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„Einführung in die Kunst von Joseph Beuys und Joel-Peter Witkin“

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Hirndurst<strong>„E<strong>in</strong>führung</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong> <strong>Kunst</strong> <strong>von</strong><strong>Joseph</strong> <strong>Beuys</strong> <strong>und</strong> <strong>Joel</strong>-<strong>Peter</strong> Witk<strong>in</strong>“1


verstand sich auch als Methode oder als Forschung. <strong>Beuys</strong> orientierte sich an Ste<strong>in</strong>ers„Dreigliederung des sozialen Organismus“. Diese soziale Dreigliederung beschreibt <strong>die</strong>Gr<strong>und</strong>struktur e<strong>in</strong>er Gesellschaft, <strong>in</strong> der <strong>die</strong> Koord<strong>in</strong>ation der gesamtgesellschaftlichenLebensprozesse nicht zentral durch den Staat oder e<strong>in</strong>e Führungselite erfolgt, sondern <strong>in</strong> der dreiselbst verwaltete <strong>und</strong> relativ autonome Subsysteme sich gegenseitig <strong>die</strong> Waage halten. Für <strong>Beuys</strong>hieß es, <strong>die</strong> <strong>Kunst</strong> als Gestaltungsdirektive für <strong>die</strong> gesamte Gesellschaft zu bestimmen. Se<strong>in</strong>erMe<strong>in</strong>ung nach, führte der traditionelle <strong>Kunst</strong>begriff nur noch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Nischenexistenz . DerGestaltungsbegriff müsse sich auf den Menschen <strong>und</strong> erst recht auf <strong>die</strong> Probleme <strong>in</strong> derGesellschaft, <strong>die</strong> nach Gestaltung verlangen, beziehen. Se<strong>in</strong> Leitspruch: „Jeder Mensch ist e<strong>in</strong>Künstler!“ wurde zum Schlachtruf se<strong>in</strong>es Programms.Kommen wir zurück zum Wärmecharakter den <strong>Beuys</strong> als existenzielles Attribut ansieht. Denn erbildet auch den Schlüssel zu e<strong>in</strong>em weiteren Material, was <strong>Beuys</strong> nutzt: ℗ Filz. Es waren <strong>die</strong>tatarischen Filzdecken, <strong>in</strong> denen der verletzte <strong>Beuys</strong> nach se<strong>in</strong>er Bergung e<strong>in</strong>gewickelt wurde. Sieschützten gegen <strong>die</strong> Kälte <strong>und</strong> auch hier war es der Wärmecharakter, der <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em <strong>in</strong>nerhalbdessen was im Filz e<strong>in</strong>gepackt war, bee<strong>in</strong>flusste. Und es ist e<strong>in</strong> Naturprodukt, welches dem Tierentnommen <strong>und</strong> mittels Bewegung <strong>und</strong> Wärme <strong>in</strong> Form gebracht wird, um se<strong>in</strong>erseits wieder<strong>die</strong>se gespeicherte Wärme abzugeben. Unter <strong>die</strong>sen Gesichtspunkten kann auch <strong>die</strong> Installation „9Filzblöcke“ eher verstanden werden. Dabei hat <strong>Beuys</strong> abwechselnd Filz,- Eisen- <strong>und</strong> Kupferplattenübere<strong>in</strong>ander geschichtet. Wir müssen phänomenologisch an <strong>die</strong> Plastik herantreten. Wenn Filz <strong>die</strong>Wärme repräsentiert, so haben wir mit Kupfer <strong>und</strong> Eisen nicht nur e<strong>in</strong> vollkommenentgegengesetztes Material, sondern zudem auch gr<strong>und</strong>verschiedene Eigenschaften. Kupfer <strong>und</strong>Eisen haben Leitcharakter. In Verb<strong>in</strong>dung mite<strong>in</strong>ander haben wir e<strong>in</strong>en regelrechten„Wärmespeicher“, e<strong>in</strong>e Form der natürlichen Batterie. Das Metall leitet <strong>die</strong> im Filz gespeicherteWärme an <strong>die</strong> nächste weiter <strong>und</strong> lädt den Block auf. Mit <strong>die</strong>ser Batterie hätten wir <strong>die</strong>notwendige Wärme <strong>und</strong> den Gestaltungsprozess weiterzuführen. Es könnten jetzt noch zig weiterWerke untersucht werden, doch das strapaziert den Vortrag. Die gr<strong>und</strong>legende Herangehensweisean <strong>Beuys</strong>sche Plastik, Zeichnung <strong>und</strong> Installation sollte hiermit dargelegt se<strong>in</strong>. Es geht immerdarum, was sich h<strong>in</strong>ter dem D<strong>in</strong>g bef<strong>in</strong>det <strong>und</strong> wie es sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Ontologie im Zusammenhangmit dem Material zeigt. Es ist nicht zbsp das Tier Hase, was bei <strong>Beuys</strong> e<strong>in</strong>geb<strong>und</strong>en wird, sonderndas, wofür er steht <strong>und</strong> wie se<strong>in</strong> Wesen mit den D<strong>in</strong>gen <strong>und</strong> dem Material <strong>in</strong>teragiert. Erst <strong>in</strong> derGesamtschau eröffnet sich das Verständnis. Was nicht unerwähnt bleiben darf, s<strong>in</strong>d <strong>die</strong><strong>Beuys</strong>schen Aktionen. Und auch hier soll zum Schluss nur e<strong>in</strong> Beispiel herausgegriffen <strong>und</strong>11


etrachtet se<strong>in</strong>. Vorher ist es notwendig auf e<strong>in</strong>en Begriff e<strong>in</strong>zugehen, der ebenfalls untrennbarmit <strong>Joseph</strong>y <strong>Beuys</strong> verb<strong>und</strong>en ist: Fluxus. ℗Fluxus ist e<strong>in</strong>e <strong>in</strong> den 60er-Jahren entstandene neodadaistische Bewegung, deren Philosophie <strong>und</strong>Konzept dar<strong>in</strong> bestand, <strong>die</strong> Grenzen <strong>von</strong> <strong>Kunst</strong> <strong>und</strong> Leben fließend (fluxus = fließen) zu gestalten.Ausgehend vom Koreaner Nam June Paik schlossen sich viele bekannte Künstler <strong>die</strong>ser neuenTradition an, Yoko Ono, Bazon Brock oder John Cage, um nur drei zu nennen. Im Gegensatz zum„Happen<strong>in</strong>g“, e<strong>in</strong>er Aktion <strong>in</strong> dem das Publikum e<strong>in</strong>geb<strong>und</strong>en war, wurde Fluxus wie im Theateraufgeführt, also das Publikum <strong>in</strong> der Zuschauerposition belassen. Es galt <strong>die</strong> <strong>Kunst</strong> nicht untere<strong>in</strong>em ästhetischen Gesichtspunkt zu präsentieren, sondern e<strong>in</strong>em sozialen. Alles was der <strong>Kunst</strong><strong>die</strong>nen konnte, wurde <strong>in</strong> <strong>die</strong> Aktion e<strong>in</strong>geb<strong>und</strong>en, Objekte, Installationen, Musik <strong>und</strong> auch Tiere.Fluxus-Aktionen waren weder an Ort, noch an Zeit geb<strong>und</strong>en, hatten weder e<strong>in</strong>e feste Dauer, noche<strong>in</strong>e klare Struktur. Sie entstanden im Leben. <strong>Beuys</strong> Aktion „<strong>und</strong> <strong>in</strong> uns... unter uns... landunter“zbsp. dauerte 24 St<strong>und</strong>en. Andere Aktionen wuchsen sich zu Me<strong>die</strong>nereignissen aus. ℗ ImRahmen des „Festival der <strong>Kunst</strong>“ <strong>in</strong> Aachen sollte dem Widerstand des 20.Juli gedacht werden. Eswurden Parolen <strong>in</strong> Wort <strong>und</strong> Bild geschwungen, Bazon Brock lass Marx <strong>und</strong> Hegel, <strong>Beuys</strong> kochteFett <strong>und</strong> modellierte Fettecken, g<strong>in</strong>g zu e<strong>in</strong>em Klavier, schüttete wahllos D<strong>in</strong>ge h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> <strong>und</strong> prüfteden Ton. Sche<strong>in</strong>bar unzufrieden lieh er sich e<strong>in</strong>en Bohrer <strong>und</strong> behandelte das Klavier damit. Erstdann schien es für ihn wie Musik zu kl<strong>in</strong>gen. In der Presse wurde dann darüber aufgeklärt, dass der<strong>Kunst</strong>professor aus Düsseldorf ke<strong>in</strong>eswegs improvisierte, sondern nach „Noten“ bohrte. Die Notenwaren braune Kleckse auf Notenpapier. Jedenfalls war das für e<strong>in</strong>ige Zuschauer zu viel. Siestürmten <strong>die</strong> Bühne <strong>und</strong> e<strong>in</strong> Student schlug <strong>Beuys</strong> <strong>die</strong> Nase blutig. <strong>Beuys</strong> reagiertegeistesgegenwärtig, nahm e<strong>in</strong> Plastikkruzifix <strong>in</strong> <strong>die</strong> Hand, hielt es <strong>in</strong> <strong>die</strong> Menge <strong>und</strong> verteilteSchokolade. Die Aktion demonstrierte auf bee<strong>in</strong>druckende Weise, wie schnell sich im hoch<strong>in</strong>tellektuellen Milieu <strong>die</strong> Intoleranz e<strong>in</strong>schlich <strong>und</strong> gab der Veranstaltung letztendlich se<strong>in</strong>eS<strong>in</strong>nhaftigkeit. Und <strong>Beuys</strong> demonstrierte ebenfalls e<strong>in</strong>drucksvoll, dass für Toleranz <strong>und</strong> <strong>Kunst</strong> Opfergebracht werden müssen. Mitte der 70er Jahre war <strong>Beuys</strong> e<strong>in</strong> <strong>in</strong>ternational bekannter Künstler mitAusstellungen <strong>und</strong> Aktionen weltweit. ℗ Mit se<strong>in</strong>er Aktion „I like America and America likes me“,veranschaulichte er wieder mal auf radikale Weise, wie e<strong>in</strong>e Aktion <strong>die</strong> Normalität derbestehenden Verhältnisse durchbrach. Ort ist New York, <strong>die</strong> Protagonisten s<strong>in</strong>d <strong>Joseph</strong> <strong>Beuys</strong> <strong>und</strong>e<strong>in</strong> Kojote. 3 Tage lang, e<strong>in</strong>gesperrt mit Little John, legte er Filzplatten aus, stapelte <strong>die</strong> Wash<strong>in</strong>gtonPost aufe<strong>in</strong>ander <strong>und</strong> brachte das Tier dazu, den Filz zu zerreißen. Immer im Gespräch mit demKojoten. Die ganze Zeit war <strong>Beuys</strong> <strong>in</strong> Filz gewickelt <strong>und</strong> nur e<strong>in</strong> Spazierstock ragte heraus. Nach12


dem der Kojote sich auf <strong>die</strong> Filzplatten bettete, schlief <strong>Beuys</strong> auf Little Johns Strohlager. Wiederwar es der Wärmecharakter der <strong>die</strong> Annäherung ane<strong>in</strong>ander brachte. Was <strong>Beuys</strong> mit e<strong>in</strong>fachenMitteln darstellte brachte Carol<strong>in</strong>e Tisdall auf den Punkt: „Dann kam der weiße Mann <strong>und</strong> mit ihm<strong>die</strong> Veränderung des Status des Koyoten (als heiliges Tier der Indianer). Se<strong>in</strong>e bew<strong>und</strong>ertehimmlische subversive Kraft wurde degra<strong>die</strong>rt...[...] Es wurde der „mean coyote“ aus ihm , <strong>und</strong> weiler jetzt als antisoziale Plage e<strong>in</strong>geordnet war, konnte <strong>die</strong> weiße Gesellschaft legalisiert Rache anihm nehmen <strong>und</strong> ihn jagen.“℗ Das Beispiel zeigt ganz gut, dass <strong>Beuys</strong> sich nie schonte, immer bis an <strong>die</strong> Grenzen derBelastbarkeit g<strong>in</strong>g <strong>und</strong> vollständig <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Vision <strong>von</strong> der schöpferischen Kraft der <strong>Kunst</strong> aufg<strong>in</strong>g.Er war zwar e<strong>in</strong> Moralist aber immer bestrebt, se<strong>in</strong>em Publikum <strong>die</strong> eigene schöpferische Kraftaufzuzeigen <strong>und</strong> präsentierte sich selbst als Beispiel. <strong>Kunst</strong> war Therapie <strong>und</strong> hatte das Potenzial<strong>in</strong>ne, nicht nur das schlimmste Leid ertragen zu können, sondern den Menschen vor dem Abgr<strong>und</strong>der Hoffnungslosigkeit wegzuziehen. Bei Nietzsche kündigte Zarathustra den Übermenschen an, <strong>in</strong>der <strong>Kunst</strong> sah sich <strong>Joseph</strong> <strong>Beuys</strong> selbst als jener Zarathustra. <strong>Beuys</strong> starb am 23.Januar 1986, elfTage nach se<strong>in</strong>er Ehrung mit dem Wilhelm-Lehmbruck-Preis der Stadt Duisburg.Pause℗2. <strong>Joel</strong>-<strong>Peter</strong> Witk<strong>in</strong>Betreten wir nun <strong>die</strong> Welt e<strong>in</strong>es noch lebenden Künstlers <strong>und</strong> der Besuch <strong>die</strong>ser Welt hatÄhnlichkeiten mit Dantes „Göttlicher Komö<strong>die</strong>“. In <strong>die</strong>sem Fall verkörpert Ihr Dante, während ich,als unerschrockener Vergil, Euch den Weg durch den Trichter der Hölle ebne <strong>und</strong> als Führer <strong>die</strong>ne.Ihr werdet stocken, staunen, Euch mit Abscheu abwenden <strong>und</strong> zugleich dem Begriff des Schönenoder Ästhetischen neu verstehen lernen. Am 13.September 1939 kam <strong>Joel</strong>-<strong>Peter</strong> Witk<strong>in</strong> <strong>in</strong>Brooklyn als Drill<strong>in</strong>g zur Welt; e<strong>in</strong>em Bruder <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er Schwester. Als Sohn e<strong>in</strong>es jüdischen Vaters<strong>und</strong> e<strong>in</strong>er katholischen Mutter wuchs er, wie auch <strong>Beuys</strong>, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em streng religiösen Umfeld auf,wobei dessen Unterschiedlichkeit dazu führte, dass <strong>die</strong> Ehe nicht standhielt. Witk<strong>in</strong> selbst ist festim katholischen Glauben, jedoch nicht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er strengen Doktr<strong>in</strong> der Offenbarung, sondern erzeigt sich als kritischer Geist, wie wir sie aus der scholastischen Theologie des 12.Jh, namentlichAnselm of Canterbury oder <strong>Peter</strong> Abaelardus, her kennen. Mit 17 bekam Witk<strong>in</strong> <strong>von</strong> se<strong>in</strong>eme<strong>in</strong>eiigen Zwill<strong>in</strong>gsbruder Jerome e<strong>in</strong>e Kamera geschenkt <strong>und</strong> er bat ihn auf dem örtlichenJahrmarkt Fotos zu machen. Das war der Beg<strong>in</strong>n für Witk<strong>in</strong>s lebenslange Leidenschaft an <strong>und</strong> mit13


der Fotografie.Von 1961 bis 64 war Witk<strong>in</strong> als Kriegsfotograf <strong>in</strong> Vietnam tätig <strong>und</strong> entschloss sich nach se<strong>in</strong>erRückkehr als freiberuflicher Fotograf weiter tätig zu bleiben. Er schlug sich als Fotoassistent, wieauch als festangestellter Fotograf bei der Firma „City Walls Inc.“ <strong>in</strong> New York durch. 1970entscheidet er sich für das <strong>Kunst</strong>studium an der Cooper Union mit dem Schwerpunkt aufBildhauerei, ohne <strong>die</strong> Fotografie aus den Augen zu verlieren. Es folgt 1974 der Abschluss als BA ofF<strong>in</strong>e Arts <strong>und</strong> e<strong>in</strong> Stipendium. Er verlässt 75 New York <strong>und</strong> geht nach Albuquerque, New-Mexico<strong>und</strong> schreibt sich an der dortigen Universität <strong>in</strong> <strong>die</strong> Fächer <strong>Kunst</strong> <strong>und</strong> <strong>Kunst</strong>geschichte e<strong>in</strong>. 1976verlässt er <strong>die</strong> Universität als MA of F<strong>in</strong>e Arts.Schon während se<strong>in</strong>es Studium <strong>in</strong> New York hatte Witk<strong>in</strong> angefangen, <strong>in</strong>spiriert durch Mensch,Literatur <strong>und</strong> Glauben, eigene Bildideen umzusetzen. Der erste Kreis der Witk<strong>in</strong>schen Höllegestaltet sich noch harmlos <strong>und</strong> Witk<strong>in</strong> befand sich <strong>von</strong> 71-75 <strong>in</strong> der Phase „Zeitgenössischer Bilder<strong>von</strong> Jesus. Das Foto „Ecce Homo“ <strong>von</strong> 1975 zeigt e<strong>in</strong>en Homosexuellen, der Witk<strong>in</strong> mit der NewYorker Schwulen, - <strong>und</strong> Transvestitenszene bekannt gemacht hatte. Se<strong>in</strong> „schwuler Jesus“ warBlasphemie, doch ℗ stellt Wikt<strong>in</strong> h<strong>in</strong>ter der narzisstischen Pose <strong>und</strong> der Provokation <strong>die</strong> Frage, ob<strong>die</strong>ser Jesus nicht auch verehrungswürdig war, speziell für <strong>die</strong> Homosexuellen.Die Aufnahmen vom Beg<strong>in</strong>n der 70er zeigen Witk<strong>in</strong>s Ause<strong>in</strong>andersetzung mit sich <strong>und</strong> der Suchenach Identität. ℗ Fotografisch war ihm bis dato nur <strong>die</strong> <strong>Kunst</strong> August Sanders bekannt, <strong>die</strong> ihn tiefbee<strong>in</strong>druckte. Witk<strong>in</strong>, geprägt durch se<strong>in</strong>e K<strong>in</strong>dheit, dem Verlust se<strong>in</strong>er Zwill<strong>in</strong>gschwester <strong>und</strong>konfrontiert mit Tod <strong>und</strong> Verderben im Vietnamkrieg, war dem Mensch e<strong>in</strong> Rätsel. Sander verstandes <strong>die</strong> Individualität se<strong>in</strong>er Menschen mittels der Kamera herauszuarbeiten; sie zu demaskieren.Gabriel Hochfels schreibt dazu <strong>in</strong> „Zögl<strong>in</strong>g <strong>und</strong> Meister“, dass für Witk<strong>in</strong> Raum <strong>und</strong> Zeit unantastbarblieben <strong>und</strong> ihm jede Menschenkenntnis fremd war; er „kannte <strong>die</strong> Mitmenschen nie anders alsmaskiert, so wie er sich selbst als maskiert empfand <strong>und</strong> sich unwirklich vorkam, wie e<strong>in</strong>e Illusion,<strong>die</strong> aus Fragen bestand.“ ℗ Die Welt präsentierte Witk<strong>in</strong> den Menschen <strong>in</strong> dauerndenZwangslagen; das geht aus se<strong>in</strong>en Tagebüchern hervor, <strong>die</strong> als junger Mensch geführt hat. Erbesitzt e<strong>in</strong>en sensiblen Geist, der <strong>in</strong> der Gesellschaft das Dunkle, Verdrängte <strong>und</strong> dasUnterschiedliche erblickt. Und er sieht das Leid. Witk<strong>in</strong>s Werke s<strong>in</strong>d der Versuch, dembestehenden Leid e<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n zu geben; er kann es nicht beseitigen, doch er gibt dem Leid e<strong>in</strong>Gesicht, macht es zugänglich <strong>und</strong> schafft somit Gerechtigkeit <strong>und</strong> hebt <strong>die</strong> Unterschiedlichkeit auf.Religion, Spiritualität <strong>und</strong> <strong>Kunst</strong> s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> drei Essenzen, <strong>die</strong> Witk<strong>in</strong> meisterhaft mite<strong>in</strong>anderverknüpft. Wie für <strong>Beuys</strong> be<strong>in</strong>halten für Witk<strong>in</strong> <strong>die</strong>se Komponenten <strong>die</strong> ultimative Kraft zum14


Erschaffen. Und Ende der 70er entfaltete sich <strong>die</strong>se Kraft ihn ihm, <strong>die</strong> zu se<strong>in</strong>en surrealen,traumartigen <strong>und</strong> erschreckenden Arbeiten führten. ℗ „The Kiss“ <strong>von</strong> 1982 zeigt <strong>die</strong> Köpfe zweieralter Männer <strong>die</strong> sich mit geschlossenen Augen zu e<strong>in</strong>em Kuss vere<strong>in</strong>t haben. Als Witk<strong>in</strong> <strong>die</strong>Erlaubnis erhielt, den Kopf e<strong>in</strong>es Leichnams zu fotografieren, wusste er nicht, dass der Kopf schonpräpariert war. Als er <strong>in</strong> platzieren wollte, zerfiel er <strong>in</strong> zwei Hälften <strong>die</strong> vollkommen identischwaren. Sie verkörperten für ihn zwei Aspekte des gleichen Wesens, welche nach unendlicher Zeitder Trennung wieder zue<strong>in</strong>anderfanden <strong>und</strong> <strong>die</strong>ses Wiedersehen mit e<strong>in</strong>em Kuss besiegelten. Wares immer der Malerei <strong>und</strong> Bildhauerei vorbehalten, <strong>die</strong> Mythen, Götter <strong>und</strong> das Übers<strong>in</strong>nlichedarzustellen, sollte es Witk<strong>in</strong> schaffen, <strong>die</strong>se <strong>in</strong> <strong>die</strong> Photographie zu transformieren. Witk<strong>in</strong> istimmer bestrebt, das was <strong>die</strong> E<strong>in</strong>bildungskraft hervorbr<strong>in</strong>gt, <strong>in</strong> <strong>die</strong> Wirklichkeit zu übertragen.℗Se<strong>in</strong> „Fetishist“ <strong>von</strong> 1981 ist e<strong>in</strong>e Hommage an e<strong>in</strong>er se<strong>in</strong>er Vorbildern, der se<strong>in</strong>er Zeit dasSubtile <strong>in</strong> der Wirklichkeit festhielt, <strong>in</strong> dem er <strong>die</strong> Kamera unbarmherzig auf das Wirkliche hielt.Arthur Fellig, besser bekannt als Weegee war e<strong>in</strong> Fotojournalist <strong>in</strong> den 30ern. Se<strong>in</strong>e Bilder zeigenauf erschreckende Weise wie sich der Mensch <strong>in</strong> der zufälligen Begegnung mit Tod <strong>und</strong> Gewaltverhält, <strong>in</strong> dem er es <strong>von</strong> sich weist <strong>und</strong> sich <strong>in</strong> den Mantel der Nichtbetroffenheit wickelt.Unbeteiligte Gesichter <strong>die</strong> doch voller Schaulust <strong>und</strong> Gier s<strong>in</strong>d.℗ Der Fetishist hüllt sich gleichsam<strong>in</strong> se<strong>in</strong> <strong>in</strong>nerstes e<strong>in</strong>, grenzt sich ab <strong>von</strong> dem Außen, ist unbeteiligt, <strong>und</strong> f<strong>in</strong>det <strong>in</strong> der Gewalt, <strong>die</strong>ihm widerfährt, <strong>die</strong> Lust. Wie schon erwähnt entwickelte Witk<strong>in</strong> sehr früh e<strong>in</strong> Gefühl für das„Andere“, für das Dunkle <strong>und</strong> Mystische. Vor se<strong>in</strong>er Kamera f<strong>in</strong>den sich all jene e<strong>in</strong>, denen Gewaltangetan wurde, jedoch ke<strong>in</strong>e Gewalt <strong>in</strong> Form <strong>von</strong> Verbrechen.℗ Es s<strong>in</strong>d Lilliputaner, Amputierte,Transvestiten, Krüppel, Fette, Magersüchtige, Homosexuelle, Freaks <strong>und</strong> schließlich der Tod,welche er zu se<strong>in</strong>en Protagonisten macht. Es s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Außenseiter der Gesellschaft, <strong>die</strong> Hässlichen<strong>und</strong> Verstoßenen. Witk<strong>in</strong> setzt e<strong>in</strong>e Serie fort, <strong>die</strong> schon Diane Arbus <strong>in</strong> den 60ern begonnen hat.Auch sie hatte e<strong>in</strong>e Aff<strong>in</strong>ität zu Randgestalten. ℗ Sie erfahren Gewalt <strong>in</strong> Form <strong>von</strong> angewidertenBlicken voll <strong>von</strong> Ablehnung, s<strong>in</strong>d „etwas“, aber nicht „jemand“, <strong>und</strong> werden wenn, nur alsAttraktion e<strong>in</strong>es Kuriositätenkab<strong>in</strong>etts wahrgenommen. Wenn Witk<strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Protagonisten vor <strong>die</strong>Kamera holt, dann nicht um uns mit der Holzhammermethode weiter das Ausgegrenzte zupräsentieren, sondern er zollt ihnen <strong>die</strong> höchste Bew<strong>und</strong>erung. Er folgt Diane Arbus Gedanken,dass jene Wesen ihre lebenslange Strafe zu Lebzeiten schon erhalten haben <strong>und</strong> sie mitaristokratischer Würde ertrugen. ℗ Witk<strong>in</strong>s „Un Santo Obscuro“ <strong>von</strong> 1987 ist <strong>die</strong> visuelleÜbersetzung <strong>die</strong>ses Gedankens. Ohne Arme, Be<strong>in</strong>e <strong>und</strong> Augenlider geboren, bestand das Leben<strong>die</strong>ses Jungen nur aus Schmerz <strong>und</strong> Leid. Gleich dem Heiligen Sebastian, e<strong>in</strong> moderner Märtyrer,15


zieht er den Pfeil aus dem gemarterten Körper <strong>und</strong> hofft auf <strong>die</strong> Erlösung im Jenseits. ℗ VeraLittle, <strong>die</strong> Protagonisten <strong>in</strong> „Humor and Fear“ <strong>von</strong> 1998 war e<strong>in</strong>st e<strong>in</strong>e Meister<strong>in</strong> im <strong>Kunst</strong>turnen,danach Nacktänzer<strong>in</strong>. In Folge e<strong>in</strong>es toxischen Schocks wurden Ihr <strong>die</strong> F<strong>in</strong>ger, Brüste <strong>und</strong> Be<strong>in</strong>eamputiert. Witk<strong>in</strong>s Worte spiegeln <strong>die</strong> Ehrfurcht wieder, mit dem er <strong>die</strong>ses Foto kommentiert: „AmFlughafen holte ich sie ab – sie kam mir vor wie e<strong>in</strong> Roboter auf Prothesen. Wir umarmten uns. DerFlug hatte sie ermüdet; wir g<strong>in</strong>gen früh zu Bett. Um Mitternacht hörte ich, wie sie zum Badezimmer<strong>und</strong> wieder zurück kroch. Es bewegte mich tief, <strong>die</strong>sen Kampf <strong>in</strong> der Dunkelheit mit anzuhören. Wares doch das erste Mal, dass ich an der Lebenswirklichkeit e<strong>in</strong>es Modells teilgenommen hatte. Mirwurde bewußt, welche Auszeichnung es für mich ist, <strong>die</strong>se e<strong>in</strong>zigartigen Menschen zu kennen, <strong>die</strong>so geheimnisvoll <strong>in</strong> me<strong>in</strong> Leben treten.“Dieses Fe<strong>in</strong>gefühl geht e<strong>in</strong>er nach Idealen <strong>und</strong> Normen strebenden Gesellschaft vollkommen ab.Was Schön <strong>und</strong> Ästhetisch, Normal <strong>und</strong> Abnormal ist bestimmt <strong>die</strong> jeweilige Kultur durchHandauflegen, bzw. mit der Willkür e<strong>in</strong>er religiösen, technischen, künstlerischen, sozialen oder wieauch immer gearteten Ideologie. In Folge dessen erfolgt <strong>die</strong> Reduzierung <strong>und</strong> <strong>die</strong> Ausgrenzung, wiesie schon <strong>in</strong> der „Dialektik der Aufklärung“ <strong>von</strong> Horkheimer/Adorno beschrieben wurde. In e<strong>in</strong>erhomogenen blauen Welt darf man nicht nicht Gelb se<strong>in</strong> <strong>und</strong> der Vorwurf des Perversen wird demunterstellt, der sich das Gelbe ansieht, ohne es zu bespucken oder es mit der gleichen Toleranzbetrachtet wie den blauen Menschen. Witk<strong>in</strong> zeigt es uns am Beispiel e<strong>in</strong>er Miss Wahl ℗ <strong>von</strong> 1946<strong>und</strong> stellt se<strong>in</strong>e Arbeit „Ab<strong>und</strong>ance“ <strong>von</strong> 1997 gegenüber. Für Witk<strong>in</strong> gibt es ke<strong>in</strong>en Unterschied <strong>in</strong>Sachen Schönheit; das Abnorme ist nicht weniger Betrachtungs- <strong>und</strong> Verehrungswürdig. Während<strong>die</strong> tugendhaften, durch e<strong>in</strong>e <strong>von</strong> Moral <strong>und</strong> Idealen durchtriebenen Jury gewählten Missesmaximal <strong>die</strong> Kraft zum Lächeln aufbr<strong>in</strong>gen müssen, besitzt Mirka, <strong>die</strong> Frau ohne Be<strong>in</strong>e <strong>und</strong> Hände,<strong>die</strong> Kraft e<strong>in</strong> ganzes Leben zu meistern, <strong>in</strong> dem jeder Handgriff zur Herausforderung <strong>und</strong> jederSchritt nach Vorne zur olympischen Diszipl<strong>in</strong> wird. Sie wird zur Ikone <strong>und</strong> präsentiert e<strong>in</strong>e nahezuüberirdische Schönheit, <strong>die</strong> dem entgeht, der sich der Umklammerung des Ideals nicht entw<strong>in</strong>denkann.℗ Witk<strong>in</strong>s Welt s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Mythen <strong>und</strong> im grausamen Spiel der Götter f<strong>in</strong>det er <strong>die</strong> Analogie zumgegenwärtigen Seelenzustand des Menschen. Kaum e<strong>in</strong>er zeigt sich Verw<strong>und</strong>ert über denEgoismus <strong>und</strong> Willkür der Götter, <strong>die</strong> re<strong>in</strong> zu ihrem himmlischen Vergnügen über den Menschenherfallen. Göttervater Zeus schwängert, raubt <strong>und</strong> bestraft wie es ihm beliebt, oder wenn Apollo<strong>und</strong> Athene, sich ihrer Niederlagen nicht e<strong>in</strong>gestehend, ℗den Gew<strong>in</strong>ner für se<strong>in</strong>e Leistungbestrafen, <strong>in</strong> dem Marsias gehäutet <strong>und</strong> Arachne <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Sp<strong>in</strong>ne verwandelt wird.16


Die Literatur, bildende <strong>Kunst</strong>, Künstler <strong>und</strong> Vertreter der Epochen bilden <strong>die</strong> Gr<strong>und</strong>lage für dasWitk<strong>in</strong>sche Portfolio. ℗Se<strong>in</strong>e Götter <strong>und</strong> Ikonen werden im Stile der Tableaux Vivants dargestellt,wie sie gegen Ende des 18.Jh. aufkamen. Dabei galt es, Werke der Malerei <strong>und</strong> Plastik mitlebenden Personen nachzustellen. Die moderne Form des Tableaux Vivant f<strong>in</strong>det man heute aufden großen Plätzen der Metropolen, wo sich der Künstler als „lebende Statue“ präsentiert. UndWitk<strong>in</strong> bezieht sich auf e<strong>in</strong>e Vielzahl <strong>von</strong> Werken alter Meister <strong>und</strong> namhafter Künstler. Doch esgeht ihm nicht, wie oftmals unterstellt, um Kopie, sondern um völlige Neu<strong>in</strong>terpretation. ℗DerKünstler ist gleich e<strong>in</strong>em Heiligen der <strong>die</strong> Worte Gottes dem beschränkten Geist überbr<strong>in</strong>gt. In demer <strong>die</strong> Werke der <strong>von</strong> Miro, Picasso, Bern<strong>in</strong>i <strong>und</strong> vielen mehr auf se<strong>in</strong>e Art <strong>in</strong>terpretiert, ehrt er Ihregrandiose Schaffenskraft. Dazu Hochfels: „<strong>Joel</strong>-<strong>Peter</strong> Witk<strong>in</strong> ist das Musterbeispiel e<strong>in</strong>esPhotographen, dessen Werdegang <strong>und</strong> Inspiration <strong>von</strong> der malerei- <strong>und</strong> der Bildhauerei – geprägts<strong>in</strong>d <strong>und</strong> der es versteht, <strong>die</strong> bildende <strong>Kunst</strong> zu se<strong>in</strong>em formalen wie spirituellen Vorbild zu machen<strong>und</strong> sich doch <strong>von</strong> ihr zu befreien, um se<strong>in</strong>en eigenen Gedanken <strong>und</strong> Visionen <strong>die</strong> zw<strong>in</strong>gende Formzu geben, <strong>die</strong> sie verlangen“. Witk<strong>in</strong> b<strong>in</strong>det <strong>die</strong> alte <strong>Kunst</strong> konsequent <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Schaffen e<strong>in</strong> <strong>und</strong>sucht sich nicht willkürlich Werke aus. Er fotografiert nur D<strong>in</strong>ge an <strong>die</strong> er glaubt <strong>und</strong> <strong>die</strong> für ihn <strong>in</strong>der Wirklichkeit existieren. Wenn er <strong>die</strong> abgetrennten Gliedmaßen Verstorbener, oder ganzeLeichname zeigt, dann nicht um <strong>die</strong> Befreiung der <strong>Kunst</strong> <strong>von</strong> jeglicher Konvention zu untermauern,sondern weil er sogar im toten Fleisch mehr Wirklichkeit erfährt, als jede E<strong>in</strong>bildungskraft jehervorbr<strong>in</strong>gen vermag. ℗Die Werke Michelangelos, Bern<strong>in</strong>is oder Leonardo da V<strong>in</strong>ci mögen e<strong>in</strong>eüberwältigende Schöpfung se<strong>in</strong>, doch s<strong>in</strong>d sie immer <strong>von</strong> e<strong>in</strong>em Menschen erschaffen worden. DasFleisch, auch das leblose ist der Beweis für <strong>die</strong> Schöpfungskraft Gottes, dessen Wege bekanntlichunergründlich s<strong>in</strong>d. Witk<strong>in</strong> spricht <strong>von</strong> der „Gewalt der Wirklichkeit“, wenn er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em nahezutranceähnlichem Zustand <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Arbeit e<strong>in</strong>taucht. In weiteren Äußerungen f<strong>in</strong>den wir parallele zu<strong>Beuys</strong>: „Der Künstler ist e<strong>in</strong> Schamane, e<strong>in</strong> Priester <strong>und</strong> e<strong>in</strong> Mystiker, der <strong>in</strong> der Lage ist, sich aufe<strong>in</strong>er höheren Ordnung auf den Dialog zwischen dem Unsichtbaren <strong>und</strong> dem Sichtbarene<strong>in</strong>zulassen.“ Diesen Dialog führt Witk<strong>in</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Daguerrotypien auf unterschiedliche Arten <strong>und</strong>mit den unterschiedlichen Gattungen. ℗Werke wie „Harvest“, er<strong>in</strong>nern an <strong>die</strong> Stilleben e<strong>in</strong>esGuiseppe Arcimboldo, während ℗ „Feast of Fools“ jene <strong>die</strong> Arbeiten Jan Davidz de Heem nahelegen, erweitert mit den Elementen e<strong>in</strong>er grauenhaften Vergänglichkeit. Mit „Anna Achmatowa“ ℗<strong>von</strong> 1998 verknüpft Witk<strong>in</strong> klassische Vanitaselemente mit dem Gedanken über denjenigen, deme<strong>in</strong>st der Arm gehört hat. Oder repräsentiert er nur den verlorenen Arm jener griechischenSkulptur?17


E<strong>in</strong> anderer Höllenkreis präsentiert sich uns <strong>in</strong> der Darstellung mit religiösem Inhalt. Teils Stilleben,teils antiken Skulpturen nachempf<strong>und</strong>en. ℗ E<strong>in</strong> „schwuler Heiliger“ wird zum wiederbelebten„Heiligen Sebastian“, <strong>in</strong> „Still Life with Mirror“ ℗zw<strong>in</strong>gt sich Witk<strong>in</strong> zur leiblichen Erfahrung, <strong>in</strong> demer Nägel <strong>in</strong> den abgetrennten Fuß schlägt. Den Höhepunkt se<strong>in</strong>er Selbsterfahrung f<strong>in</strong>det erschließlich mit se<strong>in</strong>em Werk „Crucified Horse“. Inspiriert durch Männerbünde, <strong>die</strong> sich <strong>in</strong> derNachfolge Christi sahen <strong>und</strong> sich geißelten, erschuf er „Penitente“. ℗L<strong>in</strong>ks <strong>und</strong> rechts <strong>von</strong> „Jesus“f<strong>in</strong>den sich Dysmas <strong>und</strong> Gestas als tote Kapuz<strong>in</strong>eräffchen wieder. Deren Katalognummernveranlassten Witk<strong>in</strong> dazu, dem Gekreuzigten <strong>die</strong> Nummer auf den Körper zu schreiben <strong>und</strong> erschufsomit, ohne erste Intention, e<strong>in</strong> verwirrendes Mahnmal für den Holocaust. Witk<strong>in</strong> durchbrichtwahrlich jedes Vorstellungsvermögen <strong>und</strong> wir s<strong>in</strong>d geneigt ihn für <strong>die</strong> Pietätlosigkeit <strong>und</strong>Blasphemie zu verurteilen. ℗ Doch würden wir damit unrecht tun, denn alle Beteiligten, Ärzte,Protagonisten, Angehörige <strong>und</strong> Modelle haben übere<strong>in</strong>stimmend den höchst respektvollen <strong>und</strong>sensiblen Umgang gelobt, den Witk<strong>in</strong> im Umgang mit den sterblichen Überresten zeigte. Se<strong>in</strong>eWerke mit toten Babies <strong>und</strong> Leichen stehen auch symbolisch für <strong>die</strong> ewige Suche nach derverstorbenen Zwill<strong>in</strong>gsschwester, womit aber auch gleichzeitig ihrer Gedacht wird. Se<strong>in</strong>eArrangements s<strong>in</strong>d zum e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>e visuelle creatio ex nihilo <strong>und</strong> gleichzeitig e<strong>in</strong>e Würdigung expost. Zu dem Mystiker, Schamanen <strong>und</strong> Künstler Witk<strong>in</strong> gesellt sich noch der Alchimist, der <strong>in</strong> derZusammenstellung der Elemente e<strong>in</strong>e Synthese <strong>und</strong> Neuerschaffung sucht. Witk<strong>in</strong>sRequisitenkammer, oder sollte man besser Asservatenkammer sagen, be<strong>in</strong>haltete jedes Element<strong>und</strong> e<strong>in</strong> jedes f<strong>in</strong>det se<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>satz. Alles brodelt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em riesigen Kessel, dessen philosophischerInhalt mit den Gewürzen Mystik, Religion, Kultur <strong>und</strong> <strong>Kunst</strong> zu e<strong>in</strong>er neuen Substanz kocht, <strong>die</strong> esso <strong>in</strong> der Photographie nie gegeben hat <strong>und</strong> <strong>in</strong> der Form wohl auch nicht mehr geben wird.℗ <strong>Joseph</strong> <strong>Beuys</strong> <strong>und</strong> <strong>Joel</strong>-<strong>Peter</strong> Witk<strong>in</strong> s<strong>in</strong>d Künstler, <strong>die</strong> fest an <strong>die</strong> schöpferischen Kraft der <strong>Kunst</strong>glauben; <strong>in</strong> ihr <strong>die</strong> Urkraft der Natur <strong>und</strong> Gottes erkennen <strong>und</strong> versuchen, sie uns aufunterschiedliche Art begreiflich zu machen. Beide sehen den leidenden Menschen, der Hilfebenötigt, um <strong>die</strong> ihn ihm liegende Kraft zur Neugestaltung se<strong>in</strong>er selbst zu aktivieren. OhneProbleme kann ich beide als Überbr<strong>in</strong>ger <strong>von</strong> Botschaften göttlicher <strong>und</strong> natureller Art, da ihnen<strong>die</strong> Geheimnisse offenbart worden s<strong>in</strong>d, welche sie im Umgang mit Natur <strong>und</strong> Mensch erst Schrittfür Schritt erkennen konnten. Der große Unterschied zwischen <strong>Beuys</strong> <strong>und</strong> Witk<strong>in</strong> liegt jedoch <strong>in</strong> derAuffassung, <strong>die</strong> <strong>Kunst</strong> als „Lebensform“ anzusehen. Während Witk<strong>in</strong> <strong>die</strong> <strong>Kunst</strong> als Spiegel <strong>und</strong>Werkzeug nutzt, überschritt <strong>Beuys</strong> <strong>die</strong>se L<strong>in</strong>ie, <strong>in</strong> dem er <strong>Kunst</strong> der Normativität se<strong>in</strong>es18


<strong>Kunst</strong>begriffes unterwarf. Für Witk<strong>in</strong> ist <strong>Kunst</strong> e<strong>in</strong> Ideal, für <strong>Beuys</strong> wurde es zur Ideologie. Auchwenn <strong>die</strong>se Ideologie immer positiv fokussiert war, so zeigte sich <strong>in</strong> den Ause<strong>in</strong>andersetzungen mit<strong>Beuys</strong>, dass se<strong>in</strong>e Idee e<strong>in</strong>er„Regel für <strong>die</strong> Menschwerdung“ nicht <strong>von</strong> jedem getragen wurde.Hier schließt sich der Kreis <strong>und</strong> endet der Weg zu e<strong>in</strong>em besseren Verständnis moderner <strong>Kunst</strong>.Vielleicht hilft <strong>die</strong>se E<strong>in</strong>führung nicht nur <strong>Beuys</strong> <strong>und</strong> Witk<strong>in</strong> besser zu verstehen, sondern lässtzukünftig nicht zu schnell über <strong>die</strong> Werke anderer Moderner Künstler urteilen. Moderne <strong>Kunst</strong>zeigt nicht <strong>die</strong> Welt wie sie ist.. sondern wie sie <strong>in</strong>divuell gesehen <strong>und</strong> wahrgenommen wird. Undes steckt immer mehr h<strong>in</strong>ter dem Werk, wie im ersten Blick ersche<strong>in</strong>t.19

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