Europa: Die Rechte in <strong>der</strong> KriseVerän<strong>der</strong>te Verhältnisse:Rassismus in Zeiten <strong>der</strong> Krise 1Bereits im Juni 2009 erklärte eine Mitarbeiterin des EuropäischenNetzwerks gegen Rassismus (Enar), Rassismus nehmemit <strong>der</strong> Krise zu (Erb 2009). Und im Vorwort einer Studie <strong>der</strong>Friedrich-Ebert-Stiftung zu »menschenfeindlichen« Einstellungenin Europa wird konstatiert, <strong>der</strong> extremen Rechten gelingees gerade in Krisenzeiten, »mit Ausgrenzungsparolen und vermeintlicheinfachen Antworten zu punkten« (Zick/Küpper/Höwermann 2011: 9).Während die Zunahme von Rassismus im Zuge einer Kriseein Gemeinplatz ist, gehen die Antworten auf die Frage nachden Gründen für das Erstarken des Rassismus in Krisenzeitenzum Teil weit auseinan<strong>der</strong>. Zum einen heißt es (vor allemvon konservativer Seite), <strong>der</strong> aufkommende Rassismus hätteseine Ursache in den sichtbaren Migrationsbewegungenbeziehungsweise in <strong>der</strong> Präsenz von Migrant_innen. An<strong>der</strong>estellen die soziale Unsicherheit o<strong>der</strong> die Angst vor sozialemAbstieg in weiten Teilen <strong>der</strong> Bevölkerung als Grund fürdie Zunahme von Rassismus heraus. Demnach würden von<strong>der</strong> Krise Verängstigte die Schuld in Migrant_innen suchenund sie zu Sündenböcken machen. Eine dritte (eher von Teilen<strong>der</strong> Linken vertretene) Position sieht Rassismus als einevon Eliten eingesetzte o<strong>der</strong> bediente Ideologie an, um Protest-und Wi<strong>der</strong>standspotentiale zu schwächen, indem rassistischeSpaltungen in die von <strong>der</strong> Krise betroffenen Gruppengetrieben werden.Alle drei Erklärungsmuster fassen Rassismus unzureichend.Die konservative Deutung führt das Problem des Rassismusauf das Vorhandensein von Migrant_innen zurück, stellt damit»Überfremdungsängste« <strong>der</strong> Mehrheitsbevölkerung insZentrum ihrer Betrachtung und verschiebt somit in Konsequenzdie Schuld den eigentlich von Rassismus Betroffenenzu. Dieser Logik folgend müsste es in Regionen, in denen wenigeMigrant_innen leben, kein Problem mit Rassismus geben,umgekehrt müsste in Regionen, in denen viele leben,Rassismus beson<strong>der</strong>s ausgeprägt sein. Meist ist aber genau<strong>der</strong> umgekehrte Fall Realität. Die ersten beiden Erklärungsmusterhaben gemein, dass sie in <strong>der</strong> Tendenz Rassismus individualisieren,psychologisieren und die emotionale Dimensionpolitischer Wi<strong>der</strong>sprüche auf ein Reiz-Reaktions-Schemabegrenzen. Dennoch unterscheidet sich die zweite Deutungvon <strong>der</strong> ersten, da nicht vom Feld <strong>der</strong> »Kultur« ausgegangenwird, son<strong>der</strong>n soziale Themen mit einbezogen werden. Esbleibt allerdings die Frage, warum Menschen, die sich »desintegriert«fühlen o<strong>der</strong> Angst vor dem Verlust von Privilegienund Rechten haben, ihre Wut gegen Migrant_innen richten(Mosler 2012: 21–26). Diese Frage nimmt wie<strong>der</strong>um die drittehier dargestellte Position auf, allerdings bleibt bei dieser auchunklar, warum <strong>der</strong> als Herrschaftsideologie eingesetzte Rassismusanschlussfähig ist und wie er konkret Menschen dazubringt, mehr Angst vor den Ohnmächtigen als den Mächtigenzu empfinden. Aus dem Blick gerät vor allem die Reichweitedes Rassismus und die Frage, wie sich Rassismus neu zusammensetztund darstellt. An<strong>der</strong>s gesagt: Es bedarf einer Analysevon Rassismus und Krise, die nicht einem statischen Verständnisvon Rassismus folgt, son<strong>der</strong>n Verän<strong>der</strong>ungen desRassismus fokussiert.Rassismus und KriseIch verstehe Rassismus im Allgemeinen als ein gesellschaftlichesVerhältnis, in dem Gruppen von Menschen anhandverschiedener echter o<strong>der</strong> erfundener Merkmale (Körper,Sprache, Kleidung, Herkunft etc.) klassifiziert werden. Dieso konstruierten Gruppen werden als dichotom gegenübergestellt,wobei den Objekten des Rassismus soziale Eigenschaftenals unverän<strong>der</strong>lich zugeschrieben werden. StuartHall sieht die gesellschaftliche Funktion des rassistischenKlassifikationsmodells darin, »soziale, politische und ökonomischePraxen zu begründen, die bestimmte Gruppen vomZugang zu materiellen o<strong>der</strong> symbolischen Ressourcen ausschließen«(Hall 2000: 7).Damit dient Rassismus mit Theodore W. Allen (1998) <strong>der</strong> sozialenKontrolle und <strong>der</strong> Aufrechterhaltung von Herrschaft.Die entsprechenden Objekte des Rassismus können dabeiwechseln, wie Allen am Beispiel katholischer Ir_innen darstellt,die im Zuge <strong>der</strong> Kolonialisierung zunächst in Englandrassistisch ausgeschlossen wurden. Nach <strong>der</strong> Auswan<strong>der</strong>ungvieler katholischer Ir_innen in die USA erhielten diese nachanfänglicher Diskriminierung sukzessive mehr Rechte undPrivilegien. Zwar gab es Versuche, die eigene Unterdrückungin Beziehung zu setzen zur rassistischen Unterdrückung vonAfroamerikaner_innen, dies setzte sich letztlich aber nichtdurch. Die »›Weißwerdung‹ wurde langsam manifest« (Allen1998: 303).Ein an<strong>der</strong>es Beispiel für die Wandlungsfähigkeit des Rassismusist die Ersetzung des Rasse-Konzepts durch das <strong>der</strong> Kulturim postkolonialen und post-nationalsozialistischen Zeitalter.Frantz Fanon hielt bereits 1956 fest, dass sich <strong>der</strong>Rassismus, »<strong>der</strong> sich rational, individuell, genotypisch undphänotypisch determiniert gibt«, sich in einen »kulturellenRassismus« verwandelt (Fanon 1972: 40). Laut Fanon ist4
die zunehmende Fokussierung auf »Kultur« statt »Rasse« vorallem im Zusammenhang mit antikolonialen Kämpfen entstanden,die den Rassismus gewissermaßen zwangen, einean<strong>der</strong>e Form einzunehmen; die traditionelle genetische beziehungsweisebiologistische geriet zunehmend in den Hintergrund.Manuela Bojadžijev (2008) greift diese Perspektiveauf, indem sie davon ausgeht, dass sich die Formen undWirkweisen des Rassismus vor allem aufgrund antirassistischerInterventionen än<strong>der</strong>n. Nach ihrer relationalen Theoriedes Rassismus werden »die Konjunkturen des Rassismus imVerhältnis zu sozialen Kämpfen bestimmt« (Bojadžijev 2008:14). Demnach sei eine Reorganisation des Rassismus, wiesie sich in <strong>der</strong> Isolierung bestimmter For<strong>der</strong>ungen und <strong>der</strong>Integration an<strong>der</strong>er ausdrückt, auf die Kämpfe von Migrant_innen zurückzuführen (Bojadžijev 2008: 76), die keineswegsnur »naive Opfer und Objekte von Rassismus und Migrationspolitiken«(Bojadžijev 2008: 13) sind, son<strong>der</strong>n letztere stetsherausfor<strong>der</strong>n, eigene For<strong>der</strong>ungen aufstellen o<strong>der</strong> Zuschreibungenzurückdrängen.Diese Verän<strong>der</strong>ungen des Rassismus müssen keineswegs insich o<strong>der</strong> in Bezug auf Macht- und Herrschaftsverhältnissekongruent sein. So können sowohl »Kultur« als auch »Rasse«gleichzeitig kategoriale Ausgangspunkte zur Hierarchisierungvon Menschen sein. Auch können Rassismus und Kapitalinteressenin Gegensatz zueinan<strong>der</strong> geraten, wenn etwa ein aufparlamentarischer Ebene vertretener und institutionell verankertervölkischer Nationalismus die für die Kapitalakkumulationnützliche Anwerbung von Fach- o<strong>der</strong> Hilfsarbeiter_innenverhin<strong>der</strong>t. Wenn wir Rassismus in Bezug auf die kapitalistischeProduktionsweise begreifen wollen, müssen wir Rassismushinsichtlich <strong>der</strong> Klassenverhältnisse zu denken versuchen.Étienne Balibar zeigte auf, dass <strong>der</strong> Begriff »Rasse« im Feudalismusdem Erbadel dazu diente, sich im Vergleich zu Sklav_innen und Leibeigenen als höherwertig zu positionieren unddie existierende Hierarchie gegenüber den Untergegebenenzu rechtfertigen. Erst mit Eingang in den »nationalistischenKomplex« bekam <strong>der</strong> Begriff seine heutige Bedeutung (Balibar1990a: 251). Innerhalb <strong>der</strong> Nationalstaaten kam es inden Industrielän<strong>der</strong>n zu einem national begrenzten Klassenkompromiss,da die einheimischen Arbeiter_innen als zur Nationzugehörig begriffen wurden und gleiche formale Rechteerhielten – im Gegensatz zu den als »fremd« identifizierten.Ceren Türkmen (2010: 213–216) hat die Aufrechterhaltungdes nationalen Klassenkompromisses am Beispiel <strong>der</strong> »Gastarbeiterära«in <strong>der</strong> Bundesrepublik konkretisiert. Mitte <strong>der</strong>1950er Jahre waren Gewerkschaften stark, was dazu führte,dass Arbeiter_innen nicht länger bereit waren, in Zeiten desWachstums und des Wirtschaftswun<strong>der</strong>s zu niedrigen Löhnenzu arbeiten. Das Kapital suchte nach Möglichkeiten, umden höheren Löhnen zu begegnen, und setzte auf eine regulierteArbeitsmigration (zunächst) aus Südeuropa, womit manzugleich auf die bereits bestehenden Migrationsbewegungenantwortete (Bojadžijev 2008: 148).»Bestandteil des sozialen Klassenkompromisses waren <strong>der</strong>Anstieg <strong>der</strong> Löhne und die Durchsetzung von Tarifverträgen,die die arbeitsrechtliche und soziale Absicherung für deutscheArbeiter und den Aufstieg innerhalb <strong>der</strong> betrieblichenArbeitsteilung sicher stellten« (Türkmen 2010: 214).Es zeigt sich hieran, dass Rassismus »ein entscheidendes Elementfür die Konstitution sozialer Klassen« ist, wie JulianeKarakayalı klarstellt (2012: 100). Wie ist, hiervon ausgehend,nun das Verhältnis von Rassismus und Krise zu betrachten?Um sich einer Antwort zu nähern, muss zunächst geklärt werden,was diese aktuelle Krise auszeichnet.Krisen stellen keinen Ausnahmezustand des Kapitalismusdar, Kapitalismus ist immanent krisenhaft. Die aktuelle Kriseist nicht nur als eine konjunkturell-zyklische, son<strong>der</strong>n mitAntonio Gramsci (1996: 1557) als eine organische Krise desneoliberalen Kapitalismus zu verstehen (Candeias 2009).Pauline Ba<strong>der</strong> u. a. (2011: 13) sprechen von einer »multiplenKrise«: Neben einer Krise <strong>der</strong> finanzdominierten Akkumulationmachen sie eine sozial-ökologische, eine Krise <strong>der</strong> Reproduktionund eine <strong>der</strong> parlamentarischen Demokratie aus (Ba<strong>der</strong>u. a. 2011: 14–23). Diese verschiedenen Krisenprozesseseien miteinan<strong>der</strong> verflochten und würden sich wechselseitigbeeinflussen.Rassismus kann und sollte dementsprechend nicht verstandenwerden als ein Phänomen, das einfach zunimmt o<strong>der</strong> garerst durch die Krise hervorgebracht wird. Ohne eine krisenbedingtstärkere Konkurrenz unter Arbeiter_innen sowie <strong>der</strong>enAngst vor sozialem Abstieg o<strong>der</strong> eine stärkere Sichtbarkeitvon Rassismus leugnen zu wollen, führt doch die Perspektiveeiner »Wechselwirkung zwischen Krise und Rassismus« weiter,wie Balibar (1990b: 262) sie vorschlägt. Demnach organisiere<strong>der</strong> Krisen-Rassismus einen neuen sozialen Konsens;es würden neue Klassen und Schichten aktiv (Balibar 1990b:263). Ein Ansatz, demzufolge schlicht die Krise zu mehr Rassismusführt, kann nicht Prozesse <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung von Machtund Herrschaft erklären, etwa wie sich in organischen Krisenneue rassistische Formationen etablieren können. Wenn wirdie aktuelle Krise als Verdichtung verschiedener Krisenprozesseverstehen, im Zuge <strong>der</strong>er sich gesellschaftliche Verhältnissetransformieren, so liegt es in Bezug auf Rassismus nahe,nicht aus <strong>der</strong> Perspektive einer statischen Rassismusanalyse,die feste Objekte und Subjekte kennt, auf die Krise zu blicken,son<strong>der</strong>n zu fragen, inwieweit sich Rassismus transformiert.Reaktivierung etablierter RassismenEs wäre analytisch verkürzt, von einem einheitlichen europäischenRassismus auszugehen, außerdem ist eine umfassendeBestimmung <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ungen des Rassismus aufgrundmangeln<strong>der</strong> Forschungen zum jetzigen Zeitpunkt nicht möglich.Dennoch lassen sich Tendenzen <strong>der</strong> Transformationenaufzeigen. Vergegenwärtigen wir uns die aktuellen Erscheinungsformendes Rassismus, lassen sich drei Ebenen voneinan<strong>der</strong>unterscheiden, auf denen dieser momentan wirkt.5
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