wesentlich seien. Das Kernproblem bei ihremEinsatz <strong>für</strong> gezielte Tötungen: die Rahmenbedingungen. Das Völkerrechtstoße längst an seine Grenzen, besonders bei der Unterscheidung zwischenKämpfern und Zivilisten.Zugleich prognostiziert Lindemann eine »Rückbesinnung auf die Realpolitik«:Konzepte wie die von der Bundesregierung offiziell vertretene »vernetzteSicherheit« würden immer weniger Anhänger finden – eine diskussionswürdigeAnnahme. Anders als in den USA finde in Deutschland eine realpolitischgeleitete Diskussion maximal hinter verschlossenen Türen statt, öffentlichvertrete man hingegen eine illusorische Neutralität. Die sei nicht länger haltbar,trotz oder gerade wegen der Umstrittenheit des Sujets. Folglich appelliertLindemann <strong>für</strong> eine Positionierung der deutschen Regierung: Eine klare Liniein der Frage zur Legitimität gezielter Tötungen wäre <strong>für</strong> die Glaubwürdigkeitihrer Politik im In- und Ausland wichtig. Sehr lesenswert. Sören GranzowKein Mitgefühl vom MonsterEdward Snowden ist schuld. Wer erst nach den Enthüllungen zu Prism, Tempora& Co. das aktuelle Buch von Frank Schirrmacher aufschlägt, wird dankdem NSA-Whistleblower ein anderes Lesererlebnis haben als beim Ersterscheinenvon »Ego. Das Spiel des Lebens« am 18. Februar. Die Zäsur lässt sich auchan den herben Kritiken über das Buch erkennen: Vor den Aussagen Snowdenszur Internetüberwachung rauschte Schirrmacher in den Blättern des deutschenFeuilleton der Vorwurf entgegen, apokalyptischer Verschwörungstheoretikerzu sein. Beschreibt doch der FAZ-Herausgeber, wie »Big Data« zu einem automatisiertenMonster wurde und seinen Siegeszug ausgehend vom algorithmengesteuertenFinanzmarktgeschäft in alle Gesellschaftsbereiche fortsetzenwird. Inzwischen – in der Zeitrechnung nach Snowden – konnte sich selbst dieBundesregierung sehr detailliert in der Presse über Big Data informieren.Die Verschwörungstheorie entfällt damit, doch die Lektüre lohnt weiterhin.Denn Schirrmacher geht der Frage nach, wie der Mensch sich selbst berechenbarmachte. Kein Ausflug in die Statistikwüsten erwartet den Leser,sondern ein Rückgriff auf die Spieltheorie der 1950er Jahre. Um das Handelndes Gegners UdSSR im Kalten Krieg vorherzusagen, hätten Militärs und Ökonomenin den USA eigennütziges Verhalten als Maxime menschlichen Verhaltensangenommen. Diese Prämisse habe durch ihre Übernahme in derWirtschaft nicht nur an Schlagkraft gewonnen – sie verselbständigte sich.Das Modell sei nicht länger nur ein mögliches Erklärungsmuster menschlichenHandelns. Das Handeln richte sich zunehmend nach dem Modell underkläre es <strong>für</strong> alternativlos, so der Warnruf von Schirrmacher. hawMarc Lindemann»Kann Töten erlaubt sein?Ein Soldat auf der Suche nach Antworten«Berlin (Econ) 2013, gebunden,256 Seiten, 19,99 EuroFrank Schirrmacher»Ego. Das Spiel des Lebens«München (Blessing) 2013,gebunden, 352 Seiten, 19,99 EuroADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 121


Foto: Crown Copyright / Alison BaskervilleIMPRESSUMAUSBLICKADLAS <strong>Magazin</strong> <strong>für</strong> Außen- und <strong>Sicherheitspolitik</strong>ist aus dem »Aktualisierten Dresdner InfoLetter <strong>für</strong> Außen- und <strong>Sicherheitspolitik</strong>«des Dresdner Arbeitskreises <strong>für</strong> Sicherheits- und Außenpolitik hervorgegangen undbesteht seit 2007. Er erscheint seit 2010 als bundesweites, überparteiliches, akademischesJournal <strong>für</strong> den Bundesverband <strong>Sicherheitspolitik</strong> an Hochschulen (BSH).Der ADLAS erscheint quartalsweise und ist zu beziehen über www.adlas-magazin.de.Herausgeber: Stefan Döllingc/o Bundesverband <strong>Sicherheitspolitik</strong> an HochschulenZeppelinstraße 7A, 53177 BonnRedaktion: Stefan Dölling (doe), Sophie Eisentraut (eis), Björn Hawlitschka (haw),Sebastian Hoffmeister (hoff), Dieter Imme (dim), Christian Kollrich (koll),Marcus Mohr (mmo) (V.i.S.d.P.), Sebastian Nieke (sn), Isabel-Marie Skierka (isk),Stefan Stahlberg (sts), Kerstin Voy (kv)Layout: mmoAutoren: Moritz Brake, Sebastian Bruns, Tobias Burgers, Robert Chatterjee, LukasFleischhauer, David Gierszewski, Sören Granzow, Markus Harder, Jana Klonikowski,Sven Kohlscheen, Caroline Mangold, Heino Matzken, Katharina Meyer, WinfriedNachtwei, Philipp Olbrich, Florian Peil, Franziska Plümmer, Tobias Schnell, KaiPeter Schönfeld, Tanja Schürmann, Helge Staff, Vanessa Tiede, Christoph Unrast,Tore WethlingDanke: Toni, S.R.Copyright: © ADLAS <strong>Magazin</strong> <strong>für</strong> Außen- und <strong>Sicherheitspolitik</strong>Zitate nur mit Quellenangabe. Nachdruck nur mit Genehmigung. Für die Namensbeiträgesind inhaltlich die Autoren verantwortlich; ihre Texte geben nicht unbedingt dieMeinung der Redaktion oder des BSH wieder.DER BUNDESVERBAND <strong>SICHERHEIT</strong>SPOLITIK AN HOCHSCHULENverfolgt das Ziel, einen angeregten Dialog über Außen- und <strong>Sicherheitspolitik</strong> zwischenden Universitäten, der Öffentlichkeit und der Politik in Deutschland herzustellen.Durch seine überparteilichen Bildungs- und Informationsangebote will derBSH vor allem an den Hochschulen eine sachliche, akademische Auseinandersetzungmit dem Thema <strong>Sicherheitspolitik</strong> fördern und somit zu einer informiertenDebatte in der Öffentlichkeit beitragen.Weitere Informationen zum BSH gibt es unter www.sicherheitspolitik.de.Ausgabe 4/2013SchwerpunktRELIGION UND <strong>SICHERHEIT</strong>Der Faktor GlaubeADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 122

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