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hier als PDF herunterladen - Geliebte Feinde - Arte

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GELIEBTE FEINDEDIE DEUTSCHEN UND DIE FRANZOSENDas Begleitbuch zur SendungHerausgegeben von Wolfgang Bergmann


InhaltsverzeichnisVorwortKapitel 1: Zurück zu den WurzelnKapitel 2: Getrennte WegeKapitel 3: Macht und GlaubeKapitel 4: Schaulauf der SonnenkönigeKapitel 5: Auf die Barrikaden!Kapitel 6: Es Lebe die NationKapitel 7: Vorbild und FeindbildKapitel 8: Krieg und FriedenKapitel 9: Welt in FlammenKapitel 10: Aufbruch nach EuropaImpressum


VorwortEs geht um eine Entmystifizierung. Denn wirsind am Boden angekommen in Europa, amBoden der Tatsachen - und bei der Erkenntnis,dass die Erfüllung des Traums von derVereinigung Europas in Frieden und Freiheitnicht allein dadurch entstehen kann,dass man die Welt <strong>als</strong> Resultat von Wille undVorstellung begreift. Im Mittelpunkt dieserernüchternden Erkenntnis steht das mitschwerer Hypothek belastete Verhältnis derDeutschen und der Franzosen. Das Ringender beiden mitteleuropäischen Machtzentrendies- und jenseits des Rheins hat das Schicksaldes Kontinents über Jahrhunderte hinwegdominiert und mit Krieg und Verderbenüberzogen. Aber es war auch ein Quell derEntwicklung und des Fortschritts auf allenEbenen. Mitunter haben sich die wechselndenStaatsgebilde in ihrer jeweiligen politischenVerfasstheit an der Dualität mit demGegenüber auf- oder zugrunde gerichtet.Identität ist aus Feindbildern entstanden, ausder Abgrenzung, aus dem Wettbewerb unddem Streben nach kontinentaler, gar weltweiterVorherrschaft. Diese Zeiten sind vorbei.Im Blutbad des Ersten Weltkrieges, dessenAusbruch im Jahr 2014 zum hundertsten Malzu gedenken ist, ging die Phantasie der europäischenNation<strong>als</strong>taaten vom „Platz an derSonne“ unter. Deutsche und Franzosen warenfreudig gegeneinander in einen Krieg gezogen,der angesichts seiner Grausamkeit undungeheuerlichen Zerstörungen keine Siegermehr kannte, sondern nur noch Verlierer.Ein Weltkrieg, dem ein zweiter folgte. Europawurde geteilt und Weltmächte kommen seithervon anderen Kontinenten. Seiner politischenDummheit hatte Deutschland durchseine Kriegsführung, durch den Genozid anden Juden, an den Minderheiten und Ausgegrenzteneine moralische Schuld hinzugefügt,die noch Generationen später fort wirkt.Die böse Saat von der Erbfeindschaft zwischenDeutschen und Franzosen war aufgegangen.Und Heinrich Heines einst geäußerteProphezeiung wurde schreckliche Realität:„Der deutsche Donner ist freilich auch einDeutscher und ist nicht sehr gelenkig undkommt etwas langsam herangerollt; aber kom-Wolfgang Bergmann,ARTE-Koordinator im ZDF undGeschäftsführer von ARTE DeutschlandVORWORT


men wird er, und wenn ihr es einst krachenhört, wie es noch niem<strong>als</strong> in der Weltgeschichtegekracht hat, so wisst: der deutsche Donnerhat endlich sein Ziel erreicht. Bei diesemGeräusche werden die Adler aus der Luft totniederfallen, und die Löwen in der fernstenWüste Afrikas werden die Schwänze einkneifenund sich in ihren königlichen Höhlen verkriechen.Es wird ein Stück aufgeführt werden inDeutschland, wogegen die Französische Revolutionnur wie eine harmlose Idylle erscheinenmöchte.“ Schrieb Heine in der Zeitschrift fürdeutsch-französische Affären in den 30er Jahrendes 19. Jahrhunderts.Es grenzt an ein Wunder, dass die Überlebendendieser Kriege innerhalb weniger Jahreihre Feindschaft überwinden konnten. Magsein, dass die vielbeschworene deutsch-französischeFreundschaft der Nachkriegszeitgenauso politisch erfunden wurde wie dieErbfeindschaft zuvor. Aber es war die deutlichbessere Erfindung, daran wird wohlkaum jemand heute zweifeln. Doch hat sieauch Bestand, diese freundschaftliche Beziehung?Wie ist ihre Substanz beschaffen, werträgt und entwickelt sie und wie sinnvoll istes überhaupt, auf dem Weg nach Europa vonspezifisch deutschen und französischen Befindlichkeitenzu sprechen und sie zu analysieren,wo wir doch unsere Nation<strong>als</strong>taatlichkeithinter uns lassen wollen – oder wollenwir das gar nicht? MÜSSEN wir uns einfachnur lieb haben, weil das alteuropäische Denkenim globalisierten Dauerwettbewerb überholtwird, ob wir wollen oder nicht?Die Liebesehe ist eine bürgerliche Erfindungdes 19. Jahrhunderts, sagen manche. Vielleichtist die Freundschaft zwischen Völkern undNationen auch nur temporär durchtränkt vonder Vision ewiger Liebe <strong>als</strong> Grundlage zumfriedlich-solidarischen Miteinander? Vielleichthaben die großen Bilder von Staatsmännern,die sich die Hände über Gräbern reichen, dieDemut in ihre Gesten legen, die Pathos im Blickzurück nach vorn ergreift, vielleicht habendiese Bilder neben ihrem großen Wert für dieAussöhnung nur eine geringe Aussagekraft fürden künftig einzuschlagenden Weg?Ach, Europa, wäre die Hypothese vom Endeder Geschichte in postmodernen Zeiten dochnur ein bisschen wahr, dann wäre alles vielleichtnur halb so schwer. Aber die Geschichteist immer auch Teil der Gegenwart. Und eineBeziehung lebt von ihrer Historie, auch wennsie sich immer wieder neu erfinden muss.Die Deutschen und die Franzosen – <strong>Geliebte</strong><strong>Feinde</strong>! Die Ambivalenz dieser Titelzeile fürein Projekt, mit dem sich ARTE erstm<strong>als</strong> inaller Ausführlichkeit seinem eigenen Gründungsmythoszuwendet, ist mit Bedacht gewählt.Ziel des multimedialen Rundgangsdurch 1200 Jahre europäische Geschichte istes, den Wurzeln dieser besonderen Beziehungnachzuspüren und gedankliche Breschenzu schlagen, die politisch-kulturelleVorgänge und Phänomene in Geschichte undGegenwart miteinander in Relation zu setzen.Als Anfangspunkt dieser Zeitreise giltKarl der Große, der in Europa erstm<strong>als</strong> seitEnde der römischen Vorherrschaft ein christlichesGroßreich formen kann, das freilichschon in den Händen seiner Kinder wiederzerfällt. Mancher sieht im Frankenreich undim Heiligen römischen Reich schon die Urformdeutsch-französischer Dualität. Aberso einfach ist es natürlich nicht. Besondersdann nicht, wenn man nation<strong>als</strong>taatlichesDenken der jüngeren Geschichte zugrundelegt, um die damaligen Machtverhältnisse zubegreifen. Jahrhundertelang, bis frühestensVORWORT


zur Französischen Revolution, waren es einpaar Familien, die sich Europa untereinanderaufteilten, indem sie ihre Leibeigenen undSöldner dafür in blutige Kriege schickten.Was ist <strong>als</strong>o dran an der deutsch-französischenErbfeindschaft? Vielleicht nichts! Vielleichtist sie bloß ein von Menschen, Mächtenund Interessen gesteuerter Mythos, der sichverselbstständigt hat. Vielleicht ein blutigerTrugschluss. Ein Missbrauch des menschlichenDrangs zur Deixes, zur Selbstverortungin einem unbegreiflichen Kosmos. Es lohntsich, all diese Fragen und viele andere mehrim Kopf zu behalten auf dem multimedialenWeg durch ein starkes Jahrtausend Geschichte,das <strong>hier</strong> vor Ihnen aufgeblättert wird inDokumenten, Spielszenen, Rekonstruktionen,Anekdoten, im Zitieren und Entschlüsselnvon Klischees und sprachgeschichtlichenRudimenten dieser Beziehung, die auch zumSchmunzeln Anlass geben.Geschichte anschaulich, informativ undanregend aufbereitet und <strong>als</strong> Einladung, sichmit dem einen oder anderen <strong>hier</strong> nur angerissenenThema ausführlicher zu beschäftigen,das schafft das vorliegende Projekt, zudessen Gelingen viele wundervolle Menschenbeigetragen haben, die es <strong>hier</strong> zu erwähnengilt. Katharina Krohmann und Bernd Müttersowie Martin Pieper, Olaf Grunert und StefanBrauburger vom ZDF, das Autorenteam derGruppe 5 um Martin Carasso und ChristelFomm, das Team von ZDF Digital für dieOnline-Begleitung und die Aufbereitung des<strong>hier</strong> vorgelegten eBooks und viele anderemehr, die geforscht, recherc<strong>hier</strong>t, geschnitten,vertont, designt, gerechnet und Rechtegeklärt haben, um die in Art und Umfang bislangeinzigartige multimediale Aufarbeitungdieser schicksalhaften Beziehung in dieserForm möglich zu machen.Europa wird nur weiter wachsen, wenn wiruns unsere Geschichte immer wieder vergegenwärtigen,um die Gegenwart besserzu verstehen. Wir werden deshalb nicht unbedingtFehler für die Zukunft vermeiden,aber wir können dazu beitragen, die tastendeSuchbewegung der europäischen Annäherungvon einigen Missverständnissen zubefreien.Wenn wir diesen ausladenden historischenRundgang trotz der Bedeutung und desGewichts und auch der schrecklichen Erinnerungmit einer gewissen Heiterkeit unternehmen,dann soll das nicht leichtfüßigerscheinen. Aber auch das Ernste will heiterhingenommen werden, sonst ist das Lebenschwer zu ertragen. In diesem Sinne: vielVergnügen mit den <strong>Geliebte</strong>n <strong>Feinde</strong>n!VORWORT


KAPITEL 1ZURÜCK ZU DEN WURZELNAm Anfang der deutschen wie der französischen Geschichte stehtein gemeinsamer Urahn: Karl der Große alias Charlemagne.Mit der Teilung seines Reiches vor 1200 Jahren begann dieunterschiedliche Entwicklung auf beiden Seiten des Rheins.


BEGINN EINER ERBFREUNDSCHAFTDeutsche und FranzosenDie Geschichte von Franzosen und Deutschen:Gemeinsame Wurzeln, jahrhundertelangeMachtkämpfe und Missverständnisse, die bisheute fortwirken. Eine Erbfeindschaft? Oder hatdie Geschichte von Deutschen und Franzosenmehr zu bieten? Die beiden Völker verbindeteine bewegte Vergangenheit – und eine Beziehung,die nicht immer einfach war.Deutsche und Franzosen haben dieselbe Heimat:das westliche Europa. Im ersten Jahrhundertvor Christus treten beide Völker ausdem Dickicht der Geschichte. Es ist die Zeit,<strong>als</strong> eine junge Großmacht daran geht, denKontinent zu erobern: Die Römer wollen dieVölker nördlich der Alpen unterwerfen.Links und rechts des Rheins lebt dam<strong>als</strong> eineVielzahl verschiedener Stämme – aus römischerSicht alles Barbaren, die nur schwerzu unterscheiden sind. Die Römer zeichnennicht nur neue Grenzen. Um den Überblickzu behalten, geben sie den Stämmen einfachSammelnamen: Die keltischen Stämme linksdes Rheins bezeichnen sie <strong>als</strong> „Gallier“, dieStämme rechts des Rheins <strong>als</strong> „Germanen“.Tatsächlich sind von außen betrachtet Gallierund Germanen nur schwer zu unterscheiden.Auf beiden Seiten des Stroms gibt es ähnlicheSprachen, Sitten und Gebräuche. Die Germanenbeten zu Wodan, die Gallier zu Teutates –auf dass ihnen der Himmel nicht auf den Kopffalle.Auch aus der Nähe ähneln sich die BewohnerGalliens und Germaniens, ihr Leben istgeprägt von Ackerbau und Viehzucht. Aberdie einzelnen Stämme bewahren ihre Unabhängigkeit.Sie sind weit davon entfernt, sich<strong>als</strong> „Gallier“ oder „Germanen“ zu fühlen – geschweigedenn <strong>als</strong> „Franzosen“ oder „Deutsche“.Erst die Eroberungszüge der Römer schweißendie Stämme zusammen. Aus den Reihender Gallier tritt Vercingetorix, ein Adeligervom Stamm der Averner, hervor. Er stellt sichan die Spitze dieser „Résistance“ gegen dieRömer. Dabei setzt er auf die Taktik der verbranntenErde: Um die Versorgung der Römerzu unterbinden, zerstören die Gallier ihre eigenenSiedlungen und Nahrungsvorräte. DasKalkül scheint aufzugehen: Mehrfach müssensich die disziplinierten Römer der gallischenGuerilla geschlagen geben und zurückziehen.Doch im Jahr 52 v. Chr. schlägt das Imperiumzurück: Im Kampf um Alesia, im heutigenBurgund, nehmen die Römer die Gallier vonzwei Seiten unter Beschuss. Nach wochenlangemBelagerungskampf geben die Verteidigerauf und müssen sich Julius Cäsar unterwerfen.Vercingetorix hat verloren – Gallien istnun Teil des Römischen Reiches.KAPITEL 1: ZURÜCK ZU DEN WURZELN


Knapp 50 Jahre später wächst auch bei denGermanen der Groll auf die Römer. Ihr Anführerist Arminius vom Stamm der Cherusker.Auch er setzt er auf die Guerillataktik: Inden dichten Wäldern Germaniens sind ihmdie römischen Legionäre nahezu schutzlosausgeliefert – ein klarer Fall von „Heimvorteil“.Dank Arminius bewahren die Germanenihre Unabhängigkeit. Ein Deutscher ist erdeswegen noch lange nicht.Erst Jahrhunderte später wird er wiederentdecktund <strong>als</strong> „Hermann“ zum deutschenNationalhelden verklärt. Im 19. Jahrhunderttreiben die Deutschen ihren „Hermannskult“auf die Spitze: Sie stilisieren den alten Germanenzum Vorkämpfer für nationale Einheitund Freiheit. Fast zur selben Zeit undim selben Stil entdecken die Franzosen dieGallier <strong>als</strong> ihre vermeintlichen Vorfahren. InAnlehnung an den „deutschen Hermann“, verklärensie Vercingetorix zum französischenVolkshelden. Nach dem verlorenen Krieg gegendie Deutschen 1870 verkörpert er dam<strong>als</strong>eine Nation, die trotz Niederlage ihren Stolzbewahrt.Das Hermannsdenkmal im Teutoburger WaldArminius kämpft für die GermanenGermanen und Gallier sind zwar weder Franzosennoch Deutsche. Doch ihre Siege undNiederlagen gegen die Römer haben langfristigeFolgen für die Entwicklung beiderVölker: Der Rhein wird zur Grenze zwischenVercingetorix zu Füßen von Julius CäsarKAPITEL 1: ZURÜCK ZU DEN WURZELN


dem „römischen Gallien“ und dem „freienGermanien“. Noch lange beherrschen rechtsdes Rheins dichte Urwälder das Landschaftsbild– der legendäre „deutsche Wald“. Dagegenentstehen links des Stroms unter römischerBesatzung erste Stadtzentren. Auch deutscheStädte wie Köln, Bonn oder Trier gehen aufrömische Siedlungen zurück. In Frankreichsind die Spuren der Römer noch heute an vielenStellen sichtbar: Hier haben sie imposanteBauwerke wie etwa das Aquädukt Pont duGard oder das Maison Carée und das antikeAmphitheater in Nîmes hinterlassen.Bis heute verläuft auch eine Kulturgrenzezwischen den Theken französischer Bistrosund deutscher Kneipen: Mit den Römernsetzt sich die Weinkultur großflächig durch.Der Rebensaft ist immer noch das beliebteste„geistreiche“ Getränk der Franzosen. ImDurchschnitt konsumieren sie jedes Jahr proKopf rund 57 Liter Wein – weltweit Spitze.Die „Germanen“ dagegen sind nicht nur ihrerSprache, sondern auch ihren Trinkgewohnheitentreu geblieben. Immerhin schon derrömische Schriftsteller Tacitus beschreibtBier <strong>als</strong> ihr „Nationalgetränk“. Heute trinkendie Deutschen jedes Jahr 100 Liter Bier proKopf – noch mehr schaffen nur die Tschechen:160 Liter.Der Aquädukt Pont du GardOvalförmiges Amphitheater in NîmesKAPITEL 1: ZURÜCK ZU DEN WURZELN


INVASION DER BARBARENDie VölkerwanderungMehr <strong>als</strong> drei Jahrhunderte hält der gallisch-germanischeStatus quo, dann zeichnetsich der Untergang des Römischen Reiches ab– eine Zäsur mit langfristigen Folgen für dieEntwicklung von Deutschen und Franzosen.Von den Steppen Asiens aus erobern Attilaund seine Hunnen am Ende des 4. Jahrhundertsweite Teile Europas. Das ist der Auftaktfür eine Neuordnung des Kontinents. DieHunnen verdrängen die Germanen, die nunins Römische Reich einfallen, u.a. in Gallien.In Frankreich wird ihr plötzliches Auftauchenabwertend <strong>als</strong> „Invasions Barbares“bezeichnet. „Die Deutschen dagegen sprechenvon einer ‚Völkerwanderung‘, <strong>als</strong>o einer einfachenBevölkerungs bewegung – eine viel neutralereBezeichnung“, so der französische HistorikerPierre Monnet. „Ein ‚Barbar‘ war in dergriechisch-römischen Welt jemand, der wederGriechisch noch Latein sprach – jemand, derihre Vorstellung von Recht, Kultur und Zivilisationnicht kannte. Die Bezeichnung ‚InvasionsBarbares‘, die man noch lange in französischenAufsätzen und Lehrbüchern fand, steht für dieSicht romanisierter Gallier, dass die Unzivilisiertheitüber sie hereinbricht.“Die „Invasions Barbares“ bringen die alteVölkerordnung durcheinander: Im östlichenTeil des Römischen Reichs kann sich zwardie neue Hauptstadt Konstantinopel halten,in Westeuropa aber müssen die Römer dengermanischen Stämmen weichen. AusgerechnetGermanen streitet sich nun um ihr Erbe:Burgunder, Goten, Vandalen, Langobarden,Alemannen – vor allem aber die Franken.In Zülpich, in der Nähe von Köln, erinnerteine schlichte Steinstehle an eine denkwürdigeBegegnung zwischen Alemannen undFranken im Jahr 496 – eine Schlacht mit weitreichendenFolgen für die deutsch-französischeGeschichte. Der Frankenkönig Chlodwig,in Frankreich „Clovis“ genannt, gewinntden Kampf und in der Folge die Kontrolleüber Gallien. Deshalb sehen die Franzosenin ihm ihren ersten König und in den Frankenihre Vorfahren. Aus „Clovis“ machen sie„Louis“: Bis ins 19. Jahrhundert werden 18französische Monarchen nach ihrem fränkischenVorbild benannt. Später nennen dieFranzosen ihre rechtsrheinischen Nachbarn„Allemands“ in Anlehnung an die <strong>Feinde</strong> voneinst: Die Alemannen.Angeblich hatte der Heide Chlodwig vor derSchlacht von Zülpich geschworen, sich im Falleeines Sieges zum Christentum zu bekehren.Wahrscheinlich im Jahre 498 lässt er sichin Reims taufen. Ein Schlüsselmoment dereuropäischen Geschichte. Denn ChlodwigsTaufe begründet die Allianz der fränkischenKönige mit der katholischen Kirche – es istdie Geburtsstunde des „christlichen Abendlandes“.„Frankreich wurde aus der Sicht desPapstes zur ‚ältesten Tochter der Kirche‘ – einUmstand, der zählte“, so der französischeHistoriker Max Gallo. Chlodwigs Nachfolgerbestätigen das Bündnis mit Rom. Und die Kathedralevon Reims wird zum traditionellenKrönungsort der französischen Könige – bisins 19. Jahrhundert.KAPITEL 1: ZURÜCK ZU DEN WURZELN


MISSIONIERUNG MIT DEM SCHWERTKarl der Große und die SachsenSeit Chlodwig kämpfen die Franken unter demBanner der katholischen Kirche. Ihre Königeschwören, den Glauben zu verteidigen und zuverbreiten – mit aller Macht. Sie treiben dieAusbreitung des Christentums voran, erst imheutigen Frankreich, dann im Rest Europas.Bis heute prägt die christliche Kultur das Antlitzund die Geschichte des Kontinents.Unter fränkischem Schutz versucht im 8.Jahrhundert der später heiliggesprocheneMissionar Bonifatius die heidnischen Stämmerechts des Rheins zu bekehren. Bei Hessenund Thüringern hat er Erfolg, auch beiden Bayern. Aber die Friesen ermorden denfrommen Mönch. Heute wird Bonifatius <strong>als</strong>‚Apostel der Deutschen‘ verehrt.Im Jahre 768 wird Karl der Große, oderfranzösisch „Charlemagne“, neuer König derFranken, ein Mann, der bald schon <strong>als</strong> „VaterEuropas“ gilt und heute von Deutschen undFranzosen gleichermaßen <strong>als</strong> Stammvaterverehrt wird. Wie seine Vorgänger schwörtauch er, den christlichen Glauben zu verteidigenund zu verbreiten. Vor Chlodwig reichtedie Macht der Franken nicht weit hinausüber die Städte Tournai, Aachen, Metz undKöln. Bei Karls Herrschaftsantritt beherrschensie das heutige Frankreich, aber auchTeile Süd- und Mitteldeutschlands. Dort habensie die Stämme der Schwaben, Thüringerund Bayern unterworfen.Nur die widerspenstigen Sachsen in denausgedehnten Wäldern zwischen Weserund Elbe konnten sich bislang erfolgreichwidersetzen. Hartnäckig halten sie an ihrerUnabhängigkeit und an ihren heidnischenBräuchen fest. Und nicht im Glauben an JesusChristus, sondern bei ihren alten germanischenGottheiten Wodan, Donar und Saxnotsuchen sie ihr Seelenheil.Im Jahre 772 beginnt Karl einen Feldzug, umdie sächsischen Stämme zu unterwerfen undzu bekehren. Das Schicksal des Heiligen Bonifatiusist ihm offenbar eine Lehre. Statt aufdie Kraft des Wortes setzt er auf die Machtdes Schwertes: Mit Gewalt versucht er, dieKarl der Große: „Vater Europas“KAPITEL 1: ZURÜCK ZU DEN WURZELN


Sachsen auf den rechten Weg zu bringen. Diechristliche Botschaft der Nächstenliebe bleibtauf der Strecke. Vielen Sachsen bleibt nureine Wahl: ihren heidnischen Göttern abzuschwörenoder zu sterben. Anfangs hat Karlder Große Erfolg: Er breitet seine Herrschaftund seinen Glauben aus, die Sachsen ziehensich zurück. Aber es dauert nicht lange, bissein Feldzug erbitterten Widerstand provoziert.Der Anführer der Sachsen liegt heute in derStiftskirche von Engern begraben. Ein Heide,der wie ein Heiliger verehrt wird? SeinName: Widukind, auf Hochdeutsch: „Kinddes Waldes“. Er ist zunächst ein Kämpfer, dersich Karl mit aller Kraft und allen Mittelnentgegenstellt. Widukind schweißt die Kriegerder Sachsen zusammen. Seine Männergehen nicht zimperlich vor, in ihrer Brutalitätstehen sie den Franken in nichts nach. DieSachsen rächen sich für die Schändung ihrerHeiligtümer, brennen die Kirchen ihrer <strong>Feinde</strong>nieder. Ebenfalls keine vertrauensbildendeMaßnahme.über 4.000 Sachsen hinrichten. Erst <strong>als</strong> derKonflikt seinen traurigen Höhepunkt erreichtund der Blutzoll unerträglich wird,gehen die Kontrahenten aufeinander zu –endlich.Im Jahre 785 reitet Widukind zu Karl nachAttigny im heutigen Frankreich. Er musseinsehen, dass seine Sachsen den Frankenunterlegen sind, und will Frieden schließen.Der Sachsenherzog Widukind unterwirft sichdem Frankenkönig Karl. Gewinnt <strong>hier</strong> derStärkere, oder gibt der Klügere nach? Egal:Die Vorfahren von Deutschen und Franzosensind erstm<strong>als</strong> friedlich vereint – in einemReich und in einem Glauben. Wieder markierteine Taufe einen wichtigen Wendepunktin der Geschichte beider Völker: Im BeiseinKarls nimmt Widukind den christlichenGlauben an.Grabmal des Herzogs WidukindZwar sind die Sachsen noch keine Deutschenund die Franken keine Franzosen. Aber wasfolgt, ist eins der dunkelsten Kapitel ihrergemeinsamen Vorgeschichte. Auf Vergeltungfolgt Vergeltung. Glaubt man historischenQuellen, lässt Karl in Verden an der AllerKAPITEL 1: ZURÜCK ZU DEN WURZELN


PRINZIP EINHEITDas Reich Karls des GroßenKarl der Große hat den gemeinsamen Glaubenzum einenden Band Europas gemacht – für dieVölker links und rechts des Rheins.Zwischen zwei Städten entwickelt sich einebesondere Beziehung: Karl hatte Paderbornzu seinem wichtigsten Außenposten im frischeroberten Sachsenland ausgebaut und imJahr 799 zum Bistum erhoben. Le Mans imNordwesten Frankreichs dagegen ist schonseit dem 5. Jahrhundert ein bedeutenderBischofsitz. Im 9. Jahrhundert schickt derBischof von Le Mans seinem Pendant in Paderborndie Reliquien des Heiligen Liborius– ein kostbares Geschenk, um die Sachsenmit den Franken und dem Christentum zuversöhnen.Auch der Frankenkönig selbst geht auf seineGegner zu. Mit dem Mantel des Heiligen Martinim Gepäck zieht Karl nach Aachen. Diewichtigste Reliquie der Franken soll seinerneuen Hauptstadt Glanz verleihen. Nach demlateinischen Wort ‚Cappa‘ für Mantel, wirdder Aufbewahrungsort <strong>als</strong> ‚Kapelle‘ bezeichnet.Die Franzosen nennen Aachen deshalbbis heute ‚Aix-la-Chapelle‘. Aus der bescheidenenResidenz entwickelt sich eine prächtigePalastanlage. In ihrem Zentrum erhebt sichdas dam<strong>als</strong> größte Gotteshaus nördlich derAlpen: Der Aachener Dom.Das Oktogon aus der Zeit Karls des Großen istbis heute erhalten geblieben – ein Meisterwerkkarolingischer Kunst. Jahrhundertelangwar es der höchste Kuppelbau Westeuropas.Auf einer Empore steht der Karlsthron. 33 römisch-deutscheKönige haben sich später aufKarl berufen und <strong>hier</strong> Platz genommen.Nach Karls Willen soll an seinem Hof dieantike Kultur wieder aufleben. Gelehrte ausganz Europa tragen <strong>hier</strong> ihr Wissen zusammen.Es ist der Beginn der ‚karolingischenRenaissance‘. Latein, die alte Sprache der Römer,wird zur Grundlage der „Lingua franca“,der Sprache der Franken. Überall in KarlsVielvölkerreich sollen sich die Menschenverständigen können, deshalb fördert er aucheine einheitliche, gut lesbare Schreibschrift.Paderborner DomTeil des Paderborner DomschatzesKAPITEL 1: ZURÜCK ZU DEN WURZELN


Die karolingische Minuskel wird zur Grundlageunserer modernen Handschrift. Zudemforciert der Monarch, der selbst nur mühsamlesen und schreiben konnte, die Einrichtungvon Klosterschulen.Karl setzt zudem eine regelrechte Währungsreformdurch: In Anlehnung an das Münzgeldder römischen Kaiser lässt er Denaremit seinem Konterfei prägen. Fast 500 Jahreist der Denar eine in weiten Teilen Europasakzeptierte Einheitswährung – nicht nur imfränkischen Reich, das weite Teile des heutigenFrankreich und Deutschland vereint.Teil des Padaborner DomschatzesDie karolingische MinuskelDas Gewölbe des Aachener Doms – ein OktagonKAPITEL 1: ZURÜCK ZU DEN WURZELN


DAS REICH ZERFÄLLTKaiser Karl und seine NachfahrenKarl ist auf dem Höhepunkt seiner Macht.Doch um sein Lebenswerk zu krönen, fehltihm noch ein Titel, den er sich nur in Rom holenkann: Er will das Erbe der römischen Imperatorenantreten. Seit mehr <strong>als</strong> 300 Jahrenhatte es in Westeuropa keinen Kaiser mehrgegeben. Es ist eine Sensation: AusgerechnetKarl, ein Abkömmling germanischer Barbaren,soll die Tradition des römischen Imperiumsfortführen.Am Weihnachtstag des Jahres 800 ist derFrankenkönig am Ziel: Im Petersdom kröntihn der Papst zum Kaiser von Gottes Gnaden.Damit begründet Karl die Tradition des mittelalterlichenKaisertums.Karls Reich wird in den darauffolgendenJahrzehnten aufgeteilt unter seinen Söhnenund Enkeln. So trennen sich die Wege vonDeutschen und Franzosen – besser gesagt: ihrerVorfahren. Dennoch: Die Reste von KarlsReich werden zu Keimzellen der beiden Nationenlinks und rechts des Rheins. Im Jahr843 fixiert der Vertrag von Verdun die Aufspaltungvon Karls Imperium: Ein West-, einMittel- und ein Ostreich. Davon bleiben zweiReiche übrig: Das westfränkische und dasostfränkische.Das Westfrankenreich wird durch die vierFlüsse Schelde, Maas, Saône und Rhone begrenzt.Das Ostfrankenreich richtet sich vorallem an einer anderen natürlichen Grenzeaus: dem Rhein. Dazwischen liegt ein Gebiet,das bis ins 20. Jahrhundert umstritten bleibt,ein Raum der Eroberungen und Rückeroberungen:Lothringen und das Elsass – Länder,die gleichzeitig Schnittstelle und Pufferzonesind.Herrscher beider Seiten fühlen sich in dendarauffolgenden Jahrhunderten <strong>als</strong> rechtmäßigeErben Karls des Großen. Im ostfränkischenReich wird im 10. Jahrhundert einSachse zum König erhoben – Otto, genanntder Große. Er sichert sich und seinen Nachfolgerndie Kaiserwürde. Seitdem sind die ostfränkischen,später deutschen Könige, gleichzeitigKaiser des Abendlandes.Karls Imperium wird aufgespaltenIm Mittelalter nutzen Könige Reliquien, umsich in eine Linie mit Karl dem Großen zustellen – die Leichenfledderei beginnt. Dabeisind die Vorfahren der Deutschen klar im Vorteil:Mit dem Karlsschrein im Aachener Domverfügen sie über das größte Stück des kaiserlichenKadavers. In der Karlsbüste aus demAachener Domschatz haben sie außerdemTeile des kaiserlichen Kopfes konserviert.KAPITEL 1: ZURÜCK ZU DEN WURZELN


Verwahrt in der Aachener Domschatzkammer: Karlsbüste aus GoldKAPITEL 1: ZURÜCK ZU DEN WURZELN


Immerhin schmückten die Goldschmiede ihrhochkarätiges Kunstwerk nicht nur mit demrömischen Reichsadler, den später die Deutschenfür sich beanspruchen werden, sondernauch mit der französischen Königslilie.Ein Friedensangebot? Ihr Stück vom ‚SacréCharlemagne‘ bewahren die Franzosen heuteim Louvre auf. Aber laut Inschrift enthält dasSchmuckkästchen nur Karls Armknochen –eher Randstück <strong>als</strong> Filet.Noch heute will jeder seinen Anteil vomKaiser haben: Doch die modernen Karlsreliquiengibt es in Form von Souvenirs, vomSchlüsselanhänger bis zur Karlsprinte – fürjedermann erschwinglich. Heute ist Karl derGroße vor allem eine begehrte Marke, umTouristen anzulocken, die Pilger unserer Zeit.Karl der Große auf Aachener PrintenAachener PrintenKAPITEL 1: ZURÜCK ZU DEN WURZELN


KAPITEL 2GETRENNTE WEGEAuch wenn man nach dem Tode Karls des Großen links undrechts des Rheins getrennte Wege geht, ähnelt sich der Alltag derMenschen im Mittelalter. Kultur und Sprache zeugen bis heutevon den gemeinsamen Wurzeln, aber auch davon, wie man sichallmählich auseinanderlebte.


OTTO DER GROSSEEin Sachse wird KaiserAachen, zu Zeiten Karls des Großen einst dasZentrum des Fränkischen Reiches, zieht im 10.Jahrhundert wieder alle Blicke auf sich. DennOtto vom Stamm der Sachsen lässt sich <strong>hier</strong> imJahr 936 zum König des Ostfränkischen Reicheskrönen. Doch wie Karl der Große will auch erKaiser werden. Ost- und Westfranken habensich lange um diesen Titel gestritten. Und ausgerechnetein Sachse wagt es jetzt, sich nachseiner Krönung auf den Karlsthron zu setzen– nachdem Karl einst die Sachsen unterworfenhatte? Eins muss man ihm lassen: Otto hatSinn für Symbolik!Aber noch ist er „nur“ König. Den Kaisertitelmuss er sich erst noch verdienen. Die Gelegenheitkommt mit den Ungarn, dem dam<strong>als</strong>gefürchteten, heidnischen Reitervolk, dasmordend und brandschatzend durch Europazieht. Otto will ihnen Einhalt gebieten. Aufdem Lechfeld bei Augsburg trommelt er seineStreitmacht zusammen. Unter ihnen sindneben Ottos Sachsen auch Bayern, Schwaben,Franken und Böhmen. Eine Zweckgemeinschaft,oder doch mehr? Der Widerstandgegen die Ungarn schweißt die deutschenStämme zusammen. Erstm<strong>als</strong> kämpfen siegemeinsam. Erstm<strong>als</strong> bilden sie eine – wennauch kriegerische – Einheit. Spätere Generationenwerden sagen, <strong>hier</strong> habe sich ein deutschesGemeinschaftsgefühl gebildet. Der Siegüber die Ungarn wird Ottos größter militärischerErfolg. Sein Weg zur Kaiserkrone ist geebnet.Aus Otto I. wird „Otto der Große“ – undim Jahr 962 Kaiser Otto. Die Krönung erfolgtin Rom, die Kaiserwürde wird vom Papst vergeben.Die Sache hat nur einen Schönheitsfehler:Otto wurde gewählt, er musste umseinen Titel kämpfen. Und genau das werdenseine Nachfolger rechts des Rheins auch tunmüssen.Egal – er ist Kaiser. Im Wettstreit um das ErbeKarls des Großen ein Punkt für Deutschland.Otto ist jetzt Herrscher über ein riesigesReich von der Nordsee bis nach Italien, das„Heilige Römische Reich“, wie es sich bald nennenwird. Frankreich dagegen ist zersplittertin eine Vielzahl von Grafschaften und Fürstentümern.KAPITEL 2: GETRENNTE WEGE


MIT DEM MANTEL ZUR MACHTVon den Karolingern zu den KapetingernDas Königreich von Ottos französischem NeffenHugo muss man mit der Lupe suchen. Dochwas ihm anfangs niemand zugetraut hätte,wird Hugo bald schaffen: Er wird eine neueDynastie begründen.Als erstes feilt Hugo an seinem Namen: Erumgibt sich mit einer bedeutenden Reliquieaus dem Fundus Karls des Großen: dem Manteldes heiligen Martin. Mantel heißt auf LateinischCappa. Daraus wird Capet – Hugo Capet.Wenige Monate nach seiner eigenen Thronbesteigungim Jahr 987 wird sein Sohn Robertzum Mitkönig gekrönt. Ein genialerSchachzug, denn damit ist die Thronfolgegesichert. Der Wechsel von den Karolingernzu den Kapetingern ist vollzogen. Damit hatsich in Frankreich die Erbmonarchie gegendas Wahlrecht durchgesetzt. Zwischen französischenund deutschen Herrschern steht esjetzt 1:1.Ein „Wir Deutsche“ oder „Wir Franzosen“ gibtes dam<strong>als</strong> noch nicht. Was auf beiden Seitendes Rheins existiert, sind Unterschiede zwischenden Ständen. Hüben wie drüben sind90 Prozent aller Menschen Bauern. Sklavereigibt es zwar offiziell in der christlichen Weltnicht mehr. Aber abhängig sind die Bauernnoch immer. Man nennt es nur anders:„Grundherrschaft“. Die Bauern müssen Abgabenleisten, dafür, dass sie das Land bewirtschaftendürfen. Ihren Herren gehört dasLand allerdings auch nicht. Sie sind lediglichVasallen, Lehnsmänner des Königs, der ihnenGrund und Boden zur Nutzung überlässt.Der König steht an der Spitze dieser Feudalordnung.Ihm gehören das Land, die darauflebenden Bauern und ein großer Teil derErträge ihrer Arbeit.Zur Zeit Karls des Großen dominierten rechtsund links des Rheins dichte Wälder dasLandschaftsbild. Doch das änderte sich biszum Anfang des zweiten Jahrtausends: Manbraucht Holz zur Herstellung von Werkzeugen,zum Bau von Häusern und <strong>als</strong> Brennstoff.Die Bevölkerung in Europa explodiert,nicht zuletzt wegen der milden Temperaturen.In weniger <strong>als</strong> drei Jahrhunderten hat siesich von 12 auf 35 Millionen verdreifacht.Brot ist im Mittelalter das wichtigste Nahrungsmittel.Nur die reichen Leute könnensich die teuren, hellen Sorten aus fein gemahlenemWeizenmehl leisten. Die meisten Menschenessen dunkles Brot aus grob gemahlenemRoggenmehl. Heute verläuft zwischenfranzösischen Boulangeries und deutschenBäckereien eine Kulturgrenze.Das Baguette ist zu einem WahrzeichenFrankreichs geworden: ein Brot aus feinstemWeizenmehl – und das für jedermann. Wasdas Brot betrifft, sind sich auch die Deutschentreu geblieben. Am beliebtesten istGraubrot – vor allem Roggenmischbrot. 300verschiedene Brotsorten gibt es in Deutschland- so viele wie in keinem anderen Landder Welt. Ob weiß oder schwarz, das ist inzwischenkeine Frage des Wohlstands mehr,sondern ganz offensichtlich des Geschmacks.KAPITEL 2: GETRENNTE WEGE


REISENDE KÖNIGE UND MACHTZENTRALENVorsprung durch BildungDie Franzosen haben schon früh eine richtigeHauptstadt – Paris. Hier leben am Ende des 13.Jahrhunderts bis zu 200.000 Menschen. Parisist die führende Metropole, auch im Bildungswesen.Eine der ersten Universitäten überhauptist die Sorbonne, die Anfang des 13. Jahrhundertsgegründet wird. Die Deutschen hinkenhinterher. In Prag wird erst 150 Jahre spätereine Hochschule gegründet, die <strong>als</strong> erste „deutsche“Universität gilt. Da hat Prag gerade mal40.000 Einwohner.Und die Frage nach der Hauptstadt ist im HeiligenRömischen Reich so eine Sache. Anders<strong>als</strong> die französischen „Residenzkönige“, dienur ab und zu das Schloss wechseln, ziehendie deutschen „Reisekönige“ das ganze Jahrlang durchs Land. Bis zu 2000 Leute bildendie Gefolgschaft des Königs: Mägde, Ritterund Handwerker. Tausende mühsame Kilometerlegen sie jährlich zurück, reisen vonPfalz zu Pfalz – allerdings nicht zum Vergnügen,sondern weil es einfach keine Hauptstadt,d.h. weil es kein Machtzentrum gibt.Das Mittelalter ist das Zeitalter der Ritter.Die deutschen und französischen Lande sinddam<strong>als</strong> übersät mit Burgen. Hier leben dieRitter und sind jederzeit bereit, für den Königin die nächste Schlacht zu ziehen. In Friedenszeitengelten den Rittern die Turniere <strong>als</strong>standesgemäßer Zeitvertreib. Gekämpft wirdum Ruhm und Ehre – und auch um die Gunstedler Frauen. Ihnen zu Ehren werden Ritterzu Dichtern.Die Sorbonne in ParisDie Karls-Universität in PragKAPITEL 2: GETRENNTE WEGE


GEMEINSAME FEINDSCHAFTIm Zeichen des KreuzesDie mittelalterliche „Harmonie“ zwischenDeutschen und Franzosen erfährt einen erstenDämpfer, <strong>als</strong> man sich genauer kennen lernt– und wo könnte man das besser <strong>als</strong> auf einergemeinsamen Reise?Gebucht wird über die Kirche, genauer gesagtüber den Papst Urban II. Im Jahr 1095ruft er zur Teilnahme am Kreuzzug auf. Erverspricht: Wer loszieht nach Jerusalem, inden Kampf gegen die Muslime, die seit Jahrhundertendie Heilige Stadt in Besitz haben,der bekommt alle Sünden vergeben. Wenndas mal kein verlockendes Angebot ist! Undso ziehen im Zeichen des Glaubens nebenRittern und auf Vergebung hoffenden Verbrechernauch Heerscharen von verarmtenBauern und Bettlern in den so genannten „gerechtenKrieg“: Deutsche und Franzosen, Seitean Seite, auf der gemeinsamen Suche nachihrem Seelenheil.Was sie tatsächlich finden, sind die Schreckeneines brutalen Krieges. Und nur diewenigsten schaffen es zum Ziel.Die, die es schaffen, beginnen irgendwann,die anderen Reiseteilnehmer kritisch zubeäugen. Besonders das Verhältnis von Deutschenund Franzosen erweist sich <strong>als</strong> zunehmendproblemgeladen: Den Franzosen wirdihre „superbia“ – ihr Hochmut vorgeworfen,und den Deutschen ihr „furor teutonicus“ –ihre Kraftmeierei. Erste nationale Vorurteile– oder bittere Wahrheiten? Für eine offeneFeindschaft zwischen den Nachbarn aberist die Zeit längst noch nicht reif. Man haterst mal „wichtigeres“ zu tun: Jerusalem vonden Muslimen zu befreien - von den „<strong>Feinde</strong>nGottes“, wie die Kirche sie nennt. Darin sindsich Deutsche und Franzosen einig. Mit allerKonsequenz.Statue von Papst Urban II.KAPITEL 2: GETRENNTE WEGE


IM KAMPF MIT DER KIRCHEDer Gang nach CanossaEnde des 11. Jahrhunderts bahnt sich einMachtkampf zwischen römisch-deutschem Kaiserund Papst an, zwischen höchster weltlicherund höchster geistlicher Autorität. Beide beanspruchenden ersten Rang in der Christenheit,der Konflikt ist vorprogrammiert. Er eskaliert,<strong>als</strong> König Heinrich IV., trotz eines päpstlichenVerbotes, weiterhin die Bischöfe ins Amt setzt,<strong>als</strong>o <strong>als</strong> Laie mit Stab und Ring die „Investitur“vornimmt. Für Papst Gregor VII. ist daseine Kampfansage. Er hält sich selbst für dieNummer eins im christlichen Universum undverbannt den Provokateur aus der Kirche – der„Investiturstreit“ nimmt seinen Lauf.Durch den Bann hat Heinrich keinen Anspruchmehr auf die Gefolgschaft und Treueseiner Fürsten. Er droht, die Krone zu verlieren.Mitten im Winter 1076/77 reist er zurnorditalienischen Burg Canossa, wo sich derPapst gerade aufhält. Der exkommunizierteKönig muss zu Kreuze kriechen. Drei demütigendeTage lang lässt ihn der Papst warten,bis er schließlich einlenkt und den Kirchenbannwieder aufhebt. Mit dem „Gang nachCanossa“ hat Heinrich seine Krone und seinKönigreich gerettet, aber im Machtkampf mitder Kirche hat der Papst gesiegt.In Frankreich verläuft die Geschichte gut 200Jahre später umgekehrt. König Philipp derSchöne ist fast pleite. Seine Idee, den Kleruszu besteuern, wehrt Papst Bonifatius VIII.entschieden ab. Statt weitere Worte zu verlieren,setzt Philipp auf schlagende Argumenteund organisiert ein Attentat. Das schlägtzwar fehl, aber der Papst ärgert sich imwahrsten Sinne des Wortes zu Tode. Philipphat jetzt freie Bahn. Zum ersten Mal in derGeschichte Frankreichs versammelt er alledrei „Stände“: Klerus, Adel und Bürger. ImGegensatz zu seinem deutschen Kollegen hater seine Leute hinter sich.Seit 1309 residieren die Päpste unter derwachsamen Aufsicht des französischen Königsin Avignon. Für die Umstände des Umzugssollen sie reich entschädigt werden: Einmächtiger Papstpalast entsteht, dazu prunkvolleKlöster und Kirchen. Knapp 70 Jahrelang wird die „babylonische Gefangenschaftder Kirche“, wie man die Zeit später nennenwird, in Avignon dauern. Erst danach kehrendie Päpste nach Rom zurück.KAPITEL 2: GETRENNTE WEGE


GEMEINSAM GEGEN ENGLANDHundert Jahre KriegWir schreiben das Jahr 1337. Die Kapetingersind ausgestorben. Auf dem französischenThron sitzt jetzt ein Valois: Philipp VI. regiertüber ein inzwischen geeintes Land mit ansehnlicherKrondomäne. Nur Philipps Cousin, derenglische König Edward III., verfügt noch überumfangreiche Besitzungen im französischenKernland. Es kommt zum Streit, <strong>als</strong> Edwardplötzlich Anspruch auf die französische Kroneerhebt. Seine Mutter ist die Schwester desletzten Kapetingers – was in Frankreich aberzählt, ist die männliche Erbfolge. Krieg brichtaus.Bei Crécy in Nordfrankreich stehen sichFranzosen und Engländer 1346 erstm<strong>als</strong> ingrößerer Zahl in Frankreich gegenüber. ZuHilfe eilen die Verbündeten, die Ritter mitdem Adler im Wappen – es sind TruppenKarls IV., des frisch gewählten deutschenKönigs. Mit dem Mut der Verzweiflung stürztman sich gemeinsam ins Kampfgetümmel.Doch gegen den Pfeilregen der Engländerkönnen weder Deutsche noch Franzosen etwasausrichten. Einer der seltenen Momentein der deutsch-französischen Geschichte, inder die Nachbarn Seite an Seite kämpfen. Zudiesem Zeitpunkt sind die Erbfeinde Frankreichsnicht die Deutschen, sondern, wennüberhaupt, die Engländer.Auch abseits des Schlachtfelds leiden Franzosenund Deutsche weiter gemeinsam– zunächst am schlechten Wetter. Im Spätmittelalterführt eine „Kleine Eiszeit“ zu Dauerregen,Überschwemmungen, verfaultenErnten und steigenden Brotpreisen – einewahrhaft düstere Epoche für ganz Europa.Hungrige Wölfe wagen sich aus den Wäldernund verbreiten Angst und Schrecken.Die dunkle Zeit nimmt kein Ende. Auf Hungerfolgt Krankheit. Im Fell einer Ratte bahntsich der Erreger seinen Weg nach Europa.Er kennt keinen Unterschied zwischen Deutschenund Franzosen, zwischen Armen undReichen. Was folgt, betrifft alle – und übertrifftalles bisher Gesehene: Die Pest. Innerhalbvon fünf Jahren rafft der Schwarze Todvon 1347 an ein Drittel der gesamten europäischenBevölkerung dahin. Weil die Friedhöfeaus allen Nähten platzen, werden Beinhäusererrichtet.In Rouen entsteht das Beinhaus L’Aitre St.Maclou. Bis heute erinnern Totenschädelan den Fassaden des Fachwerkbaus an dieschlimmste Krankheit unserer gemeinsamenGeschichte. Die Ursache der Pest istdam<strong>als</strong> nicht zu erklären. Gott straft dieMenschheit, so glaubt man. Doch wofür? EinSündenbock muss her. Es trifft die Juden.Unter dem Vorwand, sie hätten die Brunnenvergiftet, stürzt sich der wütende Mob aufsie – in ganz Europa.KAPITEL 2: GETRENNTE WEGE


JEANNE D‘ARCEine Jungfrau <strong>als</strong> HoffnungsträgerinAnfang des 15. Jahrhunderts führen die Franzosennoch immer Krieg gegen die Engländer, diesich hartnäckig auf dem Festland ausbreitenund bald den gesamten Norden Frankreichsbesetzen. Dann schlägt sich auch noch Burgundauf die Seite Englands – der 100-jährige Krieggeht in die nächste Runde. Immerhin: Die <strong>Feinde</strong>stärken den Zusammenhalt der Franzosen.Um die Engländer zu besiegen, braucht esein Wunder. Das erscheint in Domrémy, einemkleinen Dorf in Lothringen. Hier wirdein Mädchen geboren, das die entscheidendeWende im 100-jährigen Krieg bringen wird:Jeanne d’Arc. Mit 13 Jahren hat sie göttlicheVisionen: Sie soll dem französischen Thronfolger,dem Dauphin Karl VII., zur Kroneverhelfen und die Engländer aus Frankreichvertreiben. Für Karl ist die Sache zunächstnur ein Spiel. Er hat nichts zu verlierenund lässt Jeanne gewähren. Sie zieht in dieSchlacht – und befreit tatsächlich Orléans!Dank Jeanne wird Karl zum König gekrönt.Sie selbst fällt bei ihrem Vormarsch auf Parisden Burgundern in die Hände, die liefernsie an die Engländer aus. Karl unternimmtnichts. Die Retterin Frankreichs wird vor einKirchengericht gestellt und <strong>als</strong> Ketzerin aufdem Scheiterhaufen verbrannt.Zunächst gerät sie in Vergessenheit. Mittedes 18. Jahrhunderts veröffentlicht der AufklärerVoltaire sogar ein Schmähgedicht aufdie Jungfrau, „La Pucelle“. Ausgerechnet einDeutscher steht auf gegen Voltaire: FriedrichSchiller. Seine „Johanna von Orleans“ führtzur Wiederentdeckung Jeanne d’Arcs inFrankreich. Ausgelöst durch seine Interpretationder Geschichte beginnt ein beispielloserSiegeszug einer bereits vergessenen Figur.Knapp 500 Jahre nach ihrem Tod wird Jeannedann auch von der Kirche rehabilitiert.Sie wird selig- und kurz darauf heiliggesprochen.Bis heute verehrt sie ganz Frankreich<strong>als</strong> Nationalheldin.Dank Jeanne d‘Arc wird Karl zum König gekröntIllustration der Jeanne d‘ArcKAPITEL 2: GETRENNTE WEGE


„GRUNDGESETZ“ DES MITTELALTERSDie goldene BulleMitte des 15. Jahrhunderts müssen sich dieEngländer aus Frankreich zurückziehen. Diefranzösischen Könige siegen und setzen ihreHerrschaft im ganzen Land durch. Geholfenhat ihnen dabei auch die Unterstützung einerloyalen Staatskirche. Und auf deutscher Seite?Hier streiten König und die Großen des Reiches,weltliche wie geistliche Fürsten, noch immerum die Macht.Auf den ersten Blick dreht sich alles um denKaiser. Aber in Wahrheit treiben die siebenKurfürsten die Entwicklung voran. Gemeinsamhaben sie schon 1356 das „Grundgesetz“des Mittelalters verabschiedet: die GoldeneBulle. Sie sichert den Kurfürsten das alleinigeRecht zur Wahl des römisch-deutschen Königszu. Damit haben sie sich <strong>als</strong> Wahlmännerdes Königs einen festen Platz im Machtgefügedes Reiches gesichert. Die Krone gibt esnur mit ihrer Zustimmung – und die lassensie sich mitunter teuer bezahlen.„Grundgesetz“ des Mittelalters: die Goldene BulleKAPITEL 2: GETRENNTE WEGE


Der Kaiser herrscht jetzt über das „HeiligeRömische Reich DEUTSCHER NATION“, wiees jetzt heißt. Aber die Kur- und Reichsfürstenhaben ihre Macht klar abgesteckt: Einföderaler Flickenteppich – statt nationalerEinheit. Ganz anders in Frankreich: Zwarverleihen sich die Könige, statt weiter nachder Kaiserkrone zu schielen, ihren klangvollenTitel „allerchrichstlichster König“ kurzerhandselbst – doch anders <strong>als</strong> in Deutschlandist rechts des Rheins tatsächlich eine starkeZentralmacht erwachsen.KAPITEL 2: GETRENNTE WEGE


KAPITEL 3MACHT UND GLAUBEDer Streit um Macht und Glaube in Europas Mitte wird nicht nurmit kriegerischen Mitteln ausgetragen. Auch zahlreiche Bauwerkezeugen vom Zwist der mächtigen Dynastien, vom Kampf derKonfessionen und vom Streben nach ewigem Ruhm.


KARL V.Ein Habsburger wird KaiserFrankfurt am Main im Jahr 1519: Wieder einm<strong>als</strong>teht die Wahl eines Herrschers des HeiligenRömischen Reiches vor der Tür. Die Kaiserhaben zwar an Macht eingebüßt – nicht aberan Prestige. Deshalb bewerben sich auch jetztKandidaten aus dem In- und Ausland um einenPlatz in der kaiserlichen Ahnengalerie. Die beidenaussichtsreichsten Kandidaten sind Franzaus dem Hause Valois und Karl aus dem HauseHabsburg. Franz ist erkennbar an seiner markantenNase, kommt aus Cognac und ist seitvier Jahren König von Frankreich. Karl – mitdem starken Kinn – ist der Enkel des geradeverstorbenen Kaisers. Er stammt aus Gent inFlandern. Seit 1516 regiert er das KönigreichSpanien, aber auch dessen Kolonien in dergerade entdeckten „Neuen Welt“ – auch ohnedeutsche Kaiserkrone ein Imperium.Gewählt wird im Frankfurter Bartholomäusdom.Hier treffen sich die Kaisermacher: Insgesamtsieben Kurfürsten, vier weltliche unddrei geistliche Würdenträger. Ohne ihre Zustimmungkann kein römisch-deutscher Kaiserregieren – anders <strong>als</strong> die französischenKönige, die Macht und Einfluss erben. DieStimmen der Kurfürsten haben ihren Preis:Am Ende gibt Geld, nicht gute Argumente denAusschlag für ihre Entscheidung. Dank großzügiger„Wahlgeschenke“ wird der HabsburgerKarl einstimmig zum Kaiser bestimmt.Korruption und Ämterkauf: Was heute einSkandal wäre, ist dam<strong>als</strong> ganz normal.Die Wahl Karls setzt einen Konflikt in Gang,der die Beziehungen zwischen dem HeiligenRömischen Reich deutscher Nation undFrankreich für lange Zeit prägen wird. Franzfühlt sich eingekreist. Denn Karl regiert jetztnicht nur in Spanien, sondern auch im „HeiligenRömischen Reich“. Habsburger und Valoisbeanspruchen die Hegemonie auf dem Kontinent– und stehen sich gegenseitig im Weg. Inzwei Jahrzehnten führen Franz und Karl vierKriege. Ein Rückschlag für die deutsch-französischenBeziehungen?KAPITEL 3: MACHT UND GLAUBE


EIN ZWEIFELHAFTES GESCHÄFTSMODELLAblasshandel & ReformationAuch der Papst in Rom will seine Macht zurSchau stellen. 1506 gibt er den Auftrag für denNeubau des Petersdoms. Er soll das bis datogrößte Gotteshaus der Welt werden. Der schöneSchein hat seinen Preis. Doch die katholischeKirche hat eine Lizenz zum Gelddrucken:Im Auftrag des Papstes ziehen Ablasshändlerdurch die Lande. Sie bieten den GläubigenErlass von Sündenstrafen gegen bare Münze:„Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seelein den Himmel springt.“ Mit solchen Sprüchengehen die Kirchenkrämer auf Kundenfang. DerHandel mit dem Seelenheil ist ein einträglichesGeschäft, denn die Menschen haben Angst vordem himmlischen Gericht.Trotz aller Fortschritte der beginnendenNeuzeit fristet die Mehrheit der Franzosenund Deutschen fernab der Paläste von Adelund Klerus ein einfaches Dasein. Der Tod istdurch Kriege, Krankheiten und karge Kostalltäglicher Begleiter ihres Lebens. Und dieAngst vor der Hölle lässt ihnen keine Ruhe:Die Kirche heizt die Furcht vor dem Fegefeuerzusätzlich an: Nur die Rechtschaffenenkommen in den Himmel, den Sünderndrohen Höllenqualen. Wer sich davon imDiesseits freikauft, kann sich absichern gegendie Schrecken im Jenseits – so glaubt manfest.Petersdom in RomInnenansicht der BasilikaKAPITEL 3: MACHT UND GLAUBE


Doch dann greift ein deutscher Mönch dieKirche mit seinen Thesen an: Martin Luther.Er wendet sich gegen den Ablasshandel undprangert die Prunksucht des Papstes an. DieGnade Gottes ist nicht käuflich, so glaubt er,sondern ein Geschenk an alle Gläubigen. Ansich eine einfache Erkenntnis. Doch damitstellt Luther die Autorität des Papstes in Frage.Und damit bringt ihn seine Vorstellungvon Veränderungen in der Kirche auch inKonflikt mit dem Kaiser. Denn Karl V. verstehtsich <strong>als</strong> Verteidiger der katholischenChristenheit. Er sieht in Luther eine Gefahr.Anders einige deutsche Landesfürsten, dienach mehr Unabhängigkeit von Kaiser undKirche streben. Sie setzen dabei auf LuthersLehre. Der bleibt beim Reichstag zu Worms1521 im Angesicht des Kaisers standhaft undwird damit zur Leitfigur – nicht einer Kirchenreform,wie er wollte, sondern der Reformation,an deren Ende die Kirchenspaltungin Europa steht. Seine Botschaft findet raschGehör – bei Deutschen und Franzosen.Luthers Anhänger werden <strong>als</strong> Protestantenbezeichnet. Eine Reihe von Reichsfürstenübernehmen seine Ideen und wenden sichgegen Kaiser und Papst. Es kommt zu blutigenKriegen um die wahre Lehre – und umdie Macht im Reich. Seine Ideen breiten sichderweil vom Heiligen Römischen Reich deutscherNation in ganz Europa aus, auch inFrankreich. Doch während im deutschsprachigenRaum Martin Luther den Ton angibt,wird <strong>hier</strong> ein anderer zur Gallionsfigur derProtestanten: Johannes Calvin. Obwohl er nieTheologie studiert hat, entwickelt er die Ideendes deutschen Reformators weiter. Der französischeKönig lässt Calvin und seine Mitstreiterzunächst gewähren. Denn er hofft auf einBündnis der Protestanten gegen den katholischenKaiser. Das ist weder im Sinne Calvins,noch Luthers. Sie hoffen auf die Reformierbarkeitder gesamten Kirche. Doch Machtund Religion sind in dieser Zeit allzu oft zweiSeiten der gleichen Medaille. Und das wirdentscheidend sein für die nächsten 150 Jahre.Die „ketzerische Lehren“ hatten sich dankeiner Erfindung aus deutschen Landen rasantverbreiten können: Dem Buchdruck. Erstdamit erreichen die Schriften von Calvin undLuther ein Massenpublikum. In Frankreichentwickelt sich Lyon zum Zentrum des Buchdrucks– dank deutscher Entwicklungshilfe.Deutsche Drucker zeigen den Franzosen denrichtigen Umgang mit Druckerpresse und beweglichenLettern. Durch die Qualität seinerArbeit, macht sich der gebürtige SchwabeSebastian Gryphius <strong>als</strong> ‚Sébastien Gryphe‘schnell einen Namen. Deutsche Wertarbeitaus Lyon.Greift die Kirche an: Martin LutherJohannes CalvinKAPITEL 3: MACHT UND GLAUBE


DIE BIBEL ALS URSPRUNGReformation und SpracheNach seinem Auftritt vor Kaiser Karl V. beimReichstag zu Worms 1521 wird Luther geächtet.Doch auf der Wartburg bei Eisenach kann ersich verstecken – mit Hilfe seines sächsischenLandesherrn, Friedrich dem Weisen. Hierarbeitet Luther an seinem Meisterwerk: DerÜbersetzung des Neuen Testaments der Bibel indie Sprache des Volkes. Jeder Deutsche soll dieMöglichkeit haben, die Heilige Schrift zu verstehen– auch ohne Priester. 1522 ist die deutscheFassung des Neuen Testaments fertig. 1534folgt schließlich die Gesamtausgabe der ‚BibliaDeudsch‘. Lange bevor sich die Deutschen politisch<strong>als</strong> Nation verstehen, wird Luthers Bibelübersetzungzur Vereinheitlichung ihrer Sprachebeitragen – ein Meilenstein auf dem Wegzur deutschen „Kulturnation“.Fast zeitgleich arbeiten Reformatoren inFrankreich an einer französischen ‚Volksbibel‘.Auf die ‚Sainte Bible‘ folgt eine weitereÜbersetzung von Pierre Robert Olivétan,einem Cousin Johannes Calvins. Für das neueGlaubensverständnis hat sie eine ähnlicheBedeutung wie die Lutherbibel. Die Vereinheitlichungder Sprache jedoch wird inFrankreich vom König verordnet – ganz einfach.Per Dekret setzt er Französisch <strong>als</strong> offizielleAmtssprache durch.Wartburg im thüringischen EisenachDie Bibel – Jetzt auch für das normale VolkKAPITEL 3: MACHT UND GLAUBE


DIE „BARTHOLOMÄUSNACHT“Die Nacht der langen MesserDer Kampf zwischen dem Valois-König FranzI. und dem Habsburger Kaiser Karl V. um dieVorherrschaft in Europa verschärft sich derweilweiter. Und in ihrem Kampf wenden siesich verstärkt auch gegen vermeintliche „<strong>Feinde</strong>im Inneren“: die Protestanten. Im Oktober1534 weilt Franz in Amboise, <strong>als</strong> papstfeindlichePlakate seine Aufmerksamkeit auf sichziehen. Selbst an der Tür zum königlichenSchlafgemach hing eines. Das erzürnt Franz,denn die Affäre stellt seine Autorität in Frage.Der König setzt ein Zeichen und bekennt sichausdrücklich zum Katholizismus. Damit istFrankreich hineingezogen in den Konfessionskonflikt:Nur zwei Wochen nach dieser „Affairedes Placards“ brennen die ersten Scheiterhaufen.Prominente Protestanten fliehen aus demLand, auch Johannes Calvin. Wie viele seinerGlaubensbrüder sucht auch er Zuflucht in derSchweiz. Nach einem alten Wort für „Eidgenossen“werden die evangelischen Franzosen seither„Hugenotten“ genannt.Für Calvins in Frankreich gebliebenen Anhängerwird das Klima rauer – auch unterden Nachfolgern von König Franz. Abernichts deutet zunächst auf die bevorstehendeTragödie hin: Das Massaker an den PariserProtestanten. Die „Bartholomäusnacht“ imAugust des Jahres 1572 ist der Auftakt zueiner Mordwelle, die ganz Frankreich erfasstund mehr <strong>als</strong> 10.000 Menschenleben fordernwird. Ein Überlebender berichtet später:„Bald gab es keine Gasse mehr, auch die allerkleinstenicht, wo nicht einer den Tod fand,und das Blut floss über die Straßen, <strong>als</strong> habe esstark geregnet.“ Tagelang treiben die Leichenin der Seine. Später werden sie einfach verscharrt.Aus dem Haus der Habsburger: Karl V.König Franz I. aus der Dynastie der ValoisKAPITEL 3: MACHT UND GLAUBE


„Bartholomäusnacht“: Darstellung des französischen Malers François DuboisKAPITEL 3: MACHT UND GLAUBE


Mit den Protestanten im Heiligen RömischenReich deutscher Nation versucht Kaiser Karlschon viel früher kurzen Prozess zu machen.1547 trifft er in Mühlberg an der Elbe aufein Bündnis lutherischer Landesfürsten. Ertriump<strong>hier</strong>t ein letztes Mal, fast alle seiner7.000 Gegner bezahlen ihren Widerstand mitdem Leben. Doch trotz der Niederlage: Dieprotestantischen Fürsten lassen sich nichtunterkriegen. Und ohne sie kann kein Kaiserdas Reich regieren. Waffen allein können denKonflikt der Konfessionen nicht lösen. EineEinsicht, die sich langsam durchsetzt, zuerstim Reich der Deutschen.In Augsburg einigen sich die Kontrahentenauf einen Kompromiss: Der 1555 verabschiedeteReligionsfriede stärkt die deutschenLandesherren. Sie bestimmen jetzt die Religionihrer Untertanen – nicht der Kaiser. VierJahrzehnte später zieht der König von Frankreichnach: Mit dem Edikt von Nantes beendeter die Verfolgung der Hugenotten.KAPITEL 3: MACHT UND GLAUBE


GRAUSAME JAHRZEHNTEDer Dreißigjährige KriegDer Augsburger Religionsfriede ist ein trügerischerFrieden: Zu Beginn des 17. Jahrhundertsschränkt der Kaiser die Rechte der Reformiertenwieder ein. In Prag, der alten kaiserlichenResidenzstadt, lassen sich die Protestantenprovozieren: Kurzerhand schmeißen sie denkatholischen kaiserlichen Statthalter aus demFenster. Dieser Prager „Fenstersturz“ von 1618besiegelt das Ende des Religionsfriedens. Nochgibt es keine Toten. Aber es ist der Startschussfür einen der grausamsten Konflikte in der GeschichteEuropas: den Dreißigjährigen Krieg.Vordergründig geht es um die richtige Religion.Doch die Kriegsparteien haben auch ganzprofane Beweggründe: Sie kämpfen um dieDominanz auf dem Kontinent. Koalitionenwerden aus Kalkül geschlossen, nicht ausGlaubensgründen. Dam<strong>als</strong> wie heute. Gegenden Kaiser und die Katholiken verbündensich zunächst die Könige von Dänemark undSchweden mit den deutschen Protestanten.Auch das katholische Frankreich greift ein– auf protestantischer Seite. Kardinal Richelieu,der Erste Minister des Königs, will endlichdie Hegemonie der Habsburger brechen.Der Konkurrenzkampf zwischen dem französischenund dem deutschen Herrscherhausgeht in die nächste Runde. Doch diesmal findendie Kämpfe nicht im fernen Italien statt,sondern mitten im Reich. Leidtragender istdas einfache Volk – wie immer.Erst nach 27 Jahren Krieg gibt es einen Hoffnungsschimmer,den mörderischen Machtkampfin der Mitte Europas zu beenden. Ausganz Europa strömen 1645 Delegierte in dievom Krieg verschonten Städte Osnabrückund Münster in Westfalen. Ihr Ziel: Der bisdato größte Friedenskongress aller Zeiten.Die Konferenz zieht sich über drei Jahre.Auch Frankreich sitzt am Verhandlungstisch– <strong>als</strong> eine der Garantiemächte. Alles drehtsich um die Frage, wie man einen Ausgleichschafft zwischen den Mächten und Konfessionen.1648 wird der Ratssaal von Münsterzum Schauplatz einer historischen Einigung:dem Westfälischen Frieden. Der Vertrag istein Meilenstein der Diplomatiegeschichte,er besiegelt eine neue Friedensordnung fürDer Westfälische Friede wird geschlossenEuropa – und setzt einen Schlussstrich unterdie Glaubenskriege im Reich. Von nunan herrscht Toleranz gegenüber Katholiken,Lutheranern und Reformierten. Aber derFriede birgt auch Zündstoff für das Verhältnisvon Deutschen und Franzosen.KAPITEL 3: MACHT UND GLAUBE


Die Friedensverträge beenden den Dreißigjährigen KriegKAPITEL 3: MACHT UND GLAUBE


DER RHEIN ALS GRENZEZankapfel Elsass & Aufbau OstIm Westfälischen Frieden werden die Grenzendes Reiches neu gezogen, die konfessionelle Zersplitterungund die Kleinstaaterei festgeschrieben.Territorien, die nur noch nominell zumReich gehörten, erhalten ihre Unabhängigkeit: dieSchweiz und die Niederlande. Frankreich sichertsich Gebiete im Elsass und in Lothringen. DerKönig von Frankreich nutzt den Machtverlustdes Kaisers: Was ihm nach dem WestfälischenFrieden noch nicht gehört, annektiert er in denfolgenden Jahrzehnten mit Gewalt. So wird derRhein zum Grenzfluss – eine nicht versiegendeStreitquelle für Deutsche und Franzosen.Der Sonnenkönig wird auch für die französischenHugenotten zum Problem. In Religionsfragenist er rückwärtsgewandt undschafft die religiöse Toleranz kurzerhand ab.In seiner absoluten Monarchie ist fortan keinPlatz mehr für Andersgläubige. Die Hugenottenwerden wieder verfolgt. Wer nicht freiwilligkonvertiert, wird von den Dragonerndes Königs mit Gewalt bekehrt. Es gibt nureinen Ausweg: Die Flucht ins protestantischeAusland. Von den insgesamt gut 200.000 französischenGlaubensflüchtlingen suchen rund50.000 Schutz bei ihren deutschen Nachbarn.Kein Wunder, dass die Hugenotten von vielenFürsten mit offenen Armen empfangen werden.Christliche Nächstenliebe geht Hand inHand mit wirtschaftlichen Interessen. AuchFriedrich Wilhelm, der ‚Große Kurfürst‘ vonBrandenburg, heißt die Glaubensflüchtlingewillkommen. Sie werden eine wichtige Stützefür den Aufstieg Brandenburgs, dem Herzlandder späteren Großmacht Preußen.Noch fehlt dem französischen König einKronjuwel des Kaisers: Die freie ReichsstadtStraßburg mit ihrem alles überragendenMünster, dem dam<strong>als</strong> höchsten Gebäude derWelt – eine schöne Siegprämie. Mit der Übergabeder Stadtschlüssel an König Ludwig XIV.ist die Eroberung des Elsass im Jahre 1681abgeschlossen. Die aggressive Expansionspolitikdes französischen „Sonnenkönigs“ wirdein weiterer Schritt auf dem Weg zur Erbfeindschaft.In ihrer neuen Heimat sorgen die Hugenottenfür blühende Landschaften nach dem DreißigjährigenKrieg. Den Brandenburgern zeigensie zum Beispiel, wie man Tabak anbautund verarbeitet – so sah dam<strong>als</strong> französischer‚Aufbau Ost‘ aus. Aber sie verpflanzen nochmehr kostbares ‚Know-How‘ aus Frankreichin deutsche Lande: Noch heute zeugen Maulbeeralleenvon einer vergessenen Luxusindustrie:Die Blätter der Maulbeerbäumedienten der Zucht von Seidenraupen.„Sonnenkönig“ Ludwig XIV.KAPITEL 3: MACHT UND GLAUBE


KAPITEL 4SCHAULAUF DER SONNENKÖNIGEUnter Ludwig XIV. steht Frankreich im Zenit seiner Macht. DerLebensstil des Sonnenkönigs ist Vorbild für Herrscher in ganzEuropa, auch für deutsche Fürsten. An ihren Höfen spricht manFranzösisch. Die französische Literatur und Philosophie wird zurInspiration für Intellektuelle. Zugleich gewinnt die eigene Sprachefür die deutschen Dichter und Denker an Bedeutung.


LEBEN WIE EIN SONNENKÖNIGFranzösische VorbilderEr will Frankreich zur führenden, alles überstrahlendenNation machen – und wird dafürzahlreiche Kriege führen: Ludwig XIV.(1638-1715), genannt der „Sonnenkönig“. „DerStaat bin ich“, soll er gesagt haben – zuzutrauenwäre es ihm. Denn Ludwig sieht sich<strong>als</strong> Fixstern, um den sich alles dreht. Prunkund Verschwendungslust, wohin man sieht:Das Schloss Versailles bei Paris, das <strong>als</strong> kleinesJagdschloss gebaut wurde, wird zur wohlprächtigsten Residenz aller Zeiten ausgebaut– zu einem sagenhaften Preis. So maßlos wiedas Schloss ist auch sein Bauherr: Ludwig istein Meister der Inszenierung und der Eigenwerbung.Sein Bildnis in Herrscherpose ist einesder berühmtesten Staatsporträts überhaupt.Und Ludwig herrscht über ein mächtiges Reich.18 Millionen Menschen leben in Frankreich,so viele wie in keinem anderen europäischenLand.Und Deutschland? Hier gibt es noch keinengeeinten Staat. Es ist zersplittert in unzählige,fast souveräne Territorien, die meistendavon Kleinstaaten von der Größe Liechten-steins. Jeder Landesfürst will ein kleinerLudwig sein. So wie August I., „der Starke“von Sachsen (1670-1733). Dresden wird unterseiner Herrschaft zur barocken Residenz, zueinem sächsischen Versailles. Alles ist <strong>hier</strong>à la française: die Mode, die Kultur, die rauschendenFeste an seinem Hof - und natürlichauch die Kokotten und Maitressen. Nicht nurin Sachsen, auch an den Höfen von Preußenund Bayern wird die französische Lebensartimitiert. Und man parliert allerorten aufFranzösisch – es ist die Sprache des Adels inganz Europa.August der Starke hat noch weitergehendeAmbitionen: Er will auf dem europäischenParkett glänzen und König werden – wie seingroßes Vorbild Ludwig XIV. Hinter seinemStreben nach der Königswürde steckt mehr<strong>als</strong> nur persönliche Eitelkeit: Es geht um denRang der aufstrebenden deutschen Staatenwie Sachsen oder Preußen im Konzert dereuropäischen Mächte. Als 1696 der Königvon Polen stirbt, sieht August seine Chancegekommen. Polen ist eine Adelsrepublik,die Königswürde wird per Wahl verliehenund nicht – wie in Frankreich – vererbt. DerSachse hat einen Kontrahenten: den PrinzenConti aus Frankreich, der vom Sonnenkönigpersönlich unterstützt wird. Wer die Kronewill, muss vor allem eines investieren: Bestechungsgeld– dam<strong>als</strong> durchaus gängigePraxis. Beide schmieren den polnischen Adel,gigantische Summen fließen, um sich dieentscheidenden Wähler gewogen zu machen.Am Ende triump<strong>hier</strong>t August: Er wird Königvon Polen.Das Schloss Versailles nahe ParisKAPITEL 4: SCHAULAUF DER SONNENKÖNIGE


LIESELOTTE VON DER PFALZEin Landei in Versailles1671 kommt eine junge Deutsche an den französischenHof: Mit 19 Jahren wird Lieselottevon der Pfalz mit dem Bruder des Sonnenkönigsverheiratet, allerdings nicht ganz freiwillig.Ihre Ehe wird aus Staatsräson geschlossen– dam<strong>als</strong> nichts Ungewöhnliches. Ihr Vater, derpfälzische Kurfürst, will durch das Bündnis mitdem expansiven Frankreich Ludwigs XIV. seinkleines Land schützen. Während sich LieselottesGemahl, der Herzog von Orléans, lieber mitLustknaben vergnügt, verzehrt sich Lieselottein zahllosen Briefen nach ihrer Heimat. DasLandei und der gekünstelte Umgang bei Hofe:Hier prallen Welten aufeinander. Lieselottemacht sich nichts aus Mode, liebt Bücher undist gerne an der frischen Luft. In Frankreichfühlt sie sich ein Leben lang fremd: „Ich haltees jederzeit für eine Ehre, eine Deutsche zu seinund die deutschen Maximen zu behalten, obwohlsie <strong>hier</strong> nicht gefallen“, schreibt sie.Die einzige Aufmunterung ist ihr königlicherSchwager, der Sonnenkönig höchstpersönlich.Die beiden ungleichen Gesprächspartnerverbindet eine enge Freundschaft. Der Franzoseund die Pfälzerin teilen die Leidenschaftfür das Reiten, die Natur und die Jagd. DerKönig findet ihre bodenständige Art erfrischend:„Sie ist diejenige Frau, die den meistenVerstand und das angenehmste Wesen der Welthat“. Lieselotte dagegen erklärt: „Er ist einwahrhaft braver, guter Herr, den ich recht liebhabe“.Elisabeth Charlotte, Prinzessin von der PfalzKAPITEL 4: SCHAULAUF DER SONNENKÖNIGE


„BRENNEN SIE DIE PFALZ NIEDER“:Verbrannte Erde1685 stirbt Lieselottes Bruder, Kurfürst Karlvon der Pfalz. Da es keinen direkten Thronfolgergibt, erhebt Ludwig XIV. im Namen seinerSchwägerin gleich selbst Erbansprüche an dieKurpfalz – dabei hatte diese bei der Heirat explizitauf ihr Erbe verzichtet. Trotzdem fackeltLudwig nicht lange: Im Herbst 1688 lässt er seineTruppen in die Pfalz einmarsc<strong>hier</strong>en – ohneKriegserklärung. Der pfälzische Erbfolgekriegschlägt Wunden, die bis heute nicht geheiltsind. Und dennoch ist es kein Krieg der Nationen:Es geht um territoriale Machtansprüchevon Herrschern. Dorf um Dorf, Stadt umStadt fällt in die Hand der Franzosen: Mainz,Worms und schließlich die Kaiser- und DomstadtSpeyer. Ein Augenzeuge berichtet: „Grausiger<strong>als</strong> Mongolen wüteten die Franzosen. Sieschändeten sogar den Dom, rissen dort beigesetztedeutsche Kaiser aus ihren Grüften undspielten betrunken Kegel mit ihren Schädeln.“„Brûlez le Palatinat“ – „Brennen Sie die Pfalznieder“: Mit der Politik der „verbrannten Erde“will der Sonnenkönig seinen Anspruch aufdie Pfalz durchsetzen. Unter Führung seinesGener<strong>als</strong> Mélac werden ganze Landstrichein Schutt und Asche gelegt. Erst 1693 werdendie Franzosen aus der Pfalz zurückgedrängt.Auf ihrem Rückzug verwüsten sie Heidelberg,Lieselottes Heimat. Die Brücke überden Neckar wird gesprengt, die ganze Stadtund das Schloss liegen in Trümmern. Selbstein französischer Offizier berichtet schockiert:„Bevor sie Brand anlegten, plündertensie nicht nur alles, sie vergewaltigten auchschamlos Mädchen und Frauen. Das Gerüchtvon diesen Gewalttaten hatte sich im Landeverbreitet, so dass die Bewohner vor uns flohen,wie vor <strong>Feinde</strong>n und Vernichtern des Menschengeschlechts.“Von Versailles aus mussLieselotte der Zerstörung ihrer Heimat tatenloszusehen. Die Gräueltaten belasten dasdeutsch-französische Verhältnis, denn jetztwerden aus verehrten Vorbildern verhassteErbfeinde. „Was mich am meisten schmerzt,ist, dass das erbärmliche Elend in der armenPfalz in meinem Namen geschieht und dass ichsozusagen meines Vaterlands Untergang bin.“KAPITEL 4: SCHAULAUF DER SONNENKÖNIGE


DIE AUFKLÄREREin Kontinent wird erleuchtetMitte des 18. Jahrhunderts beginnt in Paris einneues Zeitalter: die Aufklärung. In den Cafésund Salons treffen sich die führenden Denkerder Zeit. Montesquieu, Voltaire, Rousseau undDiderot diskutieren über Gott und die Weltund entwickeln eine gewagte Idee: Der Menschmuss sich nicht nur nach dem richten, wasüberliefert ist. Er selbst besitzt ein mächtigesWerkzeug, das er nur benutzen muss: seineeigene Vernunft. Die Aufklärer sammeln dasWissen ihrer Zeit und erleuchten damit denKontinent. Ihre Enzyklopädie ist quasi dieWikipedia des 18. Jahrhunderts. Der Inhalt istrevolutionär – und bisweilen ketzerisch. Fürdie Philosophen steht die Wissenschaft überdem Glauben. Mit diesen Gedanken wird letztlichdem Weltbild der Kirche und der von Gottabgeleiteten Macht der Könige das Fundamententzogen.Die Ideen der Aufklärung verbreiten sichrasend schnell in ganz Europa. Die Botschaftkommt auch in Berlin an, der preußischenHauptstadt. Hier herrscht Friedrich II., „derGroße“, der sich nicht <strong>als</strong> absolutistischerSonnenkönig sieht, sondern <strong>als</strong> „erster Dienerdes Staates“. Nicht Willkür, sondern Vernunftsoll seine Herrschaft prägen – behauptet erzumindest. Eine der modernen MaximenFriedrichs ist die religiöse Toleranz – zu einerZeit, in der in weiten Teilen Europas nochGlaubenszwang herrscht. In seinem Land solljeder „nach seiner Façon“ selig werden.Friedrich II. will nicht in Berlin leben. InPotsdam baut er sich ein Schloss und nenntes „Sanssouci“ und nicht „Schloss Sorglos“.Friedrich spricht fließend Französisch,Deutsch nach eigenen Angaben nur wie „einKutscher“. Er ist von Frankreich fasziniertund schätzt die deutsche Kultur eher gering.Vielen deutschen Dichtern und Denkernplatzt bei so viel Franzosenliebe aber allmählichder Kragen: Der Dichter Lessingschimpft: „Wir sind noch immer die untertänigenBewunderer der Franzosen und alles wasvon jenseits dem Rheine kommt, ist schön, reizend,allerliebst, göttlich.“ Erst die Dichter derdeutschen Klassik überwinden den kulturellenMinderwertigkeitskomplex und schaffenetwas Besonderes: eine einheitliche, deutscheLiteratursprache. Damit prägen sie die deutscheKulturnation. Es ist vor allem die Sprache,die die Menschen, die noch immer aufviele kleine Staaten verteilt leben, verbindet.KAPITEL 4: SCHAULAUF DER SONNENKÖNIGE


MARQUISE DE POMPADOUREine Mätresse macht PolitikUnd was ist mit den typisch deutschen Tugenden:Disziplin, Fleiß, Pflichterfüllung? Sie gehenauf Friedrichs preußische Armee zurück.Friedrichs Welt ist eine reine Männerwelt. Politik,die von Frauen gemacht wird, beschimpftder „Alte Fritz“ <strong>als</strong> „Herrschaft der Unterröcke“.Sein Spott zielt auch auf Frankreich: Hierzieht eine Frau die Strippen hinter den Kulissen– keine Königin, sondern die <strong>Geliebte</strong> des französischenKönigs, Ludwigs XV., Marquise dePompadour. Der ehrgeizigen Tochter eines einfachenLebensmittelhändlers ist es gelungen,zur offiziellen Mätresse des Nachfolgers vonSonnenkönig Ludwig XIV. aufzusteigen. Damitist sie die mächtigste Frau Frankreichs. Fastzwei Jahrzehnte lang behält die Pompadourihre herausragende Position.In ihren Privatgemächern wird große Politikgemacht: Obwohl sie kein staatliches Amtbekleidet, nimmt die Pompadour Einfluss aufdie Wahl der Minister, fördert die Künste undempfängt ausländische Diplomaten aus ganzEuropa. Auch in der Mode ist sie stilprägend.Das „It-Girl“ des Rokoko entwirft eigene Kreationen,zum Beispiel einen zum Kleid passendenStoffbeutel, der ihren Namen trägt: derPompadour.Friedrich der II, genannt der „Alte Fritz“KAPITEL 4: SCHAULAUF DER SONNENKÖNIGE


BÜNDNIS GEGEN PREUSSENDer siebenjährige KriegFriedrichs Großmachtgelüste sind den europäischenSupermächten jener Zeit ein Dorn imAuge. 1756 verbünden sie sich gegen Preußen.Ausgerechnet drei mächtige Frauen stehenFriedrich nun gegenüber: die Marquise de Pompadour,die österreichische Kaiserin MariaTheresia von Habsburg und die russische ZarinElisabeth. Sein einziger Bündnispartner ist England.Doch die Engländer stellen nur Geld undkeine Soldaten: Sie kämpfen in Übersee gegenFrankreich um die Vorherrschaft in den KolonienNordamerikas. Friedrich sieht seine einzigeChance in einem Überraschungsangriff. OhneKriegserklärung überfällt er das reiche Sachsen,das er Preußen einverleiben möchte. Dem Monarchengeht es um einen Platz unter den Großmächten– mit aller Macht und ohne Rücksichtauf Verluste.Es ist der Beginn des Siebenjährigen Krieges,dessen Ausgang bis zuletzt ungewiss ist. Diedrei Großmächte Österreich, Frankreich undRussland kämpfen Seite an Seite gegen Friedrich.Er ist von Gegnern umzingelt. Doch amEnde wird es keine Gewinner geben, sondernnur Opfer.KAPITEL 4: SCHAULAUF DER SONNENKÖNIGE


NIEDERLAGE GEGEN PREUSSEN„Nach uns die Sintflut“Derweil zieht die Marquise de Pompadourdie politischen Fäden. Mit Ehrgeiz und Ausdauermacht sie den Krieg gegen Preußen zuihrem eigenen Projekt. Sie will den „Attila desNordens“, wie sie Friedrich nennt, „pulverisieren“.In ihrem Hass auf den Preußenkönigsetzt die Pompadour alles auf eine Karte.Und macht dabei einen entscheidenden Fehler.Sie überzeugt den König, alle Kräfte fürden Kampf gegen Preußen zu mobilisieren:Statt wie geplant 24.000 Soldaten, werden aufihre Initiative hin gleich drei Armeen in denKampf geschickt. Dafür muss aber die französischeKriegsflotte verkleinert werden, diegegen England in Übersee kämpfen soll. Einfataler Entschluss. Denn Frankreich wirdim Siebenjährigen Krieg seine nordamerikanischenGebiete an den kolonialen RivalenEngland verlieren.Im November 1757 stehen sich bei Roßbachin der Nähe von Merseburg französische undpreußische Truppen gegenüber. FriedrichsInfanterie kämpft mit der Präzision einesUhrwerks: Mann neben Mann, gestaffelt indrei Reihen, rücken die Soldaten wie eineMauer gegen ihren Feind vor. Nach zweiStunden ist die französische Armee geschlagen.Preußens König spricht überheblichvom „Spaziergang in Roßbach“. Die Niederlagewird zum Stachel im Fleisch des französischenSelbstbewusstseins. 50 Jahre späterlässt Napoleon das preußische Siegerdenkmalin Roßbach zerstören. Nichts soll mehr an dieSchmach erinnern.5000 französische Soldaten lassen ihr Lebenin der verhängnisvollen Schlacht. Dochdie Mätresse des Königs möchte sich nichtgeschlagen geben, sie will mit allen Mittelnweiterkämpfen: „Après nous le déluge – Nachuns die Sintflut“, soll sie gesagt haben. Dochin Frankreich kippt die Stimmung, das Volkmacht jetzt die Pompadour für die Misserfolgeim Krieg verantwortlich. Trotzdem wirdder Krieg noch fünf Jahre andauern. Im Jahrnach Kriegsende stirbt die Marquise einsamin ihrem Palast.Friedrich dagegen kehrt <strong>als</strong> gefeierter Heldzurück. Sein Preußen ist jetzt auf dem Wegzur Großmacht. Die traurige Bilanz des SiebenjährigenKrieges: eine Million Tote aufallen Kriegsschauplätzen. Gemessen an derBevölkerungszahl hat dieser Krieg mehr Opfergekostet <strong>als</strong> die beiden Weltkriege des 20.Jahrhunderts zusammen. Frankreich hat er inden Bankrott getrieben. Die große Schuldenlastträgt das Volk, wer sonst. Der Adel und derkönigliche Hof in Versailles aber schwelgenweiterhin im Luxus. Doch schon bald stehendie Zeichen auf Veränderung. Die Zeit der Sonnenkönigeneigt sich ihrem Ende zu.KAPITEL 4: SCHAULAUF DER SONNENKÖNIGE


KAPITEL 5AUF DIE BARRIKADEN!In der französischen Revolution entdeckt das Volk erstm<strong>als</strong>sein Selbstbewusstsein. Mehr noch <strong>als</strong> vorher ist man nunstolz, Franzose zu sein. In den Befreiungskriegen gegenNapoleon entwickelt sich auch in Deutschland allmählich einNationalbewusstsein. Damit beginnt die Suche nach Farben undZeichen, die die Nation verkörpern.


EINE NEUE EPOCHE BEGINNT„Es lebe die Revolution“Schloss Versailles im Sommer 1789: Noch istdie Welt am Hof des Königspaares Ludwig XVI.und Marie-Antoinette in Ordnung. Ihr ausufernderLebensstil verschlingt Unsummen, dieStaatskassen sind leer, das Volk hungert. Dochbei Hofe ist der Tisch reich gedeckt. Irgendwo,so wird gemeldet, soll es Unruhen geben.Die braven Untertanen sollen den Aufstandproben. Die werden sich schon wieder beruhigen,glaubt man bei Hofe. Am Abend kehrt derKönig von einem Jagdausflug zurück. In seinemTagebuch notiert er: 14. Juli 1789, „rien“ –nichts. Ein fataler Trugschluss!Marie-AntoinetteBourbonen-König Ludwig XVI.Denn das Volk greift zu den Waffen. „Auf zurBastille!“, zum gefürchteten Kerker der Monarchie,lautet der nächtliche Schlachtruf. Vorder Bastille sterben 98 Menschen im Kugelhagel,doch das Volk gibt nicht auf. Es wirdWeltgeschichte schreiben. Die Franzosenwollen keine Untertanen mehr sein, sondernfreie Bürger. Jetzt, ganz plötzlich, schlägtsich der schlaue Monarch auf die Seite derSieger. Ein König des Volkes will er nun sein.Er verlässt Versailles und zieht nach Paris,in den Palast der Tuilerien, heftet sich voraller Augen demonstrativ die blau-weiß-roteKokarde der Revolution an die königlicheBrust. Das Volk ist gerührt. Rufe werden laut:„Es lebe der König, es lebe unser Vater!“. Blau,weiß und rot: Seitdem bildet die Trikolore dieNationalfarben Frankreichs. Bis heute. In denFürstenhäusern rechts des Rheins hat die Revolutionnaturgemäß wenig Anhänger. Nacheinem Appell des Kaisers eilen die deutschenHerrscher dem französischen König zu Hilfe:Ein Kampf des Adels gegen die Revolutionäre.In Valmy, zwischen Reims und Verdun gelegen,kommt es zur Kraftprobe zwischen denrevolutionären Truppen Frankreichs undder deutschen Koalition. Am Morgen des 20.September 1792 zwingen die Franzosen diePreußen zum Rückzug. Für die alten Mächteein vollkommen unerwarteter Sieg. Schonam nächsten Tag wird in Paris die Monarchieaufgehoben, die „Erste Französische Republik“proklamiert.KAPITEL 5: AUF DIE BARRIKADEN!


Johann Wolfgang von Goethe, angesteckt vomrevolutionären Geist, ist Augenzeuge der „Kanonadevon Valmy“. Später erinnert er sich,was er am Abend danach im Kreise anwesenderOffiziere gesagt habe: „Von <strong>hier</strong> und heutegeht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus.“Im Überschwang zeichnet er einen Freiheitsbaum,am Fuß des Baumes steht ein Schild:„Passant, cette terre est libre“ – „Wanderer,dies ist freier Boden.“ Der „Arbre de la Liberté“,der Freiheitsbaum, breitet sich aus. Die Revolutionversprüht ihre Duftmarke – so weitso gut. Wenn da nicht der „Terreur“ gewesenwäre.Nicht wenige deutsche Sympathisanten dergroßen französischen Revolution wendensich mit Grauen ab. Aus Frankophilie wirdFrankophobie. Und die französischen Adeligenfliehen, unter anderem nach Deutschland.Die aufrührerischen französischenNachbarn gelten nun <strong>als</strong> verderbt, unsittlich,haltlos. Jetzt drängt es die Deutschen, sichvom Nachbarn abzugrenzen, ihren eigenenWeg zu finden, denn sie halten sich selber fürmoralisch überlegen.KAPITEL 5: AUF DIE BARRIKADEN!


VERNUNFT UND ORDNUNGRevolution <strong>als</strong> ExportartikelKommt der Terror nach Deutschland – oder dieFreiheit? Am 6. Oktober 1794 ziehen die französischenRevolutionstruppen in die alte, freieReichsstadt Köln ein. Feierlich wird den Franzosender Stadtschlüssel ausgehändigt, es fällt keinSchuss. Als erstes werden fleißig Freiheitsbäumegepflanzt. In der frisch eroberten Stadt sind sieSymbole der neuen Zeit und markieren das Revierder Revolutionäre. Die neuen Machthaberversprechen den Bürgern Religionsfreiheit. Dochin Wahrheit fallen Pfarrkirchen der Spitzhackezum Opfer. Klöster werden <strong>als</strong> Kasernen genutzt.Und der Verstand soll den lieben Gott ersetzen,die Kirche St. Maria Himmelfahrt ist ab jetzt ein„Tempel der Vernunft“.Aber die Franzosen bringen den stolzen rheinischenReichsstädtern auch Vernunft und Ordnungbei. Sie geben den Häusern Nummern,benennen Straßen und Plätze. Und noch etwashat den Franzosen vom ersten Tag an in derNase gestochen: Der Unrat, Müll und Kot auf denStraßen. Kurzerhand führen sie die Müllabfuhrein. Straßen werden beleuchtet, Friedhöfe angelegt.Ein frischer Wind weht durch die alte Stadt.KAPITEL 5: AUF DIE BARRIKADEN!


NAPOLEON BONAPARTEDer JahrhundertherrscherNapoleon Bonaparte – der rastlose Korse hateine steile Karriere hinter sich, <strong>als</strong> er die Bühneder Weltpolitik betritt. Mit 16 ist er schon Offizier,kurz darauf General. Dann putscht er sichan die Spitze der revolutionären Republik. Am2. Dezember 1804 setzt er sich selbst in Paris inder Kathedrale „Notre Dame“ die Kaiserkroneaufs Haupt. Da ist er gerade einmal 35 Jahrealt. Und sein bescheidenes Vorbild ist Karl derGroße.Napoleon trägt die Ideen der Revolution überden Rhein, und viele Deutsche jubeln ihm zu.Als Erstes geht es den geistlichen Fürstentümernan den Kragen, sie werden aufgelöstund weltlichen Herrschern zugeschlagen.Die Rechte des Adels werden beschnitten.Der preußische König will Frankreich indie Schranken weisen. Am 14. Oktober 1806kommt es bei Jena und Auerstedt zur Schlachtzwischen Napoleons Armee und einem Heeraus Preußen und Sachsen. Doch letztere bleibenohne Chance: Die Blau-Weiß-Roten siegenin nur wenigen Stunden. Preußens legendäremilitärische Großmacht ist gebrochen, Napo-leon der Jahrhundertherrscher, ein „Halbgott“.Triump<strong>hier</strong>end zieht Bonaparte am 27.Oktober 1806 in Berlin ein. Er wird begeistertempfangen – so lässt er es jedenfalls aussehen.Eine der vielen napoleonischen Selbstinszenierungen.Napoleon will das Puzzle der deutschenKleinstaaterei beenden. Deutsche Landesherrengehen ihm dabei hilfreich zur Hand.Unverhohlen kollaborieren sie mit dem französischenKaiser. Rechts des Rheins schließensich mehrere Länder zur „Confédération duRhin“, zum „Rheinbund“ zusammen. Ihr Protektor:Napoleon Bonaparte. Andere Länderwie Württemberg, Bayern oder Sachsen bleibenzwar formal selbständig und werden sogarzu Königreichen erhoben – von NapoleonsGnaden. Doch die neuen Titel kosten Geldund Soldaten: Die Schattenseite des Glanzes.Dazu entstehen ganz neue Gebilde wie das„Königreich Westfalen“ unter dem jüngstenBruder Napoleons, Jérome Bonaparte, wegenseiner ausschweifenden Lebensführung undzahllosen amourösen Abenteuern auchPorträt Napoleon Bonapartes„König Lustik“ genannt. Das einst so mächtige„Heilige Römische Reich Deutscher Nation“jedoch hat ausgedient, mitsamt seiner Kaiserwürde.Der neue Kaiser sitzt in Frankreich.KAPITEL 5: AUF DIE BARRIKADEN!


BEFREIUNGSKRIEGEDer Anfang vom EndeZuletzt führt Napoleon auch noch Krieg gegenRussland, das sich seiner „Kontinent<strong>als</strong>perre“,seiner Seeblockade, die er über das verfeindeteEngland verhängt hat, verweigert. Mit einerriesigen Streitmacht, einem bunten Völkergemisch,bricht er gen Osten auf. Allein 160000 Deutsche zählen zu seiner Grande Armée,nur etwa 15 Prozent kehren lebend zurück. Erquittiert dies mit einem Achselzucken. DieseArroganz wird ihn teuer zu stehen kommen.Die Stimmung schlägt um. Napoleon muss sichjetzt mit einer Übermacht von Gegnern messen,die seine Herrschaft über Europa beendenwollen.Freiwillige sammeln sich und formieren sichin Freikorps wie den „Lützower Jägern“. Sieziehen gegen Napoleon ins Feld. Er nenntsie die „Schwarzen Banditen“. Ihr Sinn fürFarben, oder besser: ihr Mangel an bessererAusrüstung, wird Deutschland bis heute prägen:Sie färben ihre Alltagskleidung einheitlichschwarz und nähen an diese „Uniformen“rote Bordüren. Zusammen mit den goldenenKnöpfen macht das die „deutsche Trikolore“.Der RusslandfeldzugEin modernes Nationalbewusstsein wächst– zum ersten Mal auf deutschem Boden. Esist der Beginn der Befreiungskriege. Die Völkerschlachtbei Leipzig im Oktober 1813 tobtdrei Tage. Es ist eines der blutigsten Gemetzelder Geschichte. Napoleon hat sich und seineStrahlkraft überschätzt: Teile seiner Verbündetenunter den deutschen Staaten wechselndie Seiten. Am Ende geht er geschlagen vomFeld. Sieben Monate später ziehen deutscheTruppen in Paris ein, ein neues Lied auf denLippen: „Das ist des Deutschen Vaterland,Mit seinem Heer zieht Napoleon gen Ostenwo Zorn vertilgt den welschen Tand, wo jederFranzmann heißet Feind, wo jeder Deutscheheißet Freund. Das soll es sein! Das soll es sein!Das ganze Deutschland soll es sein!“ Der patriotischeDichter Ernst Moritz Arndt entwirftein Deutschlandbild, das in der Abgrenzungzu Frankreich entsteht. Erst einmal jedochsind Deutsche und Franzosen – ganz vereint– kriegsmüde. Die Versorgung ist schlecht, dieStaaten sind pleite, viele Menschen hungern.Die glorreiche „Grande Armée“ ist geschlagen,das Spiel ist aus.KAPITEL 5: AUF DIE BARRIKADEN!


Trotzdem: Napoleon hat die Deutschen ineine neue Zeit katapultiert und ihren Aufbruchin die Moderne beschleunigt. Gegenseinen Willen wird er zum Geburtshelfer derdeutschen Nation. Am Ende wird NapoleonBonaparte auf die kleine, einsame Insel St.Helena verbannt. Sie liegt zwischen Südafrikaund Südamerika – weit, weit weg vonEuropa. Und offen bleibt eine Frage: Wer wardieser Napoleon wirklich? Ein Despot, ein Befreier,ein Revolutionär? Der beste Kaiser, derdie Deutschen je regiert hat? Bis heute gibtes kein einheitliches Urteil über Napoleon.Sicher ist nur, dass er das deutsche und dasfranzösische Nationalgefühl entscheidendgeschärft hat.Darstellung der Völkerschlacht bei LeipzigKAPITEL 5: AUF DIE BARRIKADEN!


KAPITEL 6ES LEBE DIE NATIONMit dem Untergang Napoleons ist die Französische RevolutionGeschichte. Europas Fürsten versuchen, die Zeit zurückzudrehen.Doch vieles ist in Bewegung: Die Menschen begehren gegen diealte Obrigkeit auf. Die Eisenbahn verbindet weit entfernte Orteund beschleunigt den Alltag. Für Handel und Gewerbe beginntmit der Industrialisierung eine Blütezeit.Die Welt verändert ihr Gesicht.


EUROPA FORMT SICH NEUKommando zurückWien im Jahr 1815. In der Hauptstadt derHabsburger Monarchie beraten die Vertreterder europäischen Staaten, darunter zahlreichegekrönte Häupter. Sie sind zur Friedenskonferenzgeladen, um die politische Gestalt Europasneu zu formen. Und jeder will sich ein Stückvom großen Kuchen sichern. Der Spuk derFranzösischen Revolution ist Geschichte undder Fürstenschreck Napoleon auf eine ferneInsel verbannt. Jetzt gilt es, wieder für Ruheund Ordnung in Europa zu sorgen. Der Freiheitsdrangder Völker stört nur die alten Mächte.Zumindest darüber herrscht Einigkeit amKonferenztisch.Napoleon hatte mit seinen Reformen die europäischenFürstenstaaten erschüttert. Jetztwird das alte Regime wieder hergestellt unddie Landkarte Europas neu geordnet. DieBeschlüsse von Wien drehen die Zeit zurück:Frankreich wird zurechtgestutzt und mussannektierte Gebiete zurückgeben. Das vonNapoleon zerschlagene Heilige RömischeReich erhält eine neue Form: 36 deutscheFürsten und vier freie Städte schließen sich<strong>als</strong> souveräne Staaten zu einem lockeren„Deutschen Bund“ zusammen. Die erhofftenationale Einheit der Deutschen rückt damitwieder in weite Ferne; ebenso Freiheit undDemokratie.Doch auch im Mutterland der Revolutionheißt es „Tod der Republik, es lebe der König!“Die alte Dynastie der Bourbonen feiertein Comeback: Jetzt regiert Ludwig XVIII.Die Revolution erscheint nur noch wie einWimpernschlag der Geschichte. Statt derTrikolore weht jetzt wieder die weiße Fahneder Monarchie über Frankreich. Doch ganzlassen sich die Uhren nicht zurückdrehen:Der König ist an eine Verfassung gebundenund muss Teile seiner Macht an das Abgeordnetenhausabgeben. Es ist in zwei Kammernaufgeteilt: Eine ernennt der König selbst, dieandere besteht aus Adel und Großbürgertum.Das einfache Volk dagegen muss wieder einmaldraußen bleiben. Im Parlament sitzenKonservative, Royalisten und Liberale nunin getrennten Blöcken – rechts von der Mittedie Royalisten, links die Liberalen. Aus derSitzordnung leitet sich die Bezeichnung despolitischen Spektrums ab – bis heute. DerAdel rächt sich jetzt an der Revolution undihren Anhängern. Es ist die Zeit des „TerreurBlanche“ – des weißen Terrors. Die „Epuration“,die Säuberung vom Erbe der Revolution,fordert ihre Opfer: Hunderte Freiheitskämpferwerden hingerichtet.Plenarsaal im Pariser Palais BourbonKAPITEL 6: ES LEBE DIE NATION


ALLE HOFFNUNGEN SCHEITERNBiedermeier, Burschenschaftler und brennende BücherAuf der anderen Seite des Rheins haben dieLandesfürsten ihre Macht wieder gefestigt. MitFreiheit und Demokratie sieht es schlecht ausin den deutschen Landen. Der deutsche Michelhat es sich mit Schlafmütze und Nachthemd imgoldenen Käfig eingerichtet. Nach den Wirrender Revolutionskriege suchen die DeutschenRuhe und Ordnung. Statt zu kämpfen, ziehensie sich ins Private zurück. Was bleibt ihnenauch anderes übrig? Von politischer Mitstimmungsind sie ausgeschlossen. „Biedermeier“wird man diese Jahre nach dem Wiener Kongressspäter nennen. Die Französin Madame deStaël lästert: „Die Öfen, das Bier und der Tabakrauchbilden in Deutschland um die Leute ausdem Volk eine schwere, heiße Atmosphäre, ausder sie nur ungern heraustreten“.An Universitäten wie in Bonn, Heidelbergund Jena regt sich aber Widerstand gegen dieKnute der Obrigkeit. Viele Professoren undStudenten haben in den Befreiungskriegengegen Napoleon gekämpft und fordern jetztFreiheit und Demokratie. Vor allem die Burschenschaftensind dam<strong>als</strong> Sammelbeckender Unzufriedenen und Aufmüpfigen. Siestreiten für die deutsche Einheit und freieParlamente. Ihre Gegner sind der Adel undkonservative Denker. Sie machen Schwarz-Rot-Gold zu „Ihrer“ Flagge: Die Farben despreußischen Freikorps „Lützow“, das gegendie Fremdherrschaft Napoleons kämpfte,werden zu den Farben der Jenaer Urburschenschaft.1817 versammeln sich die Rebellen auf derWartburg, begehren auf gegen die Restaurationund fordern politische Reformen. Doch diedeutschnationale Bewegung offenbart auchihr anderes, düsteres Gesicht. Aus Nationalismuswird schnell der Hass auf alles Fremde.Am Ende werden Bücher verbrannt: der CodeNapoleon, das Gesetzbuch aus der Zeit derverhassten Franzosenherrschaft, und Werkedes monarchietreuen Dichters August vonKotzebue.Die Bücherverbrennungen werden zumFanal für Schlimmeres, für politisch motivierteGewalttaten. Wenige Monate nach demDer Biedermeier – häusliche GeborgenheitFiguren aus der BiedermeierzeitKAPITEL 6: ES LEBE DIE NATION


Wartburgfest wird Kotzebue Opfer einestödlichen Attentats. Der Täter, der BurschenschafterKarl Ludwig Sand, wird hingerichtet.Für die Monarchen im Deutschen Bundkommt das Attentat wie gerufen, um weitereRepressionen durchzusetzen, denn nichtsfürchten die Potentaten mehr <strong>als</strong> politischeUnruhestifter. Die Repressionsmaßnahmentreffen die gesamte bürgerliche Opposition:Versammlungen werden verboten, ein Spitzelsysteminstalliert und die Pressefreiheitweiter eingeschränkt: Es entsteht der ersteÜberwachungsstaat auf deutschem Boden.Von nun an herrscht Ruhe – Friedhofsruhe.Die Beschlüsse lähmen das politische undgeistige Leben in den deutschen Landen. AlleHoffnungen auf mehr Freiheit, Demokratieund politische Einheit sind gescheitert.Die Wartburg in EisenachKAPITEL 6: ES LEBE DIE NATION


KAMPF FÜR DIE FREIHEITGlorreiche TageIm Nachbarland Frankreich dagegen brautsich etwas zusammen: Seit 1824 sitzt ein neuerKönig, der nächste Bourbonen-Sproß Karl X.,auf dem Thron – ein royaler Hardliner. Im Juli1830 löst er selbstherrlich das Parlament aufund schränkt die Rechte der Bürger ein. Dochdie Pariser geben nicht klein bei. Sie erinnernsich an ihre revolutionäre Vergangenheit undfordern das Ende der Monarchie sowie Freiheitund Gleichheit. Barrikaden werden gebaut, aufden Straßen kommt es zu blutigen Kämpfen.Nach drei Tagen siegt das Volk und beendet dasGottesgnadentum der Bourbonenkönige – fürimmer. Frankreich erhält eine liberale Verfassungund einen „Bürgerkönig“ namens Louis-Philippe.Angespornt vom Pariser Vorbild muckenjetzt auch einige Deutsche auf. Im Südwestenerschallt der Ruf nach Einheit und Freiheitbesonders laut. Im Mai 1832 strömen20 000 Menschen zum Hambacher Schlossbei Neustadt an der Weinstraße. Nie zuvorgab es eine größere politische Versammlungin Deutschland. Die Freiheitskämpfer erklärenihre Solidarität mit den Franzosen undihrer Revolution. Doch selbst den Umsturzzu wagen, so weit gehen sie am Ende nicht.Aus Paris kommentiert Heine den Ausgangdes Hambacher Festes lakonisch: „Es lässtsich nicht leugnen, dass auch die Deutschen dieFreiheit lieben. Aber anders wie andere Völker.Der Deutsche liebt die Freiheit wie seinealte Großmutter. Der Franzose aber liebt dieFreiheit wie seine erwählte Braut. Er glüht fürsie, er schlägt sich für sie auf Tod und Leben.“Tatsächlich währt die Zeit der Hoffnung aufVeränderung nicht lang. Politisch ändert sichim Deutschen Bund erst einmal nichts.Royaler Hardliner: König Karl X.„Die Freiheit führt das Volk“ von Delacroix (1830)KAPITEL 6: ES LEBE DIE NATION


NATIONALER MYTHOSDer deutsche RheinAuf staatlicher Ebene zerstören 1840 Misstönedie zarten Bande zwischen Franzosen undDeutschen: Frankreich fordert die linksrheinischendeutschen Gebiete zurück, die Napoleonannektiert hatte und die es nach dem WienerKongress wieder abgeben musste. Den Rheinmit seinen mittelalterlichen Burgen haben diedeutschen Romantiker unterdessen zum nationalenErbe und Symbol der Deutschen verklärt.Und nun wollen die Franzosen den „VaterRhein“ wieder vereinnahmen? Für viele Deutscheist das eine ungeheuerliche Provokation.Einer lässt sich nicht vom kriegerischen Geschreianstecken: der französische DichterVictor Hugo. Er erkundet den Schicks<strong>als</strong>stromund lässt sich verzaubern. „Der Rhein,mein Freund, ist ein edler Fluss, herrschaftlich,republikanisch, würdig zugleich französischund deutsch zu sein“, schlägt er versöhnlicheTöne an und entwickelt im Überschwang derGefühle sogar die Vision eines geeinten Europas.„Keine Grenzen mehr! Allen der Rhein!Lasst uns die gleiche Republik sein, die VereinigtenStaaten von Europa!“Die nationale Stimmung wendet sich gegenFrankreich. Der Nachbar wird einmal mehrzum Erbfeind erklärt. Die Begleitmusik dazuliefern Lieder wie die „Wacht am Rhein“ – einerder Top-Hits in der nationalen Hitparade:„So lang ein Tropfen Blut noch glüht, noch eineFaust den Degen zieht und noch ein Arm dieBüchse spannt, betritt kein Feind <strong>hier</strong> deinenStrand!“KAPITEL 6: ES LEBE DIE NATION


THEORIE VOM KLASSENKAMPFEin Gespenst geht umDie Mitte des 19. Jahrhunderts ist eine Zeittiefgreifender Umwälzungen. Die Industrialisierungverändert das Antlitz der Städte.Dampfkraft und Eisenbahn revolutionierendie bisherigen Arbeits- und Lebensformen undden Takt der Gesellschaft. Doch in die Aufbruchseuphoriemischen sich Not und sozialeUnruhe.Unter den Zurückgebliebenen gärt es. Wiedersind es die Franzosen, die zuerst aufbegehren.In Lyon kommt es zum Aufstand derSeidenweber. Sie fordern bessere Arbeitsbedingungenund einen gerechten Lohn. 1840machen es ihnen die deutschen Weber nach.Die Aufstände werden in beiden Ländern blutigniedergeschlagen.Die Löhne in den neu entstanden Fabrikensind so niedrig, dass auch die Kinder für denFamilienunterhalt mitverdienen müssen.Die Wohnverhältnisse sind vielerorts dramatisch.Armut wird erstm<strong>als</strong> zu einem Massenphänomenin Europa. Noch lebt zwar dieMehrheit der Franzosen und Deutschen aufdem Land, doch die Städte wachsen unaufhörlich.Und auch die Bauern leiden – nichtnur unter Missernten und Dürre, sondernauch unter der ungerechten Verteilung desBodens. Hunderttausende Deutsche undFranzosen verlassen deshalb in der Mittedes 19. Jahrhunderts ihre Heimat in RichtungNeue Welt – in der Hoffnung, dort mehrWohlstand und Freiheit zu finden.In Paris haben zu dieser Zeit 80 000 DeutscheZuflucht gefunden – fünf Prozent der PariserBevölkerung. Nicht nur die politisch Verfolgten,auch deutsche Handwerker suchen <strong>hier</strong>ihr Glück – <strong>als</strong> Gastarbeiter. In den PariserCafés traut man sich, die radik<strong>als</strong>ten Ideenzu diskutieren. Friedrich Engels und KarlMarx entwickeln <strong>hier</strong> ihre Theorie vom Klassenkampfund dem Ende der Herrschaft desBürgertums. Sie sind sich sicher, dass die Industrialisierungdie soziale Frage verschärft,der Klassenkampf bald offen ausbricht unddann eine neue Revolution bevorsteht. Marxverfasst das „Manifest der KommunistischenPartei“ – das Programm einer proletarischenWeltrevolution. Kaum verlässt das ManifestFabriken entstehen, Arbeiter werden eingestelltAuch Kinder müssen mitverdienenKAPITEL 6: ES LEBE DIE NATION


die Druckerpresse, da bricht tatsächlich dieRevolution aus. Allerdings völlig unabhängigvom Erscheinen der Marxschen Kampfschrift.Theoretiker Karl Marx (Porträt von 1875)KAPITEL 6: ES LEBE DIE NATION


DAS JAHR 1848VölkerfrühlingEinmal mehr zündet der revolutionäre Funkein der französischen Hauptstadt. Im Februar1848 gehen die Pariser auf die Straße undfordern soziale Gerechtigkeit, denn bisherprofitieren nur Adel und Großbürgertum vomwirtschaftlichen Aufschwung durch die Industrialisierung.Der Bürgerkönig Louis Philippemuss abdanken und flieht ins Exil nach England.Frankreich wird wieder zur Republikausgerufen – eine Republik auch der Arbeiterund Kleinbürger, die bis dahin von der Machtausgeschlossen waren. Und die Familie Bonapartemischt wieder mit. Ausgerechnet LouisNapoleon, der Neffe von Napoleon Bonaparte,wird zum Staatspräsidenten gewählt.Das Feuer der Revolution verbreitet sich inWindeseile: Nach Jahrzehnten der erzwungenenRuhe entflammt auch der Freiheitsdrangder Deutschen. Überall in den deutschen Fürstenstaatenbrechen Aufstände aus: brave Biedermänner,Arbeiter und Studenten gehen aufdie Straße, um für ihre Rechte zu kämpfen.Von Frankreich aus breitet sich die Welle derRevolution über die Staaten des DeutschenBundes aus. Die ersten Fürsten danken ab.Die Majestäten erinnern sich noch allzu gutan das Ende des französischen Königspaars– die Guillotine lässt grüßen. Binnen wenigerWochen bricht das politische System derRestauration in sich zusammen. Jetzt gibtauch der Preußenkönig nach, will Zugeständnissemachen. Als sich am 18. März 1848 eineaufgebrachte Menge vor dem Berliner Stadtschlossversammelt, fallen plötzlich Schüsse.Arbeiter, Handwerker und Bürger liefernsich blutige Straßenkämpfe mit königlichenSoldaten. 300 Menschen sterben im Kampffür die Freiheit. Dem Leichenzug der „Märzgefallenen“erweist König Friedrich WilhelmIV. wenige Tage später mit entblößtem Hauptseine Achtung. Der König hat sich dem Druckder Masse gebeugt – vorerst.Der Platz erinnert an die RevolutionGedenktafel in BerlinKAPITEL 6: ES LEBE DIE NATION


VERSAMMLUNG IN DER PAULSKIRCHEDas erste deutsche ParlamentIm gesamten Deutschen Bund finden nunfreie Wahlen zum ersten deutschen Parlamentstatt. Im Mai 1848 kommen Abgeordneteaus allen deutschen Ländern in Frankfurtam Main in der Paulskirche zur erstendeutschen Nationalversammlung zusammen.Dichter und Professoren, Bürger und Banker– und ein Bauer. Nicht dabei: die Arbeiter unddie Frauen. Die Parlamentarier haben vielvor: Sie wollen eine freiheitliche Verfassungbeschließen und zugleich die deutschen Länderzu einem nationalen Staat vereinen. Nachfranzösischem Vorbild gruppieren sich derPaulskirche die Fraktionen: Links sitzen dieDemokraten, in der Mitte die Liberalen undrechts die treuen Monarchisten.Fast ein Jahr lang wird debattiert, dann beschließendie Parlamentarier die erste deutscheReichsverfassung und wählen den preußischenKönig zum Kaiser der Deutschen.Doch der lehnt die Krone mit dem „Ludergeruchder Revolution“ ab. Für ihn ist sie nichtsanderes <strong>als</strong> ein „Reif aus Dreck und Letten“.Bald schon schickt er seine Truppen, um dieletzten Aufstände niederzuschlagen. Überallim deutschen Bund gewinnen die alten Mächtewieder die Oberhand. Die letzten Revolutionärewerden zum Tode verurteilt und hingerichtet.Der letzte Funke Hoffnung auf eindemokratisches und vereintes Deutschlandist erloschen. Die deutsche Revolution von1848 ist gescheitert.Immerhin – im Scheitern ihrer Revolutionensind Deutsche und Franzosen wieder brüderlichvereint. Denn auch in Frankreich heißtes wieder: Alles auf Anfang. In einem Staatsstreich1851/52 erhebt sich der ursprünglichvom Volk gewählte Präsident Louis Napoléonzum Kaiser Napoléon III. Ganz wie sein berühmterOnkel. Aus der Zweiten Republikwird das Zweite Kaiserreich.Paulskirche in Frankfurt am MainOrt der ersten deutschen NationalversammlungKAPITEL 6: ES LEBE DIE NATION


KAPITEL 7VORBILD UND FEINDBILDNach dem deutschen Sieg über Frankreich 1870/71 ist von derErbfeindschaft beider Länder die Rede. Doch auch jetzt gibt esMenschen, die über den Tellerrand blicken: Fontane bezeichnetdie Franzosen <strong>als</strong> „ein Vorbild wahrhaft feiner Sitte.“ Und VictorHugo schreibt „Deutsche, es ist ein Freund, der zu euch spricht…Was haben wir euch getan? Wir sind doch ein Volk!“


BISMARCKS ZEITEN„Blut und Eisen“Mitte des 19. Jahrhunderts ist Deutschlandnoch immer ein Staatenpuzzle. Der preußischeMinisterpräsident Otto von Bismarck will dasändern. Im Jahr 1866 schickt er seine Soldatengegen Österreich in den Krieg – es geht um dieVorherrschaft in Deutschland.Mit „Eisen und Blut“, so sagte Bismarck einigeJahre zuvor, würden die großen Fragen derZeit entschieden. In der Schlacht bei Königgrätz,auf Französisch „Bataille de Sadowa“,müssen die Österreicher im Juli 1866 eineverheerende Niederlage einstecken, die dasLand aus der deutschen Geschichte hinauskatapultierenwird.„Mit Eisen und Blut“: Otto von BismarckUnd nicht nur für Österreich wird dieSchlacht zum Trauma, sondern auch fürFrankreich. Dessen Kaiser Napoleon III. hatteauf eine Einmischung in den Konflikt verzichtet– und muss nun konstatieren, dassPreußen immer größer und mächtiger wird.Das enttäuschte französische Volk fordert„Revanche pour Sadowa“. Denn aus der gewohntendeutschen Zersplitterung erwächstPreußische Truppen in der Schlacht bei KöniggrätzKAPITEL 7: VORBILD UND FEINDBILD


plötzlich ein großer, mächtiger Nachbar: Mitder Gründung des „Norddeutschen Bunds“ hatBismarck den ersten Schritt zur deutschen Einigungvollzogen: Preußen kontrolliert jetztden Norden Deutschlands, nur die süddeutschenStaaten wollen dem Bund nicht beitreten– noch nicht.Nach der österreichischen Schlappe von Königgrätzgilt Napoleon III. <strong>als</strong> angeschlagen.Der Kaiser ahnt: Auf eine erneute preußischeProvokation wird er militärisch reagierenmüssen. Und genau das will Bismarck: Erbraucht den Krieg <strong>als</strong> Motor für seine Reichseinigung.Allerdings darf die Kriegserklärungnicht von Preußen ausgehen. Die süddeutschenStaaten haben nur im Falle einesfranzösischen Angriffs ihre Unterstützungzugesichert. Für Bismarck heißt es jetzt: denrichtigen Moment abzuwarten. Im Sommer1870 ist es soweit: Der preußische Ministerpräsidentbeginnt das Säbelrasseln. Anlassdazu bietet der vakante spanische Thron.Spanien hätte gerne Prinz Leopold aus einerkatholischen Nebenlinie der Hohenzollern.Bismarck sieht seine Stunde gekommen. Einepreußische „Filiale“ in Spanien? Da ist sie aufeinmal wieder – die alte Angst der Franzosenvor der Umzingelung.Leopold ist hin- und hergerissen, will sicheigentlich nicht in die große Politik einmischen.Er sagt den Spaniern erst ab – unddann, unter Druck von Bismarck, wiederzu. Das sorgt bei Napoleon erwartungsgemäßfür Verstimmung. Der preußische KönigWilhelm I. weilt zu dieser Zeit geradezur Kur in Bad Ems. Er versucht, BismarcksMachtspielen entgegenzuwirken, und sorgtdafür, dass Leopold seine Kandidatur erneutzurückzieht – aber den Franzosen reicht dasnicht. Sie schicken einen Botschafter nachBad Ems, verlangen eine Garantie dafür, dasssich Preußen niem<strong>als</strong> wieder in die spanischeThronfolge einmischen werde. DerKrimi um die Emser Depesche beginnt miteiner freundlich formulierten Absage an dieunerfüllbare Forderung der Franzosen. WilhelmI. lässt Bismarck telegrafisch über dasGespräch unterrichten. Bismarck soll es veröffentlichen.Das tut er auch, allerdings nicht,ohne den Tonfall durch Kürzung geschickt zuverschärfen. Damit erreicht Bismarck, was erwollte: Napoleon ist beleidigt.KAPITEL 7: VORBILD UND FEINDBILD


1870/71Der erzwungene KriegBeide Seiten wollen <strong>als</strong>o den Krieg. Napoleonmuss handeln und so erklärt Frankreichschließlich Preußen den Krieg. Bismarcks Kalkülgeht auf: Die süddeutschen Staaten solidarisierensich mit dem Norddeutschen Bund, derentscheidende Schritt zur Reichseinigung.Im Eiltempo werden auf beiden Seiten Kriegskreditebewilligt, die Armeen mobilisiert undGastarbeiter ausgewiesen. Die siegessicherenPreußen sehen sich bereits unterm Triumphbogenfeiern. Die Franzosen können darübernur lachen. Niem<strong>als</strong> werden die Deutschen inParis ankommen, da ist man sich sicher.Die Franzosen haben einen schlechten Start.Dennoch sieht es zunächst so aus, <strong>als</strong> wärensie im Vorteil. Ihr Chassepot-Gewehr schießtdreimal so weit wie das deutsche Gegenstück.Die deutsche Artillerie mit ihren Krupp-Geschützenhingegen ist der französischenweit überlegen – sowohl in Reichweite wie inSchussgeschwindigkeit. Das Feuer der deutschenGeschütze treibt die Verteidiger immerweiter hinter die eigenen Linien zurück.Den Franzosen, die eigentlich eine Großoffensiveauf die Pfalz vorgesehen hatten, gelingtauf deutschem Boden überhaupt nur,Saarbrücken zu besetzen. Aber auch dasbleibt nur Episode. Anfang August 1870 erleidetFrankreich die ersten Niederlagen. Am1. September 1870 treffen die Gegner in derNähe der französischen Stadt Sedan wiederaufeinander – zur Entscheidungsschlacht.Darstellung der Schlacht bei SedanKAPITEL 7: VORBILD UND FEINDBILD


Da hilft auch Frankreichs Geheimwaffe nicht,die Mitrailleuse, eine Art Maschinengewehr.Sie wird derart geheim gehalten, dass dieArmee erst wenige Tage vor der Mobilmachungüber die Waffe verfügt: zu spät, um zuproben, zu spät für einen Sieg. Am Ende desTages sind 6.000 Mann auf beiden Seiten tot,etwa 20.000 Mann verwundet. Den Sieg aberkönnen die Deutschen für sich verbuchen.Kaum eineinhalb Monate nach Kriegsbeginnkapituliert ein großer Teil der französischenArmee mitsamt dem Kaiser. Napoleon III.wird am 2. September 1870 gefangen genommenund auf Schloss Wilhelmshöhe in Kasselgebracht. Er übergibt Bismarck seinen Säbelmit den bedeutungsschweren Worten: „Da ichinmitten meiner Truppen nicht sterben konnte,bleibt mir nichts anderes, <strong>als</strong> meinen Degen indie Hände Eures Königs zu legen.“ Paris beeiltsich klarzustellen, dass der Degen Napoleonsnicht der Degen Frankreichs ist. Eine Kapitulationkomme nicht in Frage! Wieder einmalwird in der Seine-Metropole die Republikausgerufen, mittlerweile die Dritte. Es bildetsich eine neue, vorläufige Regierung der „NationalenVerteidigung“, die umgehend zumbewaffneten Volkskrieg gegen die in Frankreichstehenden preußisch-deutschen Armeenaufruft.Napoleon III., Kaiser der FranzosenKAPITEL 7: VORBILD UND FEINDBILD


EINE PROVOKATIONDie ReichsgründungDoch es ist zu spät: Die Sieger von Sedan rückenvor, umzingeln die Hauptstadt und schlagenihr Quartier in Versailles auf, dem einstigenMachtzentrum Frankreichs. Im Spiegelsaalwird am 18. Januar 1871 der preußische KönigWilhelm I. zum deutschen Kaiser ausgerufen.Es ist Bismarcks persönlicher Triumph und dieGeburtsstunde des deutschen Kaiserreiches.Die deutsch-französische Erbfeindschaft ist mitdiesem Akt endgültig besiegelt.Währenddessen kämpft das belagerte Parismit einer Hungersnot. Im Dezember müssensogar die Tiere im Pariser Zoo dran glauben:Zu Weihnachten stehen in manchen RestaurantsGerichte wie Elefantenbrühe, Känguru-Pfefferund Antilopenpastete auf derSpeisekarte. Dann verlassen die Angehörigender Übergangsregierung im Ballon das eingeschlosseneParis. Vier Monate später wirddie Kapitulationsurkunde unterzeichnet. DerKrieg ist vorbei, aber Frieden kehrt nicht ein.Proklamation des Deutschen Kaiserreichs 1871 im Spiegelsaal von Schloss VersaillesKAPITEL 7: VORBILD UND FEINDBILD


DAS VOLK AUF DEN BARRIKADENDie Tage der CommuneDas Volk akzeptiert weder die Niederlage nochdie Wiedereinführung der konstitutionellenMonarchie. Es will die Macht in eigenen Händenwissen, in Arbeiterhänden!Beim Streit um 227 Kanonen, die von derNationalgarde vor den Deutschen gerettetwurden, kommt es am Montmartre zumAufstand: Die Soldaten schlagen sich auf dieSeite des Volkes. Wieder werden Barrikadenerrichtet, aber diesmal ist es kein Kampfzwischen Franzosen und Deutschen, sondernzwischen Proletariat und Bourgeoisie. Am 28.März 1871 versammeln sich hunderttausendeArbeiter vor dem Hotel de Ville. Das Volk hateine eigene Regierung gewählt: die Commune.bildung für jedermann. Dazwischen immerwieder die Aufforderung: „Aux Armes“ – andie Waffen, weiterkämpfen, nicht aufgeben!Die Commune ist weltweit die erste Regierungder Arbeiterklasse. Doch sie hält sichnur zwei Monate. Dann wird die Hauptstadtgestürmt. Einträchtig kämpfen die Preußenjetzt Seit‘ an Seit‘ mit den französischen Regierungstruppen.Diesmal haben sie denselbenFeind: das revoltierende Volk.Eine Woche lang rächt sich die Bourgeoisiean den Arbeitern. In dieser „blutigen Woche“verlieren mehr <strong>als</strong> 25.000 Menschen ihr Leben.Auf dem Pariser Friedhof Père Lachaisewerden die letzten Kämpfer der Arbeiterbewegungan der Friedhofsmauer hingerichtetund in einem Massengrab verscharrt.Sofort beginnen die Kommunarden mit derUmgestaltung der Gesellschaft. Neue Gesetzewerden verabschiedet: Die Trennungvon Kirche und Staat, die Abschaffung derNachtarbeit für Bäckergesellen, großzügigeRentenzahlungen für die Witwen und Waisender im Kampf gefallenen Arbeiter, kostenloseSchulbücher für Kinder und damit Schul-Pariser Rathaus: 1871 kämpfen <strong>hier</strong> hunderttausende Arbeiter gegen die BourgeoisieKAPITEL 7: VORBILD UND FEINDBILD


DEUTSCHES REICH UND FRANZÖSISCHE SCHMACHGründerjahreMit dem Ende der Commune ist der Krieg fürdie Franzosen endgültig vorbei. Was die Deutschenin Paris nicht zerstört haben, hat derKlassenkampf erledigt. Und <strong>als</strong> wäre das nichtgenug, muss die dritte Republik <strong>als</strong> erste Amtshandlungdem deutschen Reich Entschädigungzahlen: fünf Milliarden Franc – eine schwereHypothek für die künftigen Beziehungen. Dasfranzösische Geld beschert dem deutschenReich einen Wirtschaftsboom, die sogenannte„Gründerzeit“.Die größere Last für die Franzosen ist jedochdie Schmach der Annexion von Elsassund Lothringen. Das seit jeher umstritteneGebiet wechselt mal wieder den Besitzer. ImReichsland „Elsass-Lothringen“ weht von nunan die Flagge des deutschen Kaisers. AllesFranzösische muss weichen, und es wirdfleißig germanisiert: Dörfer und Städte werdenumbenannt und Deutsch <strong>als</strong> Amtsspracheeingeführt, unwillige Franzosen werdenausgewiesen und zuwanderungsbereite Deutschewillkommen geheißen. Auf der PariserPlace de la Concorde dagegen wird <strong>als</strong> Zeichender Trauer die Marmorgestalt der StadtStraßburg verhüllt. „Immer daran denken, niedavon sprechen“, flüstern fortan französischeRevanchisten und haben die Rückeroberungder verlorenen Gebiete im Sinn.Marmorgestalt der Stadt Straßburg in ParisElsass-Lothringen wechselt mal wieder den Besitzer – alles Französische muss weichenKAPITEL 7: VORBILD UND FEINDBILD


Bismarck ist zufrieden. Das Deutsche Reichist groß genug, findet er. Doch nationaleKreise fordern, dass Deutschland Kolonialmachtwird – so wie England oder Frankreich.Deshalb lädt Bismarck 1884 zur „Kongo-Konferenz“nach Berlin. Bei der Aufteilungder Reste Afrikas begnügt er sich mit vierSchutzgebieten, Frankreich lässt er den Vortritt– der Versuch einer Kompensation fürElsass-Lothringen.Damit sich das Volk eine Vorstellung von denneuen Besitztümern machen kann, werdendie Einwohner der Kolonien in „Völkerschauen“ausgestellt: in möglichst naturgetreuerKulisse, in den Zoos, neben den Käfigen mitden wilden Tieren. Bald schon macht sichauch die zeitgenössische Wissenschaft überdie „Exoten“ her. Es ist der Franzose Arthurde Gobineau, der erstm<strong>als</strong> „rassisch Minderwertige“unterhalb der weißen „Herrenrasse“einordnet und vor einer „Vermischung“warnt. Theorien, die in ganz Europa auffruchtbaren Boden fallen, besonders aber inDeutschland.der „Eiserne Kanzler“ Bismarck im Weg – undgeht deshalb anderthalb Jahre später „vonBord“. Damit hat der junge Kaiser freie Bahn.Unter tosendem Beifall konservativer Kreisefordert er für das Reich einen „Platz an derSonne“, <strong>als</strong>o mehr Kolonien. Er rüstet diedeutsche Kriegsmarine auf und gibt damitden Startschuss zu einem bespiellosen Rüstungswettlaufder Großmächte. Bismarcksmühsam geschmiedetes Bündnis-System, dasDeutschland in die Mitte verschiedener Allianzenund Europa in ein, wenn auch fragiles,Gleichgewicht geführt hatte, wirft er überden Haufen – und katapultiert Deutschlanddamit in die außenpolitische Isolation. Mitder Ruhe, die Bismarck dem Deutschen Reichbeschert hatte, sollte es <strong>als</strong>bald vorbei sein.„Kongo-Konferenz“ in BerlinEgozentriker Wilhelm II.Mit dem Tod Kaiser Wilhelms I. im Jahr1888 steht im Deutschen Reich ein Generationswechselan. Der egozentrische Enkeldes alten Monarchen, Wilhelm II., der wenigspäter regieren wird, will einen eigenen,„neuen Kurs“ einschlagen. Dabei steht ihmKAPITEL 7: VORBILD UND FEINDBILD


KAPITEL 8KRIEG UND FRIEDENDie Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ist die Zeit der Wissenschaftund Technik. Die Industrie wächst, auch die Waffenindustrie. DasWettrüsten mündet in den Ersten Weltkrieg. Doch auch danachwill keine Ruhe einkehren. Im unterlegenen Deutschland brodelnRevanchegedanken. Instabile Verhältnisse tun ihr Übriges. DerWeg in die Diktatur ist bald geebnet und ein noch grausameresKapitel der deutsch-französischen Geschichte beginnt.


BOOMZEITENSchöne neue WeltIn Paris findet im Jahr 1900 die Weltausstellungstatt. In der französischen Hauptstadtfeiern zwei Millionen Besucher das neue Jahrhundert.Die Welt ist schön – so ist es, und sowird es von jetzt an immer bleiben, davon sindviele Menschen überzeugt. Man erforscht Moleküleund Atome, die Sterne und den Kosmos.Der Mensch geht auf dem Wasser, erhebt sichin die Luft: Alles scheint machbar, jeder Traumerfüllbar. Keine Zivilisation zuvor hatte essoweit gebracht. Die Menschheit steht anscheinendvor dem Zenith.Wirtschaftlich ist es eine ungeheuer dynamischeZeit, die europäische Industrie wächstrasant. Bei Krupp in Essen arbeiten 50.000Beschäftigte. Sie produzieren den bestenStahl der Welt – und die modernsten Waffen,vor allem Kanonen. Auch der französischeKonzern Schneider in Le Creusot ist ein weltweitoperierender Waffenproduzent. Genauwie Krupp wird er schon bald unvorstellbareGewinne einfahren.Deutschland ist neben den USA das reichsteLand der Welt. Alles deutet darauf hin, dasses ein großes, glänzendes Jahrhundert fürdas Reich werden wird. Der Kaiser und seineFlottenchefs fühlen sich trotzdem zu kurz gekommenbeim Wettlauf um den „Platz an derSonne“, wie Wilhelm II. sagt. Er träumt davon,aus Deutschland eine große Seemacht zumachen, wie das Empire seines Cousins, desenglischen Königs. An eine kriegerische Auseinandersetzungzwischen den Großmächtenglaubt dennoch kaum jemand: der Einsatzscheint zu hoch gegenüber einem unsicherenGewinn.Paris zu Beginn des 20. JahrhundertsGießerei bei Krupp: bester Stahl der WeltKAPITEL 8: KRIEG UND FRIEDEN


DER ERSTE WELTKRIEGSturz in den WeltenbrandDoch dann, im Sommer 1914, hört man von einemAttentat auf dem Balkan – der österreichischeThronfolger ist in Sarajevo von serbischenNationalisten getötet worden. Ganz plötzlichliegt überall das Wort „Krieg“ in der Luft.Noch demonstrieren zehntausende Sozialistenaus ganz Europa gemeinsam gegenden drohenden Waffengang, doch da ist esschon zu spät: Österreich erklärt Serbien denKrieg, und binnen kurzem werden immermehr Länder in den Strudel hineingerissen:mit Serbien auch Russland, Frankreich undGroßbritannien; mit Österreich-Ungarn auchDeutschland, das sich von <strong>Feinde</strong>n eingekreistfühlt und angreift. Es ist ein leichtfertig entfesselterKrieg, der zum Weltenbrand wird.Ob in Berlin, Paris, Sankt Petersburg oderLondon: Überall werden die Soldaten mitMarschmusik, Blumen und patriotischenReden „ins Feld“ verabschiedet. Es soll ein„frischer, fröhlicher Krieg“ werden, hat KaiserWilhelm gesagt. Spätestens Weihnachten seider Waffengang vorbei. So fahren die jungenMänner ahnungslos an die Front, Deutschewie Franzosen.Doch angekommen an der Front setzt Ernüchterungein. Dieser Kampf wird anders <strong>als</strong> alleanderen zuvor: Ein industrieller Krieg mitMateri<strong>als</strong>chlachten, Massenvernichtungswaffen,massenhaftem Sterben. Manchmal verreckenHunderttausende bei einer einzigenSchlacht – für Gott, das Vaterland, den Kaiseroder die Republik. Der Krieg <strong>als</strong> Vater allerDinge: alle Errungenschaften der Epochedienen ihm. Gepanzerte Kettenfahrzeuge, Eisenbahngeschütze,Flugmaschinen. So wirdselbst der Himmel zum Schlachtfeld. Neuerfunden werden der Flammenwerfer, dieSprengmine, das Giftgas. Die führenden Wissenschaftleraller Seiten arbeiten mit Hochdruckan der Entwicklung dieser Scheußlichkeiten.Attentat von SarajevoThronfolger Franz Ferdinand wird ermordetKAPITEL 8: KRIEG UND FRIEDEN


VERDUNDer Krieg im WestenNach wenigen Wochen erstarren die Fronten imWesten und der Krieg in Frankreich wird zumStellungskrieg. Kein Soldat ist Weihnachten zuHause, bei den Lieben. Im Schützengraben singensie, jeder in seiner Sprache – „Stille Nacht“,„Silent Night“, „Douce nuit“, und alle haben dieselbenGefühle, fünfzig Meter voneinander entfernt:Todesangst, Erschöpfung, Ekel und Heimweh.Das „Fest der Liebe“ in einer Welt vollerHass – im Schlamm, im Dreck, im Gestank derLeichenteile, an denen die Ratten nagen.Vor allem um die Festungsanlagen bei Verdunwird im Jahr 1916 erbittert gerungen.Hier wollen die Deutschen den Durchbruchan der Front und im ganzen Krieg erreichen.Es ist schon fast alles verloren, <strong>als</strong> GeneralPhilippe Pétain im April 1916 <strong>hier</strong> dasKommando übernimmt. Er organisiert denNachschub über die letzte freie Verbindung,die man bald die „Heilige Straße“ nennenwird. Tag und Nacht rollen im ganzen Landbeschlagnahmte LKW. Verdun wird gerettet– und Pétain zum Nationalhelden. Dochfast eine Million Männer werden bei Verdunverletzt, verstümmelt, traumatisiert, getötet –Deutsche und Franzosen. Im „Beinhaus“ vonDouaumont ruhen die Überreste von mehr<strong>als</strong> dreihunderttausend Soldaten. Heute, fasthundert Jahre später, ist Verdun die „Cité dela paix“, die Stadt des Friedens – ein Ort derErinnerung an eine der dunkelsten Zeitender deutsch-französischen Geschichte, undzugleich ein Symbol für die Absurdität undSinnlosigkeit des Krieges.Kreuze für die gefallenen SoldatenFranzösische Soldaten auf dem Schlachtfeld bei VerdunKAPITEL 8: KRIEG UND FRIEDEN


US-Präsident Wilson hat lange gezögert, inden europäischen Krieg einzugreifen. ImFrühjahr 1917 entscheidet er sich, gegenDeutschland zu kämpfen. Das amerikanischeEingreifen wird den Konflikt entscheidenund Frankreich zum Sieg verhelfen.Im Sommer 1918 dann sind auch die deutschenSoldaten kriegsmüde. Die führendenMilitärs erkennen, dass es – entgegen ihrereigenen Propaganda – einen militärischenSieg nicht geben kann. Die Oberste Heeresleitungverlangt von der frisch berufenenRegierung, die erstm<strong>als</strong> in der Geschichtedes Reiches dem Parlament, dem Reichstag,verantwortlich ist, sie solle sofort über einenWaffenstillstand verhandeln. Am 9. November1918 ist Schluss: Die Monarchie brichtzusammen, der Kaiser geht ins Exil, in Berlinwird die Republik ausgerufen. Einen kurzenAugenblick lang haben die revolutionärenArbeiter- und Soldatenräte in Deutschlanddie Macht. Sie werden sie bald wieder abgebenmüssen.telegrafisch bei den deutschen Militärs Rücksprachehält. Paul von Hindenburg, Chef derObersten Heeresleitung, antwortet: Der Waffenstillstandist anzunehmen, „zu jedwederBedingung“. Wider besseres Wissen wird erspäter dennoch die Legende vom „Dolchstoß“lancieren, vom angeblichen Verrat der Zivilistenim Rücken der ungeschlagenen deutschenArmee: Gerade, <strong>als</strong> der Sieg zum Greifennahe gewesen sei, hätten diese Feiglingedie Waffen gestreckt und schändlich unterschrieben.Noch viele Jahre lang werden diemeisten Deutschen den Lügen der früherenmilitärischen Führung glauben. Und Hitlerwird sie in nicht allzu ferner Zukunft geschicktin seine Propaganda einbauen.Derweil wird in einem Eisenbahnwaggon beiCompiègne über den Waffenstillstand verhandelt.Doch das, was der deutschen Delegationam 11. November 1918 vorgelegt wird,ist ein Diktat. Matthias Erzberger, der deutscheVerhandlungsführer, ist so erschrockenüber die französischen Bedingungen, dass erKAPITEL 8: KRIEG UND FRIEDEN


DER KRIEG UND DIE FOLGENDas Trauma von VersaillesDer Krieg zwischen Deutschland und Frankreichhat fast ausschließlich auf französischemBoden stattgefunden. Im Norden und Ostendes Landes ist eine Kraterlandschaft zurückgeblieben,durch Gift, Minen und Blindgängerfür lange Zeit unbenutzbar gemacht. HunderteDörfer sind zerstört, manche sogar vollkommenverschwunden – pulverisiert im Granatenbeschuss.Zehntausende Fabriken, Kirchen,Schulen und Wohnhäusern sind zerstört. Dieeigentlichen Gewinner des Weltkriegs aber sinddie USA. Präsident Wilson kommt <strong>als</strong> Repräsentanteiner neuen, stolzen Supermacht nachEuropa, die antritt, vom alten Kontinent dieFührungsrolle in der Welt zu übernehmen.Im Januar 1919 beginnen in Versailles dieinternationalen Friedensverhandlungen.Aber auch <strong>hier</strong> wird mit Deutschland nichtwirklich verhandelt. Die Deutschen dürfennur unterschreiben: über hundert MilliardenMark Reparationszahlungen, Rückgabe vonElsass-Lothringen, militärische Besetzungdes Rheinlandes. Am Empörendsten für dieallermeisten Deutschen ist jedoch die Feststellung,Deutschland allein trage die Schuldan diesem Krieg. Diese Behauptung der Siegerwird das politische Klima auf Jahre hinausvergiften. Millionen Deutsche und viele Politikerder ersten deutschen Republik protestierengegen die demütigenden Bedingungendieses „Schandfriedens“, wie er bald heißt.Der Wunsch nach Revision verstummt nie.Im zerstörten Frankreich herrscht Hochgefühl.Das Leben beginnt neu, und alles kannnur besser werden. Die Überlebenden wollenden Sieg genießen und die Schrecken desKrieges vergessen. Aus Amerika kommt derJazz, und mit ihm die Tänzerin Josephine Baker.Auf dem Montmartre, im Montparnasse,im „Quartier Latin“: überall Vergnügungslust,Leichtigkeit des Seins – in Paris scheint diegroße Nachkriegseuphorie niem<strong>als</strong> zu enden.Dagegen im völlig unzerstörten Deutschland:Tiefste Depression und Niedergeschlagenheit.Nach harten Hungerjahren ist die Stimmunggedrückt. Inflation und Arbeitslosigkeit bestimmendas Leben der Menschen. Wohinman blickt, hungernde Kinder, epidemischeKrankheiten, massenhafter Tod. Unter diesenUmständen ist das politische Klima bis aufsÄußerste aufgeheizt. Gewalt wird jetzt eingewöhnliches Mittel der politischen Auseinandersetzung,auch Mord. Wut auf die Republikund Judenhass bilden eine explosiveMischung: „Knallt ab den Walter Rathenau,die gottverfluchte Judensau!“, heißt es unverhohlen:Der Außenminister der jungen Republikwird im Juni 1922 von rechtsradikalenAttentätern erschossen. Schon zuvor hattenrechte Freikorpskämpfer Rosa Luxemburgund Karl Liebknecht ermordet, die Führerdes revolutionären Spartakusbundes – undMatthias Erzberger, den Mann, der im November1918 den Waffenstillstand unterschreibenmusste. Allein im Jahr 1922 zähltman in Deutschland 376 politische Morde.1923 wird zum schlimmsten Krisenjahr derWeimarer Republik. Die Regierung ist mit denReparationsleistungen im Rückstand, deshalbmarsc<strong>hier</strong>en im Januar 60.000 französischeund belgische Soldaten ins Ruhrgebiet ein,KAPITEL 8: KRIEG UND FRIEDEN


ins industrielle Herz Deutschlands. Es isteine Beschlagnahme, das ganze Ruhrgebietwird zum gigantischen Pfand. Unter militärischemSchutz werden Kohle und Stahl vomRuhrgebiet nach Belgien und Frankreich abtransportiert.Die Regierung in Berlin ruftdie Bevölkerung an Rhein und Ruhr zumpassiven Widerstand auf. Der „Ruhrkampf“beginnt: Streiks, Sabotageakte, Attentate,Sprengstoffanschläge. Die Franzosen schlagenunbarmherzig zurück mit Todesurteilen undErschießungen. 137 Deutsche verlieren ihrLeben. Der Gener<strong>als</strong>treik heizt die Inflationan, die in schwindelerregende Höhen steigt.Die Regierung druckt einfach Geld, wie siees braucht, um den „Ruhrkampf“ fortführenzu können. Aber die neuen Millionenscheinesind oft bereits über Nacht wieder wertlos. Indiesem Chaos flackern überall Aufstände auf.In München versuchen der NSDAP-„Führer“Adolf Hitler und der ehemalige WeltkriegsgeneralErich Ludendorff, die Regierung zustürzen und die Macht zu übernehmen. VonBayern aus wollen sie dann „gegen Berlin“marsc<strong>hier</strong>en. Aber sie werden gestoppt. Ander Feldherrnhalle eröffnet die Polizei dasFeuer. Ein Mann stellt sich schützend vorseinen „Führer“ und stirbt, von elf Schüssengetroffen. Hitler flüchtet, wird aber spätergefasst und vor Gericht gestellt. Der nationalistischgesinnte Richter stellt beim AngeklagtenHitler „vaterländischen Geist“ und„edelsten Willen“ fest. Seine Haft wird nurneun Monate dauern – Zeit genug, um dasprogrammatische Pamphlet „Mein Kampf“zu schreiben. Zumindest den ersten Band.KAPITEL 8: KRIEG UND FRIEDEN


KURZER TRAUM VOM FRIEDENDie goldenen ZwanzigerAb 1925 kommt die deutsche Wirtschaft langsamwieder in Gang, und die „Goldenen Zwanziger“beginnen nun auch in Deutschland. Undin der europäischen Politik scheint man allmählichzur Vernunft zu kommen: Mit AristideBriand wird ein Mann französischer Außenminister,der entschieden für die Versöhnung mitDeutschland eintritt. Es sind glückliche Umstände,denn auch der deutsche Außenministervertritt diese Haltung. Gustav Stresemannsucht den Ausgleich mit Frankreich: durch Verzichtauf Gewalt und endgültige Anerkennungder Grenzen.Deutscher Außenminister Gustav StresemannAristide BriandIn Locarno am Lago Maggiore berät Ende1925 eine große internationale Konferenzüber die Chancen einer Entspannung in Europa.Ein dauerhafter Frieden zwischen denLändern und Völkern ist das Ziel. Briand undStresemann fordern, wie sie sagen, „das Endeder blutigen und schmerzensreichen Konflikteder Vergangenheit“. Es müsse endgültigSchluss sein mit der ewigen Revanche zwischenDeutschen und Franzosen.KAPITEL 8: KRIEG UND FRIEDEN


1926 wird Deutschland mit der Aufnahmein den Völkerbund in der Weltgemeinschaftgewissermaßen resozialisiert. Am Sitz desVölkerbundes, in Genf, sagt Stresemann:„Nur wenn alle Staaten in voller Gleichberechtigungzusammenarbeiten, können in EuropaSolidarität und Gerechtigkeit entstehen.“ Stresemannund Briand werden für ihre Versöhnungspolitikmit dem Friedensnobelpreisausgezeichnet. Zu Hause freilich bleibenbeide Politiker umstritten. In Deutschlandgreifen rechte und nationalistische Kräfteden Außenminister <strong>als</strong> „Erfüllungspolitiker“an, <strong>als</strong> einen Mann, der stets alle Forderungender <strong>Feinde</strong> erfüllt. Die meisten Deutschensind zur Versöhnung noch lange nicht bereit,das ist Stresemanns bittere Erkenntnis. Alsam Ende des Jahrzehnts die Weltwirtschaftin die Krise gerät, wenden sie sich peu à peuwieder den Krawallmachern zu. Adolf Hitlerwird sie buchstäblich um den Verstand bringen.Er wird der „Führer“ werden, der Führerauf dem Weg in den Untergang. Im Januar1933 wird Adolf Hitler deutscher Reichskanzler.Er will den Versailler Vertrag revidieren,gegebenenfalls durch einen neuen Krieg. DieDeutschen werden diesem Mann folgen – biszum bitteren Ende.KAPITEL 8: KRIEG UND FRIEDEN


KAPITEL 9WELT IN FLAMMENMit Hitlers Machtübernahme 1933 beginnt in Europa dasdüsterste Kapitel der gemeinsamen Geschichte. Der ZweiteWeltkrieg wird zum Tiefpunkt der deutsch-französischenBeziehungen. Im Schatten von alldem: der Holocaust,das Menschheitsverbrechen. Nach Kriegsende ist Europatraumatisiert, Deutschland moralisch diskreditiert.


DEMOKRATIEN AM ENDE?Nationalismus, Faschismus und VolksfrontAm 30. Januar 1933 wird Adolf Hitler zumReichskanzler ernannt. Damit beginnt nichtnur für Deutschland eine neue Zeitrechnung.Hitler wird das Leben von Millionen Menschenumstürzen und Tod und Verzweiflung bringen:in Deutschland, in Frankeich, in ganz Europa.Einen Monat nach seiner Machtübernahmesteht der Reichstag in Flammen. Zwar habendie Nazis das Feuer nicht selbst gelegt, wielange vermutet worden war. Doch kaltblütignutzen sie die Gelegenheit zur Vervollkommnungihrer Macht. Der hemmungslose Terrorbeginnt.Noch in derselben Nacht setzt eine ersteFluchtwelle von bedrohten Kommunistenund Sozialisten ein. Für sie heißt es: Bloßweg aus Hitlers Deutschland! Auch kritischeIntellektuelle und unliebsame Künstler fliehennach Wien, nach Prag oder nach Paris.Viele jüdische Deutsche verlassen jetzt ebenfallsihr Heimatland. Allein 50.000 von ihnenflüchten in dieser Zeit nach Frankreich.Schon zwei Monate nach der sogenannten„Machtergreifung“ organisiert Hitlers Schlägertruppe,die SA, den ersten großen Boykottgegen die deutschen Juden. Der Antisemitismusnimmt jetzt eine ungeahnte Schärfe an:Auf den Boykott folgen 1935 die NürnbergerRassengesetze und 1938 das organisierte Pogrom,die „Kristallnacht“ – und schließlich imKrieg die Deportation, der industrielle Massenmord,der Holocaust.Auch in Frankreich macht die radikale Rechtemobil. Am 6. Februar 1934 demonstriert sieauf dem Pariser Platz an der Oper gegen dasgewählte Parlament, gegen die Demokratie:ein faschistischer Putschversuch gegen dieRepublik. Doch Frankreich widersetzt sichdem Faschismus. Die Volksfront entsteht, einZusammenschluss linker Parteien. Das ist einWendepunkt der französischen Geschichte.In kurzer Zeit wird ein beispielloses Wirtschafts-und Sozialprogramm durchgesetzt:Tarifverträge und Lohnerhöhungen, Arbeitsschutz-und Unfallschutzgesetze, Achtstundentag.Zum ersten Mal wird den fran-Reichskanzler Adolf Hitlerzösischen Arbeitern per Gesetz ein Urlaubgarantiert, zwei Wochen pro Jahr. Arbeiterfamilienlernen das Meer kennen, ihre Kinderkönnen am Strand spielen. Oder sie machenCampingurlaub an einem der Flüsse. Plötzlichentdecken sie, wie schön dieses Land ist.KAPITEL 9: WELT IN FLAMMEN


WAS PLANT HITLER?Angst vor der RevancheViele Franzosen dieser Zeit haben eine tiefsitzendeAngst vor den Deutschen. Das Traumades Weltkriegs und die Angst vor einer deutschenRevanche wirken nach. Hat Hitler nichtseit Jahren verkündet, er werde den VersaillerVertrag, den „Schandvertrag“, niem<strong>als</strong> akzeptieren?Die französische Militärstrategie bleibttrotzdem defensiv. Doch für den Ernstfall willman gewappnet sein: Die Maginot-Linie, einaus Bunkern bestehendes Verteidigungssysteman der Grenze zu Deutschland, entsteht.Ein Oberst der französischen Armee jedochist mit der offiziellen Verteidigungsstrategienicht einverstanden: Charles de Gaulle. Er erklärt,man brauche nicht nur uneinnehmbareFestungsanlagen, wie im Ersten Weltkrieg,sondern den schnellen und beweglichen Einsatzmoderner Panzer, auch zur Verteidigung.Das bekräftigt er auch in seinen Büchern.Von seinem obersten Vorgesetzten, MarschallPétain, wird de Gaulle dafür streng gerügt.Aber ein deutscher Panzeroffizier namensHeinz Guderian erkennt das Potential dieserIdeen – und baut sie ein in die deutsche Angriffsstrategie.Mit dem deutschen Überfall auf Polen am1. September 1939 beginnt der Zweite Weltkrieg.Obwohl Frankreich und Großbritanniendie Unabhängigkeit Polens garantiert hattenund nun Deutschland den Krieg erklären,bleibt es an der deutschen Westfront ruhig:die „drôle de guerre“ – der Sitzkrieg. Dafürwerden jetzt alle Deutschen, auch die Flüchtlinge,die in Frankreich leben, <strong>als</strong> „feindlicheAusländer“ betrachtet: eine hysterischeMaßnahme, gerade so <strong>als</strong> ob die von HitlerVerfolgten in Wahrheit deutsche Spione seinkönnten.General de Gaulle in London (1940)KAPITEL 9: WELT IN FLAMMEN


DER ÜBERFALLBlitzkrieg im WestenAm 10. Mai 1940, mehr <strong>als</strong> ein halbes Jahrnach dem Beginn des Weltkriegs, beginnt derlange befürchtete deutsche Angriff auf Frankreich.Mehr <strong>als</strong> zehn Dutzend Divisionen derWehrmacht, darunter die Panzerverbände vonGeneral Guderian, überrennen Holland, Belgienund Luxemburg und dringen rasch nachFrankreich ein. Der französische Widerstandist verblüffend leicht zu überwinden. Die Zivilbevölkerunggerät in Panik. Hunderttausendeflüchten vor den Deutschen nach Süden,die Landstraßen sind verstopft. Hinter denFlüchtenden verbrennen französische Städte imdeutschen Feuer – ein Trauma.gen ein. Die französische Regierung hat sichnach Bordeaux abgesetzt.Am selben Ort wie 1918 lässt Hitler jetzt dasdemütigende Zeremoniell des Waffenstillstandvon Compiègne wiederholen; allerdingsmit vertauschten Rollen: Diesmal ist er derSieger. Der französische General CharlesHuntziger muss im selben Salonwagen unterschreiben,was Hitler diktiert: Die Hälftedes Landes wird besetzt, Elsass-Lothringendem Deutschen Reich unterstellt. Mit diabolischemVergnügen rächt sich Hitler für dieDemütigung von 1918, für das „Diktat“ undfür den „Schandfrieden“ von Versailles. DenSalonwagen lässt er <strong>als</strong> Kriegsbeute von Compiègnenach Berlin schaffen, wo die Trophäeam Brandenburger Tor einen Begeisterungsrauschhervorruft. Alle Schmach der deutschenSeele scheint jetzt getilgt – dem „Führer“sei Dank.Schon nach wenigen Wochen zeichnet sich diefranzösische Niederlage ab, und MarschallPétain, der Held der Schlacht von Verdun imErsten Weltkrieg, schlägt vor, Hitler um einenWaffenstillstand zu bitten. Der deutsche „Führer“kann sein Glück selbst nicht fassen. Erhat mit einem jahrelangen Krieg gerechnet –wie 1914. Während Hunderttausende aus Parisgeflüchtet sind, marsc<strong>hier</strong>t die Wehrmachtam 14. Juni kampflos durch den Triumphbo-Hakenkreuz über den Dächern von Paris: Die Nazis marsc<strong>hier</strong>en im Juni 1940 in Paris einKAPITEL 9: WELT IN FLAMMEN


EIN GETEILTES LANDWiderstand und KollaborationEinen einzigen französischen General gibt es,der demonstrativ „Nein!“ sagt zum Waffenstillstandund zur beginnenden Kollaboration mitden Deutschen. Er hält den Krieg noch nicht fürentschieden: Charles de Gaulle fliegt nach London,um mit Winston Churchill den Widerstandzu verabreden.Der britische Premier gestattet ihm, über dieBBC eine Rede an die Franzosen zu halten.De Gaulle fordert die Offiziere und Soldatender französischen Streitkräfte und alle Franzosen,die frei bleiben wollen, auf, ihm zufolgen, und schließt mit dem flammendenAppell: „Es lebe das freie Frankreich in Ehreund Unabhängigkeit!“ Marschall Pétain lässtde Gaulle wegen Hochverrats in Abwesenheitzum Tode verurteilen. Den eigentlichenVerrat begeht jedoch er: Er kollaboriert mitHitler und verrät die Prinzipien der französischenRepublik.Zeitgleich gehen viele Französinnen mit dendeutschen Besatzern Beziehungen ein, auchechte Liebesbeziehungen. Sie glauben, wennder greise Marschall mit Hitler zusammenarbeitet,dann hätten auch sie das Recht, mitDeutschen befreundet zu sein. Und selbst zuentscheiden, wem sie sich hingeben – wiesich später zeigen sollte, ein folgenschwererIrrtum.Französische Antisemiten schlagen sichebenfalls auf die Seite der Deutschen undmelden sich freiwillig zum Kampf an derOstfront. Sie träumen von einem großen,faschistischen Europa, einem Europa ohneJuden. Später werden sie <strong>als</strong> französische Division„Charlemagne“ in die Waffen-SS eingegliedert,in Deutschland auf Hitler vereidigt,militärisch ausgebildet und in Osteuropaeingesetzt. Die Kollaboration in ihren unterschiedlichenFacetten ist ein schweres Erbefür Frankreich nach dem Krieg.Der scheinbare Frieden in Paris unter derdeutschen Besatzung wird aufrechterhaltendurch deutschen Terror, durch beinahe täglicheTodesurteile und Hinrichtungen. MancheFranzosen erweisen sich freilich <strong>als</strong> willigeEr kollaboriert: Marschall PétainHelfer der Deutschen: Nach einer großen Razziainterniert die Pariser Polizei am 16. Juli1942 in der berühmten Radrennbahn, dem„Vélodrome d’Hiver“ 13.000 französische Juden,um sie den Deutschen auszuliefern. Dashatten die Deutschen nicht einmal verlangt.Ausgeliefert „zur Deportation nach Osten“,wie es in der Sprache der Nazis heißt. „Osten“,das bedeutet Auschwitz. Die Radrennbahn istlängst verschwunden, und verdrängt schienlange Zeit auch das Verbrechen selbst.KAPITEL 9: WELT IN FLAMMEN


DAS GRAUEN1944Im vierten Jahr der deutschen Besatzung inFrankreich wird der Widerstand heftiger,die ‚Résistance‘ kämpft immer entschlossener.Die SS reagiert mit Terror. So am 10. Juni1944, <strong>als</strong> eine Kompanie der Waffen-SS dasDorf Oradour-sur-Glane besetzt. Der Befehllautet, den Ort mit allem, was darin ist, niederzubrennenund „alle Bewohner, ohne Ausnahme,zu töten“. Frauen und Kinder werdenin die Kirche getrieben, dann wird Feuergelegt. Wahllos werden Handgranaten in dasInnere geworfen. Die 254 Frauen und die 207Kinder des Dorfes sterben qualvoll. Die Männerwerden draußen erschossen, das ganzeDorf wird niedergebrannt. 641 unschuldiggetötete Dorfbewohner: Das meint die Waffen-SSmit „Partisanenbekämpfung“. Die Ruinendes Dorfes werden nach dem Krieg zum„historischen Denkmal“ erklärt, zu einem Ortdes Erinnerns.Überreste des Dorfes Oradour-sur-GlaneDie Waffen-SS löschte den gesamten Ort ausDie Ruinen sind heute eine GedenkstätteKAPITEL 9: WELT IN FLAMMEN


DAS ENDE DER SCHRECKENDie BefreiungInzwischen ist es General de Gaulle gelungen,den militärischen Widerstand über die nichtbesetzten Kolonien zu organisieren. Der entscheidendeSchritt zur Befreiung Frankreichskommt jedoch von außen: Am 6. Juni 1944landen die alliierten Truppen in der Normandie.Der „D-Day“ ist der Beginn der BefreiungEuropas von den Deutschen. Nur langsamund unter hohen Verlusten kämpfen sichdie alliierten Truppen voran. Als ihnen derDurchbruch in der Normandie gelingt, beginnendie Männer und Frauen der Résistance inParis den offenen Kampf gegen die deutschenBesatzer. Sie rufen den Gener<strong>als</strong>treik aus,erobern mit ihren alten Pistolen und Flintenein paar Straßenzüge um das Rathaus herumund bauen Barrikaden.von Choltitz, empfängt einen Befehl Hitlers:„Paris darf nur <strong>als</strong> Trümmerfeld in die Handdes <strong>Feinde</strong>s fallen!“ Doch Choltitz übergibtdie Stadt unversehrt an die Franzosen. Ganzgleich, ob er aus Angst vor alliierter Strafeoder aus ethischen Gründen handelte: ImErgebnis war das eine der wundervollstenBefehlsverweigerungen dieser Epoche.Am 25. August 1944 rücken die Befreier inParis ein. Mit ungeheurem Jubel wird diePanzerdivision von General Leclerc begrüßt.Und dann kommt Charles de Gaulle, der aufsässigeGeneral, der vier Jahre zuvor denKampf gegen Hitler aufgenommen hat. Er istder Mann der Stunde, der neue Nationalheld.Auch wenn damit der Krieg noch lange nichtzu Ende ist: Paris ist frei! Und die Welt jubeltmit den Franzosen.Doch in diesen triumphalen Pariser Augusttagentobt sich auch der ungeheure Hass anallen aus, die sich mit den Deutschen eingelassenhaben. Tausendfach gibt es Lynchjus-Für sie geht es jetzt auch um die Ehre: Parissoll sich selbst befreien. Das will auch deGaulle. Jeder einzelne deutsche Soldat ist jetztein Feind, den es rücksichtslos zu bekämpfengilt. Die deutschen Besatzer, militärischnoch immer überlegen, schlagen hart zurück.Der deutsche Stadtkommandant, GeneralBefreiung von den Deutschen: US-Soldaten landen 1944 an den Stränden der NormandieKAPITEL 9: WELT IN FLAMMEN


tiz auf offener Straße. Überall werden Frauenund Mädchen kahlgeschoren, zum Zeichenihrer „Ehrlosigkeit“. Es sind Zehntausende imganzen Land. Sogar Polizisten und Résistance-Kämpfernehmen teil an diesem barbarischenRitual, an dem sich der hysterischePöbel begeistert.Gut acht Monate später ist der Krieg zu Ende.In den deutschen Konzentrationslagern werdendie letzten noch lebenden Häftlinge befreit.Sie sind Zeugen des deutschen Terrorsin Europa, eines Jahrhundertverbrechens,das nicht nur „im deutschen Namen“ begangenwurde, sondern von Deutschen, jahrelang.Frankreich holt die überlebenden französischenHäftlinge zurück nach Hause: Juden,Kommunisten, katholische Priester, Kämpferder Resistance. Paris empfängt sie mit großerErleichterung, aber auch mit tiefem Schrecken.Es ist der Schrecken darüber, zu welcherMaßlosigkeit Menschen imstande sindund zu welch unvorstellbaren Verbrechen,die sich jetzt offenbaren.Alliierte Befreier auf den Champs-ÉlyséesKAPITEL 9: WELT IN FLAMMEN


KAPITEL 10AUFBRUCH NACH EUROPADer Zweite Weltkrieg ist vorbei, der Kalte Krieg beginnt. Europarückt ins Zentrum der Einflusssphären der Supermächte. Dieeinstigen Erbfeinde nähern sich behutsam an. De Gaulle undAdenauer wagen einen Neuanfang: Sie unterzeichnen den Elysée-Vertrag – einen Freundschaftsvertrag. Heute bilden Deutschlandund Frankreich den Kern des modernen Europas, man ist sichnicht mehr fremd. Oder vielleicht doch?


TIEFE GRÄBENAUFBRUCH NACH EUROPAAm 8. Mai 1945 ist der Zweite Weltkrieg zuEnde. Die furchtbare Bilanz: 60 Millionen Totedurch Krieg und Völkermord, weite Teile Europasliegen in Schutt und Asche, viele Menschensind heimatlos und hoffnungslos. „Der Todist ein Meister aus Deutschland“, dichtet PaulCelan. Nie war der Graben zwischen Deutschenund Franzosen tiefer.Deutschland ist besiegt, besetzt und geteilt.Eine der Besatzungszonen und einer der vierSektoren Berlins ist französisch. Die Angstvor Deutschland ist weiterhin groß. Deshalbdemonstriert die französische Armee zunächsteinmal Stärke. Und sie setzt deutscheKriegsgefangene zum Minenräumen ein. Dasverstößt zwar gegen internationales Recht,doch nach dem Willen Frankreichs sollenkeine weiteren Soldaten der Alliierten durchdeutsche Waffen sterben.KZs in Hitlers Reich, ansieht, bekommt zusätzlicheEssensrationen. Wer nicht hungernwill, muss hinschauen. Dennoch werden dieDeutschen noch lange behaupten: „Wir habenvon alldem nichts gewusst“. Ein geflügeltesWort der deutschen Nachkriegszeit.Einer, der zunächst keine Versöhnung mitdem „Erbfeind“ will, ist General de Gaulle. Erhat für das freie Frankreich gekämpft, daserst nachträglich zur Siegermacht gekürtwird. Trotzdem will de Gaulle bei der Nachkriegsordnungmitbestimmen. Er hält es füreine historische Berufung, die Pfalz, Hessen,Köln und am besten sogar das Ruhrgebietfranzösisch zu kontrollieren, so lange undweitgehend wie möglich. Außerdem wirdfleißig demontiert: Frankreich ist wirtschaftlichausgeblutet, die deutsche Besatzung warteuer. Dafür bedienen sich die Franzosen nunbei den Deutschen. Als Wiedergutmachungholzen sie ihnen die Wälder ab. Zwei MillionenFestmeter. „Franzosenhiebe“ nennen esdie Einheimischen im deutschen Südwesten.Die Franzosen legen Wert auf Umerziehungihrer „prisonniers de guerre“ – sie nennen es„Mission Civilisatrice“. Wer sich den Film „LesCamps de la mort“, „Die Todeslager“ über dieAuschwitz-Überlebende nach dem Ende des Zweiten WeltkriegsKAPITEL 10: AUFBRUCH NACH EUROPA


ENTE KONTRA KÄFERWirtschaftswunderjahreUnter den wachsamen Augen der Alliiertenzimmern die Westdeutschen an ihrerDemokratie: Die Bundesrepublik garantiertdie Menschen- und Bürgerrechte in den erstenArtikeln seines Grundgesetzes: Der Nachbarsteht Pate – mehr <strong>als</strong> 160 Jahre nach der französischenMenschenrechtserklärung.Im September 1949 wird Konrad Adenauerzum ersten Kanzler der Bundesrepublikgewählt. Der von der Sowjetunion besetzteOstteil Deutschlands reagiert prompt: ImOktober wird die DDR gegründet. Eine kommunistischgeführte „Volksdemokratie“ mitPlanwirtschaft unter sowjetischer Schirmherrschaft.Deutschland ist nun geteilt. BeideTeile halten sich für das einzige und wahreDeutschland. Der „Kalte Krieg“ zwischen Ostund West ist längst im Gange.Die französische Republik geht unterdessensozialistisch anmutende Wege und verstaatlichtihre Großbetriebe, zum Beispiel denAutomobilhersteller Renault, Teile der Kohleindustrieund der Banken. Die stärkstenParteien des Landes sind die kommunistische,die sozialistische und die bürgerlichePartei. Sie haben auch de Gaulle aus demAmt gedrängt, <strong>als</strong> er noch mehr Macht forderte.Der Unternehmer Jean Monnet entwickeltnun im Auftrag der Regierung eine ArtPlanwirtschaft für das Land. Mit ihr geht eswirtschaftlich steil bergauf. Übrigens schondam<strong>als</strong> wird in Frankreich ein Mindestlohngesetzlich verbrieft.Gleichzeitig entwickelt der französische AußenministerRobert Schuman Pläne, die westdeutscheund die französische Kohle- undStahlindustrie zusammen zu legen. Darauswird später die „Montanunion“. Wer Kohleund Stahl gemeinsam kontrolliert, so dieÜberlegungen Schumans, wird nicht gegeneinanderrüsten und Krieg führen könnenund wollen. Wirtschaftliche Einigung <strong>als</strong> einSchritt zur Sicherung des Friedens. nicht gegeneinanderrüsten und Krieg führen könnenund wollen. Wirtschaftliche Einigung <strong>als</strong> einSchritt zur Sicherung des Friedens.Deutsch-französische Rivalitäten werdenjetzt nicht mehr mit Panzern ausgetragen.Die Konkurrenten der kommenden Epochesind eine Ente und ein Käfer – auch wenn derdeutsche „Volkswagen“ schon in der Nazi-Zeitentwickelt wurde.KAPITEL 10: AUFBRUCH NACH EUROPA


DE GAULLE UND ADENAUERVon der Feindschaft zur FreundschaftZwölf Jahre lang waren die Dienste Charles deGaulles nicht gefragt, doch <strong>als</strong> im Algerienkriegdie Vierte Republik zerbricht, ist Charlesde Gaulle der Mann der Stunde. 1958 wirder Präsident der nunmehr Fünften Republik.Deutschland gegenüber ist er immer nochmisstrauisch. Kein Wunder: In zwei Weltkriegenhat er die Nachbarn <strong>als</strong> <strong>Feinde</strong> bekämpft.Doch schon wenige Wochen nach seinem Amtsantrittlädt er Bundeskanzler Konrad Adenauerin sein Privathaus ein: Das hatte es noch niegegeben. Ein Umdenken hat begonnen.Nach dem Bau der Mauer in Berlin im August1961 rücken die beiden Staatsmänner nochenger zusammen. Einem Gerücht zufolgebietet de Gaulle Adenauer für den Kriegsfallsogar atomare Unterstützung an: Man werdedie Russen am Rhein stoppen. Frankreichund Deutschland gehen <strong>als</strong>o weiter aufeinanderzu – von Amerika <strong>als</strong> eigentlicher GarantiemachtWestdeutschlands misstrauischbeäugt.In Reims präsentiert de Gaulle im Juli 1962seinem Volk den neuen Freund. Wider Erwartenwird Adenauer von den Franzosenherzlich begrüßt. Der Präsident besucht mitdem Kanzler einen geweihten Ort: die Kathedraleder Stadt. Jahrhundertelang waren <strong>hier</strong>die französischen Könige gekrönt worden. ImErsten Weltkrieg schlugen deutsche Granatenin die gotische Kirche ein. Nun feiern die beidenKatholiken eine Versöhnungsmesse. DeGaulle ist einen weiten Weg gegangen: VomGegner zum Freund. Für Adenauer erfülltsich ein lang gehegter Traum: Frieden mitFrankreich.Im selben Jahr bereist de Gaulle die Bundesrepublik.Überall wird er mit Jubel empfangen.Furore macht seine Rede in Ludwigsburgvor deutschen Jugendlichen: „Ichbeglückwünsche Sie, junge Deutsche zu sein,das heißt Kinder eines großen Volkes – jawohl,eines großen Volkes.“ Solche Sätze nur 17 Jahrenach Kriegsende machen die eigentlicheWende deutlich.Im Pariser Élysée-Palast unterzeichnen beideStaatsmänner am 22. Januar 1963 dendeutsch-französischen Freundschaftsvertrag.Die Amerikaner bangen um ihren Einfluss,doch den Vertrag können sie nicht verhindern.Er verpflichtet Deutsche und Franzosenzur Zusammenarbeit in Fragen der Außen-,Sicherheits-, Kultur- und insbesondere derJugendpolitik. Das Verhältnis beider Völkerzueinander soll von Grund auf neu gestaltetwerden. Aus Erbfeinden werden wachsame„Erbfreunde“. Über die alten Schützengräbenhinweg, nach Millionen von Toten, bricht einneuer Frühling der deutsch-französischenBeziehungen an.KAPITEL 10: AUFBRUCH NACH EUROPA


Symbol der deutsch-französischen Beziehungen: Kathedrale von ReimsKAPITEL 10: AUFBRUCH NACH EUROPA


STUDENTENUNRUHENZeit für Veränderung1968 begehrt die Jugend in Frankreich undder Bundesrepublik fast zeitgleich gegen denMief ihrer verknöcherten Gesellschaften auf.Links und rechts des Rheins gehen die Studentenauf die Straße. Es riecht nach Rebellion. InDeutschland stellen die aufsässigen Studentendem bedingungslosen Gehorsam, der den deutschenFaschismus erst möglich gemacht hatte,ihren Ungehorsam entgegen.In Paris werden die Studentenunruhen imMai 1968 von einem wochenlangen Gener<strong>als</strong>treikbegleitet. Die Infrastruktur des Landesist lahmgelegt, es herrscht der Ausnahmezustand.Die Arbeiter fordern Lohnerhöhungenund Reformen, zwei Millionen Menschensind auf den Straßen. Ausgerechnet DanielCohn-Bendit, genannt „Dany le Rouge“, steigtzum Star der Bewegung auf: Ein deutsch-jüdischerStudent von der Sorbonne. Auf dem Höhepunktder Unruhen flieht de Gaulle schutzsuchendüber den Rhein nach Baden-Badenins Hauptquartier der Französischen Streitkräftein Deutschland. Wenig später wird„Dany le Rouge“ aus Frankreich ausgewiesen– nach Deutschland, wo er nun wiederum in sozialistischen Staatspräsidenten Françoisder Frankfurter linken Szene zu einer der Mitterand. Es sind zwei sehr unterschiedlicheMänner, die sich dennoch mögen. BeideLeitfiguren aufsteigt.haben noch persönliche Erinnerungen anAber auch auf höchster Ebene wird die den Krieg. Ihr übereinstimmendes Ziel ist diedeutsch-französische Freundschaft weitergelebt:Erst noch eher zurückhaltend zwi-Deutschen und die Einigung Europas. Dasweitere Versöhnung zwischen Franzosen undschen Georges Pompidou und Willy Brandt. Bild der beiden, Hand in Hand auf dem Soldatenfriedhofvon Verdun, geht um die Welt.Dann, Mitte der siebziger, schon herzlicher:Helmut Schmidt und Valéry Giscard d’Estaing.Schließlich trifft Frankreichfan undCDU-Kanzler Helmut Kohl auf den erstenGedenken an die Gefallenen von 1916 in Verdun: Mitterand und Kohl Hand in HandKAPITEL 10: AUFBRUCH NACH EUROPA


EUROPÄISCHE EINIGUNGDie Lehren der GeschichteAm 9. November 1989 fällt in Berlin die Mauer,die Ost- und Westdeutschland geteilt hat – nichtnur zur Freude der französischen Nachbarn.Denn deren Erfahrungen mit einem „großen“Deutschland waren nicht die besten und lassenneue Ängste wachwerden.François Mitterand will das vereinte Deutschlandeinbinden – und damit Schluss machenmit deutscher Großmannssucht. Mit HelmutKohl geht er einen Deal ein: Ja zur Einheit derDeutschen, aber nur mit stärkerer Einbindungin Europa und mit einer gemeinsamenWährung, dem Euro. Heute bemühen sichdie europäischen Staaten um einen gemeinsamenWeg. Ausgerechnet in Straßburg stehtheute das Europaparlament, in jener Stadt,die Jahrhunderte Zankapfel zwischen Deutschenund Franzosen war. Heute ist StraßburgSymbol für die europäische Einigung,deren Motoren Deutschland und Frankreichsind. Widersprüche und Probleme muss manaushalten und lösen können – denn Freundschaftbewährt sich in der Krise.Der einstigen Verlauf der Berliner MauerEuropäisches Parlamentsgebäude in StraßburgEuro-Skulptur vor der Europ. ZentralbankKAPITEL 10: AUFBRUCH NACH EUROPA


Impressum(c) 2013 by Gruppe 5 Filmproduktion GmbHHerausgeber: Wolfgang BergmannAutoren: Martin Carazo Mendez (Kap. 1 und 3), Dorothea Nölle (Kap. 2 und 7),Sabine Klauser (Kap. 4 und 6), Christel Fomm (Kap. 5 und 10) undWerner Biermann (Kap. 8 und 9)Konzeption: Gruppe 5 Filmproduktion GmbH & ZDF Digital MedienproduktionGmbH in Zusammenarbeit mit ZDF und ARTEEntwicklung und Umsetzung: ZDF Digital Medienproduktion GmbHRedaktion: Bernd Mütter und Katharina KrohmannBildquellen: Gettyimages, Thinkstock und GallicaIMPRESSUM

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