Festung Europa
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Fachgerichte �Gerichtliche Kammern<br />
FADO (False and Authentic Documents) ist das<br />
Bildarchivierungssystem der EU mit einer Datenbank,<br />
in der Abbildungen falscher bzw. gefälschter<br />
sowie echter Dokumente für die Einreise in die EU<br />
gespeichert und zwischen den Mitgliedstaaten ausgetauscht<br />
werden können, ebenso Informationen<br />
über Techniken zur Sicherung und zur Fälschung<br />
von Dokumenten. Rechtsgrundlage ist die Gemeinsame<br />
Maßnahme des Rates vom 3. 12. 1998 (ABl. L<br />
333/ 1998).<br />
FAIR (Agriculture and Fisheries Programme),<br />
EU-Forschungs- und Entwicklungsprogramm im 4.<br />
Forschungsrahmenprogramm (1994 – 1998) in den<br />
Bereichen Landwirtschaft, Gartenwirtschaft, Forstwirtschaft,<br />
Fischerei und Aquakultur. Das Programm<br />
umfasste die Produktion und Nutzung von<br />
biologischen Rohstoffen mit dem Ziel, neue Produkte<br />
und Produktionsprozesse in den Bereichen Lebensmittel<br />
und Non-Food zu entwickeln. Im 5. FRP<br />
(1998 – 2002) abgelöst vom Programm Quality of<br />
Life and Management of Living Resources.<br />
Internet: www.cordis.lu/fair/home.html<br />
Falcone. Ein Programm der EU (benannt nach dem<br />
im Mai 1992 von der Mafia ermordeten italienischen<br />
Richter Falcone) in Zusammenhang mit dem �Aktionsplan<br />
zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität.<br />
Es fördert Projekte zur Ausbildung, zum Informationsaustausch<br />
und zur Zusammenarbeit der<br />
Personen, die für die Bekämpfung der organisierten<br />
Kriminalität zuständig sind (Richter, Staatsanwälte,<br />
Polizei-, Zoll-, Finanzbeamte u. a.). Rechtsgrundlage<br />
ist die Gemeinsame Maßnahme des Rates 98/<br />
245/JI (ABl. L 99/1998).<br />
Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie �FFH-Richtlinie<br />
Feierliche Erklärung/Deklaration zur Europäischen<br />
Union des Europäischen Rates vom Juni<br />
1983 in Stuttgart (auch Stuttgarter Erklärung<br />
genannt). In ihr werden rechtlich unverbindlich all-<br />
F<br />
<strong>Festung</strong> <strong>Europa</strong><br />
gemeine Ziele für eine �Europäische Union aufgeführt,<br />
z. B. die Grundsätze der Demokratie und die<br />
WahrungdesRechtsundderMenschenrechte,ferner<br />
Aufgaben und Befugnisse des Europäischen Rates<br />
und des Europäischen Parlaments definiert, die Notwendigkeit<br />
weiterer wirtschaftlicher Integration und<br />
der kulturellen Zusammenarbeit benannt sowie Verfahrensänderungen<br />
in der Europäischen Politischen<br />
Zusammenarbeitvorgeschlagen. W. M.<br />
�Europäische Union, �Spinelli-Entwurf<br />
Fernsehen ohne Grenzen �Fernsehrichtlinie,<br />
�Medienpolitik<br />
Fernsehrichtlinie wird die Richtlinie 89/552 „zur<br />
Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften<br />
der Mitgliedstaaten über die Ausübung<br />
der Fernsehtätigkeit“ genannt (ABl. L 298/<br />
1989). Sie wurde geändert durch Richtlinie 97/36<br />
(ABl. L 202/1997). Die Richtlinie eröffnete den<br />
Fernsehdiensten in der EU den freien Dienstleistungsverkehr<br />
im Binnenmarkt („Fernsehen ohne<br />
Grenzen“). Sie koordiniert die nationale Gesetzgebung<br />
u. a. in Bezug auf den Zugang der Zuschauer zu<br />
(sportlichen) Großereignissen. Gemäß Art. 3 (a) (2)<br />
der Richtlinie wurde bspw. der deutsche Rundfunkstaatsvertrag<br />
geändert; darin bestimmt Art. 5a nun,<br />
dass die Übertragung von „Ereignissen von erheblicher<br />
gesellschaftlicher Bedeutung“ unverschlüsselt<br />
und zu angemessenen Bedingungen erfolgen muss.<br />
Darunter fallen Großereignisse wie Olympische<br />
Sommer- und Winterspiele, bei Fußball-<strong>Europa</strong>und<br />
Weltmeisterschaften das Eröffnungs- und das<br />
Endspiel sowie die Halbfinalspiele und alle Spiele<br />
mit deutscher Beteiligung, Endspiele der Champions-League<br />
und im UEFA-Cup mit deutscher Beteiligung<br />
sowie alle Spiele der deutschen Fußballnationalmannschaft.<br />
�Medienpolitik<br />
<strong>Festung</strong> <strong>Europa</strong>. Häufig in kritischer oder polemischer<br />
Absicht verwendete Bezeichnung für die tatsächliche<br />
oder behauptete Abschottung des Europäischen<br />
Binnenmarktes in Bezug auf die �Handelspolitik,<br />
insbes. gegenüber Entwicklungsländern, oder<br />
321
FFH-Richtlinie<br />
die �Einwanderungs- bzw. �Asylpolitik im Rahmen<br />
des �Schengen-Prozesses.<br />
FFH-Richtlinie (Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie).<br />
Die Bezeichnung Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie,<br />
kurz FFH-Richtlinie, steht für die im Jahre 1992 beschlossene<br />
Richtlinie 92/43 zur Erhaltung der natürlichen<br />
Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere<br />
undPflanzen(ABl.Nr.L206/1992).Fürdasausführliche<br />
Regelungswerk hat sich jedoch fast ausschließlich<br />
die Bezeichnung FFH-Richtlinie eingebürgert,<br />
die sich von Fauna (= Tierwelt), Flora (= Pflanzenwelt)<br />
und Habitat (= Lebensraum) ableitet. Die<br />
FFH-Richtlinie hat zum Ziel, die biologische Vielfalt<br />
in den Mitgliedstaaten durch Festlegung eines<br />
gemeinsamen Rahmens für die Erhaltung der wildlebendenPflanzenundTiereundderLebensräumevon<br />
gemeinschaftlichem Interesse aufrechtzuerhalten.<br />
Die Schutzgebiete nach der FFH-Richtlinie werden<br />
unter dem Begriff �„Natura 2000“ zusammengefasst.DieRichtliniebeinhaltetauchdieSchutzgebiete<br />
der �Vogelschutz-Richtlinie 79/409 aus dem Jahr<br />
1979. In Anhang I (Natürliche Lebensräume von gemeinschaftlichem<br />
Interesse) und Anhang II (Tierund<br />
Pflanzenarten von gemeinschaftlichem Interesse)<br />
der FFH-Richtlinie sind die Lebensräume und<br />
Arten aufgeführt, für deren Erhaltung besondere<br />
Schutzgebiete ausgewiesen werden müssen. Verschiedene<br />
dieser Gebiete werden als „prioritäre“ natürliche<br />
Lebensraumtypen oder prioritäre (bedrohte)<br />
Arten definiert. Anhang IV enthält eine Aufzählung<br />
der besonders streng zu schützenden Tier- und Pflanzenarten.<br />
Mit der Novellierung des Bundesnaturschutzgesetzes<br />
(BNatSchG) 1998 wurde die<br />
FFH-Richtlinie in nationales Recht umgesetzt (§§ 32<br />
ff. BNatSchG).<br />
Die FFH-Richtlinie gibt ein abgestuftes Verfahren<br />
der Schutzgebietsausweisung vor: Zunächst erstellendieBundesländerListenvonSchutzgebieten.Die<br />
Flächen sollen primär unter dem Kriterium des Arten-<br />
und Habitatschutzes zusammengestellt werden,<br />
dürfen aber (naturgemäß) auch schon bestehende<br />
Schutzgebiete nach dem Bundesnaturschutzgesetz<br />
(Natur- und Landschaftsschutzgebiete, Biosphärenreservate,<br />
National- und Naturparks sowie geschützte<br />
Biotope) umfassen. Bei der Auswahl haben die<br />
Länder einen naturschutzfachlichen Ermessensspielraum.<br />
Die Nichtaufnahme eines Gebietes mit<br />
erheblicher ökologischer Bedeutung stellt jedoch<br />
322<br />
schon eine Verletzung der FFH-Richtlinie dar. In einem<br />
zweiten Schritt melden die Bundesländer die<br />
Listen mit den FFH-Flächen an das Bundesumweltministerium,<br />
welches sie an die EU-Kommission<br />
weiterleitet. Nach einer Prüfung („Konzertierung“)<br />
u. a. durch den EU-Habitatausschuss nimmt die<br />
EU-Kommission die Schutzgebiete in den Natura<br />
2000-Katalog auf.<br />
Die Ausweisung als FFH-Gebiet hat zur Folge, dass<br />
bei – nicht grundsätzlich verbotenen – Eingriffen<br />
durch Pläne und Projekte eine Verträglichkeitsprüfung<br />
durchgeführt werden muss. Diesbezüglich gilt<br />
ein grundsätzliches Verschlechterungs- und Störungsverbot.<br />
Die Verträglichkeitsprüfung wird unabhängig<br />
von einer evtl. zusätzlich erforderlichen<br />
Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) durchgeführt,<br />
auch der Eingriffs-Ausgleich nach dem Bundesnaturschutzgesetz<br />
ist unabhängig davon. Außerdem<br />
muss eine Alternativenprüfung durchgeführt<br />
werden, bei der Projekt- und Standortalternativen<br />
untersucht werden. Eingriffe sind grundsätzlich nur<br />
dann zu verwirklichen, wenn ein öffentliches Interesse<br />
nachgewiesen ist. Sind prioritäre Arten oder<br />
Biotope betroffen, muss die Stellungnahme der<br />
EU-Kommission eingeholt werden. Ist der Eingriff<br />
nach dem Bundesnaturschutzgesetz zulässig, muss<br />
dafür ein Ausgleich geleistet werden.<br />
Eingriffe in nicht gemeldete, aber dennoch schutzwürdige<br />
Gebiete (sog. faktische Vogelschutzgebiete<br />
undpotenzielleFFH-Gebiete)sindebenfallsnurausnahmsweise<br />
zulässig.<br />
Infolge des Beitritts der zehn neuen Mitgliedstaaten<br />
am 1. 5. 2004 wurden die Anhänge dieser Richtlinie<br />
geändert, um die biologische Vielfalt in diesen Ländern<br />
einzubeziehen. Die neuen Mitgliedstaaten<br />
mussten ihre Listen der Schutzgebiete zum 1. 5. 2004<br />
einreichen. Ch. S.<br />
Literatur:<br />
Gellermann, M.: Natura 2000: Europäisches Habitatschutzrecht<br />
und seine Durchführung in der Bundesrepublik<br />
Deutschland. Berlin/Heidelberg 2001 2<br />
Berner, K.: Der Habitatschutz im europäischen und deutschen<br />
Recht. Baden-Baden 2000<br />
Bergmann, J./Kenntner, M.: Deutsches Verwaltungsrecht unter<br />
europäischem Einfluss. Stuttgart u. a. 2002, Kap. 15<br />
FIAF (Finanzinstrument für die Ausrichtung der Fischerei)<br />
�Fischereipolitik, �Fonds der EU<br />
FIEC (Féderation de l’Industrie Européenne de la<br />
Construction). Verband der Europäischen Bauindu-
strie. Gegründet 1957, Sitz in Paris und Brüssel.<br />
>CEN<br />
FIME (Fédération Internationale des Maisons de<br />
l’Europe), Internationale Föderation der <strong>Europa</strong>häuser,<br />
gegründet 1992 unter Schirmherrschaft des <strong>Europa</strong>rates.<br />
Derzeit 128 Bildungs- und Informationseinrichtungen<br />
in 32 europäischen Ländern.<br />
Finalität der europäischen Integration. Seit den<br />
Anfängen der europäischen �Integration, die bis<br />
heute als evolutionärer Prozess verstanden wird<br />
(Präambel EUV, Präambel EGV, Präambel Verfassungsvertrag<br />
2004), wird die Frage nach ihrem Ziel,<br />
ihrer endgültigen Gestalt, ihrer Finalität gestellt. Finalität<br />
als Erreichen eines statischen Endzustandes<br />
setzt eine räumliche und zeitliche Begrenzung des<br />
Integrationsprozesses voraus. Der Prozess kann jedoch<br />
auch als in jeder Beziehung offener Vorgang<br />
ohne Finalität gesehen werden, der in einer sich verändernden<br />
Welt die Möglichkeit laufender Veränderungen<br />
und Anpassungen bietet.<br />
Prognosen über die institutionelle Finalität der Integration<br />
haben sich im Verlauf des Integrationsprozesses<br />
verändert, sind also selbst einem Prozess unterworfen.<br />
Während anfänglich die Alternative Bundesstaat<br />
(Föderation) oder Staatenbund (Konföderation)dieDiskussionbeherrschte,wurdenmitderZeit<br />
weitere mögliche Formen einer finalen Struktur entwickelt,<br />
die sich z. T. von historischen Vorbildern<br />
völkerrechtlicher Zusammenschlüsse von Staaten<br />
entfernt und zu neuen Modellen des institutionellen<br />
Integrationsziels geführt haben. Aber selbst die Versuche,<br />
den bisher erreichten Zustand der Integration<br />
in der EU begrifflich zu fassen (Staatenverbund, Integrationsverbund),<br />
haben noch kein allgemein akzeptiertes<br />
Ergebnis erbracht.<br />
In der aktuellen Diskussion über die Zukunft <strong>Europa</strong>s<br />
stehen eher die Voraussetzungen einer Finalität<br />
(mehr Effizienz, mehr Demokratie, mehr Akzeptanz)<br />
und die Wege dorthin (z. B. über verstärkte Zusammenarbeit)<br />
im Mittelpunkt als das Ziel selbst.<br />
Dabei ist nicht zu übersehen, dass sich auch nach einem<br />
halben Jahrhundert Integration in <strong>Europa</strong> der<br />
Wunsch nach Desintegration und nationaler Souveränität<br />
immer noch zu Wort meldet, nach dem ScheiternderReferendenüberden<br />
�Verfassungsvertragin<br />
Frankreich und den Niederlanden im Mai/Juni 2005<br />
und dem ergebnislosen Europäischen Rat vom<br />
Finanzielle Vorausschau<br />
16./17. 6. 2005 über die �Finanzielle Vorausschau<br />
bis 2013 sogar verstärkt.<br />
Finanzausschuss �Wirtschafts- und Finanzausschuss<br />
Finanzbeiträge. Die Ausgaben von EWG und<br />
EURATOM wurden nach Gründung der Gemeinschaften<br />
zunächst durch Finanzbeiträge der Mitgliedstaaten<br />
finanziert (Art. 200 EWGV). Der Gesamtbetrag<br />
wurde durch einen Aufbringungsschlüssel<br />
auf die Staaten verteilt: Deutschland, Frankreich,<br />
Italienje28%,BelgienundNiederlandeje7,9%,Luxemburg<br />
0,2 %). Die Verteilung konnte vom Rat einstimmig<br />
geändert werden. Diese Art der Finanzierung<br />
wurde durch den Beschluss vom 21. 4. 1979<br />
über die Ersetzung der Finanzbeiträge der Mitgliedstaaten<br />
durch eigene Mittel der Gemeinschaften abgelöst.<br />
�Eigenmittel<br />
Finanzhilfen der EU werden von der Kommission<br />
überwiegend nicht direkt an die Empfänger, sondern<br />
an nationale und regionale Behörden der Mitgliedstaaten<br />
zur Weiterleitung ausgezahlt. Das gilt z. B.<br />
für Zahlungen aus den Fonds der EU (Landwirtschafts-,<br />
Fischerei-, Regional-, Sozialfonds), die den<br />
größten Teil der EU-Finanzhilfen ausmachen.<br />
In Politikbereichen wie Forschung und Entwicklung,<br />
Bildung und Ausbildung, Umweltschutz, VerbraucherschutzoderimBereichderAußenbeziehungen<br />
werden Finanzhilfen auch direkt ausgezahlt,<br />
z. B. an Hochschulen, Unternehmen, Interessenverbände,<br />
�Nichtregierungsorganisationen.<br />
Finanzielle Vorausschau. Die Finanzielle Vorausschau<br />
ist die mittelfristige Finanzplanung der Europäischen<br />
Union. Ihr Planungshorizont beträgt 7<br />
Jahre. Sie hat nicht nur unmittelbare finanzpolitische<br />
BedeutungfürdieEinnahmenundAusgabenderEU,<br />
sondern regelt auch die konkrete Finanzausstattung<br />
einer Reihe wichtiger Sachpolitiken und ihrer Programme.<br />
Die Gemeinsame Agrarpolitik sowie die<br />
Struktur- und Kohäsionspolitik der EU bilden ihre<br />
größten Ausgabenblöcke.<br />
Der Finanziellen Vorausschau liegt eine Interinstitutionelle<br />
Vereinbarung zwischen Europäischer<br />
Kommission, Europäischem Parlament und Rat zu<br />
Grunde. Sie legt jährliche Obergrenzen sowohl für<br />
dengesamtenEU-Haushaltalsauchfürdieeinzelnen<br />
323
Finanzielle Vorausschau<br />
Haushaltsrubriken fest. Diese Obergrenzen haben<br />
verbindlichen Charakter und sind in der jährlichen<br />
Aufstellung des Haushaltes einzuhalten.<br />
Eine wichtige Rolle spielt auch die Regelung der Finanzierungsanteile<br />
der Mitgliedstaaten am EU-<br />
Haushalt (Eigenmittelbeschluss).<br />
In den bisher geltenden Europäischen Verträgen war<br />
die Finanzielle Vorausschau nicht geregelt. In der<br />
Europäischen Verfassung ist sie als mehrjähriger Finanzrahmen<br />
mit einer Laufzeit von mindestens 5<br />
Jahren dagegen verankert.<br />
Die erste Finanzielle Vorausschau, das sog. „Delors-Paket<br />
I", galt von 1988 – 92, gefolgt vom „Delors-Paket<br />
II“ für die Jahre 1993 – 99. Die derzeit geltende<br />
Finanzielle Vorausschau hat eine Laufzeit von<br />
2000 – 2006 (s. tabellarische Übersicht). Die dort<br />
enthaltene Eigenmittelobergrenze begrenzt die Ausgaben<br />
der EU auf maximal 1,24 % des EU-Bruttonationaleinkommens.<br />
Für die einzelnen Rubriken<br />
des Haushalts werden außerdem jährliche Obergrenzen<br />
für Verpflichtungsermächtigungen festgelegt.<br />
Diese begrenzen die Verpflichtungen, die die EU gegenüber<br />
Dritten eingehen darf. Eine Verschiebung<br />
von Verpflichtungsermächtigungen zwischen den<br />
einzelnen Rubriken ist nicht zulässig. Weiter gibt es<br />
eine jährliche Obergrenze für Zahlungsermächtigungen,<br />
welche nicht nach Rubriken aufgeschlüsselt<br />
ist und festlegt, welcher Betrag in einem Haushaltsjahr<br />
tatsächlich ausgegeben werden darf. Diese<br />
ObergrenzeliegtmeistunterderObergrenzefürVerpflichtungsermächtigungen<br />
und muss zwingend unter<br />
der Eigenmittelobergrenze liegen. Die Differenz<br />
zur Eigenmittelobergrenze dient als Sicherheitsmarge<br />
für unvorhergesehene Entwicklungen.<br />
324<br />
Finanzierung der EU bis 2006 (Finanzielle Vorausschau) in Mio. Euro*<br />
Landwirtschaft (EAGFL)<br />
Strukturpolitik**<br />
Interne Politikbereiche<br />
Externe Politikbereiche<br />
Verwaltung<br />
Heranführung<br />
Reserven<br />
Gesamtverpflichtungen<br />
Zahlungen<br />
Finanzielle Vorausschau 2006 – 2013: Zu den wichtigsten<br />
Herausforderungen an die Finanzielle Vorausschau<br />
2007–2013, über die gegenwärtig verhandelt<br />
wird, gehören die Finanzierung der – inkl. Bulgarien<br />
und Rumänien – um 12 neue Mitgliedstaaten<br />
erweiterten EU, die schwierige Lage zahlreicher nationaler<br />
Haushalte und die von der Europäischen<br />
Kommission vorgeschlagene Ablösung des „Britenrabatts“(�Ausgleichsmechanismus)durcheinenallgemeinen<br />
Korrekturmechanismus, der unverhältnismäßige<br />
Belastungen der Nettozahlerstaaten vermeiden<br />
soll.<br />
Deutschland strebt gemeinsam mit Frankreich, dem<br />
Vereinigten Königreich, Schweden, den Niederlanden<br />
und Österreich die Stabilisierung der durchschnittlichen<br />
jährlichen Ausgaben über die Laufzeit<br />
der neuen Finanziellen Vorausschau bei 1 % des<br />
EU-Bruttonationaleinkommens an.<br />
Beim Europäischen Rat am 16./17. Juni 2005 konnte<br />
keine Einigung über die Finanzielle Vorausschau erzielt<br />
werden. Der Kompromissvorschlag der luxemburgischen<br />
Präsidentschaft sah zuletzt ein Ausgabenvolumen<br />
in Verpflichtungsermächtigungen von<br />
etwa 870 Mrd. Euro vor. Das entspricht 1,06 % des<br />
EU-Bruttonationaleinkommens. Für die Höhe der<br />
Zahlungsermächtigungen werden 824 Mrd. Euro<br />
vorgeschlagen, das sind 1,00 % des EU-Bruttonationaleinkommens.<br />
Die Verhandlungen scheiterten vor<br />
allem am Widerstand Großbritanniens und der Niederlande.<br />
Die Niederlande sahen keine ausreichende<br />
Lösung für ihr Problem der besonders hohen Nettozahlungen.<br />
Großbritannien, welches seit 1984 einen<br />
Rabatt auf seinen Beitrag zum EU-Haushalt (sog.<br />
„Briten-Rabatt“) erhält, wollte diesen nicht reduzie-<br />
2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006<br />
37 352<br />
37 064<br />
6 031<br />
4 627<br />
4 638<br />
3 174<br />
906<br />
93 792<br />
91 322<br />
40 035 41 992 42 680 42 769 43 724 43 735<br />
37 215 38 233 38 666 47 571 48 392 49 772<br />
6 271 6 558 6 796 8 722 8 967 9 093<br />
4 735 4 873 4 972 5 082 5 093 5 104<br />
4 776 5 012 5 211 5 983 6 154 6 325<br />
3 240<br />
916<br />
3 328<br />
676<br />
3 386<br />
434<br />
3 455<br />
442<br />
3 455<br />
442<br />
3 455<br />
442<br />
97 189 100 672 102 145 115 434 117 526 118 967<br />
94 730 100 078 102 767 111 380 112 260 114 740<br />
* in Preisen von 2004<br />
** einschl. Ländliche Entwicklung<br />
Quelle: Europäische Kommission, GD Haushalt, Angepasste Tabellen der Finanziellen Vorausschau für EU-25
en und stellte insbesondere die bereits 2002 beschlossenen<br />
hohen Agrarausgaben in Frage. Eine Einigung<br />
wird deshalb frühestens während der britischen<br />
Präsidentschaft im zweiten Halbjahr 2005 erfolgen.<br />
Wertung: Zur Bewertung des Systems der Finanziellen<br />
Vorausschau lässt sich sagen, dass sich dieses in<br />
der Vergangenheit bewährt hat. Es ermöglicht gegenüber<br />
einem jährlichen Haushaltsverfahren eine<br />
Verstetigung und bessere Vorhersehbarkeit der Ausgaben.<br />
Gleichzeitig wird vermieden, dass sich die<br />
EU-Mitgliedstaaten jedes Jahr neu auf Grundsätze<br />
für das jeweils nächste Haushaltsjahr einigen müssen.<br />
Dies hatte bis zur Einführung der mittelfristigen<br />
Finanzplanung im Jahre 1988 oft zu langen Verzögerungen<br />
bei der Verabschiedung der jährlichen Haushaltegeführt.<br />
A. L.<br />
Finanzielle Vorausschau 2007–2013 (Vorschläge<br />
der Kommission). Die Vorschläge für die Finanzielle<br />
Vorausschau 2007 – 2013 hat die Kommission<br />
am 12. 3. 2004 unter dem Titel „Unsere gemeinsame<br />
Zukunft aufbauen – Politische Herausforderungen<br />
und Haushaltsmittel der erweiterten Union –<br />
2007 – 2013“ vorgelegt (KOM 2004/101 endg.). Sie<br />
sehen im Einzelnen vor:<br />
– Die Obergrenze für die Eigenmittel soll wie bisher<br />
auf 1,24 % des Bruttonationaleinkommens der<br />
Unionfestgesetztbleiben.DieEU-Ausgabensteigen<br />
somit von 133 Mrd. Euro im Jahr 2007 auf 158 Mrd.<br />
Euro bis 2013.<br />
– Insgesamt würden die EU-Haushalte für die Jahre<br />
2007 – 2013 1,025 Bio. Euro an Verpflichtungsermächtigungen<br />
umfassen. Am kräftigsten sollen in<br />
diesem Zeitraum die Ausgaben im Bereich Kohäsionspolitik<br />
und Nachhaltiges Wachstum steigen,<br />
auf insgesamt 477,6 Mrd. Euro (46,6 %). An zweiter<br />
Stelle folgen Agrar- und Umweltpolitik mit konstanten<br />
Ausgaben in Höhe von 404,6 Mrd. Euro (39,6 %).<br />
Für die Innen- und Justizpolitik sind 18,5 Mrd. Euro<br />
(1,8%) vorgesehen. Der „globalen Politik der Partnerschaft“<br />
im Rahmen der Außen-, Sicherheits- und<br />
Entwicklungspolitik sollen 95,6 (9,3 %) Mrd. Euro<br />
zur Verfügung stehen. Die Verwaltung darf 28,6<br />
Mrd. Euro (2,7 %) ausgeben.<br />
– Die Kommission entwickelt die strukturellen Reformen<br />
über das EU-Budget weiter. Die Agenda<br />
2000 war stark auf die Bewältigung der Erweiterung<br />
ausgerichtet. Mit der Agenda 2007 entwickelt die<br />
Finanzieller Beistand<br />
Union vier Aktionsbereiche: Nachhaltige Bewirtschaftung<br />
und Schutz der natürlichen Ressourcen<br />
(inkl. Landwirtschaftspolitik), Nachhaltiges Wachstum<br />
(inkl. Struktur- und Wachstumsfonds), die EU<br />
als globaler Partner und der Bereich der Unionsbürgerschaft,<br />
Freiheit, Sicherheit und Recht. Fünfter<br />
Ausgabenbereich ist die Verwaltung.<br />
– Trotz des EU-„Bevölkerungsanstiegs“ um 30 %<br />
(Zahlen für 2004: EU-15 = 380 Mio. Einwohner;<br />
EU-25 = 425 Mio. Einwohner; EU-27 = 455,5 Mio.<br />
Menschen) und neuer Aufgaben sollen die Mittel für<br />
Zahlungen im Durchschnitt 1,14 % des Bruttonationaleinkommens<br />
(BNE) bzw. BIP betragen und damit<br />
konstant bleiben.<br />
– Strukturell entwickelt der Finanzentwurf der<br />
Kommission auch die Finanzreform weiter. Margret<br />
Thatchers legendäres „I want my money back“ im<br />
Jahr 1984 mündete im britischen Beitragsrabatt<br />
(�Ausgleichsmechanismus; 2005 ca. 4 Mrd. Euro).<br />
Der Haushaltszeitraum 2007 – 2013 soll derartige<br />
Sonderkonditionen beenden; der britische Beitragsrabatt<br />
würde von 2008 bis 2012 schrittweise abgebaut.<br />
Neu eingeführt werden soll ein sog. „Gruppenrabatt“<br />
für die Nettozahler, deren Beitrag in den<br />
Haushalt 0,35 % ihres BIP überschreitet.<br />
Die mittelfristige Finanzplanung für 2007 bis 2013<br />
beschließt der Europäische Rat (einstimmig) auf Basis<br />
des Finanzentwurfes der Kommission. Eine erste<br />
Beratung darüber beim Europäischen Rat in Brüssel<br />
am 16./17. 6. 2005 endete ergebnislos (�Finanzielle<br />
Vorausschau).<br />
Bereits bei den Beschlüssen zur Finanziellen Vorausschau<br />
2000–2006 wurde deutlich, dass die von<br />
der Kommission vertretenen europäischen Ziele im<br />
Europäischen Rat massiv den nationalen Interessen<br />
der Mitgliedstaaten unterliegen, d. h. möglichst viel<br />
Kapital für die jeweilige nationale Kasse herauszuschlagen.<br />
Hintergrund ist das große Wohlstandsgefälle<br />
unter den 25 Mitgliedstaaten: Lettland erreicht<br />
nur 42,3 % des EU-Durchschnitts im BIP je Einwohner,<br />
Dänemark dagegen 121,5 % (vgl. Tabelle auf<br />
S.14). L. U.<br />
Finanzieller Beistand kann (nach Art. 100 Abs. 2<br />
EGV) einem Mitgliedstaat gewährt werden, der<br />
durch Naturkatastrophen oder außergewöhnliche<br />
Ereignisse, die sich seiner Kontrolle entziehen, in<br />
Schwierigkeiten geraten ist. Der Rat entscheidet mit<br />
qualifizierter Mehrheit auf Vorschlag der Kommis-<br />
325
Finanzierungsinstrumente<br />
sion. Das EP wird unterrichtet. Nach der Überschwemmungskatastrophe<br />
in mehreren EU-Staaten<br />
im Sommer 2002 wurde ein �Solidaritätsfonds der<br />
EU mit 1 Mrd. Euro eingerichtet, der Staaten finanziell<br />
hilft, wenn die Katastrophenschäden 3 Mrd.<br />
Euro oder 0,6 % des BSP übersteigen.<br />
Finanzierungsinstrumente<br />
1. Die Europäische Kommission hat für alle RegionenderErdefinanzielleundtechnischeHilfenkonzipiert.<br />
Verbunden mit der grundlegenden Umstrukturierung<br />
der Kommission im Herbst 1999 wurden alle<br />
Förderungen einer generellen Prüfung unterzogen.<br />
Die EU-Förderung will dabei wegkommen von der<br />
reinen Bezuschussung von Projekten, hin zu einer<br />
Kofinanzierung von Maßnahmen durch die Empfängerländer<br />
selbst. Die Hilfen unterscheiden sich stärker<br />
als früher von Land zu Land. Der Entwicklungsstand<br />
spielt bei den Projekten eine größere Rolle.<br />
ImZugedesEU-Beitrittssindinsbes.Programmefür<br />
Mittel- und Osteuropa aufgelegt worden, um den<br />
Staaten eine schnelle und reibungslose Heranführung<br />
an die EU zu ermöglichen. Hierbei haben sich in<br />
der Förderung drei Hauptgruppen entwickelt: erstens<br />
die EU-Beitrittsstaaten, zweitens die Staaten,<br />
mitdenenformellevertraglicheBeziehungenzurEU<br />
in Form von Stabilisierungs- und �Assoziierungsabkommen<br />
hergestellt werden sollen, und drittens Länder,<br />
mit denen die Zusammenarbeit weiter ausgebaut<br />
wird, für die aber keine Einbindung in die europäischen<br />
Strukturen vorgesehen ist.<br />
DieProgrammefürMittel-undOsteuropaimEinzelnen:<br />
PHARE gewährt seit 1989 finanzielle und technische<br />
Hilfe. Im Zeitraum von 2000 – 2006 stehen jährlich<br />
ca. 1,5 Mrd. Euro an Mitteln zur Verfügung. Die<br />
Investitionsförderung, für die 70 % der �PHARE-<br />
Mittel bereitstehen, konzentriert sich seit 2000 auf<br />
den Ausbau der ordnungspolitischen Infrastruktur,<br />
auf Direktinvestitionen, die mit der Übernahme des<br />
Gemeinschaftsrechts in Zusammenhang stehen, sowie<br />
auf Investitionen in Maßnahmen zur Umgestaltung<br />
und Modernisierung des Industrie- und Dienstleistungssektors<br />
und zur Erhöhung der nuklearen Sicherheit.<br />
Zum 1. 5. 2004 ist PHARE in den neuen<br />
Mitgliedstaaten der EU ausgelaufen und wird durch<br />
den Sozial- und Kohäsionsfonds der EU ersetzt. Dies<br />
bedeutet eine Verschiebung zu Gunsten der nachrückenden<br />
südosteuropäischen Staaten.<br />
326<br />
ISPA: Im Rahmen des �ISPA-Programmes werden<br />
von 2000 bis 2006 jährlich rund 1 Mrd. Euro für Infrastrukturprojekte<br />
in den Bereichen Umwelt, Trinkwasserversorgung<br />
und Abwasseraufbereitung, Abfallmanagement,<br />
Luftreinhaltung und Verkehr bereitgestellt.<br />
Unter den Bereich Verkehr fallen die Erweiterung<br />
der transeuropäischen Verkehrsnetze<br />
einschl. der Eisenbahnnetze, Häfen, Flughäfen und<br />
Straßen. Pro Jahr sollen damit über 100 Investitionsprojekte<br />
finanziert werden.<br />
�SAPARD stellt Mittel für die Landwirtschaft in<br />
Höhe von jährlich 520 Millionen Euro zur Verfügung.<br />
Die Programme werden von den Ländern selber verwaltet.<br />
TACIS: Die sog. GUS-Staaten (Armenien, Aserbaidschan,<br />
Belarus, Georgien, Kasachstan, Kirgisistan,<br />
Moldova, Russland, Tadschikistan, die Ukraine,<br />
Usbekistan) und die Mongolei werden seit 1991 über<br />
das �TACIS-Programm der EU gefördert. Die<br />
TACIS-Verordnung für 2000 bis 2006 hat einen Finanzrahmen<br />
von 3,1 Mrd. Euro. Ziel des TACIS-<br />
Programms ist es, eingeleitete Reformen in den genannten<br />
Ländern zu stabilisieren, marktwirtschaftliche<br />
Wirtschaftssysteme herauszubilden und Demokratie<br />
und Rechtsstaatlichkeit zu stärken.<br />
Die Finanzierungshilfen für Lateinamerika hat die<br />
EU durch das AL-Invest Programm verwirklicht.<br />
�MEDA ist das Programm für den südlichen Mittelmeerraum.<br />
2. Darüber hinaus hat die Kommission im Mehrjahresprogramm<br />
Maßnahmen für �KMU aufgelegt, die<br />
den Zugang zu Kapital für verschiedene betriebliche<br />
Maßnahmen verbessern sollen. Dabei handelt es sich<br />
um Finanzierungsinstrumente, die von der �EIB<br />
oder dem �EIF verwaltet werden. Unternehmen können<br />
die Finanzierungshilfen nicht direkt beantragen,<br />
sondern haben nur dezentralen Zugang über nationale<br />
und regionale Finanzvermittler wie Banken oder<br />
Risikokapitalvermittler.<br />
ETF: European Technology Facility wird treuhänderisch<br />
vom EIF verwaltet und bietet die Möglichkeit,<br />
KMU-Gründungen in der Anfangsphase zu fördern.<br />
DassolldurchBeteiligungenanverschiedenenWagniskapitalfonds<br />
ermöglicht werden. Hierfür stehen<br />
1,5 Mrd. Euro zur Verfügung.<br />
JEV (Joint European Venture) ist ein Unterstützungsmechanismus<br />
für die Gründung eines transnationalen<br />
Joint Ventures. Damit sollen kleinere und
mittlere Unternehmen bei der Erweiterung ihrer Geschäftsfelder<br />
und ihrer Internationalität gefördert<br />
werden.<br />
Gateway to Japan fördert Unternehmerreisen und<br />
Beteiligungenu.a.indenBereichenUmwelttechnik,<br />
IT & Software, Interior Lifestyle, Medizintechnik<br />
undYoungFashion. D. B.<br />
Finanzvorschriften des EG-Vertrags. Für die<br />
Einnahmen und Ausgaben der Gemeinschaft<br />
einschl. des �ESF sind die Finanzvorschriften im<br />
Fünften Teil des EGV, Teil II in den Artikeln 268 bis<br />
280 festgelegt. �Haushalt der EU, �Haushaltsverfahren,<br />
�Haushaltsordnung<br />
FISCALIS ist ein Aktionsprogramm der EU mit dem<br />
Ziel, die im Binnenmarkt geltenden Rechtsvorschriften<br />
im Steuerbereich zu vereinfachen, sie einheitlich<br />
anzuwenden und die Zusammenarbeit der<br />
Verwaltungen zu verbessern, auch im Hinblick auf<br />
die Bekämpfung von Steuerbetrug. Es ersetzt das<br />
frühere Matthäus-Tax-Programm (1993 – 1997).<br />
Das Programm wurde durch Entscheidung 888/98<br />
des EP und des Rates (ABl. L 126/ 1998) eingerichtet<br />
und begann am 1. 1. 1998 zunächst für den Bereich<br />
der indirekten Steuern. Mit Entscheidung 2235/2002<br />
des EP und des Rates (ABl. L 341/2002) wurde es bis<br />
Ende 2007 verlängert und auf Einkommen-, Vermögens-<br />
und Versicherungssteuern ausgedehnt.<br />
Fischereipolitik, Gemeinsame (GFP)<br />
1. Grundlagen der Gemeinsamen Fischereipolitik:<br />
Obwohl die Gemeinschaft mit einer Jahresproduktion<br />
(Fang 73 %, Aquakultur 17 %, 2002) von rd.<br />
7 Mio. Tonnen (ca. 5 % der Gesamtweltproduktion)<br />
zu den vier bedeutendsten Fischereimächten der<br />
Welt gehört und darüber hinaus den größten Absatzmarkt<br />
der Welt für Fischereiprodukte stellt, liegt die<br />
Bedeutung der Fischwirtschaft nicht so sehr in ihrem<br />
absoluten Anteil an der Gesamtwirtschaft (2002 je<br />
nach Mitgliedstaat zwischen 0,0 und 0,6 % des BIP),<br />
als vielmehr in ihrer Konzentration in meist strukturschwachen<br />
Randregionen.<br />
Die Fischereipolitik gehört zu den Politiken, für welche<br />
die Gemeinschaft z. T. eine ausschließliche Zuständigkeit<br />
besitzt. Rechtsgrundlage ist – ebenso wie<br />
für die �Gemeinsame Agrarpolitik – Art. 3 Abs. e<br />
EGV in Verbindung mit Art. 32 ff. und Anhang II<br />
(Liste zu Art. 32 EGV). Die Gemeinsame Fischerei-<br />
Fischereipolitik<br />
politik umfasst vier große Bereiche: Bewirtschaftung<br />
der Ressourcen, Marktordnung, Strukturpolitik<br />
und Auswärtige Fischereibeziehungen.<br />
2. Entwicklung seit 1970<br />
2.1 Erste Regelungen erfolgten 1970 im Markt- und<br />
Strukturbereich (VO 2141 und 2142/70). Darin war<br />
zunächst der nichtdiskriminatorische Zugang der<br />
Gemeinschaftsfischer zu allen Gewässern der Mitgliedstaaten<br />
vorgesehen. Die Beitrittsakte von 1972,<br />
durch welche die Gemeinschaft um klassische Fischereinationen<br />
(Dänemark, Großbritannien und Irland;<br />
Norwegen trat nicht bei) mit beträchtlichen<br />
Fischressourcen erweitert wurde, sah eine zeitweise<br />
Einschränkung dieses Prinzips für die Küstengewässer<br />
vor, die (abgesehen von einigen historisch begründeten<br />
Fischereirechten) grundsätzlich der regionalen<br />
Küstenfischerei vorbehalten bleiben: Die<br />
Mitgliedstaatenkonntenbis31.12.1982inihrenHoheitsgewässern<br />
innerhalb einer Sechsmeilenzone,<br />
für besonders benannte Gebiete in einer Zwölfmeilenzone<br />
den Zugang auf solche Fischereifahrzeuge<br />
beschränken,dietraditionellvonörtlichenHäfenaus<br />
in diesen Gewässern fischen.<br />
Durch eine konzertierte Aktion (Haager Entschließung)dehntendieMitgliedstaaten1976ihreexklusiven<br />
Wirtschaftszonen (einschl. Fischerei) in Nordsee<br />
und Nordatlantik (also nicht im Mittelmeer) auf<br />
200 Seemeilen aus. Seit August 1997 nimmt Spanien<br />
einseitig eine Fischereizone im Mittelmeer in Anspruch,dieabernichtdieFischereimöglichkeitender<br />
anderen Gemeinschaftsflotten einschränkt.<br />
Erst nach jahrelangen Verhandlungen gelang es<br />
1983, sich mit der VO 170/83 auf ein gemeinsames<br />
Bewirtschaftungsregime zu verständigen. Dieses<br />
Regime sah die Verteilung der verfügbaren Ressourcen<br />
auf die Mitgliedstaaten in Form von Quoten nach<br />
dem Grundsatz der „relativen Stabilität“ vor, wodurch<br />
ein gleichbleibender prozentualer Anteil an<br />
den aufgrund wissenschaftlicher Empfehlung festgesetzten<br />
TACs (Total Allowable Catch, zulässige<br />
Gesamtfangmenge) gewährleistet wird (sog. „Blaues<br />
<strong>Europa</strong>“). Die Mitgliedstaaten gewährten den Fischern<br />
Lizenzen zur Abfischung der Quoten. Nach<br />
Erschöpfung der Quote musste der betreffende Mitgliedstaat<br />
den Fischfang durch seine Flotte einstellen.<br />
Außerdem wurde die Einschränkung des Zugangs<br />
für die auf 12 Seemeilen ausgedehnten Küstengewässer<br />
fortgeschrieben, um lokale Kleinfischer<br />
zu schützen. Eine Reihe von Folgeverordnun-<br />
327
Fischereipolitik<br />
gen regelt technische Beschränkungen der Fangtätigkeit<br />
(z. B. Mindestmaschenweiten der Netze) zum<br />
SchutzderBeständeunddieKontrollederFangtätigkeit.<br />
Die Beitrittsakte von 1985 (Spanien und Portugal)<br />
sah für die Fischerei eine extrem lange Übergangszeit,<br />
teilweise bis in das Jahr 2003 vor. Während dieser<br />
Zeit bestanden nur strikt begrenzte gegenseitige<br />
Zugangsregelungen für die Flotten der neuen Mitglieder<br />
und der damaligen Zehnergemeinschaft.<br />
Im zeitlichen Zusammenhang mit den Verhandlungen<br />
über den Beitritt von Norwegen, Schweden,<br />
Finnland und Österreich sind diese Sonderregelungen<br />
weitgehend in die allgemeinen Vorschriften<br />
übergeleitet worden. Da Norwegen schließlich nicht<br />
beitrat, erforderte die relativ bescheidene Fischereiaktivität<br />
Finnlands und Schwedens nur geringfügige<br />
Anpassungen in der Gemeinsamen Fischereipolitik,<br />
insbes. für die Ostsee.<br />
Die EU-Osterweiterung von 2004 hat nur geringe<br />
Auswirkungen auf die GFP, da die neuen Mitgliedstaaten<br />
mit Ausnahme Polens (Mittelfeld) nur kleine<br />
Fischereisektoren aufweisen.<br />
2.2 Regelungen im Strukturbereich: 1986 und 1989<br />
wurden umfassende Regelungen getroffen (VO<br />
4028/86 und 4042/89), die insbes. finanzielle Hilfen<br />
der Gemeinschaft für die erforderlichen Anpassungen<br />
der Strukturen in der Gemeinschaft vorsehen.<br />
Kernproblem ist dabei die im Verhältnis zu den verfügbaren<br />
Fischressourcen zu große Fangkapazität<br />
der Gemeinschaftsflotten, die eine Begrenzung und<br />
Kontrolle des Fangaufwands in der Gemeinschaft erschwert<br />
und damit die Erhaltung der Fischereibestände<br />
bedroht. Aber auch in den Bereichen Fischereihafenanlagen,<br />
Fischzucht, Vermarktung und Verarbeitung<br />
besteht erheblicher Modernisierungsbedarf.<br />
Die erforderliche Reduzierung der Flottenkapazität<br />
wird insbes. über mehrjährige Ausrichtungsprogramme<br />
(MAP) angestrebt. Die Maßnahmen erzielten<br />
die gewünschte Reduktion nur unzureichend,<br />
und so kam es 2002/3 zur umfassenden Neuordnung<br />
der GFP (s. u.).<br />
2.3 Die Marktorganisation (z. Zt. durch die VO<br />
104/2000 geregelt; Revision vorauss. 2006) beruht<br />
auf sehr eingeschränkten Interventionsmechanismen,<br />
die über die Erzeugerorganisationen abgewickelt<br />
werden und (insbes. im Vergleich zur Landwirtschaft)<br />
nur geringe Ausgaben aus dem Gemeinschaftshaushalt<br />
verursachen. Die Mittel wurden im<br />
328<br />
Vergleich zur vorherigen Ordnung (VO 3759/92)<br />
leichtzurückgefahrenunddieGewichtungimSektor<br />
(Fang, Verarbeitung, Lagerung) leicht verschoben.<br />
Die Ordnung entspricht den Interessen des weitgehend<br />
auf Einfuhren angewiesenen Marktes, setzt<br />
aber gleichzeitig die Fischerei dem internationalen<br />
Konkurrenzdruck aus, was angesichts der kritischen<br />
Lage der Fischbestände in den Gemeinschaftsgewässern<br />
erhebliche Probleme in den von der Fischerei<br />
abhängigen Regionen verursacht. Es besteht<br />
überdies ein traditioneller Interessengegensatz zwischen<br />
den nördlichen Staaten mit stark entwickelter<br />
Fischverarbeitungsindustrie, die praktisch ausschließlich<br />
Drittlandsimporte verarbeitet, und den<br />
südlichen Ländern mit großen Hochseeflotten und<br />
stärkerer Frischfischorientierung.<br />
Auch Umweltaspekte werden im Markt zunehmend<br />
bedeutend, da insbes. von �Nichtregierungsorganisationen<br />
(WWF, Greenpeace) auf die Zertifizierung<br />
von Fisch, der unter Einhaltung der Erhaltungsmaßnahmen<br />
gefangen wurde, gedrängt wird.<br />
2.4 Die Gemeinschaftsflotten waren traditionell in<br />
hohem Maße auf die Fischerei in der hohen See ausgerichtet.<br />
Die ergiebigsten Fischgründe sind seit der<br />
Ausdehnung der nationalen Fischereizonen verschlossen.<br />
Zum teilweisen Ausgleich der dadurch<br />
verlorenenFangmöglichkeitenhatdieGemeinschaft<br />
eine Vielzahl (2004 gut 20) von Fischereiabkommen<br />
geschlossen. Die praktisch größte Bedeutung haben<br />
die Abkommen mit Norwegen sowie mit Grönland<br />
(seit seinem Ausscheiden aus der Gemeinschaft<br />
1985) und Marokko. Der Umbruch im weltweiten<br />
Fischfang (technischer Fortschritt, neue Fischmächte<br />
und Einstieg von Entwicklungsländern in den industriellen<br />
Fischfang) wird die Kompensationsmöglichkeiten<br />
der EU mit Hilfe von Fischereiabkommen<br />
einschränken.<br />
Die Abkommen mit afrikanischen und pazifischen<br />
Staaten enthalten i. d. R. entwicklungspolitische<br />
Aspekte, während die Abkommen mit südamerikanischenStaatenAnsätzezurKooperationentwickeln<br />
(joint ventures).<br />
Die Gemeinschaft ist Mitglied der wichtigsten internationalen<br />
Fischereiorganisationen bzw. -abkommen.<br />
Sie hat außerdem die Seerechtskonvention der<br />
UNO unterzeichnet.<br />
Das Völkerrecht im Fischereibereich ist weiter stark<br />
in Fluss, wobei die Küstenstaaten versuchen, ihren<br />
Einfluss über die mittlerweile als Gewohnheitsrecht
akzeptierte 200-Meilen-Zone auszudehnen („creeping<br />
jurisdiction“). Die Gemeinschaft versucht,<br />
auch im Hinblick auf die divergierenden Interessen<br />
der Mitgliedstaaten, eine mittlere Position zwischen<br />
den Interessen der Küstenstaaten und der Hochseefischereistaaten<br />
einzunehmen.<br />
3. Aktuelle Tendenzen: 1992 wurde eine neue Grundverordnung<br />
erlassen (VO 3760/92), die durch einen<br />
globaleren Ansatz und ein flexibleres Instrumentarium<br />
eine rationellere Bewirtschaftung der Ressourcen<br />
sicherstellen soll. Dabei soll insbes. mehr auf<br />
eine Begrenzung des Fangaufwandes abgestellt werden,<br />
um zusammen mit einer effizienteren Kontrolle<br />
der Fangtätigkeit die Bestände besser vor Überfischung<br />
zu schützen.<br />
Im Zuge der Reform der Strukturfonds (�Fonds der<br />
EU) der Gemeinschaft wurde 1993 (VO 2080/93)<br />
das Finanzinstrument für die Ausrichtung der Fischerei<br />
geschaffen (FIAF). Damit sollen einerseits<br />
die Förderungsmaßnahmen für die erforderlichen<br />
Strukturanpassungen zusammengefasst werden,<br />
und andererseits die Voraussetzung für flankierende<br />
Maßnahmen der anderen Gemeinschaftsfonds, insbes.<br />
des Regionalfonds (�Fonds der EU), für die von<br />
der Fischerei abhängigen und vom Strukturwandel<br />
am schwersten betroffenen Regionen geschaffen<br />
werden. Für den Zeitraum von 2000 bis 2006 wurden<br />
für die 15 EU-Staaten ca. 5,6 Mrd. Euro an gemeinschaftlichen<br />
(3,7 Mrd. Euro) und staatlichen (1,9<br />
Mrd. Euro) Beihilfen für den Fischereisektor veranschlagt.<br />
Im Mittelmeer, das ursprünglich nur in die<br />
Markt- und Strukturpolitik eingegliedert war, sind<br />
erste Regelungen zur Harmonisierung der in den<br />
Mittelmeerländern geltenden fischereirechtlichen<br />
Vorschriften getroffen worden. Im Zusammenhang<br />
mitderEinbeziehungdesMittelmeersindasgemeinschaftliche<br />
Fischereiregime hat die Gemeinschaft<br />
den Staaten, die im Mittelmeer Fischfang betreiben<br />
und nicht der Gemeinschaft angehören, vorgeschlagen,<br />
eine Kooperation zum besseren Schutz der<br />
Fischbestände anzustreben (Regierungskonferenzen<br />
in Kreta 1994 und Venedig 1996).<br />
Neue Gemeinsame Fischereipolitik (GFP) ab 2003.<br />
Zum Jahreswechsel 2002/3 wurde ein neuer Abschnitt<br />
in der Europäischen Fischereipolitik eingeläutet.<br />
Die vorhandenen Instrumente hatten nicht gegriffen:<br />
Der zum Teil artenbedrohenden Überfischung<br />
konnte kein Einhalt geboten werden, die<br />
wirtschaftliche Situation der Fischer verschlechterte<br />
Fischereipolitik<br />
sich, und in Folge konnte keine konstante, kostengünstige<br />
Versorgung der Verbraucher sichergestellt<br />
werden. Die Kommission legte im März 2001 ein<br />
Grünbuch mit Vorschlägen zu einer grundlegenden<br />
ReformdesSektorsvor.NachintensiverDiskussion,<br />
zum Teil Revision, erließ der Ministerrat drei Verordnungen<br />
(2369 – 2371/2002), die den Kern der<br />
neuen EU-Fischereipolitik bilden.<br />
Die Vielzahl der Bestimmungen kann vier Kernbereichen<br />
zugeordnet werden: (1) Langfristigkeit des<br />
Ansatzes, (2) neue Fischflottenpolitik, (3) bessere<br />
Anwendung der Vorschriften und (4) bessere Einbeziehung<br />
der betroffenen Akteure.<br />
(1) Ziel ist die langfristige Sicherung der Bestände.<br />
Probleme ergaben sich zum einen aus den jährlich<br />
stark schwankenden Fangquoten (TAC), die langfristige<br />
Planungen verhinderten, zum anderen aus einer<br />
teilweise unwirksamen Strukturpolitik, die die<br />
Fangkapazitäten der Fischflotte nicht senkte. Die<br />
TAC bleiben bestehen, werden jedoch durch langjährige<br />
Wiederauffüllungs- und Bewirtschaftungspläne<br />
ergänzt. Die Kommission erarbeitet Pläne auf<br />
Grundlage wissenschaftlicher Gutachten und leitet<br />
sie an den Rat zum Beschluss. Diverse Instrumente<br />
stehenzurVerfügung,umNachhaltigkeitzusichern:<br />
Zeitliche Begrenzung der Fangboote auf See neben<br />
der Mengenbegrenzung, diverse technische Maßnahmen<br />
und Anreize, die Fangtechnik zu optimieren<br />
(schonendere Methoden, geringerer Beifang). Unerwünschter<br />
Beifang stellt ein großes Problem dar, da<br />
bei noch nicht erreichter Quote für eine Fischart häufig<br />
auch Fische mit bereits erschöpfter Quote gefangen<br />
werden. Die Kommission ist unter bestimmten<br />
Bedingungen zu Sofortmaßnahmen berechtigt, z. B.<br />
beidrohendemZusammenbruchdesFischbestands.<br />
(2) Die neue Flottenpolitik soll das chronische Problem<br />
der zu hohen europäischen Fangkapazitäten in<br />
den Griff bekommen. Es wurde eine einfachere Regelung<br />
der Fangkapazitäten gefunden, die das bisherige<br />
System mehrjähriger Ausrichtungsprogramme<br />
(MAP) ablöst. Den Mitgliedstaaten kommt dabei höhere<br />
Verantwortung zu. Ziel ist eine Rückführung<br />
der Fangkapazitäten. In Konsequenz wird die kontraproduktive<br />
öffentliche Förderung, die zur Erhöhung<br />
der Kapazitäten geführt hat, eingestellt bzw.<br />
ihre Wirkung aufgehoben (seit Ende 2004). Weiterhin<br />
wurde ein Abwrackfonds aufgelegt. Eine Modernisierung<br />
der Flotte (z. B. auf Sicherheitsmaßnahmen,<br />
schonendere Fangmethoden) kann durch<br />
329
Flagge der EU<br />
Strukturmaßnahmen gefördert werden, darf sich jedoch<br />
nicht auf die Fangkapazität auswirken. Strukturelle<br />
Maßnahmen erleichtern Fischern den Einstieg<br />
in andere Arbeitsmärkte. 2004 unterbreitete die<br />
Kommission Vorschläge, FIAF durch einen Europäischen<br />
Fischereifonds abzulösen, d. h. eine grundlegendeNeuerungderStrukturmaßnahmeneinzuleiten.<br />
Aquakulturen. Weiterhin forciert die GFP den Ausbau<br />
von Aquakulturen, die vorhandene Fischbestände<br />
schonen und höhere Erträge ermöglichen. 2001<br />
machten Aquakulturen 17 % der Fischproduktion<br />
der EU aus, jedoch 33 % des Gesamtwerts. Aquakulturen<br />
stellen in Zeiten schwindender Fischvorkommen<br />
eine große Chance dar. Der Sektor entwickelt<br />
sich aber im Weltvergleich deutlich weniger dynamisch,<br />
und so konzentriert sich die GFP vermehrt auf<br />
die Ausweitung dieses Bereichs.<br />
(3) Die GFP steht und fällt mit der richtigen Anwendung<br />
ihrer Maßnahmen und ist auf effiziente Überwachung<br />
angewiesen, um das Vertrauen der Beteiligten<br />
zu sichern. Hohe Mobilität der Boote und große<br />
Fischgebiete erschweren die Überwachung erheblich.<br />
Ab Januar 2005 wurde die satellitengestützteSchiffsüberwachung(VMS)aufalleBooteüber15<br />
Meter Länge ausgedehnt. Die Kompetenz der Mitgliedstaaten<br />
zur Kontrolle von Booten anderer Mitgliedstaaten<br />
wurde erweitert, ebenso die Kontrollkompetenzen<br />
der Kommission. Weiterhin soll bis<br />
2006 eine gemeinsame europäische Aufsichtsstelle<br />
geschaffen werden.<br />
(4) Ein Grund des Scheiterns der bisherigen GFP war<br />
ihre kurzfristige Orientierung und das mangelhafte<br />
Einbeziehen der betroffenen Akteure. Die Einführung<br />
regionaler Beratungsgremien (Regional AdvisoryCouncils,RAC)solldementgegenwirken.Inihnen<br />
haben Fischer, Wissenschaftler (vor allem bzgl.<br />
TAC)undandereAkteuredieMöglichkeit,sichfrühzeitig<br />
abzustimmen. Der Rat setzte 2004 sieben<br />
RACs ein.<br />
Fazit: Effiziente Kontrollmechanismen sind unabdingbar,flankiertvonvertrauensbildendenundlangfristig<br />
orientierten Maßnahmen. Der Widerspruch<br />
zwischen Gemeinschaftsinteresse und Einzelinteressen<br />
zeigt sich regelmäßig in den Differenzen zwischen<br />
Kommission und Ministerrat (und den darin<br />
vertretenen starken Fischnationen) bezüglich der<br />
Fangquoten. Der Fischsektor leidet weiterhin an Unwägbarkeiten<br />
in den Untersuchungen der Fischbe-<br />
330<br />
stände (die als Basis für die TACs dienen) und der<br />
Beifangproblematik. Schließlich haben die internationale<br />
Entwicklung der Fischbestände, aber auch<br />
derFangquotendirekteAuswirkungenaufdieGFP.<br />
Ch. R.<br />
Literatur:<br />
Churchill, R.: EEC Fisheries Law. Dordrecht 1988<br />
Nordmann, Ch. u. a.: Politique commune de la pêche.<br />
In: Joly Communautaire (Loseblattwerk). Paris 1996<br />
Rijn, T. van: Fischereipolitik. In: v. d. Groeben, H./Thiesing,<br />
J./Ehlermann, C.-D.: Kommentar zum EWG-Vertrag.<br />
Baden-Baden 1997 5<br />
Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union: Fakten<br />
und Zahlen über die GFP – Eckdaten der Fischereipolitik.<br />
Luxemburg 2004<br />
Dies.: Fischereimanagement in der EU. ISBN 92-894-5439-3<br />
Internet:<br />
Tätigkeitsbereich Fischerei: www.europa.eu.int/pol/fish<br />
Kommission, GD Fischerei: www.europa.eu.int/comm/fisheries/policy_de.htm<br />
Flagge der EU �<strong>Europa</strong>flagge<br />
Flexibilität �Abgestufte Integration, �Verstärkte<br />
Zusammenarbeit<br />
Flexibilitätsklausel wird im �Verfassungsvertrag<br />
2004 der Art. I-18 genannt, dessen Abs. 1 sinngemäß<br />
dem Art. 308 EGV (�„Generalermächtigung“) entspricht.<br />
Florenz-Erklärung<br />
Begriff: Von sieben Ministern (Frankreich, Italien,<br />
Österreich, Portugal, Rumänien, Spanien, Tschechien;<br />
Schweden zog seine Unterschrift zurück) auf<br />
EinladungdesitalienischenMinistersBerlingueranlässlich<br />
der Vorstellung des Europäischen Schulnetzes<br />
auf einer Konferenz in Florenz am 30. 9. 1999 unterzeichnete<br />
Erklärung zur Förderung der Grundbildung.<br />
Hintergrund und Beweggründe: Nach der �Magna<br />
Charta Universitatum (Bologna, 18. 9. 1988) beabsichtigte<br />
Italien, parallel zur Förderung eines europäischen<br />
Hochschulraums (�Bologna-Prozess),<br />
auch die Grundbildung zum Gegenstand einer zwischenstaatlichen<br />
Beschlussfassung zu machen.<br />
Zielsetzung: Zur Schaffung eines „europäischen<br />
Raumes verstärkter Zusammenarbeit in der Grundbildung<br />
und im Arbeitsleben“ im Sinne einer<br />
„GleichheitundEffizienzderBildungssysteme“sollen<br />
„bestimmte Leistungsniveaus in den Bereichen<br />
Lesen, Mathematik, Naturwissenschaften, Umgang
mit dem Computer, Kenntnisse über das europäische<br />
Kulturerbe“ mit einheitlichen Standards definiert<br />
und umgesetzt werden, die bei Beendigung der Primar-<br />
und Pflichtschulzeit zu erreichen sind.<br />
Die Kultusministerkonferenz der deutschen Länder<br />
lehnte in einem Positionspapier (Präsidiumsbeschluss<br />
vom 27. 5. 1999) den Vorschlag ab, da er im<br />
Ergebnis auf eine nicht gewünschte Harmonisierung<br />
der Bildungssysteme hinauslaufen würde. „Dies<br />
würde einen Verlust der Traditionen in <strong>Europa</strong> bedeuten“.„ImMittelpunktderInitiativesolltestattder<br />
Vereinbarung europäischer Konvergenz bzw. der<br />
Definition von Mindeststandards die Aufforderung<br />
an die einzelnen Staaten stehen, in autonomer Entscheidung<br />
die Qualität von Bildung und Ausbildung<br />
zu sichern, unter den Bedingungen des Wettbewerbs<br />
zu erproben und den fortschreitenden Entwicklungenanzupassen.“<br />
I. H.<br />
Rechtliche Würdigung: �Bologna-Erklärung.<br />
Flüchtlingsfonds�EuropäischerFlüchtlingsfonds<br />
Flugsicherheit. Seit dem Bombenanschlag auf ein<br />
Passagierflugzeug über dem schottischen Lockerbie<br />
1988, erst recht seit den Terroranschlägen von New<br />
York und Washington am 11. 9. 2001 verschärften<br />
sich massiv die Sicherheitsanforderungen und -kontrollen<br />
im weltweiten Flugverkehr. Das Flugzeug als<br />
objektiv sicheres, aber leicht verwundbares Verkehrsmittel<br />
ist in den Blickpunkt der Medien gerückt.<br />
Viele Reisende bevorzugen deshalb auf europäischen<br />
Mitteldistanzen zunehmend die attraktiven,<br />
ebenfalls sehr sicheren Hochgeschwindigkeitszüge,<br />
zumal im Jahr 2000 jeder fünfte Flug in der EU<br />
um mehr als 15 Minuten verspätet war. Im Anschlagsjahr<br />
2001 war die Flugverkehrsleistung um<br />
5 % zurückgegangen. Statistisch betrachtet ist jedoch<br />
das Flugzeug das sicherste Verkehrsmittel:<br />
Anzahl der Verkehrstoten pro Jahr auf<br />
EU-25-Gebiet<br />
im Durchschnitt der Jahre 2000 – 2003<br />
Verkehrsträger Verkehrstote<br />
Luftverkehr 90<br />
Straße 49 611<br />
Schiff (weltweit) 537<br />
Schiene 115<br />
Quelle: Europäische Kommission: EU Energy and Transport in<br />
Figures – Statistical Pocketbook 2004. Luxemburg 2004, Ziffer 3.7<br />
und 3.3.11<br />
Flugsicherheit<br />
Was meint das Wort „Sicherheit“? Die deutsche<br />
Sprache stellt nur diese eine Bezeichnung für sämtliche<br />
Aspekte gefahrlosen Fliegens bereit. Andere<br />
Sprachen differenzieren: Während die technischbauliche,<br />
passive Ausrüstungssicherheit von Flugzeugen<br />
als „safety“ oder „sûreté“ bezeichnet wird,<br />
meinen „security“ oder „sécurité“ die organisatorische,<br />
gefahrenpräventive, rechtswidrige Eingriffe<br />
abwehrende Sicherheit des Flugbetriebes und seiner<br />
Gäste.<br />
Der Maastrichter Vertrag ergänzte 1993 den Art. 71<br />
Abs. 1 EGV um den Buchstaben c), wonach die Gemeinschaft<br />
im Verfahren der �Mitentscheidung<br />
(Art. 80 Abs. 2 i.V.m. 251 EGV) Maßnahmen zur<br />
Verbesserung der (Flug-)Verkehrssicherheit erlassen<br />
kann. Die EG reagierte damit auf das gestiegene<br />
Sicherheitsbedürfnis der Verkehrsteilnehmer angesichts<br />
einer zunehmenden Verkehrsdichte namentlich<br />
im Straßen- und Flugverkehr. Sämtliche GrundsatzpapierevonRatundKommissionbetonteninden<br />
letzten Jahren den hohen Stellenwert der Sicherheit<br />
als Kernanliegen der �Gemeinsamen Verkehrspolitik.<br />
Artikel I-14 Abs. 2 lit. g) des Verfassungsvertrags<br />
von 2004 unterstellt den Bereich Verkehr der<br />
geteilten Zuständigkeit von Union und Mitgliedstaaten;<br />
dabei wird die Union auf dem Gebiet der Gefahrenabwehr(Verkehrsregeln,Ordnungswidrigkeiten,<br />
Verkehrsstrafrecht) das �Subsidiaritätsprinzip zu<br />
beachten haben. Die �Harmonisierung der technischen<br />
Sicherheitsnormen von Flugzeugen dagegen<br />
hat eine so große Binnenmarkt-Nähe (freier Warenverkehr<br />
mit Flugzeugen, Betriebskosten im Wettbewerb<br />
der Fluggesellschaften), dass hier ein Mehrwert<br />
EG-weit einheitlicher Standards in der Regel<br />
anzunehmen ist.<br />
Zunächst zur technisch-passiven Sicherheit der<br />
Flugzeuge (air safety): Die Sicherheit des Fluggeräts<br />
regelt die Verordnung 3922/91 (ABl. L 373/1991),<br />
die laufend an den neuesten Stand der Technik angepasst<br />
wird, zuletzt durch Verordnung 1592/2002<br />
(ABl. L 240/2002). Diese technischen Anforderungen<br />
berufen sich meist auf die Joint Aviation Requirements<br />
(JAR) der Joint Aviation Authorities<br />
(JAA), eines Zusammenschlusses von 28 europäischen<br />
Luftfahrtbehörden. Damit entsteht ein europaweites<br />
Mindestniveau an baulicher Flugsicherheit.<br />
Auch die Standards der organisatorisch-betrieblichenFlugsicherheit(airsecurity)wurdenindenletzten<br />
Jahren angeglichen. Die Richtlinien 93/65 (ABl.<br />
331
Flugsicherheit<br />
L 187/1993) und 97/15 (ABl. L 95/1997) sowie die<br />
Verordnung 2082/2000 (ABl. L 254/2000) harmonisieren<br />
die technischen Anforderungen an Flugsicherungssysteme.<br />
Sie erhöhen so die Sicherheit und die<br />
KapazitätenamHimmelundwirkenderÜberlastung<br />
des Luftraums entgegen. Die einheitlichen Standards<br />
erleichtern auch die Übergabe eines Flugzeugs<br />
zwischen den verschiedenen Kontrollstellen. Die<br />
EG-Normen beruhen weitgehend auf den Spezifikationen<br />
von �Eurocontrol (European Organisation for<br />
the Safety of Air Navigation), einem Zusammenschluss<br />
von 34 Staaten auf völkerrechtlicher Basis<br />
(Übereinkommen von 1960 über Zusammenarbeit<br />
zur Sicherung der Luftfahrt, revidiert 1997). Eurocontrolverfügtüber2200Mitarbeiterunddamitüber<br />
eine sehr hohe Fachkompetenz. Die Gemeinschaft<br />
und ihre Mitgliedstaaten unterzeichneten am 8. 10.<br />
2002 ein Protokoll über den Beitritt der EG zum geänderten<br />
Eurocontrol-Abkommen von 1997. Dieses<br />
Protokoll ist inzwischen ratifiziert (ABl. L 304/<br />
2004). Es sollte die Abstimmung zwischen EG und<br />
Eurocontrol reibungsloser gestalten.<br />
Der besseren Vernetzung und technischen Kompatibilität<br />
der Flugmanagementsysteme dient die Verordnung<br />
552/2004 (ABl. L 96/2004); sie wird ab 20.<br />
10. 2005 die im vorigen Absatz genannten älteren<br />
EG-Rechtsakte aufheben. Dass die Flugsicherungsdienste<br />
in der Gemeinschaft sicher, effizient und<br />
nach einem einheitlichen Zertifizierungssystem erbracht<br />
werden, gewährleistet die Schwester-Verordnung<br />
550/2004 (ABl. L 96/2004).<br />
DurchdieVerordnung1592/2002(ABl.L240/2002)<br />
errichtete die Gemeinschaft die �Europäische Agentur<br />
für Flugsicherheit (European Aviation Safety<br />
Authority, EASA), die im September 2003 ihre Arbeit<br />
provisorisch in Brüssel aufnahm und im November<br />
2004 an ihren endgültigen Sitz nach Köln zog.<br />
Nach jahrelangen Vorarbeiten verfügt die EG nun<br />
über eine effektive, einheitliche Vollzugsbehörde,<br />
deren Kompetenzen einen Vergleich mit der USamerikanischen<br />
Schwesterbehörde FAA (Federal<br />
Aviation Administration) aushalten. Die Agentur<br />
wird gemeinsame Normen für ein hohes Sicherheitsund<br />
Umweltschutzniveau im europäischen Flugverkehr<br />
erarbeiten. Sie überwacht die einheitliche Anwendung<br />
dieser Standards in allen Mitgliedstaaten.<br />
Gleichzeitig fördert sie die Übernahme der EG-Normen<br />
auf internationaler Ebene. Sie erteilt die EGweit<br />
gültige Musterzulassung für Luftfahrzeuge und<br />
332<br />
erleichtert so den freien Warenverkehr mit Fluggeräten<br />
im Binnenmarkt. Künftig soll die EASA Normen<br />
entwickeln für die Genehmigung des Flugbetriebs,<br />
die Erlaubnisscheine für das Flugpersonal sowie die<br />
Sicherheitsüberprüfung von Flughäfen und Fluglotsen.<br />
Um die politische Unabhängigkeit der Flugsicherheitsmaßnahmen<br />
der EG zu gewährleisten, trifft der<br />
Direktor der Agentur Einzelentscheidungen selbständig.<br />
Privatpersonen können diese Entscheidungen<br />
zunächst vor gesonderten, unabhängigen Beschwerdekammern<br />
angreifen, bevor sie Nichtigkeitsklage<br />
(Art. 230 EGV) zum Gerichtshof erheben<br />
dürfen. Die EASA wird eng mit Eurocontrol zusammenarbeiten.<br />
Hauptziel der Kooperation ist es, die<br />
fragmentierte Luftraumüberwachung in <strong>Europa</strong> zu<br />
überwinden, um so Umwegrouten und Kollisionsgefahren<br />
beim Wechsel der Überwachungszone zu vermeiden.<br />
Als unmittelbare Reaktion auf die Terroranschläge<br />
vom 11. 9. 2001 erließ die Gemeinschaft die Verordnung<br />
2320/2002 (ABl. L 355/2002) zur Festlegung<br />
gemeinsamer Vorschriften für die Sicherheit in der<br />
Zivilluftfahrt, geändert durch die Verordnung 849/<br />
2004 (ABl. L 229/2004). Diese Verordnung gehört<br />
ebenfalls zum Bereich „air security“. Sie stützt sich<br />
auf Empfehlungen der Europäischen Zivilluftfahrtkonferenz<br />
(ECAC), der momentan 41 europäische<br />
Staaten angehören. Durchführungsbestimmungen<br />
enthält die Verordnung 622/2003 (ABl. L 89/2003).<br />
Der Anhang der Grundverordnung ist mit 80 Einzelregelungen<br />
sehr umfangreich und nur für Experten<br />
nachvollziehbar. Im Vordergrund stehen die Verpflichtungen<br />
der Mitgliedstaaten, nationale Sicherheitsprogramme<br />
für Flughäfen aufzustellen, Fluggäste,<br />
Personal und Gepäck strenger zu kontrollieren<br />
und die Flughafenzugänge zu überwachen. Die Europäische<br />
Kommission darf auf den nationalen Flughäfen<br />
eigene, unangekündigte Inspektionen durchführen.<br />
Gerade die Durchsuchung des Personals<br />
nach verbotenen Gegenständen in sensiblen Zonen<br />
kann zu erheblichen Zeitverlusten führen. Um es zuzuspitzen:<br />
Darf ein Flugzeugmechaniker einen<br />
SchraubenzieherindenHangarmitnehmen?Musser<br />
genau diesen Schraubenzieher wieder aus der Wartungszone<br />
ausführen? Eine Liste der verbotenen Gegenstände<br />
enthält jetzt die Verordnung 68/2004<br />
(ABl. L 10/2004); von der Mitnahme an Bord sind<br />
z. B. ausgeschlossen: spitze oder scharfe Gegenstän-
de wie Schlittschuhe, Rasiermesser, Scheren mit einer<br />
Klingenlänge von über 6 cm, Skistöcke, Bohrer<br />
und Schraubendreher.<br />
Die genannten Rechtsakte über eine verbesserte bauliche<br />
und betriebliche Sicherheit des Flugverkehrs<br />
unterstützen auch das große Vorhaben der Gemeinschaft,<br />
bis 31. 12. 2004 einen Einheitlichen Europäischen<br />
Luftraum herzustellen; dazu erging die Rahmenverordnung<br />
549/2004 (ABl. L 96/2004). In diesem<br />
Raum sollen Fluggeräte und Überwachungseinrichtungen<br />
technisch kompatibel und somit frei handelbar<br />
sein, die vorhandenen Kapazitäten am Himmel<br />
optimal genutzt, wachstumsbedingte Verspätungen<br />
vermieden und Sicherheitsrisiken minimiert<br />
werden.DieVerordnung551/2004(ABl.L96/2004)<br />
über die Ordnung und Nutzung des einheitlichen europäischen<br />
Luftraums errichtet ein EG-weites Fluginformationsgebiet<br />
für den oberen Luftraum (über<br />
8 700 m Höhe), das alle bisherigen Flugsicherungsstellen<br />
zu einem einzigen Luftraumabschnitt mit<br />
mehreren funktionalen Luftraumblöcken vereint.<br />
Die Flugsicherungssektoren orientieren sich nicht<br />
mehr an Staatsgrenzen, sondern am Beitrag zu einer<br />
effizienten Luftraumüberwachung und zu optimierten<br />
Flugstraßen. Auch militärischer Luftraum soll<br />
für zivile Flüge geöffnet werden.<br />
Dies alles zeigt, dass das sekundäre EG-FlugsicherheitsrechteinehoheKomplexitäterreichthat,dienur<br />
wenige Spezialisten überschauen werden. Offenbar<br />
erfordert die schwierige Materie Zugeständnisse an<br />
die Rechtsklarheit.<br />
Im Gefolge der Attentate vom 11. 9. 2001 arbeitet die<br />
Gemeinschaft verstärkt mit der Internationalen Zivilluftfahrt-Organisation<br />
in Montreal, Kanada, zusammen<br />
(International Civil Aviation Organisation,<br />
ICAO). Beide beschlossen, die internationalen Standards<br />
für die Sicherheit von Cockpittüren zu erhöhen<br />
und verpflichtende Kontrollverfahren für alle<br />
ICAO-Mitglieder einzuführen.<br />
In der Streitfrage, ob und in welchem Umfang FluggastdatensätzevonFluggesellschaftenmitSitzinder<br />
EU an die US-Sicherheitsbehörden elektronisch<br />
übermittelt werden müssen, gelangten die Europäische<br />
Kommission und die US Customs and Border<br />
Protection am 18. 2. 2003 in Brüssel zu einer vorläufigen<br />
Verständigung. Fluggastdaten werden an US-<br />
Strafverfolgungsbehörden nur weitergegeben, um<br />
Terrorismus und Schwerkriminalität zu bekämpfen.<br />
Eine endgültige Vereinbarung steht noch aus. Die<br />
Föderalismus<br />
Weitergabevorschriften der EG-Datenschutz-Richtlinie<br />
95/46 (ABl. L 281/1995) sind mit dem gesteigerten<br />
Sicherheitsbedürfnis der US-Amerikaner seit<br />
dem 11. 9. 2001 in Einklang zu bringen.<br />
DieFlugsicherheitspolitikderZukunftwirddemGefahrenpotential<br />
aufgrund der höheren Flugdichte<br />
und der teils realen, teils empfundenen Terrorbedrohung<br />
wirksam begegnen müssen, ohne die Attraktivität<br />
des Fliegens durch kostentreibende, wartezeitintensive<br />
Sicherheitsvorkehrungen übermäßig zu<br />
beschneiden. P. Sch.<br />
Internet:<br />
europa.eu.int/comm/transport/air/safety/index_en.htm<br />
www.easa.eu.int/home/index.html<br />
www.eurocontrol.int; www.ecac-ceac.org<br />
Literatur:<br />
Europäische Kommission: Mitteilung „Die Schaffung eines<br />
einheitlichen europäischen Luftraums“. KOM (1999) 614<br />
endg. vom 1. 12. 1999. Luxemburg 1999<br />
Dies.: Mitteilung „Weiterentwicklung der Luftfahrtaußenpolitik<br />
der Gemeinschaft“. KOM (2005) 79 endg. vom 11. 3. 2005<br />
Schwenk, W./Giemulla, E: Handbuch des Luftverkehrsrechts.<br />
Köln 2005 3<br />
Föderalismus verweist auf gleichberechtigte Einzelstaaten<br />
in einem Bund. Er ist ein aus der deutschen<br />
Staatstradition vertrautes Prinzip. Es bedeutet, dass<br />
ursprünglich selbständige Territorien (Kleinstaaten)<br />
durch einen Vertrag (lat. foedus) zu einem Einheitsstaat<br />
(Bundesstaat) mit zentralen Organen (Parlament,<br />
Regierung, Gerichtshof) zusammengeführt<br />
werden. Dabei bleiben bestimmte Kompetenzen bei<br />
den Bundesländern, andere gehen auf die Zentralinstanzenüber(vgl.DeutschesReichvon1871,Weimarer<br />
Republik, Bundesrepublik Deutschland und<br />
Grundgesetz). Die EU wird vom BVerfG nicht als<br />
Bundesstaat oder Staatenbund, sondern als ein Drittes,<br />
als „Staatenverbund“ angesehen, bei dem man<br />
Gemeinschaftspolitiken (z. B. �Regional-, �Sozial-,<br />
�Umwelt-, �Wettbewerbs-, �Verbraucher-, Atom-,<br />
�Agrar-, Außenwirtschafts-, �Entwicklungshilfe-,<br />
Währungs-, �Verkehrspolitik) und intergouvernementale<br />
Politiken (�Justiz- und Innen-, �Außen- und<br />
Sicherheits-Politik) unterscheidet. Treffender erscheint<br />
der Begriff „Integrationsverbund“.<br />
Die eigentliche Zielsetzung des europäischen Föderalismus<br />
beruht im Halten des Gleichgewichts zwischen<br />
Einheit und Vielfalt, Zentralismus und Partikularismus.<br />
Das heißt, der Föderalismus verlangt<br />
nichttotaleIntegration,sonderneinbestimmtes,ausgewogenes<br />
Maß an Integration, das sich in Gestalt<br />
333
Fonds der EU<br />
von vier Prinzipien darstellt: 1. der Grundsatz der<br />
Autonomie (jeder Mitgliedstaat löst seine eigenen<br />
Aufgaben und verfügt über die Mittel dazu), 2. der<br />
Grundsatz der Kooperation (Aufgaben und Probleme<br />
können unter den Mitgliedern in frei vereinbarter<br />
Zusammenarbeit angegangen werden), 3. der Grundsatz<br />
der �Subsidiarität (Inanspruchnahme der nächsthöheren<br />
Entscheidungsinstanz, wenn weder die eigenen<br />
Mittel noch die Zusammenarbeit der Gemeinschaftsmitglieder<br />
ausreichen), 4. der Grundsatz der<br />
�Partizipation (weitgehende Mitbestimmung der<br />
Mitglieder bei Entscheidungen der nächsthöheren<br />
Ebene, auch wenn eine Entscheidungskompetenz<br />
durch das Subsidiaritätsprinzip „nach oben“ abgegeben<br />
wurde).<br />
Am ausgeprägtesten ist die föderalistische Staatsstruktur<br />
in Deutschland (Österreich und Belgien) mit<br />
seinen 16 Bundesländern (die alle eine eigene Staatsqualität<br />
besitzen). Während der Föderalismus im allgemeinen<br />
in Deutschland als positiv und praktikabel<br />
empfunden wird, verbinden die meisten europäischenStaatendamitdieErinnerunganethnischeZersplitterung<br />
und Nationalitätenkämpfe, andererseits<br />
befürchten sie einen „Brüsseler Zentralismus“. Deswegen<br />
hat man im Vertrag über die Europäische<br />
Union den Begriff „Föderalismus“ zugunsten einer<br />
unbestimmten Subsidiarität vermieden.<br />
Die �Europäische Bewegung in Deutschland tritt<br />
nach wie vor für ein föderales <strong>Europa</strong> ein. Am ehesten<br />
finden Pläne für eine europäische Konföderation<br />
die Sympathie der EU-Vertragsstaaten. Konföderation<br />
ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der jede Art<br />
von staatenbündischem Zusammenschluss zulässt.<br />
W. M.<br />
Literatur:<br />
Ammon, G. u. a. (Hg.): Föderalismus und Zentralismus:<br />
<strong>Europa</strong>s Zukunft zwischen dem deutschen und dem<br />
französischen Modell. Baden-Baden 1996<br />
Hesse, J. J./Renzsch, D. (Hg.): Föderalstaatliche Entwicklung<br />
in <strong>Europa</strong>. Baden-Baden 1991<br />
Laufer, H./Fischer, Th.: Föderalismus als Strukturprinzip für<br />
die Europäische Union. Gütersloh 1996<br />
Ossenbühl, F. (Hg.): Föderalismus und Regionalismus in<br />
<strong>Europa</strong>. Baden-Baden 1990<br />
Fonds der Europäischen Union<br />
1. Begriff und Vertragsgrundlagen: Fonds der EU<br />
sind Finanzierungsinstrumente, deren Mittel aus<br />
dem Haushalt der Gemeinschaft stammen und nur<br />
für bestimmte Ausgaben verwendet werden dürfen<br />
(es handelt sich also nicht um Sondervermögen). Die<br />
334<br />
von der EG/EU zu unterschiedlichen Zeitpunkten errichteten<br />
Fonds sind:<br />
– der Europäische Ausrichtungs- und Garantiefonds<br />
für die Landwirtschaft (EAGFL),<br />
– der Europäische Fonds für regionale Entwicklung<br />
(EFRE),<br />
– der Europäische Sozialfonds (ESF),<br />
– der Kohäsionsfonds,<br />
– das Finanzierungsinstrument für die Ausrichtung<br />
der Fischerei (FIAF) und<br />
– der EU-Solidaritätsfonds.<br />
Hinzu kommt der Europäische Entwicklungsfonds<br />
(EEF), dessen Mittel nicht aus dem EU-Haushalt<br />
stammen.<br />
Obwohl einige Fonds die gleiche Bezeichnung tragen<br />
wie die entsprechenden Gemeinschaftspolitiken,<br />
lassen sie sich ihnen nicht eindeutig zuordnen.<br />
Dies entspricht der Bündelung der verschiedenen<br />
Teilpolitiken unter strukturpolitischen Zielsetzungen(�Strukturpolitik,<br />
�Regionalpolitik).AlleFonds<br />
werden von der Europäischen Kommission verwaltet.<br />
Rechtliche Grundlage für die Errichtung der einzelnen<br />
Fonds ist der EWG/EG-Vertrag einschl. seiner<br />
Änderungen durch die �Einheitliche Europäische<br />
Akte (EEA 1986) und den Vertrag über die Europäische<br />
Union (EUV 1992).<br />
Außerdem wurde 1994 ein �Europäischer Investitionsfonds<br />
(EIF) mit einer Kapitalausstattung von 2<br />
Mrd. Euro gegründet. Er hat eigene Rechtspersönlichkeit<br />
und Finanzautonomie und ist mit der �Europäischen<br />
Investitionsbank (EIB) verbunden.<br />
Die Abteilung Ausrichtung des Europäischen Ausrichtungs-<br />
und Garantiefonds für die Landwirtschaft<br />
(EAGFL), der Europäische Fonds für regionale Entwicklung<br />
(EFRE), der Europäische Sozialfonds<br />
(ESF), das Finanzinstrument für die Ausrichtung der<br />
Fischerei (FIAF) und der Kohäsionsfonds sind die<br />
wichtigsten Finanzinstrumente zum Abbau der regionalen<br />
Disparitäten. Sie werden unter dem Begriff<br />
„Strukturfonds“ gebündelt. Mit Ausnahme des Kohäsionsfonds<br />
können alle EU-Staaten beim Vorliegen<br />
bestimmter Voraussetzungen diese Strukturfonds<br />
in Anspruch nehmen.<br />
2. Aufgaben der Fonds und ihre Entwicklung: Zwischen<br />
und innerhalb der einzelnen EU-Staaten besteht<br />
ein großes Einkommens- und Wohlstandsgefälle,<br />
das sich mit der Erweiterung der EU von 15 auf<br />
25Mitglieder(2004)deutlichvergrößerthatundsich
durch weitere Beitritte noch verstärken wird. Aufgabe<br />
der Strukturfonds (und des Kohäsionsfonds) ist<br />
es, durch finanzielle Unterstützung von Programmen<br />
und Projekten zur Reduzierung der Ungleichgewichte<br />
zwischen Regionen und sozialen Gruppen sowie<br />
zur Stärkung des wirtschaftlichen und sozialen<br />
Zusammenhalts in der EU beizutragen. Für die<br />
Strukturfonds stehen von 2000 – 2006 insgesamt 195<br />
Mrd. Euro zur Verfügung (1994 – 1999 = 154,5 Mrd.<br />
Euro; Hauptempfängerländer waren Spanien, Italien,<br />
Deutschland, Griechenland, Portugal, Großbritannien<br />
und Frankreich).<br />
2.1 Reform der Strukturfonds 1999. Sie zielt darauf<br />
ab, die Effizienz und Transparenz der strukturpolitischen<br />
Maßnahmen durch Konzentration der Zuschüsse<br />
mittels Verringerung der vorrangigen Ziele<br />
von 7 auf 3 und der Gemeinschaftsinitiativen von 13<br />
auf 4 zu verbessern und die Handhabung der Fonds<br />
zu vereinfachen. Darüber hinaus ging es um eine genauere<br />
Abgrenzung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten<br />
und der Kommission bei der Programmplanung,<br />
-begleitung, -bewertung und -kontrolle.<br />
Ziel 1 dient der Förderung der Entwicklung und<br />
strukturellen Anpassung der Regionen mit Entwicklungsrückstand,<br />
das sind Regionen mit einem BIP/<br />
Kopfvonwenigerals75%desEU-Durchschnittssowie<br />
Regionen in äußerster Randlage (Azoren, Madeira,<br />
Kanarische Inseln, französische Überseegebiete)<br />
und Gebiete mit sehr geringer Bevölkerungsdichte<br />
in Schweden und Finnland; Ziel 1 umfasst<br />
auch ein Sonderprogramm für die schwedischen<br />
Küstengebiete. Zu den Ziel-1-Gebieten gehörten<br />
bisher die neuen deutschen Bundesländer.<br />
Ziel 2 unterstützt den wirtschaftlichen und sozialen<br />
Wandel der Regionen mit Strukturproblemen außerhalb<br />
der Ziel-1-Regionen. Der Bevölkerungsanteil<br />
dieser Gebiete darf 18 % der EU-Gesamtbevölkerung<br />
nicht übersteigen.<br />
Ziel 3 dient der Anpassung und Modernisierung der<br />
Bildungs-, Ausbildungs- und Beschäftigungspolitiken<br />
und -systeme. Entsprechende Finanzhilfen stehen<br />
für Gebiete zur Verfügung, die nicht unter Ziel 1<br />
fallen. Ziel 3 wird ausschließlich aus dem Europäischen<br />
Sozialfonds (ESF) finanziert.<br />
2.2 Gemeinschaftsinitiativen. Die 4 Gemeinschaftsinitiativen<br />
erstrecken sich auf die Förderung der<br />
grenzübergreifenden transnationalen und interregionalen<br />
Zusammenarbeit (�INTERREG), die wirtschaftliche<br />
und soziale Wiederbelebung von krisen-<br />
Fonds der EU<br />
betroffenen Städten und Vorstädten (�URBAN), die<br />
Entwicklung des ländlichen Raumes (�LEADER)<br />
und die transnationale Zusammenarbeit zur Förderung<br />
neuer Methoden zur Bekämpfung von Diskriminierung<br />
(jeder Art) beim Zugang zum Arbeitsmarkt<br />
(�EQUAL).<br />
2.2 Die Strukturfonds der Europäischen Union<br />
Der Europäische Ausrichtungs- und Garantiefonds<br />
für die Landwirtschaft (EAGFL): Dieser Fonds (Art.<br />
34, Abs. 3 EGV; eingerichtet durch Verordnung<br />
25/1962) dient der Finanzierung der �Gemeinsamen<br />
Agrarpolitik. Seine Abteilung „Ausrichtung“, die zu<br />
den Strukturfonds der EG gehört, finanziert in den<br />
Ziel-1-Regionen<br />
– Maßnahmen zur Förderung der Entwicklung und<br />
strukturellen Anpassung der Regionen mit Entwicklungsrückstand,<br />
– Maßnahmen zur Entwicklung des ländlichen Raumes,<br />
a) durch beschleunigte Anpassung der AgrarstrukturenimRahmenderReformderGemeinsamenAgrarpolitik;<br />
b) durch Erleichterung der Entwicklung und der<br />
Strukturanpassung der ländlichen Gebiete (z. B.<br />
Flurbereinigung, Bewässerungsmaßnahmen).<br />
Die Abteilung „Garantie“ (sie gehört nicht zu den<br />
Strukturfonds) stellt die Mittel für die von �Marktordnungen<br />
der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP)<br />
erfassten Erzeugnisse in Form der Finanzierung von<br />
Preisstützungsmaßnahmen und Ausfuhrerstattungen<br />
zur Verfügung. Daneben übernimmt sie flankierende<br />
Maßnahmen, z. B. Vorruhestandsregelungen<br />
und Maßnahmen zur ländlichen Entwicklung außerhalb<br />
der Ziel-1-Regionen. Trotz merklicher Erhöhung<br />
der Mittel für die Abteilung Ausrichtung (Zahlungen<br />
2004 = 4,80 Mrd. Euro) liegen deren Mittel<br />
deutlich unter denen der Abteilung Garantie (Zahlungen2004=39,86Mrd.Euro).Gemessenandenzu<br />
bewältigenden strukturpolitischen Aufgaben erscheinen<br />
sie immer noch als zu gering; eine Mittelaufstockung<br />
ist wünschenswert, zumal sich bei Beibehaltung<br />
der Diskrepanzen in der Mittelausstattung<br />
derbeidenAbteilungendiestrukturellenUnterschiede<br />
zwischen reichen, produktionsstarken Agrargebieten<br />
und strukturschwachen Agrarräumen angesichts<br />
der EU-Erweiterung verstärken werden.<br />
Der Europäische Fonds für regionale Entwicklung<br />
(EFRE): Der EFRE (Art. 160 EGV) wurde am 18. 3.<br />
1975 im Zuge der EG-Norderweiterung (1973: Dä-<br />
335
Fonds der EU<br />
nemark, Großbritannien, Irland) gegründet. Er dient<br />
als regionalpolitisches Förderinstrument zum Ausgleich<br />
der regionalen Ungleichgewichte in der<br />
EG/EU. Im Rahmen der Aufgabenverteilung der<br />
Strukturfonds der EG/EU, die durch die Strukturfonds-Verordnungen<br />
des Rates von 1988, 1993 und<br />
1999 vorgenommen wurde, beteiligt sich der EFRE<br />
(entsprechend Verordnung EG Nr. 1783/99, ABl. L<br />
213/1999) insbesondere<br />
– anproduktivenInvestitionenzurBeschaffungoder<br />
Erhaltung dauerhafter Arbeitsplätze und zur Förderung<br />
der strukturellen Anpassung der Regionen mit<br />
Entwicklungsrückstand (Ziel 1 der Strukturfonds);<br />
dazu gehört auch Ostdeutschland,<br />
– an Infrastrukturinvestitionen in Regionen, die von<br />
rückläufiger industrieller Entwicklung schwer betroffen<br />
sind (Ziel 2 der Strukturfonds) und in ländlichen<br />
Entwicklungsgebieten bzw. Gebieten mit<br />
Strukturanpassungsproblemen,<br />
– anInvestitionenimGesundheits-undBildungswesen,<br />
im Bereich der Forschung und Entwicklung und<br />
im Bereich des Umweltschutzes, soweit sie zur Regionalentwicklung<br />
beitragen.<br />
Mit der Süderweiterung der EG (Griechenland 1981,<br />
Spanien und Portugal 1986) und der damit verknüpften<br />
Zunahme regionalpolitischer Probleme hat der<br />
EFRE seit 1988 eine kontinuierliche Aufstockung<br />
erfahren.<br />
Der Europäische Sozialfonds (ESF): Der 1960 gegründete<br />
ESF (Art. 146–148 EGV) ist das wichtigste<br />
Förderinstrument der �Sozialpolitik der Gemeinschaft.<br />
Ursprünglich war er dazu bestimmt, „die berufliche<br />
Verwendbarkeit und die örtliche und berufliche<br />
Freizügigkeit der Arbeitskräfte zu fördern“<br />
(Art. 146 EGV) und insbes. die Arbeitslosigkeit in<br />
den am stärksten betroffenen Gebieten zu senken.<br />
Wegen zu geringer Mittelausstattung und erheblicher<br />
Verfahrensmängel konnte der Fonds diese Aufgabe<br />
nicht bewältigen. Die Fondsreform und die<br />
AufstockungderFinanzmittel1971beseitigtendiese<br />
Mängel. Eine erneute Fondsreform 1977 sorgte dafür,<br />
dass die verfügbaren Mittel vorrangig den bedürftigsten<br />
Regionen und Wirtschaftszweigen zur<br />
Verfügung gestellt wurden. Mit der verstärkten Einbindung<br />
in strukturpolitische Aufgaben im Zuge der<br />
Vollendung des Binnenmarkts wurde 1988 eine<br />
nochmalige Reform des ESF durchgeführt, die ihren<br />
Niederschlag in den Fonds-Verordnungen von 1988,<br />
1993 und 1999 fand. Die Fonds-Verordnung 1784/<br />
336<br />
1999 (ABl. L 213/ 1999) weist dem ESF u. a. folgende<br />
Aufgaben im Rahmen des Tätigwerdens der<br />
Strukturfonds der EG/EU zu:<br />
– Bekämpfung und Vermeidung von Arbeitslosigkeit,<br />
insbes. Langzeitarbeitslosigkeit, Wiedereingliederung<br />
in den Arbeitsmarkt<br />
– Förderung der Chancengleichheit beim Zugang<br />
zum Arbeitsmarkt, insbes. für Personen, die vom gesellschaftlichen<br />
Ausschluss bedroht sind<br />
– Förderung der beruflichen und allgemeinen Bildung<br />
– Förderung der Anpassungsfähigkeit von qualifizierten<br />
Arbeitskräften und Entwicklung des Unternehmergeistes<br />
– Verbesserung des Zugangs der Frauen zum Arbeitsmarkt<br />
und ihrer Beteiligung daran.<br />
Nach der Reform der Strukturfonds von 1999 obliegen<br />
dem ESF Aufgaben aus den neuen Ziel-1 und<br />
Ziel-2-Bereichen; für die Finanzierung der Ziel-3-<br />
Aufgaben ist er allein zuständig. Mit der zunehmenden<br />
Erweiterung der Aufgaben des ESF hat sich sein<br />
Ausgabenvolumen erheblich gesteigert. In der Zeit<br />
von 2000 bis 2006 stehen dem ESF rd. 62,5 Mrd.<br />
Euro zur Verfügung.<br />
Das Finanzinstrument für die Ausrichtung der Fischerei<br />
(FIAF) wurde 1994 zur Verbesserung der<br />
Wettbewerbsfähigkeit und Entwicklung wettbewerbsfähiger<br />
Unternehmen in der Fischereiwirtschaft<br />
eingerichtet und 1999 neu geordnet. Es zielt<br />
auf die Bewahrung der Meeresressourcen durch verantwortungsbewusste<br />
Bewirtschaftung. Dabei gilt<br />
es, ein Gleichgewicht zwischen Fangmenge und<br />
Fischbeständen herzustellen. Die Finanzierung von<br />
Strukturmaßnahmen ist innerhalb und außerhalb der<br />
Ziel-1.Gebiete möglich.<br />
Der Kohäsionsfonds: Der Kohäsionsfonds (Art. 161<br />
EGV), durch den Vertrag über die Europäische<br />
Union (Maastrichter Vertrag) geschaffen und 1993<br />
errichtet, soll den Mitgliedstaaten mit einem Pro-<br />
Kopf-BSP von weniger als 90 % des Gemeinschaftsdurchschnitts<br />
– vor der Osterweiterung: Spanien,<br />
Portugal, Griechenland und Irland – zusätzliche Fördermittel<br />
bis 85 % eines Projekts in den Bereichen<br />
Umwelt und �Transeuropäische Netze zur Verfügung<br />
stellen. Im EU-Haushalt standen dafür 1994 –<br />
199916,8Mrd.ECU zurVerfügung,für2000–2005<br />
waren 18 Mrd. Euro verfügbar, davon für Griechenland<br />
16 – 18 %, für Irland 2 – 6 %, für Portugal 16 –<br />
18 % und für Spanien 61 – 63,5 %.
Das Europäische Parlament und der Europäische<br />
�Wirtschafts- und Sozialausschuss fordern, dass bis<br />
zum Jahre 2007 für die regionale Entwicklung ein<br />
einziger Fonds eingerichtet wird.<br />
Der �Europäische Entwicklungsfonds (EEF): Der<br />
EEF hat als Finanzierungsinstrument für die Förderung<br />
der �AKP-Staaten mit der Intensivierung der<br />
EG-AKP-Partnerschaft durch die Lomé-Abkommen<br />
und das Cotonou-Abkommen eine ständige<br />
Aufwertung erfahren. Dennoch hat der EEF, gemessenandenfürdieStrukturfondsverfügbarenMitteln,<br />
eine relativ geringe Bedeutung. Im Durchschnitt<br />
standen aus dem 8. EEF (13 Mrd. ECU) jährlich nur<br />
rund 2,6 Mrd. ECU zur Verfügung (ca. 3,2 % des<br />
Gesamthaushaltes ). Mit 13,5 Mrd. Euro ist der<br />
9. EEF (2000 – 2005) nominal auf dem gleichen<br />
Stand geblieben, erreicht jedoch durch Aufstockung<br />
aus Reserven und durch weitere Investitionsmittel<br />
eine jährliche Ausschüttung von rd. 3,5 Mrd. Euro.<br />
Schwerpunktmäßig konzentrieren sich die Fondsmaßnahmen<br />
auf folgende Bereiche:<br />
– Verknüpfung von Handel und Entwicklung;<br />
– regionale Integration und Zusammenarbeit;<br />
– Förderung effizienter regionaler Politik;<br />
– Verkehrswesen,<br />
– Ernährungssicherheit und nachhaltige Entwicklung;<br />
– Ausbau der institutionellen Kapazitäten.<br />
Der EU- Solidaritätsfonds: Der Fonds wurde im November<br />
2002 eingerichtet. Er gewährt Finanzhilfen<br />
bei Katastrophen größeren Ausmaßes in der EU bzw.<br />
in Ländern der EU-Beitrittskandidaten. Die zur Verfügung<br />
stehenden Mittel belaufen sich maximal auf<br />
eineMrd.Euro/Jahr. K. E.<br />
Literatur:<br />
Arbeitskreis Europäische Union: EU-Finanzen und Strukturfonds<br />
vor der Reform. In: integration 3/97, S. 180 – 188<br />
Ausschuss der Regionen: Prospektivbericht des Ausschusses<br />
der Regionen vom 2. 7. 2003 zum Thema Management und<br />
Vereinfachung der Strukturfonds nach 2006. Brüssel 2003<br />
Europäische Union: Die Strukturfonds nach 1999.<br />
In: inforegio-news Mitteilungsblatt 31. 8. 1996<br />
Dies.: Agenda 2000 – Antworten auf die Fragen der Zukunft.<br />
EU-Nachrichten Nr. 15, April 1998<br />
Europäische Gemeinschaft: Annual Report of the Cohesion<br />
Fund 1996 ff. Luxembourg 1997 ff.<br />
Europäische Kommission: Gesamtbericht über die Tätigkeit<br />
der Europäischen Union. Brüssel 2000 ff.<br />
Dies.: Finanzbericht 2003. Luxemburg 2004<br />
Hartwig, I.: Eine neue Finanzverfassung für die Europäische<br />
Union. In: Integration 4/2003, S. 520 – 526<br />
Forschungs- und Technologiepolitik<br />
Heinemann, F.: Perspektiven einer zukünftigen EU- Finanzverfassung.<br />
In: integration 3/2003, S.228–243<br />
Arnaud, J. L./ Guder, U.: Welche Perspektiven für die<br />
Strukturfonds und die Kohäsionspolitik? Berlin 2002<br />
Forest Focus ist eine Gemeinschaftsmaßnahme,<br />
eingeführt durch Verordnung 2152/2003 (Abl. L<br />
324/2003) mit dem Ziel einer besseren Überwachung<br />
(Monitoring) der Wälder zum Schutz vor<br />
Schäden durch Luftverschmutzung und Brände. Sie<br />
setzt ähnliche Maßnahmen aus den Jahren 1986 und<br />
1992 fort. Über ein Netz von Beobachtungspunkten<br />
und -flächen werden regelmäßig Bestandsaufnahmen<br />
vorgenommen und der Zustand der Waldökosysteme<br />
beobachtet. Die Mitgliedstaaten erstellen<br />
nationale Programme, die von der EU bezuschusst<br />
werden. Sie übermitteln der Kommission Jahresberichte<br />
über die Auswirkungen von Bränden auf ihre<br />
Wälder (ab 2003) und über den Zustand ihrer Waldökosysteme<br />
(ab 2005). Die Kommission erstellt daraus<br />
einen Gesamtbericht und legt ihn dem Rat und<br />
dem EP vor.<br />
Forschungsbeirat �Europäischer Forschungsbeirat<br />
Forschungsrahmenprogramme �Forschungsund<br />
Technologiepolitik Ziff. 3.2<br />
Forschungs- und Technologiepolitik (FTE)<br />
1. Europäische Forschungspolitik: Wozu? Die<br />
Volkswirtschaften der Mitgliedsländer der EU sind<br />
gegenwärtig tiefgreifenden strukturellen ÄnderungenunterworfenundmüssenaufdemWeltmarktihre<br />
z. T. gefährdete internationale Wettbewerbsfähigkeit<br />
verteidigen. Das Technologieniveau ist zu einem<br />
entscheidenden Faktor im internationalen Wettbewerb<br />
geworden; immer kürzere Produktions- und<br />
Innovationszyklen, rapide steigende Forschungsund<br />
Entwicklungskosten und weltweite InterdependenzderHigh-Tech-Sektorenerlaubenesimmerweniger,<br />
die Wettbewerbs- und Exportfähigkeit der europäischen<br />
Volkswirtschaften ausschließlich innerhalb<br />
der traditionellen nationalen Koordinationssysteme<br />
zu sichern. Forschung und technologische Entwicklung<br />
(FTE) sind damit entscheidende Faktoren<br />
für Wohlfahrt, Sicherheit und wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit.<br />
Durch FTE wird nicht nur neues<br />
Wissen generiert, sondern entstehen neue Produkte,<br />
Prozesse und Dienstleistungen.<br />
337
Forschungs- und Technologiepolitik<br />
Die Europäische Forschung bezweckt, durch Grundlagenforschung<br />
sowie angewandte Forschung Lösungen<br />
für Probleme der Bevölkerung und deren Lebensraum<br />
zu finden. Die Wertschöpfung aus FTE ist<br />
eine Voraussetzung für die Schaffung neuer Arbeitsplätze.<br />
Warum braucht es eine europäische Forschungspolitik?<br />
– Im Jahr 2002 investierte die EU lediglich 1,93 %<br />
(EU-25) bzw. 1,99 % (EU-15) des BSP in FTE, die<br />
USA jedoch im gleichen Jahr 2,76 % und Japan sogar<br />
3,12 % (Quelle: Eurostat);<br />
– Abwanderungvongutausgebildeteneuropäischen<br />
Forscherinnen und Forschern in die USA (Brain<br />
drain);<br />
– <strong>Europa</strong> verfügt über eine fragmentierte Forschungslandschaft;<br />
es besteht kein wahrnehmbarer<br />
europäischer Forschungsraum;<br />
– Bessere Nutzbarmachung der Resultate aus FTE:<br />
„Europe is good in turning Euro into science but not<br />
inturningscienceintoEuro“(sog.„EuropäischesParadoxon“);<br />
– Vermeidung von Doppelspurigkeiten;<br />
– Kritische Masse;<br />
– Vereinbarung der Nationalen Forschungsstrategien.<br />
Die FTE-Politik der EU nimmt einen – gemessen an<br />
der finanziellen Ausstattung und der wirtschaftlichen<br />
Bedeutung – von Jahr zu Jahr wachsenden Stellenwertein;sierichtetsichvorallemandiefürdiezukünftige<br />
wirtschaftliche Entwicklung <strong>Europa</strong>s strategisch<br />
wichtigen neuen Technologien; aber auch an<br />
übergreifenden Problemlösungen, Konzepten und<br />
Szenarien (z. B. Gesellschaft, Umwelt, Klima) wird<br />
gearbeitet.<br />
Grundsätzlich soll sich die FTE-Politik der Gemeinschaft<br />
auf den vorwettbewerblichen Prozess beschränken,<br />
also auf das gesamte Stadium, das der eigentlichen<br />
Produkt- oder Dienstleistungsentwicklung<br />
vorgeschaltet ist. Allerdings wird – innerhalb<br />
dieser Grenzen – der angewandten Forschung und<br />
innovationsbezogenen Maßnahmen ein besonderer<br />
Stellenwert eingeräumt.<br />
2. Rechtsgrundlagen und Entwicklungsstadien der<br />
europäischen FTE-Politik. Trotz ordnungspolitischer<br />
Bedenken stellte die FTE-Politik bereits in der<br />
Anfangsphase ein wesentliches Element der EG dar.<br />
Ausgangsbasis und ursprüngliche Rechtsgrundlage<br />
für die gemeinschaftliche FTE-Politik waren Art. 55<br />
338<br />
EGKSV (Forschung auf dem Stahl- und Kohlesektor),<br />
Art. 4 – 11 EAGV (Kernforschung), Art. 41<br />
(Landwirtschaft) und 235 EWGV (andere Bereiche,<br />
vor allem nicht-nukleare Energie) sowie die Entschließung<br />
des Rates vom 14. 1. 1974 über die Koordinierung<br />
der einzelstaatlichen Politiken und die Definition<br />
der Aktionen von gemeinschaftlichem Interesse<br />
im Bereich der Wissenschaft und Technologie<br />
(ABl. C 7/74).<br />
Mit dem Inkrafttreten der �Einheitlichen Europäischen<br />
Akte (EEA) im Jahre 1987 wurde die Politik<br />
auf dem Gebiet von FTE auf eine neue und explizit<br />
genannte vertragliche Grundlage gestellt (Titel VI,<br />
Art. 130f – 130q EWGV).<br />
Der Maastrichter Vertrag fügt den Titel über „Forschung<br />
und technologische Entwicklung“ als Titel<br />
XVIII in den EG-Vertrag ein und stellt die gemeinschaftliche<br />
FTE-Politik auf eine neue vertragliche<br />
Grundlage. Die Forschungsaktivitäten der EU werden<br />
in einem Rahmenprogramm (RP) zusammengefasst<br />
(Art. 166 EGV).<br />
IndemzurRatifizierunganstehenden �Verfassungsvertrag<br />
2004 ist ein eigenes Kapitel über „Forschung<br />
und Technologische Entwicklung und Raumfahrt“<br />
aufgenommen worden (Abschn. 9, Art. III-248 bis<br />
Art. III-255 VVE). Hier werden die Ziele und Maßnahmen<br />
der FTE-Politik festgelegt und die Durchführung<br />
(RP und Durchführung durch spezifische<br />
Programme) geregelt.<br />
3. Zielsetzungen und Stand der Europäischen FTE-<br />
Politik<br />
3.1 Zielsetzungen. Die gemeinschaftliche FTE-Politik<br />
ist vor allem ausgerichtet auf die Bereiche Informations-,<br />
Kommunikations- und Biotechnologie.<br />
Durch Koordinierung der Politiken der einzelnen<br />
Mitgliedstaaten oder Forschungstätigkeit auf Gemeinschaftsebene<br />
selbst soll erreicht werden:<br />
– unnötige Doppelarbeit und eine ungerechtfertigte<br />
Parallelität bei den einzelstaatlichen Programmen zu<br />
vermeiden; hierzu gehört vor allem eine bessere Verbreitung<br />
von Ergebnissen unter den Unternehmen<br />
(insbes. kleinere und mittlere Unternehmen,<br />
�KMU), ein angemessenes Kosten-Nutzen-VerhältnisunddieKoordinierungzwischendennationalen<br />
Programmen;<br />
– durchArbeitsteilungoderggf.durchZusammenlegung<br />
der Mittel die Wirksamkeit der einzelstaatlichen<br />
und gemeinschaftlichen Aktionen zu erhöhen<br />
oder deren Kosten zu senken;
– dieVerfahrenzurAusarbeitungundDurchführung<br />
der Forschungspolitik in der Gemeinschaft schrittweise<br />
zu harmonisieren;<br />
– die Schaffung eines gemeinsamen Binnenmarktes<br />
(z. B. die Erarbeitung einheitlicher Normen und<br />
Standards etc.) zu fördern und zur Überwindung der<br />
wissenschaftlichen und technologischen Grenzen in<br />
<strong>Europa</strong> beizutragen;<br />
– in Bereichen mit grenzüberschreitender Problemstellung<br />
(z. B. Umwelt- und Gesundheitsschutz) entsprechende<br />
Forschungsvorhaben zu fördern;<br />
– die besorgniserregende Diskrepanz zwischen dem<br />
Forschungspotential der Gemeinschaftsländer und<br />
den konkreten Innovationen abzubauen und durch<br />
eine gemeinsame Forschungsstrategie (mit mehr finanziellen<br />
Mitteln) die internationale Wettbewerbsfähigkeit<br />
<strong>Europa</strong>s (�Wettbewerbspolitik) vor allem<br />
gegenüber den USA und Japan zu erhalten bzw. zurückzuerlangen<br />
und damit durch Innovation und<br />
neue Technologien auch das Beschäftigungsproblem<br />
in der Gemeinschaft mindern zu helfen.<br />
Zielsetzungen aller Maßnahmen der EU auf dem Gebiet<br />
der Forschung ist es somit, die Zusammenarbeit<br />
zwischenPartnernverschiedenerLänderimRahmen<br />
ihrer aufeinander folgenden Rahmenprogramme anzuregen.<br />
Seit Anfang der 1980er Jahre trugen diese<br />
Programme zur Entwicklung eines neuen kooperativen<br />
Ansatzes in einer im Wandel begriffenen Gesellschaftbei.In<strong>Europa</strong>begannsicheinechter„europäischer<br />
Forschungsraum“ abzuzeichnen.<br />
In dieser „globalisierten“ Welt schreiten die Forschung<br />
und technologische Entwicklung immer<br />
schneller voran – dank des über Landesgrenzen hinweg<br />
immer freieren und schnelleren Austauschs von<br />
Informationen und wissenschaftlichen Ergebnissen<br />
zwischen den Forschern.<br />
Dennoch kann man gegenwärtig noch nicht wirklich<br />
von einer europäischen Forschungspolitik sprechen.<br />
Anders gesagt: die Forschungspolitik der Mitgliedstaaten<br />
und die der EU laufen noch nebeneinander<br />
her, ohne ein in sich geschlossenes Ganzes zu bilden.<br />
Die EU nimmt in verschiedenen Bereichen (z. B. in<br />
der medizinischen Forschung oder der Chemie)<br />
weltweit eine führende Stellung ein. Dieses Potenzial<br />
muss in Zusammenarbeit mit den Unternehmen,<br />
Forschungsinstituten und den Hochschulen außerhalb<br />
<strong>Europa</strong>s gepflegt, ausgebaut und in vollem Umfang<br />
ausgeschöpft werden.<br />
Die einzelstaatlichen Forschungsprogramme wer-<br />
Forschungs- und Technologiepolitik<br />
den weitgehend getrennt geführt. Um diese Isolation<br />
zu durchbrechen, haben die Verantwortlichen der<br />
nationalen Forschungsbehörden der Mitgliedstaaten<br />
sich bereits für die Empfehlung ausgesprochen, einzelstaatliche<br />
Programme grundsätzlich für andere<br />
Teilnehmer zu öffnen. Die Kommission kann hier als<br />
Initiator fungieren, indem sie den einzelstaatlichen<br />
Stellen die logistischen und rechtlichen Mittel für<br />
eine bessere Koordinierung der in <strong>Europa</strong> durchgeführten<br />
Forschungsmaßnahmen zur Verfügung<br />
stellt.<br />
Vor diesem Hintergrund sind im Rahmen der zwischenstaatlichen<br />
Kooperation eine Reihe europäischer<br />
Organisationen der wissenschaftlichen und<br />
technologischen Zusammenarbeit entstanden: z. B.<br />
�EWS (Europäische Wissenschaftsstiftung), �ESA<br />
(Europäische Weltraumagentur), �COST (Europäische<br />
Zusammenarbeit auf dem Gebiet der wissenschaftlichen<br />
und technischen Forschung), �EURE-<br />
KA (außerhalb der Gemeinschaft geführtes Forschungsprogramm).<br />
Das aktuelle europäische Patentsystem, das sich auf<br />
das �Europäische Patentamt und die entsprechenden<br />
Ämter der Einzelstaaten stützt, beruht auf der Erteilung<br />
von nationalen Patenten, die nur in den Mitgliedstaaten<br />
gelten, für die sie erteilt wurden. Dieses<br />
kostspielige System ist eines der Haupthindernisse<br />
für ein europaweites gemeinsames Patentsystem.<br />
Deshalb beabsichtigt die Kommission, die Schaffung<br />
eines einzigen �Gemeinschaftspatentes vorzuschlagen,<br />
das für den gesamten EU-Raum gilt.<br />
Das europäische Forschungssystem muss so organisiert<br />
werden, dass dabei die in den verschiedenen<br />
Stadien der Umsetzung der öffentlichen Politik zutagetretendenBedürfnissevorausgesehenundberücksichtigt<br />
werden. In diesem Zusammenhang müssen<br />
die verwaltungstechnischen, behördlichen Hindernisse,<br />
die der wissenschaftlichen Forschung entgegenstehen,<br />
aus dem Weg geräumt werden. Die direkt<br />
von der Kommission verwirklichten Forschungsarbeiten<br />
sollten die wichtigsten Anliegen der Bürger<br />
und der Entscheidungsträger widerspiegeln, wie<br />
z. B. Umweltschutz, Sicherheit von Nahrungsmitteln<br />
und chemischen Erzeugnissen oder nukleare Sicherheit.<br />
Vor dem Hintergrund dieser zerklüfteten europäischen<br />
Forschungslandschaft ist als übergeordnete<br />
Zielvorstellung der FTE-Politik der EU im Jahre<br />
2000 die Schaffung eines Europäischen Forschungs-<br />
339
Forschungs- und Technologiepolitik<br />
raums (EFR) entwickelt worden. Der EFR ist eine<br />
politische Zielvorstellung, die durch folgende Maßnahmen<br />
realisiert werden soll:<br />
– Vernetzung nationaler und gemeinsamer Forschungsprogramme<br />
und -organisationen<br />
– Einbindung und Weiterentwicklung bestehender<br />
Initiativen<br />
– Kartierung der Spitzenforschungszentren in <strong>Europa</strong><br />
(„Mapping of Excellence“)<br />
– Verbesserung des Umfeldes für private Forschungsinvestitionen<br />
und -partnerschaften<br />
– Koordinierte Qualitäts- und Wirkungsmessung<br />
der nationalen Politiken im Bereich FTE<br />
– Schaffung eines transeuropäischen Hochleistungs-Datennetzes<br />
für die wissenschaftliche Kommunikation<br />
(�„GRID“)<br />
– Beseitigung von Hindernissen, die die Mobilität<br />
von Forschern in <strong>Europa</strong> hemmen,<br />
– Maßnahmen gegen den „brain drain“ hochqualifizierter<br />
Forscher<br />
– Einführung eines Europäischen Gemeinschaftspatents.<br />
Im selben Jahr wie der Beschluss über den EFR wurde<br />
auf dem Gipfeltreffen der europäischen Staatsund<br />
Regierungschefs in Portugal im März 2000 die<br />
�„Lissabon Strategie“ entwickelt. Mit ihrer Hilfe<br />
soll<strong>Europa</strong>biszumJahr2010der„dynamischsteund<br />
wettbewerbsfähigste wissensbestimmte Wirtschaftsraum<br />
der Welt“ werden. Zwei Jahre später<br />
(2002) wurde diese Strategie in der Erkenntnis, dass<br />
die EU hinter dem Zeitplan zurückblieb, auf dem<br />
Gipfeltreffen von Barcelona um konkrete Ziele erweitert.SowurdendieMitgliedsländerermutigt,den<br />
Anteil ihrer Ausgaben für Forschung und Entwicklung<br />
am Bruttoinlandsprodukt zu steigern (das sog.<br />
„Dreiprozentziel“). Das Dreiprozentziel von Barcelona<br />
ist ein Schwellenwert für die Forschungsausgaben,<br />
den die Mitgliedsländer erreichen sollten, wenn<br />
sie das von der Union gesteckte Ziel, der dynamischste<br />
wissensbestimmte Wirtschaftsraum der Welt zu<br />
werden, erreichen wollen (ausführlich: �Lissabon-<br />
Strategie).<br />
Gestritten wird derzeit auf EU-Ebene (ebenso wie<br />
auf nationaler Ebene, z. B. in Deutschland), ob bei<br />
der Verfolgung der „Lissabon Strategie“ und der erhofften<br />
Schaffung neuer Arbeitsplätze, umweltpolitische<br />
Forderungen hinter ökonomischen Zielsetzungen<br />
zurückstehen sollten.<br />
3.2. Gegenwärtiger Stand der FTE-Politik: Die<br />
340<br />
FTE-Rahmenprogramme (RP) und der Finanzrahmen.<br />
Grundlage und Instrument der europäischen<br />
FTE-Politikistdas„GemeinschaftlicheRahmenprogramm<br />
für Forschung und technologische Entwicklung“.<br />
Dieses RP legt Ziele, Prioritäten und den finanziellen<br />
Umfang der Forschungsförderung für einen<br />
Zeitraum von zumeist vier Jahren fest.<br />
Damit erhält die gemeinschaftliche FTE-Politik verstärkte<br />
Planungssicherheit. Auf das 1. RP (1984 –<br />
1987) folgte im September 1987 das 2. RP (1987 –<br />
1991). Das 3. RP (1990 – 1994) wurde vom Ministerrat<br />
im April 1990 verabschiedet, das vierte (1994 –<br />
1998) im April 1994 mit einem Haushaltsvolumen<br />
(einschl. Nachtrag) von 13,2 Mrd. Euro. Das 5. RP<br />
(1998 – 2002) hatte eine Finanzausstattung von<br />
14,96 Mrd. Euro. Mit der zeitlichen Überschneidung<br />
der Rahmenprogramme führte die Gemeinschaft das<br />
Prinzip der gleitenden Programmplanung ein, um<br />
der Dynamik der technologischen Entwicklung<br />
Rechnung zu tragen.<br />
Das derzeit laufende 6. RP (2002 – 2006) ist Mitte<br />
2002 verabschiedet worden (Beschluss 1513/2002,<br />
ABl. L 232/2002). Das Gesamtbudget für das 6. RP<br />
beläuft sich auf 17,5 Mrd. Euro, was eine Steigerung<br />
umrund17%imVergleichzum5.RPbedeutet(nach<br />
der EU-Erweiterung 2004 Finanzvolumen auf 19,2<br />
Mrd. Euro erhöht).<br />
Folgende Grundprinzipien kennzeichnen das neue<br />
Rahmenprogramm:<br />
– Einführung neuer Instrumente (Exzellenznetze<br />
und Integrierte Projekte), um eine stärker strukturierende<br />
Wirkung auf Forschung und Entwicklung in<br />
<strong>Europa</strong> zu erreichen,<br />
– Konzentration auf eine begrenzte Zahl vorrangiger<br />
Forschungsbereiche mit ausgeprägtem europäischem<br />
Mehrwert,<br />
– Leistung eines bedeutenden Beitrags zur Entwicklung<br />
wissenschaftlicher und technischer Exzellenz<br />
und zur Koordinierung der Forschung in <strong>Europa</strong>,<br />
– Vereinfachung und Straffung der Durchführung<br />
durch neu festzulegende Förderformen und dezentralisierte<br />
Verwaltungsverfahren.<br />
Vordringliches Ziel des 6. RP ist die Implementierung<br />
des Europäischen Forschungsraums. Hier ist<br />
vor allem die Bündelung der europäischen Forschungsanstrengungen<br />
und -kapazitäten vor dem<br />
Hintergrund diverser Fragestellungen wie der Stärkung<br />
der Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft, der<br />
Bewältigung staatenübergreifender Krisen und Pro-
leme (bspw. BSE-Krise) und die Verwirklichung<br />
der nachhaltigen Entwicklung als wichtiges politisches<br />
Ziel der EU zu nennen.<br />
Der Schwerpunkt des 6. RP liegt auf hochwertigen<br />
Forschungsmaßnahmen, in deren Rahmen Wissenschaft<br />
und Forschung in <strong>Europa</strong> fokussiert und integriert<br />
werden; hierbei erfolgt eine Unterteilung in<br />
sieben Themenschwerpunkte:<br />
– Biowissenschaften, Genomik und Biotechnologie<br />
im Dienste der Gesundheit (2,25 Mrd. Euro)<br />
– Technologien für die Informationsgesellschaft<br />
(3,625 Mrd. Euro),<br />
– Nanotechnologien und -wissenschaften, intelligente<br />
Werkstoffe, neue Produktionsverfahren (1,30<br />
Mrd. Euro),<br />
– Luft- und Raumfahrt (1,07 Mrd. Euro),<br />
– Nahrungsmittelqualität und -sicherheit (685 Mio.<br />
Euro),<br />
– Nachhaltige Entwicklung, globale (Klima-)Veränderungen<br />
und Ökosysteme (einschl. der Forschung<br />
im Bereich Energie und Verkehr) (2,12 Mrd.<br />
Euro),<br />
– Bürger und Staat in der Wissensgesellschaft (225<br />
Mio. Euro).<br />
Darüber hinaus ist ein erheblicher Betrag (2,6 Mrd.<br />
Euro aus dem Gesamtetat des 6. RP in Höhe von 17,5<br />
Mrd. Euro) für Maßnahmen zur Strukturierung des<br />
EFR reserviert. Dazu gehören u. a. Programme für<br />
ForschungundInnovationen,Humanressourcenund<br />
Mobilität, Forschungsinfrastruktur, sowie Wissenschaft<br />
und Gesellschaft. Ein Betrag von 320 Mio.<br />
Euro ist für die Stärkung der Grundlagen des Europäischen<br />
Forschungsraums vorgesehen; Ziel dieser<br />
Maßnahme ist eine bessere Abstimmung und kohärente<br />
Entwicklung von FTE-Richtlinien.<br />
4. Durchführung und Träger der FTE-Politik. Die<br />
Durchführung des FTE-Rahmenprogramms erfolgt<br />
mittels spezifischer Programme, die innerhalb einer<br />
jeden Aktion entwickelt werden. Im Hinblick auf<br />
Träger und Finanzierungsquellen ist zwischen folgenden<br />
Formen von FTE-Aktionen zu unterscheiden:<br />
– direkte Aktionen, die von der �Gemeinsamen Forschungsstelle<br />
(GFS) – Anlagen in Ispra (Italien),<br />
Geel (Belgien), Petten (Niederlande), Karlsruhe<br />
(Deutschland) und Sevilla (Spanien) – durchgeführt<br />
und vollständig von der Gemeinschaft finanziert<br />
werden;<br />
– indirekte Aktionen, die von Forschergruppen, La-<br />
Forschungs- und Technologiepolitik<br />
boratorien und Universitäten der Mitgliedstaaten<br />
durchgeführt und teilweise von der Gemeinschaft finanziert<br />
werden;<br />
– konzertierte Aktionen, die ebenfalls von Forschergruppen,<br />
Laboratorien und Universitäten der Mitgliedstaaten<br />
durchgeführt werden, bei denen die Gemeinschaft<br />
jedoch nur die Koordinierung herstellt<br />
und ggf. finanziert.<br />
Die Hauptaktivitäten der gemeinschaftlichen FTE-<br />
PolitikerstreckensichaufdieindirektenAktionen.<br />
5. Perspektiven der Europäischen FTE-Politik. Mit<br />
der Implementierung des 6. RP, der Konzeption des<br />
Europäischen Forschungsraums und der Einleitung<br />
des „Lissabon Prozesses“ ist – wenn auch erst nach<br />
vielen Widerständen und mit recht knapper Finanzausstattung<br />
– ein deutlicher Schritt zur strategischen<br />
Neuorientierung der Forschungspolitik der Gemeinschaft<br />
erfolgt. Während in den Anfangsjahren der<br />
Schwerpunkt der Gemeinschaftsforschung eindeutig<br />
im Energiesektor lag, zielt die neue Stoßrichtung<br />
mehr auf die industrielle Wettbewerbsfähigkeit, um<br />
vor allem gegenüber den USA und Japan besser bestehen<br />
zu können und durch Förderung der Innovation<br />
zur Entlastung auf dem Arbeitsmarkt beizutragen.<br />
Es ist aber, wie insbes. vom Europäischen Parlament<br />
in jüngster Zeit immer wieder unterstrichen<br />
worden ist, unbedingt erforderlich, auf Gemeinschaftsebene<br />
verstärkte Anstrengungen auf dem<br />
FTE-Gebietzuunternehmen;nursokönnendietechnologische<br />
Selbstbehauptung <strong>Europa</strong>s gesichert und<br />
die Voraussetzungen für <strong>Europa</strong>s politische und<br />
wirtschaftliche Unabhängigkeit und seine soziale<br />
und kulturelle Identität geschaffen werden.<br />
Mit dem Maastrichter Vertrag wird eine enge Verzahnung<br />
mit der Industriepolitik (Titel XVI, Art. 157<br />
EGV) angestrebt. Diese Verknüpfung zwischen Industrie-<br />
und FTE-Politik wird insbes. mit dem 6.<br />
Rahmenprogramm angestrebt. Damit wird der Übergang<br />
von einem Bündel von gemeinschaftlichen<br />
FTE- und Demonstrationsmaßnahmen hin zu einer<br />
echten Gemeinschaftspolitik in diesem Bereich eingeleitet.<br />
Das 6. RP soll u. a.:<br />
– das Hauptaugenmerk den grundlegenden Technologien<br />
und inhaltlichen Problemkomplexen widmen<br />
und so der europäischen Industrie und ihren Zulieferern<br />
eine neue Offensive im weltweiten Wettbewerb<br />
ermöglichen;<br />
– für eine wirksame Zusammenarbeit im Hinblick<br />
aufeinebessereIntegrationdereinzelstaatlichenund<br />
341
Forschungs- und Technologiepolitik<br />
der gemeinschaftlichen FTE-Maßnahmen sorgen<br />
und die Synergie zwischen den Strukturfonds<br />
(�Fonds der EU) und den Forschungsmaßnahmen<br />
fördern, welche zum Zusammenhalt der Gemeinschaft<br />
(�Kohäsion) beiträgt;<br />
– die Entwicklung von Synergien zwischen Forschung<br />
und Ausbildung ermöglichen.<br />
Zentrales Anliegen des 6. RP ist – wie bereits dargestellt<br />
– die Entwicklung eines Europäischen Forschungsraums.MitdiesemKonzeptsollenKohärenz<br />
und Einfluss der Europäischen Forschung erhöht<br />
werden. <strong>Europa</strong> steht vor konkreten Herausforderungen,<br />
die mit Hilfe dieses Konzepts gemeistert<br />
werden sollen. Dazu gehören die bessere Nutzung<br />
wissenschaftlicher Ressourcen und Einrichtungen<br />
auf europäischer Ebene, mehr privatwirtschaftliche<br />
Investitionen in FTE, eine höhere Mobilität der Arbeitnehmer<br />
im Allgemeinen und der forschenden<br />
Wissenschaftlicher im Besonderen, sowie die Schaffung<br />
günstiger Voraussetzungen für einen Forschungsraum<br />
mit „gemeinsamen Wertvorstellungen“.<br />
Im Kern wird mit dem EFR das Ziel verfolgt,<br />
die verstreuten Ressourcen so zu bündeln, dass wichtige<br />
und lohnenswerte Vorhaben in Angriff genommen<br />
werden können. Durch einen besseren Informationsaustausch<br />
und eine bessere Abstimmung sollen<br />
der bürokratische Aufwand verringert und damit die<br />
Effizienz gesteigert und das Vertrauen erhöht werden.<br />
Eine wichtige Zielsetzung der Neuausrichtung der<br />
europäischen FTE-Politik ist eine deutliche Steigerung<br />
der für diesen Bereich zur Verfügung stehenden<br />
Finanzmittel.AberebensowiedieErfolgsaussichten<br />
des „Lissabon Prozesses“ im Hinblick auf die „Halbzeitbilanz“<br />
als skeptisch beurteilt werden müssen,<br />
erscheint es auch sehr fraglich, ob angesichts der angespannten<br />
Haushaltslage in den meisten Mitgliedsländern<br />
zumindest eine Annäherung an das „Dreiprozentziel“<br />
erzielt werden kann.<br />
Das 7. Europäische Forschungsrahmenprogramm<br />
(Start 2006):<br />
Am 16. 6. 2004 beschloss die Kommission eine Mitteilung<br />
(KOM 2004/353) mit dem Titel „Wissenschaft<br />
und Technologie: der Schlüssel zur Zukunft<br />
<strong>Europa</strong>s“; Zielsetzung ist die führende Rolle <strong>Europa</strong>s<br />
in Forschung und technologischer Entwicklung<br />
zu festigen. In dieser auf einem Finanzierungsvorschlag<br />
der EU vom Februar 2004 beruhenden Mitteilung<br />
wird empfohlen, den europäischen Forschungs-<br />
342<br />
etat für den Zeitraum 2007 bis 2013, der das 7. Rahmenprogramm<br />
umfasst, auf rund 10 Mrd. Euro jährlich<br />
zu verdoppeln. Mit dieser Erhöhung will man<br />
hauptsächlich erreichen, dass der mit EU-weiten<br />
MaßnahmenverbundeneMehrwertvollundganzgenutztwerdenkann,indemmandienotwendigenVoraussetzungen<br />
bei Sachmitteln und Personal schafft<br />
und sich in hohem Maße private Forschungsinvestitionen<br />
zunutze macht.<br />
In dieser Mitteilung hat die Kommission sechs große<br />
Ziele definiert:<br />
a) Schaffung von europäischen Exzellenzpolen,<br />
b) Start europäischer Technologieinitiativen,<br />
c) Erzeugung größerer Kreativität in der Grundlagenforschung<br />
durch Wettbewerb zwischen Teams<br />
auf europäischer Ebene,<br />
d) <strong>Europa</strong> für die besten Wissenschaftler attraktiver<br />
machen,<br />
e) Ausbau der Forschungsinfrastrukturen von europäischem<br />
Interesse,<br />
f) Stärkere Koordinierung einzelstaatlicher Forschungsprogramme.<br />
Zu den thematischen Prioritäten des 7. RP werden<br />
also auch die neuen Bereiche Raumforschung und<br />
Sicherheits- und Verteidigungsforschung gehören.<br />
Als Schwerpunktbereiche des 7. RP (vgl. Locatelli-<br />
Bericht des Europäischen Parlaments, EP-Dok.<br />
A6-0046/2005) werden zumeist genannt: Biowissenschaften<br />
einschl. Biotechnologie, Neurowissenschaften<br />
und präventive und öffentliche Gesundheitsfürsorge);<br />
alle bestehenden und künftigen<br />
CO2-freien Energieträger (einschl. Atomenergie);<br />
Informations- und Kommunikationstechnologien;<br />
Nanotechnologie, neue Werkstoffe und Produktionsverfahren;<br />
Chemie.<br />
Gefordert wird – insbes. seitens des Europäischen<br />
Parlaments – eine ausreichende Finanzausstattung<br />
(zumindest Verdoppelung der FTE-Mittel!) und<br />
Verknüpfung mit der finanziellen Vorausschau<br />
(2007–2013) der Gemeinschaft.<br />
DieweiterePlanungsiehtvor,dasseinersteroffizieller<br />
Vorschlag der Europäischen Kommission zum<br />
nächstenForschungsrahmenprogrammimLaufedes<br />
Jahres 2005 vorgelegt wird. Das 7. RP soll in der<br />
zweitenJahreshälfte2006offiziellstarten.<br />
P. P./J. Sch.<br />
Dokumente:<br />
Europ. Parlament, Bericht über Wissenschaft und Technologie<br />
– Leitlinien für die Forschungsförderung der EU. Berichterstatterin:<br />
Pia Elda Locatelli; EP-Dok. A6-0046/2005
Internet:<br />
Auf folgenden Internetseiten sind umfassende Informationen<br />
über die FTE-Politik der EU zu finden, darunter alle Referenzdokumente,<br />
der Wortlaut der Aufforderungen zur Einreichung<br />
von Vorschlägen sowie zahlreiche weitere Informationen.<br />
CORDIS (Informationen über das FTE-Rahmenprogramm):<br />
www.cordis.lu/<br />
GD Forschung: http://europa.eu.int/comm/research/<br />
GD Informationsgesellschaft: http://europa.eu.int/information_society/index_en.htm<br />
GD Unternehmen: http://europa.eu.int/comm/dgs/enterprise/<br />
GD Energie und Verkehr der Kommission: http://europa.eu.int/comm/dgs/energy_transport/index.html<br />
Gemeinsamen Forschungsstelle (GFS): www.jrc.cec.eu.int<br />
Eurostat: http://europa.eu.int/comm/eurostat/<br />
http://europa.eu.int/comm/research/index_de.html<br />
www.rp6.de<br />
http//:europa.eu.int/comm/research/era/3pct/index_en.html<br />
http://eu-iriscoreboard.jrc.es/index/htm<br />
http://europa.eu.int/comm/research/fp6/mariecurie-actions/indexhtm_en.html<br />
http://europa.eu.int/comm/space/gmes/index_en.htm<br />
http://europa.eu.int/comm/research/security/index_en.html<br />
http://europa.eu.int/comm/research/fp6/index_en.html<br />
Fouchet, Christian (1911–1974), französischer Politiker<br />
und Diplomat, 1947 Mitbegründer der gaullistischenSammlungsbewegungRPF.Erleiteteeineim<br />
Februar 1961 vom Europäischen Rat eingesetzte<br />
Kommission, die zwei Entwürfe zur Gründung einer<br />
Politischen Union erarbeitete (�Fouchet-Pläne).<br />
Fouchet-Pläne. Unter dem Vorsitz des französischen<br />
Diplomaten Christian Fouchet (seinerzeit<br />
französischer Botschafter in Dänemark) entwarf<br />
eineKommissionPlänefüreineeuropäischeIntegration<br />
(�Politische Union), über die keine Einigung erzielt<br />
werden konnte: Erster Fouchet-Plan November<br />
1961, zweiter Fouchet-Plan Januar 1962).<br />
Der Fouchet-Plan I sah regelmäßige institutionelle<br />
Zusammenarbeit der EWG-Staaten auf politischem<br />
Gebiet vor. Ziel: eine unauflösliche konföderale<br />
Union der europäischen Staaten mit gemeinsamer<br />
Außen- und Sicherheitspolitik sowie kultureller Zusammenarbeit.<br />
Der Fouchet-Plan II reduzierte die Integration auf<br />
�intergouvernementale Zusammenarbeit. Diese<br />
(von der französischen Regierung bevorzugte) Form<br />
geringerIntegrationlehntendieübrigenLänderab.<br />
Grundgedanken der Fouchet-Pläne gingen ein in die<br />
�Europäische Politische Zusammenarbeit (EPZ),<br />
die�GASPundinden�EuropäischenRat. W. M.<br />
Francovich-I-Urteil<br />
Fraktionen im EP. Nach der Geschäftsordnung des<br />
EP (GO-EP) können mindestens 19 Mitglieder eine<br />
Fraktion bilden, sie müssen aus mindestens einem<br />
Fünftel der EU-Staaten kommen. Die Bildung einer<br />
Fraktion muss dem Präsidenten des EP in einer Erklärung<br />
gemeldet werden, die im Amtsblatt der EU<br />
veröffentlicht wird. Eine Bewertung der politischen<br />
Zugehörigkeit eines Abgeordneten zu einer Fraktion<br />
durch das Präsidium des Parlaments findet nicht<br />
statt.<br />
Fraktionen wird im Stellenplan des Generalsekretariats<br />
des EP ein Sekretariat zur Verfügung gestellt,<br />
sie erhalten Mittel aus dem Haushaltsplan des Parlaments.DieSitzordnungderFraktionenimPlenarsaal<br />
wird von der Konferenz der Präsidenten des EP festgelegt.<br />
Fraktionen haben, wie Ausschüsse oder fraktionsübergreifendeGruppenvonmindestens37Abgeordneten,<br />
bestimmte, in der GO-EP festgelegte Rechte<br />
in Bezug auf den Arbeitsplan des Parlaments (z. B.<br />
die Tagesordnung), auf den Ablauf der Sitzungen<br />
(z. B. die Zuteilung an Redezeit), die Zugehörigkeit<br />
zu Ausschüssen.<br />
Die Zusammensetzung der Delegation des EP im<br />
Vermittlungsausschuss wird von der Konferenz der<br />
Präsidenten festgelegt, muss aber der Zusammensetzung<br />
des Plenums nach Fraktionen entsprechen.<br />
Abgeordnete, die sich keiner Fraktion anschließen<br />
möchten, werden als fraktionslos registriert. Sie bilden<br />
also keine weitere Fraktion und verfügen nicht<br />
über die Rechte einer Fraktion, erhalten aber vom EP<br />
ein Sekretariat. Die Bildung einer „Technischen<br />
Fraktion“ ohne politisches Konzept ist grundsätzlich<br />
nicht zulässig (vgl. EuGH, Urt. v. 29. 6. 2004, Rs.<br />
C-486/01 P – TOI –).<br />
Fraktionen des EP von der 1. bis zur 6. Wahlperiode:<br />
�Europäisches Parlament<br />
Francovich-I-Urteil. Mit diesem Grundsatzurteil<br />
vom 19. 11. 1991 (Rs. C–6 u. 9/90; Slg. 1991, I–<br />
5357) begründete der EuGH eine zwischenzeitlich<br />
umfassend ausgebaute Staatshaftung der Mitgliedstaaten,<br />
die dem Bürger Schadensersatz für aus der<br />
Verletzung von Gemeinschaftsrecht resultierenden<br />
Schäden zubilligt. Dem Urteil lag folgende Konstellation<br />
zu Grunde: Mit der Richtlinie 80/987 wurden<br />
die Mitgliedstaaten verpflichtet, bis 23. 10. 1983 Garantiefonds<br />
nach nationalem Recht einzurichten, aus<br />
denen im Fall eines Unternehmenskonkurses rück-<br />
343
Frauenlobby<br />
ständige Arbeitslöhne und Sozialabgaben gezahlt<br />
werden sollten. Italien kam dieser Verpflichtung<br />
nicht fristgerecht nach und wurde insoweit auch vom<br />
EuGH wegen Vertragsverletzung verurteilt. Zwischenzeitlich<br />
waren jedoch bereits einige Unternehmen<br />
in Konkurs gegangen und konnten mangels<br />
Masse rückständige Lohnforderungen nicht mehr<br />
befriedigen. Betroffene Arbeitnehmer (u. a. Herr<br />
Francovich) klagten daraufhin gegen den italienischen<br />
Staat auf Lohnfortzahlung, hilfsweise Schadensersatz.<br />
Im Wege der Vorabentscheidung entschied<br />
der EuGH, dass Italien Schadensersatz leisten<br />
muss. Die eigenständige außervertragliche Staatshaftung<br />
der Mitgliedstaaten kraft Gemeinschaftsrechtwargeboren.<br />
J. M. B.<br />
Frauenlobby �Europäische Frauenlobby<br />
Frauenunion �Europäische Frauenunion (EFU)<br />
Freier Dienstleistungsverkehr �Dienstleistungsfreiheit<br />
Freier Kapitalverkehr<br />
1. Allgemeines. Die Kapitalverkehrsfreiheit ist eine<br />
vollwertige Grundfreiheit zur Verwirklichung des<br />
Binnenmarkts, seitdem der EGV im Zuge des Maastrichter<br />
Vertrags für sie ein allgemeines Beschränkungsverbot<br />
statuiert hat. Vor diesem Zeitpunkt ermächtigte<br />
der EGV lediglich zu Rechtsangleichung<br />
auf Sekundärebene, ohne eine umfassende Liberalisierung<br />
des Kapitalverkehrs anzuordnen. Nunmehr<br />
ist die Freiheit des Kapitalverkehrs unmittelbar geltendes<br />
Gemeinschaftsrecht; dagegen verstoßende<br />
nationale Vorschriften sind unanwendbar.<br />
Die Vorschrift des Art. 56 EGV gewährt neben der<br />
Kapitalverkehrsfreiheit (Abs. 1) – für einseitige FinanzgeschäftezuAnlagezwecken–auchdieFreiheit<br />
des �Zahlungsverkehrs (Abs. 2) – für die Gegenleistung<br />
bei zweiseitigen Austauschgeschäften. Die Art.<br />
57 – 60 EGV regeln zulässige Einschränkungen des<br />
freien Kapital- und Zahlungsverkehrs. Für die Beitrittsländer<br />
gelten teilweise einige Sonderregelungen<br />
im Bezug auf den Erwerb von Immobilien.<br />
2. Anwendungsbereich<br />
2.1 Räumlich. Der freie Kapitalverkehr gilt für<br />
Transaktionen zwischen Mitgliedstaaten, aber auch<br />
für Kapitalbewegungen zwischen Mitgliedstaaten<br />
und Drittstaaten.<br />
344<br />
2.2 Persönlich. Berechtigte der Kapitalverkehrsfreiheit<br />
sind sowohl der Investor als auch der Kapitalempfänger,<br />
die am freien Verkehr des Kapitals interessiertsind–unabhängigvonderenNationalitätoder<br />
Gebietsansässigkeit. Verpflichtete der Kapitalverkehrsfreiheit<br />
sind die Mitgliedstaaten und die Gemeinschaft,<br />
nicht dagegen Private.<br />
2.3 Gegenständlich<br />
2.3.1 Von der Freiheit des Kapitalverkehrs werden<br />
grenzüberschreitende einseitige Wertübertragungen<br />
erfasst, welche primär die Anlage des betreffenden<br />
Sach-oderGeldkapitalsbezwecken.WelcheFinanzgeschäfte<br />
hierzu zählen, regelt der EGV nicht. Zur<br />
Konkretisierung des Gewährleistungsinhalts wird<br />
daher immer noch die Richtlinie 88/361 (ABl. L<br />
178/1998) herangezogen, die in ihrem Anhang I einen<br />
nicht abschließenden Katalog von Transaktionen<br />
auf dem Gebiet des Kapitalverkehrs enthält: Direkt-<br />
und Immobilieninvestitionen; Geschäfte mit<br />
Wertpapieren, Investmentanteilen, Geldmarktpapieren<br />
und Futures; Kontokorrent- und Termingeschäfte<br />
mit Finanzinstitutionen; Handelskredite;<br />
Darlehen und Finanzkredite; Bürgschaften, andere<br />
Garantien und Pfandrechte; Versicherungsleistungen;<br />
persönlicher Kapitalverkehr; Ein- und Ausfuhr<br />
von Vermögenswerten.<br />
Zum Zahlungsverkehr gehört die grenzüberschreitende<br />
Übertragung von Zahlungsmitteln als Gegenleistung<br />
für Waren, Dienstleistungen oder nichtselbständige<br />
Arbeit. Im Wesentlichen unterliegt diese<br />
sog. fünfte Freiheit als Annex zur Hauptleistung der<br />
jeweiligen Grundfreiheit, kann aber nach Art. 56<br />
EGV eine weitergehende Liberalisierung erfahren.<br />
2.3.2 Im Anwendungsbereich der Kapitalverkehrsfreiheit<br />
sind Überschneidungen mit den anderen<br />
Grundfreiheiten vorgezeichnet, so dass gewisse Abgrenzungen<br />
vorzunehmen sind. Dies ist trotz der<br />
weitgehenden Konvergenz der Grundfreiheiten erforderlich,<br />
weil der Anwendungsbereich des Kapitalverkehrs<br />
auch Drittstaatbeziehungen einschließt<br />
unddieAusnahmeregelnleichtabweichendgestaltet<br />
sind.<br />
Geldstücke und -scheine, die nicht mehr als gesetzliches<br />
Zahlungsmittel eingesetzt werden, sind dem<br />
Warenverkehr zuzuschlagen. Der jeweiligen Personen-�Freizügigkeit<br />
unterfällt der Erwerb von Wohnungseigentum<br />
durch Wanderarbeitnehmer oder<br />
Niedergelassene.<br />
Die wichtigsten Überschneidungen ergeben sich mit
der �Niederlassungsfreiheit. Denn eine Direktinvestition<br />
im Ausland ist mit der Beteiligung an einem<br />
Unternehmen durch Erwerb von Aktien oder sonstigen<br />
Gesellschaftsanteilen verbunden. Sofern diese<br />
Beteiligung unternehmerischen Einfluss vermittelt,<br />
ist neben der Kapitalverkehrsfreiheit auch die Niederlassungsfreiheit<br />
einschlägig. In diesem Fall ergibt<br />
sich aus den Querverweisen der Art. 43 Abs. 2<br />
und Art. 58 Abs. 2 EGV, dass eine eventuelle Beschränkung<br />
des freien Verkehrs schon durch den<br />
Rechtfertigungstatbestand einer der zwei Grundfreiheiten<br />
europarechtskonform ist. Handelt es sich dagegenumeinepassivePortfolioinvestition,diekeine<br />
unternehmerische Einflussnahme ermöglicht (z. B.<br />
beim Erwerb von Vorzugsaktien einer AG), ist allein<br />
die Kapitalverkehrsfreiheit maßgeblich.<br />
Im Bereich der Finanzdienstleistungen sind Überschneidungen<br />
mit der �Dienstleistungsfreiheit gegeben;<br />
beide Freiheiten sind in einem solchen Fall parallel<br />
anwendbar.<br />
3. Inhalt und Beschränkungen der Kapitalverkehrsfreiheit.<br />
3.1 Allgemeines Beschränkungsverbot. Alle staatlichen<br />
Beschränkungen des freien Kapitalflusses zwischen<br />
den Mitgliedstaaten und zwischen Mitgliedstaaten<br />
und Drittstaaten sind grundsätzlich verboten.<br />
Dies sind Maßnahmen, welche die Ausübung dieser<br />
Freiheit unterbinden, behindern oder weniger attraktiv<br />
machen. Beispielsweise seien als beschränkende<br />
Maßnahmen aufgezählt: devisenrechtliche Beschränkungen,<br />
besondere Gebühren für grenzüberschreitende<br />
Transaktionen, Verbot der Veräußerung<br />
bestimmter Wertpapiere an Gebietsfremde, Bardepotpflicht,EintragungeinerHypotheknurininländischer<br />
Währung, Ausschluss einer SteuervergünstigungfürAktienübertragungenaufGesellschafteneines<br />
anderen Mitgliedstaates, Genehmigungserfordernis<br />
für Erwerb eines bebauten Grundstücks nur<br />
für Ausländer, Begrenzung der Gesellschaftsanteile<br />
für Ausländer oder Genehmigungserfordernisse für<br />
den Erwerb durch Ausländer, Erwerbsverbot für<br />
Stimmrechtsaktien in einer AG.<br />
3.2 Ausnahmen. Von dem Beschränkungsverbot<br />
sind nach Maßgabe der 57 – 60 EGV Ausnahmen<br />
möglich.Artikel58Abs.1lita)EGVerlaubtnationale<br />
Steuervorschriften, die zwischen Steuerinländern<br />
und -ausländern differenzieren. Diese Diskriminierung<br />
versteht sich vor dem Hintergrund der fehlenden<br />
gemeinschaftsrechtlichen Harmonisierung im<br />
Freier Kapitalverkehr<br />
Bereich der direkten Steuern. Sie ist aber nur für solche<br />
Vorschriften erlaubt, die schon Ende 1993 bestanden.<br />
Artikel 58 Abs. 1 lit b) gestattet des Weiteren<br />
– unerlässliche Maßnahmen gegen Rechtsbrüche<br />
vor allem auf dem Gebiet des Steuerrechts und der<br />
Bankenaufsicht. Die nicht abschließende Aufzählung<br />
eröffnet die Möglichkeit weiterer Ausnahmen<br />
vom Beschränkungsverbot aus ähnlich zwingenden<br />
Gründen des Allgemeinwohls nicht wirtschaftlicher<br />
Art, insbes. zur Bekämpfung von Geldwäsche, Drogenhandel<br />
und Terrorismus (EuGH Slg. 1995, I-361<br />
Bordessa);<br />
– Meldeverfahren für den Kapitalverkehr zwecks<br />
administrativer oder statistischer Information;<br />
– Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung<br />
oder Sicherheit. Letztere sind eng auszulegen<br />
als tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdungen,<br />
die ein nicht-wirtschaftliches Interesse der<br />
Gesellschaft berühren (EuGH Slg. 2000, I-1353).<br />
Voraussetzung ist schließlich, dass keine willkürliche<br />
Diskriminierung oder verschleierte Beschränkung<br />
des freien Kapitalverkehrs vorliegt (Abs. 3).<br />
Der Kapitalverkehr im Verhältnis zu Drittstaaten unterliegt<br />
weitergehenden Einschränkungen: Gemäß<br />
Art. 57 EGV können die zum 31. 12. 93 bestehenden<br />
mitgliedstaatlichen oder gemeinschaftsrechtlichen<br />
Beschränkungen aufrechterhalten und sogar neue<br />
Beschränkungen durch die Gemeinschaft eingeführt<br />
werden. Art. 59 EGV erlaubt ausnahmsweise kurzfristige<br />
Maßnahmen seitens der Gemeinschaft im<br />
Verhältnis zu Drittstaaten zum Schutz der Währungsunion.<br />
Art. 60 EGV regelt die Einschränkungsmöglichkeiten<br />
im Rahmen von �GASP-Aktionen<br />
nach Art. 301 EGV.<br />
4. Ausblick. Der Kapitalverkehr ist weitgehend liberalisiert.<br />
Einen großen Schritt bedeutete die Einführung<br />
des Euro, in Folge derer die devisenrechtlichen<br />
Schranken weitgehend entfielen, aber auch die zunehmende<br />
Verbreitung des elektronischen Zahlungsverkehrs.<br />
Zudem sind weite Bereiche mit Hilfe<br />
von Sekundärrecht harmonisiert, insbes. der Banken-,<br />
Wertpapierfirmen- und Börsenbereich, der<br />
Schutz der Kapitalmarktteilnehmer, die Versicherungen<br />
und zum Teil ist sogar eine Koordinierung im<br />
BereichSteuernzuverzeichnen. J. I.<br />
Literatur:<br />
Sedlaczek, M.: Art. 56–60 EGV. In: Streinz, R. (Hg.),<br />
EUV/EGV. München 2003<br />
Geiger, R.: EUV/EGV, Art. 56–60 EGV. München 2004<br />
345
Freier Personenverkehr<br />
Freier Personenverkehr<br />
1. Begriffsbestimmung und Entwicklung. Die Freiheit<br />
des Personenverkehrs, ursprünglich im EWG-<br />
Vertrag auf Arbeitnehmer und Selbständige beschränkt,istnunindenArt.39–42EGV(�Freizügigkeit<br />
in der EU) und 43–48 EGV (�Niederlassungsfreiheit)<br />
geregelt. Sie gehört zu den �vier Freiheiten<br />
des EG-Vertrags. Inhalt dieser Freiheit ist das Recht<br />
auf Einreise und Aufenthalt, auf Zugang zum Arbeitsmarkt<br />
und auf Gleichbehandlung bezüglich<br />
Einstellung, Entgelt und Arbeitsbedingungen und<br />
sozialerLeistungen.DasRechtaufEinreiseistnuran<br />
Identitätskarte oder Personalausweis gebunden.<br />
Eine Visa-Pflicht besteht nicht. Ein Arbeitnehmer<br />
hat Rechtsanspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis<br />
in einem anderen Staat der EU, und er<br />
braucht keine Arbeitserlaubnis. Diese Vorschriften<br />
sind seit dem Ende der Übergangszeit, also seit Ende<br />
1969, direkt anwendbar. Darüber hinaus gibt es ein<br />
Bleiberecht nach Beendigung der Beschäftigung.<br />
Eingeschränkt werden darf das Freizügigkeits- und<br />
Niederlassungsrecht nur aus Gründen der öffentlichen<br />
Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit. Eine<br />
weitere Einschränkung gilt hinsichtlich des Zugangs<br />
zu hoheitlichen Aufgaben, z. B. im Bereich der inneren<br />
Sicherheit, Justiz.<br />
In den Art. 17 – 22 EGV ist das Freizügigkeitsrecht<br />
durch die Einführung einer �Unionsbürgerschaft auf<br />
alle Bürger der Europäischen Union erweitert worden.<br />
Sie ergänzt die nationalen Staatsbürgerschaften,<br />
ersetzt sie aber nicht. Sie gibt u. a. jedem Unionsbürger<br />
das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten<br />
frei zu bewegen und aufzuhalten, eingeschränkt<br />
nur durch europarechtliche, nicht aber nationalstaatliche<br />
Vorschriften (Art. 18 EGV). Hinzu<br />
kommen das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunal-<br />
und <strong>Europa</strong>wahlen (Art. 19 EGV), diplomatischer<br />
und konsularischer Schutz jeden EU-Mitgliedstaats<br />
(Art. 20 EGV) und das �Petitionsrecht<br />
sowie das Recht, sich an den �Bürgerbeauftragten<br />
oder an jede Einrichtung der EU zu wenden (Art. 21<br />
EGV). Diese Rechte zeigen deutlich auch die politische<br />
Ausrichtung der Unionsbürgerschaft.<br />
2. Soziale Sicherheit. Die soziale Sicherheit der<br />
Wanderarbeitnehmer ist in Art. 42 EGV grundsätzlich<br />
in der Weise geregelt, dass den Wanderarbeitnehmern<br />
und ihren Angehörigen einerseits für Erwerb<br />
und Aufrechterhaltung der Leistungsansprüche<br />
die zu berücksichtigenden Leistungszeiten aus<br />
346<br />
allen Ländern der EU, in denen der Wanderarbeitnehmer<br />
tätig war, zusammengerechnet und andererseits<br />
die Leistungen in jeden Staat der EU gezahlt<br />
werden. Wanderarbeitnehmer dürfen gegenüber eigenen<br />
Staatsangehörigen nicht diskriminiert werden<br />
(�Diskriminierungsverbot).DoppelbelastungensollenebensovermiedenwerdenwieDoppelversorgungen.<br />
Die notwendigen Rechtsvorschriften beschließen<br />
Rat und Parlament im Mitentscheidungsverfahren<br />
gem. Art. 251 EGV.<br />
Aufmerksamkeit findet vor allem die Rechtsprechung<br />
des EuGH zu sozialen Vergünstigungen wie<br />
Ausbildungsbeihilfen und Kindergeld, die der Staat<br />
den Familienangehörigen zu gewähren hat. Hier<br />
wendet er den Grundsatz der Gleichbehandlung konsequent<br />
an.<br />
EinProblem,dasdieFreizügigkeitderArbeitnehmer<br />
und Selbständigen hemmte, war bis zum Anfang der<br />
1990er Jahre die fehlende gegenseitige Anerkennung<br />
von Studien- und Berufsausbildungsabschlüssen<br />
in der EG. In zäher Kleinarbeit gelang es der EG<br />
in den ersten Jahrzehnten, eine Handvoll Harmonisierungsrichtlinien<br />
vor allem im medizinischen Bereich<br />
und bei Architekten zu schaffen. Im Dezember<br />
1988 entstand eine Richtlinie (89/48, ABl. L 19/<br />
1989), die eine allgemeine gegenseitige Anerkennung<br />
von Abschlüssen vorsah, denen eine mindestens<br />
dreijährige Hochschulausbildung zugrunde<br />
lag. Diese Regelung wurde 1989 auch auf kürzere<br />
Studien und berufliche Fortbildung erweitert und<br />
1992 in Kraft gesetzt. Die Freiheit des Personenverkehrs<br />
ist in jüngster Zeit ausgedehnt worden auf Bürger<br />
der EU, die nicht von den Art. 48 ff. und 52 ff.<br />
EWGVerfasstwerden,also„Nicht-Erwerbstätige“.<br />
So wurden Richtlinien erlassen, die ein allgemeines<br />
Aufenthaltsrecht für Studenten, Rentner und andere<br />
schaffen unter der Voraussetzung, dass diese Personen<br />
der öffentlichen Hand nicht zur Last fallen.<br />
Zur Personenverkehrsfreiheit im weiteren Sinn gehört<br />
auch die Abschaffung der Personenkontrollen<br />
an den Grenzen (�Schengener Abkommen).<br />
EinProblemstellendie„Drittstaater“,Ausländeraus<br />
Nicht-EU-Staaten einschl. der Asylbewerber, dar.<br />
Das Europäische Parlament (EP) hat im Januar 1994<br />
u. a. gefordert, dass Ausländer mit Aufenthaltsrecht<br />
in einem Mitgliedstaat weitgehende Freizügigkeit in<br />
dergesamtenEUerhaltensollen.DieskönntederBeginn<br />
einer Gleichbehandlungspolitik sein.
3. Gegenwärtiger Stand. Zwei Bereiche der Gesetzgebung<br />
wollen das Erreichte im Rahmen des freien<br />
Personenverkehrs weiter verstärken:<br />
Die Schaffung eines �<strong>Europa</strong>s der Bürger mit Verbraucherrechten,<br />
allgemeinem Aufenthaltsrecht,<br />
Rechtsschutz und Verstärkung der Anrufungsmöglichkeiten<br />
europäischer Stellen zeigt, dass die EU im<br />
Bereich der Freizügigkeit ihre Konzentration auf die<br />
wirtschaftlich Tätigen verlassen hat.<br />
Zudem hat durch die im �Maastrichter Vertrag eingeführte<br />
Unionsbürgerschaft (Art. 17 ff. EGV) die<br />
Freiheit des Personenverkehrs eine neue Dimension<br />
erreicht. Die Einführung des Wahlrechts zum Europäischen<br />
Parlament sowie des aktiven und passiven<br />
Kommunalwahlrechts für EU-Ausländer belegt<br />
deutlichdiepolitischeAusrichtungderneuenRechte<br />
imRahmenderFreizügigkeit. M. K.<br />
Freier Warenverkehr<br />
1. Allgemeines<br />
1.1DerfreieWarenverkehristnebendemfreienVerkehr<br />
von Personen, Dienstleistungen und Kapital<br />
eine der vier Grundfreiheiten zur Verwirklichung<br />
des Binnenmarktes als Wirtschaftsraum ohne innere<br />
Grenzen gem. Art. 14 Abs. 2 EGV.<br />
Die Warenverkehrsfreiheit vereinigt die nationalen<br />
Märkte der Mitgliedstaaten zu einem einzigen europäischenMarktohneSchranken,inwelchemweitgehend<br />
einheitliche Wettbewerbsbedingungen gelten.<br />
Alle Gemeinschaftswaren, die in ihrem Herkunftsland<br />
rechtmäßig hergestellt und in den Verkehr gebrachtwordensind,sollenauchfreienZugangzuden<br />
Märkten der anderen Mitgliedstaaten haben.<br />
1.2 Instrumente der Warenverkehrsfreiheit sind<br />
nach der Konzeption des EGV eine Zollunion und<br />
das Verbot von mengenmäßigen Ein- und Ausfuhrbeschränkungen<br />
zwischen den Mitgliedstaaten. In<br />
Ergänzung hierzu sind alle diskriminierenden nationalen<br />
Steuer- und Abgabenregelungen abzuschaffen,<br />
die nationalen Rechtsvorschriften zunehmend<br />
anzugleichen und eine gemeinsame Handelspolitik<br />
innerhalb des Binnenmarktes zu betreiben.<br />
2. Anwendungsbereich.<br />
2.1 Sachlicher Anwendungsbereich<br />
2.1.1 Waren sind nach Definition des EuGH körperliche<br />
Gegenstände, die einen Geldwert haben und<br />
deshalb Gegenstand von Handelsgeschäften sein<br />
können. Sie sind von Dienstleistungen abzugrenzen,<br />
was zuweilen insbes. im Software- und Medienbe-<br />
Freier Warenverkehr<br />
reich Schwierigkeiten bereiten kann. Indes ist mittlerweile<br />
geklärt, dass die körperlichen Daten- oder<br />
Tonträger als Waren behandelt werden, während die<br />
bloße körperlose Leistung – wenn sie etwa heruntergeladen<br />
wird – eine Dienstleistung darstellt. Ausgenommen<br />
vom Anwendungsbereich sind Waren aus<br />
dem Bereich der Kernenergie, für welche der �Euratom-Vertrag<br />
gilt, und Waffen, Munition, Kriegsmaterial<br />
und sonstige �Dual-Use-Güter, die in einer<br />
Warenliste des Rates gem. Art. 296 EGV aufgeführt<br />
sind (�Nichtverbreitungs- und Abrüstungspolitik).<br />
Für landwirtschaftliche Erzeugnisse gelten primär<br />
die Art. 32 ff. EGV, aber ergänzend auch die Vorschriften<br />
über die Warenverkehrsfreiheit.<br />
2.1.2 Der freie Verkehr wird gem. Art. 23 Abs. 2<br />
EGV für Gemeinschaftswaren, die aus den Mitgliedstaaten<br />
stammen, gewährleistet. Den Waren aus Mitgliedstaaten<br />
sind solche gleichgestellt, die aus assoziiertenDrittstaaten–etwaausdenimAnhangIIzum<br />
EGV aufgeführten oderaus Staaten des EWR – stammen.<br />
Erfasst sind schließlich diejenigen Waren aus<br />
dritten Ländern, die sich in den Mitgliedstaaten im<br />
freien Verkehr befinden, nachdem sie die Einfuhrformalitäten<br />
erfüllt und die vorgeschriebenen Zölle<br />
und Abgaben ohne Rückvergütung entrichtet haben<br />
(Art. 24 EGV).<br />
2.1.3 Die Warenverkehrsfreiheit gilt nur zwischen<br />
den Mitgliedstaaten, so dass stets ein grenzüberschreitender<br />
Bezug erforderlich ist. Wird lediglich<br />
derinländischeWarenverkehrbeeinträchtigt,giltdie<br />
gemeinschaftsrechtliche Freiheit nicht; eine eventuelle<br />
Schlechterstellung gegenüber eingeführten Waren<br />
ist allein an den nationalen Vorschriften zu messen<br />
und kann gegebenenfalls gegen Art. 3 GG verstoßen.<br />
2.2 Persönlicher Anwendungsbereich<br />
2.2.1 Berechtigte der Warenverkehrsfreiheit sind<br />
alle natürlichen und juristischen Personen, die an ihrer<br />
Durchsetzung ein Interesse haben, etwa weil sie<br />
Warenherstellen,vertreiben,kaufenoderverkaufen.<br />
Ihre Staatsangehörigkeit ist ohne Belang, weil diese<br />
Grundfreiheit nur an die Herkunft der Ware, nicht<br />
aberandiemitderWarebefasstenPersonanknüpft.<br />
2.2.2 Verpflichtete der Warenverkehrsfreiheit sind<br />
in erster Linie die Mitgliedstaaten. Zum einen müssen<br />
sie alle Maßnahmen unterlassen, welche den innergemeinschaftlichen<br />
Handel beschränken könnten.<br />
Dabei ist unerheblich, welcher Handlungsform<br />
sie sich bedienen. Daher sind nicht nur beschränken-<br />
347
Freier Warenverkehr<br />
de Gesetze oder sonstige Rechtsakte, sondern auch<br />
Realhandlungen wie etwa eine staatliche Werbekampagne<br />
zugunsten nationaler Produkte verboten.<br />
Zum anderen trifft die Mitgliedstaaten eine aktive<br />
Handlungspflicht zur Beseitigung bestehender Handelshemmnisse.<br />
Private sind dagegen nicht verpflichtet,<br />
die Warenverkehrsfreiheit zu achten, auch<br />
wenn der EuGH eine mittelbare Drittwirkung für die<br />
Personenverkehrsfreiheiten mittlerweile bejaht hat.<br />
AllerdingskanndasVerhaltenPrivaterdemStaatzuzurechnen<br />
sein – z. B. bei staatlicher Finanzierung<br />
oder Beaufsichtigung privater Projekte –, so dass der<br />
Staatdagegenvorgehenmuss.AuchohneeineHandlungszurechnung<br />
kann ein Mitgliedstaat aus Art. 10<br />
EGV gehalten sein, Beeinträchtigungen von privater<br />
Seite zu unterbinden, um die Warenverkehrsfreiheit<br />
zu schützen. Beispielsweise müssen Blockade- und<br />
Boykottaktionengestopptwerden,wenndieDemonstranten<br />
die Schranken der ihnen eingeräumten<br />
Grundrechte überschreiten.<br />
Der Warenverkehrsfreiheit ist darüber hinaus auch<br />
die Gemeinschaft selbst verpflichtet, insbes. beim<br />
Erlass von Rechtsangleichungsrichtlinien gem. Art.<br />
95 EGV.<br />
3. Inhalt der Warenverkehrsfreiheit<br />
3.1 Die Zollunion ist nach Art. 23 EGV Grundlage<br />
der Gemeinschaft. Sie umfasst das Verbot von Einund<br />
Ausfuhrzöllen zwischen den Mitgliedstaaten sowie<br />
die Einführung eines Gemeinsamen Zolltarifs<br />
gegenüber dritten Ländern.<br />
3.2 Über das Verbot von Binnenzöllen anlässlich des<br />
Grenzübertritts hinaus verbietet die steuerliche VorschriftdesArt.90EGVallediskriminierendeninnerstaatlichen<br />
Abgaben auf Waren aus anderen Mitgliedstaaten,<br />
welche höher sind als diejenigen für<br />
vergleichbare inländische Waren. Waren sind vergleichbar,<br />
wenn sie von den Verbrauchern zu ähnlichen<br />
Zwecken oder zur Befriedigung ähnlicher Bedürfnisse<br />
eingesetzt werden oder in gleicher Weise<br />
produziert werden. Ebenfalls verboten sind inländische<br />
Abgaben auf eingeführte Waren, die mittelbar<br />
protektionistische Wirkungen entfalten.<br />
3.3 Der Gemeinsame Zolltarif macht schließlich die<br />
auf Grundlage der Art. 131–134 EGV einheitlich geführte<br />
�Gemeinsame Handelspolitik nach außen erforderlich.<br />
3.4 Die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes<br />
können durch Rechtsangleichungsrichtlinien<br />
nach Maßgabe des Art. 95 EGV unterstützt<br />
348<br />
werden. So ist es möglich, Handelshemmnisse aufgrund<br />
unterschiedlicher technischer Vorschriften in<br />
dem Mitgliedstaaten nach und nach abzubauen.<br />
3.5 Kernstück der Warenverkehrsfreiheit ist indes<br />
das Verbot mengenmäßiger Beschränkungen und<br />
Maßnahmen gleicher Wirkung zwischen Mitgliedstaaten.<br />
Im nicht harmonisierten Bereich sind die<br />
MitgliedstaatenzwarinderGestaltungihrernationalen<br />
Rechtsordnungen frei, sie müssen aber stets die<br />
Freiheit des Warenverkehrs nach Maßgabe der Art.<br />
28 – 31 EGV gewährleisten.<br />
Diese Vorschriften sind unmittelbar geltendes Gemeinschaftsrecht<br />
und gewähren den Unionsbürgern<br />
subjektive Rechte, die sie sowohl vor nationalen GerichtenalsauchvordenGemeinschaftsgerichtengeltend<br />
machen können. Ein nationales Gesetz, das gegen<br />
diese Vorschriften verstößt, ist unanwendbar.<br />
3.5.1 Einfuhrbeschränkungen nach Art. 28 EGV.<br />
Der EGV verbietet alle mengenmäßigen Einfuhrbeschränkungen<br />
und Maßnahmen gleicher Wirkung<br />
zwischen den Mitgliedstaaten. Der erste Teil des<br />
Verbots ist zwischenzeitlich bedeutungslos geworden,<br />
denn Kontingentierungen sind praktisch abgeschafft.<br />
Umso praxisrelevanter sind beschränkende Maßnahmen<br />
gleicher Wirkung wie Einfuhrformalitäten,<br />
Verkehrsverbote, Zulassungsverfahren, Anforderungen<br />
an die Aufmachung, Verpackung, Etikettierung,<br />
Bezeichnungsregelungen, Preisregelungen,<br />
Werberegelungen, Verkaufsmonopole und Konzessionsregelungen.<br />
3.5.1.1EntwicklungundReichweite.DasVerbotvon<br />
Einfuhrbeschränkungen wurde in den Anfangsjahren<br />
der Gemeinschaft – wie bei den anderen Grundfreiheiten<br />
auch – als schlichtes Diskriminierungsverbot<br />
verstanden. So durften Waren aus anderen<br />
Mitgliedstaaten nicht schlechter als nationale Waren<br />
behandelt werden. Diese Sichtweise war allerdings<br />
zu eng, denn eine nationale Regelung kann der Warenverkehrsfreiheit<br />
jede praktische Wirksamkeit<br />
nehmen, selbst wenn sie auf nationale und ausländische<br />
Waren unterschiedslos angewandt wird. Diese<br />
Einsicht bewegte den EuGH im Jahre 1974 zu einer<br />
revolutionären Entscheidung im Fall �Dassonville<br />
(Slg. 1974, 837). Der belgische Großhändler Dassonville<br />
importierte schottischen Whisky über<br />
Frankreich. Für den Vertrieb unter der Bezeichnung<br />
„Scotch Whisky“ verlangte das belgische Gesetz<br />
eine amtliche Herkunftsbescheinigung, welche den
aus Schottland direkt importierten Whiskys ohne<br />
weiteres erteilt wurde. Für aus Frankreich stammenden<br />
Whisky war die Ausstellung dieses Zertifikats<br />
jedoch mit großem Aufwand verbunden. Der EuGH<br />
stellte in seinem Urteil die Gemeinschaftswidrigkeit<br />
des belgischen Gesetzes fest. Mit der Formel: „Jede<br />
Handelsregelung der Mitgliedstaaten, die geeignet<br />
ist,deninnergemeinschaftlichenHandelunmittelbar<br />
oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern,<br />
ist als Maßnahme mit gleicher Wirkung wie<br />
eine mengenmäßige Handelsbeschränkung anzusehen“<br />
weitete der Gerichtshof das von der Warenverkehrsfreiheit<br />
statuierte Diskriminierungsverbot zu<br />
einem allgemeinen Beschränkungsverbot aus. In der<br />
Folgezeit wurden nicht nur „Handelsregelungen“ in<br />
Gesetzesform, sondern Maßnahmen gleich welcher<br />
Art mit tatsächlich oder nur potentiell handelshemmender<br />
Wirkung an Art. 28 und Art. 30 EGV gemessen.AlsGrundregelgalt,dassalleHandelshemmnissetrotzdiskriminierungsfreierAnwendungzunächst<br />
verboten waren und einer europarechtlichen Rechtfertigung<br />
bedurften.<br />
Eine derart umfassende Definition der „Maßnahme<br />
mit gleicher Wirkung wie mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen“<br />
verleitete die Marktteilnehmer zunehmend,<br />
jegliches unliebsame Wirtschaftsgesetz<br />
klageweise an der Warenverkehrsfreiheit messen zu<br />
wollen. Letzten Endes erließ der EuGH im Jahre<br />
1993 ein weiteres wegweisendes Urteil, in welchem<br />
er den aufgrund der Dassonville-Formel zu weit reichenden<br />
Inhalt des Beschränkungsverbots aus Art.<br />
28 EGV einschränkte und weiter präzisierte. Prüfungsgegenstand<br />
des �Keck und Mithouard-Urteils<br />
(Slg. 1993, I-6097) war das französische Verbot,<br />
Waren unter dem Einkaufspreis zu verkaufen. Der<br />
EuGH bestätigte die Gemeinschaftsrechtskonformität<br />
des Gesetzes und entschied, dass bestimmte Verkaufsmodalitäten,<br />
die unterschiedslos sowohl auf<br />
nationale als auch auf eingeführte Waren angewandt<br />
werden, keine Marktbeeinträchtigung darstellen<br />
können. Seitdem werden beeinträchtigende Maßnahmen<br />
in produktbezogene Regelungen einerseits<br />
und vertriebsbezogene Regelungen andererseits unterteilt.<br />
Produktbezogene Vorschriften regeln die<br />
Beschaffenheit der Ware als solche, indem sie an deren<br />
Herstellung, Zusammensetzung, Bezeichnung,<br />
Abmessung,Form,Gewicht,EtikettierungoderVerpackung<br />
bestimmte Anforderungen stellen. Sie gelten<br />
als Beschränkungen im Sinne des Art. 28 EGV,<br />
Freier Warenverkehr<br />
selbstwennsiediskriminierungsfreiangewandtwerden.<br />
Dagegen betreffen vertriebsbezogene Vorschriften<br />
wie Ladenöffnungszeiten, Verkaufsvorbehalte<br />
für Tabakwarenhändler, Beschränkungen der<br />
Fernsehwerbung für Alkohol und Spielzeug, Wettbewerbsbestimmungen<br />
über Preisvergleiche oder<br />
die Apothekenpflichtigkeit nicht die Ware als solche,<br />
sondern nur deren Absatzmodalitäten. Diese<br />
stellen grundsätzlich keine Beschränkung dar, sofern<br />
sie keine diskriminierende Wirkung entfalten.<br />
Die Abgrenzung kann zuweilen Schwierigkeiten bereiten,<br />
insbes. wenn eine vertriebsbezogene Werberegelung<br />
zugleich produktbezogen ist, weil die Werbung<br />
etwa auf der Verpackung der Ware angebracht<br />
ist.BekanntesBeispielistderMars-Riegel-Fall(Slg.<br />
1995, I-1923). Im Rahmen einer europaweiten Aktion<br />
wurden aus Frankreich stammende Marsverpackungen<br />
mit dem Aufdruck „+10 %“ nach Deutschland<br />
eingebracht. Der Aufdruck war allerdings größer<br />
als 10 % der Verpackung und verstieß daher gegen<br />
das deutsche Verbot irreführender Werbung aus<br />
§ 3 UWG. Dieses deutsche Gesetz wurde vom EuGH<br />
nicht als lediglich vertriebsbezogen, sondern als produktbezogen<br />
und damit als Maßnahme gleicher Wirkung<br />
im Sinne des Art. 28 EGV qualifiziert, weil der<br />
Importeur nur mit einer speziell für den deutschen<br />
Markt gefertigten Verpackung – die mit zusätzlichen<br />
Kosten verbunden wäre – zu diesem Markt Zugang<br />
erhalten hätte.<br />
Allgemein kann festgehalten werden, dass eine nationale<br />
Vorschrift unter Art. 28 EGV fällt, wenn sie<br />
den Marktzugang importierter Waren erschwert.<br />
Dies hat der EuGH zum entscheidenden Kriterium<br />
erwählt, als er das deutsche Verbot des Apothekenversandhandels<br />
als beschränkende Maßnahme qualifizierte.<br />
3.5.1.2 Rechtfertigung von Einfuhrbeschränkungen.<br />
Handelsbeschränkungen zwischen Mitgliedstaaten<br />
sind nicht per se verboten, vielmehr können sie bei<br />
entsprechender Rechtfertigung zulässig sein. Der<br />
EGV hält mit seinem Art. 30 einen Rechtfertigungstatbestand<br />
bereit. Danach sind Handelshemmnisse<br />
„aus Gründen der öffentlichen Sittlichkeit, Ordnung<br />
und Sicherheit, zum Schutze der Gesundheit und des<br />
Lebens von Menschen, Tieren oder Pflanzen, des nationalenKulturgutsvonkünstlerischem,geschichtlichem<br />
oder archäologischem Wert oder des gewerblichen<br />
und kommerziellen Eigentums“ erlaubt, sofern<br />
sie keine willkürliche Diskriminierung oder ver-<br />
349
Freier Warenverkehr<br />
schleierte Beschränkung des innergemeinschaftlichen<br />
Handels darstellen. Der EuGH legt diese Vorschrift<br />
sehr restriktiv aus, um der Warenverkehrsfreiheit<br />
zur größtmöglichen Wirksamkeit zu verhelfen.<br />
In diesem Sinne fasst das Gericht den Grund der<br />
„öffentlichen Ordnung und Sicherheit“ nicht – wie<br />
durchaus denkbar – als Generalklausel auf und versperrt<br />
sich damit die Möglichkeit einer flexiblen<br />
Rechtfertigungsrechtsprechung.<br />
Allerdings schränkt diese Handhabung angesichts<br />
der umfassenden Dassonville-Formel die Gestaltungsspielräume<br />
nationaler Gesetzgeber übermäßig<br />
ein. Daher entwickelte der EuGH in seiner �Cassis-de-Dijon-Entscheidung<br />
(Slg. 1979, 649) einen<br />
neuen ungeschriebenen Rechtfertigungstatbestand:<br />
die zwingenden Erfordernisse des Allgemeinwohls<br />
als immanente Schranken der Warenverkehrsfreiheit.<br />
Soweit der Sachverhalt nicht durch gemeinschaftsrechtlicheVorschriftengeregeltist,kanneine<br />
nationale beschränkende Maßnahme nach der FormeldesEuGHgerechtfertigtsein,wennsiezurErreichung<br />
zwingender Gründe des Allgemeinwohls geeignet<br />
und erforderlich ist und nicht in diskriminierender<br />
Weise angewandt wird (so deutlich in Slg.<br />
1995 I 4165 – Gebhard). Solche zwingende Gründe<br />
sind u. a. der Umwelt- und Verbraucherschutz, die<br />
Lauterkeit des Handelsverkehrs und die Erfordernisse<br />
einer wirksamen steuerlichen Kontrolle.<br />
Eine beschränkende Maßnahme genügt dem Kriterium<br />
der Erforderlichkeit, wenn keine weniger einschneidende<br />
Möglichkeit besteht, den zwingenden<br />
GrunddesAllgemeinwohlszuerreichen.Vordiesem<br />
Hintergrund können staatliche Verkehrsverbote für<br />
bestimmte Produkte nicht aus zwingenden Gründen<br />
des Verbraucherschutzes gerechtfertigt sein, da der<br />
„mündige Verbraucher“ sich anhand ausreichender<br />
Etikettierung der Produkte zu informieren und eine<br />
autonome Entscheidung über den Erwerb des Produkts<br />
zu treffen vermag. Beispielsweise ist das Reinheitsgebot<br />
für Bier kein zwingendes Erfordernis des<br />
Verbraucherschutzes, denn der Verbraucher kann<br />
sich über die Inhaltsstoffe durch Lektüre des Etiketts<br />
informieren (Slg. 1987, 1227).<br />
3.5.2 Ausfuhrbeschränkungen nach Art. 29 EGV.<br />
Ein funktionierender Binnenmarkt setzt nicht nur die<br />
freie Einfuhr von Waren aus anderen Mitgliedstaaten,<br />
sondern in gleicher Weise auch deren freie Ausführbarkeit<br />
voraus. Daher verbietet Art. 29 EGV parallel<br />
zu Art. 28 mengenmäßige Ausfuhrbeschrän-<br />
350<br />
kungen sowie Maßnahmen gleicher Wirkung zwischen<br />
den Mitgliedstaaten.<br />
Eine mengenmäßige Ausfuhrbeschränkung ist möglich<br />
durch Verweigerung einer Ausfuhrgenehmigung<br />
oder durch die gesetzliche Verpflichtung, die<br />
WareaneineninländischenAbnehmerzuverkaufen.<br />
Maßnahmen gleicher Wirkung wie Ausfuhrbeschränkungen<br />
sind in Gestalt von Ausfuhrformalitäten,<br />
Qualitätskontrollen für Exportware, Mitgliedschaftspflichten<br />
in bestimmten berufsständischen<br />
Organisationen oder dem Abfüllgebot im Inland für<br />
Exportwein anzutreffen. Das Beschränkungsverbot<br />
aus Art. 29 EGV ist nach Ansicht des EuGH allerdings<br />
nicht so weit zu fassen wie im Falle von Einfuhrbeschränkungen,<br />
für welche die Dassonville-Formel<br />
gilt. Unzulässig sind nur solche nationale<br />
Maßnahmen, die „spezifische Beschränkungen der<br />
Ausfuhrströme bezwecken oder bewirken und damit<br />
unterschiedliche Bedingungen für den Handel innerhalb<br />
eines Staates und seinen Außenhandel schaffen“<br />
(EuGH Slg. 1979, 3409). Das Ausfuhrverbot<br />
soll lediglich verhindern, dass die nationale Produktion<br />
oder der nationale Markt eines Staates zum<br />
Nachteil der Produktion oder des Handels anderer<br />
Mitgliedstaaten einen besonderen Vorteil erlangt.<br />
Durch die einschränkende Auslegung des Verbots<br />
aus Art. 29 EGV wird vermieden, dass nationale Regelungen<br />
von Produktionsbedingungen, die mit einer<br />
Steigerung der Herstellungskosten verbunden<br />
sind und demzufolge die Wettbewerbsfähigkeit auf<br />
dem Markt eines anderen Mitgliedstaats potentiell<br />
beschränken, gemeinschaftsrechtlich zu rechtfertigen<br />
sind. Dies würde über das Ziel des EGV hinaus<br />
gehen, welcher vor allem die nationalen Märkte für<br />
Waren aus anderen Mitgliedstaaten öffnen will.<br />
Während ein Mitgliedstaat den Zugang zu seinem<br />
Markt nicht verweigern darf, wenn die Importware<br />
die Voraussetzungen für den Marktzugang im Herkunftsland<br />
erfüllt, kann er an die einheimische Produktion<br />
strengere Anforderungen stellen, da hier der<br />
grenzüberschreitende Bezug typischerweise weniger<br />
stark ausgeprägt ist.<br />
Die Rechtfertigung von Ausfuhrbeschränkungen ist<br />
unter den Voraussetzungen des Art. 30 EGV möglich.<br />
Ob auch die zwingenden Gründen des Gemeinwohls<br />
im Sinne der Cassis-de-Dijon-Rechtsprechung<br />
herangezogen werden können, ist vom EuGH<br />
noch nicht entschieden.<br />
4. Stand der Integration. Während die Zollunion
vollständig verwirklicht ist, sind im Bereich der Einund<br />
Ausfuhrbeschränkungen immer noch Defizite<br />
zu verzeichnen, weil die unterschiedlichen nationalen<br />
Rechtsvorschriften über Produktion und Vermarktung<br />
der Waren regelmäßig handelshemmende<br />
Wirkung haben können. In diesem Zusammenhang<br />
sindbeiderUmsetzungvonAngleichungsrichtlinien<br />
nochleichteDefizitezuverzeichnen.Fortschritteder<br />
Integration, insbes. durch die Rechtsprechung des<br />
EuGH, sind noch möglich und durchaus wünschenswert.<br />
So kann diskutiert werden, ob das deutsche<br />
Pfandsystem für Getränkeverpackungen gegen Art.<br />
28 EGV verstößt.<br />
5. Bedeutung der Warenverkehrsfreiheit. Die Warenverkehrsfreiheit<br />
ist ein Grundpfeiler der Europäischen<br />
Integrationsbewegung. Zwar hat sich die ursprüngliche<br />
EWG über eine bloße Wirtschaftsgemeinschaft<br />
hinaus zum Staatenverbund der Europäischen<br />
Union mit Unionsbürgerschaft nach Art. 17<br />
EGV entwickelt, was eine immer stärkere Ausrichtung<br />
der Gemeinschaft auf die Personen zur Folge<br />
hat; die Menschen werden nicht mehr nur über ihre<br />
wirtschaftliche Tätigkeit als Marktbürger definiert,<br />
sondern sind auch als Unionsbürger Subjekt der Gemeinschaftstätigkeit.<br />
Der Warenverkehrsfreiheit kommt aber das Verdienst<br />
zu, Motor der europäischen Integration zu<br />
sein. Dies zeigt sich schon daran, dass die ersten rein<br />
politischen Einigungsversuche der 1950er Jahre<br />
(�Europäische Verteidigungsgemeinschaft und<br />
�Europäische Politische Gemeinschaft) scheiterten<br />
und nur wirtschaftliche Gemeinschaften in Form der<br />
EGKS und der EWG möglich waren. Innerhalb der<br />
Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft wurde dem<br />
freien Warenverkehr die Hauptrolle zugewiesen;<br />
diesem wird im Dritten Teil des EGV (Politiken der<br />
Gemeinschaften) der erste Titel mit detaillierten Regelungen<br />
gewidmet, während die anderen Grundfreiheiten<br />
unter Titel drei zusammengefasst behandelt<br />
werden.<br />
Auch in der Rechtsprechung des EuGH spielt die<br />
Warenverkehrsfreiheit die Vorreiterrolle: Sie wurde<br />
als erste Grundfreiheit von einem schlichten Diskriminierungsverbot<br />
zu einem allgemeinen Beschränkungsverbot<br />
ausgeweitet; in Parallele hierzu konnten<br />
auch die anderen Freiheiten zu umfassenden Beschränkungsverboten<br />
ausgebaut werden.<br />
Im Einklang mit dem funktionalistischen Ansatz,<br />
wonach die wirtschaftliche Integration zu einem be-<br />
Freihandelszone<br />
stimmten Zeitpunkt auch eine politische Integration<br />
nach sich zieht (spill-over-Effekt), sind von der Fortentwicklung<br />
der Warenverkehrsfreiheit weitere Impulse<br />
für die Personenverkehrsfreiheiten zu erwarten,<br />
die eine endgültige politische Integration <strong>Europa</strong>sunterstützenkönnten.<br />
J. I.<br />
Literatur<br />
Becker, U.: Von „Dassonville“ über „Cassis“ zu „Keck“ – Der<br />
Begriff der Maßnahmen gleicher Wirkung in Art. 30 EGV.<br />
EuR 1994, 162 ff.<br />
Geiger, R.: EUV/EGV, Art. 23 - 31 EGV. München 2004<br />
Freihandelszone. Zusammenschluss von mindestens<br />
zwei Staaten oder Teilen des Staatsgebiets zu<br />
einem Raum, in dem Zölle und andere, den Handel<br />
zwischen den Partnern beschränkende Maßnahmen<br />
beseitigt werden. Die Mitglieder einer FreihandelszonebehalteneinesubstantielleAutonomieüberihre<br />
Handelspolitik. Dies äußert sich insbes. in einem<br />
fortbestehenden, eigenständigen Zolltarif jedes<br />
Mitglieds gegenüber Drittländern. Daneben bestehen<br />
die jeweiligen Präferenzregelungen und handelspolitischen<br />
Schutzmaßnahmen fort.<br />
Die in einer Freihandelszone notwendige Differenzierung<br />
zwischen Gütern aus den Mitgliedstaaten<br />
und solchen aus Drittstaaten erfordert ein System zur<br />
Ursprungsbestimmung (�Ursprungslandsprinzip).<br />
AufGrundvonUrsprungsregelnkannbestimmtwerden,<br />
welche Güter dem Regime der Freihandelszone<br />
und welche den autonomen handelspolitischen Regelungen<br />
der Mitglieder unterliegen. Auf Grund der<br />
in einer Freihandelszone notwendigen Kontrollen<br />
durch die Zollbehörden unterliegt der Güterverkehr<br />
an den Binnengrenzen der Freihandelszone weiterhin<br />
spürbaren Beschränkungen.<br />
Eine Freihandelszone wird in der Regel durch einen<br />
völkerrechtlichen Vertrag der beteiligten Staaten im<br />
bilateralen oder multilateralen Verhältnis errichtet.<br />
In der gegenwärtigen Welthandelsordnung, die<br />
durch die nahezu universelle Rechtsordnung der<br />
�WTO geprägt wird, können Freihandelszonen von<br />
WTO-Mitgliedern nur unter bestimmten verfahrensund<br />
materiellrechtlichen Bedingungen geschaffen<br />
werden. Artikel XXIV GATT 1994 (vgl. auch Art. 5<br />
GATS) sieht vor, dass die Binnenliberalisierung in<br />
der Freihandelszone grundsätzlich für „annähernd<br />
den gesamten Handel“ erfolgen muss, und dass die<br />
Zölle und Handelsvorschriften für den Handel mit<br />
Drittstaatennichthöherodereinschränkenderalsvor<br />
deren Errichtung sein dürfen. Mit dieser Regelung<br />
351
Freizügigkeit<br />
soll die Einrichtung von Präferenzzonen für einzelne<br />
Waren oder Warengruppen sowie eine bloße Zollsenkung<br />
zwischen den beteiligten Staaten verhindert<br />
werden, weil dadurch das Meistbegünstigungsgebot<br />
(Art. I:1 GATT 1994) nicht rechtfertigbar verletzt<br />
würde.<br />
Die Freihandelszone steht für ein organisatorisch<br />
verfestigtes Konzept der wirtschaftlichen Integration.<br />
Sie ist von der qualitativ noch weiter reichenden<br />
�Zollunion zu unterscheiden, bei der die kooperierenden<br />
Volkswirtschaften auch gegenüber Drittstaaten<br />
einen gemeinsamen Zolltarif einführen. Mit der<br />
Errichtung einer Freihandelszone werden wirtschaftliche<br />
und politische Ziele verfolgt. Der primäre<br />
Vorteil beruht auf der Erkenntnis, dass der Abbau<br />
von Zöllen und anderen handelsbeschränkenden<br />
Maßnahmenzupositiven,wohlstandsförderndenEffekten<br />
in den beteiligten Volkswirtschaften führt.<br />
Auf der Grundlage regionaler Handelsabkommen<br />
werden Freihandelszonen auch als Instrument der<br />
Entwicklungspolitik eingesetzt.<br />
Bedeutende Freihandelszonen sind die Europäische<br />
Freihandelszone (EFTA), der Europäische Wirtschaftsraum<br />
(EWR) und die Nordamerikanische<br />
Freihandelszone (NAFTA). Regionale Wirtschaftsblöcke,<br />
die ihrerseits Freihandelszonen oder Zollunionen<br />
– wie die EU – sind, bilden mit anderen Staaten<br />
und Staatengruppen Freihandelszonen (Abkommen<br />
von �Cotonou). Daneben existieren Mischformen<br />
wie etwa der lateinamerikanische MER-<br />
COSUR, der bereits Elemente einer Zollunion aufweist.<br />
Zahlreiche Freihandelszonen können die handelspolitischen<br />
Erwartungen in der Praxis nicht erfüllen,<br />
weil die administrative Organisation nicht<br />
funktioniert oder die jeweiligen Interessen der Mitglieder<br />
etwa im Hinblick auf umfangreiche Ausnahmelisten<br />
und eine große Zahl sensibler Waren die<br />
ökonomischen Vorteile des teilliberalisierten Handels<br />
verwässern. Die seit den 1990er Jahren stark ansteigende<br />
Zahl regionaler Handelsabkommen (312<br />
bei der WTO notifizierte Abkommen, von denen 170<br />
in Kraft sind; Stand 1. 1. 2005) hat eine Diskussion<br />
über die Zukunft der institutionalisierten wirtschaftlichenIntegrationinderWelthandelsordnungausgelöst.<br />
F. Sch.<br />
Literatur:<br />
Crawford, J.-A./Fiorentino, R. V.: The Changing Landscape of<br />
Regional Trade Agreements. WTO Discussion Paper Nr. 8.<br />
Genf 2005<br />
352<br />
Pethke, R.: Die Nordamerikanische Freihandelszone im<br />
Vergleich mit dem Europäischen Wirtschaftsraum.<br />
Heidelberg, 2004<br />
Sampson, G. P/Woolcock, S.: Regionalism, multilateralism,<br />
and economic integration. Tokyo 2003<br />
Internet: WTO, Portal zu Regionalabkommen:<br />
www.wto.org/english/tratop_e/region_e/region_e.htm<br />
Freizügigkeit in der EU. Unter Freizügigkeit sind<br />
all jene Rechte und Freiheiten zusammengefasst, die<br />
es EU-Staatsangehörigen – ob als Bürger/in, als Arbeitnehmer/in<br />
oder als Dienstleister/in – ermöglichen,<br />
im Binnenmarkt dort, wo sie wollen, zu wohnen,<br />
sich politisch zu beteiligen, zu arbeiten, zu studieren,sichniederzulassenoderihre/seineDienstleistungen<br />
anzubieten.<br />
Die als Freizügigkeiten oder Freiheiten bezeichneten<br />
Grundsäulen der Gemeinschaft sind:<br />
– Freiheit des Personenverkehrs (Art. 3 Abs. d und<br />
Art. 18 Abs. 1 EGV). Jede EU-Bürgerin und jeder<br />
EU-Bürger darf sich innerhalb der EU-Grenzen frei<br />
bewegen und aufhalten. Davon betroffen sind allerdings<br />
nicht etwaige Grenzkontrollen, die im �Schengener<br />
Abkommen separat geregelt sind.<br />
– Freizügigkeit der Arbeitnehmer/in (Art. 39 – 42<br />
EGV). Jede und jeder EU-Staatsangehörige kann<br />
sich in einem anderen EU-Mitgliedsland aufhalten,<br />
um eine Arbeit zu suchen bzw. um zu arbeiten.<br />
– Niederlassungsfreiheit (Art. 43 – 48 EGV) bedeutet,<br />
dass jede EU-Bürgerin und jeder EU-Bürger in<br />
einem anderen Mitgliedstaat eine dauernde selbständige<br />
Tätigkeit zu den gleichen Bedingungen wie die<br />
Inländer/innen ausüben darf.<br />
– FreiheitderDienstleistung(Art.49–Art.55EGV).<br />
Jeder darf innerhalb der gesamten EU Dienstleistungen<br />
wie im eigenen Land anbieten und durchführen.<br />
Ebenso dürfen EU-Bürger/innen Dienstleistungen<br />
aus einem anderen EU-Land erwerben.<br />
– Unionsbürgerschaft (Art. 17 – Art. 22 EGV). Neben<br />
der Freiheit des Personenverkehrs räumt die<br />
Unionsbürgerschaft allen EU-Staatsangehörigen<br />
das aktive und passive Wahlrecht auf kommunaler<br />
und europäischer Ebene ein sowie den konsularischen<br />
Schutz aller EU-Mitgliedstaaten und das �Petitionsrecht.<br />
Um diese Freiheiten zu realisieren, hat die EU im<br />
Laufe der letzten Jahrzehnte Richtlinien und Verordnungenerlassen,diedieAnspruchs-undSchutzrechte<br />
konkretisieren und bestimmte Bereichsausnahmen<br />
gewähren. Beschränkungen der Rechte sind nur
gestattet, wenn die öffentliche Ordnung, zwingende<br />
Gründe des Allgemeininteresses, die Sicherheit oder<br />
die Gesundheit dies rechtfertigen, dabei sind als<br />
Schranken das �Diskriminierungsverbot aufgrund<br />
der Staatsangehörigkeit und das �Verhältnismäßigkeitsprinzip<br />
zu beachten. Der Europäische �Gerichtshof<br />
stellte fest, dass Beschränkungen nur „in<br />
EinzelfällenundmitausreichenderBegründung“angewendet<br />
werden dürfen. Das heißt, dass die Mitgliedstaaten<br />
in jedem Einzelfall die genauen Gründe<br />
für die Anwendung dieser Beschränkungen angeben<br />
müssen. Weiterhin dürfen die aus Gründen der öffentlichen<br />
Ordnung oder Sicherheit getroffenen<br />
Maßnahmen ausschließlich nach Maßgabe des persönlichen<br />
Verhaltens des Betreffenden erfolgen und<br />
setzen voraus, dass eine gegenwärtige und schwerwiegendeGefahrfüreinedergrundlegendenInteressen<br />
der Gesellschaft besteht. Ein Mitgliedstaat darf<br />
keine Beschränkungen wegen wirtschaftlicher Zwecke<br />
oder ausschließlich aufgrund einer zurückliegenden<br />
strafrechtlichen Verurteilung vornehmen.<br />
Um bestimmte Leitlinien zur richtigen Anwendung<br />
undAuslegungderRechtsvorschriftenindiesemBereich<br />
zur Verfügung zu stellen, nahm die Europäische<br />
Kommission unter Berücksichtigung der Lehren,diesieausdenzahlreichenBeschwerdenvonBetroffenen<br />
zog, im Juli 1999 eine Mitteilung über die<br />
öffentliche Ordnung an.<br />
In den Anfängen der EWG konzentrierten sich die<br />
europäischen Regelungen auf die Abschaffung jeder<br />
auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen<br />
Behandlung in Bezug auf Beschäftigung,<br />
Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen<br />
sowie auf die Rechtsstellung der Familienangehörigen<br />
(VO 1612/68, ABl. L 257/1968). Erst mit den<br />
großen Integrationsschritten und der Verwirklichung<br />
des Binnenmarktes Ende der 1980er und Anfang<br />
der 1990er Jahre rückten auch alle anderen<br />
Bürger/innen und vor allem die nicht erwerbstätigen<br />
EU-Bürgerinnen und EU-Bürger wie Studierende,<br />
Rentenempfänger/innen und deren Interessen in das<br />
Blickfeld der EU-Regelungen (RL 90/364 über Aufenthaltsrecht;<br />
RL 90/365 über Aufenthaltsrecht der<br />
Selbständigen und Rentner; RL 93/96 über Aufenthaltsrecht<br />
der Studenten; alle zusammen mit der RL<br />
73/148 über Niederlassungsfreiheit vereint in der RL<br />
2004/38, ABl. L 158/2004 für alle Unionsbürger und<br />
ihre Familienangehörigen). Neben der gegenseitigen<br />
Anerkennung von vergleichbaren Hochschul-<br />
Freizügigkeit<br />
und Berufsabschlüsse weitete die EU das AufenthaltsrechtaufalleEU-Bürger/innenausunterderBedingung,<br />
dass sie ihren Lebensunterhalt selbst<br />
bestreiten können.<br />
Allein die primär- und sekundärrechtlichen Bestimmungen<br />
hätten jedoch nicht ausgereicht, um dem –<br />
den Rechten impliziten – Anspruch auf ein �<strong>Europa</strong><br />
der Bürger/innen zu genügen.<br />
Die Staaten sind versucht, diese Rechte und Freiheiten<br />
zum Schutz und im Interesse der eigenen Bevölkerung<br />
und Wirtschaft zu unterwandern. Gerade der<br />
Europäische Gerichtshof hat mit seiner RechtsprechungmaßgeblichanderRealisierungeines<strong>Europa</strong>s<br />
ohne Grenzen im Sinne der EU-Bürger/innen gewirkt.<br />
Mit dem �Bosman-Urteil griff er sogar sensible<br />
Bereiche wie den „Fußball“ an. Seitdem gelten<br />
Fußballspieler aus einem anderen EU-Land nicht<br />
mehr als Ausländer. Auch Berufsstände mit traditionellen<br />
Standesordnungen wie Anwälte und Handwerker<br />
müssen ihre Arbeitsfelder nun mit europäischen<br />
Kolleginnen und Kollegen teilen, wenn auch<br />
unterderBedingungvonMindestanforderungenund<br />
Regelungen über Befähigungsnachweise.<br />
Für Beitrittsländer werden meist Übergangsfristen<br />
für die Arbeitnehmerfreizügigkeit vereinbart, die im<br />
Fall von acht der zehn mittel- und osteuropäischen<br />
Staaten (2004) auf max. sieben Jahre festgelegt sind,<br />
danach sind sie vollkommen gleichberechtigte Mitgliedsländer.<br />
Die Übergangsregelung gilt nicht für<br />
Zypern und Malta. Die neuen Mitgliedstaaten dürfen<br />
im Gegenzug ebenfalls Einschränkungen für Arbeitnehmende<br />
aus den anderen Mitgliedstaaten vorsehen,<br />
die derartige Maßnahmen eingeführt haben.<br />
Hintergrund für die Übergangsregelungen ist vor allem<br />
die Sorge, speziell auch Deutschlands, vor Sozialdumping<br />
auf dem Arbeits- und Dienstleistungsmarkt.<br />
Herausforderung: Die unterschiedlichen Lohn- und<br />
Sozialversicherungssysteme sorgen grundsätzlich<br />
im Bereich der Dienstleistungsfreiheit für Konflikte.<br />
Strittig ist hier vor allem das �Herkunftslandprinzip,<br />
wonach Dienstleistungen künftig nur noch Bestimmungen<br />
ihres Herkunftslandes unterliegen statt derjenigen<br />
der Bestimmungsländer. Das HerkunftslandprinzipwürdenachMeinungderKritikerdieArbeitsmarktsituation<br />
verschärfen (Stichwort: Dumpinglöhne)<br />
und den Verbraucherschutz verschlechtern<br />
(mangelnder Rechtsschutz). Wichtig sei es daher,<br />
Sicherungen für unlauteren Wettbewerb (wir-<br />
353
Fremdenverkehr<br />
kungsvolle Berufsaufsicht) und Verbraucherschutz<br />
(Qualitätsstandards) bei den rechtlichen Bestimmungen<br />
einzufügen.<br />
Resümee: Indem die Bürger/innen ihr Recht auf Freizügigkeit<br />
in der Europäischen Union wahrnehmen<br />
und einfordern, sind sie aktiv an der Schaffung eines<br />
europäischen Binnenmarktes beteiligt. Durch die<br />
�Unionsbürgerschaft, die den EU-Bürgerinnen und<br />
-Bürgern bei kommunalen und europäischen Wahlen<br />
das passive und aktive Wahlrecht, den konsularischen<br />
Schutz und das Petitionsrecht einräumt, hat<br />
das „<strong>Europa</strong> des Marktes“ eine qualitative Steigerung<br />
in Richtung „<strong>Europa</strong> des Bürgers/der Bürgerin“<br />
erfahren. Die Menschen werden nicht mehr nur als<br />
produktive Marktteilnehmende wahrgenommen,<br />
sondern als europäische Bürgerinnen und Bürger,<br />
ausgestattet mit besonderen Rechten. Das heißt, die<br />
Realisierung der Freizügigkeit und Unionsbürgerschaft<br />
wirkt positiv auf die vielerorts gewünschte europäische<br />
�Identitätsbildung.<br />
Es gibt jedoch noch immer praktische, administrative<br />
oder rechtliche Hindernisse, die die Menschen daran<br />
hindern, die Vorteile und Möglichkeiten des europäischen<br />
Binnenmarktes und der geographischen<br />
Mobilität voll zu nutzen. Diese gilt es mit Hilfe der<br />
europäischen Rechtsetzung zu überwinden. Auch<br />
die unterschiedlichen Sozialversicherungs- und<br />
Lohnsysteme innerhalb der EU sollten im Blick der<br />
EU-Regierungen stehen, um die Krise auf dem europäischen<br />
Beschäftigungsmarkt zu bewältigen und<br />
Sozialdumpingzuvermeiden. G. C. G.<br />
Internet: http://europa.eu.int/youreurope/index_de.html<br />
Fremdenverkehr. Der Fremdenverkehr hat als<br />
Wirtschaftszweig für die Ziele der Europäischen<br />
Union besondere Bedeutung. Die Bedeutung des<br />
Tourismus für das Volkseinkommen ist gerade in<br />
den wirtschaftlich benachteiligten Gebieten besonders<br />
hoch, da diese zumeist auch die touristisch interessantesten<br />
Gebiete sind (Küstenregionen, Bergregionen).<br />
Eine Rechtsgrundlage für Aktivitäten der EU im Bereich<br />
der Fremdenverkehrspolitik war bisher insbes.<br />
aus der allgemeinen Ermächtigungsklausel (Art. 308<br />
EU-Vertrag) hergeleitet worden. Der �Verfassungsvertrag<br />
2004 erwähnt den Tourismus in Art. I-17 lit.<br />
d) als Bereich, in dem die EU unterstützend, koordinierend<br />
und ergänzend zu den Mitgliedstaaten tätig<br />
werden kann.<br />
354<br />
Trotzdem haben natürlich verschiedene Politiken<br />
der EU Auswirkungen auf den Tourismus. So ist die<br />
Dienstleistungsfreiheit (Art. 49 EG-Vertrag) durch<br />
Beschränkungen bspw. von Reiseführern tangiert,<br />
wie der EuGH in einem Fall festgestellt hat, in dem<br />
ein Staat bestimmte, dass nur einheimische Reiseführer<br />
zugelassen werden.<br />
Nicht zuletzt fördert auch die Verbraucherpolitik der<br />
EU mit etwa 30 Richtlinien, die den Schutz der Verbraucher<br />
vor allem oder auch im Fremdenverkehr<br />
zum Inhalt haben, den Tourismus in der EU. Zu nennen<br />
sind hier vor allem die „Pauschalreise-Richtlinie“<br />
von 1990 (90/314, ABl. L 158/1990), die den<br />
Verbraucherschutz des Reisenden und den Schutz<br />
seines eingezahlten Reisepreises regelt, und die<br />
Richtlinie zum Schutz des Reisenden vor Überbuchung<br />
von Flugzeugen von 1991 (295/91, ABl. L<br />
36/1991), die im Februar 2005 durch eine neue Verordnung<br />
verschärft wurde. Gegen die neue Regelung<br />
läuft ein Verfahren der Flugverkehrsverbände vor<br />
dem EuGH. Auch die Time-sharing-Richtlinie von<br />
1994 (94/47, ABl. L 280/1994), die die vertraglichen<br />
Regelungen beim Kauf von zeitlich begrenztem<br />
Wohnungsteileigentum regelt, kann diesem Bereich<br />
zugerechnet werden. Auch im Rahmen der UmweltpolitikwerdenZieleangestrebt,diesichaufdenTourismusauswirken,sovorallemimGewässerschutz.<br />
Insbesondere im Zusammenhang mit der Vollendung<br />
des Binnenmarkts wurde die wirtschaftliche<br />
und soziale Bedeutung des Fremdenverkehrsgewerbes<br />
im Rahmen der �Kohäsionspolitik und bei der<br />
Schaffung neuer Arbeitsplätze hervorgehoben, so<br />
dass seit 1990 Aktionsprogramme und weitere<br />
Mehrjahresprogramme für den Tourismus aufgelegt<br />
wurden, die der Förderung bestimmter Ziele im Bereich<br />
des Fremdenverkehrs galten.<br />
Schwerpunkte waren u. a. umweltverträglicher Tourismus,<br />
Kulturtourismus und Ausbildung im Bereich<br />
des Tourismus; schließlich standen besonders die<br />
Aspekte Koordination und Kooperation der europäischen<br />
Fremdenverkehrswirtschaft im Mittelpunkt,<br />
um diesen Wirtschaftszweig effektiver und damit attraktiver<br />
auch für Touristen aus Drittländern zu gestalten.<br />
Auch allgemeine Förderprogramme fördern<br />
die Tourismus-Branche. Zwar gibt es derzeit kein<br />
speziellesAktionsprogramm,dochhatdieEU-Kommission<br />
einen Leitfaden veröffentlicht, der Fördermöglichkeiten<br />
für den Tourismussektor in allgemeinen<br />
Förderprogrammen auflistet.
In einer Mitteilung vom November 2003 (KOM<br />
2003/516 endg.) initiierte die Kommission eine<br />
Kampagne zur Förderung der wirtschaftlichen, sozialen<br />
und ökologischen Nachhaltigkeit des europäischen<br />
Tourismus. Sie will erreichen, dass die verschiedenen<br />
politischen Bereiche und Maßnahmen<br />
der Gemeinschaft, die sich auf die �Nachhaltigkeit<br />
des Fremdenverkehrs auswirken, aufeinander abgestimmt<br />
werden.<br />
Unterstützung für die Vermarktung europäischer<br />
Tourismusziele will die Kommission durch den Aufbau<br />
eines gemeinsamen europäischen Internetportals<br />
stärken. Damit soll für den Touristen deutlich gemacht<br />
werden, dass <strong>Europa</strong> ein einheitlicher touristischerRaumist.<br />
M. K.<br />
Frühwarnsystem, politisches Frühwarnsystem<br />
�Subsidiarität<br />
Führerschein, europäischer Führerschein. Die<br />
„Zweite Führerschein-Richtlinie“ vom 29. 7. 1991<br />
(91/439, ABl. L 237/1991) hat den Grundsatz der gegenseitigen<br />
Anerkennung der von den Mitgliedstaaten<br />
ausgestellten Führerscheine eingeführt. Zuvor<br />
galt die von der „Ersten Führerscheinrichtlinie“ aus<br />
dem Jahr 1980 (80/1263, ABl. L 375/1980) eingeführte<br />
Pflicht, beim Umzug in einen anderen Mitgliedstaat<br />
den Führerschein innerhalb eines Jahres<br />
umzutauschen.<br />
Durch die Richtlinie 91/439 wurden abweichende<br />
nationale Bedingungen für die Erteilung der Fahrerlaubnis<br />
harmonisiert, so die Fahrzeugklassen, das<br />
Mindestalter, die Fahrprüfungen, die Anforderungen<br />
an körperliche und geistige Tauglichkeit. Außerdem<br />
wurden die Bestimmungen zum EG-Muster des<br />
Führerscheins (Farbe rosa, Größe 106 mm hoch und<br />
222 mm breit, Seitenzahl 6 usw.) neu gesetzt.<br />
Die neuen EU-Führerscheinklassen, in Deutschland<br />
gültig seit 1. 1. 1999, sind eingeteilt in die Motorradklassen<br />
A, A1 und M (für Mofas ist nur eine Prüfbescheinigung<br />
nötig), die Pkw-Klassen B und BE, die<br />
Lkw-Klassen C, C1, CE und C1E, die Busklassen D,<br />
D1, DE und D1E, die Traktorklassen L und T sowie<br />
seit 1. 2. 2005 die Klasse S (ab 16 Jahren) für dreirädrigeKleinkrafträderundvierrädrigeLeichtkraftfahrzeuge<br />
mit Höchstgeschwindigkeiten bis 45 km/h. Der<br />
Zusatz E bedeutet: mit Anhänger.<br />
Eine neue Führerscheinrichtlinie war Anfang 2005<br />
noch auf dem Gesetzgebungsweg. Während der Rat<br />
Funktionalisten<br />
im Oktober 2004 in 1. Lesung auf den zwangsweisen<br />
Umtausch aller alten Führerscheine in das neue<br />
EU-Plastikmodell im Scheckkartenformat verzichtenwollte,verlangtedasEPin2.LesungEndeFebruar<br />
2005 einen Umtauschzwang binnen zehn Jahren<br />
und eine regelmäßige Erneuerung im Abstand von<br />
zehn Jahren. Das hat der Rat am 27. 6. 2005 abgelehnt.<br />
Eine Lösung muss im Vermittlungsverfahren<br />
gefunden werden. Die neue Führerscheinrichtlinie<br />
soll auch verhindern, dass nach Entzug der Fahrerlaubnis<br />
ein neuer Führerschein in einem anderen<br />
EU-Land erworben werden kann.<br />
Funktionalisten. Als Funktionalisten werden insbes.<br />
diejenigen bezeichnet, die zu Beginn der europäischen<br />
Integration ein schrittweises Vorgehen<br />
empfohlen haben: Ohne ein endgültiges Ziel der Integration<br />
festzulegen, sollten die zum jeweiligen<br />
Zeitpunkt realisierbaren, von allen Mitgliedstaaten<br />
akzeptierten Integrationsschritte vollzogen werden.<br />
Jeder verwirklichte Schritt würde durch die danach<br />
erfahrbarenVorteiledieBereitschaftweckenzuweiterenSchritten,auchaufdasZielderpolitischenIntegration<br />
hin.<br />
Nach den ergebnislosen Versuchen in der Zeit nach<br />
dem Zweiten Weltkrieg, die Idee einer Politischen<br />
Union in Form eines Bundesstaates („Vereinigte<br />
Staaten von <strong>Europa</strong>“) auf einen Schlag zu realisieren<br />
(�<strong>Europa</strong>rat, �Europäische Politische Gemeinschaft),<br />
sollte die sog. �Jean-Monnet-Methode das<br />
„Funktionieren“ der Integration ermöglichen: Erste<br />
Schritte zur Einigung wurden auf dem Gebiet der<br />
Wirtschaft vollzogen (Europäische Gemeinschaft<br />
für Kohle und Stahl, Europäische Atomgemeinschaft,<br />
Europäische Wirtschaftsgemeinschaft), da<br />
hier am ehesten messbare Vorteile für alle Mitgliedstaaten<br />
entstehen konnten.<br />
Die Funktionalisten erwarteten, dass die Erfolge der<br />
ersten Schritte von selbst ein „Ausbreiten der Integration<br />
durch Ansteckung“ (spill over) und somit die<br />
allmähliche „Vergemeinschaftung“ weiterer politischer<br />
Bereiche ermöglichten. Nach raschen und<br />
überzeugendenErfolgen(Verwirklichungder�Zollunion)<br />
konnte die „funktionalistische“ Methode die<br />
Erwartungen, als Schrittmacher zur Politischen<br />
Union wirken zu können, bisher nicht in vollem<br />
Umfang erfüllen. Es mangelt ihr bisweilen an der visionären<br />
Kraft einer Idee, die das Ziel des Vereinten<br />
<strong>Europa</strong>s als wünschenswert erscheinen lässt.<br />
355
Fusionen<br />
Fusionen von Unternehmen. Zu einem funktionierendenWirtschaftssystemmiteinemfunktionsfähigenWettbewerbgehörenauchZusammenschlüsse<br />
von Unternehmen, die so bestimmte Unternehmensziele<br />
überhaupt erst oder zumindest besser erreichen<br />
können. Die EU hat sich bereits in frühen Jahren mit<br />
diesem Bereich befasst und europaweite Rechtsgrundlagen<br />
hierfür geschaffen.<br />
Den Beginn machte die „Fusionsrichtlinie“, die<br />
3. gesellschaftsrechtliche Richtlinie, die den Mitgliedstaaten<br />
zunächst auferlegte, in ihren Rechtsordnungen<br />
den Zusammenschluss von Aktiengesellschaften<br />
und gleichartigen Gesellschaften vorzusehenundbestimmteMindestanforderungenfestlegte.<br />
Den Sonderfall öffentlicher Übernahmeangebote als<br />
Voraussetzung für eine Unternehmensfusion behandelt<br />
die Übernahme-Richtlinie von 2004 mit SchutzvorschriftenfürMinderheitsaktionärenundDritten.<br />
Außerdem liegt (Mitte 2005) ein Vorschlag für eine<br />
RichtlinieaufdemTisch,diedieVerschmelzungvon<br />
Kapitalgesellschaften innerhalb der EU, die durch<br />
die unterschiedlichen innerstaatlichen Regelungen<br />
erschwert wird, erleichtern soll. Die Richtlinie soll<br />
vor allem kleinen und mittleren Kapitalgesellschaften<br />
(�KMU) helfen, die über ihren eigenen Mitgliedstaat<br />
hinaus tätig sein wollen, nicht aber unionsweit,<br />
und die deshalb kaum von der Möglichkeit Gebrauch<br />
machen dürften, eine Europäische Aktiengesellschaft(SE)zugründen.NachdemimRichtlinienvorschlag<br />
geregelten Verfahren sollen für VerschmelzungendieindembetreffendenMitgliedstaatfürsolche<br />
Vorgänge im Inland geltenden Grundsätze und<br />
Vorschriften maßgebend sein. Die Richtlinie<br />
schließt eine wichtige Lücke im Gesellschaftsrecht.<br />
Nachdem der Rat hierüber im November 2004 eine<br />
Einigung erzielt hat, hat das Europäische Parlament<br />
am 10. 5. 2005 seine Zustimmung in den entscheidenden<br />
Punkten erteilt.<br />
Um Fusionen steuerlich gerecht zu gestalten, wurde<br />
1990 eine Richtlinie über das gemeinsame Steuersystem<br />
für Fusionen u. ä., die Gesellschaften verschiedener<br />
Mitgliedstaaten betreffen, erlassen. Sie<br />
stellt den Grundsatz auf, dass die Besteuerung des<br />
Unterschieds zwischen dem tatsächlichen Wert und<br />
dem steuerlichen Wert des übertragenen Aktiv- und<br />
Passivvermögens nicht zum Zeitpunkt der Fusion<br />
ausgelöst werden darf, sondern erst dann, wenn der<br />
Mehrwert tatsächlich realisiert wurde.<br />
Fusionen sind allerdings nicht nur eine Wohltat für<br />
356<br />
dasWirtschaftssystem.SiekönnenauchdenWettbewerb<br />
gefährden, insbes. wenn hierdurch Unternehmen<br />
entstehen, die von ihrer Größe und durch ihren<br />
Marktanteil eine marktbeherrschende Stellung einnehmen.<br />
Durch die �Fusionskontroll-Verordnung<br />
vom 21. 12. 1989 wurde der EU-Kommission als<br />
Kartellbehörde die Möglichkeit gegeben, Fusionen<br />
imVorhineinzuprüfen.Damitsolltevermiedenwerden,<br />
dass auf Zusammenschlüsse bestimmter Größenordnung,<br />
die mehrere Mitgliedstaaten betreffen,<br />
eine Vielzahl unterschiedlicher innerstaatlicher<br />
Rechtsvorschriften Anwendung findet. Diese wurde<br />
am 1. 5. 2004 – zeitgleich mit der Erweiterung –<br />
grundlegend reformiert. Der Grundsatz der „einzigen<br />
Anlaufstelle“ wurde gestärkt. Gleichzeitig vereinfachte<br />
sie die Anmelde- und Nachprüfungsverfahren.<br />
M. K.<br />
Fusionskontrollverordnung (FKVO). Die europäische<br />
Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen<br />
ergänzt das Kartellverbot des Art. 81 Abs.<br />
1 EGV (�Europäisches Kartellrecht). Die Fusionskontrolle<br />
regelt die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen<br />
ein Unternehmen ein anderes erwerben<br />
bzw. mit diesem verschmelzen kann, ohne dass<br />
dies zur Begründung oder Verstärkung einer marktbeherrschenden<br />
Stellung führt.<br />
Die Fusionskontrolle hat keine ausdrückliche und<br />
unmittelbare Grundlage im �EG-Vertrag, im Gegensatz<br />
zu Art. 66 des EGKS-Vertrags, der eine primärrechtlich<br />
verankerte und bußgeldbewehrte Zusammenschlusskontrolle<br />
vorsah. Seitdem der EuGH den<br />
Europäischen Gemeinschaften im Jahre 1973 jedoch<br />
eine umfassende Kompetenz hinsichtlich der Wettbewerbsregelnzugesprochenhatte(Urteilvom21.2.<br />
1973, Rs. 6/72, „Continental-Can“, Slg. 1973, 215<br />
Rn. 25 f.), setzte sich die Kommission für eine sekundärrechtliche<br />
Lösung ein. Bereits 1973 legte sie einen<br />
ersten Verordnungsentwurf vor, um die bestehende<br />
Lücke im EGV zu schließen, konnte sich jedoch<br />
gegen die Mitgliedstaaten nicht durchsetzen.<br />
Streitpunkte waren hierbei vor allem die Auseinandersetzung<br />
über eine eher industriepolitische oder<br />
wettbewerbsrechtlich motivierte Ausrichtung der<br />
Fusionskontrollverordnung, die Frage der Abgrenzung<br />
gegenüber den Kompetenzen der Mitgliedstaaten<br />
und – damit verbunden – die Frage der Aufgreifkriterien<br />
der europäischen Fusionskontrolle. Erst<br />
1988 legte die Kommission schließlich einen zwei-
ten Verordnungsentwurf vor. Auf dessen Grundlage<br />
verabschiedete der Ministerrat im Jahr 1989 nach<br />
insgesamt über sechzehnjähriger Verhandlungszeit<br />
die erste FKVO 4064/89 (ABl. L 395/1989), die zum<br />
1. Mai 2004 durch die zweite, überarbeitete FKVO<br />
139/2004 (ABl. L 24/2004) abgelöst wurde. Gemeinsam<br />
ist beiden FKVO, dass sie primär wettbewerbsrechtlich<br />
ausgerichtet sind.<br />
Die FKVO gilt für Zusammenschlüsse von „gemeinschaftsweiter<br />
Bedeutung“, für deren Kontrolle<br />
grundsätzlich die Kommission zuständig ist (Art. 21<br />
Abs. 2 FKVO 139/2004). Definiert wird der Begriff<br />
der „gemeinschaftsweiten Bedeutung“ für die Zwecke<br />
der Fusionskontrolle durch die sog. Aufgreifschwellen.<br />
Im Wesentlichen setzen diese nach den<br />
Bestimmungen der insoweit unveränderten FKVO<br />
für eine Zuständigkeit der Kommission einen weltweitenGesamtumsatzallerbeteiligtenUnternehmen<br />
von mehr als 5 Mrd. Euro bei einem gemeinschaftsweiten<br />
Gesamtumsatz von mindestens zwei beteiligtenUnternehmenvonjeweilsmehrals250Mio.Euro<br />
voraus (weitere Einzelheiten vgl. Art. 1 FKVO 139/<br />
2004). Mit der neuen FKVO wurden jedoch die Verweisungsmöglichkeiten<br />
an die Kommission gestärkt;<br />
so können Unternehmen, die in drei oder mehr<br />
Mitgliedstaaten eine Anmeldung ihres Zusammenschlussvorhabens<br />
einreichen müssen, eine Verweisung<br />
an die Kommission beantragen (Art. 4 Abs. 5<br />
FKVO 139/2004). Durch die Bündelung bei der<br />
Kommission soll den beteiligten Unternehmen auch<br />
in diesem Falle statt einer Vielzahl nationaler Verfahren<br />
ein „one-stop-shop“ angeboten werden. Daneben<br />
wurde das Fristenregime für die Bearbeitung<br />
geändert, das straffer und zugleich flexibler ausgestaltet<br />
wurde. Bei Verstößen gegen die FKVO drohen<br />
den betroffenen Unternehmen Bußgelder bis zu<br />
einem Höchstbetrag von 1 % ihres Gesamtumsatzes<br />
(Art. 14 FKVO 139/2004).<br />
VorallemaberwurdemitderneuenFKVO139/2004<br />
dasmateriellePrüfungs-undUntersagungskriterium<br />
geändert.WarbislanglediglichdieBegründungoder<br />
Verstärkung einer marktbeherrschenden Stellung<br />
das maßgebende Untersagungskriterium, so sind<br />
jetzt Zusammenschlüsse, durch die wirksamer Wett-<br />
Fusionsvertrag<br />
bewerb(imGemeinsamenMarktodereinemwesentlichen<br />
Teil desselben) erheblich behindert würde, zu<br />
untersagen. Dies gilt selbstverständlich weiterhin<br />
insbes. für die Wettbewerbsbehinderung durch die<br />
Begründung oder Verstärkung einer beherrschenden<br />
Stellung (Art. 2 Abs. 3 FKVO 139/ 2004) als klassischem<br />
Regelfall für eine Untersagungsentscheidung.<br />
Zahlreiche weitere technische Einzelheiten zum<br />
Vollzug der FKVO regelt die Durchführungsverordnung802/2004derKommission(ABl.L133/2004).<br />
Mit Rücksicht auf die kurzen Fristen, in denen die<br />
Kommission die bei ihr angemeldeten Vorhaben<br />
prüfen muss, hat die Kommission bei der Generaldirektion<br />
eine spezialisierte „Merger Task Force“ gebildet,<br />
die ausschließlich Zusammenschlussvorhaben<br />
prüft. Freistellungen sind dabei der Regelfall,<br />
Untersagungen oder nur unter Auflagen freigestellte<br />
Vorhaben die Ausnahmen. Es wird jedoch angenommen,<br />
dass die Regelungen der FKVO bereits im Vorfeld<br />
die Ausgestaltung der Übernahmeentscheidungen<br />
beeinflussen, auch wenn hierzu keine gesicherten<br />
Zahlen vorliegen (sog. Vorfeldwirkung der Fusionskontrolle).<br />
S. W.<br />
Literatur:<br />
Mestmäcker, E.-J./Schweitzer, H.: Europäisches Wettbewerbsrecht.<br />
München 2004 2<br />
Fusionsvertrag. „Vertrag zur Einsetzung eines gemeinsamen<br />
Rates und einer gemeinsamen Kommission<br />
der Europäischen Gemeinschaften“ (Fusionsvertrag),<br />
am 8. 4. 1965 in Brüssel unterzeichnet, am<br />
1. 7. 1967 in Kraft getreten. Die zuvor für jede der<br />
drei damaligen Gemeinschaften EGKS, EWG und<br />
EURATOM getrennt operierenden Organe Rat und<br />
Kommission (bzw. Hohe Behörde der EGKS) wurden<br />
dadurch zusammengefasst und für alle Gemeinschaftenzuständig;dieHoheBehördeistinderKommission<br />
aufgegangen. Parlament (Europäisches Parlament)<br />
und Gerichtshof sind seit Beginn von EWG<br />
undEURATOMfürdiedreiGemeinschaftenzuständig<br />
(„Abkommen über gemeinsame Organe für die<br />
europäischen Gemeinschaften“ vom 25. 3. 1957).<br />
357
G7<br />
G7.Von 1975 bis 1998 Bezeichnung für die Gruppe<br />
der sieben führenden westlichen Industriestaaten.<br />
Seit 1998 um Russland zur Gruppe der �G 8-Staaten<br />
erweitert.<br />
G 8-Staaten. Die Gruppe der Acht (G 8) besteht aus<br />
den Industrienationen Deutschland, Frankreich,<br />
Großbritannien, Italien, Japan, Kanada, Russland<br />
und den USA. Die EU ist als Beobachter durch die<br />
Kommission vertreten. Bei den G 8 handelt es sich<br />
um ein informelles Gremium der zwischenstaatlichen<br />
Zusammenarbeit.<br />
Der auf deutsche und französische Initiative 1975<br />
mit dem ersten Gipfel von Rambouillet in Gang gesetzte<br />
Prozess diente zunächst der Beratung wirtschafts-<br />
und währungspolitischer Fragen auf höchster<br />
politischer Ebene sowie dem persönlichen Meinungsaustausch<br />
der beteiligten Staats- und Regierungschefs<br />
(„Kamingespräche“). Das von ursprünglich<br />
sechs auf acht Vollmitglieder (Kanada 1976<br />
�G7;Russland2002)angewachseneGremiumhatin<br />
der Zwischenzeit weitere Themen mit internationalem<br />
Bezug aufgegriffen (z. B. Reform der internationalen<br />
Finanzarchitektur, Schuldenkrise in den Entwicklungsländern,<br />
Bekämpfung des Terrorismus).<br />
Das zentrale Ereignis des Kooperationsprozesses<br />
sind die jährlichen Tagungen der Staats- und Regierungschefs<br />
(Weltwirtschaftsgipfel). Des Weiteren<br />
finden regelmäßig Treffen der Außen- und Finanzminister<br />
sowie der Zentralbankgouverneure der G 8<br />
statt. Ergänzt werden die politischen Tagungen<br />
durch Treffen auf der Stellvertreter- und Arbeitsebene.<br />
Eine besondere Funktion bei der Vorbereitung<br />
der Tagesordnung der Gipfeltreffen erfüllen die persönlichen<br />
Beauftragten der Staats- und Regierungschefs<br />
(„Sherpas“), die von weiteren Ministerialbeamten<br />
unterstützt werden. Die G 8 setzen teilweise<br />
Expertengruppen ein, die ein Dossier aufbereiten<br />
und Vorschläge für eine gemeinsame Strategie der<br />
G 8 erarbeiten.<br />
Die Verantwortung für die Organisation des Kooperationsprozesses<br />
liegt beim Vorsitz, der jährlich unter<br />
den Mitgliedern wechselt (2005: Großbritannien,<br />
2006: erstmals Russland). Die rechtlich unverbindli-<br />
358<br />
G<br />
chen Entscheidungen, Erklärungen, Aktionspläne<br />
undVerpflichtungenderG8,aufdiesichdieMitglieder<br />
im Konsensverfahren einigen, sind politische<br />
Absichtserklärungen, die auf der internationalen<br />
Ebenedurchdasgemeinsame,abgestimmteHandeln<br />
der beteiligten Staaten wirken.<br />
Nach dem Beispiel der G 8 bestehen weitere Kooperationsgremien<br />
mit einer größeren Zahl an Mitgliedern.DieElfergruppe(G10),zudenennebendenG7<br />
Belgien, die Niederlande und Schweden gehören,<br />
Staaten, die die Liquidität des Internationalen Währungsfonds<br />
(IWF) mit Krediten garantieren und sich<br />
in finanzpolitischen Themen beraten. Die Gruppe<br />
der Einundzwanzig (G 20) ist ein seit 1999 bestehendes<br />
Forum für den Dialog der Finanzminister und<br />
Zentralbankgouverneure aus Industrie- und Schwellenländern<br />
insbes. über die Stabilität des in internationalen<br />
Finanz- und Währungssystems. Zu den G 20<br />
gehören neben den G 8 Argentinien, Australien, Brasilien,<br />
China, Indien, Indonesien, Mexiko, Saudi<br />
Arabien,Südafrika,Südkorea,dieTürkeiunddieEU<br />
sowie, als ex-officio-Mitglieder, der IWF und die<br />
Weltbank. F. Sch.<br />
Literatur:<br />
James, H.: Rambouillet, 15. 11. 1975. Die Globalisierung der<br />
Wirtschaft. München 1997<br />
Hajnal, Peter I.: The G7/G8 System: Evolution, Role, and<br />
Documentation. Aldershot 1999<br />
Internet:<br />
www.g7.utoronto.ca (G 8 Information Centre)<br />
Galileo heißt das von der �ESA entwickelte Satellitennavigationsprogramm<br />
für <strong>Europa</strong>, das sich seit<br />
Ende 2003 in der Entwicklungs- und Testphase befindet.<br />
Vor Ende 2005 soll der erste Experimentalsatellit<br />
ins Weltall gestartet werden. Die Errichtungsphase<br />
soll 2008 abgeschlossen sein. Galileo wird das<br />
europäische Gegenstück zum amerikanischen<br />
GPS-System werden.<br />
InderEndstufewerden27Betriebssatelliten(undzusätzlich<br />
3 Satelliten zur Reserve) in 23.222 km Höhe<br />
auf drei kreisrunden Erdumlaufbahnen und einer<br />
Neigung von 56° zum Äquator die Erde umkreisen.<br />
Ein dichtes Netzwerk von Bodenstationen und weiteren<br />
Servicestellen soll für reibungslosen Betrieb
sorgen. Die EU ist an dem Projekt beteiligt. Der Europäische<br />
Rat hat auf seinem Treffen in Barcelona im<br />
März 2002 grünes Licht für das Projekt gegeben. Am<br />
Rande des Gipfeltreffens in Dublin wurde mit den<br />
USA am 26. 6. 2004 ein Kooperationsabkommen unterzeichnet,<br />
das die Kompatibilität des europäischen<br />
und des amerikanischen Satellitennavigationssystems<br />
gewährleisten soll. Im Verbund mit GPS und<br />
dem russischen System GLONASS soll Galileo zum<br />
weltweiten Standard für satellitengestützte Navigation<br />
werden.<br />
Schon jetzt bietet das Programm EGNOS (European<br />
Geostationary Navigation Overlay Service) Dienste<br />
an, die später GALILEO liefern wird. EGNOS nutzt<br />
die Signale von GPS und GLONASS und optimiert<br />
siefürreinzivileVerwendungin<strong>Europa</strong>.EinSystem<br />
von 34 Ortungsstationen und 4 Kontrollzentren ist<br />
untereinander vernetzt. EGNOS ist die erste Etappe<br />
des globalen Satellitennavigationssystems (GNSS<br />
1) und wird bei Inbetriebnahme von GALILEO in<br />
dieses Programm eingebunden (GNSS 2).<br />
GAP �Gemeinsame Agrarpolitik<br />
Garantiefonds Ausrichtungs- und Garantiefonds<br />
für die Landwirtschaft (EAGFL) �Fonds der EU<br />
GASP � Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik<br />
GASP-Haushalt. Bezeichnung für den Teil des<br />
Haushalts der Europäischen Gemeinschaft, der den<br />
operativen Ausgaben im Rahmen der �GASP vorbehalten<br />
ist. Rechtsgrundlage für Ausgaben aus dieser<br />
Linie ist in der Regel eine �Gemeinsame Aktion.<br />
�Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik<br />
(GASP), �Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik<br />
(ESVP), �Haushalt der Europäischen<br />
Union U. S.<br />
GATS. Kurzbezeichnung für General Agreement on<br />
Trade in Services; völkerrechtlicher Vertrag im institutionellenRahmender�WTO,derdeninternationalen<br />
Handel mit Dienstleistungen regelt (Allgemeines<br />
Übereinkommen über den Handel mit Dienstleistungen).<br />
Das GATS konstituiert eine von den Regelungen für<br />
den Warenhandel eigenständige und gesonderte<br />
OrdnungfürdenHandelmitDienstleistungen.Rege-<br />
GATS<br />
lungstechnisch ist es Bestandteil des Übereinkommens<br />
zur Errichtung der WTO (Anhang 1B). Der Begriff<br />
„Dienstleistung“ wird von dem Übereinkommen<br />
denkbar weit definiert und erfasst jede Art von<br />
Leistungen mit Ausnahme solcher, die in Ausübung<br />
hoheitlicher Gewalt erbracht werden (Art. I:3 lit. b<br />
GATS). Welche Handlungen als Dienstleistungen<br />
im Sinne des GATS einzuordnen sind, ist einer Liste<br />
des WTO-Sekretariats zu entnehmen, die zwölf Kategorien<br />
von Dienstleistungen systematisiert. In<br />
Struktur und Regelungsinhalt ist das GATS mit dem<br />
�GATT vergleichbar, die einzelnen Regelungen<br />
sind jedoch den besonderen Bedingungen des<br />
Dienstleistungshandels angepasst. Der Dienstleistungshandel<br />
betrifft Wirtschaftsvorgänge, die in besonderem<br />
Maße in die jeweilige Wirtschaftsordnung<br />
der WTO-Mitglieder eingebettet sind, wodurch ein<br />
weiterer nationaler Regelungsbedarf entsteht und<br />
letztendlich die Souveränität der WTO-Mitglieder<br />
berührt sein kann.<br />
Das GATS besteht aus einem allgemeinen Teil, den<br />
spezifischen Verpflichtungen der WTO-Mitglieder<br />
und Regelungen für besondere Liberalisierungsbereiche.<br />
Der allgemeine Teil konkretisiert den Anwendungsbereich<br />
des GATS, in dem vier verschiedene<br />
Erbringungsformen unterschieden werden<br />
(Art. I:2 lit. a–dGATS):<br />
– die Erbringung einer Dienstleistung von dem Hoheitsgebiet<br />
eines WTO-Mitglieds aus in das Gebiet<br />
eines anderen WTO-Mitglieds, so dass nur die<br />
Dienstleistung die Grenze passiert (cross-border<br />
supply);<br />
– Dienstleistungen im Hoheitsgebiet eines WTO-<br />
Mitglieds, die gegenüber einer zuvor aus dem Gebiet<br />
eines anderen WTO-Mitglieds eingereisten Person<br />
erbracht werden (consumption abroad),<br />
– die Erbringung einer Dienstleistung durch eine Repräsentanz<br />
in dem Hoheitsgebiet eines anderen<br />
WTO-Mitglieds (commercial presence) sowie<br />
– die Anwesenheit natürlicher Personen als Dienstleistungserbringer<br />
in dem Hoheitsgebiet eines anderenWTO-Mitglieds(presenceofnaturalpersons).DesWeiterengeltenderGrundsatzderMeistbegünstigung,<br />
der jedoch durch ausdrücklich zu nennende<br />
Ausnahmen eingeschränkt werden kann (Art. II<br />
GATS), sowie der Grundsatz der Transparenz in Bezug<br />
auf handelsbeschränkende Gesetze (Art. III<br />
GATS). Das GATS enthält ferner Ansätze einer Regelung<br />
der Anerkennung ausländischer Qualifika-<br />
359
GATT<br />
tionen und der Subventionierung nationaler Dienstleistungen.<br />
Das Recht auf Marktzugang und der<br />
Grundsatz der Inländergleichbehandlung werden<br />
nur im Rahmen der spezifischen Verpflichtung gewährleistet,<br />
die für jedes WTO-Mitglied in einer Liste<br />
aufgeführt werden. Die WTO-Mitglieder können<br />
auf diese Weise festlegen, für welche Dienstleistungen<br />
der nationale Markt in welchem Umfang geöffnet<br />
wird. Der dritte Teil des GATS enthält Sonderregelungen<br />
für Dienstleistungsbereiche, in denen die<br />
WTO-Mitglieder zu einer Liberalisierung zunächst<br />
nicht bereit waren (bspw. Finanz-, Luft- und Seeverkehrs-<br />
sowie Telekommunikationsdienstleistungen).<br />
Das GATS verpflichtet die WTO-Mitglieder zu weiteren<br />
Verhandlungen über die Liberalisierung des<br />
Dienstleistungshandels (Art. XIX:1 GATS), die im<br />
Jahr 2000 aufgenommen wurden und sich auf alle<br />
Dienstleistungssektoren erstrecken. Die Verhandlungen<br />
verdeutlichen jedoch, dass die konkrete Ausgestaltung<br />
des Dienstleistungssektors von der kulturellenIdentitätderStaatenabhängtunddieFolgeneiner<br />
mit der weiteren Liberalisierung verbundenen<br />
Entdifferenzierung nicht eingeschätzt werden können.<br />
F. Sch.<br />
Text: BGBl. 1994 II, S. 1643; ABl. 1994 Nr. L 336, S. 190<br />
Literatur:<br />
Köhler, M.: Das Allgemeine Übereinkommen über den Handel<br />
mit Dienstleistungen (GATS). Berlin 1999<br />
Stoll, P.-T./Schorkopf, F.: WTO – Welthandelsordnung und<br />
Welthandelsrecht. Köln u.a. 2002, Rn. 517 ff.<br />
World Trade Organization: Guide to the GATS.<br />
London et al. 2001<br />
Internet:<br />
www.wto.org/english/tratop_e/serv_e/serv_e.htm (WTO<br />
Dienstleistungsportal)<br />
GATT. Kurzbezeichnung für (1) das Allgemeine<br />
Zoll- und Handelsabkommen (General Agreement<br />
on Tariffs and Trade – GATT) und (2) das gesamte<br />
Regime zur Liberalisierung des Welthandels.<br />
1. Das ursprüngliche General Agreement on Tariffs<br />
and Trade vom 30. 10. 1947 (GATT 1947) wurde als<br />
multilaterale Vereinbarung mit dem Ziel des Abbaus<br />
von Zöllen und anderen Handelshemmnissen von<br />
zunächst 23 Staaten mit Wirkung zum 1. 1. 1948 in<br />
Kraft gesetzt.<br />
Das GATT 1947 ist aus der letztendlich gescheiterten<br />
Havanna-Charta für eine internationale Handelsorganisation<br />
(International Trade Organization –<br />
ITO) hervorgegangen. Die ITO sollte neben dem In-<br />
360<br />
ternationalen Währungsfond (IWF) und der Internationalen<br />
Bank für Wiederaufbau und Entwicklung<br />
(Weltbank) die dritte Institution der neuen internationalen<br />
Wirtschaftsordnung nach dem Zweiten<br />
Weltkrieg werden. Die Handelsorganisation konnte<br />
allerdings nicht errichtet werden, weil das Übereinkommen<br />
vom US-amerikanischen Senat nicht ratifiziert<br />
wurde.<br />
Bei dem GATT handelt es sich um die materiellen<br />
Teilergebnisse der Genfer Konferenz von 1947. NebendemEntwurfeinerChartafürdieITOwurdenauf<br />
jener Konferenz auch Verhandlungen über die gegenseitige<br />
Senkung von Zöllen (engl. tariffs) und<br />
über „generelle Prinzipien“ im Zusammenhang mit<br />
den tarifären Verpflichtungen geführt. Diese beiden<br />
Regelungsbereiche bilden das GATT 1947. Als der<br />
Ratifikationsprozess scheiterte, wurde das GATT<br />
1947 bereits vorläufig angewendet. Diese faktische<br />
Entwicklung wurde durch das „Protokoll über seine<br />
vorläufige Anwendung“ rechtlich nachvollzogen,<br />
was möglich war, weil diese Form der Anwendung<br />
des GATT nicht von den USA ratifiziert werden<br />
musste. Der Rechtszustand der vorläufigen Anwendung<br />
wurde stetig verlängert und die Verwaltung einer<br />
bereits bestehenden Interimskommission übertragen,<br />
aus der sich später das GATT-Sekretariat in<br />
Genf entwickelte. Die Bundesrepublik Deutschland<br />
und die Republik Österreich wurden 1951, die<br />
Schweiz 1966 GATT-Mitglieder; auf Grund der ausschließlichen<br />
Kompetenz der EG für die Handelspolitik<br />
übernahm die Kommission faktisch die Vertretung<br />
der EG-Mitgliedstaaten im GATT. Das Provisorium<br />
„GATT“ wurde über die Jahrzehnte zu einer<br />
ständigen Einrichtung, deren Status sich als de facto--<br />
Organisation beschreiben lässt. Der Begriff<br />
„GATT“ wird deshalb häufig auch zur Bezeichnung<br />
der Organisation verwendet. Ende 1994 waren 128<br />
Staaten Vertragsparteien des GATT 1947.<br />
Das GATT ist die rechtliche Umsetzung der handelspolitischen<br />
Konzeption des Freihandels. Der Freihandelstheorie<br />
liegt die These zugrunde, dass ein<br />
möglichst unbehinderter Handel zwischen den Staaten<br />
allen beteiligten Volkswirtschaften nützt, auch<br />
wenndieseunterschiedlichleistungsfähigundunterschiedlich<br />
entwickelt sind. Das GATT verfolgt das<br />
konkrete Ziel, durch die mit dem Abbau von Zöllen<br />
und �nichttarifären Handelshemmnissen verbundene<br />
Liberalisierung der internationalen Handels- und<br />
Wirtschaftsbeziehungen den Warenaustausch zu
steigern, so dass der Lebensstandard erhöht, Vollbeschäftigung<br />
verwirklicht und insgesamt das Realeinkommen<br />
steigt. Die Ziele des GATT, die in der Präambel<br />
des Übereinkommens enthalten sind, werden<br />
nach dem Inkrafttreten des WTO-Übereinkommens<br />
von weiteren Zielvorgaben wie etwa der nachhaltigenEntwicklungunddesUmweltschutzesergänzt.<br />
Das GATT-Handelsregime wurde in insgesamt acht<br />
mehrjährigen Verhandlungsrunden (GATT-Runden)<br />
fortentwickelt. Während in den ersten GATT-<br />
Runden die weitere Zollsenkung im Vordergrund<br />
stand, wurden die Verhandlungen seit der Kennedy-<br />
Runde (1964 – 67) um neue Themen, u. a. Antidumping,<br />
Subventionen und Ausgleichszölle, technische<br />
Handelshemmnisse, Einfuhrlizenzen und öffentliches<br />
Auftragswesen, ergänzt. Eine Zäsur in der Geschichte<br />
des GATT ist die Uruguay-Runde (1986 –<br />
94). Bereits kurz nach Abschluss der Tokyo-Runde<br />
(1973 – 79) wurde der Bedarf für eine weitere Welthandelsrunde<br />
erkannt, weil der zunehmende Anteil<br />
von Dienstleistungen am Welthandel deren Einbeziehung<br />
in das GATT notwendig machte und insbesondere<br />
die Industriestaaten die Schaffung eines<br />
handelspolitischen Regimes für den Schutz des geistigen<br />
Eigentums forderten. Darüber hinaus zeigten<br />
sich die institutionellen Regelungen des GATT, vor<br />
allem dessen Streitschlichtung, zunehmend als überfordert<br />
und ineffektiv. Der Umstand, dass jedes ergänzende<br />
Übereinkommen seinen eigenen Kreis von<br />
Vertragsparteien hatte, führte zu einer erheblichen<br />
Fragmentierung des GATT („balkanization“).<br />
Die Uruguay-Runde endete mit Unterzeichnung der<br />
Schlussakte am 15. 4. 1994 und führte zur Errichtung<br />
der Welthandelsorganisation (�WTO) zum 1. 1.<br />
1995. Diese institutionelle Neuerung war für das<br />
GATT von Bedeutung, weil das Übereinkommen<br />
über die Errichtung der Welthandelsorganisation<br />
nicht nur eine institutionelle Struktur der WTO begründet<br />
hat, sondern auch einen Rechtsrahmen für<br />
die Verwaltung der materiellen Handelsübereinkommen<br />
bildet, zu denen auch das GATT gehört.<br />
Das GATT von 1947 mit seinen Änderungen und Ergänzungen<br />
(GATT 1947) wurde in der Uruguay-<br />
Runde um eine Reihe von Vereinbarungen erweitert,<br />
in den Anhang 1A des WTO-Übereinkommens aufgenommen<br />
und als reformiertes „GATT 1994“ fortgeführt.<br />
Das GATT 1994 besteht aus mehreren Rechtsakten,<br />
die durch einen Einführenden Text (Introductory<br />
GATT<br />
Note) regelungstechnisch zu einem Übereinkommen<br />
verbunden werden. Die einzelnen Bestandteile<br />
sind das GATT 1947 mit den Protokollen, Listen der<br />
Zugeständnisse (schedules of concessions) und Ausnahmegenehmigungen<br />
(waiver), die im Rahmen der<br />
Uruguay-Runde ausgehandelten neuen Listen der<br />
Zollzugeständnisse (Marakesch-Protokoll) und<br />
sechs Vereinbarungen, die einzelne GATT-Vorschriften<br />
auslegen.<br />
Die Kernvorschriften des GATT 1994 sind das Gebot<br />
der �Meistbegünstigung und die Regelungen zu<br />
den Zöllen und zollgleichen Abgaben auf Waren<br />
(Art. I–II), der Grundsatz der Inländergleichbehandlung<br />
(national treatment, Art. III), die Regelungen zu<br />
den �nichttarifären Handelshemmnissen (Art. III –<br />
XIX) mit ihrem Verbot mengenmäßiger Beschränkungen<br />
(Art. XI), zum Anwendungsbereich und die<br />
Fortentwicklung des Übereinkommens sowie die<br />
Regelungen zur Thematik „Handel und Entwicklung“(Art.XXXVI–XXXVIII),dieGrundsätzeund<br />
Ziele,VerpflichtungenundgemeinsameMaßnahmen<br />
im Hinblick auf die Entwicklungsländer enthalten.<br />
DasGATT1994wirdergänztdurch12weitereÜbereinkommen<br />
über den Warenhandel, die ebenfalls<br />
dem Anhang 1A des WTO-Übereinkommens zugeordnet<br />
sind. Es handelt sich dabei um völkerrechtliche<br />
Verträge, die speziellen Sektoren des Warenhandels<br />
(bspw. Textilien, Landwirtschaft, Investitionsmaßnahmen)<br />
oder problematischen Einzelfragen<br />
(bspw. Ursprungsregeln, Subventionen, Antidumping)<br />
gewidmet sind. Die Vorschriften dieser Übereinkommen<br />
gelten gegenüber dem GATT 1994 im<br />
Fall eines Normkonflikt als vorrangig anzuwendendes<br />
Recht (lex specialis).<br />
2. Der Begriff „GATT“ wurde auch als Synonym für<br />
das internationale Handelsregime verwendet. In dieserFunktionwirderinzunehmendemMaßeabgelöst<br />
durch den Hinweis auf die WTO und die von ihr verkörperteWelthandelsordnung.<br />
F. Sch.<br />
Literatur:<br />
Jackson, J. H.: The World Trading System. Cambridge 1997 2<br />
Senti, R.: GATT – Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen<br />
als System der Welthandelsordnung. Zürich 1986<br />
Stoll, P.-T./Schorkopf, F.: WTO – Welthandelsordnung und<br />
Welthandelsrecht. Köln u. a. 2002<br />
Weiß, W. / Herrmann, C.: Welthandelsrecht. München 2003<br />
Tietje, Ch. (Hg.): Welthandelsorganisation (Textsammlung).<br />
München 2003 2<br />
WTO Sekretariat (Hg.): Guide to GATT Law & Practice:<br />
Analytical Index. 1995<br />
Internet: www.wto.org<br />
361
Gaulle<br />
Gaulle, Charles de (1890 – 1970), französischer General<br />
und Politiker, u. a. Staatspräsident (1958 –<br />
1969); schloss mit Konrad �Adenauer 1963 den<br />
Deutsch-Französischen Freundschaftsvertrag. Er<br />
trat ein für ein �„<strong>Europa</strong> der Vaterländer“ mit selbständigen<br />
Einzelstaaten (Staatenbund); seine �Politik<br />
des „leeren Stuhls“ führte 1965 zur ersten großen<br />
Krise der EG.<br />
Géant (Gigabit European Academic Network) ist<br />
das Kommunikationsnetz, das über 3000 Forschungs-<br />
und Entwicklungseinrichtungen in 32 europäischen<br />
Ländern miteinander verbindet. WährenddasVorgängernetzTEN-155dieATM-Technologie<br />
(Asynchronous Transfer Mode) benutzte und<br />
Leistungskapazitäten von 155 bis 622 Megabit pro<br />
Sekunde besaß, arbeitet Géant mit der neueren und<br />
skalierbaren DWDM-Technologie (Dense Wavelength<br />
Division Multiplexing) mit Kapazitäten von<br />
2,5 bis 10 Gigabit pro Sekunde. Eine 10-GBit-Leitung<br />
zwischen <strong>Europa</strong> und den USA ist geplant.<br />
Auch der asiatische Raum wird mit direkter Verbindung<br />
an Géant angeschlossen werden. �Dante<br />
GebieteinäußersterRandlagesinddieinArt.299<br />
Abs. 2 EGV genannten sieben Regionen Guadeloupe,<br />
Guayana, Martinique, Réunion (französische überseeische<br />
Departements), die Kanarischen Inseln<br />
(Spanien) sowie die Azoren und Madeira (Portugal),<br />
für die der EG-Vertrag uneingeschränkt gilt. Sie sind<br />
gekennzeichnet durch große Entfernung zum europäischen<br />
Festland, geringe Bevölkerung, Insellage<br />
(mit Ausnahme von Guayana) und andere strukturelle<br />
Nachteile. Andererseits sind sie „Vorposten“ der<br />
EU in Nachbarschaft zu Entwicklungsländern und<br />
tragen erheblich dazu bei, dass die Union weltweit<br />
über die größte Meeresfläche mit einer Wirtschaftszone<br />
von 25 Mio. qkm verfügt.<br />
Alle sieben Regionen zählen im Zeitraum 2000 bis<br />
2006 zu den besonders begünstigten Ziel 1-Gebieten<br />
der Regionalpolitik. Außerdem können gem. Art.<br />
299 Abs. 2 vom Rat mit qualifizierter Mehrheit besondere<br />
Maßnahmen beschlossen werden, um die<br />
Einbeziehung dieser Gebiete in den Binnenmarkt<br />
und die gemeinschaftlichen Politikbereiche zu erleichtern.<br />
Gebrauchsmuster �Harmonisierungsamt für den<br />
Binnenmarkt<br />
362<br />
Gefechtsfeldverbandkonzept („battle group concept“).<br />
Bezeichnung für die auf der Grundlage eines<br />
gemeinsamen Vorschlags von Frankreich, Großbritannien<br />
und Deutschland beschlossene Initiative des<br />
Europäischen Rats (ER) vom 17. 6. 2004 zur Schaffung<br />
mobiler Spezialkräfte im Rahmen der �Europäischen<br />
Sicherheits- und Verteidigungspolitik<br />
(ESVP). Die Gefechtsfeldverbände sollen einen hohenBereitschaftsgradaufweisenundinschwierigem<br />
Umfeld eingesetzt werden können. Die Initiative<br />
dient dazu, im Einklang mit gleichgerichteten Anstrengungen<br />
der NATO die Fähigkeit der EU zur raschen<br />
Bewältigung von Krisen zu verstärken und damit<br />
zugleich eine Lücke im angestrebten Fähigkeitsprofil<br />
der ESVP zu schließen. Die GefechtsfeldverbändewerdeninStärkevonjeweilsetwa1500Soldaten<br />
einschl. geeigneter Unterstützungselemente innerhalb<br />
von 15 Tagen verlegbar sein und eigenständig<br />
oder im Rahmen einer umfassenderen Operation<br />
auch in Einsätzen hoher Intensität operieren (oberes<br />
Spektrum der �„Petersberg Aufgaben“). Die Verbände<br />
sind speziell, aber nicht ausschließlich dafür<br />
bestimmt, auf Ersuchen der Vereinten Nationen hin<br />
zu handeln. Ziel ist die Aufstellung in einer Übergangsphase<br />
bis 2005 von zwei bis drei Verbänden<br />
und von sieben bis neun Verbänden bis zur HerstellungdervollenEinsatzfähigkeitab2007.<br />
U. S.<br />
Gegenseitige Amtshilfe zwischen den Zollverwaltungen<br />
soll es ermöglichen, in Zusammenarbeit<br />
mit der Kommission grenzüberschreitende Delikte<br />
effektiver zu verhindern, zu verfolgen oder gegen sie<br />
zu ermitteln. Sie wurde vereinbart durch ein Übereinkommen<br />
der Mitgliedstaaten im Rahmen der<br />
�PJZS (Art. 34 Abs. 2 lit. d EUV) vom 18. 12. 1997,<br />
dem sog. Neapel II-Abkommen (ABl. Nr. C 24 vom<br />
23. 1. 1998). Die Amtshilfe kann auf Antrag oder<br />
ohne vorherigen Antrag erfolgen und nur in schriftlicher<br />
Form. Das Übereinkommen schließt auch die<br />
gegenseitige Amtshilfe der Justizbehörden im Rahmen<br />
von strafrechtlichen Ermittlungen wegen Zuwiderhandlungen<br />
gegen Zollvorschriften ein.<br />
Für Streitigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten<br />
bzw. zwischen Mitgliedstaaten und der Kommission<br />
bezüglich Auslegung oder Anwendung des Übereinkommens,<br />
die vom Rat nicht innerhalb einer Frist<br />
bzw. durch Verhandlungen beigelegt werden, ist der<br />
EuGH zuständig, ebenso für Vorabentscheidungen<br />
über die Auslegung des Übereinkommens.
Gegenseitige Anerkennung �Prinzip der gegenseitigen<br />
Anerkennung<br />
Gegenseitigkeitsgesellschaft �Europäische Gegenseitigkeitsgesellschaft<br />
Geistiges Eigentum �TRIPS<br />
Geldfälschung, Fälschung des Euro. Grundlage<br />
fürMaßnahmenzumSchutzvorFälschungenderEuro-Banknoten<br />
und -münzen ist das internationale<br />
GenferAbkommenvom20.4.1929zurBekämpfung<br />
der Falschmünzerei, dem die meisten Mitgliedstaaten<br />
der EU beigetreten sind. Ein Rahmenbeschluss<br />
des Rates (2000/383/JI, ABl. L 140/2000), geändert<br />
durch Rahmenbeschluss 2001/888/JI (ABl. L 329/<br />
2001), ergänzt das Abkommen von 1929 und sieht<br />
vor, dass die Mitgliedstaaten wirksame, angemessene<br />
und abschreckende Sanktionen – einschl. Freiheitsstrafen,<br />
die zu einer Auslieferung führen können<br />
– für folgende Straftaten einführen:<br />
– betrügerische Fälschung oder Verfälschung von<br />
Geld;<br />
– betrügerisches In-Umlauf-bringen von falschem<br />
oder verfälschtem Geld;<br />
– Einführen, Ausführen, Transportieren, Annehmen<br />
oder Sichverschaffen von falschem oder verfälschtem<br />
Geld in Kenntnis der Fälschung und in der Absicht,<br />
es in Umlauf zu bringen;<br />
– betrügerisches Anfertigen, Annehmen, Sichverschaffen<br />
oder Besitzen von Gegenständen, Computerprogrammen,<br />
Hologrammen und anderen Mitteln,<br />
die zur Fälschung oder Nachahmung von Geld<br />
bestimmt sind.<br />
Die Höchststrafe wegen betrügerischer Fälschung<br />
oderVerfälschungvonGeldmussinjedemMitgliedstaat<br />
mindestens acht Jahre betragen. Die Gerichtsbarkeit<br />
für Straftaten steht jedem Mitgliedstaat zu, in<br />
dessen Hoheitsgebiet sie begangen worden sind. Im<br />
Falle der Fälschung von Euro-Banknoten und -Münzen<br />
können die Staaten, die den Euro als gesetzliches<br />
Zahlungsmittel eingeführt haben, die Strafverfolgung<br />
unabhängig vom Tatort einleiten.<br />
Wenn ein Straftäter bereits rechtskräftig wegen Fälschung<br />
des Euro verurteilt wurde, anerkennen alle<br />
anderen Mitgliedstaaten im Wiederholungsfalle den<br />
Grundsatz der Rückfälligkeit gem. ihren innerstaatlichen<br />
Rechtsvorschriften.<br />
Die Kommission richtet ein Europäisches techni-<br />
Geldpolitik<br />
sches und wissenschaftliches Zentrum (ETSC) zur<br />
Analyse und Klassifizierung von falschen Euro-Münzen<br />
(gem. Verordnung 1338/2001 vom 28. 6.<br />
2001, ABl. L 181/2001) ein. Das ETSC arbeitet mit<br />
den nationalen Münzanalysezentren zusammen.<br />
Dem�HaagerProgrammentsprechendwirdEuropol<br />
als „Zentralstelle“ (im Sinne des Genfer Abkommens<br />
von 1929) zur Bekämpfung der Eurofälschung<br />
eingerichtet.<br />
In der Zeit von der Einführung des Euro als gesetzlichem<br />
Zahlungsmittel (Bargeld) am 1. 1. 2002 bis<br />
zum Ende des Jahres 2003 wurden 709 577 gefälschte<br />
Euro-Banknoten im Gesamtwert von 36 095 780<br />
Euro aus dem Verkehr gezogen. Im Jahr 2004 lag die<br />
Zahl bei 594 000 gefälschten Banknoten innerhalb<br />
und außerhalb des Euro-Raums; der Schaden wird<br />
mit 34,4 Mio. Euro beziffert. Die Mehrzahl der Fälschungen<br />
wird in Bulgarien, Litauen, Polen, Albanien,<br />
in der Türkei und im Kosovo hergestellt.<br />
Geldpolitik, Europäische<br />
1. Ziele – Darstellung: Der EG-Vertrag gibt dem<br />
�Eurosystem ein eindeutiges Ziel vor. In Art. 105<br />
Abs.1heißtes:„DasvorrangigeZieldesESZBistes,<br />
die Preisstabilität zu gewährleisten.“ Gleichzeitig<br />
verpflichtet der EG-Vertrag das Eurosystem freilich<br />
auch, die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Gemeinschaft<br />
zu unterstützen, um zur Verwirklichung<br />
der in Art. 2 EGV festgelegten Ziele der Gemeinschaft<br />
beizutragen. Bei diesen Zielen handelt es sich<br />
vor allem um ein beständiges Wirtschaftswachstum,<br />
einen hohen Beschäftigungsstand und einen hohen<br />
Lebensstandard. Zur Unterstützung der allgemeinen<br />
Wirtschaftspolitik ist das Eurosystem jedoch nur insoweit<br />
verpflichtet, als dies „ohne Beeinträchtigung<br />
des Zieles der Preisstabilität möglich ist“ (Art. 105<br />
Abs. 1 EGV).<br />
2. Ziele – Bewertung: Dass das Eurosystem auf das<br />
vorrangigeZielderPreisstabilitätverpflichtetistund<br />
die allgemeine Wirtschaftspolitik in der EU nur unterstützendarf,soweitdadurchdieErreichungdieses<br />
Ziels nicht gefährdet wird, ist uneingeschränkt positiv<br />
zu bewerten. Eine Vielzahl eingehender theoretischer<br />
und empirischer Studien hat ergeben, dass<br />
Preisniveaustabilität beträchtliche Vorteile mit sich<br />
bringt. Erstens verbessert sie die Signalfunktion der<br />
relativen Preise, die durch Inflation erheblich beeinträchtigt<br />
wird, und erhöht damit die Effizienz der Allokation<br />
der Produktionsfaktoren. Zweitens mini-<br />
363
Geldpolitik<br />
miert ein stabiles Preisniveau die in langfristigen<br />
Zinssätzen enthaltenen Inflationsrisikoprämien und<br />
verbilligt damit die Finanzierung von Investitionen.<br />
Drittens müssen bei Preisniveaustabilität keine Kosten<br />
zur Absicherung gegen unerwünschte Folgen der<br />
Inflation aufgewendet werden (z. B. Neuerstellung<br />
von Preislisten, Neuverhandlung von Kauf-, Kreditund<br />
Tarifverträgen). Drittens entfallen bei Preisniveaustabilität<br />
die Besteuerung inflationsbedingter<br />
Scheingewinne und die „kalte Progression“, bei der<br />
Einkommensbezieher inflationsbedingt in höhere<br />
Progressionsstufen hineinwachsen. Und viertens<br />
wird die bei Inflation auftretende große und willkürliche<br />
Änderung der Einkommens- und Vermögensverteilung<br />
vermieden, die vor allem Kleinsparer,<br />
Rentner und Arbeitnehmer benachteiligt. Aufgrund<br />
dieser Vorteile trägt Preisniveaustabilität auch zu einem<br />
beständigen Wirtschaftswachstum, einem hohen<br />
Beschäftigungsstand und einem hohen Lebensstandard<br />
bei.<br />
3. Instrumente – Darstellung: Das Eurosystem verfügt<br />
über ein umfassendes Instrumentarium, das sich<br />
in drei Gruppen einteilen lässt: Offenmarktgeschäfte,<br />
ständige Fazilitäten und Mindestreserven. Das<br />
Kernstück des Instrumentariums bilden die Offenmarktgeschäfte.<br />
Zu ihnen zählen die Hauptrefinanzierungsgeschäfte,<br />
längerfristige Refinanzierungsgeschäfte,<br />
Feinsteuerungsoperationen und strukturelle<br />
Operationen.<br />
Bei den Hauptrefinanzierungsgeschäften handelt es<br />
sich um wöchentlich stattfindende liquiditätszuführende<br />
Transaktionen mit einer Laufzeit von einer<br />
Woche (bis Februar 2004 Laufzeit zwei Wochen).<br />
An diesen Transaktionen, die bislang knapp drei<br />
VierteldesgesamtenRefinanzierungsvolumensausmachten,<br />
können alle Geschäftsbanken teilnehmen,<br />
die die allgemeinen Zulassungskriterien des Eurosystems<br />
erfüllen. Üblicherweise beteiligen sich jedochnurrund350größereKreditinstitute.DieLiquiditätszuführung<br />
wird mit Hilfe sog. Tenderverfahren<br />
durchgeführt, d. h. durch die Versteigerung von Zentralbankgeld.<br />
Anfangs erfolgte die Zuteilung im<br />
Rahmen von Mengentendern (d. h. zu einem von der<br />
EZB jeweils vorgegebenen Zinssatz), seit Mitte<br />
2000 im Rahmen marktnäherer Zinstender (d. h. zu<br />
Zinssätzen, die die Geschäftsbanken auf der Grundlage<br />
eines von der EZB jeweils vorgegebenen Mindestbietungssatzes<br />
bieten). Der Umfang der Liquiditätszuführung<br />
wird bei beiden Verfahren jeweils auf<br />
364<br />
Basis der betragsmäßigen Geschäftsbankengebote<br />
von der EZB bestimmt. Am Ende der Laufzeit eines<br />
jeden Hauptrefinanzierungsgeschäfts fließt das anfangs<br />
zugeteilte Zentralbankgeld automatisch zum<br />
Eurosystem zurück. Die Funktion der Hauptrefinanzierungsgeschäfte<br />
besteht in der Steuerung der Zinssätze<br />
und der Liquidität am Geldmarkt sowie in der<br />
Signalisierung des geldpolitischen Kurses (über den<br />
vom EZB-Rat festgesetzten Hauptrefinanzierungssatz).<br />
Die längerfristigen Refinanzierungsgeschäfte, auf<br />
die bislang gut ein Viertel des Refinanzierungsvolumens<br />
entfielen, werden monatlich im Tenderverfahren<br />
durchgeführt, bislang ausschließlich als Zinstender<br />
(im Unterschied zu den Hauptrefinanzierungsgeschäften<br />
ohne Mindestbietungssatz). Ihre Laufzeit<br />
beträgt drei Monate. Ansonsten entsprechen sie den<br />
Hauptrefinanzierungsgeschäften. Mit den längerfristigen<br />
Refinanzierungsgeschäften soll verhindert<br />
werden, dass die gesamte Liquidität jede Woche<br />
(bzw. bis Februar 2004 alle zwei Wochen) umgeschlagen<br />
werden muss. Den Kreditinstituten soll<br />
eine längerfristige Basisrefinanzierung ermöglicht<br />
werden. Obwohl mit den längerfristigen Refinanzierungsgeschäften<br />
ursprünglich auch beabsichtigt<br />
war, kleineren, weniger geldmarktaktiven Kreditinstituten<br />
eine Refinanzierung direkt bei der Zentralbank<br />
zu ermöglichen, nehmen an diesen Geschäften<br />
bisher meist nur rund 150 Kreditinstitute teil, darunter<br />
kaum kleinere.<br />
OffenmarktgeschäftekönnenauchfallweiseinForm<br />
sog. Feinsteuerungsoperationen durchgeführt werden.<br />
Damit kann Liquidität abgeschöpft oder auch<br />
zugeführt werden. Möglich sind etwa Käufe oder<br />
Verkäufe von Wertpapieren am Geldmarkt, Devisenswapgeschäfte<br />
oder die Hereinnahme von Termineinlagen.<br />
An Feinsteuerungsoperationen werden<br />
oftnurgroßeGeschäftsbankenbeteiligt;dadurchkönnen<br />
sie besonders schnell abgewickelt werden.<br />
Grundsätzlich sind sie dazu gedacht, die Zinswirkungen<br />
unerwarteter Liquiditätsschwankungen am Geldmarkt<br />
abzufedern. Sie können auch zur Unterstützung<br />
eines reibungslosen Funktionierens des Geldmarkts<br />
und zur Liquiditätsbereitstellung in extremen Ausnahmesituationen<br />
durchgeführt werden, wie dies<br />
nach den Terroranschlägen vom 11. 9. 2001 der Fall<br />
war. Seit Beginn der dritten Stufe der Währungsunion<br />
wurden im Durchschnitt lediglich rund zwei Feinsteuerungsoperationen<br />
pro Jahr durchgeführt.
Strukturelle Operationen können dazu genutzt werden,<br />
die fundamentale Liquiditätsposition des Geschäftsbankensystems<br />
gegenüber dem Eurosystem<br />
auflängereSichtzubeeinflussen.Siekönnensowohl<br />
zur Liquiditätsbereitstellung als auch zur Liquiditätsabschöpfung<br />
eingesetzt werden. Möglich sind<br />
etwa Käufe oder Verkäufe von Wertpapieren und die<br />
Emission eigener Schuldverschreibungen. Bislang<br />
hat das Eurosystem noch keine strukturellen Operationen<br />
durchgeführt.<br />
ImGegensatzzudenOffenmarktgeschäften,dieausschließlich<br />
von der EZB initiiert werden und deren<br />
Umfang von ihr bestimmt wird, können die ständigen<br />
Fazilitäten von den Geschäftsbanken auf eigene<br />
Initiative und grundsätzlich in unbegrenztem Umfanggenutztwerden.ImRahmenderSpitzenrefinanzierungsfazilität,<br />
die zur Deckung eines kurzfristigen<br />
Liquiditätsbedarfs dient, können sich die Geschäftsbanken<br />
jeweils bis zum nächsten Geschäftstag<br />
Zentralbankgeld zu einem von der EZB im<br />
Voraus bekannt gegebenen Zinssatz beschaffen. AbgesehenvoneinerkurzenPhasezuBeginnderdritten<br />
Stufe der Währungsunion lag dieser Zinssatz bislang<br />
stets um einen Prozentpunkt über dem Hauptrefinanzierungssatz<br />
(bei Zinstendern um einen Prozentpunkt<br />
über dem Mindestbietungssatz). Im Rahmen<br />
der Einlagefazilität können die Geschäftsbanken jeweils<br />
bis zum nächsten Geschäftstag Zentralbankgeldüberschüsse<br />
zu einem von der EZB im Voraus<br />
bekannt gegebenen Zinssatz anlegen. Dieser Zinssatzlag(voneinerkurzenPhasezuBeginnderdritten<br />
Stufe abgesehen) bislang stets um einen Prozentpunkt<br />
unter dem Hauptrefinanzierungssatz (bei Zinstendern<br />
um einen Prozentpunkt unter dem Mindestbietungssatz).<br />
Die Zinssätze der ständigen Fazilitäten<br />
bilden damit die Ober- und Untergrenze des Tagesgeldsatzes<br />
am Geldmarkt. Dadurch wird die<br />
Schwankungsbreite des Tagesgeldsatzes begrenzt.<br />
Außerdem kann der EZB-Rat mit den Zinssätzen für<br />
die ständigen Fazilitäten Signale über die generelle<br />
Ausrichtung der Geldpolitik geben.<br />
Im Rahmen der Mindestreservepolitik sind die Geschäftsbanken<br />
verpflichtet, Guthaben in Höhe eines<br />
bestimmten Prozentsatzes ihrer Verbindlichkeiten<br />
gegenüber Nichtbanken beim Eurosystem zu unterhalten.<br />
Mindestreservepflichtig sind Verbindlichkeiten<br />
aus täglich fälligen Einlagen, Einlagen und<br />
SchuldverschreibungenmiteinerLaufzeitoderKündigungsfrist<br />
von bis zu zwei Jahren und Verbindlich-<br />
Geldpolitik<br />
keiten aus Geldmarktpapieren. Der MindestreservesatzbetrugbislangdurchgängigundfüralldieseVerbindlichkeiten<br />
einheitlich 2 %. Mindestreservepflichtig<br />
sind grundsätzlich auch Verbindlichkeiten<br />
aus langfristigen Einlagen und Schuldverschreibungen<br />
sowie aus Repogeschäften; für diese Verbindlichkeiten<br />
galt jedoch bislang ein Reservesatz von<br />
0 %. Die Mindestreserveguthaben werden zum<br />
Hauptrefinanzierungssatz verzinst, so dass der Wettbewerb<br />
durch die Mindestreservepflicht praktisch<br />
nicht zu Lasten der Kreditinstitute in Euroland verzerrt<br />
wird. Die Mindestreservepflicht soll erstens sicherstellen,<br />
dass die Geschäftsbanken auf Zentralbankgeld<br />
angewiesen bleiben. In der Tat war sie bislangfürmehralsdieHälftedesgesamtenLiquiditätsbedarfs<br />
der Banken verantwortlich. Da die Mindestreserven<br />
nur im Durchschnitt jeder rund einmonatigen<br />
Mindestreserve-Erfüllungsperiode gehalten<br />
werden müssen, dienen sie zweitens als Liquiditätspuffer<br />
und damit zur Dämpfung von Zinsschwankungen<br />
am Geldmarkt.<br />
4. Instrumente – Bewertung: Das geldpolitische Instrumentarium<br />
hat sich bewährt. Es erlaubt dem Eurosystem,<br />
das ihm vorgegebene Ziel wirksam zu verfolgen.DasEurosystemistmitseinenInstrumentenin<br />
der Lage, die Liquidität und die Zinssätze am Geldmarkt<br />
reibungslos zu steuern. In der Regel reichten<br />
dazu bislang das Mindestreservesystem und die<br />
Hauptrefinanzierungsgeschäfte aus. Der Rückgriff<br />
auf die ständigen Fazilitäten blieb gering, und Feinsteuerungsoperationen<br />
wurden nur selten durchgeführt.DasInstrumentariumerlaubtdemEZB-Ratdarüber<br />
hinaus, die intendierten geldpolitischen SignaleklarandieKreditinstituteundandieÖffentlichkeit<br />
zu übermitteln.<br />
Die Offenmarktgeschäfte versetzen das Eurosystem<br />
in die Lage, Volumina und Konditionen der Zentralbankgeldversorgung<br />
gezielt zu steuern, erforderlichenfalls<br />
auch kurzfristig massiv zu variieren. Auch<br />
sind sie so differenziert, dass selbst in außergewöhnlichen<br />
Situationen passende Instrumente zur Verfügung<br />
stehen. Zugleich entsprechen Offenmarktgeschäfte<br />
weitgehend marktwirtschaftlichen Prinzipien,<br />
denn das Eurosystem tritt dabei als Teilnehmer<br />
auf dem Geldmarkt auf (allerdings als ein besonderer).<br />
Mit Hilfe der ständigen Fazilitäten kann die EZB insbes.<br />
die Grundausrichtung ihrer Geldpolitik signalisieren,<br />
die kurzfristigen Zinsen stabilisieren und un-<br />
365
Geldpolitik<br />
vorhergesehene Liquiditätsengpässe im Bankensystem<br />
beseitigen.<br />
Das Mindestreservesystem ist weniger marktkonform<br />
als die Offenmarktgeschäfte. Gleichwohl ist es<br />
notwendig, denn es trägt erheblich zur Effektivität<br />
der Geldpolitik bei – vor allem dadurch, dass damit<br />
ein hinreichend großer und nachhaltiger Bedarf an<br />
Zentralbankgeld geschaffen und die Geldschöpfung<br />
der Geschäftsbanken unter Kontrolle gehalten werden<br />
kann.<br />
5. Strategie – Darstellung: Ebenso wenig wie andere<br />
Zentralbanken kann das Eurosystem direkt auf sein<br />
Endziel, die Inflationsrate, einwirken. Zwischen<br />
dem Einsatz seiner Instrumente und der Inflationsentwicklung<br />
liegt ein langwieriger und komplexer<br />
Transmissionsprozess, während dessen sich geldpolitische<br />
Maßnahmen über den Geschäftsbankensektor<br />
und die Finanzmärkte allmählich auf die gesamte<br />
Wirtschaft und das Preisniveau auswirken. Daher<br />
benötigt jede Zentralbank ein von ihr kontrollierbares<br />
Zwischenziel, das in einem engen Zusammenhang<br />
zum Endziel steht, sowie einen Indikator, der<br />
schnell und präzise den Einfluss geldpolitischer<br />
Maßnahmen misst.<br />
Die Strategie der EZB besteht aus einer Konkretisierung<br />
des Ziels der Preisstabilität und aus zwei sog.<br />
Säulen. Sowohl die Konkretisierung des Ziels als<br />
auchdiebeidenSäulenwurdenvomEZB-RatimMai<br />
2003 modifiziert. Bis Mai 2003 definierte der<br />
EZB-Rat Preisstabilität als mittelfristigen Anstieg<br />
des �Harmonisierten Verbraucherpreisindex von<br />
unter 2 % gegenüber dem Vorjahr. Im Mai 2003 verkündeteer,dasservonnunanmittelfristigeinePreissteigerungsrate<br />
von unter, aber nahe der 2 %-Marke<br />
anstrebe.<br />
ImRahmenderZwei-Säulen-Strategieanalysiertdie<br />
EZB die Risiken für die Preisstabilität anhand von<br />
zwei unterschiedlichen Sichtweisen hinsichtlich der<br />
Funktionsweise der Wirtschaft. Die beiden Sichtweisen<br />
oder Säulen werden seit Mai 2003 als „wirtschaftliche<br />
Analyse“ und „monetäre Analyse“ bezeichnet.DiewirtschaftlicheAnalysebestehtausder<br />
Untersuchung einer breiten Palette von Konjunkturund<br />
Finanzmarktindikatoren (z. B. Löhne, Rohstoffpreise,<br />
Wechselkurse, Anleihekurse, Branchen- und<br />
Verbraucherumfragen). Damit will sich die EZB ein<br />
umfassendes Bild von der aktuellen Wirtschaftslage<br />
verschaffen und beobachten, welche Faktoren sich<br />
auf kürzere Sicht auf die Preisniveauentwicklung<br />
366<br />
auswirken könnten. Untersucht werden vor allem<br />
Schocks (bspw. Ölpreisschocks) und ihre Auswirkungen<br />
auf Konjunktur und Preisniveau.<br />
Im Rahmen der monetären Analyse, die bis Mai 2003<br />
dieersteSäule,seitdemabernurnochdiezweiteSäulebildet,untersuchtdieEZBdiemittel-bislangfristige<br />
Geldmengenentwicklung, vor allem die Entwicklung<br />
der weit gefassten Geldmenge M3. Damit<br />
möchtesiederTatsacheRechnungtragen,dassGeldmengenwachstum<br />
und Inflation mittel- bis langfristig<br />
in enger Beziehung zueinander stehen. Zur Beurteilung<br />
der Geldmengenentwicklung hat die EZB einen<br />
Referenzwert für die jährliche Wachstumsrate<br />
von M3 abgeleitet, der ihrer Auffassung nach im EinklangmitderGewährleistungvonPreisstabilität(gemäß<br />
ihrer Definition) steht. Seit Beginn der dritten<br />
Stufe der Währungsunion beläuft er sich auf 4½ %.<br />
Die EZB hat stets betont, dass es sich bei ihrem Referenzwert<br />
lediglich um eine Orientierungsgröße zur<br />
Beurteilung der Risiken für die Preisstabilität handele,<br />
nicht um ein Zwischenziel. Im Mai 2003 beschloss<br />
der EZB-Rat, den Referenzwert für M3 nicht<br />
mehr wie bis dahin auf jährlicher Basis zu überprüfen.<br />
6. Strategie – Bewertung: Die Konkretisierung des<br />
Ziels der Preisstabilität im Sinne einer Obergrenze<br />
der jährlichen Inflationsrate von unter, aber nahe 2 %<br />
ist nicht ehrgeizig genug. Zahlreiche empirische Untersuchungen<br />
sind für verschiedene Länder zu dem<br />
Ergebnis gekommen, dass mit einer Inflationsrate<br />
von 2 % bereits hohe Wohlfahrtsverluste verbunden<br />
sind. Nach einer Untersuchung der Bundesbank belaufen<br />
sie sich in Deutschland auf nicht weniger als<br />
1,4%desBruttoinlandsprodukts.Zwarkommtesbei<br />
der Berechnung von Verbraucherpreisindizes aufgrund<br />
von Messfehlern meist zu einer leichten Überzeichnung<br />
des tatsächlichen Preisniveauanstiegs;<br />
beim Harmonisierten Verbraucherpreisindex sind<br />
diese Messfehler jedoch äußerst gering.<br />
Bezüglich der monetären Analyse ist positiv festzustellen,<br />
dass die Berücksichtigung des Geldmengenwachstums<br />
aus ökonomischer Sicht unerlässlich ist,<br />
denn Inflation ist auf mittlere bis längere Sicht stets<br />
ein monetäres Phänomen: Ohne ein anhaltendes<br />
übermäßiges Geldmengenwachstum kann das Preisniveau<br />
nicht dauerhaft steigen. Auch der Wert von<br />
4½ % ist insofern vertretbar, als er genügend Raum<br />
für reales Wirtschaftswachstum lässt und Preisniveaustabilität<br />
zumindest im Sinne der EZB (Infla-
tionsrate unter, aber doch nahe 2%p.a.)sichern<br />
könnte.<br />
Negativ zu vermerken ist freilich, dass das Geldmengenwachstum<br />
für die EZB lediglich einen Referenzwert<br />
und kein Zwischenziel darstellt. Wie empirische<br />
Studien (auch des Eurosystems selbst) eindeutig<br />
ergeben haben, erfüllt die Geldmenge M3 des Eurogebiets<br />
die Anforderungen, die an ein Zwischenziel<br />
zu stellen sind: Sie ist hinreichend kontrollierbar<br />
und steht in einem stabilen Kausalzusammenhang<br />
zur Preisniveauentwicklung. Die Geldmenge M3 ist<br />
nachweislich auch der beste Indikator: Sie kann<br />
schneller und präziser gemessen werden als andere<br />
Indikatoren und besitzt gute Vorlaufeigenschaften<br />
hinsichtlich der künftigen Inflation.<br />
Der Sinn der wirtschaftlichen Analyse im Rahmen<br />
der geldpolitischen Strategie ist kaum erkennbar.<br />
Zwar muss sich jede Zentralbank laufend ein umfassendes<br />
Bild von der wirtschaftlichen Lage im jeweiligen<br />
Währungsgebiet verschaffen und dazu eine<br />
Vielzahl statistischer Daten auswerten. Diese Daten<br />
liefern jedoch häufig ein widersprüchliches Bild. Da<br />
eine Zentralbank die kurzfristigen Preisniveauwirkungen<br />
von Schocks und ähnlichen Ereignissen (wie<br />
etwa auch Erhöhungen der Mehrwert- oder Verbrauchssteuern)<br />
aufgrund der rund ein- bis zweijährigen<br />
Wirkungsverzögerungen geldpolitischer Maßnahmenohnehinnichtverhindernkann,lässtsichaus<br />
der wirtschaftlichen Analyse der EZB keine Handlungsanweisung<br />
für die Geldpolitik ableiten – zumindest<br />
keine, die in Bezug steht zu ihrem Ziel mittelfristiger<br />
Preisniveaustabilität.<br />
Seit der Modifikation der geldpolitischen Strategie<br />
vom Mai 2003 ist freilich ohnehin mehr als je zuvor<br />
fraglich, wie ernst die EZB dieses Ziel wirklich<br />
nimmt. Die Anhebung des Inflationsziels zum oberen<br />
Rand des vorherigen Zielkorridors von 0%bis<br />
unter 2 %, die Zurücksetzung der Geldmengenanalyse<br />
von der ersten zur zweiten Säule sowie der Verzicht<br />
auf eine jährliche Überprüfung des Referenzwertes<br />
für M3 deuten sämtlich darauf hin, dass die<br />
EZB dabei ist, zu einer kurzfristigeren, aktivistischen<br />
Geldpolitik überzugehen. Dies wird ihr die Erreichung<br />
des im EG-Vertrag vorgegebenen Ziels der<br />
Preisstabilität erschweren – zumal die Regierungen<br />
und Tarifvertragsparteien bei einer solchen Geldpolitik<br />
geradezu ermuntert werden, politischen Druck<br />
auf den EZB-Rat auszuüben, expansive Maßnahmen<br />
zu ergreifen, um etwa die Arbeitslosigkeit oder den<br />
Geldpolitik<br />
Wechselkurs zu senken. Solche kurzfristigen Maßnahmen<br />
haben sich mittel- und langfristig aber immer<br />
als nutzlos und im Hinblick auf die Preisniveaustabilität<br />
sogar als schädlich erwiesen.<br />
Insgesamt ist die Strategie der EZB inkonsistent, intransparent<br />
und wenig ehrgeizig. Sie liefert dem<br />
EZB-Rat keine klaren Handlungsanleitungen, bindet<br />
ihn nicht an ein zweckmäßiges Zwischenziel und<br />
lässt andere wirtschaftspolitische Entscheidungsträger<br />
sowie die Öffentlichkeit im Unklaren darüber,<br />
welchen geldpolitischen Kurs er eigentlich verfolgt.<br />
Die EZB sollte den Zielwert für die Inflationsrate auf<br />
mittelfristig 0 % bis 1 % p. a. reduzieren und ein mittelfristiges<br />
Geldmengenziel für M3 verfolgen, das<br />
mit diesem Zielwert vereinbar ist.<br />
7. Bisherige Ergebnisse: Seit Beginn der dritten Stufe<br />
der Währungsunion hat der EZB-Rat ein Wachstum<br />
der Geldmenge toleriert, das deutlich über seinen<br />
eigenen Referenzwert hinausging. Zwischen<br />
1999 und 2001 nahm M3 um durchschnittlich 5,3 %<br />
p. a. zu. Zwischen 2002 und 2004 beschleunigte sich<br />
das Wachstum von M3 sogar auf 7,1 % p. a. Im Einklang<br />
mit dieser übermäßigen Geldmengenexpansion<br />
stieg auch die Inflationsrate. Während sie sich im<br />
Durchschnitt der Jahre 1999 bis 2001 noch auf 1,8 %<br />
p. a. belief, betrug sie zwischen 2002 und 2004 schon<br />
durchschnittlich 2,2 % p. a. Seit dem Jahr 2000 liegt<br />
sie ununterbrochen über der 2 %-Marke.<br />
Durch die übermäßige Geldmengenexpansion hat<br />
sich ein erheblicher Geldüberhang gebildet, der die<br />
Inflationsrate selbst nach Analysen der EZB auf bis zu<br />
3½ % p. a. erhöhen könnte. Aufgrund der schwachen<br />
Konjunktur in den größten Euroländern Deutschland,<br />
Frankreich, Italien und des intensiven Wettbewerbs<br />
auf den Gütermärkten im Zuge der fortschreitenden<br />
Globalisierung hat sich dieser Geldüberhang bislang<br />
noch nicht in einer deutlich höheren Inflationsrate<br />
niedergeschlagen.StattdessenistdieLiquiditätnach<br />
dem Crash an den Aktienbörsen zu Beginn des Jahrzehnts<br />
in andere Vermögenswerte wie Anleihen und<br />
Immobiliengeflossen.AufeinigendieserMärktehabensichdadurchinzwischenebenfallsSpekulationsblasen<br />
gebildet. Ein Platzen dieser Blasen könnte die<br />
wirtschaftliche Entwicklung in Euroland noch stärkerbeeinträchtigenalsderseinerzeitigeCrashanden<br />
Aktienbörsen. H. F.<br />
Literatur:<br />
Feldmann, H.: Das geldpolitische Instrumentarium des Europäischen<br />
Systems der Zentralbanken – Eine Analyse des<br />
EWI-Vorschlages. In: Kredit und Kapital 2/1998, S. 273 – 302<br />
367
Geldwäsche<br />
Ders.: Stabilitätsanreize für <strong>Europa</strong>s Zentralbanker. In: Wirtschaftsdienst<br />
2/1998, S. 121 – 128<br />
Görgens, E./Ruckriegel, K./Seitz, F.: Europäische Geldpolitik:<br />
Theorie, Empirie, Praxis. Stuttgart 2004 4<br />
von Hagen, J.: Hat die Geldmenge ausgedient? In: Perspektiven<br />
der Wirtschaftspolitik 4/2004, S. 423 – 453<br />
Geldwäsche bezeichnet finanzielle oder wirtschaftliche<br />
Transaktionen zu dem Zweck, illegal erworbene<br />
flüssige Mittel in das legale Finanzsystem<br />
einzuschleusen. Solche Mittel stammen vor allem<br />
aus Drogenhandel, Menschenhandel, illegalem<br />
Waffenhandel, organisierter Kriminalität und Terrorismus.<br />
Um Geldwäsche zu bekämpfen oder zu verhindern,<br />
erließ die Gemeinschaft 1991 eine Richtlinie zur<br />
Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum<br />
Zwecke der Geldwäsche (91/308, ABl. L 166/1991).<br />
Darin werden Finanzinstitute verpflichtet, Maßnahmen<br />
vorzusehen, die verhindern, dass kriminelle Organisationen<br />
Geldgeschäfte mit ihnen abwickeln.<br />
Die Umsetzung der Richtlinie in deutsches Recht<br />
führte dazu, dass Geldwäsche seit 1992 als Straftat in<br />
das deutsche Strafgesetzbuch aufgenommen ist. Zugleich<br />
wurde das „Gesetz über das Aufspüren von<br />
Gewinnen aus schweren Straftaten“ (kurz: Geldwäschegesetz)<br />
verabschiedet.<br />
Im Rahmen der Zusammenarbeit in den Bereichen<br />
Justiz und Inneres (ZBJI) haben die Mitgliedstaaten<br />
1998 eine Gemeinsame Maßnahme betreffend Geldwäsche,<br />
Ermittlung, Einfrieren, Beschlagnahme und<br />
Einziehung von Erträgen aus Straftaten erlassen<br />
(98/699/JI). Ein Beschluss des Rates regelt die Zusammenarbeit<br />
der zentralen Meldestellen der Mitgliedstaaten<br />
beim Austausch von Informationen<br />
(2000/642/JI).<br />
Geltungsbereiche der Verträge<br />
Zeitlich: Ebenso wie der EG-Vertrag nach Art. 313<br />
und der Euratom-Vertrag nach Art. 208 ist auch der<br />
EU-Vertrag nach Art. 51 zeitlich ausdrücklich auf<br />
unbegrenzte Zeit geschlossen worden. Allein die<br />
Montanunion,diezum23.7.2002inweitenTeilenin<br />
die EG integriert wurde, endete gem. Art. 97 EGKSV<br />
nach 50 Jahren. Auch der neue EU-�Verfassungsvertrag<br />
2004 soll wiederum „ewig“ dauern, sofern er<br />
überhaupt in Kraft treten kann.<br />
Räumlich: Der räumliche Geltungsbereich der EU<br />
und der Gemeinschaften umfasst grundsätzlich die<br />
gesamten Hoheitsgebiete aller Mitgliedstaaten. In-<br />
368<br />
soweit gilt das „Prinzip der beweglichen Unionsbzw.<br />
Vertragsgrenzen“. Beispielsweise wurde das<br />
Gebiet der ehemaligen DDR durch die deutschdeutsche<br />
Vereinigung am 3. 10. 1991 automatisch<br />
Teil der EU. Nicht Teil der EU ist dementsprechend<br />
etwa das Gebiet des Vatikanstaates. Nach Art. 299<br />
des EG-Vertrags sind auch die französischen überseeischen<br />
Departements, die Azoren, Madeira und<br />
die Kanarischen Inseln sowie die Ålandinseln räumlich<br />
umfasst. Ausdrücklich nicht umfasst sind etwa<br />
die Färöer und nur teilweise die Kanalinseln sowie<br />
die Insel Man. Aus dem Prinzip der beweglichen<br />
Vertragsgrenzen folgt auch, dass eine Verkleinerung<br />
eines Mitgliedstaats automatisch eine Verkleinerung<br />
der EU mit sich bringt; so etwa geschehen im<br />
Jahre 1962 bei der Sezession Algeriens von Frankreich<br />
oder der Antillen von den Niederlanden. Für<br />
GrönlanddagegenwurdenvonvornhereinnachArtikel<br />
188 EG Sonderregelungen getroffen, weil es immer<br />
Staatsgebiet Dänemarks blieb.<br />
Plastisch gesehen gehört räumlich zur EU und den<br />
Gemeinschaften auch – neben dem Luftraum über<br />
den Mitgliedstaaten – das Festland, der Festlandssockel<br />
sowie die seewärtige Wirtschaftszone von 200<br />
Seemeilen (das „EU-Meer“), was u. a. eine Zuständigkeit<br />
der Union für Fischerei und die Ausbeutung<br />
derMeeresschätzemitsichbringt. J. M. B.<br />
Gemeindepartnerschaften (Jumelages) streben<br />
dauerhafte Verbindungen der verschwisterten Gemeinden<br />
an, werden vom �Rat der Gemeinden und<br />
Regionen <strong>Europa</strong>s gefördert, vom Städtepartnerschaftsfonds<br />
der EU bezuschusst; die Initiative und<br />
Verwaltung liegt in der Regel beim zuständigen Amt<br />
der städtischen Verwaltung oder/und bei (privaten)<br />
bürgerschaftlichen Partnerschaftsvereinen oder -komitees<br />
bzw. beim zuständigen Ausschuss des Rates<br />
der Stadt/Gemeinde (Stadtverordneten-, Gemeindeversammlung).<br />
In Westeuropa gibt es ca. 6 000 kommunale<br />
Partnerschaften.<br />
Ziel: Weckung eines europäischen �Bewusstseins,<br />
AustauschderBürger/innen(Gruppen,Vereine,Parteien)<br />
oder von Verwaltungsbeamten bzw. kommunalen<br />
Parlamentariern (gegenseitige Information<br />
über spezifische städtische Strukturen), Sympathie<br />
und Freundschaft zwischen den Völkern, Schul-,<br />
Schüler/innen-, Lehrlingsaustausch u. dgl.<br />
Inzwischen bestehen Gemeindepartnerschaften in<br />
ganz <strong>Europa</strong> und Übersee, die meisten (ca. 1 700)
zwischen Gemeinden in Frankreich und Deutschland.<br />
W. M.<br />
Anschrift: Institut für europäische Partnerschaften und internationale<br />
Zusammenarbeit, Adenauerallee 176, 53113 Bonn<br />
Literatur:<br />
Generalsekretariat der Europäischen Kommission: Ein <strong>Europa</strong><br />
der Städte und Gemeinden. Handbuch für Städtepartnerschaften.<br />
Luxemburg 1997 (Amt für amtliche Veröffentlichungen<br />
der EG)<br />
Mirek, H.: Deutsch-Französische Gemeindepartnerschaften.<br />
Kehl/Rh. 1984<br />
Rat der Gemeinden und Regionen <strong>Europa</strong>s, Deutsche Sektion:<br />
Leitfaden für die Partnerschaftsarbeit. Düsseldorf 1990<br />
Woester, D. M. (Hg.): Städtepartnerschaften in der Praxis.<br />
Handbuch für Städte- und Schulpartnerschaften. Bonn 1998<br />
Gemeinsame Agrarpolitik (GAP)<br />
1. Begriff: Die Union legt eine gemeinsame Agrarund<br />
Fischereipolitik fest und führt sie durch. Nach<br />
dem Verfassungsvertrag von 2004 sind Landwirtschaft<br />
und Fischerei Bereiche mit geteilter Zuständigkeit<br />
(Art. I-14 VVE). Die Union teilt ihre Zuständigkeit<br />
mit den Mitgliedstaaten.<br />
Entsprechend Art. 32 EGV (Art. III–225 VVE 2004)<br />
sind unter landwirtschaftlichen Erzeugnissen die Erzeugnisse<br />
des Bodens, der Viehzucht und der FischereisowiediemitdieseninunmittelbarenZusammenhang<br />
stehenden Erzeugnisse der ersten Verarbeitungsstufe<br />
zu verstehen. Landwirtschaft und der<br />
Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen werden<br />
auch vom Binnenmarkt umfasst. Die Vorschriften<br />
für die Verwirklichung des Binnenmarktes finden<br />
auf die landwirtschaftlichen Erzeugnisse Anwendung.<br />
Mit seinem Funktionieren und mit seiner<br />
Entwicklung muss die Gestaltung einer gemeinsamen<br />
Agrarpolitik (GAP) Hand in Hand gehen (Art.<br />
32 Abs. 2 und 4 EGV bzw. Art. III-226 VVE).<br />
2.Grundprinzipienund Ziele:MitderErrichtungder<br />
�Zollunion für den landwirtschaftlichen Bereich<br />
wurde 1970 der Gesamtrahmen für die GAP abgeschlossen.<br />
Grundprinzipien der Agrarpolitik und des<br />
Agrarmarktes sind:<br />
– das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung<br />
(Markteinheit):freierWarenverkehrfürProdukteinnerhalb<br />
der Gemeinschaft;<br />
– das Prinzip der Gemeinschaftspräferenz: gemeinsamerAußenschutzgegenüberdemWeltmarktund<br />
– das Prinzip der finanziellen Solidarität: gemeinsameFinanzierungdurchalleMitgliedsländerüberden<br />
�Haushalt der EU.<br />
ZielderGAPistes(Art.33EGV;Art.III–227VVE):<br />
Gemeinsame Agrarpolitik<br />
– die Produktivität der Landwirtschaft durch Förderung<br />
des technischen Fortschritts, Rationalisierung<br />
der landwirtschaftlichen Erzeugung und den bestmöglichen<br />
Einsatz der Produktionsfaktoren, insbes.<br />
der Arbeitskräfte, zu steigern;<br />
– auf diese Weise der landwirtschaftlichen Bevölkerung,<br />
insbes. durch Erhöhung des Pro-Kopf-<br />
Einkommens der in der Landwirtschaft tätigen Personen,<br />
eine angemessene Lebenshaltung zu gewährleisten;<br />
– die Stabilisierung der Märkte (unabhängig von<br />
Schwankungen der Preise und Erntemengen auf den<br />
Weltmärkten);<br />
– die Versorgung sicherzustellen;<br />
– fürdieBelieferungderVerbraucherzuangemessenen<br />
Preisen Sorge zu tragen.<br />
3.Organisation: ZurRealisierungderZielederGAP<br />
wird eine gemeinsame Organisation der Agrarmärkte<br />
geschaffen. Diese besteht je nach Erzeugnis aus einer<br />
der folgenden Organisationsformen:<br />
– gemeinsame Wettbewerbsregeln;<br />
– bindende Koordinierung der verschiedenen einzelstaatlichen<br />
Marktordnungen;<br />
– eine europäische Marktordnung.<br />
Die gemeinsame Organisation beinhaltet alle zur<br />
Durchführung erforderlichen Maßnahmen, insbes.<br />
Preisregelungen, Beihilfen für die Erzeugung und<br />
die Verteilung der verschiedenen Erzeugnisse, Einlagerungs-<br />
und Ausgleichsmaßnahmen, gemeinsame<br />
Einrichtungen zur Stabilisierung der Ein- und<br />
Ausfuhr. Um die Erreichung der Ziele zu ermöglichen,<br />
können ein oder mehrere Ausrichtungs- und<br />
Garantiefonds für die Landwirtschaft geschaffen<br />
werden.<br />
Der Ministerrat erlässt auf Vorschlag der Kommission<br />
die Verordnungen zur Festsetzung der Preise, der<br />
Abschöpfungen,derBeihilfenunddermengenmäßigen<br />
Beschränkungen sowie zur Festsetzung und<br />
Aufteilung der Fangmöglichkeiten in der Fischerei<br />
(�Fischereipolitik).<br />
4. Marktordnungen und Preisgefüge: Marktordnungen<br />
für einzelne Agrarprodukte steuern den Agrarmarkt.<br />
Die Marktordnungen sind staatliche Eingriffe<br />
in den freien Markt. Sie heben insbes. den Mechanismus<br />
der freien Preisbildung auf. Sie regulieren<br />
Agrarerzeugnisse binnenwirtschaftlich durch Richtpreise<br />
und Interventionspreise und außenwirtschaftlich<br />
durch Schwellenpreise.<br />
Kernstück der GAP war die Sicherung der landwirt-<br />
369
Gemeinsame Agrarpolitik<br />
schaftlichenEinkommendurchPreis-undAbsatzgarantien<br />
für wichtige Agrarprodukte. Die dazu erforderlichen<br />
Preisfestsetzungen werden vom Ministerrat<br />
(Landwirtschaftsminister) getroffen.<br />
Das Preisgefüge der GAP ist grundsätzlich durch<br />
verschiedene Preissysteme strukturiert, die jedoch<br />
im Rahmen des GAP-Reformprozesses 2003 zunehmend<br />
verändert werden:<br />
a) Der Richtpreis ist der agrarpolitisch erwünschte<br />
Erzeugerpreis, der die Einkommenssicherung der<br />
LandwirteundeineangemessenePreisgestaltungfür<br />
die Verbraucher zum Ziel hat. Er wird dem Erzeuger<br />
für seine Produkte gewährleistet.<br />
b) Der Interventionspreis ist der Preis, der den Landwirten<br />
für ihre Produkte garantiert wird. Fällt der<br />
Preis für Agrarprodukte unter diese Festsetzung,<br />
müssen die Interventionsstellen der Union die ihnen<br />
angebotenen Erzeugnisse zu dem garantierten Preis<br />
ankaufen. Die Produkte werden gelagert, umgewandelt<br />
und bei Bedarf verkauft (auch vernichtet).<br />
c) Nach dem Prinzip der Gemeinschaftspräferenz<br />
werden mit Maßnahmen gegenüber �Drittländern<br />
die Agrarprodukte aus der Union bevorzugt behandelt.<br />
Richt- und Interventionspreis liegen im Regelfalle<br />
höher als der Weltmarktpreis. Beim Import billigerer<br />
Agrarprodukte wird ein Einschleusungspreis<br />
(Schwellenpreis) festgesetzt, damit der Abgabepreis<br />
eines Produktes aus einem Drittland unter Berücksichtigung<br />
der Transportkosten dem Richtpreis entspricht.<br />
Die Differenz zwischen dem Weltmarktpreis<br />
und dem Einschleusungspreis wird durch eine<br />
�Abschöpfung ausgeglichen. Die Abschöpfung bewirkt<br />
eine Anpassung der Preise für Importgüter an<br />
das hohe Unionsniveau. Bei Exporten werden von<br />
der EU umgekehrt �Ausfuhrerstattungen gewährt<br />
(Differenz zwischen EU-Preis und niedrigerem<br />
Weltmarktpreis). Damit werden per Subvention die<br />
Preise für EU-Produkte auf ein konkurrenzfähiges<br />
Weltmarktniveau abgesenkt.<br />
5. Finanzierung: Die Finanzierung der GAP erfolgt<br />
über den Europäischen Ausrichtungs- und Garantiefonds<br />
für die Landwirtschaft (EAGFL, �Fonds der<br />
EU). Die Abteilung „Garantie“ des Fonds beinhaltet<br />
die Gelder, die für Interventionen auf dem Binnenmarkt<br />
zur Preisregulierung (insbes. Kauf der Überschüsse,<br />
anfallende Lagerkosten, Direktzahlungen)<br />
und für die Erstattungen im Exportgeschäft ausgegeben<br />
werden. Die Abteilung „Ausrichtung“ des Fonds<br />
finanziert Maßnahmen zur Verbesserung der Pro-<br />
370<br />
duktions- und Verarbeitungsbedingungen und der<br />
Qualität von Agrarprodukten sowie Programme zur<br />
Verbesserung der ländlichen Infrastruktur.<br />
Die Ausgaben für die GAP beanspruchen einen<br />
Großteil der Ausgaben des EU-Haushalts (2005:<br />
49,1 Mrd. Euro = 46 % des Haushaltsvolumens der<br />
Zahlungsermächtigungen von 106,3 Mrd. Euro).<br />
6. Krisenindikatoren: Mit der Steigerung der landwirtschaftlichen<br />
Leistungsfähigkeit (zwischen 1973<br />
und 1988 stieg die landwirtschaftliche Produktion in<br />
der Union durchschnittlich um jährlich 2 % an, der<br />
Verbrauch an landwirtschaftlichen Produkten aber<br />
nur um 0,5 %; bei Einzelprodukten wie Getreide,<br />
Milch und Zucker betrug die gesamte Steigerungsrate<br />
der Produktion 50 %), der Sicherung der Nahrungsmittelversorgung<br />
und der Erhöhung der landwirtschaftlichen<br />
Einkommen (trotz großer Einkommensunterschiede)<br />
hat die GAP drei Zielsetzungsvorgaben<br />
erreicht. Doch während die Landwirte<br />
durch den Einsatz von Technik die Erträge ständig<br />
steigerten, führte das sich wandelnde Verbraucherverhalten<br />
zu sinkender Nachfrage. Negative Folgen<br />
sind insbes. die beschleunigte Industrialisierung der<br />
Agrarproduktion und die Vergrößerung landwirtschaftlicher<br />
Betriebe durch Konzentration, die teilweise<br />
überhöhten Verbraucherpreise und die Überschussproduktion.<br />
Als weitere Krisenindikatoren der GAP lassen sich<br />
anführen:<br />
– die Folgen der Überschussproduktion (insbes.<br />
Vernichtung, Lagerung, Umwandlung und subventionierte<br />
Exporte der Agrarprodukte);<br />
– die ausufernde Belastung des EU-Haushaltes, wodurchdieWeiterentwicklungandererPolitiken(z.B.<br />
�Regional-, �Struktur- oder �Sozialpolitik) gefährdet<br />
werden (Anfang der 1980er Jahre umfasste der<br />
Agrarsektor 75 % des gesamten Haushaltes);<br />
– die Belastung des Weltmarktes durch subventionierte<br />
Agrarprodukte aus der EU (z. B. Handelskonflikte<br />
im Rahmen der �WTO);<br />
– die Einkommenslage der Landwirte mit ihren krassen<br />
Einkommensunterschieden (Nutznießer der<br />
GAP sind zu 80 % die Großbetriebe);<br />
– die Subventionspriorität für investierende Wachstumsbetriebe,<br />
die ihre Produktivität erhöhen (Entwicklung<br />
zur Agrarindustrie);<br />
– der Fleischmarkt, der zu Massentierhaltung und<br />
Seuchen (insbes. Schweinepest, �BSE) führte;<br />
– die Umweltschäden durch eine intensivere Nut-
zung der Agrarflächen aufgrund erhöhten Düngemittel-<br />
und Pestizideinsatzes;<br />
– die Lagerbestände der EU;<br />
– das Interventionspreissystem, da sich die Landwirtschaft<br />
kaum um Absatzmöglichkeiten für ihre<br />
Produkte kümmern muss.<br />
7. Entwicklung des GAP-Reformprozesses: Zahlreiche<br />
Reformen wurden begonnen, um vor allem der<br />
Überschussproduktion entgegenzuwirken. Der Reformprozess<br />
begann 1979 mit ersten Maßnahmen<br />
zur Reduzierung der Überschüsse an Molkereiprodukten<br />
(Mitveranwortungsabgabe der Landwirte für<br />
Lagerung und Absatz von Überschüssen). 1984 wurden<br />
Produktionsquoten für Milch eingeführt und<br />
1988 auf die meisten anderen Bereiche übertragen.<br />
EinAnwachsenderÜberschussproduktionenkonnte<br />
mit diesen Reformansätzen nicht entscheidend verhindert<br />
werden. Deshalb beschloss der Rat im Juni<br />
1992 eine grundlegende Reform, die bis 1997 stufenweise<br />
realisiert wurde. Das veränderte System der<br />
Förderung bestraft die Überproduktion und rückt andere<br />
Leistungen stärker in den Vordergrund. Sie bildet<br />
damit auch den Kern einer Strategie zur Entwicklung<br />
des ländlichen Raumes. Grundprinzipien sind<br />
u. a.<br />
– die stärkere Berücksichtigung ökologischer Gesichtspunkte<br />
in der Agrarproduktion;<br />
– derSchutzderUmwelt,derLandwirtschaftundder<br />
natürlichen Ressourcen;<br />
– das Marktgleichgewicht und der Abbau der Exportaktivitäten<br />
durch Produktionsverringerung und<br />
– die Umwandlung der Marktordnungsausgaben in<br />
direkte Beihilfen.<br />
Die Reform betraf vor allem Getreide, Ölsaaten, Eiweißpflanzen<br />
und die Rindfleischerzeugung. Sie beinhaltet<br />
im Wesentlichen Preissenkungen und Flächenstilllegungen.<br />
Als Entschädigungen für ihre<br />
Einkommensverluste erhalten die Landwirte Direktbeihilfen.<br />
Die Reform war für den Welthandelsprozess 1993<br />
erforderlich und veränderte entscheidend die Rahmenbedingungen<br />
für Landwirte in der Union:<br />
– Direkttransfers bestimmen die Einkommenshöhe<br />
der Betriebe; sie sind an die Fläche gekoppelt; damit<br />
bestimmt die Ausstattung mit dem Produktionsfaktor<br />
Boden das Einkommenspotenzial usw.<br />
– Durch die Reform wird für die Landwirte der Anbau<br />
nachwachsender Rohstoffe attraktiver, da auf<br />
stillgelegten Flächen (bei voller Stilllegungsprämie)<br />
Gemeinsame Agrarpolitik<br />
Erzeugnisse angebaut werden können, die nicht in<br />
derNahrungsmittelproduktionVerwendungfinden.<br />
Mit der �Agenda 2000 kam es zu weiteren Reformansätzen.<br />
Ziele des Reformprozesses im Rahmen der<br />
Agenda 2000 (vorgelegt 1997) waren die Erweiterungsfähigkeit<br />
der Union und die Fortentwicklung<br />
der weltweiten Märkte im Rahmen der �WTO-Verhandlungen<br />
(1999).<br />
Die Kommission vertrat die grundlegende Position,<br />
dass die Union den Weg zu einer mehr marktorientierten<br />
Landwirtschaft einschlagen sollte: wettbewerbsfähig,<br />
marktorientiert und umweltfreundlich.<br />
Gleichzeitig gab die Kommission den Mitgliedsländern<br />
Gelegenheit, ihre regionalen Besonderheiten<br />
stärker zu berücksichtigen (Dezentralisierung in einemgemeinschaftlichenRahmen).DieKommission<br />
wollte vor allem weg von den Preisstützungsmaßnahmen<br />
und hin zu direkten Einkommenshilfen.<br />
Gleichzeitig wurden die Stützpreise deutlich gesenkt:fürGetreideum20%,fürRindfleischum30%<br />
und für Milch um 10 %. Die Preissenkungen wurden<br />
durchdirekteAusgleichszahlungenandieLandwirte<br />
abgemildert.<br />
Neben den veränderten Stützpreisen stellte die<br />
Strukturpolitik in der Agenda 2000 den zweiten inhaltlichen<br />
Schwerpunkt dar. Zur Förderung der<br />
nachhaltigen Entwicklung des ländlichen Raumes<br />
wurden insbes. Instrumente zur Förderung des Umweltschutzes<br />
in der Landwirtschaft entwickelt. Von<br />
Bedeutung sind dabei Dienstleistungen, die Landwirten<br />
besondere Anstrengungen abverlangen, z. B.<br />
ökologischer Landbau und die Erhaltung naturnaher<br />
Lebensräume. Die Agenda 2000 war eine wichtige<br />
Vorstufe zur „Agrarwende“, der Reformbemühungen<br />
ab 2003, die mit den Jahren 2005/2006 Kernstück<br />
der GAP ist.<br />
8. Die Reform 2003 („Agrarwende“): Die „Agrarwende“<br />
ist als Eingeständnis der Union zu werten,<br />
dass die GAP des alten Stils versagt hat. Hergebrachte<br />
Instrumente wie Stützungspreise, Exporterstattungen<br />
und produktionsbezogene Prämien führten<br />
weder zu einem Gleichgewicht der Märkte noch zu<br />
einer gerechten Einkommensverteilung.<br />
Nahrungsmittelskandale wie BSE oder hormonverseuchte<br />
Tiernahrung machten deutlich, dass die<br />
Union bei der Lebensmittelherstellung statt auf<br />
Quantität auf Qualität setzen muss. Die Landwirte<br />
erhalten mit der Reform ihre Zahlungen nicht ohne<br />
Gegenleistung. Voraussetzung ist die Erfüllung ho-<br />
371
Gemeinsame Agrarpolitik<br />
her Qualitätsstandards in den Bereichen Umweltschutz,<br />
Bodenbewirtschaftung und Tierschutz.<br />
Die beiden Pfeiler der Reform der Gemeinsamen<br />
AgrarpolitikvomJuni2003gründensichaufdieEntkoppelung<br />
der Direktbeihilfe an die Erzeuger (die<br />
Trennung zwischen Beihilfen und Erzeugung) sowie<br />
die Einführung der Betriebsbeihilferegelung. Mit<br />
der Entkoppelung werden die Beihilfen den Erzeugern<br />
vollkommen unabhängig von der Erzeugungsart<br />
gezahlt (vgl. �Gemeinsame Agrarpolitik – Verordnungen<br />
zur Reform 2003).<br />
Mit Beginn des Jahres 2005 trat die Reform der GAP<br />
in der gesamten Union in Kraft. Im Kern sieht die Reform<br />
vor, dass die meisten Beihilfen für Landwirte<br />
unabhängig vom Produktionsvolumen gewährt werden.<br />
Diese neuen „Betriebsprämien“ sind an die Einhaltung<br />
von Standards in den Bereichen Umwelt, Lebensmittelsicherheit<br />
und Tierschutz gebunden (sog.<br />
Modulation). Statt wie seither Produktionsentscheidungen<br />
von der Höhe der möglichen Subventionen<br />
abhängig zu machen, erhalten die Landwirte jetzt<br />
Zahlungen unabhängig davon, was sie anbauen oder<br />
wie viele Tiere sie halten (produktionsentkoppelte<br />
Zahlungen). Sie haben damit die Freiheit, das zu produzieren,<br />
was die Verbraucher nachfragen, sich neuen<br />
Märkten zu stellen und diese zu erschließen. Um<br />
diese marktwirtschaftliche Rolle wahrnehmen zu<br />
können, bietet die GAP den Landwirten die notwendige<br />
Einkommensstabilität, damit sie ihre wichtige<br />
Funktion im Zentrum der ländlichen Wirtschaft<br />
wahrnehmenkönnen.DamitwerdenauchstrukturelleZieleverfolgt:StoppderLandfluchtundErhaltdes<br />
ländlichen Erbes. Jährlich werden z. B. 1,2 Mrd.<br />
Euro zur Entwicklung des ländlichen Raumes bereitgestellt.<br />
Kernpunkte der neuen GAP sind:<br />
8.1 Einheitliche Betriebsbeihilfe: Jeder Inhaber eines<br />
landwirtschaftlichen Betriebs hat unabhängig<br />
von seiner Erzeugung und als ergänzende Leistung<br />
zu seinem Einkommen Anspruch auf Direktzahlungen.<br />
Besondere Stützungsregelungen bestehen z. B.<br />
für Hartweizen, Eiweißpflanzen, Reis, Schalenfrüchte,<br />
Energiepflanzen, Kartoffelstärke, Milcherzeugnisse,<br />
Saatgut, Schaf- und Ziegenfleisch, Rindfleisch,<br />
Baumwolle, Tabak, Hopfen sowie für Landwirte,<br />
die Olivenhaine erhalten. Die Betriebsbeihilfe<br />
ist eine Einkommensbeihilfe für die Landwirte, eine<br />
jährliche Zahlung. Hauptzweck dieser Zahlung ist<br />
es, den Landwirten ein stabileres Einkommen zu sichern.<br />
Diese können entscheiden, was sie erzeugen<br />
372<br />
wollen, ohne die Beihilfen zu verlieren, wenn sie das<br />
Angebot an die Nachfrage anpassen.<br />
8.2 Gewährung der Direktzahlungen: Der Betriebsinhaber<br />
erhält Direktzahlungen unter der Auflage,<br />
dass er die Böden in gutem landwirtschaftlichem ZustanderhältunddiedieGesundheitvonMensch,Tier<br />
und Pflanzen betreffenden Vorschriften sowie die<br />
Umwelt- und die Tierschutzauflagen einhält.<br />
Zwischen den Jahren 2005 und 2012 werden die Direktzahlungen,<br />
ausgenommen diejenigen für Landwirte<br />
in den Gebieten in äußerster Randlage (französische<br />
überseeische Departements, Azoren und Madeira<br />
und Kanarische Inseln) und den Inseln des<br />
Ägäischen Meeres jährlich gekürzt um 3 % (2005),<br />
4 % (2006), dann 5%indenFolgejahren. Die dadurch<br />
eingesparten Beträge werden auf die Mitgliedstaaten<br />
aufgeteilt und für Maßnahmen zur Entwicklung<br />
des ländlichen Raums eingesetzt.<br />
8.3 Flächenstilllegungen: Die Betriebsinhaber sind<br />
verpflichtet, einen Teil ihrer Flächen – mit Ausnahme<br />
jener Flächen, die für den biologischen Anbau<br />
oder für den Anbau von Erzeugnissen, die nicht für<br />
den menschlichen oder tierischen Verbrauch bestimmt<br />
sind – stillzulegen. In diesem Fall erhalten sie<br />
Direktzahlungen. Die stillgelegten Flächen sind in<br />
gutem landwirtschaftlichem und ökologischem Zustand<br />
zu erhalten und dürfen in den Fruchtwechsel<br />
einbezogen werden. Außerdem sind die Landwirte<br />
berechtigt, hierauf Ölsaaten anzubauen oder Biomasse<br />
zu gewinnen, die vorrangig nicht für Nahrungsmittel<br />
verwendet werden.<br />
8.4 Zusatzprämien: Diese werden für ausgewählte<br />
Agrarprodukte (z. B. Hartweizen, Eiweißpflanzen,<br />
Reis, Schalenfrüchte, Energiepflanzen, Stärkekartoffeln,<br />
Milchprämie) gewährt. Exemplarisch seien<br />
vier Regelungen im Rahmen der gemeinsamen<br />
Marktorganisation (GMO) genannt:<br />
– Hartweizen: Die Beihilfe für Hartweizen, die für<br />
Qualitätsverbesserungen gezahlt wird, beträgt im<br />
Rahmen der nationalen Obergrenzen 40 Euro pro<br />
Hektar.<br />
– Eiweißpflanzen: Die Beihilfe für Erbsen, Ackerbohnen<br />
und Süßlupinen beträgt 55,57 Euro/Hektar<br />
bei einer Anbaufläche von 1,4 Mio. Hektar in der Europäischen<br />
Union.<br />
– Reis: Zur Erhaltung bestimmter traditioneller Anbaugebiete<br />
erhalten die Erzeuger eine ertragsabhängige<br />
Beihilfe für Reis für eine Garantiehöchstfläche<br />
in den einzelnen Mitgliedstaaten.
– Schalenfrüchte: Zum Schutz bestimmter traditioneller<br />
Erzeugnisse kann den Erzeugern eine Beihilfe<br />
in Höhe von 120,75 Euro/Hektar für den Anbau von<br />
Haselnüssen, Walnüssen, Pistazien und Mandeln gezahlt<br />
werden.<br />
8.5 Integriertes Verwaltungs- und Kontrollsystem<br />
(InVeKoS): Jeder Mitgliedstaat richtet ein integriertes<br />
Verwaltungs- und Kontrollsystem ein, das folgende<br />
Bestandteile umfasst: eine elektronische Datenbank,<br />
ein System zur Identifizierung landwirtschaftlicher<br />
Parzellen, ein System zur Identifizierung<br />
und Registrierung von Zahlungsansprüchen,<br />
die Beihilfeanträge, ein integriertes Kontrollsystem,<br />
ein einheitliches System zur Erfassung der Betriebsinhaber,<br />
die einen Beihilfeantrag stellen.<br />
Durch das InVeKoS können die vom Betriebsinhaber<br />
eingereichten Zahlungsanträge kontrolliert werden.<br />
Die Betriebsinhaber stellen jährlich einen Antrag<br />
auf Direktzahlungen. Die Mitgliedstaaten führen<br />
hierauf die erforderlichen Kontrollen durch. Bei<br />
Nichteinhaltung der Vorschriften kann die gewährte<br />
Beihilfe gekürzt oder gestrichen werden.<br />
8.6 Cross Compliance: Nun wurde mit der Reform<br />
derGAPnichtnurdieEntkoppelungbestimmterPrämien<br />
von der Produktion eingeführt (Betriebsprämienregelung),<br />
sondern auch eine obligatorische<br />
Cross Compliance (CC) Regelung. CC heißt, dass<br />
die Landwirte ihr Geld nur dann ungekürzt ausgezahlt<br />
bekommen, wenn sie alle anderweitigen Verpflichtungen<br />
einhalten. Diese beruhen auf zwei Säulen:<br />
Grundanforderungen an die Betriebsführung<br />
(geregelt in 19 EU-Rechtsvorschriften) und der Erhalt<br />
der Flächen in einem guten landwirtschaftlichen<br />
und ökologischen Zustand. Als Qualitätsparameter<br />
sind festgelegt: Erosionsschutz, Fruchtfolgegestaltung,<br />
Humuserhalt, Erhaltung von Landschaftselementen<br />
und Erhaltung von Dauergrünland.<br />
Die darauf aufbauende Betriebsprämienregelung ist<br />
äußert kompliziert. Exemplarisch wird das System<br />
an dem Parameter der Landschaftselemente (LE)<br />
verdeutlicht. So gelten ausgewählte LE unter bestimmten<br />
Voraussetzungen als Teil der genutzten<br />
landwirtschaftlichen und damit beihilfefähigen Fläche<br />
im Rahmen der Betriebsprämienregelung. Die<br />
CC-Verordnung (1782//2003, ABl. L 270/2003) definiert<br />
detailgenau Hecken, Baumreihen, Feldgehölze,<br />
Feuchtgebiete und Einzelbäume als beihilfefähig.<br />
Die Landwirte kommen in der Kategorie LE und<br />
Betriebsprämienregelung dann zu einer „entkoppel-<br />
Gemeinsame Agrarpolitik<br />
ten Prämie“, wenn ein LE alle Eigenschaften des<br />
Schlages aufnimmt, dem es zugeordnet ist. Dementsprechend<br />
erhält ein Landwirt für LE auf Ackerland<br />
den entsprechenden Wert der Ackerland-Prämie, für<br />
ein LE im Grünland den Wert der Grünland-Prämie<br />
und für LE auf stillgelegten Flächen gibt es den Wert<br />
der Stilllegungs-Prämie. Im Antragsverfahren wird<br />
die Fläche des LE zur Nettofläche des Schlages hinzuaddiert.<br />
Bezieht ein Landwirt jedoch Eiweiß- und<br />
Energiepflanzenprämie („gekoppelte Prämie“), gehören<br />
die LE nicht zur beihilfefähigen Fläche.<br />
8.7 Zuckermarkt: Reformiert wird auch die Zuckermarktordnung,<br />
die unverändert seit 1970 bestand.<br />
Sie ist nicht mehr zukunftsfähig, zum einen weil die<br />
KonsumentenzuhohePreisebezahlen.Zumanderen<br />
ist sie im Weltvergleich nicht wettbewerbsfähig und<br />
schafft Umweltprobleme. Schließlich stehen Angebot<br />
und Nachfrage nicht im Gleichgewicht zueinander.<br />
Die Union muss daher erhebliche Mengen Zuckerexportierenundsubventioniertdiesmit1,3Mrd.<br />
Euro jährlich (2004). Die Reform der Zuckermarktordnung<br />
zielt darauf ab, die Produktion auf einem<br />
niedrigeren Niveau nachhaltig zu stabilisieren. Die<br />
wichtigsten mengenbezogenen Änderungen für den<br />
Reformprozess in den Jahren 2005 – 2009 sind: Senkung<br />
des Stützungspreises für Zucker, Senkung der<br />
Mindestpreise für Zuckerrüben, Verringerung der<br />
Exportsubventionen. Zur Kompensation sollen die<br />
Rübenbauern Ausgleichszahlungen erhalten.<br />
9. Fazit: Nun wurde mit der „Agrarwende“ die Art<br />
der Unterstützung der Landwirtschaft grundlegend<br />
verändert. Jahrelange Kritikpunkte an der GAP –<br />
ökologisch verwerflich, ökonomisch falsch und entwicklungspolitisch<br />
ein Desaster – scheinen überwunden.<br />
Die meisten GMO sind in den Jahren 2005 und 2006<br />
zur einheitlichen Betriebsprämienregelung übergegangen.<br />
Die Beihilfen sind von der Erzeugung getrennt.<br />
Unter Berücksichtigung bestimmter KriterienkönnenbestehendeDirektbeihilfenbis2012beibehalten<br />
werden, sie werden jedoch schrittweise gekürzt.<br />
Die GAP-Reform sieht sich auch als Antwort auf die<br />
globalen Herausforderungen. Die Stärke der EU-<br />
Landwirtschaft (gegenüber Massenprodukten aus<br />
Ländern wie Brasilien oder China) ist die Qualitätserzeugung.<br />
Damit erhalten die Verbraucher sichere<br />
Nahrungsmittel, mehr Tierschutz und eine gesunde<br />
Umwelt.DieUnionschraubtihreAusfuhrsubventio-<br />
373
Gemeinsame Agrarpolitik – Agrarreform<br />
nen deutlich zurück und ist bereit, sie ganz auslaufen<br />
zu lassen, wenn dies weltweit erklärt wird. Damit ist<br />
die Reform ein wichtiger Beitrag zu einem stärker<br />
marktorientierten Weltagrarhandel.<br />
ZudenStärkenderAgrarwirtschaftinderUnionzählen<br />
immer mehr technologische Innovationen. Im Informationssektor<br />
steht den Landwirten z. B. online<br />
die MARS-Datenbank zur Verfügung (Monitoring<br />
Agriculture with Remote Sensing). Aus satellitengestützten<br />
gesammelten Daten werden Prognosen über<br />
Ernteerträge erstellt. Eine weitere Aufgabe ist die<br />
Beobachtung von Parzellen. Das MARS-Projekt unterstützt<br />
auch die Verwaltung der GAP. Mit Hilfe der<br />
Messungen sollen der Subventionsmissbrauch weiter<br />
eingedämmt und die Beantragung von Beihilfen<br />
erleichtert werden. Begünstigt wurde der GAP-<br />
Strukturwandel auch durch die erforderliche Erweiterungsfähigkeit<br />
der Union im Vorfeld der 10er-<br />
Erweiterung 2004. Die Integration des landwirtschaftlichen<br />
Sektors der Beitrittsländer in die GAP<br />
war eine der zentralen Herausforderungen.<br />
Mit der Erweiterung am 1. 5. 2004 veränderten sich<br />
auch Zuständigkeiten in der Kommission: Mit 25<br />
Kommissionsbereichen ist die Kommission 2004 –<br />
2009 breit gefächert. Die Zuständigkeiten für die<br />
GAP sind neben dem Kernbereich „Landwirtschaft<br />
und ländliche Entwicklung“ auf weitere vier Kommissionsbereiche<br />
verteilt: Fischerei und maritime<br />
Angelegenheiten, Gesundheits- und Verbraucherschutz,Umwelt,BinnenmarktundDienstleistungen.<br />
Hier wird die Praxis zeigen, inwieweit es gelingt, die<br />
Zuständigkeitsbereiche im Interesse der GAP-Ziele<br />
zu verzahnen. Gleiches gilt für die Mitgliedstaaten<br />
mit ihren Regionen und die damit einhergehende<br />
große landwirtschaftliche Ausdifferenzierung: Peripheriegebiete<br />
(wie die Kanarischen Inseln), Nordregionen<br />
in Finnland und Schweden, alpine Landwirtschaft<br />
in Österreich oder die sehr bäuerliche Landwirtschaft<br />
in Osteuropa konkurrieren untereinander<br />
und miteinander um die nationalen Interessenlagen<br />
großer Mitgliedstaaten wie Frankreich und Deutschland.<br />
L. U.<br />
Literatur:<br />
Angres, V. u. a.: Bananen für Brüssel. München 1999<br />
Ekelmans, J.: Die Neuregelung der Agrarmärkte.<br />
Luxemburg 1993<br />
Kommission der EG (Hg.): Die Zukunft unserer Landwirtschaft.<br />
Brüssel/Luxemburg 1993<br />
Lippert, B. (Hg.): Bilanz und Folgeprobleme der<br />
EU-Erweiterung. Baden-Baden 2004<br />
374<br />
Gemeinsame Agrarpolitik – Verordnungen zur<br />
Agrarreform 2003. Die Vorschläge der Agenda<br />
2000(vomEuropäischenRatinBerlinam26.3.1999<br />
verabschiedet) sind in den folgenden Jahren im Wesentlichen<br />
umgesetzt worden, insbes. nach der Midterm-review<br />
von 2003. Maßgeblich dafür ist die<br />
Ratsverordnung 1782/2003 (ABl. L 270/2003), geändertdurchVerordnung21/2004(ABl.L5/2004).<br />
Durchführungsbestimmungen zur Einhaltung der<br />
anderweitigen Verpflichtungen (Cross-compliance,<br />
�Gemeinsame Agrarpolitik Ziff. 8.6), zur Modulation<br />
(�Gemeinsame Agrarpolitik Ziff. 8) und zum Integrierten<br />
Kontroll- und Verwaltungssystem (�Gemeinsame<br />
Agrarpolitik Ziff. 8.5) enthält die Kommissionsverordnung<br />
796/2004 (ABl. L 141/2004).<br />
Im Interesse einer wirksamen Kontrolle und der Verminderung<br />
des Verwaltungsaufwandes sieht die<br />
Verordnung vor, dass alle Arten der Flächennutzung<br />
und alle betreffenden Beihilferegelungen gleichzeitiganzumeldensindunddahereinSammelantragpro<br />
Betrieb zu stellen ist. Die Verordnung sieht als einheitlichen<br />
Termin zur Antragstellung den 15. Mai<br />
des jeweiligen Betriebsjahres vor, mit Ausnahme für<br />
Schweden und Finnland, die aus Gründen der Witterungsbedingungen<br />
diesen Termin bis zum 15. Juni<br />
hinausschieben können.<br />
Die Kontrolle selbst obliegt nach der VO 1782/2003<br />
im Wesentlichen den Mitgliedstaaten, VO 796/2004<br />
enthältDurchführungsbestimmungenzuderHäufigkeitderKontrollenundzudenAngaben,dieimInteresse<br />
einer wirksamen Überprüfung vorhanden sein<br />
müssen. Ferner enthält sie die Verpflichtung für die<br />
Mitgliedstaaten zur Einrichtung eines Kontrollsystems<br />
zur Einhaltung „anderweitiger Verpflichtungen“<br />
sowie zur Einrichtung von Stichproben und<br />
Methoden zu deren Auswahl.<br />
Ferner gibt die Verordnung die Eckpunkte bzw. die<br />
für einen gültigen Sammelantrag erforderlichen Elemente<br />
vor und zwar im Hinblick auf Prämienanträge<br />
für Grünland, für den Anbau unterschiedlicher<br />
pflanzlicher Kulturen, für Prämienanträge für Tiere<br />
sowie für Anträge auf Milchprämie.<br />
Neben der VO 796/2004 regelt die Kommissionsverordnung<br />
795/2004 (ABl. L 141/2004) die Einzelheiten<br />
der Berechnung der Betriebsprämie und regelt<br />
auch die Fälle des Überganges des landwirtschaftlichen<br />
Betriebes durch Verkauf und Verpachtung sowie<br />
durch Erbfall. Sie regelt ebenfalls die Verwendung<br />
der sog. nationalen Reserve, die aus den Beträ-
gen, um die die Betriebsbeihilfe aus unterschiedlichen<br />
Gründen gekürzt werden kann (vgl. Art. 41 der<br />
VO 1782/2003), gebildet wird. Hierbei handelt es<br />
sich im Wesentlichen um den Ausgleich von Härtefällen,<br />
in denen die Mitgliedstaaten einem Betriebsinhaber,<br />
der sonst keinen Anspruch auf die Prämie<br />
hätte, einen solche Betriebsbeihilfe zahlen können<br />
ohne jedoch den Gleichheitsgrundsatz zu vernachlässigen<br />
und unter Vermeidung von Markt- und<br />
Wettbewerbsverzerrungen.<br />
Ferner regelt die Verordnung die Übertragung von<br />
Zahlungsansprüchen sowie die besonderen Bedingungen<br />
für Futterflächen (Art. 28), Hanferzeugung<br />
(Art. 29), für Milchprämien (Art. 31 sowie für die<br />
Flächenstilllegung (Art. 32).<br />
Die Verordnungen für einzelne Marktordnungen.<br />
a) Tabaksektor. Die Reform hatte im Jahre 1998 die<br />
Prämienzahlungen von der Qualität des Tabaks abhängig<br />
gemacht, verbesserte Kontrollverfahren und<br />
ein vereinfachtes Management des Sektors eingeführt<br />
sowie die Möglichkeit einer Quotenübertragung<br />
zwischen Produzenten zur Verbesserung der<br />
Produktionsstruktur geboten. Außerdem war ein gemeinschaftlicher<br />
Tabakfonds geschaffen worden,<br />
dessen Beiträge in der Folgezeit verdoppelt wurden<br />
(VO 1636/1998, ABl. L 210/1998). Der Tabaksektor<br />
wurdedurchdieAgenda2000einererneutenReform<br />
unterzogen. Seit 2003 dient der Fonds auch dazu, Tabakproduzenten<br />
den Wechsel zur Produktion anderer<br />
landwirtschaftlicher Erzeugnisse zu ermöglichen.<br />
Mit der Verordnung 1782/2003, geändert<br />
durch die VO 864/2004 (ABl. L 161/2004), wurde<br />
der Tabaksektor in die Regelung einer einheitlichen<br />
Betriebsprämie einbezogen. Die vollständige Entkoppelung<br />
der Betriebsprämie von den produzierten<br />
Mengen wird ab dem Jahre 2010 erfolgen. Die Zahlungen<br />
sind auch hier bedingt durch die Einhaltung<br />
der gesetzlichen Umwelt- und Gesundheitsstandards,<br />
der anderweitigen Verpflichtungen, der Modulation<br />
und der Haushaltsdisziplin.<br />
b) Hopfen und Saatgut. Hopfen ist ab 2005 in die einheitliche<br />
Betriebsprämie einbezogen mit einer Übergangsfrist<br />
bis zum 31. 12. 2005. Das gleiche gilt für<br />
Saatgut ab dem Wirtschaftsjahr 2005/2006, nachdem<br />
die Kommissions-VO 709/98 (ABl. L 98/1998)<br />
sowie die Rats-VO 154/2002 (ABl. L 25/2002) hier<br />
bereits Stabilisierungsmaßnahmen eingeführt hatten,dieinsbes.eineMengenbegrenzungderbeihilfeberechtigten<br />
Erzeugnisse vorgenommen hatten.<br />
Gemeinsame Agrarpolitik – Agrarreform<br />
c) Weinmarkt. Die Weinreform auf Grund der Agenda<br />
2000 wurde bereits im Jahre 1999 vorgenommen<br />
(VO 1493/1999, ABl. L 179/1999, anwendbar ab<br />
dem Wirtschaftsjahr 2000/2001) und zielte insbes.<br />
auf eine Vereinfachung der bestehenden Gesetzgebung<br />
durch Zusammenfassung aller 26 Ratsverordnungen<br />
in einer einzigen, auf die Ermöglichung der<br />
Ersetzung nicht marktgerechter Weinsorten durch<br />
besser der Nachfrage angepasste Sorten, auf die Abschaffung<br />
bestimmter künstlicher Verknappungsmaßnahmen<br />
wie der Krisendestillation und der Beibehaltung<br />
nur solcher Destillationsprodukte, die auf<br />
dem Markt absetzbar sind, sowie auf eine generelle<br />
Qualitätsverbesserung durch bessere Vermarktung,<br />
Etikettierung und besseren Schutz der einzelnen Bezeichnungen<br />
(�Weinwirtschaft in der EU).<br />
Eine weitere Ratsverordnung (670/2003, ABl. L<br />
97/2002) hat schließlich nach mehrfachen erfolglosen<br />
Versuchen einen Durchbruch bei der Regelung<br />
für landwirtschaftlichen Alkohol für die unterschiedlichsten<br />
Verwendungen, einschl. der Verwendung<br />
für Bioethanol, erzielt. Die Regelung enthält<br />
keine Interventionsmaßnahmen und ist daher haushaltsneutral.<br />
d) Oliven. Für den Sektor Olivenöl und Tafeloliven<br />
gilt eine Mischregelung: 60 % der Produktionsbeihilfen<br />
aus den Jahren 2000 – 2002 werden in die einheitliche<br />
Betriebsprämie eingebracht (VO 864/<br />
2004, ABl. L 161/2004), die restlichen 40 % werden<br />
als Flächenprämie in Gebieten gezahlt, in denen die<br />
Olivenerzeugung von besonderer wirtschaftlicher<br />
oder sozialer Bedeutung ist. Die VO 865/2004 (ABl.<br />
L 161/2004) enthält die neue Gemeinsame Marktordnung<br />
für Tafeloliven und Olivenöl.<br />
e) Baumwolle ist ebenfalls durch die VO 864/2004 in<br />
die Agrarreform 2003 eingebracht worden, auch hier<br />
in einer Mischform zwischen Betriebsprämie (65 %)<br />
und Flächenprämie (35 %) und einer Übertragung<br />
zugunsten des Budgets zur Entwicklung der ländlichen<br />
Räume.<br />
f) Milch und Milchprodukte. Das �Quotensystem ist<br />
bis 2015 verlängert. Die Preise für Magermilchpulver<br />
und Butter werden seit 2004 um 15 bzw. 25 % pro<br />
Jahr für vier Jahre insgesamt gesenkt. Für diese<br />
PreissenkungenwirdeinAusgleichvon60%gezahlt<br />
bis zur Entkoppelung der Prämie im Jahre 2007 (oder<br />
früher, wenn der Mitgliedstaat es so entscheidet)<br />
(Art. 95 ff. Rats-vo 1782/2003, ABl. L 270/2003).<br />
Der Interventionspreis für Butter wird auf 90 % ge-<br />
375
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik<br />
senkt und die interventionsfähigen Mengen (70 000<br />
to im Jahre 2004) werden bis 2008 auf 30 000 to gesenkt.<br />
g) Lebendvieh, Rindfleisch und Kalbfleischsektor.<br />
Hier setzen Artikel 122 ff. VO 1782/2003 differenzierte<br />
Regeln fest je nachdem, ob es sich bei dem Tier<br />
um einen Bullen, einen Ochsen, eine Mutter- oder<br />
Milchkuh bzw. eine Färse handelt. Bei den Bullen<br />
dürfen pro Betrieb für höchstens 90 Bullen Prämien<br />
gezahlt werden. Für Mutterkuhprämien werden die<br />
Höchstgrenzen individuell pro Betrieb festgelegt.<br />
Die Grundlagen hierfür finden sich in Art. 7 der Verordnung<br />
1254/1999 (ABl. L 160/1999). Im Einzelnen<br />
regeln die Art. 130 ff. der VO 1782/2003<br />
Schlachtprämien, Besatzdichte und Extensivierungsprämien,<br />
alle darauf ausgelegt, auch den Rindfleisch-<br />
und Kalbfleischsektor aus der Massenproduktion<br />
heraus in die Qualitätsproduktion zu führen.<br />
Als Reaktion auf die BSE-Krise wurden zusätzlich<br />
im Jahre 2000 durch die VO 1760/2000 (ABl. L<br />
204/2000)sehrdetaillierteRegelnfürdieIdentifizierung<br />
und Registrierung von Rindern sowie für die<br />
Etikettierung von Rindfleisch und Rindfleischprodukten<br />
eingeführt.<br />
h) Schafe und Ziegen. Die gemeinsame MarktordnungfürSchafeundZiegenwurdedurchRatsverordnung<br />
2529/2001 (ABl. L 43/2001) reformiert.<br />
i)BienenzuchtundHonigproduktion.DieReformerfolgte<br />
durch Ratsverordnung 797/2004 (ABl. L 125/<br />
2004).DerletztgenannteSektorzeichnetsichinsbes.<br />
dadurch aus, dass seine Hauptfunktionen die Erhaltung<br />
wirtschaftlicher Aktivitäten in ländlichen Gebieten<br />
sind, die zum Erhalt des ökologischen Gleichgewichtesbeitragen.<br />
A. M.-W.<br />
Gemeinsame Aktion. Mit dem �Maastrichter Vertrag<br />
(vgl. Art. 14 EUV) eingeführtes förmliches Instrument<br />
der �GASP (s. a.�Gemeinsamer Standpunkt,<br />
�Gemeinsame Strategie) zur Festlegung des<br />
Vorgehens der EU in spezifischen Situationen, in denen<br />
eine – regelmäßig mit Kosten verbundene – operative<br />
Aktion der Union für notwendig erachtet wird.<br />
In dem Text der Gemeinsamen Aktion sind die mit<br />
ihr verfolgten Ziele, ihr Umfang, die der Union zur<br />
Verfügung stehenden Mittel sowie die Bedingungen<br />
und erforderlichenfalls der Zeitraum für ihre Durchführung<br />
festgelegt. Beispiele betreffen zivile oder<br />
militärische Operationen im Rahmen der internationalen<br />
Krisenbewältigung (�ESVP), die Ernennung<br />
376<br />
von �EU-Sonderbeauftragten (EUSB) und die Entsendung<br />
von Wahlbeobachtern. Gemeinsame Aktionen<br />
sind für die Mitgliedstaaten bei ihren Stellungnahmen<br />
und ihrem Vorgehen völkerrechtlich bindend<br />
(Ausnahme bei Stimmenthaltung und Abgabe<br />
einer Erklärung; vgl. �GASP). Sie werden vom Rat<br />
einstimmig verabschiedet. �Qualifizierte Mehrheit<br />
ist nur für die Fälle vorgesehen, in denen der Rat eine<br />
Gemeinsame Aktion zur Durchführung einer Gemeinsamen<br />
Strategie oder einen Beschluss zur<br />
Durchführung einer Gemeinsamen Aktion fasst.<br />
HiervonhabendieMitgliedstaaten–nichtzuletztaus<br />
Sorge vor einer unkontrollierten Aufweichung des<br />
Konsensprinzips in der GASP – bisher nur in einem<br />
Einzelfall Gebrauch gemacht (Gemeinsame Aktion<br />
im Bereich der Nichtverbreitung in Umsetzung der<br />
GemeinsamenStrategiezuRussland). U. S.<br />
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik<br />
(GASP)<br />
1. Begriff und historische Entwicklung: Bezeichnung<br />
für die unter Titel V des EUV (Art. 11 ff.) näher<br />
beschriebene Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten<br />
der EU im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik.<br />
Integraler Bestandteil der GASP ist die �Europäische<br />
Sicherheits- und Verteidigungspolitik<br />
(ESVP). Die Kommission ist an den Arbeiten innerhalbderGASP„invollemUmfang“beteiligt(Art.27<br />
EUV). Mitgliedstaaten und Kommission, und damit<br />
de iure nicht der �Hohe Vertreter (HR), können den<br />
Rat mit Fragen der GASP befassen und ihm Vorschläge<br />
unterbreiten (Art. 22 EUV). Die GASP erfasst<br />
– unter Maßgabe des allg. �Subsidiaritätsprinzips(Art.2EUV,Art.5EGV)–alleBereichederAußen-<br />
und Sicherheitspolitik. Die Mitgliedstaaten<br />
sind verpflichtet, die GASP „im Geiste der Loyalität<br />
und gegenseitigen Solidarität“ zu unterstützen. Sie<br />
haben sich jeder Handlung zu enthalten, die den Interessen<br />
der Union zuwiderlaufen oder die Wirksamkeit<br />
der Union als kohärente Kraft in den internationalen<br />
Beziehungen schaden könnte (Art. 11 Abs. 2<br />
EUV). In außen- und sicherheitspolitischen Fragen<br />
von allgemeiner Bedeutung haben sich die Mitgliedstaaten<br />
im Rat gegenseitig zu unterrichten bzw. sich<br />
abzustimmen (Art. 16 EUV). Das gilt bspw. auch für<br />
Reisen und bilaterale Aktivitäten einzelner Mitgliedstaaten<br />
gegenüber Dritten. In internationalen<br />
Organisationen und auf internationalen Konferenzen<br />
müssen die Mitgliedstaaten ihr Handeln koordi-
nieren, wobei die nicht vertretenen Mitgliedstaten<br />
der EU über Unterrichtungsrechte an dieser Koordinierung<br />
beteiligt sind (Art. 19 Abs. 2 EUV). Diejenigen<br />
Mitgliedstaaten der EU, die Mitglieder des Sicherheitsrats<br />
der Vereinten Nationen sind, müssen<br />
sich untereinander abstimmen und die übrigen Mitgliedstaaten<br />
unterrichtet halten. Dabei sind die Mitgliedstaaten,diezugleichpermanenteMitgliederdes<br />
Sicherheitsrats sind, verpflichtet, sich für die StandpunkteundInteressenderUnioneinzusetzen(Art.19<br />
Abs. 2 EUV), wodurch sie in der Ausübung ihres<br />
„Vetorechts“ (vgl. Art. 27 Abs. 3 VN-Charta) gegenüber<br />
den übrigen EU-Mitgliedstaaten in einer eigenständigen<br />
Verantwortung stehen. In der Praxis wird<br />
diese Verpflichtung zur Zusammenarbeit weitgehend<br />
erfolgreich umgesetzt. Gleichwohl ist gerade<br />
bei den Mitgliedstaaten, die permanente Mitglieder<br />
des Sicherheitsrats sind, immer wieder Zurückhaltung<br />
spürbar, wenn es darum geht, ihre Sonderstellung<br />
in den Vereinten Nationen systematisch und in<br />
vollem Umfang dem Abstimmungs- und Kohärenzgebot<br />
der EU zu unterstellen.<br />
2. Historische Entwicklung: Die GASP wurde mit<br />
der Gründung der Europäischen Union (EU) durch<br />
den �Maastrichter Vertrag (1992) in das Europäische<br />
Vertragswerk aufgenommen. Die GASP löste<br />
die �Europäische Politische Zusammenarbeit (EPZ)<br />
ab, unter deren Dach die Mitgliedstaaten der EU seit<br />
1970 die Fortschreibung der politischen Integration<br />
auf dem Gebiet der Außen- und Sicherheitspolitik<br />
suchten.WiedieEPZ,soistauchdieGASPintergouvernemental<br />
organisiert. Die Verträge von Amsterdam<br />
(1997) und Nizza (2001) haben zwar den Aufbau<br />
weitreichender Strukturen ermöglicht. Der entscheidende<br />
Schritt zur Vertiefung in der GASP steht<br />
jedoch noch aus. Insbesondere wurde das erstmals<br />
im �Vertrag von Amsterdam aufgenommene Instrument<br />
der verstärkten Zusammenarbeit, mit der einzelnen<br />
Mitgliedstaaten die Möglichkeit eröffnet<br />
wurde,mitderIntegrationinderGASP(nichtESVP)<br />
unter Inanspruchnahme der Organe, Verfahren und<br />
Mechanismen der EU voranzuschreiten, nicht genutzt.<br />
Die Hoffnungen richten sich darauf, dass der<br />
entscheidende Schritt hin zur Überwindung der bestehenden<br />
Dichotomie der �„Säulen“ in der EU nunmehr<br />
mit dem Vertrag über eine Europäische Verfassung<br />
(�Verfassungsvertrag 2004) getan werden<br />
kann, die die Einführung des Amts des �Europäischen<br />
Außenministers (EU-AM) vorsieht.<br />
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik<br />
3.Ziele:Art.11EUVdefiniertalsZielederGASP<br />
– die Wahrung der gemeinsamen Werte, der grundlegenden<br />
Interessen, der Unabhängigkeit und der<br />
Unversehrtheit der Union im Einklang mit den<br />
Grundsätzen der VN,<br />
– dieStärkungderSicherheitderUnioninallenihren<br />
Formen,<br />
– die Wahrung des Friedens und die Stärkung der internationalenSicherheitentsprechenddenGrundsätzen<br />
der Charta der Vereinten Nationen sowie den<br />
PrinzipienderSchlussaktevonHelsinkiunddenZielen<br />
der Charta von Paris einschl. derjenigen, welche<br />
die Außengrenzen betreffen,<br />
– die Förderung der internationalen Zusammenarbeit<br />
und<br />
– die Entwicklung und Stärkung von Demokratie<br />
und Rechtsstaatlichkeit sowie der Achtung der Menschenrechte<br />
und Grundfreiheiten.<br />
Die �Europäische Sicherheitsstrategie (ESS) vom<br />
12./13. 12 .2003 konkretisiert diese Ziele und entwickelt<br />
sie im Lichte der terroristischen Anschläge auf<br />
das World Trade Center in New York und das Pentagon<br />
am 11. 9. 2001 als „politische Willenserklärung“<br />
weiter.<br />
4. Handlungsformen: Der EU-Vertrag führt in Art.<br />
12 in einer abschließend wirkenden Aufzählung die<br />
förmlichen Handlungsinstrumente der GASP auf. Es<br />
sind dies Entscheidungen des Europäischen Rats<br />
bzw. des Rats, mit denen die Grundsätze und allgemeinen<br />
Leitlinien für die GASP, �Gemeinsame Strategien,<br />
�Gemeinsame Aktionen, �Gemeinsame<br />
Standpunkte und der Ausbau der regelmäßigen Zusammenarbeit<br />
der Mitgliedstaaten bei der Führung<br />
ihrer Politik beschlossen werden. Darüber hinaus<br />
steht der GASP ein ganzes Spektrum im EU-Vertrag<br />
nicht ausdrücklich aufgeführter Handlungsinstrumente<br />
offen, darunter Schlussfolgerungen, Erklärungen,<br />
Entschließungen sowie Entscheidungen<br />
sonstiger Art. In der Praxis hat sich das abgestufte<br />
System von Rechtsakten und damit auch die vom<br />
Vertrag für die GASP vorgesehene Hierarchisierung<br />
zwischen dem Europäischen Rat (ER) und dem Rat<br />
nicht durchgesetzt. So hat die Gemeinsame Strategie,diealleinderERalsdashöchstepolitischeOrgan<br />
der EU beschließen kann, für die operative GASP<br />
heute keine Bedeutung mehr. Zur Festlegung auch<br />
längerfristiger (konkreter) Ziele in der GASP hat<br />
sichimBereichderförmlichenInstrumentevielmehr<br />
der Gemeinsame Standpunkt durchgesetzt, womit<br />
377
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik<br />
diegewachseneBedeutungdesRatsauchfürdie„allgemeinen<br />
Leitlinien“ der GASP einschl. der ESVP<br />
unterstrichen wird. Daraus allerdings insgesamt auf<br />
ein weichendes Interesse des ER an der GASP zu<br />
schließen, dürfte – wie bspw. die Verabschiedung<br />
der Europäischen Sicherheitsstrategie (ESS) oder<br />
der Strategie gegen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen<br />
im Dezember 2003 belegt – verfehlt<br />
sein.<br />
5. Beschlussfassung (Art. 23 EUV): Für Beschlüsse<br />
in der GASP gilt der Grundsatz der Einstimmigkeit.<br />
(„Einfache“) Enthaltungen stehen der Annahme eines<br />
Beschlusses nicht entgegen. Verbindet ein Mitgliedstaat<br />
die Enthaltung mit einer förmlichen Erklärung<br />
(„konstruktive“ Enthaltung), ist er nicht verpflichtet,<br />
den Beschluss durchzuführen. Verfügen<br />
die Mitgliedstaaten, die sich auf diese Weise der<br />
Stimme enthalten, über mehr als zwei Drittel der gewogenen<br />
Stimmen, kommt der Beschluss nicht zustande.<br />
Mit den Verträgen von Amsterdam (1997) und Nizza<br />
(2001) wurde das in der GASP geltende Konsensprinzip<br />
erstmals um Entscheidungen mit qualifizierter<br />
Mehrheit ergänzt. Die Ergänzungen bleiben allerdings<br />
auf wenige enumerativ aufgeführte Einzelfälle<br />
beschränkt. Sie betreffen im EU-Vertrag<br />
– Gemeinsame Standpunkte, Gemeinsame Aktionen<br />
und sonstige Beschlüsse, die der Rat auf der<br />
GrundlageeinerGemeinsamenStrategiebeschließt,<br />
– Beschlüsse zur Durchführung eines Gemeinsamen<br />
Standpunkts oder einer Gemeinsamen Aktion<br />
(einschl. der Beschlüsse über Übereinkünfte mit<br />
Drittstaaten oder internationalen Organisationen,<br />
vgl. Art. 24 Abs. 3 EUV), und<br />
– die Ernennungen von Sonderbeauftragten (Art. 18<br />
Abs. 5, 23 Abs. 2 EUV).<br />
Im EG-Vertrag kommt die Ernennung des Generalsekretärs<br />
des Rats hinzu, der zugleich �Hoher Vertreter<br />
(i. d. R. kurz „HR“ genannt) für die GASP ist<br />
(Art. 207 Abs. 2 EGV, Art. 26 EUV). Erklärt ein Mitgliedstaat,<br />
dass er aus Gründen der nationalen Politik,<br />
die er nennen muss, die Absicht hat, einen im Bereich<br />
der GASP mit qualifizierter Mehrheit zu fassenden<br />
Beschluss abzulehnen, so erfolgt keine Abstimmung.<br />
In diesem Fall kann der Rat jedoch mit<br />
qualifizierter Mehrheit den ER um eine einstimmige<br />
Beschlussfassung bitten. Beschlüsse mit militärischen<br />
oder verteidigungspolitischen Bezügen sind<br />
von der Beschlussfassung mit qualifizierter Mehr-<br />
378<br />
heit ausgeschlossen. In der Praxis spielen in der<br />
GASP Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit<br />
eine nur untergeordnete Rolle. Die Mitgliedstaaten<br />
bleiben bemüht, das Konsensprinzip auch dann aufrecht<br />
zu erhalten, wenn „Kampfabstimmungen“ zulässig<br />
– und der Sache förderlich – wären. Das gilt<br />
auch für die mit dem Vertrag von Amsterdam geschaffene<br />
Möglichkeit, Umsetzungsentscheidungen<br />
bei Gemeinsamen Strategien mit qualifizierter<br />
Mehrheit zu verabschieden. Das hierin liegende Potential<br />
zur Erhöhung der Effektivität der GASP ist<br />
von den EU-Mitgliedstaaten bisher noch nicht einmal<br />
ansatzweise genutzt worden. Andererseits lässt<br />
sich durchaus feststellen, dass die in der Anfangsphase<br />
der GASP noch allseits gegenwärtige Bereitschaft,<br />
zur Verhinderung einer Entscheidung das<br />
„Veto“ einzusetzen, auch in der EU „zu 25“ zunehmend<br />
der Sorge weicht, auf dem Wege zum Konsens<br />
„isoliert“ zu werden. Fragen über „Krieg oder Frieden“,<br />
wie sie 2003 im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung<br />
um den Irak auftraten, werden aber<br />
vermutlich auch in Zukunft ausreichend Sprengkraft<br />
besitzen, um das innereuropäische und das transatlantische<br />
Verhältnis nachhaltig zu stören. Bleibt der<br />
Ausblick auf die Europäische Verfassung, die versucht,<br />
die Zurückhaltung gegenüber Mehrheitsentscheidungen<br />
durch sog. Flexibilitätsinstrumente wie<br />
die„verstärkteZusammenarbeit“oderdie �„strukturierteZusammenarbeit“inderESVPauszuhöhlen.<br />
Über Verfahrensfragen entscheidet der Rat mit einfacher<br />
Mehrheit.<br />
6. Außenvertretung: Die Außenvertretung der Union<br />
obliegt dem Vorsitz (auch Präsidentschaft genannt),<br />
der halbjährlich zwischen den Mitgliedstaaten der<br />
Union rotiert (mit Inkrafttreten der Europäischen<br />
Verfassung wird das Rotationsprinzip durch ein System<br />
von „Team-Präsidentschaften“, im Bereich der<br />
GASPdurchdenEuropäischenAußenministerabgelöst<br />
werden). Der Vorsitz wird vom Generalsekretär<br />
des Rats unterstützt, der zugleich die Aufgabe eines<br />
�HohenVertretersfürdieGASPwahrnimmt(Art.18<br />
Abs. 3 EUV). Die Kommission, die an den Arbeiten<br />
in der GASP „in vollem Umfang beteiligt“ wird, ist<br />
auch in die Arbeiten des Vorsitzes uneingeschränkt<br />
eingebunden (Art. 18 Abs. 4 EUV). Die aus Vorsitz,<br />
Hohem Vertreter und Kommission bestehende sog.<br />
�„Troika“, die im Vertrag von Maastricht noch –<br />
schwerfällig – aus der vorangegangenen, der gegenwärtigen<br />
und der zukünftigen Präsidentschaft be-
stand, kann nach Bedarf durch einen Vertreter des<br />
nachfolgenden Vorsitzes ergänzt werden („erweiterte<br />
Troika“). (Sind auch andere Mitgliedstaaten zu<br />
den Beratungen der Troika eingeladen, handelt es<br />
sich um eine sog. „offene Troika“.) Damit sind in der<br />
heutigen Troika im „Dreiklang“ die entscheidenden<br />
Akteure in der GASP zusammengeführt. Der Hohe<br />
Vertreter, dessen Amtszeit fünf Jahre beträgt, ist dabei<br />
der „Anker“ für Kontinuität und Sichtbarkeit der<br />
Union nach außen. Sein Amt soll mit der Einführung<br />
der Europäischen Verfassung durch Zusammenführung<br />
mit dem Amt des Außenkommissars zum Europäischen<br />
Außenminister (EU-AM) ausgebaut werden,<br />
womit sich auch die Troika überlebt haben wird.<br />
Für besondere politische Fragen kann der Rat �Sonderbeauftragte<br />
(EUSB) ernennen (Art. 18 Abs. 5<br />
EUV), die regelmäßig regionale Zuständigkeiten haben<br />
und in der Praxis dem Hohen Vertreter unterstehen<br />
und von ihm gesteuert werden.<br />
7. Strukturen: Ungeachtet der zentralen Zuständigkeit<br />
des Rats für das einheitliche, kohärente und<br />
wirksame Vorgehen der Union (Art. 13 Abs. 3 EUV)<br />
ist zentrales Steuerungsorgan im „Tagesgeschäft“<br />
der GASP das vom Europäischen Rat (ER) in Köln<br />
1999 beschlossene und im Vertrag von Nizza (2001)<br />
aufgenommene �Politische und SicherheitspolitischeKomitee(PSK).DasPSKverfolgtv.a.dieinternationale<br />
Lage und trägt zur Festlegung der Politiken<br />
des Rats bei (Art. 25 EUV). Das PSK kann vom Rat<br />
im Rahmen von ESVP-Operationen mit Sondervollmachten<br />
ausgestattet werden (vgl. Art. 25 EUV). Es<br />
überwachtundsteuertinnerhalbdeseinheitlicheninstitutionellenRahmensderEUdieGASP-relevanten<br />
Arbeiten der zahlreichen regional und sachlich definierten<br />
Arbeitsgruppen des Rats. Diese sind nach ihrer<br />
weitgehenden Zusammenlegung („Fusionierung“)infolgederÜberführungderEPZindieGASP<br />
regelmäßig gleichermaßen mit Materie der Gemeinschaft<br />
(erste „Säule“) und der GASP (zweite „Säule“)<br />
befasst. Das PSK wird im Bereich des Krisenmanagements<br />
von der politisch-militärischen Arbeitsgruppe<br />
(PMG) und dem �Ausschuss für nichtmilitärische<br />
Aspekte des Krisenmanagements (CivCom)<br />
beraten. Der �EU-Militärausschuss (EUMA) berät<br />
das PSK ausschließlich in militärischen Fragen. Die<br />
Prüfung der zahlreichen säulenübergreifenden (sog.<br />
„horizontalen“) Aspekte der GASP, zu denen insbes.<br />
rechtliche, institutionelle und den Haushalt betreffende<br />
Fragen gehören, obliegt der Gruppe der RE-<br />
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik<br />
LEX-Botschaftsräte. Sie bilden in diesen Fragen das<br />
Bindeglied zwischen dem PSK als Einrichtung der<br />
GASP und dem �Ausschuss der Ständigen Vertreter<br />
(AStV), dessen Aufgabe es ist, als „filtre unique“<br />
säulenübergreifend die Arbeiten des Rats vorzubereiten.<br />
Der Rat wird in seiner politischen Arbeit von<br />
seinem Generalsekretariat unterstützt, das seit der<br />
Einführung der GASP-Strukturen in Brüssel Anfang<br />
2000 und der Erweiterung der Union auf 25 Mitglieder<br />
im Mai 2004 kontinuierlich ausgebaut wurde und<br />
dank der wachsenden Bedeutung des Amts des Hohen<br />
Vertreters (HR) auch deutlich an Einfluss auf die<br />
Arbeit des Rats im Bereich der GASP gewonnen hat,<br />
einschl. der Entwicklung eigener Initiativen. Innerhalb<br />
des Ratssekretariats sind mit Fragen der GASP<br />
neben der Generaldirektion E (Außenbeziehungen)<br />
vor allem, die �Strategieplanungs- und Frühwarneinheit<br />
(kurz „Politikeinheit“ genannt) und das<br />
�EU-Lagezentrum befasst. Eine selbständige GeneraldirektiondesGeneralsekretariatsbildetder�Militärstab<br />
der EU (EUMS), in den auch die im Rahmen<br />
der Führung von Krisenmanagementoperationen der<br />
EU mit Sonderfunktionen ausgestattete sog. �zivil-militärische<br />
Zelle eingegliedert ist.<br />
8. Internationale Übereinkommen: Vor dem Hintergrund<br />
der fehlenden Völkerrechtssubjektivität der<br />
EU kann der Rat den Vorsitz, der ggf. von der Kommission<br />
unterstützt wird, ermächtigen, mit Drittstaaten<br />
oder internationalen Organisationen Verhandlungen<br />
über den Abschluss von völkerrechtlichen<br />
Verträgen zu führen, die zur Durchführung der<br />
GASP notwendig sind (Art. 24 EUV). Ein Beispiel<br />
fürderartigeÜbereinkünftesinddieVerträgezurBeteiligung<br />
von Drittstaaten an Krisenmanagementoperationen<br />
der EU und die für die Stationierung dieser<br />
Truppen notwendigen Vereinbarungen über<br />
Truppenstatute mit dem Gastland. Die Übereinkünfte<br />
binden die Organe der Union. Wird die Übereinkunft<br />
zur Durchführung einer Gemeinsamen Aktion<br />
oder eines Gemeinsamen Standpunkts ins Auge gefasst,<br />
so beschließt der Rat mit qualifizierter Mehrheit<br />
(Art. 24 EUV). Ein Mitgliedstaat, der erklärt,<br />
dass verfassungsrechtliche Vorschriften in seinem<br />
Lande der Umsetzung einer Übereinkunft entgegensteht,<br />
ist durch solche Übereinkünfte nicht gebunden.<br />
Die übrigen Mitgliedstaaten können in diesem<br />
Fall aber für sich die vorläufige Anwendung der<br />
Übereinkunft beschließen.<br />
9. Finanzierung: Finanzierungsquellen der GASP<br />
379
Gemeinsame Ermittlungsteams<br />
sind der Haushalt der EG und die Mittel, die die Mitgliedstaaten<br />
im Rahmen der GASP unmittelbar zur<br />
Verfügung stellen. Der EU-Vertrag unterscheidet im<br />
Bereich der GASP zwischen „Verwaltungsaufgaben“<br />
und „operativen Ausgaben“, wobei unterschiedliche<br />
Folgen für die Kostentragung daran geknüpft<br />
werden, ob es sich um Ausgaben aufgrund<br />
von Maßnahmen mit militärischen oder verteidigungspolitischen<br />
Bezügen oder sonstige Ausgaben<br />
handelt (Art. 28 EUV). Verwaltungsausgaben sind<br />
dem EG-Haushalt zuzurechnen. Operative Ausgaben<br />
ohne militärische oder verteidigungspolitische<br />
Bezüge gehen ebenfalls zu Lasten des EG-Haushalts,<br />
es sei denn, der Rat beschließt einstimmig etwas<br />
anderes. Der Titel des EG-Haushalts, aus dem<br />
die operativen „zivilen“ Ausgaben bestritten werden,<br />
wird dabei (fälschlich) kurz oft „GASP-Haushalt“<br />
genannt. Ausgaben mit militärischen oder verteidigungspolitischen<br />
Bezügen sind von den Mitgliedstaaten<br />
zu tragen, wobei als Regel gilt, dass sie<br />
nach dem Bruttosozialprodukt untereinander aufzuteilen<br />
sind. Der Rat kann allerdings auch hier einstimmig<br />
eine andere Kostenaufteilung beschließen.<br />
Im Bereich des Krisenmanagements hat der Rat zur<br />
Festlegung von Einzelheiten sog. Leitlinien für die<br />
Ausgabenpraxis sowohl im zivilen wie im militärischen<br />
Bereich erlassen. Während im zivilen Bereich<br />
der Grundsatz gilt, dass die Kosten – auch durch Umschichtungen<br />
– so weit wie möglich aus dem Gemeinschaftshaushalt<br />
zu bezahlen sind, gilt für den<br />
militärischen Bereich aufgrund einer Entscheidung<br />
des Rats abweichend vom Leitbild des EU-Vertrags<br />
die Regel, dass die Kosten dort zu tragen sind, wo sie<br />
anfallen. Über einzelne, besonders kostenträchtige<br />
Positionen wie die Kosten des Transports von Truppen<br />
sowie Unterkünfte und Verpflegung muss der<br />
Rat im Einzelfall entscheiden, ob sie gemeinsam<br />
oder nach dem Verursacherprinzip zu zahlen sind.<br />
Die Verwaltung der Mittel, die zur Finanzierung der<br />
gemeinsam zu tragenden Kosten einer militärischen<br />
Operation notwendig sind, regelt ein ATHENA genannter<br />
„Mechanismus“, der auch die notwendigen<br />
VorauszahlungenfürjedeeinzelneOperationregelt.<br />
Die Finanzierung bleibt eine „Schwachstelle“ der<br />
GASP. Die bestehenden Richtlinien und Regeln sind<br />
nicht zuletzt Ausdruck der Not, aus Mangel an Mitteln<br />
im EG-Haushalt bzw. EU-vertraglicher Vorgaben<br />
ergänzend nationale Finanzquellen verfügbar zu<br />
machen bzw. die Gefahr kostentreibender Inrech-<br />
380<br />
nungstellungsog.„gemeinsamerKosten“dadurchin<br />
Grenzen zu halten, dass der Verursacher sie selber<br />
tragen muss („costs lie where they fall“-Prinzip).<br />
Hintergrund der Auseinandersetzung um eine ausreichende<br />
Mittelausstattung des „GASP-Haushalts“<br />
ist im Kern die Auseinandersetzung zwischen Kommission<br />
und Europäischem Parlament (EP) einerseits<br />
sowie dem Rat und den Mitgliedstaaten andererseitsüberdasangemesseneMaßunddenrichtigen<br />
Zeitpunkt einer Beteiligung des EP an den Entscheidungen<br />
und der Durchführung der GASP. Die Interinstitutionellen<br />
Vereinbarungen zwischen Rat, EP<br />
und Kommission, die zuletzt 2004 mit dem Ziel einer<br />
Stärkung der Rechte des EP überarbeitet wurden,<br />
brachten bisher regelmäßig nur für kurze Zeit Entspannung<br />
in diese Streitfrage.<br />
Ein Mitgliedstaat, der im Rat eine förmliche Erklärung<br />
abgibt, mit der er sich einer Entscheidung enthält,<br />
ist nicht verpflichtet, zur Finanzierung von Ausgaben<br />
im militärischen oder verteidigungspolitischen<br />
Bereich beizutragen. In der Praxis macht von<br />
dieser Möglichkeit regelmäßig Dänemark aufgrund<br />
seiner besonderen Haltung in der �Europäischen Sicherheits-<br />
und Verteidigungspolitik (ESVP) Gebrauch.<br />
U. S.<br />
Gemeinsame Ermittlungsteams �Europol<br />
Gemeinsame Fischereipolitik �Fischereipolitik<br />
Gemeinsame Forschungsstelle (GFS). Die GFS<br />
wurde1958imRahmenderEuratomalsgemeinsame<br />
Kernforschungsstelle zur friedlichen Nutzung der<br />
Kernenergie gegründet (Rechtsgrundlage: Art. 8<br />
EAGV). Später wurden die Arbeitsgebiete auf Politikbereiche<br />
der EG wie nicht-nukleare Energie,<br />
Werkstoffe, Umweltforschung, Landwirtschaft, Gesundheit,<br />
Verbraucherschutz erweitert. Die GFS ist<br />
heuteeineGeneraldirektionderKommissionmitsieben<br />
Instituten.<br />
Im Rahmen der �Forschungs- und Technologiepolitik<br />
werden von der GFS und der GFS-Euratom „direkte<br />
Aktionen“ (Forschungsaufträge) durchgeführt,<br />
die vom Rat festgelegt werden. Für das 6. Forschungsrahmenprogramm<br />
im Zeitraum 2002 bis<br />
2006 gelten die Entscheidungen 2002/836 EG bzw.<br />
2002/838 Euratom (beide ABl. L 294/2002). Sie sehen<br />
Mittel in Höhe von 760 Mio. Euro bzw. 290 Mio.<br />
Euro (Euratom) vor. Die GFS übernimmt auch Auf-
tragsarbeiten für Dritte oder nimmt teil an Gemeinschaftsprogrammen<br />
wie Phare oder TACIS.<br />
Die von der GFS betriebenen Institute sind:<br />
– ITU Institute for Transuranian Elements, Karlsruhe<br />
– IRMMInstituteforReferenceMaterialsandMeasurement,<br />
Geel (Belgien)<br />
– IE Institute for Energy, Petten (Niederlande)<br />
– IPTS Institute for Prospective Technological Studies,<br />
Sevilla (Spanien)<br />
– IPSCInstitutefortheProtectionandtheSecurityof<br />
the Citizen, Ispra (Italien)<br />
– IES Institute for Environment and Sustainability,<br />
Ispra (Italien)<br />
– IHCP Institute for Health and Consumer Protection,<br />
Ispra (Italien)<br />
Gemeinsame Marktordnungen �Gemeinsame<br />
Agrarpolitik (GAP)<br />
Gemeinsame Marktorganisation �Gemeinsame<br />
Agrarpolitik (GAP)<br />
Gemeinsame Maßnahmen (nach Titel VI EUV)<br />
�PJZS<br />
Gemeinsame Strategie<br />
1. Rechtsgrundlage: Mit dem Vertrag von Amsterdam<br />
(vgl. Art. 13 Abs. 2 EUV) eingeführtes förmliches<br />
Instrument der �GASP (s. a. �Gemeinsamer<br />
Standpunkt, �Gemeinsame Aktion) zur Erreichung<br />
von Zielen in Bereichen, in denen wichtige gemeinsame<br />
Interessen der Mitgliedstaaten bestehen. Gemeinsame<br />
Strategien binden die Mitgliedstaaten<br />
„politisch“; sie entfalten keine völkerrechtliche Bindungswirkung.GemeinsameStrategienwerdenvom<br />
�Europäischen Rat (ER) einstimmig beschlossen.<br />
Der Ministerrat kann Empfehlungen für Gemeinsame<br />
Strategien unterbreiten. Er ist für die Umsetzung<br />
derGemeinsamenStrategienverantwortlich.Nimmt<br />
der Rat auf der Grundlage einer Gemeinsamen Strategie<br />
einen Gemeinsamen Standpunkt oder eine GemeinsameAktionanoderfasstereinensonstigenBeschluss<br />
zu ihrer Umsetzung, so reicht für den Umsetzungsakt<br />
– mit Ausnahme von Akten mit militärischen<br />
oder verteidigungspolitischen Bezügen – die<br />
�qualifizierte Mehrheit (Art. 23 Abs. 2 EUV).<br />
2. Anwendung: Der ER hat bisher drei Gemeinsame<br />
Strategien verabschiedet. Diejenigen für Russland<br />
Gemeinsamer Markt<br />
und für die Ukraine sind 2004 ausgelaufen. Die Gemeinsame<br />
Strategie für den Mittelmeerraum läuft<br />
(vorerst) bis Anfang 2006.<br />
3. Ausblick: Die Gemeinsame Strategie hat für die<br />
GASP bisher keine ausschlaggebende Bedeutung erlangt.<br />
Sie gilt allgemein als inhaltlich nicht ausreichend<br />
bestimmt und in der Umsetzung als zu schwerfällig.<br />
Sie bindet als nach innen gerichtetes Instrument<br />
die Drittländer nicht, die mit ihr angesprochen<br />
werden. Damit hat die Gemeinsame Strategie weder<br />
zu der mit ihr angestrebten stärkeren Angleichung<br />
nationalerPolitikennochzueinerBeeinflussungvon<br />
Partnerländern geführt. Vor allem aber hat sich die in<br />
die Gemeinsame Strategie gesetzte Hoffnung nicht<br />
erfüllt, gem. den Vorgaben des EU-Vertrags (vgl.<br />
Art. 23 Abs. 2 EUV) durch vermehrte Umsetzungsakte<br />
der qualifizierten Mehrheit in der GASP „die<br />
Tür zu öffnen“ (lediglich die Gemeinsame Strategie<br />
Russland wurde durch eine Gemeinsame Aktion im<br />
Bereich der Nichtverbreitung durch qualifizierte<br />
Mehrheit verabschiedet). Die GASP-Praxis wird<br />
v.a.durchGemeinsameStandpunkteundGemeinsameAktionenbestimmt.SiesindaufspezifischeKonzepte<br />
und gezielte Aktionen ausgerichtet und damit<br />
besser auf die Anforderungen des GASP-„Tagesgeschäfts“<br />
zugeschnitten. Dieses verlangt vor allem im<br />
Bereich der Krisenbewältigung regelmäßig hohe<br />
Flexibilität und schnelle Reaktionsfähigkeit. Die<br />
Gemeinsame Strategie wird in der GASP voraussichtlich<br />
auch in Zukunft keine größere Rolle spielen.<br />
U. S.<br />
Gemeinsamer Besitzstand �Acquis communautaire<br />
Gemeinsamer Markt. Aufgabe und Ziel der wirtschaftlichen<br />
Integration in der EWG/EG ist es, einen<br />
Gemeinsamen Markt und eine Wirtschafts- und<br />
Währungsunion zu errichten (Art. 2 EGV). Der Gemeinsame<br />
Markt entstand schrittweise als Verschmelzung<br />
der nationalen Märkte der Mitgliedstaaten<br />
durch Aufhebung aller Zölle (�Zollunion) und<br />
zusätzlich aller sonstigen Beschränkungen und Hindernisse<br />
bei der Ein- und Ausfuhr von Waren. Nach<br />
Art. 32 Abs. 1 EGV umfasst der Gemeinsame Markt<br />
auch die Landwirtschaft und den Handel mit landwirtschaftlichen<br />
Erzeugnissen.<br />
Der später (�Einheitliche Europäische Akte) entstandene<br />
Begriff �Binnenmarkt ist gem. Art. 14<br />
381
Gemeinsamer Standpunkt<br />
Abs. 2 EGV ein Raum ohne Binnengrenzen, in dem<br />
zusätzlich auch der Verkehr von Dienstleistungen<br />
und Kapital sowie der Personenverkehr (�Freizügigkeit)<br />
von allen Hindernissen befreit ist.<br />
Gemeinsamer Standpunkt. Mit dem Maastrichter<br />
Vertrag (vgl. Art. 15 EUV) eingeführtes förmliches<br />
Instrument der �GASP (s. a.�Gemeinsame Aktion,<br />
�Gemeinsame Strategie) zur Festlegung des politischen<br />
Konzepts der EU für eine bestimmte Frage<br />
geographischer oder thematischer Art. Beispiele betreffen<br />
restriktive Maßnahmen im Rahmen der Terrorismusbekämpfung,<br />
Visa- und Finanzrestriktionen<br />
gegen die Staatsführung instabiler oder gescheiterter<br />
Staaten, die Unterstützung des Internationalen<br />
Strafgerichtshofs und das Konzept zur Konfliktprävention,-bewältigungund-lösunginAfrika.DerGemeinsame<br />
Standpunkt ist nicht als unmittelbare<br />
Handlungsanweisung gedacht und entfaltet daher<br />
keine völkerrechtliche Bindungswirkung. Die Mitgliedstaaten<br />
haben jedoch dafür Sorge zu tragen,<br />
dass ihre einzelstaatliche Politik mit einem Gemeinsamen<br />
Standpunkt in Einklang steht. (Abstimmungsverfahrens.�GemeinsameAktion.)<br />
U. S.<br />
Gemeinsamer Standpunkt (nach Titel VI EUV,<br />
Bestimmungen über die polizeiliche und justitielle<br />
Zusammenarbeit in Strafsachen) �PJZS<br />
GemeinsamesVokabularfüröffentlicheAufträge<br />
�Nomenklatur<br />
Gemeinschaftlicher Besitzstand �Acquis communautaire<br />
GemeinschaftschartadersozialenGrundrechte<br />
1. Vorgeschichte: Der �Europäische Gewerkschaftsbund<br />
(EGB) forderte 1988 in mehreren StellungnahmendieVerabschiedungeiner„EG-Chartafürsoziale<br />
Grundrechte“. Die Grundrechte müssten vor dem<br />
Europäischen Gerichtshof einklagbar sein. Diese<br />
Position des EGB wurde 1989 vom �Wirtschaftsund<br />
Sozialausschuss und vom Europäischen Parlament<br />
weitgehend geteilt. Auf dem Madrider Treffen<br />
des Europäischen Rates im Juni 1989 weigerte sich<br />
Großbritannien,eineChartadersozialenGrundrechte<br />
im EG-Recht zu verankern, weil die meisten darin<br />
aufgeführten Bestimmungen in die ausschließliche<br />
Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen würden.<br />
382<br />
Die Kommission legte dem Europäischen Rat im Dezember<br />
1989 in Straßburg den Entwurf einer (rechtlich<br />
nicht verbindlichen) „feierlichen Erklärung“ für<br />
eine „Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte<br />
der Arbeitnehmer“ (vereinfachend, aber missverständlich<br />
oft „Sozialcharta“ genannt; �Europäische<br />
Sozialcharta des <strong>Europa</strong>rats) vor, die am 9. 12. 1989<br />
gegen die Stimme Großbritanniens angenommen<br />
wurde. (Großbritannien lehnte auch das Sozialprotokoll<br />
des EU-Vertrags bis zum �Vertrag von Amsterdam<br />
ab.)<br />
SiebekräftigtinihrerPräambel,dassdersozialenDimension<br />
bei der Durchführung der �Einheitlichen<br />
Europäischen Akte (EEA) Rechnung getragen werden<br />
muss. Außerdem sollen die bisher erreichten sozialen<br />
Fortschritte durch Maßnahmen der Gemeinschaft,<br />
der Mitgliedstaaten und der Sozialpartner gefestigt<br />
werden.<br />
2. Inhalte: Die „Gemeinschaftscharta der sozialen<br />
Grundrechte“ umfasst zwölf Grundsätze:<br />
a) Recht auf �Freizügigkeit jedes Arbeitnehmers, in<br />
dem Mitgliedstaat seiner Wahl zu arbeiten;<br />
b) Recht auf freie Wahl und Ausübung eines Berufes<br />
sowie auf ein gerechtes Entgelt;<br />
c) Recht auf verbesserte Lebens- und Arbeitsbedingungen<br />
(Ausgestaltung des Arbeitsrechts, bezahlter<br />
Jahresurlaub);<br />
d) Recht auf angemessenen sozialen Schutz entsprechend<br />
den Gegebenheiten der einzelnen Mitgliedstaaten<br />
und – unabhängig von der Größe des Unternehmens<br />
– auf Leistungen der sozialen Sicherheit;<br />
e) Koalitionsfreiheit der Arbeitgeber und Arbeitnehmer<br />
sowie Recht auf Tarifverhandlungen und Tarifabschlüsse;<br />
f) Recht auf eine Berufsausbildung;<br />
g) Recht von Männern und Frauen auf Gleichbehandlung,<br />
weiterer Ausbau der Chancengleichheit;<br />
h) Recht der Arbeitnehmer auf Unterrichtung, Anhörung<br />
und Mitwirkung;<br />
i) Recht auf Gesundheitsschutz und Sicherung in der<br />
Arbeitsumwelt;<br />
j) Kinder- und Jugendschutz (keine Arbeit unter 15<br />
Jahren, angemessenes Arbeitsentgelt usw.);<br />
k) Recht der älteren Menschen auf einen angemessenen<br />
Lebensstandard (Rentenanspruch, Mindesteinkommen,<br />
Sozialfürsorge, Krankenpflege);<br />
l) Förderung der sozialen und beruflichen Eingliederung<br />
von Behinderten.<br />
3. Umsetzung: Die Kommission hat im November
1989 ein Aktionsprogramm vorgelegt, das etwa 70<br />
konkrete Maßnahmen zur Umsetzung dieser Inhalte<br />
der Sozialcharta enthält. Diese Vorschläge müssen<br />
zum Teil in Gesetzgebungsverfahren auf Gemeinschaftsebene<br />
verabschiedet werden. Einige Richtlinien<br />
(Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz,<br />
Mutterschaftsgeld und -urlaub) sind anschließend<br />
verabschiedet worden. Jedoch stieß die Umsetzung<br />
auf Widerstände einzelner Mitgliedstaaten. Weitere<br />
Initiativen galten der Verbesserung des sozialen<br />
SchutzesfürWanderarbeiteroderderGleichbehandlung<br />
von Frauen und Männern im Arbeitsleben. Da<br />
hier Einstimmigkeit nur schwerlich zu erreichen ist,<br />
wollte die Kommission die gesetzlichen Maßnahmen<br />
durch eine umstrittene, breite Auslegung von<br />
Art. 137 EGV (in der Fassung des Amsterdamer Vertrags)<br />
entsprechend dem Verfahren nach Art. 252<br />
EGV mit �qualifizierter Mehrheit im Rat entscheiden<br />
lassen.<br />
4. Bewertung: Die Gemeinschaftscharta schreibt<br />
weitgehend fest, was bereits mit der EEA in Art. 137<br />
und 139 (Verbesserung der Arbeitsumwelt, Schutz<br />
von Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer,<br />
Entwicklung des Dialogs zwischen den Sozialpartnern<br />
auf EG-Ebene) und in anderen Artikeln des<br />
EG-Vertrags ausgedrückt wird. Neu ist z. B. der<br />
Art. 5 (angemessene Bezahlung). Die Charta berücksichtigt<br />
die bestehenden Regelungen und Besonderheiten<br />
in den Mitgliedstaaten. Sie soll, wie es Präsident<br />
Delors auf der Tagung des Europäischen Rates<br />
im Dezember 1989 ausdrückte, „unseren politischen<br />
Willen aufzeigen, ein soziales <strong>Europa</strong> unter Berücksichtigung<br />
der unerlässlichen Subsidiarität und Diversität<br />
zu schaffen“. Die Erklärung für eine Gemeinschaftscharta<br />
orientiert sich am Prinzip der<br />
�Subsidiarität (Präambel und Art. 27), was nach dem<br />
Selbstverständnis der Kommission bedeutet, dass<br />
die Gemeinschaft erst dann tätig wird, wenn ein ProblemaufuntererEbene(Mitgliedstaatoderregionale<br />
Ebene/Land) nicht oder nicht befriedigend gelöst<br />
werden kann und sich ein Konsens bildet, da gemeinschaftliches<br />
Handeln besser zur Problemlösung<br />
führt. Die Gemeinschaft legt Vorschläge für Richtlinien,<br />
Verordnungen, Entscheidungen oder Empfehlungen<br />
vor (�Rechtsakte).<br />
Die Charta normiert keine Grundrechte, und aus ihr<br />
ist kein konkreter Rechtsanspruch ableitbar. Die<br />
Umsetzung der Grundrechte liegt im Entscheidungsbereich<br />
der Mitgliedstaaten; d. h. die Charta ist keine<br />
Gemeinschaftscharta<br />
Grundlage für EU-Vorschriften. Die Gemeinschaft<br />
kann also weiterhin nur nach dem EG-Vertragsrecht<br />
tätig werden. Vielmehr sind die Eigenverantwortlichkeit<br />
der Mitgliedstaaten und der Sozialpartner<br />
gefragt. Der soziale Standard in den Mitgliedstaaten<br />
bleibt ebenfalls bestehen.<br />
Insgesamt betrachtet, suchte die Gemeinschaft einen<br />
Kompromiss vielfältiger Interessen zu finden: Gegensatz<br />
Arbeitgeber und Arbeitnehmer, unterschiedliche<br />
nationale Interessen, unterschiedliche<br />
soziale Standards in den Mitgliedstaaten, Ausgestaltung<br />
der rechtlichen Grundlage.<br />
Der Maastrichter Vertrag enthält ein zusätzliches<br />
Protokoll über die �Sozialpolitik, in dem bekräftigt<br />
wird, dass die Vertragspartner auf dem durch die Sozialcharta<br />
vorgezeichneten Weg weitergehen wollen.<br />
Dieses Protokoll, dem ein „Abkommen zwischen<br />
den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft<br />
mit Ausnahme des Vereinigten Königreichs<br />
Großbritannien und Nordirland über die Sozialpolitik”<br />
beigefügt ist, wurde mit dem �Vertrag<br />
von Amsterdam in die Sozialvorschriften aufgenommen.<br />
Großbritannien tritt den Regelungen nunmehr<br />
bei. Gemäß dem Verfahren des Art. 251 EGV kann<br />
der Rat in einigen Bereichen (Arbeitsbedingungen,<br />
Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz oder Bekämpfung<br />
sozialer Ausgrenzung) nach Art. 137 EGV<br />
„Mindestvorschriften“ erlassen. Einstimmigkeit<br />
bleibt jedoch bei beschäftigungspolitischen Belangen,<br />
bei Fragen der Arbeitnehmervertretung und<br />
beimsozialenSchutzderArbeitnehmererforderlich.<br />
Der Entwurf einer Europäischen Verfassung, den<br />
das EP am 10. 2. 1994 als Diskussionsgrundlage verabschiedete<br />
(sog. Oreja- oder Herman-Bericht;<br />
�Verfassung / Verfassungsentwürfe), hat in seinem<br />
Katalog der verbürgten �Menschenrechte auch wesentliche<br />
soziale Grundrechte verankert: Berufsfreiheit<br />
und Arbeitsbedingungen, kollektive soziale<br />
Rechte (Recht auf Gewerkschaftsgründungen, Tarifverträge<br />
zwischen den Sozialpartnern, Streikrecht,<br />
Unterrichtung der Arbeitnehmer über die<br />
Wirtschafts- und Finanzsituation ihres Unternehmens),<br />
sozialer Schutz (zum Erhalt der Gesundheit,<br />
medizinische und soziale Hilfe, soziale Sicherheit<br />
für alle Bürger, Anspruch auf menschenwürdiges<br />
Wohnen), Recht auf Bildung (einschließlich Lehrund<br />
Lernmittelfreiheit).<br />
Mit dem Amsterdamer Vertrag hat sich substantiell<br />
nichts geändert. Die Gemeinschaftscharta wird zwar<br />
383
Gemeinschaftsinitiativen<br />
inArtikel136EGVerwähnt,abernicht–wievomEP<br />
gefordert–indenVertragaufgenommen. U. M.<br />
Literatur:<br />
Adamy, W.: Soziale Grundrechte in der Europäischen Gemeinschaft<br />
– zwischen leeren Versprechungen und sozialem<br />
Fortschritt. In: WSI Mitteilungen, Nr. 10. Düsseldorf 1989<br />
Amt für amtliche Veröffentlichungen der EG (Hg.): Die soziale<br />
Dimension im Europäischen Binnenmarkt. Luxemburg 1993<br />
Bercusson, B.: The European Community’s Charter of Fundamental<br />
Rights for Workers; in: Modern Law Review 1990,<br />
S. 62 – 642<br />
Europäisches Parlament (Hg.): Die soziale Dimension des<br />
Binnenmarktes, Materialien und Dokumente. Bonn 1991<br />
Walter-Raymond-Stiftung (Hg.): Die Soziale Ordnung des Europäischen<br />
Binnenmarktes – Einheit oder Vielfalt? Köln 1991<br />
Gemeinschaftsinitiativen (GI) sind – im Unterschied<br />
zu Gemeinschaftsprogrammen – zielgerichtete<br />
Fördermaßnahmen der EU zur Kofinanzierung<br />
von nationalen Investitionen. Die Mittel stammen in<br />
der Regel aus den Strukturfonds (�Fonds der EU).<br />
Sie sollen zur Lösung unmittelbarer, schwerwiegender<br />
Probleme, die sich aus strukturellen Veränderungen<br />
ergeben, beitragen. GI werden von der Kommission<br />
vorgeschlagen und vom Rat beschlossen. In der<br />
Förderperiode 2001 bis 2006 gibt es vier Gemeinschaftsinitiativen:<br />
�Interreg III, �Leader+, �Equal<br />
und�UrbanII. W. M.<br />
Gemeinschaftsmarke �Markenrecht<br />
Gemeinschaftsmethode. Als Gemeinschaftsmethode<br />
werden die zu Rechtsakten im Bereich des<br />
EG-Vertrags (erste Säule, �Tempelstruktur) führenden<br />
Verfahren benannt, im Unterschied zur völkerrechtlichen<br />
Regierungszusammenarbeit (der intergouvernementalen<br />
Methode) in der zweiten Säule<br />
(�GASP) und der dritten Säule (�PJZS).<br />
Merkmale der Gemeinschaftsmethode sind das alleinige<br />
Initiativrecht der Kommission, die aktive Mitwirkung<br />
und Mitentscheidung des Europäischen<br />
Parlaments, die Beschlussfassung im Rat durch<br />
�qualifizierte Mehrheit als Regelfall und die einheitliche<br />
Auslegung des �Gemeinschaftsrechts durch<br />
den Europäischen �Gerichtshof. Die Regierungszusammenarbeit<br />
ist dagegen gekennzeichnet durch beschränktesInitiativrechtderKommissionnebendem<br />
Initiativrecht der Mitgliedstaaten, einstimmigen<br />
Ratsbeschluss als Regelfall, auf Beratung beschränkte<br />
Rolle des Parlaments und eingeschränkte<br />
Zuständigkeit des EuGH.<br />
384<br />
Gemeinschaftspräferenz �Gemeinsame Agrarpolitik<br />
(GAP)<br />
Gemeinschaftsprogramme und Rahmenprogramme<br />
der EU sind durch Beschlüsse des Rats und<br />
des EP zustande kommende, zeitlich befristete Maßnahmen<br />
mit festgesetztem Budget zur (finanziellen)<br />
Förderung von Aktivitäten, die bestimmten Zielen in<br />
einzelnenPolitikbereichendienen,z.B.indenBereichen<br />
Bildung, Kultur, Forschung, Beschäftigung,<br />
Umwelt, Gesundheit. An den Programmen können<br />
in der Regel auch die Staaten des �EWR sowie Beitrittskandidaten<br />
teilnehmen.<br />
Eine Übersicht über Programme mit Titeln und<br />
Akronymen sowie den verantwortlichen Generaldirektionen<br />
bietet die „Liste der Gemeinschaftsprogrammeund-initiativen“,herausgegebenvomÜbersetzungsdienst<br />
der EU. Aktuell die 7. Auflage. Kostenlos<br />
in allen Amtssprachen der EU erhältlich bei:<br />
Secretariat Sdt/AGL/3-HDL, Europäische Kommission,JECL2/174,200RuedelaLoi,B-1049Brüssel.<br />
Eine Zusammenstellung im Internet bietet:<br />
http.//php.leader-austria.at/hpold/euifo.htm<br />
Gemeinschaftsrecht (primäres, sekundäres)<br />
1. Primäres Gemeinschaftsrecht: Das primäre Gemeinschaftsrecht<br />
bezeichnet die Gründungsverträge<br />
der drei Europäischen Gemeinschaften einschl. Anlagen<br />
und Protokollen sowie deren spätere Ergänzungen<br />
und Novellierungen (Vertragsrecht). Weil es<br />
das unmittelbar von den EG-Staaten geschaffene<br />
Recht ist, hat sich im juristischen Sprachgebrauch<br />
der Begriff primäres Gemeinschaftsrecht eingebürgert.<br />
Das Vertragsrecht umfasst den Vertrag zur Gründung<br />
der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und<br />
Stahl (unterzeichnet am 18. 4. 1951, in Kraft am 23.<br />
7. 1952 für einen Zeitraum von 50 Jahren); den Vertrag<br />
zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft<br />
(unterzeichnet am 25. 3. 1957, in Kraft<br />
am 1. 1. 1958) und den Vertrag zur Gründung der Europäischen<br />
Atomgemeinschaft (unterzeichnet am<br />
25. 3. 1957, in Kraft am 1. 1. 1958).<br />
Diese Gründungsverträge wurden geändert durch<br />
– den Vertrag von Maastricht (unterzeichnet am 7. 2.<br />
1992, in Kraft am 1. 11. 1993), der die bisherigen<br />
Verträge ändert und um den �Vertrag über die Europäische<br />
Union ergänzt;<br />
– den �Vertrag von Amsterdam zur Änderung des
Vertrages über die Europäische Union; die Verträge<br />
zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften sowie<br />
einiger damit zusammenhängender Rechtsakte<br />
(unterzeichnet am 2. 10. 1997, in Kraft am 1. 5.<br />
1999);<br />
– den Vertrag von Nizza (unterzeichnet am 26. 2.<br />
2001, in Kraft am 1. 2. 2003).<br />
Hinzu kommen andere Verträge und Rechtsakte; erwähnt<br />
seien der Vertrag über die Fusion der Exekutiven<br />
(Ministerrat und Kommission bzw. Hohe Behörde)<br />
von EWG, EAG und EGKS (unterzeichnet am 8.<br />
4. 1965) und die �Einheitliche Europäische Akte<br />
(unterzeichnet am17./28. 2. 1986; in Kraft 1. 7.<br />
1987).<br />
Primäres Gemeinschaftsrecht entsteht aber nicht nur<br />
kraft ausdrücklicher Rechtssetzung, sondern ebenso<br />
„ungeschrieben“, d. h. entweder kraft Gewohnheit<br />
oder „sachlogisch“ durch gemeinschaftlichen Rückgriff<br />
auf den Mitgliedstaaten gemeinsame allgemeine<br />
Rechtsgrundsätze, insbes. auf die Existenz der<br />
�Grund- und Menschenrechte. Im Rahmen des ihr<br />
zugewiesenen Aktionsfeldes ist die Gemeinschaft so<br />
zur Beachtung grundrechtlicher Gewährleistungen<br />
verpflichtet.<br />
Die Verträge von Maastricht und Amsterdam stellen<br />
die Europäische Union auf drei Säulen. Die<br />
„Drei-Säulen-Theorie“ (�Tempelstruktur) der EU<br />
gründetsichaufArt.1Abs.3EUV,dernormiert,dass<br />
Grundlage der Union die Europäischen Gemeinschaften<br />
sind, ergänzt durch die mit dem EU-Vertrag<br />
eingeführten Politiken und Formen der Zusammenarbeit.<br />
Die erste Säule wird somit von den drei (seit<br />
23. 7. 2002 zwei) Gemeinschaften als Grundlage der<br />
Union gebildet, deren wichtigste wiederum die EG<br />
darstellt. Diese Säule ist durch ihren supranationalen<br />
Charakter gekennzeichnet. Die zweite Säule umfasst<br />
die �Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik auf<br />
Basis der Zusammenarbeit der Regierungen. Die<br />
dritte Säule umfasst die polizeiliche und justitielle<br />
Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS). Über diese<br />
Säulen spannt sich als gemeinsames Dach und<br />
gleichzeitig als Überbau die EU als solche, die auch<br />
über ein Organ verfügt, den Europäischen Rat (Art. 4<br />
EUV), der Bestandteil des einheitlichen institutionellen<br />
Rahmens der EU (Art. 3, Art. 4 EUV) ist.<br />
Demzufolge ist die EU durch eine differenzierte<br />
Ausstattung mit Kompetenzen gekennzeichnet<br />
(Grad der Kompetenzzuordnung), die von der<br />
schwachen Form der Koordination und �Kooperati-<br />
Gemeinschaftsrecht<br />
on bis hin zur Durchführung einer ausschließlichen<br />
Gemeinschaftspolitik reichen.<br />
Das Wesen der EU ist schwierig zu deuten. Sie ist<br />
kein (Bundes-)Staat, aber auch kein Staatenbund.<br />
Die Union verfügt – von den Europäischen Gemeinschaften<br />
abgesehen – nach herrschender Ansicht<br />
über keine gesonderte Rechtspersönlichkeit.<br />
Mit dem �Verfassungsvertrag (unterzeichnet am 29.<br />
11. 2004) soll die Aufteilung des Vertragsgefüges in<br />
die drei Säulen durch einen einheitlichen rechtlichen<br />
Rahmen ersetzt werden. Grundsätzlich hat der Verfassungsvertrag<br />
eine durchgängige Rechtsbasis, die<br />
durch die Verleihung der Rechtspersönlichkeit (Art.<br />
I-7 VVE) dokumentiert wird. Der VerfassungsvertragfasstsomitalleVerträgezusammen.DerVertrag<br />
hat drei wesentliche Teile:<br />
– Teil I regelt die Grundlagen der Union (Definition<br />
undZiele,GrundrechteundUnionsbürgerschaft,Zuständigkeiten<br />
und deren Ausübung, Organe, Demokratie,Finanzen,dieNachbarnderUnionunddieZugehörigkeit<br />
zur Union).<br />
– Teil II beinhaltet die Charta der Grundrechte der<br />
Union.<br />
– Teil III regelt die Politikbereiche und die Arbeitsweise<br />
der Union.<br />
– Teil IV enthält Allgemeine Bestimmungen und<br />
Schlussbestimmungen.<br />
2. Sekundäres Gemeinschaftsrecht<br />
2.1 Begriffliches: Der Begriff sekundäres Gemeinschaftsrecht<br />
bezeichnet das von den Organen der EU<br />
nach Maßgabe der Verträge erlassene Recht (= abgeleitetes<br />
Gemeinschaftsrecht). Es geht aus einem System<br />
von gemeinschaftlichen �Rechtsakten hervor,<br />
das bei Gründung der EWG neu zu kreieren war. Die<br />
EU-OrganesollteneinerseitsimStandesein,inwirksamer<br />
Weise die Integrationsziele zu verwirklichen,<br />
andererseits sollte in die nationalen Rechtsordnungen<br />
nicht mehr eingegriffen werden als nötig. Vor<br />
diesem Hintergrund wurde ein Handlungsinstrumentarium<br />
entwickelt, das den Gemeinschaftsorganen<br />
die Einwirkung auf die nationalen Rechtsordnungen<br />
in unterschiedlichem Ausmaß ermöglicht.<br />
Für die Setzung von sekundärem Recht gilt zunächst<br />
das sog. �Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung<br />
in dem Sinne, dass jeder Rechtsakt der EU einer<br />
ausdrücklichen oder sonst wie nachweisbaren<br />
Rechtsgrundlage innerhalb der Verträge, d. h. des<br />
primären Gemeinschaftsrechts, bedarf. Dieser<br />
Grundsatz gilt sowohl hinsichtlich der Frage, ob<br />
385
Gemeinschaftsrecht<br />
überhaupt eine Gemeinschaftskompetenz gegeben<br />
ist, als auch für die Wahl der im jeweiligen Fall nach<br />
den Verträgen zulässigen Handlungsform. Angesichts<br />
der sich im Einzelnen häufig wandelnden Aufgabenfülle<br />
der EU bedarf es seit längerem hinreichendflexiblerMöglichkeitendurchSetzungvonsekundärem<br />
Gemeinschaftsrecht in Randzonen. Auch<br />
hierfürstelltderEG-VertragmitderGeneralermächtigung<br />
(Art. 308 EGV) ein Instrument zur Verfügung:<br />
Erscheint ein Tätigwerden der EU erforderlich,<br />
um im Vertragsrahmen eines ihrer Ziele zu verwirklichen,<br />
und sind im Vertrag die hierfür erforderlichen<br />
Befugnisse nicht vorgesehen, so erlässt der<br />
Rat einstimmig auf Vorschlag der Kommission und<br />
nach Anhörung des EP die geeigneten Rechtsakte.<br />
Auf der anderen Seite besteht die Gefahr der Überdehnung<br />
der der Gemeinschaft zugewiesenen Kompetenzen.<br />
2.2 Handlungsformen: Die Handlungsformen des<br />
sekundären Gemeinschaftsrechts sind für die EG in<br />
Art. 249 EGV niedergelegt. Rechtsakte sind demnach<br />
Verordnungen, Richtlinien, Entscheidungen,<br />
Empfehlungen und Stellungnahmen:<br />
a) „Verordnungen“ haben allgemeine Geltung, sind<br />
in allen Teilen verbindlich und gelten unmittelbar in<br />
jedem EU-Staat. Sie gleichen einem nationalen Gesetz.<br />
b) „Richtlinien“ sind für jeden Mitgliedstaat hinsichtlich<br />
des zu erreichenden Zieles verbindlich. Die<br />
MitgliedstaatenhabenjedochdieWahlderFormund<br />
Mittel. Sie sind verpflichtet, die Richtlinie in ihr nationales<br />
Recht umzusetzen. Hierfür ist ihnen regelmäßig<br />
eine bestimmte Frist eingeräumt. Bei der Umsetzung<br />
haben die EU-Staaten alle erforderlichen<br />
Maßnahmen zu ergreifen, um die vollständige Wirksamkeit<br />
der Richtlinie entsprechend ihrer Zielsetzung<br />
zu gewährleisten.<br />
c) „Entscheidungen“ sind in allen Teilen für diejenigen<br />
verbindlich, die sie bezeichnet. Sie haben damit<br />
individuelle Geltung, d. h. der Adressat (Mitgliedstaat,<br />
natürliche oder juristische Person) wird individuell<br />
bezeichnet und individuell gebunden.<br />
d) „Empfehlungen“ und „Stellungnahmen“ sind<br />
nicht verbindlich.<br />
Mit dem Vertrag von Amsterdam wurden Rahmenbeschlüsse<br />
als neues Instrument vereinbart. Der Rat<br />
kann zur Angleichung von nationalen Vorschriften<br />
(z. B. Unterschiede in den Rechts- und Verwaltungsvorschriften<br />
der EU-Staaten bei der Verbrechens-<br />
386<br />
fahndung) Rahmenbeschlüsse erlassen, die in den<br />
Zielen verbindlich sind, den Behörden der<br />
EU-Staaten die Wahl der Form und der Mittel überlassen<br />
(Art. 34 Abs. 2b EUV).<br />
3. Differenzierung des Gemeinschaftsrechts: Der<br />
Vertrag von Amsterdam ermöglicht eine verstärkte<br />
und damit engere Zusammenarbeit einzelner Mitgliedstaaten<br />
(Flexibilitätsklausel), um schneller und<br />
weiter in der Integration voranzuschreiten (Art. 43<br />
und 44 EUV). Der Vertrag regelt dazu die Bedingungen<br />
und das Verfahren. Die engere Zusammenarbeit<br />
muss die Ziele der EU fördern, die Vertragsgrundsätze<br />
und den einheitlichen institutionellen Rahmen<br />
achten. Es ist zu erwarten, dass Mitgliedstaaten über<br />
die Flexibilitätsklausel eine Vorreiterrolle übernehmen,<br />
um die Integration vertiefend voranzubringen.<br />
Damit differenziert sich das Gemeinschaftsrecht<br />
weiter aus, da diese Regelungen nicht für alle<br />
EU-Staaten wirksam sind, sie aber jederzeit übernommen<br />
werden können.<br />
4. Wesensgehalt des Gemeinschaftsrechts: Der Vorrang<br />
des primären und sekundären Gemeinschaftsrechts<br />
vor entgegenstehendem nationalen Recht ist<br />
nicht zu trennen von dessen ursprünglicher Natur.<br />
Durch die Übertragung von �Hoheitsrechten an die<br />
EUhabendieMitgliedstaatenihreZustimmungdazu<br />
gegeben, dass ihre �Souveränität insoweit beschränkt<br />
wird, als die Gemeinschaft zum Handeln<br />
befugt sein soll. Entsprechend Art. 249 EGV kann<br />
die Gemeinschaft unmittelbar geltendes Recht setzen.<br />
Die EU ist eine Schöpfung des Rechts in Form<br />
des primären Gemeinschaftsrechts als Schöpfungsakte.<br />
Sie verfolgt ihre Ziele allein mit den Mitteln des<br />
Rechts; sie ist eine Gemeinschaft durch das Recht.<br />
Nicht die Stärke der Macht regelt das wirtschaftliche<br />
und das soziale Zusammenleben der Völker der Mitgliedstaaten,<br />
sondern das Recht. Das Gemeinschaftsrecht<br />
konstituiert die Rechtsordnung.<br />
Die EU ist auch Rechtsquelle, d. h. sie ist<br />
– politisch betrachtet der Entstehungsgrund des<br />
Rechts durch das Ziel „Integration der europäischen<br />
Völker“ und sie ist<br />
– juristisch betrachtet Herkunftsort und Verankerung<br />
des Rechts. Eine weitere Rechtsquelle der EU<br />
bilden �völkerrechtliche Abkommen, die sie mit<br />
�Drittländern und anderen internationalen Organisationen<br />
abschließt.<br />
Primäres und sekundäres Gemeinschaftsrecht sowie<br />
die internationalen Verträge der EU sind geschriebe-
nes Gemeinschaftsrecht. Ungeschriebene Quellen<br />
des Gemeinschaftsrechts sind die allgemeinen<br />
Rechtsgrundsätze. Dabei handelt es sich um Normen,<br />
die die elementaren Vorstellungen von Recht<br />
und Gerechtigkeit zum Ausdruck bringen, denen<br />
jede Rechtsordnung verpflichtet ist. Die Verwirklichung<br />
der Rechtsgrundsätze erfolgt durch die<br />
Rechtsanwendung, insbes. durch die Rechtsprechung<br />
des EuGH. Bezugspunkte für die Ermittlung<br />
der Rechtsgrundsätze sind die gemeinsamen Rechtsordnungen<br />
der EU-Staaten. Durch den EuGH wurden<br />
insbes. folgende Rechtsgrundsätze formuliert:<br />
Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, Verhältnismäßigkeit,<br />
Rechtssicherheit, Vertrauensschutz, �Diskriminierungsverbot,<br />
Gleichheit, rechtliches Gehör<br />
und Achtung der �Grund- und Menschenrechte.<br />
5. Verfassungsvertrag 2004: Der Verfassungsvertrag<br />
sieht einen Wechsel der Begrifflichkeiten für die<br />
Rechtsakte der Union vor. Wenn er in Kraft tritt, übt<br />
die Union ihre Zuständigkeiten mittels folgender<br />
Rechtsakte aus: Europäisches Gesetz, Europäisches<br />
Rahmengesetz, Europäische Verordnung, Europäischer<br />
Beschluss, Empfehlung und Stellungnahme<br />
(Art. I-33 VVE).<br />
a) Das Europäische Gesetz (bisher Verordnung) ist<br />
ein Gesetzgebungsakt mit allgemeiner Geltung. Es<br />
ist in allen seinen Teilen verbindlich und gilt unmittelbar<br />
in jedem Mitgliedstaat.<br />
b) Das Europäische Rahmengesetz (bisher Richtlinie)isteinGesetzgebungsakt,derfürjedenMitgliedstaat,<br />
an den es gerichtet ist, hinsichtlich des zu errichtenden<br />
Zieles verbindlich ist, jedoch den innerstaatlichen<br />
Stellen die Wahl der Form und Mittel<br />
überlässt.<br />
c) Die Europäische Verordnung ist ein Rechtsakt mit<br />
allgemeiner Geltung ohne Gesetzescharakter; sie<br />
dient der Durchführung der Gesetzgebungsakte und<br />
bestimmter Einzelvorschriften der Verfassung (bisher<br />
ebenfalls Verordnung genannt).<br />
d)DerEuropäischeBeschluss(bisherEntscheidung)<br />
ist ein Rechtsakt ohne Gesetzgebungscharakter, der<br />
in allen seinen Teilen verbindlich ist. Ist er an bestimmte<br />
Adressaten gerichtet, so ist er nur für diese<br />
verbindlich.<br />
e) Empfehlungen und Stellungnahmen der Organe<br />
sind rechtlich nicht bindend.<br />
Europäische Gesetze, Rahmengesetze, Verordnungen<br />
und Beschlüsse sind mit einer Begründung zu<br />
versehen und nehmen auf die in der Verfassung vor-<br />
Gemeinschaftsrechtsvollzug<br />
gesehenen Vorschläge oder Stellungnahmen Bezug.<br />
Damit wird der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung<br />
respektiert. Danach wird die Union innerhalb<br />
der Grenzen der Zuständigkeiten tätig, die<br />
die Mitgliedstaaten ihr in der Verfassung zur Verwirklichung<br />
der Ziele zugewiesen haben.<br />
Nach der Flexibilitätsklausel (Art. I-18 VVE) kann<br />
der Ministerrat jedoch einstimmig auf Vorschlag der<br />
Kommission und nach Zustimmung des EP sowie einer<br />
Vorabinformation der nationalen Parlamente<br />
bisher nicht vorgesehene Befugnisse zur Erreichung<br />
von Verfassungszielen beschließen. Damit kann die<br />
Union auf gegenwärtig nicht gesehene Herausforderungen<br />
reagieren. Die Flexibilitätsklausel ist die<br />
Fortentwicklung der „Generalermächtigung“ des<br />
Art. 308 EG-Vertrag.<br />
Der Europäische Gerichtshof (Art. III-353 ff. VVE)<br />
überwacht die Rechtmäßigkeit der Europäischen<br />
Gesetze und Rahmengesetze und ist für Klagen zuständig.<br />
L. U.<br />
Literatur:<br />
Bergmann, J.: Recht und Politik der Europäischen Union.<br />
Grevenbroich/Stuttgart 2001<br />
Emmert, F.: <strong>Europa</strong>recht. München 1996<br />
Herdegen, M.: <strong>Europa</strong>recht. München 1997<br />
Hobe, S.: Bedingungen, Verfahren und Chancen europäischer<br />
Verfassungsgebung: Zur Arbeit des Brüsseler Verfassungskonvents.<br />
In: <strong>Europa</strong>recht 1/2003, S.1-16<br />
Jachtenfuchs, M.: Die Konstruktion <strong>Europa</strong>s. Verfassungsideen<br />
und institutionelle Entwicklung. Baden-Baden 2000<br />
Gemeinschaftsrechtsvollzug. Dieser steht entsprechend<br />
den Regelungen des Europäischen Verwaltungsrechts<br />
nach dem �Prinzip der begrenzten<br />
Einzelermächtigung grundsätzlich den Mitgliedstaaten<br />
zu; sie sind hierzu durch Art. 10 EGV (Gemeinschaftstreue)<br />
verpflichtet. Den europäischen<br />
Organen gebührt weder ein Weisungsrecht noch<br />
existiert ein einheitliches europäisches Verwaltungsrecht.<br />
Aus diesem Grund ist im Einzelnen Vieles<br />
ungeklärt und umstritten. Regelt eine unmittelbar<br />
anwendbare Verordnung auch das anzuwendende<br />
Verfahren, geht dieses nationalem Verwaltungsrecht<br />
vor. Fehlen dagegen europäische Vollzugsregelungen<br />
in dem Rechtsakt, greift ergänzend das nationale<br />
Recht ein (z. B. bezüglich Aufrechnung, Verjährung<br />
usw.). Hierdurch wird das Grundprinzip der<br />
gleichmäßigen Anwendung des Gemeinschaftsrechts<br />
in allen Mitgliedstaaten zumindest infrage gestellt.<br />
Der EuGH (Slg. 1983, 2633) hat deshalb ausgeführt,<br />
dass das nationale Verwaltungsrecht die<br />
387
Gemeinschaftssystem<br />
Verwirklichung des Gemeinschaftsrechts nicht<br />
praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren<br />
dürfe (Effizienzgebot). Außerdem müssten<br />
die Interessen der Gemeinschaft gewahrt werden<br />
und es dürften beim Gemeinschaftsrechtsvollzug<br />
keine anderen nationalen Regelungen gelten als bei<br />
vergleichbaren innerstaatlichen Sachverhalten (Diskriminierungsverbot).<br />
Werde hiergegen verstoßen,<br />
seien vorrangig die allgemeinen Rechtsgrundsätze<br />
des Gemeinschaftsrechts anwendbar.<br />
Neben diesem indirekten Gemeinschaftsrechtsvollzug<br />
durch die Mitgliedstaaten besteht für den gemeinschaftsinternen<br />
Bereich (Haushaltsvollzug,<br />
Personalangelegenheiten usw.) und ausnahmsweise<br />
in wenigen gemeinschaftsexternen Bereichen (insbes.<br />
bei der Wettbewerbspolitik) auch der direkte,<br />
gemeinschaftsunmittelbare Vollzug. Hier verwalten<br />
die Gemeinschaftsorgane, insbes. die Kommission,<br />
selbst.SiehabensichdabeinachderRechtsprechung<br />
des EuGH (Slg. 1982, 749; EuZW 1992, 90) an die<br />
allgemeinen Rechtsgrundsätze zu halten (Gesetzmäßigkeit<br />
der Verwaltung, Vertrauensschutz, Grundsatz<br />
der Verhältnismäßigkeit, Akteneinsicht, Rechtssicherheit,<br />
rechtliches Gehör usw.). Andernfalls<br />
kann der EuGH eine Entscheidung für nichtig erklären.<br />
J. M. B.<br />
Gemeinschaftssystem für das Umweltmanagement<br />
und die Umweltbetriebsprüfung �EMAS<br />
Gemeinschaftstreue �Unionstreue<br />
Gemeinschaftsverträge �Gemeinschaftsrecht<br />
Gemeinwohlorientierte Leistungen, auch Leistungen<br />
der Daseinsvorsorge genannt, sind sowohl<br />
marktbezogene als auch nicht gewinnorientierte Tätigkeiten<br />
im Interesse der Allgemeinheit, die mit<br />
Verpflichtungen der öffentlichen Hand zur ErhaltungdesGemeinwohlsverbundensindundinderRegel<br />
von nichtprivaten Unternehmen erbracht werden.<br />
Etwas weiter gefasst ist der Begriff der Dienstleistungen<br />
von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse<br />
nach Art. 16 und Art. 86 EGV. Er bezeichnet<br />
marktbezogene Tätigkeiten, die von der öffentlichen<br />
Hand oder von privaten Unternehmen im Interesse<br />
der Allgemeinheit erbracht werden.<br />
Dazu zählen vor allem Dienstleistungen im Bereich<br />
der Infrastruktur, die in einigen oder in allen Mit-<br />
388<br />
gliedstaaten bisher Aufgabe von staatlichen, regionalen<br />
oder kommunalen Behörden waren oder es<br />
noch sind, u. a. öffentlicher Personenverkehr, Elektrizitäts-<br />
und Wasserversorgung, Post und Telekommunikationsdienste.<br />
Unternehmen, die solche Dienstleistungen anbieten,<br />
sind oder waren durch staatliche Regelungen vor<br />
Wettbewerb in besonderer Weise geschützt (in<br />
Deutschland z. B. öffentlich-rechtliche Institutionen<br />
wiedasSparkassenwesen)oderwerdenbzw.wurden<br />
aus öffentlichen Mitteln insoweit gefördert, als ihre<br />
Leistungen nicht kostendeckend erbracht werden<br />
können.<br />
Wegen der Bedeutung dieser Dienstleistungen für<br />
den sozialen und territorialen Zusammenhalt gelten<br />
die Wettbewerbsregelungen des Binnenmarkts für<br />
solche Unternehmen nur insoweit, als sie die Erfüllung<br />
der ihnen übertragenen besonderen Aufgabe<br />
nicht rechtlich oder tatsächlich verhindern (Art. 86<br />
Abs. 2 EGV). Die Mitgliedstaaten müssen dafür Sorge<br />
tragen, dass diese Dienste ihre Aufgaben erfüllen<br />
können (Art. 16 EGV), wobei die gemeinschaftlichen<br />
Wettbewerbsregeln über staatliche Beihilfen<br />
(Art. 73 und 87 EGV) zu beachten sind.<br />
Gemischte Abkommen sind völkerrechtliche Verträge<br />
der EG (vertreten durch die Kommission) und<br />
der Mitgliedstaaten mit Drittstaaten. Sie müssen von<br />
den Mitgliedstaaten ratifiziert werden. Enthält das<br />
Abkommen auch Vereinbarungen, für die die Kommission<br />
die alleinige Kompetenz besitzt (z. B. im BereichAußenhandel),könnendieseTeilealsInterimsabkommen<br />
schon vor der Ratifizierung in Kraft treten.<br />
Gemischte Formel. Bezeichnung für Beschlüsse<br />
oder dgl., deren Verpflichtungen nur z. T. durch das<br />
Gemeinschaftsrecht abgedeckt sind, deren andere<br />
Teile durch bi- oder multilaterale Abkommen zwischen<br />
den Mitgliedstaaten der EU in Kraft gesetzt<br />
werden oder im Rahmen der intergouvernementalen<br />
Zusammenarbeit zustande kommen.<br />
Gender Mainstreaming<br />
Definition und Geschichte: Gender Mainstreaming<br />
ist eine relativ neue geschlechterpolitische Strategie.<br />
Im Kern geht es darum, dass alle politischen Maßnahmen<br />
von vornherein und regelmäßig die Auswirkungen<br />
auf die Geschlechterverhältnisse berück-
sichtigen und so dem Ziel der Gleichstellung der Geschlechter<br />
dienen sollen. Der <strong>Europa</strong>rat (1998) gibt<br />
folgende Definition: „Gender Mainstreaming besteht<br />
in der (Re-)Organisation, Verbesserung, Entwicklung<br />
und Evaluation von Entscheidungsprozessen<br />
mit dem Ziel, dass die an politischer Gestaltung<br />
beteiligten Akteure und Akteurinnen den Blickwinkel<br />
der Gleichstellung zwischen Frauen und Männern<br />
in allen Bereichen und auf allen Ebenen einnehmen.“<br />
Damit wird anerkannt, dass die Lebensrealitäten<br />
von Frauen und Männern unterschiedlich sind<br />
und die Gleichstellung noch eine politische Aufgabe<br />
ist. Gleichzeitig wird angenommen, dass alle politischen,<br />
ökonomischen, sozialen und kulturellen<br />
Strukturen die Handlungsmöglichkeiten von Männern<br />
und Frauen beeinflussen. Durch den Gebrauch<br />
der Kategorie „Gender“ wird das unterstrichen. Gender<br />
bezeichnet im Gegensatz zu Sex (biologisches<br />
Geschlecht) im Englischen das soziale Geschlecht<br />
einer Person. Soziales Geschlecht bedeutet, dass Geschlecht<br />
als Produkt vielfältiger kultureller, politischer,<br />
ökonomischer und symbolischer Herstellungsprozesse<br />
erfasst wird. Menschen haben danach<br />
nicht einfach nur ein Geschlecht, sie stellen es auch<br />
immer wieder sozial her. Gesellschaftliche Strukturen<br />
können ebenfalls unter der Genderperspektive<br />
analysiert werden. Gender bezeichnet damit den politisch<br />
gestaltbaren Aspekt von Geschlecht. Die biologisch<br />
definierten Geschlechterunterschiede können<br />
nicht als Rechtfertigung für gesellschaftliche<br />
Unterschiede zwischen den Geschlechtern akzeptiert<br />
werden. Diesen politischen Auftrag zur Gestaltung<br />
der Geschlechterverhältnisse betont die Kommission<br />
auch in ihrer Mitteilung zur „Einbindung der<br />
Chancengleichheit in sämtliche politische Konzepte<br />
und Maßnahmen der Gemeinschaft“ (KOM 1996/67<br />
endg.): „Es geht bei der Ausrichtung des Gender<br />
Mainstreaming [...] nicht nur darum, den Frauen den<br />
Zugang zu den Programmen und Finanzmitteln der<br />
Gemeinschaft zu eröffnen, sondern auch und vor allem<br />
darum, das rechtliche Instrumentarium, die Finanzmittel<br />
und die Analyse und Moderationskapazitäten<br />
der Gemeinschaft zu mobilisieren, um auf allen<br />
Gebieten dem Bedürfnis nach Entwicklung ausgewogener<br />
Beziehungen zwischen Frauen und Männern<br />
Eingang zu verschaffen.“<br />
Gender Mainstreaming kommt aus der internationalen<br />
Frauenpolitik und entstand in den Auseinandersetzungen<br />
um die Effektivität und Zielgenauigkeit<br />
Gender Mainstreaming<br />
der Entwicklungshilfe. Schon früh haben nationale<br />
Entwicklungsprogramme, Nicht-Regierungsorganisationen<br />
und die großen entwicklungspolitischen<br />
AkteurewiedieWeltbankunddasEntwicklungsprogrammderVereintenNationengeschlechtersensible<br />
Konzepte in ihrer Arbeit eingesetzt. Mit Beginn der<br />
Weltfrauendekade der Vereinten Nationen 1975<br />
wurde die besondere Situation von Frauen systematisch<br />
von Regierungsvertreterinnen und Aktivistinnenthematisiertundkritisiert.DieWeltfrauenkonferenzen<br />
in Mexiko (1975), Kopenhagen (1980), Nairobi(1985)undPeking(1995)wurdenzuKristallisationspunkten<br />
der Internationalen Frauenbewegung.<br />
Auf der vierten Weltfrauenkonferenz in Peking 1995<br />
konnte das Prinzip Gender Mainstreaming in den<br />
Abschlussdokumenten verankert werden, die Regierungen<br />
verpflichteten sich damit darauf, die Gleichstellungsziele<br />
in dieser Weise umzusetzen.<br />
2. Gender Mainstreaming und die Europäische<br />
�Gleichstellungspolitik. Die Europäische �Frauenlobby<br />
hatte bei der Reform der EU-�Strukturfonds<br />
bereits 1993 eine Zielvorgabe „Chancengleichheit<br />
für Frauen und Männer“ durchsetzen können. Damit<br />
warerstmalsin<strong>Europa</strong>ineinemallgemeinenFörderkonzept<br />
das Ziel der Chancengleichheit verankert.<br />
Im vierten Aktionsprogramm zur Chancengleichheit<br />
1995 wurde dann die Strategie des Gender Mainstreaming<br />
beschrieben. Darin war der Anspruch formuliert,<br />
dass das, was in EU-Strukturfonds gelungen<br />
war, in der gesamten europäischen Politik Realität<br />
werden soll: Die Geschlechterverhältnisse sollten in<br />
jeder politischen Konzeption berücksichtigt werden.<br />
1996 hat die Europäische Kommission in der Mitteilung<br />
„Einbindung der Chancengleichheit in sämtliche<br />
Konzepte und Maßnahmen der Gemeinschaft“<br />
ausgedrückt, dass Gender Mainstreaming eine Politik<br />
ist, bei der es darum geht, zur Verwirklichung der<br />
Gleichstellung ausdrücklich sämtliche allgemeinen<br />
politischen Konzepte und Maßnahmen einzubeziehen.<br />
Systematische Anstrengungen zur Förderung<br />
des Gender Mainstreaming in der gesamten Kommission<br />
wurden Anfang 1997 eingeleitet, als sich<br />
eine interdirektionale Arbeitsgruppe für Chancengleichheit<br />
auf ein Strategiepapier mit konkreten<br />
Schritten zur Umsetzung der Kommissionsmitteilung<br />
von 1996 einigte. Gleichzeitig wurde eine Arbeitsgruppe<br />
aus Vertretern aller Generaldirektionen<br />
gegründet, die „Gender Mainstreaming Beauftragten“.<br />
Eine ihrer ersten Aufgaben war die Ausarbei-<br />
389
Gender Mainstreaming<br />
tung eines „Leitfadens zur Bewertung geschlechtsspezifischer<br />
Auswirkungen von Maßnahmen“. Eine<br />
Bekräftigung erfuhr das Gender Mainstreaming-<br />
Prinzip 1997 im �Vertrag von Amsterdam. Damit<br />
wurde die Gleichberechtigung erstmals ein zentraler<br />
Teil des Europäischen Vertragswerkes, das sich bis<br />
dahin nur im Art. 119 (jetzt Art. 141 EGV), dem Artikel<br />
zur gleichwertigen Bezahlung, Geschlechterfragen<br />
zugewandt hatte. Der Vertrag von Amsterdam<br />
stellt alle Maßnahmen der gemeinsamen Politik unter<br />
die Zielsetzung, die Ungleichheiten der Geschlechter<br />
zu beseitigen. Artikel 2 legt fest: „Aufgabe<br />
der Gemeinschaft ist es, [...] ein hohes Beschäftigungsniveau<br />
und ein hohes Maß an sozialem Schutz,<br />
die Gleichstellung von Männern und Frauen [...] zu<br />
fördern.“ Die Gemeinschaft wirkt in ihren Politiken<br />
darauf hin, „Ungleichheiten zu beseitigen und die<br />
Gleichstellung von Männern und Frauen zu fördern“<br />
(Art.3Abs.2EGV).Dazusindausdrücklichpositive<br />
Maßnahmen, also die besondere Förderung des „unterrepräsentierten<br />
Geschlechts“, wie es neutral im<br />
Art. 141 Abs. 4 heißt, erlaubt. Dieser als „dual“ bezeichnete<br />
Ansatz, einerseits Frauen als Zielgruppe<br />
zu fördern und andererseits alle Maßnahmen auf die<br />
Gleichstellungswirkungen zu überprüfen, ist für die<br />
europäische Gleichstellungspolitik charakteristisch.<br />
Eine weitere wichtige Rolle bei der Einbeziehung<br />
des Gender Mainstreaming in die Aktionen und die<br />
Strategie der Kommission spielte die bereits 1995<br />
eingesetzte Kommissarsgruppe „Chancengleichheit“,<br />
die 1999 erneuert wurde. Ihr gehören vier<br />
Kommissionsmitglieder als ständige Mitglieder an,<br />
aber auch die übrigen Kommissionsmitglieder können<br />
mitarbeiten. Aufgabe der Gruppe ist es seit 1997<br />
vor allem, die Gleichstellung der Geschlechter in allen<br />
relevanten Gemeinschaftspolitiken und AktionenimSinnedesArt.3Abs.2EGVsicherzustellen.<br />
Im Juni 2000 beschloss die Kommission eine Rahmenstrategie<br />
der Gemeinschaft zur Förderung der<br />
Gleichstellung von Frauen und Männern. Dabei handelt<br />
es sich um eine umfassende Strategie, die sämtlicheGemeinschaftspolitikenundsämtlicheKommissionsdienststellen<br />
einbezieht. Sie richtet sich auf<br />
Frauen im Erwerbsleben, auf die politische Partizipation,aufdengleichenZugangzusozialenRechten,<br />
auf die gleichberechtigte Repräsentation und<br />
schließlich auf den Abbau von Geschlechterstereotypen<br />
(KOM 2000/235 endg.). Für jedes Jahr wird<br />
von der Kommission ein gleichstellungspolitisches<br />
390<br />
Jahresarbeitsprogramm verabschiedet. Gleichstellungsfragen<br />
sind zudem neben der Verbesserung der<br />
Beschäftigungsfähigkeit, der Entwicklung des Unternehmergeistes<br />
und der Förderung der Anpassungsfähigkeit<br />
von Unternehmen bereits 1997 zur<br />
vierten Säule in dem Beschäftigungsleitlinien der<br />
EU geworden. Gender Mainstreaming wurde in die<br />
Programme der �Strukturfonds implementiert und<br />
dadurch zur Pflicht der Projektbeteiligten in der EU.<br />
ImMai2001wurdebeimExpertinnentreffenGender<br />
Mainstreaming in Schweden eine informelle hochrangige<br />
Gruppe Gender Mainstreaming gegründet.<br />
Sie trifft sich zweimal pro Jahr und wird von der jeweiligen<br />
Präsidentschaft eingeladen. Neben diesen<br />
strukturellen Verankerungen des Gender Mainstreaming-Prinzips<br />
hat es sich die Kommission auch<br />
gleichzeitig zur Aufgabe gemacht, ihre eigene Organisationskultur<br />
zu verändern und mit konkreten Förderzielen<br />
im Rahmen von positiven Aktionen in der<br />
Personalpolitik der Unterrepräsentation von Frauen<br />
entgegenzutreten sowie durch Genderworkshops die<br />
Genderkompetenz der Beschäftigten zu erhöhen.<br />
3. Ergebnisse: Fragt man nach den konkreten Ergebnissen,<br />
so fällt der Befund kritisch aus: so einfach das<br />
Prinzip Gender Mainstreaming klingt, so schwierig<br />
wird es in der konkreten Anwendung. In dem „Bericht<br />
zur Gleichstellung von Frau und Mann 2004,“<br />
wird zusammengefasst: „Es bedarf verstärkter Anstrengungen<br />
seitens der Mitgliedstaaten, der Kommission<br />
und des Ministerrates, um die Zielvorgaben<br />
und Regelungen in konkrete Maßnahmen umzusetzen.“<br />
Auch nationale Analysen kommen zu ähnlichen<br />
Ergebnissen. Frankenfeld und Mechel (2004)<br />
analysierten 43 europäische Regionalprogramme<br />
ausdem�EFREundresümieren:„DieBilanzunserer<br />
Untersuchung hätte kaum negativer ausfallen können.<br />
28 Programme waren ,unzureichend‘, davon<br />
drei ,sehr unzureichend‘“. Auch der duale Ansatz der<br />
europäischen Gleichstellungspolitik wird nur<br />
schwer eingehalten: Zum einen gab es auf der europäischen<br />
Ebene selbst bereits mehrmals Versuche,<br />
spezielle Frauenprogramme und Schwerpunkte mit<br />
dem Hinweis auf Gender Mainstreaming zu streichen.Dassdiesnichtgelungenist,istdemEinsatzder<br />
Europäischen Parlamentarierinnen zu verdanken.<br />
Die bisherigen Erfahrungen auch gerade aus den<br />
Strukturfonds zeigen, dass faktisch die Gleichstellung<br />
nur auf das Politikfeld E reduziert wird, das aber<br />
eigentlich explizit für positive Aktionen bezüglich
der Diskriminierung von Frauen vorgesehen ist (Politikfeld<br />
E ist eines der 6 Politikfelder des �ESF:<br />
Chancengleichheit von Frauen und Männern). Das<br />
führt zu dem paradoxen Ergebnis, dass nun mit den<br />
für Frauen vorgesehenen Mitteln auch Männer gefördert<br />
werden, die geschlechtersensible Bearbeitung<br />
der übrigen Maßnahmen jedoch ausbleibt.<br />
Während die europäische Gemeinschaftspolitik<br />
noch erhebliche Schwierigkeiten mit der Umsetzung<br />
von Gender Mainstreaming hat, gilt Schweden als<br />
europäisches Musterland bei der nationalen Anwendung<br />
des Gender Mainstreaming Prinzips. Seit 1994<br />
ist dieses Konzept der systematische Ansatz in der<br />
schwedischen Geschlechterpolitik. Die geschlechtsspezifische<br />
Datenerhebung wurde 1994 gesetzlich<br />
festgelegt, Gender Mainstreaming ist auf höchster<br />
politischer Ebene und in allen ministeriellen Ressorts<br />
verpflichtend verankert und es besteht ein breites<br />
Angebot an Fortbildungsmöglichkeiten. Zuständig<br />
sind die jeweiligen Staatssekretäre. Das Gleichstellungsministerium<br />
übernimmt eine wichtige Rolle<br />
für die Evaluation und Fortschreibung von Gender<br />
Mainstreaming.<br />
4. Ausblick. Das schwedische Beispiel zeigt, Gender<br />
Mainstreaming kann weitreichend und effektiv umgesetzt<br />
werden. Die gleichstellungspolitische Geschichte<br />
der EU lässt jedoch vermuten, dass die Konkretisierung<br />
von Gender Mainstreaming in den europäischen<br />
Institutionen und den Nationalstaaten von<br />
Ungleichzeitigkeiten und Widersprüchen geprägt<br />
sein wird. Kritikerinnen der europäischen Geschlechterpolitik<br />
fragen, ob die Union ein ernstzunehmender<br />
Motor frauenrechtlicher Entwicklungen<br />
ist, oder ob all diesen Maßnahmen letztlich doch nur<br />
eine Auffassung von Geschlechtergleichheit als<br />
GleichheitindenChancendesZugangszumgemeinsamen<br />
Markt zugrunde liegt. Immer schon war die<br />
EU-Gleichstellungspolitik stark wettbewerbsorientiert,<br />
indem sie darauf zielte, Wettbewerbsnachteile<br />
für die weniger diskriminierenden Staaten zu verhindern.<br />
Geschlechtergerechtigkeit als normatives Ziel<br />
jenseits ökonomischer Überlegungen ist der EU als<br />
Konzept bisher fremd gewesen. Dennoch sind allein<br />
dadurch emanzipatorische Effekte eingetreten, dass<br />
die europäischen Regelungen progressiver als die<br />
Regelungen der Mitgliedstaaten waren. Angesichts<br />
der in Maastricht vereinbarten Nachrangigkeit von<br />
Beschäftigungs- und Sozialpolitik gegenüber der<br />
Stabilitätspolitik ist zu fragen, ob diese Priorität die<br />
Generalanwalt<br />
Gleichstellung von Frauen nicht eher behindert, sind<br />
es doch gerade die Frauen, die auf einen starken Sozialstaatangewiesensind.ObalsodieEUdurchGender<br />
Mainstreaming zu einer umfassenden Vision und<br />
UmsetzungvonGeschlechtergerechtigkeitgelangen<br />
kann, wird weiterhin von einer Vielzahl unterschiedlicher<br />
Faktoren abhängen, nicht zuletzt von einer<br />
starken frauenpolitischen Bewegung und ihren geschlechterdemokratischenVerbündeten.<br />
B. St.<br />
Internet:<br />
http://europa.eu.int/comm/employment_social/equ_opp/strategy_de.html<br />
Literatur:<br />
Behning, U./Serrano Pascual, A. (Hg.): Gender Mainstreaming<br />
in the European Employment Strategy. Brussels 2001<br />
BMFSFJ (Hg): Leitfaden Gender Mainstreaming im<br />
Europäischen Sozialfonds. Berlin 2004<br />
Council of Europe: Gender Mainstreaming: Conceptual<br />
Framework Methodology and Presentation of Good Practices.<br />
Straßburg 1998<br />
Frankenfeld, P./Mechel, A.: Gender Policy in European<br />
Regional Programmes. Universität Bremen 2004<br />
Harders, C./Stiegler, B.: Gender Mainstreaming: Gleichstellungspolitik<br />
in der EU. In: Frantz, Ch./Schubert, K., Grundkurs<br />
I: Politikwissenschaft. Institutsausgabe. Lit Verlag 2004<br />
Europäische Kommission: Rahmenstrategie der Gemeinschaft<br />
zur Förderung der Gleichstellung von Frauen und Männern<br />
(2001–2005). KOM(2000)235 endg.<br />
Dies.: Bericht zur Gleichstellung von Frau und Mann. 2004<br />
KOM(2004) 115 endg.<br />
Schunter-Kleemann, S.: Gender Mainstreaming, Workfare und<br />
„Dritte Wege“ des Neoliberalismus. In: Nohr, B./Veth, S.<br />
(Hg.), Gender Mainstreaming – kritische Reflexionen einer<br />
neuen Strategie. Berlin 2002, S. 125 – 141<br />
Stiegler, B.: Wie Gender in den Mainstream kommt – Konzepte,<br />
Argumente und Praxisbeispiele zur EU-Strategie des Gender<br />
Mainstreaming. Forschungsinstitut der Friedrich-Ebert-<br />
Stiftung, Abt. Arbeit und Sozialpolitik (Hg.). Bonn 2000<br />
Generalanwalt (EuGH). Am Europäischen Gerichtshof<br />
arbeiten neben den Richterinnen und Richtern<br />
– entsprechend romanischer Rechtstradition –<br />
die sog. Generalanwälte. Sie sind eine Art ausgelagerte<br />
Berichterstatter, d. h. den Richtern gleichgestellte<br />
Persönlichkeiten. Ihre Hauptfunktion ist die<br />
vollkommen unparteiliche und unabhängige Fertigung<br />
der Schlussanträge. Die Schlussanträge sind<br />
den EuGH-Entscheidungen zeitlich vorgelagert. Sie<br />
haben zwar für den Spruchkörper keine rechtliche<br />
Verbindlichkeit. Der Gerichtshof folgt ihnen dennoch<br />
in der Praxis statistisch im Schnitt bis zu 80 %,<br />
was ihre eminente Bedeutung unterstreicht. Hintergrund<br />
hierfür dürfte der Umstand sein, dass der<br />
Schlussantrag des Generalanwalts oftmals der „ein-<br />
391
Generaldirektionen<br />
zige gemeinsame Nenner“ ist, auf den sich die aus<br />
doch sehr verschiedenartigen Rechtssystemen kommenden<br />
und deshalb mit recht unterschiedlichem<br />
Amtsverständnis versehenen Richterinnen und<br />
Richter einigen können. Durch den Vertrag von Nizza<br />
wurde zum 1. 2. 2003 eingeführt, dass – insbes. bei<br />
schon weitgehend geklärter Rechtslage – auf den<br />
Schlussantrag des Generalanwalts auch verzichtet<br />
werdenkann. J. M. B.<br />
Generaldirektionen (GD) sowie Ämter und hochrangige<br />
Dienste im Rang von GD sind 37 organisatorische<br />
Einheiten der Europäischen Kommission mit<br />
bestimmten Aufgabengebieten innerhalb der Politikbereiche<br />
der EU oder der Verwaltung. Sie unterstehenunmittelbardenKommissarenundsinduntereinander<br />
gegliedert in die Bereiche „Politiken der<br />
EU“, „Außenbeziehungen“ sowie „Allgemeine<br />
Dienste“ und „Interne Dienste“. Die folgende Gliederung<br />
gilt für die Kommission 2004 bis 2009.<br />
Generaldirektionen für Politiken der EU:<br />
Beschäftigung, soziale Angelegenheiten und<br />
Chancengleichheit<br />
Bildung und Kultur<br />
Binnenmarkt und Dienstleistungen<br />
Fischerei und maritime Angelegenheiten<br />
Forschung<br />
Gesundheit und Verbraucherschutz<br />
Gemeinsame Forschungsstelle<br />
Informationsgesellschaft und Medien<br />
Justiz, Freiheit und Sicherheit<br />
Landwirtschaft und ländliche Entwicklung<br />
Regionalpolitik<br />
Steuern und Zollunion<br />
Umwelt<br />
Unternehmen und Industrie<br />
Verkehr und Energie<br />
Wettbewerb<br />
Wirtschaft und Finanzen<br />
Generaldirektionen und Ämter für<br />
Außenbeziehungen<br />
Amt für Zusammenarbeit EuropeAid<br />
Außenbeziehungen<br />
Entwicklung<br />
Erweiterung<br />
Handel<br />
Humanitäre Hilfe ECHO<br />
GeneraldirektionenundÄmterfürinterneDienste:<br />
Amt für Gebäude, Anlagen und Logistik<br />
392<br />
Datenverarbeitung / Informatik<br />
Dienst Interner Audit<br />
Dolmetschen<br />
Haushalt<br />
Juristischer Dienst<br />
Personal und Verwaltung<br />
Politischer Beraterstab / Beratergremium für europäische<br />
Politik<br />
Übersetzung<br />
Generaldirektionen für allgemeine Dienste<br />
Amt für amtliche Veröffentlichungen<br />
Europäisches Amt für Betrugsbekämpfung<br />
Eurostat<br />
Generalsekretariat<br />
Presse und Kommunikation<br />
Generalermächtigung (auch: Flexibilitätsklausel).<br />
Nach Art. 308 EGV kann der Rat – auch wenn<br />
ihm keine spezielle Handlungsbefugnis im EGV eingeräumt<br />
wird – einstimmig geeignete Vorschriften<br />
erlassen, wenn ein Tätigwerden der Gemeinschaft<br />
erforderlich erscheint, um im Rahmen des GemeinsamenMarkteseinesihrerZielezuverwirklichen.<br />
Art. 308 EGV enthält eine für die Fortentwicklung<br />
des Gemeinschaftsrechts unabdingbare Kompetenzergänzungsvorschrift,<br />
die im Zusammenhang mit<br />
dem �Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung<br />
betrachtet werden muss: Die Gemeinschaften bedürfen<br />
für jedes rechtsverbindliche Handeln einer konkreten<br />
Handlungsermächtigung, deren Grenzen sie<br />
nicht überschreiten dürfen. Allerdings kann sich herausstellen,<br />
dass die im Vertrag ausdrücklich formulierten<br />
Kompetenzen nicht zur angemessenen Erfüllung<br />
der Gemeinschaftsaufgaben ausreichen. Dieses<br />
Spannungsverhältnis wurde schon zu Anfang der<br />
EWG durch Aufnahme einer Generalermächtigung<br />
in den Gründungsvertrag gelockert, die heute in Art.<br />
308 EGV niedergeschrieben ist.<br />
Im Einzelnen müssen kumulativ vier Voraussetzungen<br />
erfüllt sein:<br />
(1) Im Rahmen des Gemeinsamen Marktes muss (2)<br />
ein Tätigwerden zur Verwirklichung der Ziele der<br />
EG (3) erforderlich sein, (4) ohne dass eine anderweitige<br />
Befugnisnorm zugunsten der Gemeinschaft<br />
bestünde.<br />
DieGeneralermächtigungistlediglicheineAuffangnorm.<br />
Sie gelangt nur dann zur Anwendung, wenn<br />
weder die weite Auslegung der vorhandenen Kompetenznormen<br />
im Sinne des �effet utile noch eine
sich aus dem EGV implizit ergebende Befugnisnorm<br />
(�implied powers) die intendierten Maßnahmen zu<br />
stützenvermag.VerleihteineausdrücklicheKompetenznorm<br />
lediglich unzureichende Befugnisse, ist<br />
der ergänzende Rückgriff auf Art. 308 EGV unter<br />
Umständen möglich, wenn keine im Vertrag ausdrücklich<br />
ausgesprochene Kompetenzeinschränkung<br />
überspielt wird.<br />
Des Weiteren ist zu beachten, dass die Generalermächtigung<br />
nur zur Kompetenzabrundung im Rahmen<br />
der bestehenden Vertragsziele herangezogen<br />
werdenkann;neueGemeinschaftskompetenzensind<br />
allein im Vertragsänderungsverfahren nach Art. 48<br />
EUVeinzuführen.AusdiesemGrundwarderBeitritt<br />
der Europäischen Gemeinschaften zur EMRK auf<br />
Basis des Art. 308 EGV nicht möglich, genauso wie<br />
eine Richtlinie zum Kommunalwahlrecht für EU-<br />
Ausländer nicht auf Art. 308 EGV gestützt werden<br />
konnte. Liegen die Voraussetzungen des Art. 308<br />
EGV vor, erlässt der Rat auf Vorschlag der Kommission<br />
die geeigneten Vorschriften. Die Entscheidung<br />
des Rates muss einstimmig ergehen – als Ausgleich<br />
dafür, dass das Parlament nur angehört wird.<br />
Die Generalermächtigung wurde bis zum Erlass der<br />
�Einheitlichen Europäischen Akte im Jahre 1986 zur<br />
dynamischen Fortentwicklung der „begleitenden<br />
Gemeinschaftspolitiken“ eingesetzt, insbes. zum<br />
Ausbau der Umwelt-, Forschungs-, Regional-, Sozial-<br />
und Währungspolitiken. Ihre Bedeutung ist mit<br />
zunehmender Ausweitung der Gemeinschaftskompetenzen<br />
seit der EEA über den Maastrichter Vertrag<br />
unddenVertragvonAmsterdamabgeschwächt,weil<br />
das Bedürfnis nach einer Befugnisnorm zur Lückenschließung<br />
zurückging und der EuGH zu einer restriktiven<br />
Auslegung der Norm überging. Jedoch ist<br />
die Norm nach wie vor nicht obsolet geworden, so<br />
dass den Rufen nach ihrer Abschaffung nicht Folge<br />
geleistet werden kann. Auch in den letzten Jahren ist<br />
eine Vielzahl von Rechtsakten auf Art. 308 EGV gestützt<br />
worden. Zu nennen sind Maßnahmen im Bereich<br />
der Finanzhilfen für europäische Drittstaaten<br />
oder zum Zwecke der �Heranführung von Drittstaaten<br />
an die EG, ergänzende Maßnahmen zur Wirtschafts-<br />
und Währungsunion oder Maßnahmen zur<br />
Bekämpfung des Terrorismus und zum Katastrophenschutz.<br />
Auch wichtige materielle Vorschriften<br />
wie die �Fusionskontrollverordnung (VO 4064/89),<br />
die Verordnungen über das Geschmacksmuster (VO<br />
6/2002, ABl. L 3/2002) und das Statut der Europäi-<br />
Gericht erster Instanz<br />
schen Gesellschaft – SE (VO 2157/2001, ABl. L<br />
294/2001) fanden ihre Grundlage in Art. 308 EGV.<br />
Schließlich sind wichtige Institutionen in Anwendung<br />
des Art. 308 EGV errichtet worden, etwa das<br />
�Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt in Alicante<br />
(VO 40/94, ABl. L 11/1994), die Europäische<br />
ArzneimittelagenturinLondon(VO2309/93,ABl.L<br />
214/1993) und in jüngerer Zeit die Europäische<br />
AgenturfürdenWiederaufbau(VO2667/2000,ABl.<br />
L 306/2000). Zu nennen ist auch der Solidaritätsfonds<br />
der Europäischen Union (VO 2012/2000, ABl.<br />
L 311/2002).<br />
Der �Verfassungsvertrag 2004 hat dem Ruf nach einem<br />
Kompetenzenkatalog Folge geleistet (Art. I-12<br />
ff. VVE). Gleichwohl hat die Generalermächtigung<br />
wegen des nach wie vor geltenden Prinzips der Einzelermächtigung<br />
(Art. I-11 VVE) ihre Existenzberechtigung<br />
nicht verloren und wurde daher beibehalten.<br />
Die Flexibilitätsklausel gem. Art. I-18 VVE enthält<br />
nicht mehr die Einschränkung auf eine Tätigkeit<br />
„imRahmendesGemeinsamenMarktes“,sodassein<br />
RückgriffaufdieGeneralklauselauchinanderenPolitikbereichen<br />
möglich sein wird, wenn die VerfassunginKrafttritt.<br />
J. I.<br />
Generalsekretariate der Organe �Europäische<br />
Kommission, �Europäisches Parlament, �Rat der<br />
Europäischen Union<br />
Genetisch veränderte Organismen (GVO) �Biound<br />
Gentechnologie<br />
Genossenschaft �Europäische Genossenschaft<br />
Genscher,Hans-Dietrich(geb.1927),deutscherInnenminister<br />
(1969 – 1974) und Außenminister (1974<br />
– 1992). Legte gemeinsam mit seinem italienischen<br />
Kollegen�Colombo1981einenVertragsentwurfzur<br />
Gründung einer Europäischen Union vor („Genscher-Colombo-Plan“,<br />
�Einheitliche Europäische<br />
Akte Ziff. 1.1).<br />
Genscher-Colombo-Plan �Einheitliche Europäische<br />
Akte Ziff. 1.1<br />
Gentechnologie �Bio- und Gentechnologie<br />
Gericht erster Instanz der EG �Gerichtshof der<br />
Europäischen Union<br />
393
Gericht für den öffentlichen Dienst<br />
Gericht für den öffentlichen Dienst der Europäischen<br />
Union. Nach Art. 25a EGV kann der Rat �Gerichtliche<br />
Kammern bilden. Dementsprechend hat<br />
der Rat mit Beschluss 2004/752 (ABl. L 333/2004)<br />
das Gericht für den öffentlichen Dienst der EU gebildet,<br />
das dem Gericht erster Instanz der EG beigeordnet<br />
ist. Es besteht aus 7 Richtern und ist für Streitsachen<br />
gem. Art. 236 EGV zuständig.<br />
Gerichtliche Kammern / Fachgerichte. Der Vertrag<br />
von Nizza ordnete dem 1989 zur Entlastung des<br />
�EuGH geschaffenen Gericht erster Instanz (EuG)<br />
zu dessen Entlastung 2005 sog. „Gerichtliche Kammern“<br />
(EuGK) zu. Diese stellen Spezialspruchkörper<br />
für bestimmte Sektoren dar und sind im ersten<br />
Rechtszug zuständig etwa für das EG-Bedienstetenrecht<br />
oder für Streitigkeiten um Marken, Muster und<br />
Modelle.DieGerichtlichenKammernschufendamit<br />
in Luxemburg ein neues europäisches Drei-Ebenen-<br />
Gerichtssystem:GegenEntscheidungeneinerEuGK<br />
kann das Rechtsmittel zum EuG offen stehen. Gegen<br />
ein Urteil des EuG wiederum kann in Ausnahmefällen<br />
aufgrund der Rechtseinheit und -kohärenz ein<br />
Rechtsmittel zum EuGH gegeben sein, das allerdings<br />
ausschließlich der Erste Generalanwalt einlegen<br />
kann und das sich auf Rechtsfragen beschränkt.<br />
So spezialisiert und differenziert sich die europäische<br />
Gerichtsbarkeit mithin gewissermaßen „nach<br />
unten“ aus. Der �Verfassungsvertrag 2004 will die<br />
Gerichtliche Kammer gem. Art. I-29 VVE in<br />
�„Fachgerichte“umbenennen. J. M. B.<br />
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften<br />
(EuGH). Der Gerichtshof ist das Rechtsprechungsorgan<br />
der Europäischen Gemeinschaften. Er<br />
sichert die Wahrung des Rechts bei der Auslegung<br />
und Anwendung der Gründungsverträge der Europäischen<br />
Gemeinschaften (Art. 220 – 245 EGV, Art.<br />
136 – 160 EAGV und Art. 31 EGKSV) sowie der von<br />
den Organen der Europäischen Union erlassenen<br />
Rechtsvorschriften.<br />
1. Grundlagen und Organisation. Der Gerichtshof<br />
hat seinen Ursprung im Gerichtshof der EGKS und<br />
wurde 1953 eingerichtet. Mit dem Abkommen über<br />
die gemeinsamen Organe für die Europäischen Gemeinschaften<br />
wurde er am 25. 3. 1957 einheitliches<br />
Gericht mit Sitz in Luxemburg (vgl. Satzung vom<br />
1.4.1957).AufderGrundlagederVerträgederEuropäischenGemeinschaftenunddesVertragesüberdie<br />
394<br />
Europäische Union hat der EuGH gem. Art. 7 des<br />
Vertrags von Nizza am 15. 6. 2004 eine neue Satzung<br />
erhalten.<br />
Der EuGH setzt sich derzeit (Mitte 2005) aus 25<br />
Richtern zusammen, die von den Regierungen der<br />
Mitgliedstaaten im gegenseitigen Einvernehmen für<br />
sechs Jahre ernannt werden. Aus ihrer Mitte wählen<br />
die Richter für die Dauer von drei Jahren den Präsidenten;<br />
alle drei Jahre findet eine teilweise Neubesetzung<br />
des Gerichtshofes statt, um die Kontinuität<br />
der Rechtsprechung zu sichern. Die Richter werden<br />
unterstützt von derzeit acht Generalanwälten. Bestellung<br />
und Amtsdauer der Richter des Gerichtes<br />
ersterInstanzentsprechendemEuGH.DieUnabhängigkeit<br />
der Richter ist durch ihren besonderen Status<br />
garantiert. Die Richter sind keiner Gerichtsbarkeit<br />
unterworfen; sie sind nicht absetzbar; sie dürfen weder<br />
ein politisches Amt noch ein Amt in der Verwaltung<br />
wahrnehmen; sie genießen bei ihrer Rechtsprechung<br />
Immunität; die Beratungen sind geheim (Art.<br />
3 – 6 der Satzung vom 15. 6. 2004).<br />
Der Gerichtshof bildet aus seiner Mitte Kammern<br />
mit drei und fünf Richtern. Die Entscheidungen sind<br />
nur dann gültig, wenn sie von drei Richtern getroffen<br />
werden. Der Gerichtshof tagt als Große Kammer mit<br />
zurzeit 13 Richtern, wenn ein am Verfahren beteiligter<br />
Mitgliedstaat oder ein am Verfahren beteiligtes<br />
Gemeinschaftsorgan dies verlangt. Die Entscheidungen<br />
werden mit Mehrheit gefällt (deshalb die ungeradeAnzahlvonRichtern,umeinePattsituationzu<br />
vermeiden). Der Gerichtshof tagt als Plenum in besonderen<br />
Fällen (u. a. Amtsenthebung des Europäischen<br />
Bürgerbeauftragten oder eines Mitglieds der<br />
Kommission) und wenn er zu der Auffassung gelangt,<br />
dass eine Rechtssache von außergewöhnlicher<br />
Bedeutung ist (Quorum: derzeit 15 Richter).<br />
Die Mitgliedstaaten und die Gemeinschaftsorgane<br />
werden vor dem EuGH – ebenso wie die Vertragsstaaten<br />
des Abkommens über den Europäischen<br />
Wirtschaftsraum, die nicht Mitgliedstaaten sind –<br />
durch einen Bevollmächtigten vertreten. Die anderen<br />
Parteien müssen durch einen Anwalt vertreten<br />
sein. Die Beratungen des Gerichts sind geheim.<br />
Mit Wirkung vom 31. 10.1989 wurde dem Europäischen<br />
Gerichtshof ein Gericht erster Instanz (EuG)<br />
beigeordnet, das derzeit ebenfalls aus 25 Richtern<br />
besteht und in Kammern mit drei und fünf Richtern<br />
tagt. Das EuG hat ebenfalls die gleichen Aufgaben<br />
wiederEuGH.HauptsächlichbefasstessichmitKla-
gen natürlicher und juristischer Personen gegen die<br />
Entscheidungen der Gemeinschaftsorgane. Zur Entlastung<br />
des EuG hat der Vertrag von Nizza die Bildung<br />
�„Gerichtlicher Kammern“ vorgesehen, bei<br />
denen es sich um neue spezialisierte Gerichte für besondere<br />
Bereiche handelt, deren Entscheidung vor<br />
demEuGangefochtenwerdenkönnen.DieKommission<br />
hat bislang die Schaffung eines Fachgerichts für<br />
Rechtsstreitigkeiten des öffentlichen Dienstes und<br />
eines Fachgerichts für das Gemeinschaftspatent vorgeschlagen<br />
(�Gericht für den öffentlichen Dienst der<br />
EU).<br />
Im Amsterdamer Vertrag wurde die Zuständigkeit<br />
des EuGH formal auf den Bereich der Grundrechte<br />
erweitert, wie sie insbes. im Rahmen der Europäischen<br />
Konvention zum Schutz der Menschenrechte<br />
und Grundfreiheiten gewährleistet werden (Art. 6<br />
Abs. 2 EUV).<br />
2. Aufgaben des Gerichtshofs. Er ist nach Art. 46<br />
EUV das einzige rechtsprechende Organ der EU in<br />
eindeutig ausgewiesenen Bereichen der EG. Seine<br />
Kompetenzen betreffen nicht die Politikbereiche der<br />
GASP und nur in begrenztem Maße die polizeiliche<br />
und justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen<br />
(PJZS). Der Gerichtshof ist tätig als Verfassungsgerichtshof<br />
(Rechte und Pflichten der EU-Organe;<br />
Rechtsverhältnisse zwischen der Gemeinschaft und<br />
den Mitgliedstaaten; Normenkontrollklagen), als<br />
Verwaltungsgericht (Klagen natürlicher und juristischer<br />
Personen gegen sie betreffende Maßnahmen<br />
der EU), als Zivilgericht (Prüfung von Ansprüchen<br />
auf Schadensersatz, Amtshaftung) und als Schiedsgericht.<br />
Der Ministerrat oder die Kommission oder<br />
ein Mitgliedstaat können beim Gerichtshof Gutachten<br />
über die vertragliche Vereinbarkeit von Abkommen<br />
der EU mit Dritten beantragen.<br />
3. Verfahrensarten:<br />
(1) Klage wegen Vertragsverletzung in Form einer<br />
Feststellungsklage: In diesem Verfahren prüft der<br />
Gerichtshof, ob die Mitgliedstaaten ihren gemeinschaftsrechtlichen<br />
Verpflichtungen, die sich aus<br />
dem EGV, den gesetzlichen Rechtsakten (Art. 226<br />
und 227 EGV) oder aus den von der EU mit Dritten<br />
geschlossenen Verträgen ergeben, nachgekommen<br />
sind. Die Klage kann von der Kommission oder von<br />
einem Mitgliedstaat erhoben werden. In der Regel<br />
geht ein Vorverfahren voraus, in dem die Kommission<br />
dem betroffenen Mitgliedstaat die Möglichkeit<br />
einräumt, sich zu äußern. Falls keine Einigung zu-<br />
Gerichtshof<br />
stande kommt, gibt die Kommission eine Stellungnahme<br />
ab; diese ist Voraussetzung für die Befassung<br />
des Gerichtshofs mit dem Vertragsverletzungsverfahren.<br />
Stellt das Gericht eine Vertragsverletzung<br />
fest,istderbetreffendeMitgliedstaatverpflichtet,sie<br />
unverzüglich abzustellen.<br />
(2) Nichtigkeitsklage (Art. 230 ff. EGV): Mit dieser<br />
Klage beantragt der Kläger (EU-Organe, Mitgliedstaaten<br />
oder Einzelpersonen, die unmittelbar und individuell<br />
betroffen sind) vor dem EuGH oder dem<br />
EuG die Nichtigkeitserklärung der Handlung eines<br />
OrgansderEUeinschl.derEZB(Verordnung,Richtlinie,<br />
Entscheidung).<br />
Gründe für eine Nichtigkeitsklage sind: Unzuständigkeit,<br />
Verletzungen von Vorschriften des Vertrages<br />
oder von Rechtsnormen und Ermessensmissbrauch.<br />
Schadensersatz kann nur über eine zusätzliche,<br />
entsprechende Klage erfolgen.<br />
(3) Untätigkeitsklage (Art. 232 EGV; Art. 148<br />
EAGV): „Unterlässt es das Europäische Parlament,<br />
der Rat oder die Kommission unter Verletzung dieses<br />
Vertrags, einen Beschluss zu fassen, so können<br />
die Mitgliedstaaten und die anderen Organe der Gemeinschaft<br />
beim Gerichtshof Klage auf Feststellung<br />
dieser Vertragsverletzung erheben.“ Diese Klage<br />
kann nur erhoben werden, wenn das betreffende Organ<br />
vorher aufgefordert worden ist, tätig zu werden<br />
und nicht Stellung genommen hat. Mit dem EUV<br />
wurde der Art. 232 auch auf die EZB ausgedehnt. In<br />
diesem Verfahren prüfen der Gerichtshof und das<br />
EuG die Rechtmäßigkeit der Untätigkeit eines Gemeinschaftsorgans.<br />
(4) Schadensersatzklagen auf Ersatz des durch eine<br />
Handlung oder rechtswidrige Unterlassung eines<br />
Gemeinschaftsorgans verursachten Schadens: Der<br />
EuGH oder das EuG entscheiden darüber, ob die Gemeinschaft<br />
für Schäden aufzukommen hat, die ihre<br />
Organe oder Bediensteten in Ausübung ihrer Amtstätigkeit<br />
Bürgern oder Unternehmen zugefügt haben.<br />
(5) Rechtsmittel: Beim EuGH können beschränkte<br />
Rechtsmittel gegen Urteile des EuG eingelegt werden.<br />
(6) Vorabentscheidung (Art. 234 EGV und Art. 68<br />
EGV; Art. 150 EAGV; Art. 35 EUV): Dieses Verfahren<br />
dient der einheitlichen Auslegung des Vertrages.<br />
Ihm kommt im Gemeinschaftsrecht besondere Bedeutung<br />
zu, da nationale Gerichte das Gemeinschaftsrecht<br />
durchführen. Nationale Gerichte legen,<br />
395
Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommen<br />
insofern sie eine Entscheidung des obersten Hüters<br />
des Rechts in der Gemeinschaft für erforderlich halten,<br />
dem EuGH Fragen über die Auslegung und Gültigkeit<br />
des Gemeinschaftsrechts vor; die Entscheidungen<br />
des Europäischen Gerichtshofs binden die<br />
einzelstaatlichen Gerichte. Nationale Gerichte letzter<br />
Instanz sind dazu verpflichtet. Die Vorabentscheidung<br />
verbindet gewissermaßen die nationale<br />
und europäische Gerichtsbarkeit miteinander. Gegenstand<br />
des Vorabentscheidungsersuchens kann<br />
auch die Prüfung der Gültigkeit eines Gemeinschaftsaktes<br />
sein. Der Gerichtshof antwortet dann<br />
durch Urteil oder einen mit Gründen versehenen Beschluss.<br />
Dieses Verfahren bietet auch jedem Unionsbürger<br />
die Möglichkeit, den genauen Inhalt ihn betreffender<br />
Normen des Gemeinschaftsrecht feststellen<br />
zu lassen.<br />
4. Rolle des Europäischen Gerichtshofs bei der<br />
Rechtsbildung:DerEuGHträgtmaßgeblichzurAuslegung<br />
und Weiterentwicklung des Gemeinschaftsrechts<br />
und zum Ausbau der Rechtsgemeinschaft bei,<br />
insbes. durch die Überprüfung von Rechtsakten des<br />
Ministerrates und seine Rechtsprechung über das<br />
Verhältnis zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalemRecht.MitderAkzeptanzseinesGrundsatzurteils<br />
im Fall �„Van Gend und Loos“ von 1967 haben<br />
sich die Mitgliedstaaten zum ersten Mal freiwillig<br />
europäischem Recht unterworfen. Der Gerichtshof<br />
trägt mit seinen Urteilen auch zu einem �<strong>Europa</strong> der<br />
Bürger bei, da er aufmerksam darauf achtet, dass die<br />
Grund- und Menschenrechte der EU-Bürger gegenüber<br />
der Hoheitsgewalt der Gemeinschaft geschützt<br />
sind.<br />
Der Gerichtshof hat durch seine Auslegung des Gemeinschaftsrechts<br />
die Normen und Befugnisse der<br />
Gemeinschaft konkretisiert und erweitert; er gibt<br />
wichtige Impulse für den Integrationsprozess. Der<br />
Gerichtshof schafft selbst <strong>Europa</strong>recht und ist für die<br />
Rechtsfortbildung auch deshalb so wichtig, weil das<br />
(positive) <strong>Europa</strong>recht erst in Grundzügen besteht.<br />
Der Gerichtshof schließt die Lücken und hält damit<br />
die Gemeinschaft funktionsfähig. Wegweisend waren<br />
z. B. Urteile und Stellungnahmen des Europäischen<br />
Gerichtshofs zu dem, was unter Freiheit des<br />
Warenverkehrs zu verstehen ist: Das Cassis-de-Dijon-Urteilvon1978hattezurFolge,dassauchandere<br />
Importverbote, die mit dem deutschen Reinheitsgebot<br />
für Bier, dem italienischen Hartweizengebot für<br />
Spaghetti oder dem Milcheiweißverbot bei deut-<br />
396<br />
scher Wurst begründet worden waren, aufgehoben<br />
werden mussten.<br />
Die Urteile des EuGH binden die Verfahrensbeteiligten<br />
und sichern insofern die Einheitlichkeit der<br />
Rechtsgemeinschaft. Jedoch ist der Gerichtshof<br />
auch auf die Bereitschaft der Mitgliedstaaten angewiesen,<br />
freiwillig den Urteilen Folge zu leisten.<br />
5. Gegenwärtige Probleme. Die Zusammensetzung<br />
des EuGH mit insgesamt 25 Richtern macht die Entscheidungsprozesse<br />
langwierig. Die wachsende<br />
Zahl der Verfahren hat der Gerichtshof durch vermehrte<br />
Zuweisung an das EuG, und zukünftig wohl<br />
an die Fachgerichte, weitgehend auffangen können.<br />
Die Kapazitäten des Europäischen Gerichtshofs sind<br />
ausgeschöpft; die Dauer des Vorlageverfahrens beträgt<br />
durchschnittlich rund zwei Jahre.<br />
Die Breite der zu behandelnden Spezialmaterien<br />
stellt hohe Anforderungen an die Richter. Außerdem<br />
wirft der Verfahrensablauf zwischen mündlicher<br />
Verhandlung und Urteilsberatung wegen der Verfahrensdauer<br />
Schwierigkeiten auf, da die Generalanwälte<br />
ihre Schlussanträge vorlegen und die erforderlichen<br />
Übersetzungen erfolgen müssen. Ein weiteres<br />
Problem ist die Vielzahl der Verfahrenssprachen,<br />
wenngleich der Gerichtshof intern regelmäßig auf<br />
Französisch berät. Die neue Erweiterung der EU hat<br />
die Verfahrensabläufe dadurch zusätzlich belastet,<br />
dass jeder neue Staat eigene Rechtstraditionen und<br />
eineeigeneSpracheindieGemeinschafteinbringt.<br />
U.M.<br />
Literatur:<br />
Everling, U.: Das Vorabentscheidungsverfahren nach Art.177<br />
EGV, München 1995<br />
Hakenberg, W./Stix-Hackl, Chr.: Handbuch zum Verfahren vor<br />
dem Europäischen Gerichtshof. Wien 2000<br />
Kirschner, H./Klüpfel, K.: Das Gericht erster Instanz der<br />
Europäischen Gemeinschaften. Köln 1998<br />
Klinke, U.: Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften<br />
– Aufbau und Arbeitsweise. Baden-Baden 1989<br />
Internet: http://curia.eu.int<br />
Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommen.<br />
In Ermangelung einer Rechtsetzungskompetenz<br />
der Gemeinschaftsorgane war das Internationale<br />
Zivilverfahrensrecht bis zum Inkrafttreten<br />
des �Vertrags von Amsterdam einer Regelung durch<br />
Staatsverträge vorbehalten. Das Europäische Zivilverfahrensrecht<br />
ruhte dabei im Wesentlichen auf<br />
zwei Konventionen, nämlich dem Brüsseler Übereinkommen<br />
über die gerichtliche Zuständigkeit und<br />
die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in
Zivil- und Handelssachen vom 27. 9. 1968 und dem<br />
Luganer Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommenvom16.9.1988.Ergänzendwardassog.<br />
Haager Zustellungsabkommen heranzuziehen.<br />
Nachdem durch den Vertrag von Amsterdam diese<br />
Teile der dritten �Säule des EU-Vertrages – also der<br />
ZusammenarbeitindenBereichenJustizundInneres<br />
– in den Bereich der ersten Säule überführt, also vergemeinschaftetwordenwaren,ergabsichfürdenRat<br />
eine originäre Regelungskompetenz, von der er zwischenzeitlich<br />
Gebrauch gemacht hat:<br />
– Verordnung 244/2001 des Rates vom 22. 12. 2000<br />
überdiegerichtlicheZuständigkeitunddieAnerkennung<br />
und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil-<br />
und Handelssachen (EuGVVO-Brüssel I)<br />
– Verordnung 1347/2000 des Rates vom 29. 5. 2000<br />
überdiegerichtlicheZuständigkeitunddieAnerkennung<br />
und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen<br />
und in Verfahren betreffend die elterliche<br />
Verantwortung für die gemeinsamen Kinder der<br />
Ehegatten (Brüssel II)<br />
Die sog. Brüssel I-Verordnung ersetzt mit Wirkung<br />
zum 1. 3. 2002 das Brüsseler Gerichtsstands- und<br />
Vollstreckungsübereinkommen in Zivil- und Handelssachen<br />
aus dem Jahr 1968 und schafft einheitliche<br />
Zuständigkeitsvorschriften und ein vereinfachtes<br />
Vollstreckbarerklärungsverfahren, das gegenüber<br />
dem Brüsseler Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommen<br />
schneller und einfacher ausgestaltet<br />
ist.<br />
Die mit Wirkung vom 1. 3. 2001 in Kraft getretene<br />
sog. Brüssel II-Verordnung enthält Bestimmungen,<br />
die die Vorschriften über die internationale Zuständigkeit<br />
in Ehesachen und in Verfahren über die elterliche<br />
Verantwortung vereinheitlichen und die Formalitäten<br />
im Hinblick auf eine rasche und unkomplizierte<br />
Anerkennung von Entscheidungen und deren<br />
Vollstreckung vereinfachen. Die Brüssel-II-Verordnung<br />
gilt für Zivilverfahren betreffend die Scheidung,<br />
die Trennung ohne Auflösung des Ehebandes<br />
oder die Ungültigerklärung einer Ehe sowie für Zivilverfahren<br />
betreffend die elterliche Verantwortung<br />
für die gemeinsamen Kinder der Ehegatten.<br />
Daneben existieren weitere Verordnungen, wie etwa<br />
dieVerordnungendesRatesvom 29.5.2000überInsolvenzverfahren(1346/2000,ABl.L160/2000)und<br />
über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher<br />
Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen in<br />
denMitgliedstaaten(1348/2000,ABl.L160/2000).<br />
Gesandtschaftsrecht<br />
Das deutsche Ausführungs- und Durchführungsgesetz,<br />
das sog. Anerkennungs- und Vollstreckungsausführungsgesetz<br />
(AVAG), ist am 1. 3. 2001<br />
(BGBl.IS.288)inKraftgetreten. Ch. S.<br />
Gesamtbericht über die Tätigkeit der Europäischen<br />
Union, wird jährlich gem. Art. 212 EGV<br />
(bzw. Art. 125 EAGV) von der Kommission veröffentlicht,<br />
und zwar spätestens einen Monat vor Beginn<br />
der Sitzungsperiode des Europäischen Parlaments<br />
(gem. Art. 196 EGV der zweite Dienstag des<br />
Monats März). Der Gesamtbericht gibt einen Überblick<br />
über die Tätigkeit der Union und die wichtigsten<br />
konkreten Ergebnisse im abgelaufenen Jahr und<br />
wird in allen �Amtssprachen veröffentlicht. Er kann<br />
als Papierausgabe erworben oder im PDF-Format<br />
aus dem Internet heruntergeladen werden. Auch frühere<br />
Gesamtberichte ab 1997 sind in vollständiger<br />
Fassung im Internet zugänglich.<br />
Internet: http://europa.eu.int/abc/doc/off/rg/de/2004<br />
Gesandtschaftsrecht. Der Gemeinschaft steht das<br />
aktive und passive Gesandtschaftsrecht zu. Über 160<br />
Staaten sowie viele internationale Organisationen<br />
unterhalten bei der Gemeinschaft diplomatische<br />
Vertretungen(�Missionen);dieGemeinschaftselbst<br />
unterhält in Drittländern und bei Internationalen Organisationen<br />
über 120 Vertretungen (�Delegationen).<br />
Die laufenden Geschäfte des aktiven und passiven<br />
Gesandtschaftsrechts nimmt die Kommission<br />
wahr (vgl. etwa Art. 133 Abs. 3, Art. 300 Abs. 1, Art.<br />
302 EGV). Nach Art. 20 des Unionsvertrages arbeiten<br />
die Delegationen mit den diplomatischen und<br />
konsularischen Vertretungen der Mitgliedstaaten<br />
zusammen.<br />
Der �Verfassungsvertrag 2004 erwähnt das aktive<br />
und passive Gesandtschaftsrecht ausdrücklich in<br />
Art. III-328. Mit Artikel I-28 des Verfassungsvertrags<br />
soll das Amt eines �Außenministers der Europäischen<br />
Union geschaffen werden. Unabhängig davon,<br />
welche Aufgaben dem EU-Außenminister tatsächlich<br />
zukommen werden, ist zu seiner Unterstützung<br />
gem. Art. III- 296 Abs. 3 die Einrichtung eines<br />
Europäischen Auswärtigen Dienstes vorgesehen.<br />
Der EU-Außenminister steht an der Spitze dieses diplomatischen<br />
Dienstes (Art. III-328 Abs. 2). Dieser<br />
wird durch einen Beschluss des Ministerrates, nach<br />
Anhörung des Europäischen Parlaments und nach<br />
Zustimmung der Kommission, eingerichtet. Er wird<br />
397
Geschäftsordnungen<br />
sich aus Beamten der einschlägigen Dienststellen<br />
des Generalsekretariats des Ministerrates und der<br />
Kommission und aus abgestelltem Personal der diplomatischen<br />
Dienste der Mitgliedstaaten zusammensetzen.<br />
Das in Drittländern und bei internationalen<br />
Organisationen tätige Personal der Delegationen<br />
der EU wird aus diesem Dienst bereitgestellt. Der<br />
Europäische Auswärtige Dienst wird mit den diplomatischen<br />
Diensten der Mitgliedstaaten zusammenarbeiten<br />
(Art. III-328 Abs. 2). Gemäß der Erklärung<br />
zu Art. III-296 des Verfassungsvertrages, die der<br />
Schlussakte der Regierungskonferenz beigefügt ist,<br />
werdendieerforderlichenVorkehrungenfürdieEinrichtung<br />
des Europäischen Auswärtigen Dienstes<br />
getroffen, sobald der Verfassungsvertrag 2004 für<br />
<strong>Europa</strong>ratifiziertwordenist. St. U. P.<br />
Geschäftsordnungen. Der EG-Vertrag legt fest,<br />
welche Organe und Institutionen der EU sich Geschäftsordnungen<br />
(GO) geben müssen (das EP gem.<br />
Art. 199, der Rat gem. Art. 207, die Kommission<br />
gem.Art.218,derWSAgem.Art.260,derAdRgem.<br />
Art. 264). Die Geschäftsordnungen sind Bestandteil<br />
dessekundärenGemeinschaftsrechts(dieSatzungen<br />
der EIB und des EuGH sind primärrechtlich verankert).<br />
Die GO ist für das jeweilige Organ in allen ihren Teilen<br />
im Innenverhältnis verbindlich. In GO kann festgelegt<br />
sein, dass das betreffende Organ untergeordnete<br />
Einrichtungen schaffen kann, die sich ihrerseits<br />
GO geben (z. B. Agenturen der EU).<br />
Einzelne Bestimmungen von GO können durch andere<br />
Rechtsakte bestimmt sein. So verlangt Art. 6 der<br />
VO Nr. 1 vom 15. 4. 1958, dass die Organe in ihren<br />
GO festlegen, wie sie die Sprachenfrage im Einzelnen<br />
regeln. VO 1049/2001 verlangt, dass die Organe<br />
der Öffentlichkeit Zugang zu ihren Dokumenten<br />
gem. Art. 255 EGV ermöglichen müssen; daraufhin<br />
haben die 3 an der Gesetzgebung beteiligten Organe<br />
ihre GO entsprechend geändert.<br />
Die GO der Organe und Einrichtungen und ihre Änderungen<br />
werden im Amtsblatt veröffentlicht und<br />
sind im Internet über Eur-Lex abrufbar.<br />
Geschmacksmuster,<br />
Gemeinschaftsgeschmacksmuster. Seit Anfang<br />
2003 nimmt das Harmonisierungsamt für den<br />
Binnenmarkt in Alicante (Spanien) Anträge auf Registrierung<br />
von Gemeinschaftsgeschmacksmustern<br />
398<br />
entgegen. Das Gemeinschaftsgeschmacksmuster<br />
genießt bis zu 25 Jahre Schutz in allen Mitgliedstaaten.<br />
Rechtsgrundlage ist die Verordnung 6/2002<br />
(ABl. L 3/2002). Um eingetragen werden zu können,<br />
muss ein Geschmacksmuster neu sein und Eigenart<br />
besitzen, sich also von existierenden deutlich unterscheiden.<br />
Nach wie vor ist eine Registrierung von Geschmacksmustern<br />
auch nach (durch Richtlinie 98/71<br />
harmonisiertem) nationalen Recht möglich.<br />
Geschützte geografische Angabe (g. g. A.).Verarbeitete<br />
oder unverarbeitete Agrarerzeugnisse sowie<br />
Lebensmittel, die aus einer bestimmten Region<br />
oder einem Ort stammen und ihre Merkmale oder ihren<br />
Ruf überwiegend oder ausschließlich dem geografischen<br />
Umfeld einschl. natürlicher und/oder<br />
menschlicher Faktoren verdanken, können sich<br />
durch Eintragung schützen lassen und den Zusatz „g.<br />
g. A.“ führen (ausgenommen Wein und Spirituosen,<br />
die eigene Ursprungsbezeichnungen führen können).<br />
Den Antrag auf Eintragung können alle UnternehmensgesellschaftenungeachtetihrerRechtsform<br />
oderZusammensetzungstellen.DieEintragungwird<br />
im Amtsblatt veröffentlicht. Rechtsgrundlage ist<br />
Verordnung 2081/1992 (ABl. 208/1992, berichtigt<br />
in ABl. L 27/1997 und 53/1998), zuletzt geändert<br />
durch VO 692/2003 (ABl. L 99/2003).<br />
Agrarerzeugnisse oder Lebensmittel aus einer bestimmten<br />
Region oder einem Ort, die ihre Qualität<br />
oder Eigenschaften überwiegend oder ausschließlichdieserRegionohnedenEinflussweiterernatürlicher<br />
und/oder menschlicher Faktoren verdienen,<br />
können auf gleiche Weise eine Ursprungsbezeichnung<br />
schützen lassen und den Zusatz „g. U.“ (geschützte<br />
Ursprungsbezeichnung) führen.<br />
Geschützte Ursprungsbezeichnung (g. U.)<br />
�Geschützte geografische Angabe<br />
Gesellschaftsrecht, Europäisches<br />
1. Begriffsbestimmung und Problematik: Unter Europäischem<br />
Gesellschaftsrecht versteht man alle Bestimmungen<br />
des EG-Vertrags sowie daraus abgeleitetes<br />
Recht (Sekundärrecht), also Richtlinien, Verordnungen<br />
und Übereinkommen, die auf das Recht<br />
der juristischen Personen (Gesellschaften) der Mitgliedstaaten<br />
einwirken oder eigene europäische Gesellschaftsformen<br />
schaffen sollen.
Der größte Teil der grenzüberschreitend tätigen Unternehmen<br />
ist in der Rechtsform einer Gesellschaft<br />
organisiert. Obwohl alle Mitgliedstaaten grundsätzlich<br />
ähnliche Gesellschaftsformen wie Aktiengesellschaft,<br />
GmbH, Kommanditgesellschaft oder OHG<br />
anbieten, bestehen doch im Detail große Unterschiede,<br />
was das Stammkapital, die Form der Gründung,<br />
die Anzahl der Mitglieder, die Fragen der Registrierung<br />
und öffentlich zu machenden Informationen angeht.<br />
Dies bringt nicht allein Probleme für Gesellschaften<br />
mit sich, grenzüberschreitend tätig zu sein,<br />
sondernvorallemauchmultinationaleUnternehmen<br />
oder Projekte zu gründen. Im Interesse von Gläubigern<br />
und Anteilseignern ist eine Angleichung notwendig,<br />
weil der Schutz in den Mitgliedstaaten unterschiedlich<br />
geregelt ist.<br />
2. Gegenwärtiger Stand des Gesellschaftsrechts in<br />
der EU<br />
2.1 Vorschriften: Der EG-Vertrag schreibt in Art. 48<br />
vor, dass bezüglich des Niederlassungsrechts GesellschaftennatürlichenPersonengleichstehen.Dies<br />
bedeutet nicht, dass Gesellschaften ihren Sitz ohne<br />
Behinderungen von einem Mitgliedstaat in einen anderen<br />
verlegen können.<br />
2.2 Rechtsetzung: Auf vier Arten versucht die EU,<br />
die Probleme, die durch unterschiedliches Gesellschaftsrecht<br />
entstehen, zu regeln:<br />
a) gegenseitige Anerkennung (vgl. Art. 293, 3. Spiegelstr.<br />
EGV),<br />
b) Rechtsangleichung (z. B. durch Richtlinien),<br />
c) Schaffung europa-einheitlicher Gesellschaftsformen,<br />
d) Rechtsprechung des EuGH.<br />
Zu a) Ein Übereinkommen über die gegenseitige Anerkennung<br />
von Gesellschaften und juristischen Personen<br />
(Bull. 2-1969, S. 7 – 14) wurde noch nicht von<br />
allen Mitgliedstaaten ratifiziert, weshalb es derzeit<br />
nicht in Kraft ist.<br />
Zu b) Ziel der Harmonisierung des Gesellschaftsrechts<br />
durch Richtlinien ist es, die nationalen Vorschriften<br />
zur Regelung des Gesellschaftsrechts in<br />
wichtigenPunktenanzugleichen.EinigeBeispiele:<br />
Die1.Richtlinie,die„Publizitätsrichtlinie“vom9.3.<br />
1968 (68/151, ABl. L 65/1968, geändert durch<br />
2003/58) betrifft alle Kapitalgesellschaften (Aktiengesellschaft,<br />
GmbH, Kommanditgesellschaft auf<br />
Aktien). Sie legt bestimmte Offenlegungspflichten<br />
für diese Gesellschaften fest. Sie wurde erweitert<br />
durch die 11. Richtlinie vom 21. 12. 1989 über die<br />
Gesellschaftsrecht<br />
Publizitätspflicht von Zweigniederlassungen (89/<br />
666).<br />
Die 2. Richtlinie, die Kapitalrichtlinie vom 13. 12.<br />
1976 (77/91, ABl. L 25/1977), enthält Vorschriften<br />
über ein Mindestkapital der Aktiengesellschaften<br />
beiderGründungsowiezurErhaltungundÄnderung<br />
des Kapitals.<br />
Die 3. Richtlinie, die „Fusionsrichtlinie“ (78/855,<br />
ABl. L 295/1977)), beschäftigt sich mit dem SonderfallderVerschmelzungmehrererAktiengesellschaften<br />
zu einer AG.<br />
Die 4. Richtlinie, die „Bilanzrichtlinie“ vom 25. 7.<br />
1978 (78/660, ABl. L 222/1978)), ist wohl die RegelungmitdenweitestgehendenAuswirkungenaufdas<br />
nationale Gesellschaftsrecht. Durch die Richtlinie<br />
soll erreicht werden, dass die Jahresabschlüsse in der<br />
gesamten EU nach einheitlichen Grundsätzen und<br />
Bestimmungen erfolgen.<br />
Im Zusammenhang damit ist die 7. Richtlinie vom<br />
13. 6.1983 zu sehen (83/349, ABl. L 193/1983), die<br />
Regelungen über den konsolidierten Abschluss von<br />
Konzernen aufstellt, und die 8. Richtlinie vom 10. 4.<br />
1984 (84/253, ABl. L 126/1984), die die Angleichung<br />
des Rechts der Befähigung von Wirtschaftsprüfern<br />
vorsieht.<br />
Die 6. Richtlinie vom 17.12.1982 (82/891, ABl. L<br />
378/1982) betrifft die Spaltung von Aktiengesellschaften,<br />
was in Deutschland keine praktische Bedeutung<br />
hat.<br />
Ebenso verhält es sich mit der 12. Richtlinie vom 21.<br />
12. 1989 (89/667, ABl. L 395/1989), die verbindlich<br />
festlegt, dass die Mitgliedstaaten die Gründung einer<br />
Ein-Mann-GmbH ermöglichen müssen, falls sie einem<br />
Kaufmann keine andere Möglichkeit zur Gründung<br />
eines Unternehmens mit beschränkter Haftung<br />
gewähren.<br />
Die jüngste Richtlinie zur Koordinierung des Gesellschaftsrechts<br />
ist die �Übernahmerichtlinie vom 21.<br />
4. 2004 (2004/25, ABL. L 142/2004), die bis zum 20.<br />
5. 2006 von den Mitgliedstaaten umgesetzt werden<br />
muss.<br />
Außerdem liegt derzeit ein Vorschlag für eine Richtlinie<br />
auf dem Tisch, die die Verschmelzung von Kapitalgesellschaften<br />
innerhalb der EU, die durch die<br />
unterschiedlichen innerstaatlichen Regelungen erschwert<br />
wird, erleichtern soll. Die Richtlinie soll vor<br />
allem kleinen und mittleren Kapitalgesellschaften<br />
helfen, die über ihren eigenen Mitgliedstaat hinaus<br />
tätig sein wollen, nicht aber unionsweit und deshalb<br />
399
Gesetzgebungsverfahren<br />
kaum von der Möglichkeit Gebrauch machen dürften,<br />
eine Europäische �Aktiengesellschaft (SE) zu<br />
gründen. Nach dem im Richtlinienvorschlag geregelten<br />
Verfahren sollen für Verschmelzungen die in<br />
dem betreffenden Mitgliedstaat für solche Vorgänge<br />
im Inland geltenden Grundsätze und Vorschriften<br />
maßgebend sein. Die Richtlinie schließt eine wichtige<br />
Lücke im Gesellschaftsrecht. Nachdem der Rat<br />
hierüber im November 2004 eine Einigung erzielt<br />
hat, hat das Europäische Parlament am 10. 5. 2005<br />
seine Zustimmung in den entscheidenden Punkten<br />
erteilt.<br />
Andere Vorschläge zum Gesellschaftsrecht sollen<br />
folgen: Vereinfachung und Modernisierung der<br />
Zweiten Gesellschaftsrechtsrichtlinie über die Erhaltung<br />
und Änderung des Kapitals von Aktiengesellschaften<br />
und Vorschlag für eine Richtlinie über<br />
die Sitzverlegung.<br />
Mit einer Mitteilung „Modernisierung des Gesellschaftsrechts<br />
und Verbesserung der Corporate Governance<br />
in der Europäischen Union“ vom 21. 5.<br />
2003 begann die Kommission eine breit angelegte<br />
Konsultation über alle Bereiche des Gesellschaftsrechts.<br />
Zu c) Soweit es um die Schaffung neuer europäischer<br />
Gesellschaftsformen geht, konnten nach langem, zähen<br />
Ringen in den letzten Jahren Erfolge erzielt werden:<br />
Zunächst konnte mit der �„Europäischen Wirtschaftlichen<br />
Interessenvereinigung“ (EWIV) eine<br />
neue Gesellschaftsform eigener Art geschaffen werden,<br />
die sich insbes. zur Kooperation mittelständischer<br />
Unternehmen anbietet.<br />
Auch die „Europäische Aktiengesellschaft“ (�Aktiengesellschaft)<br />
konnte als praktisch wichtigste<br />
grenzüberschreitende Gesellschaftsform verabschiedet<br />
werden, nachdem eine Einigung über die<br />
Beteiligung der Arbeitnehmer an der Kontrolle und<br />
Leitung der Gesellschaft erzielt werden konnte.<br />
Durch Übernahme dieses Beteiligungsmodells<br />
konnteauchdasRegelwerkfürdieEuropäische �Genossenschaft<br />
verabschiedet werden.<br />
WeitereProjektewiederEuropäischeVereinunddie<br />
�Europäische Gegenseitigkeitsgesellschaft liegen<br />
seit Jahren auf Eis.<br />
Dabei soll der Europäische Verein nach den Worten<br />
der Erwägungsgründe „ein lebendiges Beispiel für<br />
das�<strong>Europa</strong>derBürgersein,daerdieaktiveTeilnahme<br />
der Menschen am Leben der Gemeinschaft er-<br />
400<br />
leichtern und fördern wird“. Es geht hier keinesfalls<br />
nur um gemeinnützige Vereine. Auch eine wirtschaftliche<br />
Tätigkeit der Vereine ist durchaus vorgesehen.<br />
Sinn dieser europäischen Regelungen ist es, dass<br />
auch grenzüberschreitende Zusammenschlüsse von<br />
Vereinen oder Mitgliedern möglich sein müssen,<br />
ohne die – zumindest psychologische Hemmschwelle<br />
– der Anwendung fremden, unbekannten Rechts.<br />
Auch soll eine Sitzverlegung in einen anderen Staat<br />
ermöglicht werden, ohne dass sich der Verein zuvor<br />
auflösen und neu gründen muss. Angesichts der großen<br />
Unterschiede bezüglich der Rechtsregeln der<br />
Mitgliedstaaten, die ergänzend angewandt werden<br />
können, dürfte jedoch hier keine wesentliche Verbesserung<br />
der Situation zu erwarten sein.<br />
Auch das Statut einer „Europäischen Stiftung“ wird<br />
in der EU-Kommission geprüft. Ein Vorschlag hierfür<br />
ist allerdings noch nicht vorgelegt worden.<br />
Zu d) Nicht zuletzt die Rechtsprechung des EuGH<br />
hat auch Auswirkungen auf das europäische Gesellschaftsrecht.<br />
So hat er mit seinem Urteil vom 5. 11.<br />
2002 - Rs. C-280/00 – „Überseering“ entschieden,<br />
dass die in Deutschland geltende „Sitztheorie“, nach<br />
der grundsätzlich das Recht des Staates anwendbar<br />
ist, in dem die Gesellschaft ihre tatsächliche Tätigkeit<br />
entfaltet, mit dem Niederlassungsrecht des Art.<br />
43 EG-Vertrag nicht vereinbar ist. Nach Ansicht des<br />
EuGH sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, die<br />
Rechtsfähigkeit und die damit verbundene Parteifähigkeit<br />
zu achten, die eine Gesellschaft nach dem<br />
Recht ihres Gründungsstaats („Gründungstheorie“)<br />
behandelt. In Folge dieses Urteils kam es zu zahlreichen<br />
Gründungen britischer „Limited Companies“<br />
(Ltd.), die ihrer Ausgestaltung nach der deutschen<br />
GmbH ähneln, aber kein Mindeststammkapital<br />
vorsehen. M. K.<br />
Literatur:<br />
Habersack, M.: Europäisches Gesellschaftsrecht. München<br />
2003 2<br />
Schwarz, G.-C.: Europäisches Gesellschaftsrecht.<br />
Baden-Baden 2000<br />
Grundmann, S.: Europäisches Gesellschaftsrecht.<br />
Heidelberg 2005<br />
Gesetzgebungsverfahren (Entscheidungsverfahren,<br />
Rechtsetzungsverfahren)<br />
1. Allgemeines: Für das Zustandekommen der europäischen<br />
�Rechtsakte (sekundäres �Gemeinschaftsrecht)<br />
gibt es kein einheitliches Verfahren – nicht zu-
letzt deshalb, weil die Gemeinschaft historisch gewachsen<br />
ist und sich dadurch das primäre Gemeinschaftsrecht<br />
etappenweise entwickelt hat. Welcher<br />
Verfahrenswegeinzuschlagenist,hängtvondemPolitikbereich<br />
ab, über den entschieden werden soll.<br />
Das �Initiativrecht liegt in allen Verfahrensarten der<br />
legislativen Beschlussfassung bei der Kommission.<br />
Rat und Europäisches Parlament können die Kommission<br />
auffordern, Vorschläge für Rechtsakte zu<br />
unterbreiten.DanebenhatdieKommissionaucheine<br />
eigene Rechtsetzungskompetenz nach Maßgabe der<br />
Modalitäten, die der Rat festgesetzt hat.<br />
Dabei ist sie an die Mitwirkung bestimmter Ausschüsse<br />
gebunden, in denen die Fachvertreter der<br />
Mitgliedstaaten Sitz und Stimme haben (�Ausschussverfahren,<br />
�Durchführungsbestimmungen,<br />
�Komitologie).<br />
Das maßgebliche Legislativorgan ist der Rat. Das<br />
Europäische Parlament hat sich mittlerweile zu einem<br />
(partiellen) legislativen Mitwirkungsorgan entwickelt.<br />
2. Überblick über Entscheidungsverfahren: Der<br />
�Vertrag von Amsterdam (1. 5. 1999 in Kraft) sieht<br />
für<br />
a) die erste �Säule der EU (Europäische Gemeinschaften)dreiRechtsetzungsverfahren(ausSichtder<br />
Beteiligung des Europäischen Parlamentes am Entscheidungsverfahren)<br />
vor: das �Mitentscheidungsverfahren,<br />
das �Zustimmungsverfahren und das<br />
�Anhörungsverfahren. Das Verfahren der Zusammenarbeit<br />
nach Art. 252 EGV wird nur noch im Bereich<br />
der WWU angewandt. Der Rat entscheidet mit<br />
�qualifizierter Mehrheit (Art. 205 EGV) oder einstimmig;<br />
b) die zweite Säule (�Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik)<br />
sieht in den außenpolitischen Bereichen„Umsetzungeiner<br />
�gemeinsamenStrategie“<br />
sowie „Durchführung �gemeinsamer Aktionen bzw.<br />
Standpunkte“ eine qualifizierte Mehrheit im Rat vor.<br />
Ein Mitgliedstaat kann eine solche Entscheidung nur<br />
aus wichtigen Gründen nationaler Politik (Begründungisterforderlich)blockieren.EinVerweisanden<br />
Europäischen Rat ist dann möglich. In allen anderen<br />
Fällen bleibt die Entscheidung einstimmig (eine<br />
�konstruktiveEnthaltungistmöglich).Indensicherheitspolitischen<br />
Bereichen sind Entscheidungen nur<br />
einstimmig möglich;<br />
c) die dritte Säule (Polizeiliche und justitielle Zusammenarbeit<br />
in Strafsachen) sieht einstimmige Be-<br />
Gesetzgebungsverfahren<br />
schlussfassung vor (bei Durchführungsbestimmungen<br />
sind Mehrheitsentscheidungen möglich). Das<br />
EP wird angehört. Rechtsinstrumente sind Übereinkommen,<br />
Gemeinsame Standpunkte und Rahmenbeschlüsse<br />
(Quasi-Richtlinien).<br />
3. Rechtsetzungsverfahren<br />
3.1 Konsultationsverfahren (Anhörungsverfahren):<br />
Bei diesem Verfahren liegt die Entscheidung beim<br />
Rat. Der Rat kann aber in der Regel erst auf Vorschlag<br />
der Kommission entscheiden. Will der Rat<br />
von den Vorschlägen der Kommission abweichen,<br />
muss er einstimmig beschließen. Das EP wird im<br />
Verlauf des Entscheidungsprozesses angehört und<br />
kann Änderungsanträge einbringen, die ggf. in den<br />
Kommissionsvorschlag eingearbeitet werden, ehe<br />
der Rat darüber abstimmt. Die Vorschläge können<br />
dem �Wirtschafts- und Sozialausschuss und dem<br />
�AusschussderRegionenzurBegutachtungzugeleitet<br />
werden; beide haben beratende Funktion.<br />
Die Abstimmung im Rat erfolgt je nach Kompetenzgrundlage<br />
entweder einstimmig oder mit qualifizierter<br />
Mehrheit. Bei Mehrheitsabstimmungen ist die<br />
Stimmgewichtung der im Rat vertretenen Mitgliedstaaten<br />
zu beachten (Art. 205 EGV), die mit dem<br />
�Vertrag von Nizza (1. 2. 2003 in Kraft) im Vorfeld<br />
der Erweiterung modernisiert wurde. Mit dem 1. 11.<br />
2004 verfügen die Mitgliedstaaten über folgende<br />
Stimmenanzahl:<br />
– 29 Stimmen: Deutschland, Frankreich, Italien,<br />
Vereinigtes Königreich<br />
– 27 Stimmen: Spanien und Polen<br />
– 13 Stimmen: Niederlande<br />
– 12 Stimmen: Belgien, Tschechien, Griechenland,<br />
Ungarn, Portugal<br />
– 10 Stimmen: Österreich, Schweden<br />
– 7 Stimmen: Dänemark, Irland, Litauen, Slowakei,<br />
Finnland<br />
– 4 Stimmen: Zypern, Estland, Lettland, Luxemburg,<br />
Slowenien<br />
– 3 Stimmen: Malta<br />
Nach den geplanten Beitritten (2007) werden Rumänien<br />
14 Stimmen und Bulgarien 10 Stimmen zugeordnet.<br />
Eine qualifizierte Mehrheit ist erreicht, wenn mindestens<br />
232 befürwortende Stimmen (von insgesamt<br />
321 = 72,3 %) abgegeben werden und wenn die<br />
Mehrheit der Mitgliedstaaten zustimmt. Darüber<br />
hinauskanneinMitgliedstaatfordern,dassüberprüft<br />
wird ob durch die befürwortenden Stimmen minde-<br />
401
Gesetzgebungsverfahren<br />
stens62%derGesamtbevölkerungderUnionvertreten<br />
werden. (Zur Entwicklung der Stimmengewichtung<br />
seit Gründung der EWG: �Qualifizierte Mehrheit)<br />
3.2 Verfahren der Zustimmung (Konsensverfahren):<br />
Das EP besitzt das Recht der Zustimmung. Der Rat<br />
benötigt für den Abschluss von �Assoziierungsabkommen<br />
mit �Drittländern oder internationalen Organisationen<br />
(Art. 310 EGV, Verfahren s. Art. 300<br />
Abs. 3 EGV) die Zustimmung des EP (mit einfacher<br />
Mehrheit), bei der Aufnahme neuer Mitglieder in die<br />
Europäische Union (Art. 49 EUV) die Zustimmung<br />
des EP mit absoluter Mehrheit seiner Mitglieder. Darüber<br />
hinaus findet das Zustimmungsverfahren mit<br />
einfacher Mehrheit Anwendung bei der Ernennung<br />
des Präsidenten der Europäischen Kommission und<br />
des Kommissionskollegiums (Art. 214 Abs.2 EGV),<br />
bei Änderung der Aufgaben und Arbeitsweisen der<br />
�Strukturfonds und des �Kohäsionsfonds (Art. 161<br />
EGV),beimAbschlussvonAbkommenmitDrittländern,<br />
die einen besonderen institutionellen Rahmen<br />
schaffen,erheblichefinanzielleFolgenfürdieUnion<br />
haben oder Änderung eines nach dem Mitentscheidungsverfahren<br />
angenommenen Rechtsaktes bedingen<br />
(Art. 300 Abs. 3 EGV), bei Maßnahmen gegen<br />
EU-Staaten, die die Grundrechte verletzen (Art. 7<br />
EUV) und bei einigen Durchführungsregelungen im<br />
Bereich der Währungsunion (Art. 105 Abs. 6, Art.<br />
107 Abs. 5 EGV). Es gilt ferner für Rechtsakte nach<br />
Art. 18 EGV (�Freizügigkeit).<br />
3.3 Verfahren der Mitentscheidung (Kodezisionsverfahren):<br />
Das Mitentscheidungsverfahren ist in<br />
Art. 251 EGV verankert. Die Kommission unterbreitet<br />
dem EP und dem Rat einen Vorschlag. Nach Stellungnahme<br />
des EP verfährt der Rat mit qualifizierter<br />
Mehrheit wie folgt:<br />
a) Billigt der Rat alle Punkte der Stellungnahme oder<br />
schlägt das EP keine Abänderungen vor, kann er den<br />
Rechtsakt erlassen;<br />
b) andernfalls legt er einen �gemeinsamen Standpunkt<br />
fest und übermittelt ihn dem EP; auch die<br />
Kommission unterrichtet das EP über ihren Standpunkt.<br />
c) Hat das EP binnen drei Monaten (zweite Lesung)<br />
nach der Übermittlung<br />
– den Gemeinsamen Standpunkt gebilligt (oder bezieht<br />
keine Stellung), erlässt der Rat den betreffenden<br />
Rechtsakt;<br />
– den Gemeinsamen Standpunkt mit absoluter<br />
402<br />
Mehrheit seiner Mitglieder abgelehnt, so gilt der<br />
Rechtsakt als nicht erlassen;<br />
– Abänderungen (mit absoluter Mehrheit) vorgeschlagen,<br />
so wird die abgeänderte Fassung Rat und<br />
Kommission zugeleitet (Kommission gibt Stellungnahme<br />
ab).<br />
d) Befürwortet der Rat mit qualifizierter Mehrheit<br />
(binnen drei Monaten) die EP-Abänderungen, so gilt<br />
der Rechtsakt als erlassen. Der Rat muss dann einstimmig<br />
beschließen, wenn die Kommission eine ablehnende<br />
Stellungnahme zu den EP-Abänderungen<br />
gegeben hat.<br />
e) Stimmt der Rat nicht allen EP-Abänderungen zu,<br />
wird der Vermittlungsausschuss einberufen. Der<br />
Vermittlungsausschuss setzt sich aus Vertretern des<br />
Rates und des EP zusammen; die Kommission<br />
nimmt an der Arbeit teil.<br />
f) Billigt der Vermittlungsausschuss binnen sechs<br />
Wochen nach seiner Einberufung einen gemeinsamen<br />
Entwurf, so können Rat (mit qualifizierter<br />
Mehrheit) und EP (mit absoluter Mehrheit der abgegebenen<br />
Stimmen) den Rechtsakt erlassen. Billigt<br />
der Vermittlungsausschuss keinen gemeinsamen<br />
Entwurf, so gilt der Rechtsakt als nicht erlassen.<br />
g) Die jeweiligen Verfahrensfristen von drei Monaten<br />
und sechs Wochen können auf Antrag des EP<br />
oderRatesumhöchstenseinenMonatbzw.zweiWochen<br />
verlängert werden.<br />
3.4 Verfahren der Zusammenarbeit (Kooperationsverfahren):<br />
Das Zusammenarbeitsverfahren (Art.<br />
252 EGV) wird nur für den Bereich der Wirtschaftsund<br />
Währungsunion angewandt. Nach der ersten Lesung<br />
verabschiedet der Rat mit qualifizierter Mehrheit<br />
einen Gemeinsamen Standpunkt, der in zweiter<br />
Lesung im EP behandelt wird. Das EP kann den Gemeinsamen<br />
Standpunkt annehmen, mit absoluter<br />
Mehrheit ablehnen oder Abänderungen vorschlagen.<br />
Die Kommission hat dann im Falle von Abänderungen<br />
die Möglichkeit der Annahme oder Ablehnung<br />
(unter Angabe von Gründen). Nun beschließt<br />
der Rat in zweiter Lesung innerhalb von drei Monaten<br />
nach dem in Art. 252 EGV festgelegten fünf Entscheidungsmodalitäten<br />
endgültig:<br />
a) einstimmig bei Ablehnung des gemeinsamen<br />
Standpunkts durch das EP;<br />
b) einstimmig, wenn er Änderungen des EP annimmt,diedieKommissionnichtübernommenhat;<br />
c) einstimmig, wenn er den von der Kommission<br />
überprüften Vorschlag ändert;
d) mit qualifizierter Mehrheit, wenn das EP den gemeinsamen<br />
Standpunkt annimmt (ohne nochmals<br />
die Kommission anzuhören);<br />
d)inallenanderenFällenmitqualifizierterMehrheit.<br />
Entscheidet der Rat in zweiter Lesung nicht fristgerecht,<br />
ist das Rechtsetzungsvorhaben (Vorschlag der<br />
Kommission) gescheitert.<br />
4. Anwendungsbereiche:<br />
a) Das Anhörungsverfahren gilt in folgenden Bereichen:<br />
– polizeiliche und justitielle Zusammenarbeit in<br />
Strafsachen;<br />
– Änderung der Verträge;<br />
– Diskriminierung;<br />
– Unionsbürgerschaft;<br />
– Landwirtschaft;<br />
– Visa, Asyl, Einwanderung und andere Politikfelder<br />
im Zusammenhang mir der Freizügigkeit;<br />
– Wettbewerbsregeln;<br />
– steuerliche Vorschriften;<br />
– Wirtschaftspolitik;<br />
– „verstärkte Zusammenarbeit“.<br />
b) Das Zustimmungsverfahren ist anzuwenden bei:<br />
– Aufgabenbestimmung der Europäischen Zentralbank<br />
(EZB)<br />
– Änderung der Satzung der EZB und des Europäischen<br />
Systems der Zentralbanken<br />
– Struktur- und Kohäsionsfonds;<br />
– Festlegung eines einheitlichen Verfahrens zur<br />
Wahl des EP;<br />
– bestimmte internationale Übereinkünfte;<br />
– Beitritt neuer Mitgliedstaaten.<br />
c) Das Mitentscheidungsverfahren gilt in folgenden<br />
Bereichen:<br />
– Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit;<br />
– Recht auf Einreise, Aufenthalt und Verbleib in<br />
der Union;<br />
– Freizügigkeit der Arbeitnehmer;<br />
– Niederlassungsrecht;<br />
– Verkehr;<br />
– Binnenmarkt;<br />
– Beschäftigung;<br />
– Zusammenarbeit im Zollwesen;<br />
– Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung;<br />
– Chancengleichheit und Gleichbehandlung;<br />
– Durchführungsbeschlüsse in Bezug auf den Europäischen<br />
Sozialfonds;<br />
– Bildung;<br />
Gesetzgebungsverfahren<br />
– Berufsausbildung;<br />
– Kultur;<br />
– Gesundheit;<br />
– Verbraucherschutz;<br />
– Transeuropäische Netze;<br />
– Durchführungsbeschlüsse in Bezug auf den Europäischen<br />
Fonds für regionale Entwicklung;<br />
– Forschung;<br />
– Umwelt;<br />
– Transparenz;<br />
– Prävention und Bekämpfung von Betrug;<br />
– Statistik;<br />
– Schaffung einer beratenden Behörde für den Datenschutz.<br />
5. Einzelverfahren: Neben den Formen der Rechtsetzungsverfahren<br />
existieren folgende Einzelverfahren,<br />
die die Stellung des EP im Legislativverfahren<br />
stärken:<br />
– Konzertierungsverfahren (seit 1975) bei Rechtsakten<br />
von allgemeiner Tragweite mit ins Gewicht fallenden<br />
finanziellen Auswirkungen. Wird eine Initiative<br />
der Kommission (Vorschlag) in diese Kategorie<br />
eingeordnet, können EP oder Rat das konzertierte<br />
Verfahren einleiten, sofern der Rat von der Position<br />
des EP im Rahmen des Anhörungsverfahrens erheblich<br />
abzuweichen beabsichtigt. Verhandlungen werden<br />
dann im Konzertierungsausschuss (Kommissions-,<br />
EP- und Ratsvertreter) mit dem Ziel aufgenommen,<br />
einen Kompromiss zu finden. Nach einer<br />
erneuten Stellungnahme des EP kann dann der Rat<br />
beschließen.<br />
– Haushaltsverfahren (Art. 272 EGV);<br />
– Bestimmungen über das System der Eigenfinanzmittel<br />
der Europäischen Union (Art. 269 EGV);<br />
– Internationale Abkommen der Union mit Drittstaaten<br />
oder internationalen Organisationen (Art. 133<br />
EGV Handelspolitik, Art. 300 EGV Abkommen allgemeiner<br />
Art);<br />
5. Demokratiedefizite im Entscheidungsverfahren:<br />
Im Laufe der Zeit wurden die Befugnisse der<br />
EG/EU-Institutionen entsprechend der �Erweiterung<br />
und �Vertiefung der (Aktivitäten der) Union<br />
ausgebaut und insbes. die Rechte des EP durch die<br />
Reformen gestärkt.<br />
So weitet der �Vertrag von Amsterdam die EP-Kompetenzenaus.ErbeinhaltetaucheinegrößereBeteiligung<br />
der einzelstaatlichen Parlamente in der EU.<br />
Entwürfe für Rechtsakte, die die Kommission dem<br />
Rat und dem Europäischen Parlament vorlegt, wer-<br />
403
Gesetzgebungsverfahren<br />
den erst sechs Wochen nach Unterbreitung auf die<br />
Tagesordnung des Rates gesetzt. Die nationalen Parlamente<br />
haben Gelegenheit, von Anfang an mit ihren<br />
Regierungen über die Vorlagen zu beraten. Der Parlamentsausschuss<br />
für <strong>Europa</strong>fragen kann Empfehlungen<br />
an die EU-Institutionen richten. Dennoch<br />
blieb es bei �Demokratiedefiziten, weil die Übertragung<br />
der nationalen Zuständigkeiten auf die Union<br />
nichtimmermitderÜbertragungderentsprechenden<br />
Befugnisse auf das EP einherging. Eine Kernforderung<br />
des EP bleibt daher, in allen der EU übertragenen<br />
und der nationalen >Souveränität entzogenen<br />
Zuständigkeiten dem EP gemeinsam mit dem Rat<br />
gleichberechtigt das Recht auf Mitentscheidung zu<br />
übertragen.<br />
6. Verfassungsvertrag 2004: Mit dem �Vertrag von<br />
Nizza sind die Beteiligungsmöglichkeiten und Abstimmungsmodalitäten<br />
des Rates in allen drei Säulen<br />
der Union sowie die Beteiligungsmöglichkeiten und<br />
die Abstimmungsmodalitäten des EP so komplex geworden,<br />
dass es mindestens 38 verschiedene Verfahrensvarianten<br />
gibt. Aufgabenstellung des Verfassungskonvents<br />
war es, die Verfahrenskomplexität<br />
auf wenige Schlüsselverfahren zu reduzieren. Der<br />
�Verfassungsvertrag 2004 (dessen Inkrafttreten<br />
noch offen ist) enthält zwei zentrale Regelungen:<br />
a) Die Zahl der Abstimmungsmöglichkeiten im Rat<br />
mitqualifizierterMehrheitwirdauf156Fälleerhöht.<br />
b) Das Mitentscheidungsrecht des EP wird um 30<br />
Fälle auf 85 Bereiche im „ordentlichen Gesetzgebungsverfahren“<br />
(OGV – vormals Mitentscheidungsverfahren)<br />
erweitert.<br />
Europäische Gesetze und Rahmengesetze werden<br />
grundsätzlich im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren<br />
(Art. III-396 VVE) erlassen. Nur in bestimmten,<br />
in Teil III des Verfassungsvertrages benannten<br />
Fällen werden die Gesetze ausschließlich vom Rat<br />
oder ausschließlich vom EP, unter Beteiligung des<br />
jeweils anderen Organs, erlassen (Verfahren der Zustimmung<br />
und Konsultation).<br />
Art. I-33 VVE definiert eine �Normenhierarchie,<br />
nach der die Handlungsformen der Union als Europäische<br />
Gesetze, Europäische Rahmengesetze, Europäische<br />
Verordnungen, Europäische Beschlüsse,<br />
Empfehlungen und Stellungnahmen bestimmt werden.<br />
Kombiniert man diese Handlungsformen mit<br />
den Verfahren zwischen EP und Rat und ihren Entscheidungsvariationen,<br />
so ergibt sich mit dem Verfassungsvertrag<br />
ein klareres Bild.<br />
404<br />
– 78 Gesetzesermächtigungen unterliegen dem<br />
OGV mit qualifizierter Mehrheit (qM).<br />
– 10 Gesetzesermächtigungen unterliegen dem Zustimmungsverfahren<br />
(5 mit Einstimmigkeit [E],<br />
5 mit qM).<br />
– 17 Gesetzesermächtigungen unterliegen dem<br />
Konsultationsverfahren (12 mit E, 5 mit qM).<br />
– 48 Rahmengesetzesermächtigungen unterliegen<br />
dem OGV mit qM.<br />
– 4 Rahmengesetzesermächtigungen unterliegen<br />
dem Zustimmungsverfahren (3 mit E, 1 mit qM).<br />
– 14 Rahmengesetzesermächtigungen unterliegen<br />
dem Konsultationsverfahren (12 mit E, 2 mit qM).<br />
– 13 Verordnungen unterliegen dem Konsultationsverfahren<br />
(2 mit E, 11 mit qM).<br />
– 5 Verordnungen unterliegen dem Unterrichtungsverfahren<br />
(1 mit E, 4 mit qM).<br />
– 10 Verordnungen sehen keine EP-Beteiligung<br />
vor (2 mit E, 8 mit qM).<br />
– 10 Beschlüsse unterliegen dem Zustimmungsverfahren<br />
(6 mit E, 4 mit qM).<br />
– 19 Beschlüsse unterliegen dem Konsultationsverfahren<br />
(6 mit E, 13 mit qM).<br />
– 10 Beschlüsse unterliegen dem Unterrichtungsverfahren<br />
(1 mit E, 9 mit qM).<br />
– 36 Beschlüsse sehen keine EP-Beteiligung vor<br />
(4 mit E, 32 mit qM).<br />
– 1 Empfehlung unterliegt dem Zustimmungsverfahren<br />
(qM).<br />
– 27 Empfehlungen sehen keine EP-Beteiligung<br />
vor (20 mit E, 7 mit qM)<br />
– 1 Stellungnahme unterliegt dem Konsultationsverfahren<br />
(qM).<br />
MitdemVerfassungsvertrag2004würdesichdieZahl<br />
qualifizierter Mehrheitsentscheidungen erhöhen. Die<br />
Qualifizierte Mehrheit ist in Art. I-25 VVE geregelt<br />
(plus Protokoll über die Stimmengewichtung im Europäischen<br />
Rat und im Ministerrat auf Basis des Ergebnisses<br />
von Nizza). Weiterhin der Einstimmigkeit<br />
bedürfen folgende Politikfelder: Außen-, Sicherheitsund<br />
Verteidigungspolitik; Finanzielle Vorausschau;<br />
Steuerharmonisierung; Diskriminierungsbekämpfung;<br />
Struktur- und Kohäsionsfonds; Einzelbereiche<br />
der Umweltpolitik; Aspekte der Handelspolitik; strafund<br />
familienrechtliche Zusammenarbeit; Einsetzung<br />
einereuropäischenStaatsanwaltschaft. L. U.<br />
Literatur:<br />
Boest, R.: Ein langer Weg zur Demokratie in <strong>Europa</strong>.<br />
Die Beteiligungsrechte des EP bei der Rechtsetzung nach dem<br />
Vertrag über die EU. Baden-Baden 1992
Engel, C./Borrmann, C.: Vom Konsens zur Mehrheitsentscheidung.<br />
EG-Entscheidungsverfahren. Bonn 1991<br />
Jopp, M. u. a. (Hg.): Die Europäische Union nach Amsterdam.<br />
Bonn 1998<br />
Röttinger, M.: Handbuch der europäischen Integration.<br />
Wien 1996<br />
Maurer, A.: Orientierungen im Verfahrensdickicht?<br />
In: Integration 4/2003, S.440 – 453<br />
Schumann, W.: Neue Wege in der Integrationstheorie.<br />
Opladen 1996<br />
Vedder, C. (Hg.): EU-Verfassung. Baden-Baden 2005<br />
Gesundheitspolitik. Die Gesundheitspolitik hat<br />
auf europäischer Ebene seit Anfang der 1990er Jahre<br />
stetig an Bedeutung gewonnen, nicht zuletzt aufgrund<br />
der Herausforderungen des demografischen<br />
Wandels, der Erweiterung der Union, der Angleichung<br />
ihrer Gesundheitssysteme, der zunehmenden<br />
Patienten-Mobilität und der Veränderungen im Lebensmittelsektor<br />
(z. B. Gen-Food). Diese bedürfen<br />
neuer Regelungen und europaweiter Zusammenarbeit.<br />
Die europäischen Maßnahmen ergänzen dabei<br />
die Gesundheitspolitik der einzelnen Mitgliedstaaten.<br />
Die Verantwortung der Mitgliedstaaten für ihre<br />
Gesundheitspolitik, die Verwaltung ihres Gesundheitswesens<br />
und die medizinische Versorgung bleiben<br />
unter Berücksichtigung des �Subsidiaritätsprinzips,<br />
des �Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung<br />
und der �Verhältnismäßigkeit unberührt. Auf<br />
Probleme wie grenzübergreifende Gesundheitsgefahren<br />
(z. B. Epidemien) oder die Freizügigkeit von<br />
Patienten und Leistungserbringern im Gesundheitswesen<br />
muss jedoch auf Unionsebene reagiert werden.<br />
Zur Sicherstellung eines hohen Gesundheitsschutzniveaus<br />
fördert die Europäische Kommission<br />
den Dialog mit Institutionen, Verbänden, Organisationen<br />
und Körperschaften des Gesundheitssektors<br />
und unterstützt deren Projekte. Außerdem finanziert<br />
sie europaweite Kampagnen, z. B. gegen Alkoholund<br />
Tabakkonsum oder Drogenmissbrauch, und unterstützt<br />
die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten<br />
bei der Verbesserung und Angleichung ihrer Gesundheitssysteme.<br />
1. Vertragsgrundlagen. Die Gesundheitspolitik war<br />
imEWG-Vertrag(1958)nichtverankert.DieVerträge<br />
der EGKS (1952) und der Euratom (1958) beinhalteten<br />
vornehmlich Bestimmungen zu Sicherheit<br />
und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz. Die �Einheitliche<br />
Europäische Akte (1987) harmonisierte die<br />
arbeitsrechtlichen Schutzbestimmungen und legte<br />
den Grundstein für eine gemeinschaftsweite Zusam-<br />
Gesundheitspolitik<br />
menarbeit mit dem Ziel, die Gesundheit in der Gemeinschaft<br />
zu erhöhen. Erst der �Maastrichter Vertrag<br />
(1992) schuf durch die Aufnahme eines eigenen<br />
Titels (Titel XIII EGV) eine europaweite Regelung<br />
des „Gesundheitswesens“ und die Möglichkeit, eine<br />
europäische Strategie für diesen Bereich unter Berücksichtigung<br />
des Subsidiaritätsprinzips zu entwickeln<br />
(Art. 152 EGV). Die Gesundheitspolitik ist dabei<br />
eng verbunden mit der �Umwelt- und �Verbraucherpolitik.<br />
Der Europäische �Verfassungsvertrag 2004 zählt<br />
den Schutz und die Verbesserung der menschlichen<br />
Gesundheit zu den Bereichen, in denen die Union<br />
Koordinierungs-,Ergänzungs-oderUnterstützungsmaßnahmen<br />
beschließen kann (Art. I-17). In die<br />
�Charta der Grundrechte der Europäischen Union<br />
wurde der Gesundheitsschutz aufgenommen, wonach<br />
jeder Mensch das Recht auf Zugang zur Gesundheitsvorsorge<br />
und auf ärztliche Versorgung<br />
nach Maßgabe der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften<br />
und Gepflogenheiten hat. Zur VerwirklichungderZieledesArt.136EGV(Art.III-209VVE)<br />
zur Sozialpolitik unterstützt und ergänzt die Union<br />
die Tätigkeit der Mitgliedstaaten und fördert die Zusammenarbeit<br />
zwischen den Mitgliedstaaten auf<br />
dem Gebiet des Gesundheitsschutzes bei der Arbeit.<br />
Auch die Umweltpolitik der Union nach Art. 174<br />
EGV (Art. III-233 VVE) und der Verbraucherschutz<br />
nach Art. 153 EGV (Art. III-235 VVE) tragen zum<br />
Schutz der menschlichen Gesundheit bei.<br />
Gemäß Art. 152 EGV (Art. III-278 VVE) wird bei<br />
der Festlegung und Durchführung der Politik und<br />
Maßnahmen der Union in allen Bereichen ein hohes<br />
Gesundheitsschutzniveau sichergestellt. Die Tätigkeit<br />
der Union ergänzt die Politik der Mitgliedstaaten.<br />
Sie umfasst die Bekämpfung weit verbreiteter<br />
schwerer Krankheiten sowie schwerwiegender<br />
grenzüberschreitender Gesundheitsgefahren und die<br />
Verringerung drogenkonsumbedingter Gesundheitsschäden.<br />
Die Union fördert insbes. die Zusammenarbeit<br />
zwischen den Mitgliedstaaten, die darauf<br />
abzielt, die Komplementarität ihrer Gesundheitsdienste<br />
in den Grenzgebieten zu verbessern. Für die<br />
in diesem Artikel genannten Zwecke kann der Rat<br />
aufVorschlagderKommissionEmpfehlungenabgeben.<br />
Die Kommission kann in enger Verbindung mit<br />
den Mitgliedstaaten alle Initiativen ergreifen, die<br />
dieser Koordinierung förderlich sind. Das Europäische<br />
Parlament wird in vollem Umfang unterrichtet.<br />
405
Gesundheitspolitik<br />
Artikel 152 Abs. 3 EGV (Art. III-278 Abs. 3 VVE)<br />
weist auf die Kompetenz der Gemeinschaft zur Zusammenarbeit<br />
mit Drittländern und internationalen<br />
Organisationen hin. Durch die Bestimmung des Art.<br />
152 Abs. 4 EGV (Art. III-278 Abs. 4 VVE) tragen<br />
Verordnungen oder Richtlinien gem. Art. 251 EGV<br />
(im VVE 2004: Europäische Gesetze oder Rahmengesetze)<br />
zur Verwirklichung der Ziele dieses Artikels<br />
bei, die nach Anhörung des �Ausschusses der<br />
Regionen und des �Wirtschafts- und Sozialausschusses<br />
erlassen werden.<br />
Die Union legt nach Abs. 4 lit. a Maßnahmen zur Gewährleistung<br />
hoher Qualitäts- und Sicherheitsstandards<br />
für Organe und Substanzen menschlichen Ursprungs<br />
sowie für Blut und Blutderivate fest. Diese<br />
Maßnahmen hindern die Mitgliedstaaten jedoch<br />
nicht, strengere Schutzmaßnahmen beizubehalten<br />
oder einzuführen. Absatz 4 lit. b enthält die Möglichkeit,<br />
Maßnahmen im Bereich Tiergesundheit und<br />
Pflanzenschutz zu treffen, „die unmittelbar den<br />
SchutzderGesundheitderBevölkerungzumZielhaben“.<br />
Der Verfassungsvertrag 2004 sieht darüber<br />
hinaus auch Maßnahmen zur Festlegung hoher Qualitäts-<br />
und Sicherheitsstandards für medizinische<br />
Produkte und Geräte (Art. III-278 Abs. 4 lit. c) sowie<br />
Maßnahmen zur Bekämpfung schwerwiegender<br />
grenzüberschreitender Gesundheitsgefahren (Abs. 4<br />
lit. d) vor. Die Verantwortung der Mitgliedstaaten<br />
für die Festlegung ihrer Gesundheitspolitik sowie<br />
die Verwaltung des Gesundheitswesens und die Zuweisung<br />
der dafür bereitgestellten Mittel bleibt laut<br />
Art. 152 Abs. 5 EGV (Art. III-278 Abs. 7 VVE) gewahrt.<br />
Die Koordinierung der gesundheitspolitischen Entwicklung<br />
in <strong>Europa</strong> wurde in den letzten Jahren wesentlich<br />
durch die Rechtsprechung des EuGH beeinflusst,<br />
der durch die Entscheidungen in den Rechtssachen<br />
Kohll und Decker vom 28. 4. 1998 Grundsatzentscheidungen<br />
zur Warenverkehrsfreiheit<br />
(EuGH, Slg. 1998, I-1831 – Decker –) und zur<br />
Dienstleistungsfreiheit (EuGH, Slg. 1998, I-1931 –<br />
Kohll –) getroffen hat. Danach gelten die Grundsätze<br />
des freien Warenverkehrs und der Dienstleistungsfreiheit<br />
auch im Bereich der ambulanten und stationären<br />
Behandlung. Versicherte können sich somit<br />
Leistungen gegen Kostenerstattung zu Lasten öffentlich-rechtlicher<br />
Versicherungsträger selbst beschaffen.<br />
Der EuGH hat auch festgestellt, dass ein<br />
nationales Sachleistungssystem den Kostenerstat-<br />
406<br />
tungsanspruch nicht behindert (EuGH, Slg. 2003,<br />
I-04509 – Müller-Fauré –).<br />
Eine der wichtigsten gesundheitspolitischen Maßnahmen<br />
auf europäischer Ebene stellt zudem die Revision<br />
der europäischen Arzneimittelgesetzgebung<br />
dar. Um einen hohen Qualitätsstandard von Heilpflanzen<br />
zu garantieren, wurde eine Richtlinie zum<br />
Schutz der Gesundheit der Verbraucher erarbeitet,<br />
die Qualitäts- und Sicherheitsstandards für Heilpflanzen<br />
und Heilkräuter enthält. Die Änderung der<br />
Etikettierungsrichtlinie für Lebensmittel belegt wiederum<br />
beispielhaft die Koppelung von Gesundheitsschutz<br />
und Verbraucherschutz. Beispiele dafür sind<br />
auch das umfassende Auto-Öl-Programm zur SenkungdergesundheitsschädlichenAbgaskonzentration<br />
von motorkraftgetriebenen Fahrzeugen, die Maßnahmen<br />
zur Senkung schädlicher Emissionen aus<br />
stationären Anlagen, die Produkthaftungsrichtlinie,<br />
die Umweltaktionsprogramme, die Chemikalienpolitik,<br />
die Maßnahmen zur Bewältigung der BSE-<br />
Krise, die Novellierung der Gesetzgebung zur Lebensmittelsicherheit,<br />
z. B. mit der Schaffung eines<br />
�Amtes für Lebensmittelsicherheit in <strong>Europa</strong>, die<br />
Spielzeugrichtlinie,dieMaßnahmenimWasser-und<br />
Abwasserbereich oder die einheitliche Warenkennzeichnung.<br />
2. Aktionsprogramme. Seit 1993 sind acht europäischeAktionsprogrammeimBereichderöffentlichen<br />
Gesundheit durchgeführt worden.<br />
1.) Gesundheitsförderung, 2.) Gesundheitsberichterstattung,<br />
3.) Übertragbare Krankheiten, 4.) Krebs,<br />
5.) Seltene Krankheiten, 6.) Verhütung von Verletzungen,<br />
7.) Durch Umweltverschmutzung bedingte<br />
Krankheiten, 8.) Suchtprävention.<br />
Diese Programme wurden durch das neue Aktionsprogramm<br />
im Bereich der öffentlichen Gesundheit<br />
ersetzt. Ein kohärentes und koordiniertes Konzept<br />
für die Gesundheitspolitik wurde erstmals im Mai<br />
2000 mit der gesundheitspolitischen Strategie der<br />
Europäischen Kommission vorgelegt (KOM<br />
2000/285 endg.). Diese fördert einen integrierten<br />
Ansatz in der gesundheitspolitischen Arbeit. Für die<br />
Gesundheit relevante Politikfelder sollen auf<br />
Unionsebene zusammenwirken, um Gesundheitsziele<br />
zu erreichen. Dabei werden Ressourcen auf Bereiche<br />
konzentriert, in denen die Union einen tatsächlichen<br />
zusätzlichen Nutzen erbringen kann,<br />
ohnedassdas�Subsidiaritätsprinzipverletztwird.In<br />
diesem Zusammenhang schlug die Kommission
auch das neue Aktionsprogramm im Bereich der öffentlichen<br />
Gesundheit vor (Beschluss 1786/2002,<br />
ABl. L 271/2002). Es wurde am 23. 9. 2002 angenommen<br />
und läuft vom 1. 1. 2003 bis zum 31. 12.<br />
2008.<br />
Das Programm verfolgt drei vorrangige Ziele:<br />
– Verbesserung des Informations- und Wissensstandes<br />
durch die Förderung von Informationsaustausch,<br />
Forschung und Ausbildung im Interesse der Weiterentwicklung<br />
des öffentlichen Gesundheitswesens.<br />
– Verbesserung der Fähigkeit zur schnellen und koordinierten<br />
Reaktion auf Gesundheitsgefahren, insbes.<br />
auf grenzübergreifende Gefährdungen etwa<br />
durch Grippeepidemien. Dazu hat die EU das „Europäische<br />
Zentrum für die Prävention und die Bekämpfung<br />
von Seuchen“ eingerichtet und die grenzüberschreitende<br />
Zusammenarbeit zwischen den Gesundheitssystemen<br />
verbessert.<br />
– Gesundheitsförderung und Verhütung durch Berücksichtigung<br />
der Gesundheitsfaktoren über eine<br />
enge Zusammenarbeit mit anderen Politikbereichen,<br />
etwadurchdiePrüfungvonVorschlägenausanderen<br />
Bereichen auf ihre Gesundheitsverträglichkeit.<br />
ZurUmsetzungdiesesAktionsprogrammsstehenfür<br />
den Zeitraum von 2003 bis 2008 rund 353 Mio. Euro<br />
zur Verfügung.<br />
Aufbauend auf der gesundheitspolitischen Strategie<br />
von 2000, dem Programm im Bereich der öffentlichen<br />
Gesundheit und unter Berücksichtigung der Ergebnisse<br />
des Reflexionsprozesses und der Entwicklung<br />
der Verbraucherpolitik nahm die Kommission<br />
am 6. 4. 2005 eine Gesundheits- und Verbraucherschutzstrategie<br />
(KOM 2005/115) und einen Vorschlag<br />
für einen Beschluss des Europäischen Parlaments<br />
und des Rates über ein neues Gemeinschaftsprogramm<br />
für Gesundheit und Verbraucherschutz<br />
im Zeitraum 2007 – 2013 an. Diese neue Strategie<br />
und der Programmvorschlag vertiefen und erweitern<br />
das EU-Programm im Bereich der öffentlichen Gesundheit<br />
und das Programm für die EU-Verbraucherpolitik.<br />
3. Ausblick. Die europäische Gesundheitspolitik gewinnt<br />
zunehmend an Einfluss auf die nationalen Gesundheitssysteme.<br />
Die Urteile des EuGH und der Europäische<br />
Verfassungsvertrag 2004 bilden wichtige<br />
Entscheidungsgrundlagen für die nationalen Akteure<br />
im Gesundheitswesen und für die Gesetzgebung<br />
im Umwelt- und Verbraucherschutzbereich. Die<br />
�offene Koordinierungsmethode zielt auf eine all-<br />
Gipfelkonferenz<br />
mähliche Angleichung der nationalen Gesundheitssysteme<br />
und auf die gemeinsame Gestaltung des zukünftigen<br />
Sozial- und Wirtschaftsmodells der Union<br />
mit dem Ziel der Erreichung eines hohen GesundheitsniveausinallenMitgliedstaaten.<br />
N. P.<br />
Gil-Robles Gil-Degado, José Maria (geb. 1935 in<br />
Madrid); verbrachte seine Jugend in Portugal, wo<br />
seine Eltern während des Spanischen Bürgerkriegs<br />
(1936–1938) im Exil lebten; studierte Jura, war Anwalt,<br />
qualifizierte sich als Staatsrechtler; Präsident<br />
des EP von 1997 bis 1999; gehörte bis zum Ende der<br />
5. Wahlperiode der EVP-Fraktion im EP an.<br />
Gipfel(konferenz) wurden die (zunächst vertraglich<br />
nicht vorgesehenen) Zusammenkünfte der EG-<br />
Staats- und Regierungschefs genannt. Sie wurden<br />
erstmals in der �Einheitlichen Europäischen Akte<br />
(EEA,1986)legitimiertundimMaastrichterVertrag<br />
von 1992 als offizielle Einrichtung mit der Bezeichnung<br />
„Europäischer Rat“ bestätigt (vgl. Art. 4 EUV).<br />
Die mindestens zweimal im Jahr tagende Konferenz<br />
selbst wird ebenfalls als Europäischer Rat bezeichnet.<br />
DerersteGipfelfandinDenHaagimDezember1969<br />
statt. Er machte den Weg frei für die Erweiterung der<br />
Europäischen Gemeinschaften um drei Mitglieder<br />
(sog. Norderweiterung 1973), für die Kooperation<br />
mit der Europäischen Freihandelszone (EFTA), für<br />
Assoziierungsabkommen, für Finanzautonomie der<br />
EWG, für Haushaltskontrolle durch das Europäische<br />
Parlament (EP), für einen Stufenplan zur Wirtschafts-<br />
und Währungsunion (WWU) und für die außenpolitische<br />
Zusammenarbeit.<br />
Die zweite Gipfelkonferenz in Paris im Oktober<br />
1972 setzte sich für die Vollendung der WWU bis<br />
1980 ein (Einrichtung des �Europäischen Währungsfonds<br />
EWS) sowie für die Entwicklung einer<br />
gemeinsamen Sozialpolitik. Als politisch wichtigste<br />
Entscheidung wurde die Errichtung einer „Europäischen<br />
Union“ bis 1980 beschlossen.<br />
Die dritte Konferenz in Kopenhagen im Dezember<br />
1973 einigte sich darauf, die „Ausgestaltung der Europäischen<br />
Union zu beschleunigen“, die WWU auszubauen,<br />
einen Regionalfonds (�Fonds der EU) einzurichten,<br />
ein gesellschaftspolitisches Aktionsprogramm<br />
zu entwickeln, einen unabhängigen RechnungshofderEGzugründen,diehaushaltsrechtliche<br />
Kontrolle durch das EP zu stärken, eine gemeinsame<br />
407
Giscard d’Estaing<br />
Energie- und Technologiepolitik zu formulieren.<br />
Auf dem vierten Gipfel im Dezember 1974 in Paris<br />
beschlossen die (damals neun) Staats- und Regierungschefs,<br />
künftig regelmäßig zusammenzukommen<br />
und sich „Europäischer Rat“ zu nennen; sie<br />
machten ferner den Weg frei für die erste Direktwahl<br />
des EP und beauftragten den belgischen Premierminister,<br />
einen Bericht über den Aufbau einer Europäischen<br />
Union abzufassen (�Tindemans-Bericht).<br />
Zeittafel aller Gipfeltreffen �Europäischer Rat<br />
W.M.<br />
Giscard d’Estaing, Valérie (geb. 1926), französischer<br />
Staatspräsident (1974–1981) sowie Finanzund<br />
Wirtschaftsminister (1962 – 1965, 1969 – 1974).<br />
Auf seine Initiative hin wurde auf dem Pariser Gipfel<br />
im Dezember 1974 beschlossen, die seit 1969 in unregelmäßigen<br />
Abständen stattfindenden Treffen der<br />
EG-Staats- und Regierungschefs in Zukunft als regelmäßige<br />
Konferenz des Europäischen Rates zu institutionalisieren.<br />
Giscard d’Estaing leitete den Europäischen<br />
Konvent zur Zukunft <strong>Europa</strong>s (28. 2.<br />
2002 bis 20. 7. 2003), der den Entwurf des �Verfassungsvertrags<br />
2004 ausarbeitete. Er erhielt 2003 den<br />
Karlspreis der Stadt Aachen.<br />
Gleichstellungspolitik in der EU<br />
1. Rechtliche Grundlagen. Artikel 2 und 3 EGV verschafften<br />
der Gleichstellungspolitik der EU ihre legale<br />
Basis. Artikel 2 schreibt die Förderung der<br />
„Gleichstellung von Männern und Frauen“ als eine<br />
Aufgabe der Europäischen Gemeinschaft fest. Artikel<br />
3 stellt sicher, dass die Gemeinschaft bei allen ihren<br />
Tätigkeiten darauf hinwirkt, dass „Ungleichheiten<br />
zu beseitigen und die Gleichstellung von Männern<br />
und Frauen zu fördern“ sind. Artikel 137 und<br />
141 EGV schreiben die Gleichstellung von Frauen<br />
und Männern im Bereich der Erwerbsarbeit. Des<br />
Weiteren wurde die Schwerpunktsetzung der<br />
Gleichstellungspolitik auf europäischer Ebene, die<br />
seit Anbeginn in den Bereichen der Beschäftigungsund<br />
Familienpolitik stattfindet (vgl. auch KOM<br />
1996), durch die Inkorporation von Art. 23 in die<br />
�Charta der Grundrechte der Europäischen Union<br />
bestätigt und mit ihrer Deklaration im Dezember<br />
2000 legalisiert.<br />
Während die Verträge den unspezifischen Terminus<br />
„Gleichstellung von Männern und Frauen“ verwenden,<br />
ist in der Grundrechtecharta von „Gleichheit<br />
408<br />
von Männern und Frauen“ die Rede. De jure ist in der<br />
Gleichstellungspolitik der EU die soziale Gleichheit<br />
der Geschlechter in der EU – also auch in den Mitgliedstaaten<br />
– insbes. im Bereich der Beschäftigung,<br />
der Arbeit (was die Arbeit in der Privatsphäre einschließt)<br />
und des Arbeitsentgeltes herzustellen.<br />
Die gleichstellungspolitischen Aktivitäten der europäischen<br />
Ebene unterliegen dem �Subsidiaritätsprinzip<br />
(Art. 5 EGV). Die „Rahmenstrategie der Gemeinschaft<br />
zur Förderung der Gleichstellung von<br />
Frauen und Männern“ (KOM(2000) 335 endg.) verdeutlicht<br />
aber, dass die europäische Ebene Maßnahmen<br />
und Strategien setzen wird: „Um Überschneidungen<br />
zu vermeiden und eine optimale Nutzung der<br />
Ergebnisse sicherzustellen, wird für die Komplementarität<br />
zwischen den verschiedenen Maßnahmen<br />
der Gemeinschaft und zwischen der Rahmenstrategie<br />
und den Maßnahmen der Mitgliedstaaten Sorge<br />
getragen.“<br />
Wie interpretiert die europäische Ebene den integrationspolitischen<br />
Schlüsselbegriff „Komplementarität“?<br />
Sollen die Maßnahmen zur Herstellung der<br />
Chancengleichheit der Geschlechter in allen MitgliedstaatenmiteinemidentischenZielverfolgtwerden?<br />
Und wenn ja, ist dieses Ziel mit dem de jure festgelegten<br />
gleichstellungspolitischen Ziel der Herstellung<br />
der sozialen Gleichheit der Geschlechter identisch?EineKlärungkannamBeispielderpolitikfeldübergreifenden<br />
Thematik geschlechtsspezifische<br />
Arbeitsteilung erfolgen.<br />
2. Was heißt „soziale Gleichheit der Geschlechter“?<br />
Zielvorstellungen der supranationalen Ebene zur<br />
Ausgestaltung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung<br />
wurden durch die Verhandlungen der �Lissabon-Strategie<br />
im Jahr 2000 konkretisiert und durch<br />
die „Entschließung des Rates und der im Rat vereinigten<br />
Minister für Beschäftigung und Sozialpolitik<br />
vom 29. 6. 2000 über eine ausgewogene Teilhabe<br />
von Frauen und Männern am Berufs- und Familienleben“<br />
amtlich (ABl. C 218/2000). Letztgenanntes<br />
Dokument gibt Handlungsanweisungen an die Politik<br />
im europäischen Mehrebenensystem (Zitate nach<br />
ABl. C 218/2000):<br />
Die Mitgliedstaaten verbinden mit den neu geschaffenen<br />
rechtlichen Grundlagen der Gleichstellungspolitik<br />
Möglichkeiten für diesbezügliche Gemeinschaftsaufgaben.<br />
Im Vordergrund steht die BeseitigungdertradiertengeschlechtsspezifischenArbeitsteilung,<br />
„die Frauen in Bezug auf die Bedingungen
für den Zugang zum und die Teilhabe am Arbeitsmarkt<br />
und Männer in Bezug auf die Bedingungen für<br />
die Teilhabe am Familienleben trifft und die sich aus<br />
einer gesellschaftlichen Tradition ergibt, bei der<br />
noch immer die unbezahlte Arbeit im Rahmen der<br />
Sorge um die Familie als Hauptaufgabe der Frau und<br />
Erwerbsarbeit in Form von Teilnahme am Wirtschaftsleben<br />
als Hauptaufgabe der Männer gilt“.<br />
DerGrundsatzder„GleichstellungvonMännernund<br />
Frauen“ erfordert „die Gleichstellung der arbeitenden<br />
Väter und Mütter insbes. auch in Bezug auf die<br />
für die Betreuung von Kindern oder anderen abhängigen<br />
Personen notwendigen Abwesenheiten vom<br />
Arbeitsplatz“. Festgestellt wird: „Sowohl Männer<br />
als auch Frauen haben ungeachtet des Geschlechts<br />
ein Recht auf Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben.“<br />
Hierbei seien „Möglichkeiten zur Unterbrechung<br />
der Berufstätigkeit, Elternurlaub und Teilzeitarbeit<br />
sowie flexible Arbeitsregelungen, die unter<br />
Wahrung des nötigen Gleichgewichts zwischen<br />
Flexibilität und Sicherheit sowohl dem Arbeitgeber<br />
als auch dem Arbeitnehmer nutzen, für Männer wie<br />
Frauen von besonderer Bedeutung“.<br />
Die Begründungen der Entschließung gipfeln in der<br />
Formulierung einer umzusetzenden Vision der Neustrukturierung<br />
der Geschlechterarrangements in der<br />
EU: „Der Beginn des 21. Jahrhunderts ist ein symbolischer<br />
Zeitpunkt für die Formulierung eines neuen<br />
Gesellschaftsvertrags zwischen den Geschlechtern,<br />
in dem die faktische Gleichstellung von Frauen und<br />
Männern im öffentlichen und im privaten Leben von<br />
der Gesellschaft als Bedingung für Demokratie,<br />
Staatsbürgertum sowie individuelle Autonomie und<br />
Freiheit anerkannt wird und dem in allen Politiken<br />
der Europäischen Union Rechnung zu tragen ist.“<br />
Nach der Realisierung dieser Zielvorstellung wäre<br />
der Terminus „geschlechtsspezifische Arbeitsteilung“<br />
obsolet. Das de jure festgesetzte Ziel der Herstellung<br />
der sozialen Gleichheit der Geschlechter<br />
wäre erreicht.<br />
3. Aufträge an die Politik im europäischen �Mehrebenensystem.<br />
Die Etablierung eines neuen Gesellschaftsvertrages<br />
zwischen den Geschlechtern macht<br />
es notwendig, einen EU-Bürgerinnen-/Bürgerstatus<br />
zu schaffen, der auf individuelle Autonomie und die<br />
faktische Gleichstellung von Frauen und Männern<br />
im öffentlichen und privaten Leben abzielt. Der<br />
EU-weit rechtlich zu verankernde Geschlechtervertrag<br />
verlangt somit nach individualisierten Staats-<br />
Gleichstellungspolitik<br />
bürgerinnen-/Staatsbürgerrechten, die die soziale<br />
Gleichheit der Geschlechter nicht nur visionär, sondern<br />
faktisch herbeiführen können. Zur Realisierung<br />
der Vision erhielt die Politik im europäischen Mehrebenensystem<br />
nachfolgende Aufträge.<br />
Die Mitgliedstaaten werden ermutigt, „die Förderung<br />
einer ausgewogenen Teilhabe von Frauen und<br />
Männern am Berufs- und Familienleben als eine der<br />
Grundvoraussetzungen für eine tatsächliche Gleichstellung<br />
in ihren Regierungsprogrammen zu stärken<br />
und (...) umfassende und integrierte Strategien zu<br />
entwickeln, die auf die Verwirklichung (...) [derselben]<br />
zielen“. Hierzu sind insbes. folgende Maßnahmen<br />
in Betracht zu ziehen:<br />
Väter sollen ein individuelles und nicht übertragbares<br />
Recht auf Vaterschaftsurlaub erhalten, das<br />
gleichzeitig mit dem Mutterschaftsurlaub zu beanspruchen<br />
ist; männlichen Arbeitnehmern sollen<br />
Rechte zuerkannt werden, die ihnen eine stärkere<br />
Mitwirkung am Familienleben ermöglichen; Arbeitnehmerinnen<br />
und Arbeitnehmern soll die geschlechteregalitäre<br />
Lastenverteilung von privater Fürsorgearbeit<br />
ermöglicht werden; Dienstleistungen zur Unterstützung<br />
von Familien sollen ausgebaut werden;<br />
Familien mit einem Elternteil sollen besonderen<br />
Schutz erhalten; die Schul- und Arbeitszeiten sollen<br />
harmonisiert werden; Unternehmen sollen zur familienfreundlichen<br />
Betriebsführung ermutigt werden;<br />
Lehrpläne, Öffentlichkeitsarbeit, pro-aktive Organisationen<br />
und Forschung sollen auf das Ziel der tatsächlichen<br />
Gleichstellung von Männern und Frauen<br />
imBerufs-undFamilienlebenabgestimmtwerden.<br />
Die Organe und Einrichtungen der EU sollen in ihrer<br />
Eigenschaft als Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber<br />
die für die mitgliedstaatlichen Ebenen vorgesehenen<br />
Maßnahmen in ihren Organisationen umsetzen und<br />
darüber berichten. Die Kommission wird aufgefordert,<br />
im Rahmen ihrer strategischen Ziele insbes. die<br />
„gleichgewichtige Verantwortung von Frauen und<br />
Männern für das Familienleben“ herauszustellen<br />
und „neue Formen einer ausgewogenen Teilhabe<br />
vonFrauenundMännernsowohlamBerufs-alsauch<br />
am Familienleben vorzuschlagen“.<br />
Die öffentlichen und privaten Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen<br />
in der EU sollen im Rahmen<br />
von Arbeitszeitgestaltungen und der Beseitigung<br />
von Lohn- und Gehaltsunterschieden zwischen<br />
Frauen und Männern eine ausgewogene Teilhabemöglichkeit<br />
der Geschlechter am Berufs- und Fami-<br />
409
Globalisierung<br />
lienleben ermöglichen. Das neue EU-Geschlechterarrangement<br />
sieht sowohl Männer als auch Frauen<br />
als Vollzeiterwerbstätige, die im Falle von Betreuungsverpflichtungen,<br />
die zu gleichen Teilen von<br />
Männern und Frauen wahrzunehmen sind, eine Reduktion<br />
ihrer Erwerbstätigkeit vornehmen und dabei<br />
Unterstützung erhalten. Wie die Transformationen<br />
der alten und die konkrete Ausgestaltung des neuen<br />
EU-Geschlechterarrangements erfolgen soll, bleibt<br />
offen.<br />
Die Umsetzung der Entschließung ist primär von den<br />
mitgliedstaatlichen Ebenen zu vollziehen. Der supranationalen<br />
Ebene wird lediglich eine Koordinierungs-,<br />
Ideenlieferanten- und Vorbildrolle zugeteilt.<br />
Wie, mit welchen Schwerpunkten und in welchem<br />
Zeitrahmen die Mitgliedstaaten die Zielvision des<br />
neuen Gesellschaftsvertrages zwischen den Geschlechtern<br />
erreichen sollen, ist nicht festgelegt. Im<br />
Hinblick auf Zeit- und Zielgröße lässt sich im gesamten<br />
Dokument nur eine einzige Angabe finden: Bis<br />
zum Jahr 2010 soll die Beschäftigungsquote der<br />
Frauen EU-weit auf 60 % angehoben werden. Dass<br />
der von Ostner/Lewis (1998) identifizierten und kritisierten<br />
Schwerpunktsetzung der EU-Gleichstellungspolitik<br />
auf Erwerbsarbeitsintegration von<br />
Frauen auch im 21. Jh. das Hauptaugenmerk gewidmet<br />
bleibt und Wirtschaftspolitik mit Gesellschaftspolitik<br />
nicht Hand in Hand geht, steht im Raum. Ob,<br />
wie und wann die mitgliedstaatlichen Politiken sich<br />
der kulturellen und institutionellen Förderung der<br />
geschlechteregalitären Arbeitsteilung im Berufsund<br />
Familienleben annehmen, bleibt abzuwarten.<br />
Eindeutig ist allerdings, dass sich die Regierungen<br />
derMitgliedstaatenaufeuropäischerEbeneeinigten,<br />
ihre kulturellen und institutionalisierten Geschlechterarrangements<br />
zu transformieren und hierbei eine<br />
gemeinsameZielvorstellungzuverfolgen. U. B.<br />
Literatur:<br />
Fraser, N.: Die Gleichheit der Geschlechter und das Wohlfahrtssystem:<br />
Ein postindustrielles Gedankenexperiment. In:<br />
Nagl-Docekal, H./Pauer-Studer, H. (Hg.), Politische Theorie.<br />
Differenz und Lebensqualität. Frankfurt 1996, S. 469 – 498<br />
Europäische Kommission: Einbindung der Chancengleichheit<br />
für Frauen und Männer in sämtliche politischen Konzepte und<br />
Maßnahmen der Gesellschaft. KOM (96) 67 endg.<br />
Dies.: Für eine Rahmenstrategie der Gemeinschaft zur<br />
Förderung der Gleichstellung von Frauen und Männern<br />
(2001–2005). KOM (2000) 335 endg. vom 7. 6. 2000<br />
Ostner, I./Lewis, J.: Geschlechterpolitik zwischen europäischer<br />
und nationalstaatlicher Regelung. In: Leibfried, St./ Pierson, P.<br />
(Hg.), Standort <strong>Europa</strong>. Sozialpolitik zwischen Nationalstaat<br />
und Europäischer Integration. Frankfurt 1998, S. 196 – 239<br />
410<br />
Globalisierung der Wirtschaft. Beschreibung für<br />
einen Prozess, in dem sich grenzüberschreitende<br />
Märkte für Waren, Dienstleistungen und Kapital bilden<br />
und die Handlungen der Wirtschaftsteilnehmer<br />
im abnehmenden Maß von den gesellschaftlichen<br />
Rahmenbedingungen eines Staates bedingt werden.<br />
Die Globalisierung der Wirtschaft als Zustandsbeschreibung<br />
ist nicht an die Gegenwart gebunden, der<br />
Begriff „Globalisierung“ wird allerdings erst seit<br />
den 1980er Jahren intensiv verwendet, so dass er<br />
heute regelmäßig auf den augenblicklichen Zustand<br />
der Weltwirtschaft bezogen wird.<br />
Die Ursachen für die Globalisierung der Wirtschaft<br />
liegen zum einen in der technologischen Entwicklung,<br />
die die Kapazitäten für kostengünstige Kommunikation<br />
und Transport erheblich hat ansteigen<br />
lassen, zum anderen in einem entsprechenden politischen<br />
Ordnungsrahmen. Die Globalisierung beruht<br />
auf einer Entdifferenzierung, die bestimmte – klassische<br />
– Unterscheidungen zwischen Personen, Waren,<br />
Dienstleistungen und Kapital verbietet. Bei diesen<br />
Unterscheidungskriterien handelt es sich vor allem<br />
um den Ursprung von Gütern (�Ursprungslandprinzip)unddieStaatsangehörigkeitvonPersonen.<br />
Der Binnenmarkt der Europäischen Gemeinschaft<br />
beruht auf der �Zollunion und den �vier Freiheiten.<br />
In den gegenseitigen Handelsbeziehungen der Mitgliedstaaten<br />
sind die Zölle abgeschafft und die Diskriminierung<br />
nach der Herkunft einer Ware oder<br />
Dienstleistung ist untersagt. Das Konzept wird ergänzt<br />
durch die �Unionsbürgerschaft, die an Stelle<br />
der Staatsangehörigkeit – nur ergänzend – ein neues<br />
Anknüpfungskriterium für hoheitliche Regelungen<br />
schafft, das das Institut der Staatsangehörigkeit auf<br />
den territorialen Anwendungsbereich des EG-Vertrages<br />
ausdehnt. Im Bereich der �WTO ist zentraler<br />
Baustein der Welthandelsordnung der Grundsatz der<br />
Nichtdiskriminierung mit seinen wesentlichen Ausprägungen<br />
durch das Gebot der Inländergleichbehandlung<br />
und der Meistbegünstigung (�Meistbegünstigungsklausel).<br />
Die Nichtdiskriminierung soll<br />
eine Wettbewerbsgleichheit herstellten, indem die<br />
Schlechterstellung von Waren und Dienstleistungen<br />
wegen ihres ausländischen Ursprungs verboten<br />
wird.<br />
Die Globalisierung der Wirtschaft zeichnet sich außerdem<br />
dadurch aus, dass internationale technische<br />
und rechtliche Standards für den grenzüberschreitenden<br />
Handel entstehen. Diese Standards schaffen
Vertrauen der Wirtschaftsteilnehmer in den Fortbestand<br />
der Rahmenbedingungen und reduzieren die<br />
mitgrenzüberschreitendenTatbeständenansicheinhergehende<br />
Komplexität. Diese Harmonisierungsprozesse<br />
erfordern allerdings teilweise erhebliche<br />
Anpassungen in den nationalen Rechts- und Gesellschaftsordnungen,<br />
die nicht mehr dem vollständigen<br />
Einfluss der demokratisch legitimierten Institutionen<br />
unterliegen. Mit der Globalisierung der Wirtschaft<br />
nimmt die politische und ökonomische Bedeutung<br />
der Entscheidungen von privaten (multinationalen)<br />
Unternehmen sowie von internationalen<br />
Organisationen wie der WTO, der Weltbank und des<br />
Weltwährungsfonds zu.<br />
Gegen die Globalisierung insgesamt hat sich in einem<br />
Teil der Öffentlichkeit Kritik formiert („Globalisierungsgegner“),<br />
die sich – aus verschiedenen<br />
Motiven und mit unterschiedlichen Zielen – gegen<br />
die als negativ empfundenen ökonomischen, politischen<br />
und sozialen Folgen des Prozesses wenden.<br />
Die unitarisierende Tendenz der Globalisierung, die<br />
sich auf die kulturellen Grundlagen von Staat und<br />
Gesellschaft auswirkt, ist die notwendige Folge der<br />
Entdifferenzierung und der aus ihr entstehenden größerenBezugsräume.<br />
F. Sch.<br />
Dokumente:<br />
Deutscher Bundestag, Enquete-Kommission „Globalisierung<br />
der Weltwirtschaft – Herausforderungen und Antworten“ –<br />
14. Wahlperiode. Schlussbericht (2002). BT-Drucksache<br />
14/9200<br />
Assemblée Nationale, Rapport d’information sur la mondialisation,<br />
No. 1279 vom 10. 12. 2003<br />
OECD, Handbook on Economic Globalisation Indicators.<br />
Paris 2005<br />
Literatur:<br />
Bhagwati, J.: In defence of Globalization. Oxford 2004<br />
Bogdandy, A. v.: Demokratie, Globalisierung, Zukunft des<br />
Völkerrechts: eine Bestandsaufnahme. Zeitschrift für ausländisches<br />
öffentliches Recht und Völkerrecht 63 (2003), S. 853<br />
Bundeszentrale für politische Bildung: Globalisierung.<br />
Heft 280, Bonn 2003<br />
Cairncross, F.: The Death of Distance. Cambridge 2001 2<br />
Höffe, O.: Wirtschaftsbürger, Staatsbürger, Weltbürger: politische<br />
Ethik im Zeitalter der Globalisierung. München 2004<br />
Nahamowitz, P. / Voigt, R. (Hg.): Internationale Organisationen<br />
und Regelungsbereiche. Baden-Baden 2002<br />
Stiglitz, J. E.: Die Schatten der Globalisierung. Berlin 2002<br />
Glossar. Ein Glossar mit Definitionen von rd. 250<br />
amtlichen Begriffen zum europäischen Einigungswerk,<br />
zu den Organen und Tätigkeitsbereichen der<br />
EU bietet �Scadplus unter http://europa.eu.int/scad-<br />
Gottesbezug<br />
plus/leg/de/cig/info_glossary.htm an. Die Definitionen<br />
enthalten Informationen zur Entstehungsgeschichte<br />
der Begriffe und bieten Verweise auf die<br />
Verträge. Halbamtliche Begriffe (�Euro-Jargon)<br />
werden erklärt unter:<br />
europa.eu.int/abc/eurojargon/index_de.htm.<br />
Golfkooperationsrat, Golfrat (Gulf Cooperation<br />
Council, GCC). 1981 als regionale Gruppe in der<br />
Arabischen Liga gegründete Organisation zur Zusammenarbeit<br />
in der Außen- und Sicherheitspolitik<br />
sowie in Fragen des Erdöls. Mitglieder: Bahrain, Katar,<br />
Kuwait, Oman, Saudi-Arabien und die Vereinigten<br />
Arabischen Emirate. Mit dem Golfrat hat die EG<br />
1989 ein Kooperationsabkommen mit jährlichen<br />
Treffen der Außenminister und der Bildung eines<br />
Gemischten Kooperationsausschusses geschlossen.<br />
Schwerpunkt der Zusammenarbeit ist der Wirtschafts-<br />
und Energiebereich.<br />
Die Staaten des GCC haben 2003 mit der VerwirklichungeinerZollunionbegonnenundwollenbis2010<br />
eine Wirtschafts- und Währungsunion bilden. 2003<br />
wurde ein Wirtschaftsdialog zwischen der EG und<br />
dem GCC eingerichtet. Die 1990 mit der EG begonnenen<br />
und seit langem stockenden Verhandlungen<br />
über ein Freihandelsabkommen könnten wieder aufgenommen<br />
werden.<br />
Gottesbezug. Einen ausdrücklichen Bezug auf<br />
Gott kennen die Europäischen Verträge – anders als<br />
etwa die Präambel des deutschen Grundgesetzes<br />
(„Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott<br />
und den Menschen“) – nicht. Im Rahmen des Verfassungskonvents<br />
war ausgiebig diskutiert worden, ob<br />
eine Europäische Verfassung einen Gottesbezug haben<br />
soll. Hier kollidierten im Wesentlichen die französische<br />
Staatsauffassung eines säkularen, laizistischen<br />
Staates (mit vollständiger Trennung zwischen<br />
Staat und Kirche) mit der vor allem katholisch geprägten<br />
Auffassung einzelner Mitgliedstaaten wie<br />
etwaPolen,IrlandoderItaliensowieden(deutschen)<br />
Christdemokraten.EinKernargumentderBefürworter<br />
stellt das Postulat metaphysischer Voraussetzungen<br />
der Rechtsordnung dar: Der Verfassungs- und<br />
Rechtsstaat bedarf des Bekenntnisses zu einem vorundüberstaatlichenNormengefüge–zuNormen,die<br />
kraft ihrer selbst gelten und daher auch nicht zur Disposition<br />
des Gesetzgebers stehen. Ein Gottesbezug<br />
dokumentiert diese Bindung an letzte Werte, die der<br />
411
Governance<br />
Mensch nicht geschaffen hat. Einer der an der polnischen<br />
Verfassung orientierten Vorschläge im Verfassungskonvent<br />
hatte bspw. folgenden Wortlaut:<br />
„Die Werte der Europäischen Union umfassen die<br />
Wertvorstellungen derjenigen, die an Gott als die<br />
Quelle der Wahrheit, Gerechtigkeit, des Guten und<br />
desSchönenglauben,alsauchderjenigen,diediesen<br />
Glauben nicht teilen, sondern diese universellen<br />
Werte aus anderen Quellen ableiten.“ Endgültiges<br />
Ergebnis in dem Verfassungsvertrag ist ein Kompromiss<br />
ohne ausdrücklichen Gottesbezug. Es wird nur<br />
aufdas„kulturelle,religiöseundhumanistischeErbe<br />
<strong>Europa</strong>s“ Bezug genommen. Ein dezidiert christlicherBezugfehlt.<br />
Ch. S.<br />
Literatur:<br />
Roellecke, G.: Die Entkoppelung von Recht und Religion.<br />
In: JZ 2004, 105<br />
Franzke, H.-G.: Frankreich, seine Laizität und <strong>Europa</strong>.<br />
In: ZRP 2003, 357<br />
Schwemer, R.-O.: Der Gottesbezug in Verfassungspräambeln.<br />
In: Recht und Politik 1996, S. 7<br />
Governance („Regieren“) in der EU<br />
1. Begriff und Konzept „Governance“ („Regieren“).DieBezeichnung„Governance“spieltinWissenschaft<br />
und praktischer Politik eine immer wichtigere<br />
Rolle. Für die Bezeichnung „Governance“ wird<br />
im Deutschen das Wort „Regieren“ verwendet. Governance,<br />
also Regieren, ist dabei nicht identisch mit<br />
dem, was – im engeren Sinn – eine Regierung tut, ist<br />
also nicht gleichbedeutend mit Staats-Tätigkeit. So<br />
lautet der Titel eines Buches ausdrücklich „Governance<br />
without Government“ (Rosenau/Czempiel<br />
1992); der Untertitel des Buches lautet „Order and<br />
Change in World Politics“, um deutlich zu machen,<br />
dass „Regieren“ nicht notwendig die Existenz einer<br />
dazu berufenen Regierung voraussetzt. Die BedeutungdesBegriffs„Governance“reichtweiterundbezieht<br />
sich im politischen Bereich auf die Steuerung<br />
und Lenkung politischer Prozesse, also auf Koordinierungs-<br />
und Lenkungsmechanismen, wobei nicht<br />
nur staatliche Institutionen beteiligt sind, sondern<br />
auch gesellschaftliche, also nichtstaatliche Akteure.<br />
Das Konzept „Governance“ kreist um die Fragen,<br />
wie öffentliche Angelegenheiten behandelt, wie öffentliche<br />
Aufgaben erfüllt und wie Probleme angegangen<br />
und gelöst werden. „Governance“ verweist<br />
auf nicht-hierarchische Formen der Steuerung, an<br />
denen staatliche und nichtstaatliche Akteure beteiligt<br />
sind, und auf ihre Interaktionsbeziehungen. Go-<br />
412<br />
vernance-Studien analysieren, wie im obigen Sinn<br />
regiert wird; dabei ist eine normative Ausrichtung,<br />
(wie regiert werden soll) unübersehbar. Zwei Kriterien<br />
stehen im Mittelpunkt des Interesses: die Effizienz<br />
des Regierens und seine demokratische Qualität.<br />
2. „Multi-Level-Governance“ in der EU („Regieren<br />
im EU-Mehrebenensystem“). Die Frage, wie regiert<br />
wird bzw. wie regiert werden sollte, wurde auch für<br />
die EU gestellt; sowohl seitens der Wissenschaft als<br />
auch im Bereich der praktischen Politik. Dabei geht<br />
eseinmalumdieHandlungs-undProblemlösungsfähigkeit<br />
der EU, weil mit der Zugehörigkeit zur EU<br />
seitens der Mitgliedstaaten, aber auch gesellschaftlicher<br />
Akteure, die Erwartung verknüpft wird, dieser<br />
Verbund könne und würde wirksame Beiträge zur<br />
Erfüllung vielfältiger öffentlicher Aufgaben leisten,<br />
mit denen die Mitgliedstaaten, allein auf sich gestellt,<br />
nicht zufriedenstellend fertig werden könnten.<br />
Zum zweiten geht es um die demokratische LegitimationderEUundihrerPolitik,alsoumdieFrage,ob<br />
sie in den Augen der �Unionsbürger Zustimmung<br />
finden und als anerkennungswürdig gelten. So wurden<br />
für Vertragsänderungen und -ergänzungen seit<br />
dem �Maastrichter Vertrag bis zum Entwurf eines<br />
�Verfassungsvertrags 2004 als Hauptkriterien stets<br />
EffizienzunddemokratischeLegitimationgenannt.<br />
In der politikwissenschaftlichen Diskussion wird in<br />
diesem Zusammenhang seit geraumer Zeit der Begriff<br />
„multi-level governance“ verwendet, was mit<br />
„Regieren in einem Mehrebenensystem“ übersetzt<br />
werden könnte. Dem Begriff liegt die Vorstellung<br />
von der Europäischen Union als einem politischen<br />
System zugrunde, welches als �Mehrebenensystem<br />
näher bezeichnet wird. Als solche unterschiedlichen<br />
Ebenen werden zum einen Gebietskörperschaften<br />
verstanden, also etwa Kommunen, Regionen, Nationalstaaten<br />
und die „supranationale“ Ebene mit Brüssel<br />
als Zentrum. Ebenen können aber auch als ineinander<br />
greifende Handlungssysteme verstanden und<br />
konzipiert werden. Zum Begriff des Mehrebenensystems<br />
gehört die Verflechtung politischer Prozesse<br />
auf verschiedenen Ebenen, die miteinander verknüpft<br />
und voneinander abhängig sind. In diesem<br />
Mehrebenensystem agieren und interagieren eine<br />
VielzahlstaatlicherundnichtstaatlicherAkteure,die<br />
auf diesen verschiedenen Ebenen angesiedelt sind.<br />
„Governance“ wird in diesem Sinn als eine interaktive<br />
Form des Regierens verstanden und definiert.
Ein wichtiges Merkmal des Regierens in diesem<br />
Mehrebenensystem ist das Vorhandensein einer<br />
Vielzahl von Arenen mit vielen Gremien und Akteuren<br />
und den zwischen ihnen bestehenden Interaktionsbeziehungen.<br />
Der Koordinierung zwischen diesen<br />
Arenen mit ihren Gremien und Akteuren kommt<br />
eine überragende Bedeutung zu. Das Regieren im<br />
EU-Mehrebenensystem wird zum zweiten durch den<br />
Entscheidungsmodus der Verhandlung charakterisiert.<br />
Dabei geht es nicht nur um die interinstitutionellen<br />
Beziehungen der Hauptorgane Kommission,<br />
Rat und Europäisches Parlament; ergänzend kommen<br />
noch der �Wirtschafts- und Sozialausschuss sowie<br />
der �Ausschuss der Regionen hinzu. Sondern es<br />
gehtauchumdieKommunikationsbeziehungenzwischen<br />
den Angehörigen staatlicher Administrationen,<br />
aber ebenso um die Abstimmung mit gesellschaftlichen<br />
Akteuren. Deren Einbeziehung in den<br />
politischen Prozess erfolgt nicht im Sinne von „Pressure<br />
Group Politics“, sondern im Sinn von �Lobbying,<br />
verstanden als Austauschbeziehungen zwischen<br />
gesellschaftlichen Akteuren einerseits und institutionellen<br />
Akteuren andererseits. Beide Seiten haben<br />
dabei ein starkes Interesse an dieser Interaktion: die<br />
Kommission bspw. ist auf den Sachverstand gesellschaftlicher<br />
Akteure angewiesen, um ihre Initiativfunktion<br />
wahrnehmen zu können; sie schätzt gesellschaftliche<br />
Akteure aber auch als Resonanzboden<br />
und potentielle „Bündnis-Partner“ für die Implementierung<br />
einzelner Maßnahmen. Gesellschaftliche<br />
Akteure wiederum können im Rahmen solcher<br />
Interaktionsbeziehungen ihre Interessen und Vorstellungen<br />
einbringen und zu realisieren versuchen.<br />
Vielfach wird in diesem Zusammenhang von „RegiereninNetzwerken“gesprochen.EinemNetzwerk<br />
gehören diejenigen staatlichen und nichtstaatlichen<br />
Akteure an, die kontinuierliche Interaktionsbeziehungen<br />
bei der Behandlung eines Einzelvorgangs<br />
oder – sehr viel dauerhafter und umfassender – in einem<br />
bestimmten Politikbereich aufgebaut haben.<br />
Im Zusammenhang mit solchen Interaktionsbeziehungen<br />
kommt es zu Anpassungsprozessen von Institutionen,<br />
Prozeduren und Akteursverhalten auf<br />
verschiedenen Ebenen an die Gegebenheiten der<br />
EU-Ebene. Solche Anpassungsprozesse werden<br />
vielfach als „Europäisierung“ bezeichnet und analysiert.Dabeihandeltessichallerdingsumwechselseitige<br />
Anpassungsprozesse.<br />
3. Das Kommissions-Weißbuch „Europäisches Re-<br />
Governance<br />
gieren“.DieFrage,wieinderEUregiertwerdensoll,<br />
stellte sich den politisch Verantwortlichen in den InstitutionenderEUangesichtsneuerHerausforderungen<br />
in den 1990er Jahren, insbes. auch mit Blick auf<br />
die anstehende Osterweiterung. Zwei Anliegen beherrschten<br />
die Diskussion: wie die Handlungs- und<br />
Problemlösungsfähigkeit auch einer erweiterten EU<br />
gesichert und verstärkt, und wie die demokratische<br />
Legitimation des EU-Verbunds und seiner Politik<br />
verbessert werden könnten. Dabei spielte auch das<br />
Konzept „Governance“ in den Überlegungen insbes.<br />
der Europäischen Kommission eine zunehmend<br />
wichtige Rolle. Die Kommission hatte über die von<br />
ihrem damaligen Präsidenten Delors eingerichtete<br />
„Cellule Prospective“ – eine Art eigenständiger kleiner<br />
Think Tank im Rahmen der Brüsseler Behörde –<br />
engen Kontakt mit Angehörigen der politikwissenschaftlichen<br />
<strong>Europa</strong>forschung. Die Kommission<br />
kündigte unter ihrem Präsidenten Prodi (2000 –<br />
2004) an, sich in Form eines �Weißbuchs an der Debatte<br />
über Governance bzw. „Better Governance“ zu<br />
beteiligen. Die Kommission unter Präsident Prodi<br />
hatte nach der Krise der Vorgänger-Kommission unter<br />
Präsident Santer ein schweres Erbe anzutreten.<br />
Sie wollte einen solchen Beitrag zur Überwindung<br />
dieserKrise,dienichtnurdieKommissionalseinzelnes<br />
Gemeinschaftsorgan, sondern das Entscheidungssystem<br />
insgesamt betraf, leisten. Präsident<br />
Prodi hatte am 15. 2. 2000 in einer Grundsatzrede vor<br />
dem Europäischen Parlament einen eigenen Beitrag<br />
der Kommission angekündigt. Ziel sei, bestehende<br />
Entscheidungsverfahren, bezogen auf die beiden<br />
zentralen Kriterien der demokratischen Legitimation<br />
und der Effizienz, zu verbessern, d. h. Entscheidungsverfahren<br />
zu optimieren, sie transparenter zu<br />
machen und das Zusammenwirken zwischen den<br />
verschiedenen Ebenen und der auf ihnen angesiedelten<br />
Akteure auf eine neue partnerschaftliche Basis zu<br />
stellen, um so vor allem auch das �Subsidiaritätsprinzip<br />
zu voller Entfaltung zu bringen.<br />
Am 25. 7. 2001 veröffentlichte die Kommission das<br />
Weißbuch über „Europäisches Regieren“ (KOM<br />
2001/428 endg.). Den Begriff selbst definierte das<br />
Weißbuch wie folgt: „Der Begriff ‚Governance‘<br />
steht für die Regeln, Verfahren und Verhaltensweisen,<br />
die die Art und Weise, wie auf europäischer Ebene<br />
Befugnisse ausgeübt werden, kennzeichnen und<br />
zwar insbes. in Bezug auf Offenheit, Partizipation,<br />
Verantwortlichkeit, Wirksamkeit und Kohärenz.“<br />
413
Governance<br />
Das Weißbuch identifiziert folgende fünf Grundsätzefürgutesbzw.besseresRegieren:Offenheit,Partizipation,<br />
Verantwortlichkeit, Effektivität und Kohärenz.<br />
Ihnen wird die Aufgabe zugeschrieben, bereits<br />
im Vertrag enthaltene Grundsätze zu ergänzen bzw.<br />
zu verstärken wie bspw. das Subsidiaritätsprinzip<br />
oder den Grundsatz der �Verhältnismäßigkeit. Das<br />
Weißbuch macht hierzu eine Reihe von Anregungen<br />
undVorschlägen,dieinvierKapitelgegliedertsind:<br />
Bessere Einbindung aller Akteure und größere Offenheit.<br />
Die Ausführungen in diesem Kapitel zielen<br />
auf die Verstärkung der Kommunikation, also die<br />
Weiterentwicklung einer Konsultations- und Dialog-Kultur.<br />
Besondere Beachtung wird dabei der<br />
Einbeziehung von nationalen Parlamenten, von Regionen<br />
und Kommunen, von Repräsentanten der<br />
�Zivilgesellschaft und der Wissenschaft sowie der<br />
Verwaltung der Mitgliedstaaten bei der Vorbereitung<br />
von Entscheidungsprozessen gewidmet.<br />
Eine bessere Politik, bessere Regeln und bessere Ergebnisse.<br />
Hier geht es zunächst um die Klärung der<br />
Frage, ob Handlungsbedarf besteht und wenn ja, ob<br />
auf EU-Ebene gehandelt werden soll. Falls dies bejaht<br />
würde, gehe es um die Wahl der jeweils angemessenenMaßnahmen,StrategienundPolitikinstrumente.<br />
Dazu unterbreitet die Kommission ganz konkrete<br />
Vorschläge wie etwa<br />
– den Erlass von Rahmen-Richtlinien;<br />
– die Methode der Koregulierung, also außerrechtliche<br />
Selbstverpflichtungen von Akteuren;<br />
– die systematische Evaluierung der gemeinschaftlichen<br />
Gesetzgebung durch gezielte Rückkopplung zu<br />
den Adressaten und Betroffenen;<br />
– die Einrichtung spezieller neuer Regulierungsagenturen;<br />
– schließlich die sog. „offene Methode der Koordinierung“,<br />
die die starre Rechtsetzung ersetzen würde.<br />
Beitrag der EU zur Global Governance. Das Weißbuch<br />
plädiert dafür, dass die Union auch in ihren Außenbeziehungen<br />
die Grundsätze guten Regierens beachtetundanwendet.Dazugehört,dassdieEUalsinternationaler<br />
Akteur geschlossener auftreten, d. h.<br />
mit einer Stimme sprechen soll und dass die Kommission<br />
bei der Wahrnehmung ihrer Initiativfunktion<br />
den Dialog mit staatlichen und nichtstaatlichen<br />
Akteuren in Drittländern verstärkt.<br />
Neuausrichtung der Politiken und der Institutionen.<br />
DieAussagendiesesKapitelsbetreffendasAnliegen<br />
414<br />
einer politischen Gesamtstrategie in der EU, also ihres<br />
„politischen“ Projekts. In den auf die Institutionen<br />
bezogenen Aussagen plädiert das Weißbuch dafür,<br />
dass sich die Institutionen auf Kernaufgaben<br />
konzentrieren müssten. Konkret heißt das, dass der<br />
Europäische Rat sich auf die Formulierung der großen<br />
�Leitlinien beschränken, der Ministerrat vorrangig<br />
für die Koordinierung der Fachministerräte verantwortlich<br />
sein soll, dass das Europäische Parlament<br />
sein Hauptaugenmerk auf die Kontrolle der<br />
Umsetzung von Entscheidungen legen und die Anliegen<br />
der Wählerschaft stärker in die politische Debatte<br />
einbringen und die Kommission autonom, also<br />
ohne Einschaltung der verschiedensten Ausschüsse<br />
(�Komitologie) implementieren soll.<br />
Das Weißbuch hat eine überwiegend kritische Aufnahme<br />
gefunden. Dabei wird zum einen kritisiert,<br />
dass die Aussagen und Vorschläge sehr stark und<br />
letztlich durchgängig vom institutionellen Eigeninteresse<br />
der Kommission bestimmt werden, indem für<br />
eine Stärkung ihrer Position im gemeinschaftlichen<br />
Entscheidungsgefüge plädiert wird: die �Gemeinschaftsmethode<br />
solle gestärkt, Rat und Parlament<br />
sollten auf dem Gebiet der Rechtsetzung entlastet,<br />
die Komitologie müsse zurückgedrängt und eine<br />
Reihe spezieller �Agenturen sollten eingerichtet<br />
werden. In diesen Vorschlägen dominiere eine viel<br />
zu stark technokratische Herangehensweise, die sicherlich<br />
nicht geeignet sei, „besseres Regieren“ zu<br />
ermöglichen und herbeizuführen. Weiterhin wird<br />
kritisiert, dass die Aussagen des Weißbuchs über<br />
weite Strecken viel zu allgemein bleiben würden und<br />
dass es so gut wie nichts für die Lösung der zentralen<br />
Aufgabenbeitrage,wieinderEUmitderVielfaltund<br />
Heterogenität umgegangen werden solle, die mit der<br />
anstehenden Erweiterung deutlich zunehmen werde.<br />
Und: es bleibe trotz der Betonung von Partizipation<br />
und der Notwendigkeit einer Einbeziehung der „Zivilgesellschaft“<br />
einem technokratischen Ansatz von<br />
supranationaler Politik verpflichtet. Die Kritiker bezweifelten,<br />
dass die Vorschläge des Weißbuchs einen<br />
Beitrag zur Legitimitätssteigerung oder zur VerbesserungderEffizienzleistenwürden.<br />
R. H.<br />
Literatur:<br />
Bache, I./Flinders, M. (Hg.): Multi-level Governance.<br />
Oxford 2004<br />
Benz, A. (Hg.): Governance – Regieren in komplexen<br />
Regelsystemen. Wiesbaden 2004<br />
Bruha, Th./Nowak, C. (Hg.): Die Europäische Union nach<br />
Nizza: Wie <strong>Europa</strong> regiert werden soll. Baden-Baden 2003
Europäische Kommission: Europäisches Regieren – ein<br />
Weißbuch v. 25. 7. 2001. ABl. C 287/2001<br />
Große Hüttmann, M./Knodt, M.: Der Multi-Level Governance-Ansatz.<br />
In: Bieling, H.-J./Lerch, M. (Hg.), Theorien der<br />
europäischen Integration. Wiesbaden 2005, S. 223 – 247<br />
Hooghe, L./Marks, G.: Multi-level Governance and European<br />
Integration. Lanham 2001<br />
Jachtenfuchs, M./Kohler-Koch, B.: Regieren und Institutionenbildung.<br />
In: Dies. (Hg.): Europäische Integration Opladen<br />
2003 2 ,S.11–46<br />
Kohler-Koch, B. (Hg.): Regieren in entgrenzten Räumen.<br />
PVS, Sonderheft 29/1998<br />
Kohler-Koch, B./Conzelmann, Th./Knodt, M.: Europäische<br />
Integration – Europäisches Regieren. Wiesbaden 2004<br />
Rosenau, J. N./Czempiel, E.-O. (Hg.): Governance without<br />
Government: Order and Change in World Politics.<br />
Cambridge 1992<br />
Grenzausgleich. Ein Kernstück der �Gemeinsamen<br />
Agrarpolitik ist die Markteinheit mit dem System<br />
gemeinsamer Preise, die jährlich vom Rat festgelegtwerden.Umim�EuropäischenWährungssystem<br />
störende Einflüsse auf den Agrarmarkt (vor allem<br />
Einkommensverluste der Landwirte) auszuschließen,<br />
galten für Agrarpreise vor Beginn der<br />
Währungsunion nach Leitkursanpassungen die alten<br />
Umrechnungskurse („grüne Paritäten“) eine Zeitlang<br />
weiter. Sie garantierten den Erzeugern gleichbleibende<br />
Einkommen. Im Handel mit Agrarerzeugnissen<br />
aber wäre in einem solchen Falle die Ausnutzung<br />
von Preisunterschieden (Arbitrage) zwischen<br />
Aufwertungs- und Abwertungsland möglich gewesen.<br />
Um dies zu verhindern, haben die EG-Staaten<br />
1971 ein System des Grenzausgleichs (oder Währungsausgleichs)<br />
geschaffen.<br />
BeimpositivenGrenzausgleichwurdenEinfuhrenin<br />
ein Aufwertungsland durch Erhebung eines Grenzausgleichbetrags<br />
verteuert, Ausfuhren durch Gewährung<br />
des Ausgleichs verbilligt. Beim negativen<br />
Grenzausgleich war das Verfahren umgekehrt: Senkung<br />
der Einfuhrpreise und Anhebung der Ausfuhrpreise.<br />
Seit April 1984 gab es nur noch den negativen GrenzausgleichinAbwertungsländern.MitderWährungsunion<br />
wurde das System des Grenzausgleichs im<br />
Agrarbereich in Euro-Ländern überflüssig.<br />
Bei den Verbrauchssteuern erfolgt ein Grenzausgleich<br />
durch Erhebung der Einfuhrumsatzsteuer auf<br />
Importgüter. Beim nach wie vor geltenden �Bestimmungslandprinzip<br />
(Entlastung von der Umsatzsteuer<br />
bei der Ausfuhr, Belastung bei der Einfuhr) hat die<br />
Einfuhrumsatzsteuer die Wirkung eines Grenzaus-<br />
Grenzkontrollen<br />
gleichs, indem sie die Steuerbelastung importierter<br />
Waren der von inländischen Waren anpasst und so<br />
gleicheWettbewerbsbedingungenherstellt. W. M.<br />
Grenzkontrollen. Sichtbarste Erscheinung des<br />
Binnenmarkts als Raum ohne innere Grenzen ist der<br />
Wegfall von Personenkontrollen an den Grenzen innerhalb<br />
der Gemeinschaft. Allerdings müssen im<br />
Gegenzug die Kontrollen an den Außengrenzen der<br />
Union nach gemeinschaftlichen Standards durchgeführt<br />
werden, weil Angehörige aus Drittstaaten nach<br />
ihrer Einreise faktisch Freizügigkeit im EU-Raum<br />
genießen.<br />
1. Entwicklung. Diese „<strong>Festung</strong> <strong>Europa</strong>“ wurde zunächst<br />
auf völkervertraglicher Ebene durch die<br />
�SchengenerAbkommeninsLebengerufenundspäter<br />
mit dem Vertrag von Amsterdam als Form der<br />
verstärkten Zusammenarbeit in die dritte Säule und<br />
damitindenrechtlichenundinstitutionellenRahmen<br />
der EU überführt. Bezüglich der Grenzkontrollen<br />
formuliert Art. 62 Nr. 1 und Nr. 2a EGV eine Handlungsermächtigung<br />
für den Rat. Mit Festlegungsbeschluss<br />
des Rates vom 20. 5. 1999 (ABl 1999 L<br />
176/17) wurden die Regelungen des Schengener<br />
Durchführungsübereinkommens (SDÜ) über<br />
GrenzkontrollenindieersteSäulederEUaufgenommen<br />
und dadurch „vergemeinschaftet“. Sie werden<br />
nunmehr als Gemeinschaftsrecht angewandt, solange<br />
keine neuen Vorschriften durch die Gemeinschaft<br />
erlassen werden.<br />
2. Teilnehmer. Der Kreis der Teilnehmer am „Schengen-System“<br />
ist nicht mit dem Kreis der Mitgliedstaaten<br />
der EU identisch; die Ausnahmen sind in den<br />
EUV-Protokollen 3, 4 und 5 zum Amsterdamer Vertrag<br />
geregelt. Das Vereinigte Königreich und Irland<br />
sind an der Zusammenarbeit nicht beteiligt, haben<br />
aber eine Eintrittsoption. Dänemark ist nur im Rahmen<br />
der dritten Säule beteiligt. Island und Norwegen<br />
werden als Teilnehmer der nordischen Passunion assoziiert.<br />
Die Beitrittsländer haben den Schengen-<br />
Besitzstand vollständig zum 1. 5. 2004 übernommen,<br />
auch wenn nicht alle Vorschriften sofort angewandt<br />
werden (Art. 3 der Beitrittsakte). Denn die<br />
Kontrollen an den Binnengrenzen können nur dann<br />
vollständig abgebaut werden, wenn effiziente Außenkontrollen<br />
gewährleistet sind. Daher beschließt<br />
der Rat über die Anwendung des Schengener Besitzstands<br />
für jedes Beitrittsland gesondert, wenn die<br />
Voraussetzungen erfüllt sind.<br />
415
Grenzpolizei<br />
3. Funktionsweise. Im Anwendungsbereich des<br />
Schengen-Systems entfallen die Binnengrenzkontrollen,<br />
wobei den Mitgliedstaaten Ausnahmen aus<br />
Gründen der öffentlichen Ordnung oder der nationalen<br />
Sicherheit – wie anlässlich der Fußball-<strong>Europa</strong>meisterschaft<br />
in Portugal – gestattet sind (Art. 2<br />
SDÜ). Binnengrenzen sind die gemeinsamen Landgrenzen<br />
der Vertragsparteien, die Flughäfen und<br />
Seehäfen für den innergemeinschaftlichen Verkehr<br />
von und nach dem Gebiet der Mitgliedstaaten (Art. 1<br />
SDÜ). Die Grenzen zum Vereinigten Königreich<br />
und zu Irland gelten als Außengrenzen; die Grenzkontrollen<br />
heben die grundsätzliche Freizügigkeit<br />
von EU-Bürgern nicht auf.<br />
An den Außengrenzen finden verstärkte Kontrollen<br />
durchdiezuständigennationalenBehördennacheinheitlichen<br />
gemeinschaftsrechtlichen Grundsätzen<br />
statt (Art. 3–8SDÜ). Der Grenzübertritt ist nur an<br />
bestimmten Grenzübertrittsstellen und zu bestimmten<br />
Öffnungszeiten gestattet. Während EU-Bürger<br />
nur einer Identitätskontrolle unterzogen werden,<br />
umfasst die Kontrolle von Drittstaatsangehörigen<br />
die Überprüfung der üblichen Grenzübertrittspapiere;<br />
zusätzlich werden die Voraussetzungen für die<br />
Einreise, den Aufenthalt, die Arbeitsaufnahme und<br />
die Ausreise geprüft und eine fahndungstechnische<br />
Kontrolle durchgeführt.<br />
Die Mitgliedstaaten können laut EG-Protokoll Nr.<br />
31 zum Vertrag von Amsterdam bilaterale Grenzverkehrsverträge<br />
mit Drittstaaten abschließen und eine<br />
abweichende Praxis bezüglich der Grenzkontrollen<br />
vereinbaren. J. I.<br />
Literatur:<br />
Bergmann, J.: Art. 61 – 69 EGV. In: Lenz, C. O./Borchardt,<br />
K.-D. (Hg), EU- und EG-Vertrag. Kommentar. Köln 2003 3<br />
Geiger, R.: EUV/EGV, Art. 61 – 69 EGV. München 2004<br />
Weiß, W.: Art 61 – 64. In: Streinz, R. (Hg.), EUV/EGV.<br />
München 2003<br />
Grenzpolizei, europäische �Raum der Freiheit, der<br />
Sicherheit und des Rechts<br />
Grenzüberschreitende Strafsachen �Polizeiliche<br />
und justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen<br />
(PJZS)<br />
Grenzüberschreitendes Umgangsrecht �Zivilrecht<br />
GRID ist eine der geplanten Maßnahmen zur Reali-<br />
416<br />
sierung des Europäischen Forschungsraums. Es handelt<br />
sich um den Aufbau eines transeuropäischen<br />
Hochleistungs-Datennetzes für die wissenschaftliche<br />
Kommunikation auf Basis des Grid-Computing.<br />
Darunter ist die Vernetzung vieler Computer zur Erhöhung<br />
der Rechenleistung zu verstehen (engl. grid<br />
= Gitter, Netz).<br />
Grün- und Weißbücher. Grünbücher sind von der<br />
Kommission veröffentlichte Mitteilungen, die zur<br />
Diskussion über einen bestimmten Politikbereich<br />
dienen. Sie richten sich an die Öffentlichkeit, vor allem<br />
an interessierte Dritte, Organisationen und Einzelpersonen,<br />
die dadurch die Möglichkeit erhalten,<br />
an der jeweiligen Konsultation und Beratung teilzunehmen.<br />
In bestimmten Fällen ergeben sich daraus<br />
gesetzgeberische Maßnahmen.<br />
Weißbücher enthalten Vorschläge für ein Tätigwerden<br />
der Gemeinschaft in einem bestimmten Bereich.<br />
Sie folgen zuweilen auf Grünbücher, wenn deren<br />
Konsultationsprozess auf europäischer Ebene zu einem<br />
positiven Ergebnis geführt hat. Während in<br />
Grünbüchern eine breite Palette an Ideen präsentiert<br />
und zur öffentlichen Diskussion gestellt wird, enthalten<br />
Weißbücher bereits förmliche Vorschläge für<br />
bestimmte Politikbereiche und dienen dazu, die beratenden<br />
Einrichtungen der EU sowie die nationalen<br />
Parlamente und Interessenverbände frühzeitig über<br />
Vorhaben zu informieren und deren Stellungnahmen<br />
zu erfahren.<br />
Internet:<br />
Eine Liste aller seit 1984 erschienenen Grünbücher ist<br />
abrufbar unter<br />
http://europa.eu.int/comm/off/green/index_de.htm<br />
Eine Liste aller seit 1985 erschienene Weißbücher ist abrufbar<br />
unter http://europa.eu.int/comm/off/white/index_de.htm<br />
Grundrechtecharta der Europäischen Union<br />
1. Entstehung der Charta: Erstmals erhielt die Europäische<br />
Gemeinschaft mit der Präambel der �Einheitlichen<br />
Europäischen Akte eine Aussage zu den<br />
�Grund- und Menschenrechten, welche durch die<br />
Verträge von Maastricht und Amsterdam in Art. 6<br />
EUV ausgebaut wurde. Weitere grundrechtliche Garantien<br />
wurden in Art. 12 u. 13 (�Diskriminierungsverbote)<br />
sowie Art. 136 EGV (Verweis auf die Europäische<br />
Sozialcharta und die Gemeinschaftscharta<br />
der sozialen Grundrechte) aufgenommen. Schließlich<br />
gab es seit der Erklärung der Menschenrechte<br />
und Grundfreiheiten des Europäischen Parlaments
vom 12. 4. 1989 einen eigenen Grundrechtekatalog<br />
der Europäischen Gemeinschaften, dem allerdings<br />
nur eine politisch-deklaratorische Bedeutung zukam.<br />
Vor dem Hintergrund der grundrechtlichen<br />
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs<br />
(EuGH), die sich an den Standards der mitgliedstaatlichen<br />
Verfassungstraditionen und der �Europäischen<br />
Menschenrechtskonvention (EMRK) orientierte,<br />
fand seit Anfang der 1990er Jahre eine Debatte<br />
über die Effektivierung des Grundrechtsschutzes in<br />
<strong>Europa</strong> statt. Dabei spielten drei Ansätze eine Rolle:<br />
(1) die Fortführung der bisherigen Lösung durch den<br />
EuGH, nach welcher die flexible Anpassung des<br />
grundrechtlichen Schutzes der Unionsbürger an<br />
neue Herausforderungen allein dem EuGH obläge,<br />
wodurch dieser allerdings auch zum Schöpfer der<br />
Grundrechte würde; (2) der Beitritt der Gemeinschaft<br />
zur EMRK, der eine Änderung der Konvention<br />
erforderte, da ihr z. Zt. nur Einzelstaaten beitreten<br />
dürfen; (3) die Kodifizierung eines eigenen Grundrechtekatalogs<br />
der EU.<br />
Der zuletzt genannte Ansatz wurde vom Europäischen<br />
Rat aufgegriffen, der am 3./4. 6. 1999 in Köln<br />
beschloss, eine Charta der Europäischen Union entwerfen<br />
zu lassen. Diese Charta wurde von einer am<br />
15./16. 10. 1999 in Tampere (Finnland) einberufenen<br />
Kommission entworfen, die sich unter ihrem<br />
Vorsitzenden Roman Herzog als „Konvent“ benannte.<br />
Dieser setzte sich aus Regierungsvertretern und<br />
Parlamentariern der Mitgliedstaaten, Mitgliedern<br />
des Europäischen Parlaments sowie Vertretern der<br />
Präsidentschaft und der Kommission zusammen; als<br />
Beobachter nahmen Vertreter des EuGH und des <strong>Europa</strong>rates<br />
an den Beratungen teil. Der Auftrag des<br />
Konvents bestand in der „Kodifizierung des sittlichen<br />
Besitzstandes“ der Union; er sollte die im<br />
Unionsvertrag, in der EMRK und in der Sozialcharta<br />
sowie in den Entscheidungen des EuGH und des Europäischen<br />
Gerichtshofes für Menschenrechte verankertenRechtekompilieren.DerKonventnahmdarüber<br />
hinaus auch Grundrechte aus den Bereichen<br />
der Bioethik und der modernen Informationstechnologien<br />
in die Charta auf. Der Entstehungsprozess der<br />
Charta wurde durch mehrere hundert Stellungnahmen<br />
gesellschaftlicher Organisationen begleitet. In<br />
zwei Sondersitzungen wurden Vertreter der Bürgergesellschaft<br />
sowie die Repräsentanten der Beitrittsländer<br />
angehört. Am 10. 10. 2000 verabschiedete der<br />
Konvent die Charta der Grundrechte der Europäi-<br />
Grundrechtecharta<br />
schen Union fast einstimmig. Sie wurde am 7. 12.<br />
2000 vom Europäischen Rat in Nizza feierlich proklamiert<br />
und vom Ratspräsidenten, dem Kommissionspräsidenten<br />
und der Parlamentspräsidentin unterzeichnet.<br />
Der Text des �Verfassungsvertrags<br />
2004 für <strong>Europa</strong> verweist in Teil I auf die Prinzipien<br />
der Menschenwürde, Menschenrechte und Grundfreiheiten<br />
und inkorporiert in Teil II die Charta der<br />
Grundrechte der Union mit kleineren Modifikationen.<br />
2. Struktur und Inhalt der Charta: Die Charta besteht<br />
aus einer Präambel sowie sieben Kapiteln (Titeln),<br />
die überschrieben sind mit (1) Würde des Menschen,<br />
(2)Freiheiten,(3)Gleichheit,(4)Solidarität,(5)Bürgerrechte,<br />
(6) Justizielle Rechte und (7) Allgemeine<br />
Bestimmungen über die Auslegung und Anwendung<br />
der Charta.<br />
In ihrem Anfang und als Grundlage der klassischen<br />
Schutz-, Abwehr- und Beteiligungsgrundrechte<br />
wird die Unantastbarkeit der Würde des Menschen<br />
betont; Art. II-61 VVE 2004 ist offenkundig Art. 1<br />
Abs. 1 GG nachgebildet. Dem ersten Kapitel sind<br />
weiterhin das Recht auf Leben, das Verbot der Todesstrafe,<br />
das Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit<br />
und die Verbote der Folter und Erniedrigung,<br />
der Sklaverei, der Zwangsarbeit und des Menschenhandels<br />
zugeordnet. In den Artikel über das<br />
Recht auf Unversehrtheit sind Bestimmungen zur<br />
Beschränkung der Biomedizin integriert; sie verbieten<br />
das reproduktive Klonen von Menschen und den<br />
gewinnorientierten Handel mit Teilen des menschlichen<br />
Körpers. Das zweite Kapitel über die Freiheitsrechte<br />
(Art. II-66 – 79 VVE 2004) garantiert insbes.<br />
den Schutz des Privatlebens, der Wohnung und der<br />
Kommunikation, die Gedanken-, Gewissens- und<br />
Religionsfreiheit, die Meinungs- und Informationsfreiheit,<br />
die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit,<br />
die Freiheit von Kunst und Wissenschaft, das<br />
Recht auf Bildung und die Berufsfreiheit, die unternehmerische<br />
Freiheit und das Eigentumsrecht sowie<br />
das Asylrecht und das Verbot der Abschiebung oder<br />
AuslieferunginStaaten,wodasRisikoderFolterund<br />
der Todesstrafe besteht. Zu den innovatorischen Bestimmungen<br />
gehören der ausdrückliche Schutz des<br />
geistigen Eigentums, der Schutz von personenbezogenen<br />
Daten und das Recht auf Auskunft über die eigenen<br />
Daten. Das dritte Kapitel (Art. II-80 – 86 VVE<br />
2004) bestimmt den Grundsatz der Gleichheit vor<br />
dem Gesetz und der Gleichheit von Männern und<br />
417
Grundrechtecharta<br />
Frauen; er verbietet jegliche Form der Diskriminierung.<br />
Weitere Bestimmungen dienen dem Schutz der<br />
Rechte der Kinder, älterer Menschen und BehindertersowiederAchtungderVielfaltderKulturen,Religionen<br />
und Sprachen. Kapitel vier (Art. II-87 – 98<br />
VVE 2004) enthält soziale Grundrechte für die Bereiche<br />
Arbeit, Beruf, Familie, Gesundheit, soziale<br />
Sicherheit sowie Umwelt- und Verbraucherschutz.<br />
Das Kapitel über die Rechte der Unionsbürger (Art.<br />
II-99 – 106 VVE 2004) garantiert das aktive und passive<br />
Wahlrecht bei den <strong>Europa</strong>- und Kommunalwahlen,<br />
Rechte gegenüber der öffentlichen Verwaltung<br />
(z. B. Anhörung, Begründung von Entscheidungen,<br />
Staatshaftung),dasRechtaufZugangzudenUnionsdokumenten,<br />
das Petitionsrecht, die Aufenthaltsfreiheit<br />
und Freizügigkeit sowie das Recht auf diplomatischen<br />
Schutz in Drittstaaten. Das sechste Kapitel<br />
gewährleistet den heute üblichen Standard an Justizgrundrechten<br />
wie das Doppelstrafverbot, die Unschuldsvermutung,<br />
die Verteidigungsrechte sowie<br />
die strafrechtlichen Grundsätze der Gesetzmäßigkeit<br />
und Verhältnismäßigkeit. Das abschließende<br />
siebente Kapitel enthält für die Europäische Union<br />
als Gemeinschaft von Staaten wichtige Bestimmungen<br />
über die Auslegung und Anwendung der Grundrechtecharta.<br />
3.RechtlicheVerbindlichkeitderCharta:DieCharta<br />
der Grundrechte ist kein gemeinsamer Grundrechtekatalog<br />
der Union und ihrer Mitgliedstaaten. Der<br />
Versuch eines Teils der Konventsmitglieder, der<br />
Charta eine umfassende Rechtsverbindlichkeit zu<br />
verleihen, scheiterte. Die Charta gilt nach Art. II-111<br />
VVE vielmehr nur für die Organe und Institutionen<br />
der EU unter Berücksichtigung des �Subsidiaritätsprinzips<br />
und für die Mitgliedstaaten nur insoweit, als<br />
diese Unionsrecht ausführen. Denn nach ihren derzeitigen<br />
rechtlichen Grundlagen besitzt die Union<br />
keine Kompetenz für einen allgemeinen Grundrechtsschutz.<br />
Solange nicht die Verfassung der<br />
Union anstelle der Verträge zur primären Rechtsgrundlage<br />
der Union wird, bestimmen ausschließlich<br />
diese die Zuständigkeiten der Union. Damit<br />
bleibt vorläufig die Bedeutung einerseits der nationalen<br />
Grundrechte und andererseits der Grundrechte<br />
der EMRK, zu deren Beachtung sich die Union wie<br />
dieeinzelnenMitgliedstaatenderEUverpflichtethaben,<br />
unbeeinträchtigt. In den vom Verfassungskonvent<br />
geänderten allgemeinen Bestimmungen im siebenten<br />
Kapitel der Charta wird ausdrücklich auf die<br />
418<br />
im Verfassungsvertrag 2004 festgelegten Grenzen<br />
der Zuständigkeiten der Union verwiesen, die auch<br />
durch die in der Charta enthaltenen Grundrechte und<br />
Grundsätze nicht ausgedehnt werden dürfen. Insofern<br />
kann man die Charta als eine identitätsstiftende,<br />
vorläufig jedoch eher politische Erklärung qualifizieren,<br />
auf die sich der EuGH in seiner Rechtsprechung<br />
nur sehr begrenzt stützen kann. Erforderlich<br />
ist die Aufnahme eines Verweises in die Verträge<br />
(vgl. Art. 6 Abs. 2 EUV), der die Union, ihre Organe<br />
und Institutionen nicht nur an die EMRK und die gemeinsamen<br />
Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten,<br />
sondern auch an die Grundrechtecharta<br />
bindet. Unter der Voraussetzung ihrer Erwähnung in<br />
Art. 6 EUV ist davon auszugehen, dass künftig die<br />
Auslegung des EU-Sekundärrechts an die Grundrechtecharta<br />
gebunden ist. Die Bedeutung der<br />
Grundrechtecharta wird schließlich auch durch den<br />
Verfassungstext selbst relativiert. Artikel I-9 des<br />
Verfassungsvertrags betont in Abs. 1 die Rechte,<br />
Freiheiten und Grundsätze der Charta und enthält zugleich<br />
in Abs. 2 das Ziel des Beitritts der Union zur<br />
EMRK. Soweit die Charta Rechte enthält, die den<br />
Garantien der EMRK trotz der darin zum Teil sehr<br />
weitreichenden Schrankenbestimmungen entsprechen,<br />
haben sie die gleiche Tragweite. Insoweit entfaltet<br />
die Charta nur dort ihre eigene Bedeutung, wo<br />
sie weitergehende Rechte enthält. Gegenüber vielen<br />
nationalen Verfassungen zeichnet sich die Grundrechtecharta<br />
durch zeitgemäße und präzise Formulierungen<br />
der grundrechtlichen Tatbestände aus; sie<br />
bleibt allerdings hinter diesen zurück, als sie nicht<br />
grundrechtsspezifisch Beschränkungsregelungen<br />
trifft, sondern nur eine undifferenzierte allgemeine<br />
Schrankenbestimmung für alle Grundrechte enthält<br />
(Art. II-112 Abs.1 VVE 2004). Es bleibt daher abzuwarten,<br />
ob und inwieweit durch einen Verweis auf<br />
die Charta im EU-Vertrag, durch die Rechtsprechung<br />
des EuGH und durch einen erfolgreichen Verfassungsratifizierungsprozess<br />
die vorläufig bestehenden<br />
Verbindlichkeitsdefizite der Grundrechtecharta<br />
abgemildert bzw. aufgehoben werden können.<br />
L. R. R.<br />
Literatur:<br />
Deutscher Bundestag (Hg.): Die Charta der Grundrechte der<br />
Europäischen Union. Opladen 2001<br />
Hummer, W.: Der Status der EU-Grundrechtecharta: Politische<br />
Erklärung oder Kern einer europäischen Verfassung?<br />
Bonn 2002
Magiera, S.: Die Bedeutung der Grundrechtecharta für die<br />
Europäische Verfassungsordnung. In: D. H. Scheuing (Hg.),<br />
Europäische Verfassungsordnung.<br />
Baden-Baden 2003, S. 117 – 132<br />
Meyer, J. (Hg.): Kommentar zur Charta der Grundrechte der<br />
Europäischen Union. Baden-Baden 2003<br />
Molthagen, J.: Das Verhältnis der EU-Grundrechte zur<br />
EMRK: Eine Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung<br />
der Charta der Grundrechte der EU.<br />
Hamburg: Diss. jur., 2003<br />
Rat der Europäischen Union (Hg.): Charta der Grundrechte<br />
der Europäischen Union. Luxemburg 2001<br />
Schmitz, T.: Die EU-Grundrechtecharta aus grundrechtsdogmatischer<br />
und grundrechtstheoretischer Sicht.<br />
In: Juristenzeitung 2001, S. 833 – 843<br />
Tettinger, P. J.: Die Charta der Grundrechte der Europäischen<br />
Union. In: Neue Juristische Wochenschrift 2001, S. 1010–1015<br />
Grund- und Menschenrechte in der Europäischen<br />
Union<br />
1. Allgemeines: Alle Mitgliedstaaten der EU sind einer<br />
demokratischen Grundordnung verpflichtet.<br />
Dieses ist zugleich primäres Kriterium für den Beitritt<br />
und die Vollmitgliedschaft neuer Staaten. Zu<br />
dieser Ordnung gehören vor allem Rechte und FreiheitenderBürgerinnenundBürger,diealsbesonders<br />
schützenswert hervorgehoben werden: die Menschenrechte<br />
und Grundfreiheiten. Auch die EU insgesamt<br />
muss an der Verwirklichung der demokratischen<br />
Grundordnung gemessen werden, d. h. an der<br />
Gewährleistung des Schutzes der Menschenrechte<br />
und Grundfreiheiten bei der Schaffung und Anwendung<br />
des Gemeinschaftsrechts.<br />
Die Mitgliedstaaten der EU haben sich im Rahmen<br />
zahlreicher internationaler Konventionen zur WahrungderMenschenrechteverpflichtet.Hierseiennur<br />
zwei hervorgehoben: Alle EU-Mitgliedstaaten sind<br />
auch Mitglieder der Vereinten Nationen, und somit<br />
gilt für sie auch die 1948 proklamierte Allgemeine<br />
Erklärung der Menschenrechte. Mit dieser Erklärung<br />
wurde erstmals der Versuch unternommen, den<br />
SchutzderindividuellenFreiheitenundGrundrechte<br />
gegenüber staatlicher Willkür als gemeinsamen<br />
Wert für eine internationale Ordnung festzulegen.<br />
In <strong>Europa</strong> wurde im Rahmen des 1948 gegründeten<br />
�<strong>Europa</strong>rats am 4. 11. 1950 die Europäische Konvention<br />
zum Schutze der Menschenrechte und<br />
Grundfreiheiten (�Europäische Menschenrechtskonvention<br />
– EMRK – genannt) unterzeichnet (1953<br />
in Kraft getreten), deren Ziel die Garantie eines Mindestschutzes<br />
der genannten Rechte in den nationalen<br />
Rechtsordnungen ist. Als großer Fortschritt gegen-<br />
Grund- und Menschenrechte<br />
über früheren Konventionen wurde dazu eine besondere<br />
Kontrollinstanz geschaffen, zunächst in Form<br />
der �Europäischen Kommission für Menschenrechteundseit1.11.1998desständigtagenden�Europäischen<br />
Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg.<br />
Weiter unterzeichneten die Mitglieder des <strong>Europa</strong>rates<br />
1961 die �Europäische Sozialcharta mit<br />
dem Ziel, die Grundlagen für die Ausübung der<br />
Grundrechte zu schaffen durch das Recht auf Arbeit,<br />
soziale Sicherheit, gerechte Entlohnung und berufliche<br />
Bildung. Alle Mitgliedstaaten der EU sind Mitglieder<br />
des <strong>Europa</strong>rats und haben in diesem Rahmen<br />
die Europäische Menschenrechtskonvention und<br />
Europäische Sozialcharta unterzeichnet und ratifiziert.<br />
2. Grundrechtsschutz: Für die Wahrung der Menschenrechte<br />
und Grundfreiheiten sind zunächst die<br />
Mitgliedstaaten zuständig. In den EU/EG-Verträgen<br />
ist deshalb derzeit kein ausdrücklicher Grundrechtskatalog<br />
enthalten und eine gerichtliche Grundrechtskontrolle<br />
der Tätigkeit der Gemeinschaftsorgane<br />
nicht ausdrücklich vorgesehen. Da aber die Gemeinschaft<br />
in bestimmten Bereichen befugt ist, unmittelbar<br />
bindendes Recht in den Mitgliedstaaten zu setzen,<br />
das entgegenstehendem nationalen Recht<br />
grundsätzlichvorgeht,stelltesichschonbalddieFrage<br />
des Grundrechtsschutzes gegenüber diesem EG-<br />
Recht und der Kontrollbefugnis nationaler Gerichte<br />
im Lichte der nationalen Grundrechtskataloge. So<br />
hielt sich das deutsche Bundesverfassungsgericht in<br />
einem Beschluss von 1974 für befugt und verpflichtet,<br />
EG-Recht auf seine Vereinbarkeit mit dem deutschen<br />
Grundgesetz zu prüfen, „solange“ ein entsprechender<br />
Grundrechtsschutz auf EG-Ebene nicht gewährleistet<br />
ist („Solange-I“-Beschluss). Auch das<br />
italienische Verfassungsgericht argumentierte in<br />
ähnlicher Weise. Damit bestand die Gefahr einer von<br />
Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlichen<br />
Anwendung der EG-Normen, was mit dem Grundsatz<br />
einer für alle EG/EU-Bürgerinnen und -Bürger<br />
gleichen Rechtsordnung nicht vereinbar gewesen<br />
wäre.<br />
Der EuGH entwickelte in der Folge eine immer umfassendere<br />
Rechtsprechung zum Grundrechtsschutz<br />
in der Gemeinschaft, angefangen 1969 mit der Feststellung,<br />
dass der Gerichtshof bei seinen Urteilen<br />
von den „gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen<br />
der Mitgliedstaaten“ auszugehen habe bis zu der<br />
Festlegung 1974, dass er „keine Maßnahmen als<br />
419
Grund- und Menschenrechte<br />
Rechtanerkennenkann,dieunvereinbarsindmitden<br />
von den Verfassungen der Mitgliedstaaten anerkannten<br />
und geschützten Grundrechten“ sowie „mit<br />
den internationalen Verträgen über den Schutz der<br />
Menschenrechte, an deren Abschluss die Mitgliedstaaten<br />
beteiligt waren oder denen sie beigetreten<br />
sind“. In einem späteren Urteil bezog sich der EuGH<br />
ausdrücklich auch auf Regelungen der Europäischen<br />
Menschenrechtskonvention. Das deutsche Bundesverfassungsgericht<br />
hat in der Folge seine „Solange“-Rechtsprechung<br />
ausdrücklich dahin modifiziert,<br />
dass es nunmehr einen ausreichenden Grundrechtsschutz<br />
auf EG/EU-Ebene als gegeben ansieht<br />
und daher EG/EU-Normen nicht mehr nach dem<br />
deutschen Grundrechtskatalog überprüft, solange<br />
hierdurch der Wesensgehalt der Grundrechte verbürgt<br />
sei („Solange-II“-Beschluss von 1986, bestätigt<br />
durch den �„Bananenmarktordnungs“-Beschluss<br />
von 2000).<br />
1977 unterzeichneten das Europäische Parlament,<br />
der Rat und die Kommission eine Gemeinsame Erklärung<br />
über die Grundrechte, mit der sie sich zur<br />
Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten<br />
verpflichten, sowie 1986 eine Gemeinsame Erklärung<br />
gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit.<br />
1979 wurden die Mitglieder des EP erstmals in allgemeiner<br />
Direktwahl gewählt, eine wesentliche Bedingung<br />
einer demokratischen Grundordnung. Am 12.<br />
4. 1989 verabschiedete das Europäische Parlament<br />
eine Erklärung der Grundrechte und Grundfreiheiten,<br />
die einen Katalog der Menschenrechte und<br />
Grundfreiheiten für alle Personen innerhalb des Geltungsbereichs<br />
des Gemeinschaftsrechts enthält.<br />
Am 22. 11. 1989 nahm das EP auf der Grundlage eines<br />
Berichts der Kommission eine Entschließung zu<br />
einerGemeinschaftschartadersozialenGrundrechte<br />
an; die (rechtlich nicht verbindliche) Charta wurde<br />
am 9. 12. 1989 von elf EG-Staaten angenommen (zunächst<br />
ohne Großbritannien). Die Umsetzung dieser<br />
Charta war Gegenstand eines Aktionsprogramms<br />
der Kommission, zu dem das EP in der gleichen Entschließung<br />
erhebliche Vorbehalte vor allem aufgrund<br />
des nicht zwingenden Charakters dieser Gemeinschaftscharta<br />
geäußert hat. In einem dem Maastrichter<br />
Vertrag beigefügten Protokoll zur Sozialpolitik<br />
findet sich eine Verpflichtung der elf anderen<br />
Mitgliedstaaten zur Umsetzung und Anwendung der<br />
Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte (Abkommen<br />
über die Sozialpolitik; �Sozialpolitik, �So-<br />
420<br />
zialprotokoll). 1997 übernahm auch Großbritannien<br />
die Sozialcharta. Schließlich wurde diese Charta in<br />
die Präambel des Amsterdamer Vertrages aufgenommen.<br />
Gemäß einem Beschluss des Europäischen Rates in<br />
Köln vom 3./4.12.1999 wurde von einem Konvent<br />
bis Juli 2000 eine Charta der Grundrechte der EU erarbeitetundam7.12.2000vonEP,RatundKommission<br />
feierlich verkündet. Diese Charta wurde inzwischen<br />
in den Verfassungsvertrag 2004 für <strong>Europa</strong><br />
aufgenommen (Art. I-9 und Teil II VVE).<br />
3. Vertragliche Grundlagen<br />
3.1 Die Einheitliche Europäische Akte (EEA), der<br />
VertragüberdieEuropäischeUnion,derVertragvon<br />
Amsterdam: Die EEA von 1986 zur Ergänzung der<br />
Römischen Verträge weist in ihrer Präambel ausdrücklich<br />
auf die Europäische Menschenrechtskonvention<br />
sowie auf die Europäische Sozialcharta des<br />
<strong>Europa</strong>rats hin und hebt insbes. die Grundrechte<br />
Freiheit, Gleichheit und soziale Gerechtigkeit als<br />
Grundlagen der EG hervor. In der Präambel des Vertrags<br />
über die Europäische Union von 1992 wird das<br />
Bekenntnis „zu den Grundsätzen der Freiheit, der<br />
Demokratie und der Achtung der Menschenrechte<br />
und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit“<br />
bestätigt und in Art. 6 Abs. 1 EUV als Grundlage der<br />
Union normiert. Durch den Unionsvertrag werden<br />
auch noch weitere Schritte auf dem Gebiete der Menschenrechte<br />
und Grundfreiheiten gemacht, so etwa<br />
durch die Schaffung einer Unionsbürgerschaft oder<br />
die Einführung des Kommunalwahlrechts für<br />
EU-Bürger in den Mitgliedstaaten.<br />
3.2 Der EG-Vertrag: Der EGV enthält neben den zuvor<br />
genannten mehr allgemeinen Erklärungen auch<br />
bereits einige spezifische, auf die EG bezogene<br />
Grundrechte, in deren Genuss alle Staatsangehörigen<br />
der Mitgliedstaaten der EU sowie in bestimmten<br />
Fällen die Staatsangehörigen von Drittländern kommen.<br />
Im Vertrag sind verschiedene Bestimmungen<br />
normiert, die den Schutz dieser Rechte garantieren<br />
sollen, vor allem:<br />
a)VerbotjeglicherDiskriminierungausGründender<br />
Staatsangehörigkeit (Art. 12 EGV).<br />
b) Freizügigkeit der Bürger und der Arbeitnehmer<br />
(Art. 39 EGV). Sie umfasst die Abschaffung jeder<br />
auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen<br />
Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten<br />
in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung<br />
und sonstige Arbeitsbedingungen, vorbehalt-
lich der aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit<br />
und Gesundheit gerechtfertigten Beschränkungen.<br />
Verschiedene Tätigkeiten im öffentlichen<br />
Dienst der Mitgliedstaaten sind von dieser Befreiung<br />
ausgeschlossen.<br />
c) Soziale Sicherheit der Arbeitnehmer (Art. 42<br />
EGV). Durch diese Vorschriften werden folgende<br />
Bereiche erfasst: Krankheit, Invalidität, Mutterschutz,<br />
Altersrenten, Arbeitsunfälle, Berufskrankheiten,<br />
Hinterbliebenenrenten, Ansprüche der Minderjährigen<br />
und Arbeitslosengeld.<br />
d)Niederlassungsrecht(Art.43–48EGV).Aufgrund<br />
der Niederlassungsfreiheit haben die Angehörigen<br />
einesMitgliedstaatesdasRecht,imHoheitsgebieteines<br />
anderen Mitgliedstaates selbständige Erwerbstätigkeiten<br />
nach den Bestimmungen des Aufnahmestaats<br />
für dessen eigene Angehörigen auszuüben.<br />
e) Freier Dienstleistungsverkehr (Art. 49–55 EGV).<br />
Die Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates können<br />
ihre Tätigkeit vorübergehend in einem anderen Mitgliedstaat<br />
unter den gleichen Bedingungen ausüben,<br />
die dieser Staat für seine eigenen Angehörigen vorschreibt.<br />
f) Gleichheit des Arbeitsentgelts (Art. 141 EGV). Jeder<br />
Mitgliedstaat muss die Anwendung des Grundsatzes<br />
des gleichen Entgelts für Männer und Frauen<br />
bei gleicher Arbeit gewährleisten.<br />
3.3 Charta der Grundrechte der Union im Vertrag<br />
über eine Verfassung für <strong>Europa</strong>. Die von einem<br />
Konvent im Jahre 2000 erarbeitete Charta ist Teil II<br />
des Verfassungsvertrags 2004 für <strong>Europa</strong>, sie fasst in<br />
einem Dokument die vorstehenden Rechte und Entwicklungen<br />
zusammen.<br />
a. Inhalt der Charta<br />
Die betreffenden Rechte untergliedern sich in folgende<br />
drei Sektionen:<br />
– Bürgerrechte: Menschenrechte und Recht auf gerichtliches<br />
Gehör, wie sie von der vom <strong>Europa</strong>rat unterzeichneten<br />
Europäischen Menschenrechtskonvention<br />
garantiert werden;<br />
– politische Rechte, die der von den Verträgen geschaffenen<br />
europäischen Staatsbürgerschaft entsprechen;<br />
– wirtschaftliche und soziale Rechte, wie sie in der<br />
am 9. 12. 1989 auf dem Straßburger Gipfel von den<br />
Staats- und Regierungschefs der elf Mitgliedstaaten<br />
in Form einer Erklärung verabschiedeten Gemeinschaftscharta<br />
der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer<br />
enthalten sind.<br />
Grund- und Menschenrechte<br />
In der Charta sind die Rechte in sechs Kapitel untergliedert.<br />
Ein siebentes Kapitel enthält die allgemeinen<br />
Bestimmungen.<br />
Die Charta vereint also in einem Text alle Personenrechte<br />
und setzt damit den Grundsatz der Unteilbarkeit<br />
der Grundrechte um. Sie bricht dogmatisch mit<br />
der bislang in europäischen und internationalen Texten<br />
üblichen Unterscheidung zwischen Bürgerrechten<br />
und politischen Rechten einerseits und wirtschaftlichen<br />
und sozialen Rechten andererseits und<br />
führt alle Rechte ausgehend von den Grundsätzen<br />
Menschenwürde, Grundfreiheiten, Gleichheit von<br />
Personen, Solidarität, Bürgerrechte und justizielle<br />
Rechte an.<br />
Unter Wahrung des Grundsatzes der Universalität<br />
sind die in der Charta genannten Rechte jeder Person<br />
ungeachtet ihrer Nationalität oder ihres Aufenthaltsortes<br />
gegeben. Anders ist es bei den direkt mit der<br />
Unionsbürgerschaft verbundenen Rechten, die nur<br />
den Unionsbürgern zustehen (wie die Beteiligung an<br />
den Wahlen zum Europäischen Parlament oder den<br />
Kommunalwahlen) und den auf einer besonderen Eigenschaft<br />
beruhenden Rechten (Rechte von Kindern,<br />
Rechte von Arbeitnehmern z. B. auf bestimmte<br />
soziale Ansprüche).<br />
Mit der Verankerung von Rechten wie dem Schutz<br />
personenbezogener Daten oder von Rechten in Bezug<br />
auf die Bioethik will der Text Antworten auf die<br />
durch die derzeitige und künftige Entwicklung der<br />
Informationstechnologien oder der Gentechnik entstehenden<br />
Probleme geben. Er entspricht auch den<br />
heutigen legitimen Forderungen nach Transparenz<br />
und Unparteilichkeit in der Arbeit der Gemeinschaftsverwaltung,<br />
indem er das Recht auf Zugang<br />
zudenVerwaltungsdokumentenderGemeinschaftsinstitutionen<br />
oder das Recht auf eine gute Verwaltung,<br />
das die diesbezügliche Rechtsprechung des<br />
Gerichtshofs zusammenfasst, wieder aufnimmt.<br />
b) Rechtlicher Status und Tragweite der Charta<br />
Die Charta wurde im Prinzip ausgehend vom „bestehenden<br />
Recht“ erarbeitet, d. h. sie fasst die von den<br />
Gemeinschaftsverträgen anerkannten Grundrechte,<br />
die gemeinsamen Verfassungsgrundsätze der Mitgliedstaaten,<br />
die Europäische Menschenrechtskonvention<br />
sowie die Sozialcharta der EU und des <strong>Europa</strong>rates<br />
zusammen.<br />
Es ist festgelegt, dass die Charta einzig und allein die<br />
Grundrechte von Personen vor Handlungen der<br />
EU-Institutionen und der Mitgliedstaaten schützen<br />
421
Grundwerte<br />
soll,dieinAnwendungderUnionsverträgeerfolgen.<br />
Als der Gedanke der Erarbeitung einer Charta der<br />
Grundrechte entstand, wurde ihr rechtlicher Status<br />
noch nicht festgelegt. Zurzeit ist sie unverbindlich.<br />
Sie ist allerdings in den Verfassungsvertrag aufgenommen<br />
worden, so dass sie mit Inkrafttreten des<br />
Verfassungsvertrages verbindliche Rechtswirkung<br />
für die Mitgliedstaaten und die Gemeinschaftsinstitutionen<br />
erhält. Ein besonderes Problem wird dann<br />
die Abgrenzung zum Geltungsbereich der EMRK<br />
sein.<br />
4. Perspektiven und laufende Arbeiten: Bereits im<br />
Amsterdamer Vertrag war die (wenn auch noch nicht<br />
volle) Einbeziehung verschiedener Bereiche der Innen-<br />
und Justizpolitik in den Rahmen der europäischen<br />
Integration vorgesehen durch die Einfügung<br />
eines neuen Titels III a in den EGV mit Bestimmungen<br />
zur Visa-, Asyl- und Einwanderungspolitik sowie<br />
zum freien Personenverkehr. Dieses wurde im<br />
Verfassungsvertrag 2004 übernommen und weiterentwickelt.<br />
Im Bereich des Grundrechtsschutzes hat das EP stets<br />
eine besondere Rolle gespielt, z. B. durch Stellungnahmen<br />
zu den Richtlinien- bzw. Verordnungsvorschlägen<br />
der Kommission sowie durch Anfragen an<br />
den Rat und an die Kommission. Zwei Parlamentsausschüsse<br />
– der Ausschuss für bürgerliche Freiheiten,<br />
Justiz und Inneres und der Petitionsausschuss –<br />
sind für die Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen<br />
in der Gemeinschaft zuständig. Ersterer<br />
erarbeitet jährlich einen Bericht über Grundrechtsverletzungen<br />
in der EU. An Letzteren werden die von<br />
den EU-Bürgern eingereichten Petitionen (jährlich<br />
etwa 700) überwiesen. Das Petitionsrecht wurde in<br />
dem Vertrag über die Europäische Union verankert<br />
(Art. 21 und 194 EGV) und findet sich auch im Vertrag<br />
über eine Verfassung für <strong>Europa</strong>. Darüber hinaus<br />
kann sich jeder Bürger an den nach Art. 195 EGV<br />
eingesetzten �Bürgerbeauftragten wenden.<br />
Der Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten und<br />
SicherheitundseinUnterausschuss„Menschenrechte“<br />
sind für die Erörterung und Prüfung von Menschenrechtsverletzungen<br />
außerhalb des Hoheitsgebiets<br />
der Gemeinschaft zuständig. Das EP hat außerdem<br />
einen ständigen Ausschuss für die Rechte der<br />
Frau eingesetzt.<br />
Bereits 1979 hat die Kommission mit Befürwortung<br />
des EP den Beitritt der Gemeinschaft zur Europäischen<br />
Konvention zum Schutz der Menschenrechte<br />
422<br />
und Grundfreiheiten des <strong>Europa</strong>rats vorgeschlagen.<br />
Obwohl alle EG/EU-Mitgliedstaaten Unterzeichner<br />
dieser Konvention oder ihr beigetreten sind, ist es<br />
bisher aus eher technischen und formalen Gründen<br />
(wie etwa der Frage von Kompetenzabgrenzungen<br />
zwischen dem Straßburger Menschenrechtsgerichtshof<br />
und dem EuGH) u. a. noch nicht zum Beitritt<br />
gekommen. Der Verfassungsvertrag 2004 enthältnunmehrinArt.I-9dieBeitrittsabsicht.<br />
K. H. O.<br />
Grundwerte/Werte, europäische<br />
1. Quellen: Zum Bürgerrecht in <strong>Europa</strong> gehören gemeinsame<br />
Grundwerte, wie sie bspw. in Art. I-2 des<br />
�Verfassungsvertrags2004für<strong>Europa</strong>benanntsind.<br />
Für die Politik sind Grundwerte regulative Ideen im<br />
Gestalten von Institutionen und im Finden von Entscheidungen;<br />
denn jedes intentionale Handeln bedarf<br />
der Orientierung an Werten. Die Frage ist, inwieweitineinempluralverfasstenStaatensystemein<br />
Wertkonsens möglich ist. Er erhält seine materiellen<br />
Inhalte sowie seine Legitimation durch die Verfassungen<br />
und Grundsatzdokumente, ferner auf dem<br />
Wege des permanenten, wandelbaren Diskurses.<br />
Während der „Vertrag über die Gründung der Europäischen<br />
Gemeinschaft für Kohle und Stahl“<br />
(EGKS, 1951) und der „Vertrag zur Gründung der<br />
Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft“ (EWG,<br />
1957) im Wesentlichen zweckrational auf einen<br />
wirtschaftlichen Zusammenschluss westeuropäischer<br />
Staaten gerichtet waren, enthält die „Satzung<br />
des <strong>Europa</strong>rats“ (1949) Hinweise auf übernationale<br />
Momente, die geeignet sind, eine normative FunktionimZusammenhangmiteinemgemeinsameneuropäischen<br />
Wertesystem einzunehmen.<br />
2. Konstitutive Wertmerkmale: Als konstitutive<br />
Wertmerkmale werden genannt: Frieden, Gerechtigkeit,<br />
internationale Zusammenarbeit, gemeinsames<br />
Erbe, persönliche und politische Freiheit, Vorherrschaft<br />
des Rechts sowie Demokratie. Daraus lässt<br />
sich zwar kein Wertesystem deduzieren, aber die<br />
Richtung ist in wichtigen Punkten angegeben und<br />
wird z. B. in der Menschenrechts- und Kulturkonvention<br />
sowie in der Europäischen Sozialcharta des<br />
<strong>Europa</strong>rats weiter aufgefaltet. Schließlich versucht<br />
die „Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und<br />
Zusammenarbeit in <strong>Europa</strong>“ (KSZE, 1975) eine gemeinsame<br />
politisch-normative Grundlage für ganz<br />
<strong>Europa</strong> zu formulieren. Sie besteht in der souveränen<br />
Gleichheit der Staaten, der Achtung der Souveräni-
tät, der Enthaltung von Androhung oder Anwendung<br />
von Gewalt, der Unverletzlichkeit der Grenzen, der<br />
territorialen Integrität der Staaten, der friedlichen<br />
Regelung von Streitfällen, der Nichteinmischung in<br />
innere Angelegenheiten, der Achtung der Menschenrechte<br />
und Grundfreiheiten (z. B. Gedanken-,<br />
Gewissens-, Religions-, Überzeugungsfreiheit), der<br />
Gleichberechtigung und des Selbstbestimmungsrechts<br />
der Völker, der Zusammenarbeit zwischen<br />
den Staaten, der Erfüllung der völkerrechtlichen<br />
Verpflichtungen nach Treu und Glauben. Der internationalen<br />
Zusammenarbeit im Bereich der<br />
Erziehung wird eine erhebliche Bedeutung zugewiesen<br />
(Korb 3); sie wird als geeignet angesehen, zu einem<br />
besseren gegenseitigen Verständnis der Staaten<br />
untereinander beizutragen. Es wird ein Austausch<br />
von Informationen und Erfahrungen sowie eine Verbesserung<br />
der Beziehungen zwischen den Bildungseinrichtungen<br />
angeregt. Dabei sollen verstärkter<br />
Fremdsprachenunterricht und das Studium fremder<br />
Zivilisationen helfen, ferner soll ein Erfahrungsaustausch<br />
über Unterrichtsmethoden auf allen Bildungsstufen<br />
erfolgen (vgl. KSZE-„Charta für ein<br />
neues <strong>Europa</strong>“, 1990).<br />
3. Wichtige Wertgrundlagen: Einen erheblichen<br />
Fortschritt in der Herausbildung einer gemeinsamen<br />
Wertegrundlage der EG-Staaten stellt die „Erklärung<br />
der Grundrechte und Grundfreiheiten“ des EuropäischenParlaments(EP)vom12.4.1989(vgl.die<br />
Erklärung vom 5. 4. 1977) dar. Unter Berufung auf<br />
die Römischen Verträge, die Verfassungstradition<br />
der Mitgliedstaaten, die Europäische Menschenrechtskonvention,<br />
die geltenden internationalen<br />
Rechtsinstrumente und die Rechtsprechung des<br />
EuGH werden in 28 Artikeln die angestrebten Minima<br />
an gemeinsamen Werten festgelegt. Dazu gehören<br />
vor allem: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“<br />
(Art. 1); „Jeder hat das Recht auf Leben,<br />
Freiheit und Sicherheit“ (Art. 2); die Rechtsgleichheit<br />
im Geltungsbereich des Gemeinschaftsrechts:<br />
„Jede Diskriminierung zwischen den europäischen<br />
Bürgern aus Gründen der Staatsangehörigkeit ist<br />
verboten“ (Art. 3 III); Gedanken-, Gewissens-, Religions-,<br />
Meinungs- und Informationsfreiheit; Schutz<br />
der Familie; Freizügigkeit; das Recht auf Eigentum;<br />
Versammlungs-, Vereinigungs- und Berufswahlfreiheit;<br />
gerechte Arbeitsbedingungen; kollektive<br />
soziale Rechte (Verhandlungen zwischen den Sozialpartnern,StreikrechtvorbehaltlichetwaigerVer<br />
Grundwerte<br />
pflichtungen aus geltenden Gesetzen und Tarifverträgen);sozialerSchutz.„JederhatdasRechtaufBildung<br />
und Ausbildung gemäß seinen Fähigkeiten.<br />
Der Schulbesuch ist frei ...“ (Art. 16). Das Recht auf<br />
ein ordnungsgemäßes Gerichtsverfahren und einen<br />
gesetzlichen Richter, Petitionsrecht an das EP, Umwelt-<br />
und Verbraucherschutz.<br />
Die vorstehende Auflistung beinhaltet einen liberalen<br />
Grundrechtskatalog, die Festschreibung der<br />
„klassischen“ Grundrechte. Sie entsprechen darin<br />
den politischen und gesellschaftlichen Vorstellungen<br />
freiheitlich-demokratischer Rechts- und Sozialstaaten.<br />
Neu ist die grundrechtliche Sicherung des<br />
Umweltschutzes; umstritten war die Einführung sozialer<br />
Rechte (s. u.).<br />
4. Individualrechte: Grundansätze in Gestalt objektiver<br />
Normen zum Schutz des Einzelnen enthält der<br />
EG-Vertrag, und zwar<br />
– Diskriminierungsverbote (Art. 12, 34, 45, 67, 75,<br />
90),<br />
– Gebote der Gleichstellung der EG-Angehörigen<br />
im Arbeits-, Niederlassungs- und Dienstleistungsrecht<br />
(Art. 39, 43, 50),<br />
– Gebot der Lohngleichheit für Männer und Frauen<br />
(Art. 141),<br />
– Freizügigkeit der Arbeitnehmer (Art. 39 ff.), Niederlassungsfreiheit<br />
(Art. 43 ff.), Freiheit des Dienstleistungsverkehrs<br />
(Art. 49 ff.), Freiheit des Kapitalverkehrs<br />
(Art. 67 ff.).<br />
5. Allgemeine Grundrechte: Allgemeine GrundrechtewerdeninderPräambelderEinheitlichenEuropäischen<br />
Akte (1986) bekräftigt, in der die Staats- und<br />
Regierungschefs erklären, dass sie „entschlossen<br />
(sind), gemeinsam für die Demokratie einzutreten,<br />
wobei sie sich auf die in den Verfassungen und Gesetzen<br />
der Mitgliedstaaten, in der Europäischen<br />
Konvention zum Schutze der Menschenrechte und<br />
Grundfreiheiten und der Europäischen Sozialcharta<br />
anerkannten Grundrechte, insbes. Freiheit, Gleichheit<br />
und soziale Gerechtigkeit, stützen“.<br />
Eine zunehmend existentielle Rolle für die europäischen<br />
Arbeitnehmer spielt die Erhaltung und Erweiterung<br />
sozialer Werte in Gestalt sozialer Grundrechte.<br />
Das Europäische Parlament hat in seiner „EntschließungzursozialenDimensiondesBinnenmarktes“<br />
vom 15. 3. 1989 „soziale Grundrechte“ formuliert,<br />
die „allen Arbeitnehmern ungeachtet ihres Arbeitsverhältnisses<br />
und der Art des Unternehmens<br />
einzuräumen sind:<br />
423
GSM<br />
– das Recht auf Chancengleichheit, auf gleichen<br />
Lohn für gleiche Arbeit ohne Diskriminierung<br />
aufgrund des Geschlechts,<br />
– das Recht auf Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz,<br />
– der Kinder- und Jugendschutz,<br />
– die Koalitionsfreiheit und das Streikrecht,<br />
– das Recht auf Unterrichtung, Anhörung und Beteiligung<br />
der Arbeitnehmer,<br />
– das Recht auf Tarifverhandlungsfreiheit,<br />
– das Recht auf eine berufliche Grundausbildung<br />
und auf Weiterbildung sowie auf Berufsberatung,<br />
– das Recht auf sozialen Schutz und eine Altersrente,<br />
– das Recht auf angemessenen Lohn und finanzielle<br />
Unterstützung für die Arbeitnehmer, die vom<br />
Arbeitsmarkt unverschuldet ausgeschlossen sind,<br />
– das Recht, den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften<br />
anzurufen,<br />
– das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte<br />
innerhalb der Gemeinschaft frei zu wählen.<br />
(Dok.A2–399/88)<br />
Daraufhin hat die Kommission im September 1989<br />
eine (rechtlich unverbindliche) Sozialcharta verabschiedet,dieimDezember1989als„Gemeinschaftscharta<br />
der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer“<br />
gegen das Votum Großbritanniens (1997 korrigiert)<br />
vom Europäischen Rat übernommen wurde, und im<br />
November desselben Jahres ein sozialpolitisches<br />
Aktionsprogramm(Dok.KOM1989/568endg.)vorgelegt.<br />
�Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte,�Sozialpolitik<br />
W. M.<br />
Literatur:<br />
Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): Grundwerte der<br />
Demokratie im internationalen Vergleich. Bonn 1994<br />
Rengeling, H.-W.: Grundrechtsschutz in der EG.<br />
München 1992<br />
GSM �UMTS<br />
GUS (Gemeinschaft Unabhängiger Staaten). LockereGemeinschaftaus12Staaten,nachdemZerfallder<br />
Sowjetunion gegründet am 8. 12. 1991 durch das Abkommen<br />
von Minsk zwischen Russland, der Ukraine<br />
undWeißrussland.Am23.12.1991tratenmitderErklärung<br />
von Alma Ata acht weitere Staaten bei (Armenien,<br />
Aserbaidschan, Kasachstan, Kirgisistan,<br />
Moldawien, Tadschikistan, Turkmenistan, Usbekistan).<br />
Georgien ist 1993 beigetreten. Ihrer „Erklärung<br />
zur Entwicklung von Zusammenarbeit und vertrau-<br />
424<br />
ensbildenden Maßnahmen“ entsprechend werden<br />
die Beziehungen auf der Grundlage von Souveränität,<br />
territorialer Integrität, Vertrauen, Offenheit und<br />
einer gegenseitigen zuträglichen Partnerschaft entwickelt.<br />
Die Zusammenarbeit geschieht in den<br />
GUS-Organen Rat der Staatsoberhäupter, InterparlamentarischeVersammlungundExekutivsekretariat.<br />
Sitz der GUS ist Minsk.<br />
Ein Kooperationsvertrag zwischen den Mitgliedstaaten<br />
von 1993 sieht eine Wirtschaftsunion (mit<br />
Freihandelszone) vor. Sie ist bisher nicht zustande<br />
gekommen. Statt dessen haben einzelne Länder eine<br />
verstärkte Zusammenarbeit vereinbart, so im März<br />
1996 Russland, Weißrussland, Kasachstan und Kirgisistan<br />
als Gemeinschaft Integrierter Staaten (1999<br />
Beitritt Tadschikistans); sie vereinbarten 2000 die<br />
Bildung einer Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft.<br />
Weitere regionale Organisationen der Zusammenarbeit<br />
bildeten 1996 Aserbaidschan, Georgien,<br />
Moldawien und die Ukraine (1999 Beitritt Usbekistans)<br />
und 2002 Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan<br />
und Usbekistan.<br />
Dem Abkommen über gegenseitige Sicherheit und<br />
militärische Zusammenarbeit von 1992 zwischen<br />
Russland, Armenien, Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan<br />
und Usbekistan sind anschließend Aserbaidschan,<br />
Georgien und Weißrussland beigetreten,<br />
1999 sind Aserbaidschan, Georgien und Usbekistan<br />
wieder ausgetreten. Die übrigen GUS-Staaten unterzeichneten<br />
2003 ein Abkommen über die Gründung<br />
einesMilitärpakts. W. M.<br />
Anschrift: Kirava 17, 220000 Minsk, Belarus<br />
Internet: www.cis.minsk.by<br />
Gutachten (nach Art. 300 Abs. 6 EGV). Schließt die<br />
GemeinschaftmitDrittstaatenAbkommengem.Art.<br />
300 EGV, so können das Europäische Parlament, der<br />
Rat, die Kommission oder ein Mitgliedstaat ein Gutachten<br />
des EuGH darüber einholen, ob das Abkommen<br />
mit dem EG-Vertrag vereinbar ist. Das Gutachten<br />
ist verbindlich. Ist es ablehnend, kann das Abkommen<br />
nur nach Ratifizierung in den Mitgliedstaaten<br />
gem. Art. 48 EUV in Kraft treten.<br />
Gute Verwaltung �Kodex für gute Verwaltungspraxis<br />
GVO (Genetisch veränderte Organismen) �Bio- und<br />
Gentechnologie
Haager Gipfelkonferenz 1969 �Gipfel(konferenzen)<br />
Haager Kongress. Veranstaltung der Europäischen<br />
Bewegung in Den Haag (1948) unter Vorsitz<br />
Winston �Churchills, von dem die „Vereinigten<br />
Staaten von <strong>Europa</strong>“ gefordert wurden.<br />
ImDezember1947hattensich(über)nationaleGruppierungen<br />
der <strong>Europa</strong>bewegung (Union Europäischer<br />
Föderalisten, Europäische Liga für wirtschaftliche<br />
Zusammenarbeit, United Europe Movement,<br />
Conseil Français pour l’Europe) unter Vorsitz von<br />
Duncan �Sandys im „Joint International Committee<br />
for European Unity“ vereint, das als erste Aktion den<br />
Haager <strong>Europa</strong>-Kongress veranstaltete. Daran nahmen<br />
mehr als 700 Politiker aus westeuropäischen<br />
Ländern teil (die sozialistischen Parteien hatten eine<br />
Teilnahmeverweigert).DerKongressverabschiedete<br />
mehrere Resolutionen zur europäischen Einigung.<br />
In Paris und London wurden ständige Sekretariate<br />
eingerichtet, die an der Verwirklichung der Forderungen<br />
des Haager Kongresses mitwirkten. Der erste<br />
SchrittgelangmitderErrichtungdes�<strong>Europa</strong>rats.<br />
W. M.<br />
Haager Programm �Einwanderungspolitik der EU<br />
Ziff. 3<br />
Haftbefehl �Europäischer Haftbefehl<br />
Haftung �Amtshaftung, �Staatshaftung<br />
Hallstein, Walter (1901 – 1982), deutscher Rechtsprofessor<br />
und Politiker, Staatssekretär im Bundeskanzleramt<br />
(1950 – 1951) und im Auswärtigen Amt<br />
(1951 – 1957).VertratinderDeutschlandpolitikden<br />
völkerrechtlichen Alleinvertretungsanspruch der<br />
Bundesrepublik Deutschland (Hallstein-Doktrin).<br />
Er wurde 1951 von Adenauer als Verhandlungsführer<br />
der deutschen Delegation bei den Beratungen<br />
über den Schumanplan (Vorbereitung der EGKS)<br />
beauftragt. 1958 – 1967 erster Präsident der EWG-<br />
Kommission, 1968 – 1974 Präsident der �Europäischen<br />
Bewegung.<br />
H<br />
Harmonisierter Verbraucherpreisindex<br />
Handelsabkommen �Abkommen<br />
Handelspolitik, gemeinsame �Außenhandelspolitik<br />
Hänsch, Klaus (geb. 1938), deutscher Politiker, seit<br />
1979 Mitglied des Europäischen Parlaments (Fraktion<br />
der Sozialdemokratischen Partei <strong>Europa</strong>s); 1994<br />
– 1997 Präsident des Parlaments, 2002 – 2003 Mitglied<br />
im Präsidium des „Konvents zur Zukunft <strong>Europa</strong>s“<br />
(Verfassungskonvent).<br />
Harmonisierung.AbstimmungderPolitikeninnerhalb<br />
der Europäischen Union, insbes. von wirtschaftspolitischen<br />
Maßnahmen, Rechts- und Verwaltungsvorschriften<br />
(z. B. Steuern) mit dem Ziel,<br />
eine gemeinsame Entwicklung zu gewährleisten und<br />
Störungen im Binnenmarkt zu vermeiden. Sie unterliegt<br />
der Gestaltungsfreiheit der Mitgliedstaaten und<br />
greiftwenigertiefinderennationaleRegelungenund<br />
Verhältnisse ein als vertraglich festgelegte Vereinheitlichungen.<br />
Harmonisierter Verbraucherpreisindex (HVPI).<br />
DasProtokollNr.12(EGV)überdieKonvergenzkriterien<br />
nach Art. 121 EGV verlangt die Messung der<br />
Inflation anhand des Verbraucherpreisindexes auf<br />
vergleichbarer Grundlage unter Berücksichtigung<br />
der unterschiedlichen Definitionen in den einzelnen<br />
Mitgliedstaaten (Art. 1 des Protokolls). Um die Veränderungen<br />
der Lebenshaltungskosten in den<br />
EU-Staaten einheitlich erfassen zu können, wird seit<br />
1997 ein Harmonisierter Verbraucherpreisindex<br />
(HVPI) verwendet. Ihm liegt ein vereinheitlichter<br />
Warenkorb zugrunde, damit nationale Besonderheitenweitgehendausgeschaltetwerdenundeinegrößtmögliche<br />
Vergleichbarkeit der Werte erreicht wird.<br />
Die Statistischen Ämter der Mitgliedstaaten ermitteln<br />
den HVPI für ihr Gebiet monatlich und liefern<br />
die Daten an �eurostat, das daraus die Vergleichstabelle<br />
der EU-Staaten erstellt und den Durchschnittwert<br />
der Inflationsrate errechnet. Dieser ist wichtigster<br />
Indikator der Inflation für geldpolitische Entscheidungen<br />
des �ESZB.<br />
425
Haushalt<br />
Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt<br />
(HABM), durch Rechtsakt der EG errichtete öffentlich-rechtliche<br />
europäische Einrichtung mit eigener<br />
Rechtspersönlichkeit und eigenem Haushalt<br />
(�Agenturen). Es ist zuständig für die Eintragung<br />
von �Geschmacksmustern, Marken und Modellen,<br />
die EU-weit gültig sind sowie für die Verwaltung der<br />
entsprechenden Rechte. Grundlagen der Tätigkeit<br />
sind die Verordnungen 40/94 des Rates über Gemeinschaftsmarken<br />
(ABl. L 245/1994) und 6/2002<br />
über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster (ABl. L<br />
3/2002) sowie die entsprechenden Durchführungsverordnungen<br />
der Kommission und die Verordnungen<br />
der Kommission über die zu entrichtenden Gebühren.<br />
Das HABM wurde 1995 gegründet zur Förderung<br />
und Verwaltung des gemeinschaftlichen Markensystems,<br />
seit 6. 3. 2002 ist es auch zuständig für die<br />
Eintragung von Gemeinschaftsgeschmacksmustern<br />
und die Verwaltung der Schutzrechte. Das Amt verwaltete<br />
Ende 2004 rd. 411 000 angemeldete Gemeinschaftsmarken<br />
und 23 270 angemeldete Gemeinschaftsgeschmacksmuster.<br />
Da die EG dem Protokoll von 1989 zum Madrider<br />
Markenabkommen von 1891 beigetreten ist, ist das<br />
HABMseit1.10.2004außerdemzuständigfürinternationale<br />
Marken, die eine Schutzausdehnung auf<br />
den Bereich des Binnenmarktes anmelden.<br />
Anschrift: HABM, Avenida de <strong>Europa</strong> 4, E–03008 Alicante.<br />
Internet: www.oami.eu.int<br />
Haushalt der Europäischen Union<br />
1. Haushaltsgrundsätze: Alle Einnahmen und Ausgaben<br />
der Union werden für jedes Haushaltsjahr veranschlagt<br />
und in den Haushaltsplan eingesetzt. Der<br />
Haushaltsplan ist in Einnahmen und Ausgaben auszugleichen.<br />
Der Haushaltsplan wird entsprechend<br />
demGrundsatzderWirtschaftlichkeitderHaushaltsführung<br />
ausgeführt.<br />
Entsprechend Art. 272 EGV (Art. III-404 VVE<br />
2004) erlassen das EP und der Ministerrat auf Vorschlag<br />
der Kommission gemäß dem regulierten<br />
Haushaltsverfahren den Haushaltsplan (nach Inkrafttreten<br />
des �Verfassungsvertrags das Europäische<br />
Gesetz zur Feststellung des jährlichen Haushaltsplanes<br />
der Union).<br />
Die Union unterscheidet im Bereich der Ausgaben<br />
zwischen Verpflichtungsermächtigungen und Zahlungsermächtigungen.<br />
Zahlungsermächtigungen<br />
sind die Ausgabenbeträge, die aufgrund der Ver-<br />
426<br />
pflichtungsermächtigungen aus dem gleichen Jahr<br />
oder aus früheren Jahren tatsächlich ausgegeben<br />
werden. Die Verpflichtungsermächtigungen geben<br />
Auskunft über die sich auf mehrere Jahre erstreckenden<br />
Zahlungsverpflichtungen.<br />
2. Finanzielle Vorausschau: Der jährliche Haushalt<br />
ist eingebettet in eine �Finanzielle Vorausschau, die<br />
sich über sieben Jahre erstreckt. 1988 wurde während<br />
einer Finanzkrise der EG unter deutscher Präsidentschaft<br />
das Instrumentarium der Finanziellen<br />
Vorausschau entwickelt. Die Regierungen der Mitgliedstaaten<br />
beschließen auf Vorschlag der Kommission<br />
einstimmig, was der EU an Eigenmitteln zusteht.<br />
Für die Zeit von 2000 bis 2006 galt der Beschluss<br />
des Europäischen Rates in Berlin von 1999.<br />
Die Eigenmittelobergrenze wurde auf 1,27 % des<br />
BIP bzw. 1,24 % des BNE aller Mitgliedstaaten festgelegt<br />
(�Finanzielle Vorausschau). Neben der Finanziellen<br />
Vorausschau umfasste die �Agenda 2000<br />
die Strategien zur Erweiterung der Union sowie die<br />
Reform der �Gemeinsamen Agrarpolitik und der<br />
EU-�Strukturfonds.<br />
3. Haushaltsstruktur<br />
3.1 Einnahmen der EU: Die politische Handlungsfähigkeit<br />
der Union ist an ihr Finanzsystem gekoppelt.<br />
Bis 1970 wurde der Haushaltsplan der Gemeinschaft<br />
aus Beiträgen der Mitgliedstaaten finanziert (�Finanzbeiträge).<br />
Nach der Vollendung der �Zollunion<br />
(1970) wurde die Finanzierung der EG stufenweise<br />
auf �Eigenmittel umgestellt. Grundlage ist der Beschluss<br />
des Rates über die Ersetzung der FinanzbeiträgederMitgliedstaatendurcheigeneMittelderGemeinschaften,deram7.1.1971inKrafttrat.Ineinem<br />
mehrstufigen Plan wurde die Finanzierung der EG<br />
aus Eigenmitteln bis zum 1. 1. 1980 vollzogen. In der<br />
Folge wurde das Eigenmittelsystem erheblich weiterentwickelt.<br />
Der Haushalt der Union wird unbeschadet<br />
der sonstigen Einnahmen vollständig aus Eigenmittelnfinanziert(Art.269EGVbzw.I-54VVE).<br />
Zu den Eigenmitteln zählen:<br />
– Traditionelle Eigenmittel (TEM): Alle Zölle und<br />
Abgaben, die bei der Einfuhr von Gütern aus Drittländern<br />
erhoben werden (z. B. �Abschöpfungen bei<br />
Agrarprodukten); ferner eine festgesetzte Abgabe<br />
für Zucker und Isoglukose, die in der Union hergestellt<br />
werden.<br />
– Mehrwertsteuereinnahmen (bis zu 1,0 % des Steueraufkommens<br />
der EU-Staaten) nach einer einheitlichen<br />
Bemessungsgrundlage.
– Ein Anteil am BIP bzw. BNE der Mitgliedstaaten<br />
(max. 1,27 % des BIP, 1,24 % des BNE).<br />
Die TEM verlieren durch die Agrarreform und die<br />
Handelsliberalisierungen bei den Zöllen im Rahmen<br />
der Welthandelsorganisation (�WTO) immer mehr<br />
an Bedeutung. Ihr Anteil sinkt kontinuierlich; er betrug<br />
1988 noch 29,1 % und nähert sich gegenwärtig<br />
der 10-Prozent-Marke an (vgl. Tab. S. 170).<br />
Rückläufig sind auch die Mehrwertsteuer-Eigenmittel<br />
(1988 60 %; 2004 rd. 39 %, 2005 rd. 15 %).<br />
Dementsprechend ist der Anteil am BIP der Mitgliedstaaten<br />
gestiegen (1988 10,9 %; 2004 rd. 50 %,<br />
2005rd.73%).DierückläufigeEntwicklungdesAnteils<br />
der Mehrwertsteuer-Eigenmittel ist Folge der<br />
Begrenzung der Bemessungsgrundlage der Mitgliedstaaten<br />
auf 50 % ihres BIP (Kappungssatz von<br />
50 %).<br />
ZusätzlichzudenEigenmittelnfließendemHaushalt<br />
noch sonstige Einnahmen zu. Es sind dies Geldbußen,<br />
Einnahmen aus der Verwaltungstätigkeit der<br />
Union, Beiträge im Rahmen des EWR, Verzugszinsen<br />
und Erträge aus der Steuer auf die Gehälter des<br />
Personals der Unionsorgane. Diese Einnahmen belaufen<br />
sich unter 1 % aller verfügbaren Haushaltsmittel.<br />
Im Gegensatz zu den Mitgliedstaaten besitzt die<br />
Union nicht die Möglichkeit der Kreditfinanzierung.<br />
DieObergrenzefürdieEigenmittelderUnionwirdin<br />
einem Europäischen Gesetz des Ministerrates festgelegt.<br />
Der Ministerrat beschließt einstimmig nach<br />
Anhörung des EP. Das Gesetz tritt erst dann in Kraft,<br />
wenn es von den Parlamenten der Mitgliedstaaten ratifiziert<br />
wurde (Art. 269 EGV bzw. Art. I-54 VVE<br />
2004). Neue Aufgaben der EU, die mit Ausgaben<br />
verbunden sind, können daher nur im Rahmen der<br />
von den EU-Staaten gebilligten Eigenmittel oder<br />
durch Einsparungen bei anderen Haushaltsstellen<br />
(Umschichtungen) bewerkstelligt werden.<br />
Die Eigenmittel der EU werden von den MitgliedstaatenerhobenundandieEUabgeführt.DieEUverfügtdanebenunmittelbarüberkleineEinnahmequellen<br />
wie Steuereinnahmen aus den EU-Beamtengehältern<br />
oder Einnahmen aus EU-Leistungen.<br />
3.2AusgabenderEU:DerHaushaltunterscheidetim<br />
Bereich der Ausgaben Verpflichtungsermächtigungen<br />
von Zahlungsermächtigungen. Zahlungsermächtigungen<br />
sind unmittelbar kassenwirksam<br />
(2005 = 106,3 Mrd. Euro). Es sind die Beträge, die<br />
aufgrund der Verpflichtungsermächtigungen (2005:<br />
Haushalt<br />
116,6 Mrd. Euro) im Haushaltsjahr tatsächlich ausgegeben<br />
werden können. Die Summe der VerpflichtungsermächtigungengibtAuskunftüberdiesichauf<br />
mehrere Jahre erstreckenden Zahlungsverpflichtungen.<br />
Die Ausgabenstruktur des Haushalts beinhaltet<br />
– Verwaltungsausgaben der EU (Institutionen),<br />
– operationelle Ausgaben (Landwirtschaft und<br />
Strukturfonds),<br />
– interne und externe Politikbereiche und<br />
– die Finanzreserve.<br />
Die Ausgaben im Haushalt sind ein Spiegelbild der<br />
Zuständigkeitsbereiche der Union.<br />
Es dominieren die Kosten der Landwirtschaft mit<br />
46,2 % (49,1 Mrd. Euro). Darin sind strukturfördernde<br />
Ausgaben für den ländlichen Raum in Höhe von<br />
10,8 Mrd. Euro enthalten. Die Abteilung Garantie<br />
des EAGFL umfasst also 38,3 Mrd. Euro (36,1 %).<br />
Für Strukturmaßnahmen stehen 32,4 Mrd. Euro<br />
(30,5 %) zur Verfügung, zusammen mit den Mitteln<br />
aus der Abteilung Ausgleich des EAGFL 43,2 Mrd.<br />
Euro(40,6%).DieinternenPolitikbereichehabeneinen<br />
Anteil von 7,9 Mrd. Euro (7,5 %) am Budget. Für<br />
die Außenbeziehungen stehen 5,5 Mrd. Euro (5,2 %)<br />
zur Verfügung.<br />
Die Verwaltungsausgaben betragen etwa 6%und<br />
liegen damit bei internationalen Vergleichen im Mittelfeld.<br />
Die Reserven betragen 0,5 %.<br />
Das Ausgabevolumen (Zahlungsermächtigungen)<br />
beträgt für das Haushaltsjahr 2005 mit 106,3 Mrd.<br />
Euro 0,99 % des BNE der EU-25.<br />
3.3 Haushaltsvollzug und Haushaltskontrolle: Die<br />
Kommission führt den Haushaltsplan zusammen mit<br />
den Mitgliedstaaten in eigener Verantwortung und<br />
im Rahmen der zugewiesenen Mittel entsprechend<br />
demGrundsatzderWirtschaftlichkeitderHaushaltsführung<br />
aus.<br />
Kontrollierende Instanz ist der Europäische Rechnungshof.SeineHauptaufgabebestehtdarin,dieeinwandfreie<br />
Ausführung des Haushaltsplanes – also<br />
die Recht- und Ordnungsmäßigkeit ihrer Einnahmen<br />
und Ausgaben – zu kontrollieren und die Wirtschaftlichkeit<br />
der Haushaltsführung zu gewährleisten.<br />
Die Kommission legt dem EP und dem Ministerrat<br />
die Jahresrechnung des abgelaufenen Haushaltsjahres<br />
vor. Auf Empfehlung des Ministerrates erteilt das<br />
EP der Kommission Entlastung zur Ausführung des<br />
Haushaltsplanes. Zur Prüfung wird der Jahresbericht<br />
des Rechnungshofs berücksichtigt.<br />
427
Haushalt<br />
Entsprechend Art. 280 EGV (Art. III-415 VVE<br />
2004) bekämpfen die Union und die Mitgliedstaaten<br />
Betrug und sonstige gegen die finanziellen Interessen<br />
der Union gerichtete rechtswidrige Handlungen.<br />
Mit dem Amt für Betrugsbekämpfung �OLAF.<br />
(Office de la Lutte Anti-Fraude) hat die Union seit<br />
1999 ein wirksames Instrument.<br />
4. Fazit: Der EU-Haushalt unterscheidet sich grundlegenddurchseineGrößenordnungundseineAusgabenstruktur<br />
von den einzelstaatlichen Haushaltsplänen.<br />
Sieht man von den Ausgabenbereichen Landwirtschaft<br />
und den externen Politikbereichen ab, erscheint<br />
der EU-Haushalt hauptsächlich als Investitionshaushalt,<br />
der zur Stärkung des Wirtschaftspotenzials<br />
der Union beiträgt. Er begleitet ihre EntwicklungunddieneuenAufgaben,diesichdarausergeben.<br />
Sein Hauptmerkmal ist daher ein ständiger<br />
(kontrollierter)Anstieg,dersichraschervollziehtals<br />
im Falle einzelstaatlicher Pläne. Dagegen darf nicht<br />
übersehen werden, dass die Übernahme neuer Aufgaben<br />
durch den EU-Haushalt die Finanzen der Mitgliedstaaten<br />
entsprechend entlastet. Bei zwei Dritteln<br />
der aus dem EU-Haushalt finanzierten Ausgaben<br />
handelt es sich um Aufgaben, die die Mitgliedstaaten<br />
bei Ausbleiben einer Unionsintervention<br />
428<br />
Gesamtausgaben<br />
Agrarpolitik ( EAGFL)<br />
Strukturpolitik<br />
Interne Politik<br />
Externe Politik<br />
Verwaltung,<br />
Sonstiges**<br />
übernehmen müssten. Die Kommission hat als Ziel<br />
bis 2013 1,14 % des BIP vorgegeben (�Finanzielle<br />
Vorausschau 2007 – 2013, Vorschläge der Kommission).<br />
Der europäische Verteilungskampf um das<br />
Geld (Höhe des Haushalts und Belastungen für die<br />
Mitgliedstaaten) ist struktureller Bestandteil der<br />
EU-Finanzverfassung. Die nationalen Ziele müssen<br />
immer wieder neu mit den Unionszielen ausbalanciert<br />
werden.<br />
Offen ausgebrochen ist der Konflikt beim gescheiterten<br />
EU-Gipfel in Brüssel im Juni 2005. Eine Einigung<br />
auf die Finanzielle Vorausschau 2007 – 2013<br />
kam nicht zustande. Konfliktlinien waren die Forderungen<br />
von Mitgliedstaaten einer Begrenzung des<br />
EU-Gesamthaushalts auf 1,00 % des BIP, der Beitragsrabatt<br />
für Großbritannien (�Ausgleichsmechanismus)<br />
und die Reduktion der landwirtschaftlichen<br />
EU-Beihilfen. Der Gipfel scheiterte am fehlenden<br />
Willen und der allzu geringen Beweglichkeit einzelner<br />
Mitgliedstaaten (insb. Frankreichs, Großbritanniens,<br />
der Niederlande, Spaniens) und zeigte die<br />
strukturellen Schwierigkeiten der EU-Mittelverteilung,<br />
die ohne ein gemeinsames Maß an Solidarität<br />
und Kompromissfähigkeit nicht zu beheben sind.<br />
(�FinanzielleVorausschau) L. U.<br />
Haushaltsausgaben der Europäischen Gemeinschaften 1960 – 2005<br />
(in Mio. RE / ERE / ECU / Euro*)<br />
1960<br />
28,3<br />
–<br />
–<br />
–<br />
–<br />
23,4<br />
4,9<br />
1970<br />
5 448,4<br />
5 228,3<br />
64,0<br />
–<br />
–<br />
114,7<br />
41,4<br />
1980<br />
16 057,1<br />
11 596,1<br />
1 253,8<br />
212,8<br />
–<br />
938,3<br />
2 056,1<br />
1990<br />
46 604,6<br />
27 233,8<br />
7 766,1<br />
1 738,7<br />
–<br />
2 298,1<br />
7 567,9<br />
2000<br />
92 915,8<br />
37 023,4<br />
39 522,9<br />
6 312,8<br />
3 612,6<br />
3 288,4<br />
1 699,4<br />
* RE (=Rechnungseinheit) bis 1970; ERE 1980; ECU 1990; Euro ab 2000<br />
** 1990 einschl. externe Politik; ab 2000 hauptsächl. Heranführungshilfe, 2005 einschl. Zahlungsausgleich<br />
Quellen: Kommission der EG, Amtsblatt der EG versch. Ausgaben, für 2005 Abl. L 60/2005<br />
in Mio. Euro*<br />
in % des Gesamthaushalts<br />
Entwicklung der Ausgaben des EAGFL, Abt. Garantie, 1975 – 2005<br />
1975<br />
4 336,4<br />
70,5<br />
1980<br />
11 485,5<br />
71,5<br />
1985<br />
19 859,0<br />
* 1975: RE; 1980: ERE; 1990 ECU; ab 2000 Euro<br />
Quelle: Kommission der EG, div. Gesamtberichte; Amtsblatt der EU, versch. Ausgaben, für 2005 Abl. L 60/2005<br />
69,8<br />
1990<br />
26 522,0<br />
56,9<br />
2000<br />
37 023,4<br />
39,8<br />
2005<br />
106 300,0<br />
38 343,4<br />
43 167,5<br />
7 923,8<br />
5 476,2<br />
6 351,2<br />
4 691,9<br />
2005<br />
38 343,4<br />
36,1
Literatur:<br />
Biehl, D./Pfennig, G. (Hg.): Zur Reform der EG-Finanzverfassung.<br />
Bonn 1990<br />
Folkers, C.: Die Funktion des Europäischen Haushaltes im<br />
Integrationsprozess. In: Eckey, H. F. u.a. (Hg.): Ordnungspolitik.<br />
Stuttgart 2001<br />
Kommission der EU (Hg.): Finanzierung der Europäischen<br />
Union. Bericht der Kommission über das Funktionieren des<br />
Eigenmittelsystems. Band I und II. KOM (2004) 505.<br />
Brüssel 2004<br />
Dies. (Hg.): Finanzielle Vorausschau 2007-2013.<br />
KOM (2004) 487. Brüssel 2004<br />
Lenzen, J.: Der EU-Haushalt. In: <strong>Europa</strong>recht 2/1996,<br />
S. 214 –224<br />
Theato, D. R./Graf, R.: Das Europäische Parlament und der<br />
Haushalt der Europäischen Gemeinschaft. Baden-Baden 1994<br />
Haushaltsdisziplin muss die Kommission gem.<br />
Art. 270 EGV wahren, indem sie im Rahmen ihres<br />
�Initiativrechts keine �Vorschläge für �Rechtsakte<br />
der Gemeinschaft vorlegt oder vorgelegte ändert<br />
oder zu verabschiedeten Rechtsakten Durchführungsmaßnahmen<br />
erlässt, deren Finanzierung aus<br />
den �Eigenmitteln der Gemeinschaft nicht gedeckt<br />
ist.<br />
Die Mitgliedstaaten müssen gem. Art. 104 EGV<br />
Haushaltsdisziplin wahren, indem sie übermäßige<br />
öffentliche Defizite vermeiden.<br />
Haushaltsordnung. Der Rat legt gem. Art. 279<br />
EGV einstimmig (ab 1. 1. 2007 mit qualifizierter<br />
Mehrheit) nach Vorschlag der Kommission und Anhörung<br />
des Parlaments die Haushaltsordnung fest.<br />
Der Rechnungshof wird zu einer Stellungnahme aufgefordert.<br />
Die Haushaltsordnung legt die Aufstellung und Ausführung<br />
des Haushaltsplans sowie die Rechnungslegung<br />
und Rechnungsprüfung im Einzelnen fest. Zurzeit<br />
gültig ist die Verordnung 1605/2002 (ABl. L<br />
248/2002).<br />
Die Haushaltsordnung legt in Teil I, Titel II die<br />
Grundsätze für den Haushalt fest (entsprechend den<br />
Artikeln des Titels II „Finanzvorschriften“ im Fünften<br />
Teil des EGV):<br />
– Grundsatz der Einheit und der Haushaltswahrheit:<br />
Der Haushaltsplan muss sämtliche Einnahmen und<br />
Ausgaben der Gemeinschaften enthalten;<br />
– Grundsatz der Jährlichkeit: Die im Haushaltsplan<br />
ausgewiesenen Mittel werden für ein Haushaltsjahr<br />
bewilligt, das am 1. Januar beginnt und am 31. Dezember<br />
endet;<br />
– Grundsatz des Haushaltsausgleichs: Der Haushalt<br />
Haushaltsverfahren<br />
ist in Einnahmen und Ausgaben auszugleichen, ein<br />
positiver oder negativer Saldo wird in den Plan des<br />
folgenden Haushaltsjahrs übertragen;<br />
– Grundsatz der Rechnungseinheit: Aufstellung,<br />
Vollzug und Rechnungslegung erfolgen in Euro;<br />
– Grundsatz der Gesamtdeckung: Alle Einnahmen<br />
gelten als Deckungsmittel für Zahlungsermächtigungen;<br />
– Grundsatz der Spezialität: Die Aufstellung der<br />
Mittel wird nach Titeln und Kapiteln sachlich gegliedert,<br />
die Kapitel können in Artikel und Posten untergliedert<br />
werden; die Organe können innerhalb ihrer<br />
Einzelpläne bis zu 10 % der Mittelansätze von Titel<br />
zu Titel verschieben;<br />
– Grundsatz der Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung:<br />
Die Mittel sind sparsam, wirtschaftlich und<br />
wirksam zu verwenden;<br />
– Grundsatz der Transparenz: Der Haushaltsplan<br />
und alle Berichtigungshaushaltspläne werden im<br />
Amtsblatt veröffentlicht.<br />
InTitelIIIderHaushaltsordnungwerdendieBestimmungen<br />
für Aufstellung und Gliederung des Haushaltsplans<br />
festgelegt.<br />
Titel IV enthält die Bestimmungen für den Haushaltsvollzug,<br />
Titel V für die öffentliche Auftragsvergabe,<br />
Titel VI über die Finanzhilfen, Titel VII über<br />
Rechnungslegung und Rechnungsführung, Titel<br />
VIII über externe Kontrolle und Entlastung.<br />
Haushaltsverfahren. Das Haushaltsverfahren ist<br />
wesentlicher Bestandteil der Finanzvorschriften der<br />
Union (Art. 272 EGV). Die Bestimmungen des<br />
EG-Vertrages finden sich modifiziert in Art. III-404<br />
des �Verfassungsvertrags 2004 wieder. Der Jahreshaushaltsplan<br />
der Union wird durch ein Verfahren<br />
festgestellt, das klar geregelt ist.<br />
1. Phasen des Haushaltsverfahrens<br />
Phase I: Das Haushaltsverfahren wird damit eröffnet,<br />
dass jedes Organ der Union vor dem 1. Juli einen<br />
Haushaltsvoranschlag für seine Ausgaben aufstellt.<br />
Die Kommission fasst diese Voranschläge in einem<br />
Entwurf für den Haushaltsplan zusammen. Sie fügt<br />
eine Stellungnahme bei, die abweichende Vorschläge<br />
enthalten kann.<br />
Die Kommission legt dem Parlament und dem Ministerrat<br />
den Entwurf (spätestens zum 1. September)<br />
vor. Der Ministerrat legt seinen Standpunkt zu dem<br />
Entwurf fest und leitet ihn spätestens am 1. Oktober<br />
dem EP zu.<br />
429
Helsinki-Prozess<br />
Phase II: Hat das EP binnen 42 Tagen nach der Übermittlung<br />
den Standpunkt des Ministerrates gebilligt<br />
oder keinen Beschluss gefasst, so gilt das Europäische<br />
Haushaltsgesetz als erlassen. Hat das EP mit der<br />
absolutenMehrheitseinerMitgliederAbänderungen<br />
vorgeschlagen, so wird die abgeänderte Fassung<br />
dem Ministerrat und der Kommission zugeleitet.<br />
Die Präsidenten des EP und des Ministerrates berufen<br />
umgehend den Vermittlungsausschuss ein. Er<br />
tritt jedoch nicht zusammen, falls der Ministerrat<br />
dem EP binnen zehn Tagen mitteilt, dass er alle seine<br />
Abänderungen billigt.<br />
Der Vermittlungsausschuss hat die Aufgabe, binnen<br />
21 Tagen nach seiner Einberufung eine Einigung<br />
über einen gemeinsamen Entwurf zu erzielen. Die<br />
Kommission nimmt an den Arbeiten des Vermittlungsausschusses<br />
teil und unterstützt das gemeinsame<br />
Wirken.<br />
Phase III: Billigt der Vermittlungsausschuss innerhalb<br />
der Frist von 21 Tagen einen gemeinsamen Entwurf,sohabenEPundMinisterratabdemTagderEinigung<br />
14 Tage Zeit, den Entwurf anzunehmen. Der<br />
Ministerrat beschließt mit qualifizierter Mehrheit,<br />
dasEPmitderMehrheitderabgegebenenStimmen.<br />
Für den Fall, dass der Vermittlungsausschuss innerhalb<br />
der 21 Tagen keinen gemeinsamen Entwurf billigt<br />
oder der Ministerrat den gemeinsamen Entwurf<br />
ablehnt, so kann das EP binnen 14 Tagen mit der<br />
Mehrheit seiner Mitglieder und mit drei Fünftel der<br />
abgegebenen Stimmen beschließen, seine Abänderungen<br />
zu bestätigen.<br />
BestätigtdasEPeineseinerAbänderungennicht,gilt<br />
der Standpunkt des Ministerrates zu dem Haushaltsposten,<br />
der abgeändert wurde, als angenommen.<br />
Lehnt das EP den gemeinsamen Entwurf mit der<br />
Mehrheit seiner Mitglieder und mit drei Fünftel der<br />
abgegebenenStimmenab,sokannesverlangen,dass<br />
ein neuer Haushaltsentwurf unterbreitet wird (Globalablehnungsverfahren).<br />
Nach Abschluss des Verfahrens<br />
stellt der Präsident des EP fest, dass das<br />
Haushaltsgesetz endgültig verabschiedet ist.<br />
2. Nothaushaltsrecht: Ist zu Beginn eines Haushaltsjahres<br />
der Haushaltsplan noch nicht verabschiedet,<br />
so greift das Nothaushaltsrecht (Art. 273 EGV bzw.<br />
Art. III-405 VVE). Nach dem System der „provisorischen<br />
Zwölftel“ können für jeden Haushaltstitel monatliche<br />
Ausgaben bis zur Höhe eines Zwölftels der<br />
im abgelaufenen Haushaltsjahr bereitgestellten Mittel<br />
vorgenommen werden.<br />
430<br />
3. Haushaltsordnung: Aufstellung und Verfahren<br />
des Haushaltplanes sowie die Rechnungslegung und<br />
Rechnungsprüfung werden in einer �Haushaltsordnung<br />
(Art. 279 EGV bzw. Art. III-412 VVE) geregelt.<br />
Bis zum Ende 2006 beschließt der Ministerrat<br />
über die Haushaltsordnung einstimmig nach Anhörung<br />
des Europäischen Rechnungshofes, ab 1. 1.<br />
2007mitqualifizierterMehrheit. L. U.<br />
Literatur:<br />
Vedder, C. (Hg.): EU-Verfassung. Baden-Baden 2005<br />
Helsinki-Prozess �Europäische Sicherheits- und<br />
Verteidigungspolitik (ESVP)<br />
Heranführungshilfen für Beitrittsländer. Dazu gehörte<br />
ab 1994 die Neuausrichtung des �PHARE-<br />
Programms auf den Beitritt (jährlich 1,5 Mrd. Euro,<br />
30 % des Finanzrahmens zur Verstärkung der KapazitätenindenBereichenVerwaltungundJustiz;70%<br />
fürInvestitionenzurÜbernahmeundUmsetzungdes<br />
�acquis communautaire). Neben dem PHARE-Programm<br />
wurden ab 2000 als weitere Finanzinstrumente<br />
eine Heranführungshilfe für die Landwirtschaft<br />
(�SAPARD) in Höhe von 520 Mio. Euro jährlichunddasstrukturpolitischeInstrumentzurVorbereitung<br />
auf den Beitritt (�ISPA) mit einem Budget in<br />
Höhe von 1 040 Mio. Euro jährlich eingerichtet. Die<br />
ISPA-Mittel wurden ähnlich eingesetzt wie in der<br />
EU die Mittel des �Kohäsionsfonds.<br />
Im Dezember 2002 einigte sich der Europäische Rat<br />
in Kopenhagen auf einen gemeinsamen FinanzrahmenfürdieErweiterunginHöhevon40,9Mrd.Euro.<br />
�Heranführungsstrategie<br />
Heranführungsstrategie. Der Europäische Rat in<br />
Essen beschloss im Dezember 1994 eine Heranführungsstrategie<br />
(„Pre-accession strategy“), welche<br />
die beitrittswilligen Staaten Mittel- und Osteuropas<br />
schrittweise „auf ihre Eingliederung in den Binnenmarkt“<br />
durch stufenweise Übernahme der Regelungen<br />
der Union vorbereiten sollte. Das 1995 vorgelegte<br />
Weißbuch „Vorbereitung der assoziierten Staaten<br />
Mittel- und Osteuropas auf die Integration in den<br />
Binnenmarkt der Union“ sollte als Leitfaden den Assoziationspartnern<br />
bei der Angleichung der Rechtsvorschriften<br />
helfen. Neben den Assoziationsabkommen<br />
(�<strong>Europa</strong>abkommen) sollte der �Strukturierte<br />
Dialog ein Kernelement der Heranführungsstrategie<br />
(�Osterweiterung Ziff. 4.1) sein.
Im Juli 1997 legte die Kommission mit der „Agenda<br />
2000“ den Vorschlag für eine intensivierte Strategie<br />
zur Vorbereitung der EU auf die Erweiterung vor.<br />
DerweitgehendunwirksamgebliebeneStrukturierte<br />
Dialog sollte durch die multilaterale �<strong>Europa</strong>konferenzersetztwerden.ImDezember1977hatderEuropäische<br />
Rat in Luxemburg beschlossen, den 10<br />
�MOE-Staaten diese verstärkte Heranführungsstrategie<br />
anzubieten, deren Schwerpunkt neben den <strong>Europa</strong>abkommen<br />
die Beitrittspartnerschaften und die<br />
Teilnahme an Programmen, Agenturen und Ausschüssen<br />
der EU waren. 1997 wurde auch eine Heranführungsstrategie<br />
für das wirtschaftlich weiter<br />
entwickelte Zypern angenommen, 1998 eine für<br />
Malta.<br />
Im Rahmen von „Twinning-Partnerschaften“ wurden<br />
Experten aus Ministerien der EU-Mitgliedstaaten,<br />
regionalen Körperschaften oder öffentlichen<br />
Agenturen in die Institutionen der Beitrittsländer<br />
entsandt, um sie bei der Übernahme des �acquis<br />
communautaire zu beraten.<br />
Die EU richtete erstmals im März 1998 eine „<strong>Europa</strong>-Konferenz“<br />
ein, bei der die Staats- und Regierungschefs<br />
der EU bzw. die Außenminister mit ihren<br />
Kollegen aus den assoziierten und an einem Beitritt<br />
interessierten Staaten einen Dialog führten. Da die<br />
Türkei sich zunächst weigerte, daran teilzunehmen,<br />
hatten auch die „<strong>Europa</strong>-Konferenzen“ nur begrenztenErfolg.FürdieTürkeiwurde1999eineHeranführungsstrategie<br />
angenommen.<br />
Nach dem Beitritt von 8 MOE-Staaten am 1. 5. 2004<br />
läuft die Heranführungsstrategie für Bulgarien und<br />
Rumänien weiter. Im Oktober 2004 hat die Kommission<br />
eine Heranführungsstrategie für Kroatien vorgelegt.<br />
�Heranführungshilfe, �Osterweiterung Ziff.<br />
4 ff.<br />
Hercule ist ein Aktionsprogramm, mit dem die EU<br />
Maßnahmen fördert, die zum Schutz ihrer finanziellen<br />
Interessen beitragen (Beschluss 804/2004 des EP<br />
unddesRats,ABl.L143/2004).Esrichtetsichvorallem<br />
an Verwaltungsbehörden, Universitäten und gemeinnützige<br />
Einrichtungen. Gefördert werden u. a.<br />
der Austausch von Fachpersonal, von wissenschaftlichen<br />
Kenntnissen, die Schulung in Seminaren, die<br />
Entwicklung spezieller EDV-Hilfsmittel. Laufzeit<br />
1. 1. 2004 bis 31. 12. 2006.<br />
Herkunftslandprinzip �Ursprungslandprinzip<br />
Hoheitsrechte<br />
Hertensteiner Programm. Am 21. 9. 1946 von Föderalisten<br />
aus ganz <strong>Europa</strong> bei einem Treffen in Hertenstein<br />
(Vierwaldstätter See) verabschiedetes<br />
12-Punkte-Programm zur Verwirklichung einer föderativ<br />
aufgebauten Europäischen Union. Die Mitgliedstaaten<br />
sollten einen Teil ihrer Souveränitätsrechte<br />
an die Föderation abtreten. Die Union sollte<br />
dieUnversehrtheitdesGebietessichernunddieVielfalt<br />
ihrer Völker bewahren. Das Hertensteiner Programm<br />
ist bis heute Grundsatzprogramm der �<strong>Europa</strong>-Union.<br />
Hippokrates war ein Aktionsprogramm im Bereich<br />
Justiz und Inneres und im Rahmen der europäischen<br />
StrategiezurKriminalprävention(BeschlussdesRates<br />
vom 28. 6. 2001, ABl. L 186/2001). Ziel war es,<br />
die Zusammenarbeit der zuständigen öffentlichen<br />
und privaten Einrichtungen durch Aus- und Fortbildung,<br />
Begegnungen und Seminare zu fördern. Laufzeit:<br />
1. 1. 2001 bis 31. 12. 2002.<br />
Hohe Behörde �Europäische Gemeinschaft für<br />
Kohle und Stahl<br />
Hoheitsgebiete, überseeische �Assoziierung<br />
Hoheitsrechte<br />
1. Grundlagen<br />
1.1 Begriff und Entwicklung: Unter Hoheitsrechten<br />
werden Rechte des Staates und anderer Gebietskörperschaften<br />
verstanden, vermöge derer ihr vorbehaltene<br />
öffentlich-rechtliche Befugnisse gegenüber der<br />
Allgemeinheit und den Bürgern (natürliche und juristische<br />
Personen) zur Wahrnehmung öffentlicher<br />
Aufgaben ausgeübt werden. Hoheitsrechte stehen<br />
der gesetzgebenden, vollziehenden und rechtsprechenden<br />
Gewalt zu.<br />
Der Begriff ist eine Schöpfung der Neuzeit. Ausgehend<br />
von Jean Bodins Theorie der Souveränität (Les<br />
Six Livres de la République, 1576) zielte die EntwicklungderStaatsgewaltaufdieAusbildungderInneren<br />
Souveränität, d. h. der Durchsetzung eines einheitlichen<br />
Staatswillens, der dem inneren Frieden<br />
und der Durchsetzung der Wohlfahrtsinteressen<br />
dient. Kennzeichnendes Merkmal der inneren Souveränität<br />
ist die Befugnis zur einseitigen Bindung<br />
des Bürgers durch den Staat, was dann der Fall ist,<br />
wenn der Souverän seinen Willen auch gegen Widerstand<br />
durchzusetzen vermag. Innere Souveränität<br />
431
Hoheitsrechte<br />
bezeichnet den Inbegriff der staatlichen Herrschaftsrechte,<br />
die Letztentscheidungsgewalt des Staates.<br />
Sie besteht vor allem in der Befugnis zum einseitigen<br />
Erlass von �Rechtsakten, die den Bürger binden.<br />
Nachdem sich die innere Souveränität voll ausgebildet<br />
hatte und die Entwicklung zu einer absoluten<br />
Macht abgeschlossen war, setzte sich die Erkenntnis<br />
durch, dass die Machtfülle des Staates beim Erlass<br />
einseitiger Rechtsakte ohne Mitwirkung und Zustimmung<br />
der Bürger die Gefahr des Missbrauchs in<br />
sich birgt. So entwickelten sich mit Demokratie-,<br />
Rechtsstaatsprinzip und der fortschreitenden Anerkennung<br />
von Grundrechten Instrumente, die die Befugnis<br />
des Staates begrenzen, kanalisieren und<br />
zweckbestimmt an Interessen der Bürger ausrichten.<br />
Zudem wird die einheitliche Staatsgewalt im Rahmen<br />
der Zuständigkeitsordnung der Verfassungsorgane<br />
wieder aufgeteilt („Gewaltenteilung, Gewaltenhemmung,<br />
System der checks and balances“). In<br />
den europäischen und angloamerikanischen Staaten<br />
ist die Ausübung von Hoheitsrechten ohne Demokratie,<br />
Rechtsstaatlichkeit und eine Bindung an<br />
Menschen- und Grundrechte nicht mehr vorstellbar.<br />
Dementsprechend ist der Europäische Gerichtshof –<br />
nach anfänglichen Unsicherheiten – in seiner Rechtsprechung<br />
der gemeineuropäischen VerfassungstraditiongefolgtundhatdieAusübungvonBefugnissen<br />
durch die Organe der Europäischen Gemeinschaften<br />
und die Anwendung des europäischen Rechts an das<br />
Rechtsprinzip und die Grundrechte gebunden. Heute<br />
nehmen auch das �Primärrecht (Art. 6, 49 EUV) und<br />
der Verfassungsvertrag 2004 (Präambel, Art. I-2,<br />
Art. I-9) auf diese gemeineuropäischen Verfassungsprinzipien<br />
und -tradition Bezug.<br />
1.2 Erscheinungsformen: Herkömmlich werden die<br />
Hoheitsrechte(namentlichimVölkerrecht)inPersonal-,<br />
Gebiets- und Organisationshoheit unterteilt.<br />
1.2.1 Personalhoheit: Die Personalhoheit bezeichnet<br />
das Recht des Staates, seine Staatsangehörigen<br />
sowohl im Inland als auch im Ausland einseitig zu<br />
berechtigen und zu verpflichten. Dazu gehören z. B.<br />
das Recht des Heimatstaates, Wehrpflichtige oder in<br />
Spannungsgebieten befindliche Bürger aus dem<br />
Ausland zurückzurufen sowie die Ausübung diplomatischen<br />
Schutzes zugunsten der Staatsangehörigen.<br />
Bei der Ausübung des Rückrufrechts und des<br />
Schutzes bedarf es freilich der Mitwirkung bzw. Billigung<br />
des Aufenthaltsstaates.<br />
Voraussetzung für die Inanspruchnahme staatsbür-<br />
432<br />
gerlicher Rechte und Anknüpfungspunkt für entsprechendePflichten,diesichausderPersonalhoheit<br />
ergeben, ist die Staatsangehörigkeit, also das rechtliche<br />
Band, das eine Person mit einem bestimmten<br />
Staat verbindet. Die mit dem Staat enger verbundenen<br />
Personen können so von den Staatsfremden<br />
(AusländernundStaatenlosen)abgegrenztwerden.<br />
1.3 Gebietshoheit: Als Gebietshoheit bezeichnet<br />
man die umfassende und ausschließliche Zuständigkeit<br />
des Staates, innerhalb der Grenzen seines Territoriums<br />
tätig zu sein und insbes. Hoheitsakte vorzunehmen.<br />
Dazu gehört das Recht, die gesamte Rechtsund<br />
Verfassungsordnung mittels Akten von Gesetzgebung,<br />
Rechtsprechung und Verwaltung auszugestalten<br />
und diese auch – wenn nötig zwangsweise –<br />
durchzusetzen. Diese Kompetenz besteht grundsätzlichgegenüberallenindemTerritoriumbefindlichen<br />
Personen – Staatsangehörigen und Ausländern – und<br />
deren Eigentum. Die Gebietshoheit kann durch völkerrechtliche<br />
Verträge oder Völkergewohnheitsrecht<br />
eingeschränkt sein.<br />
1.4 Organisationshoheit: Die Organisationshoheit<br />
umfasstinsbes.dieVerfassungsautonomie.EinStaat<br />
besitzt nur dann eine vollständige innere Souveränität,<br />
wenn er über die Organisation seines staatlichen<br />
Lebens selbst entscheiden kann. Danach ist im innerstaatlichen<br />
Bereich nur solches Recht gültig, das von<br />
dem Staat selbst erzeugt worden ist oder das er durch<br />
seine Verfassung in seinem Staat zugelassen hat.<br />
2. Hoheitsrechte und europäische Integration<br />
2. 1 „Übertragung“ von Hoheitsrechten: Das entscheidende<br />
Merkmal der europäischen Integration<br />
liegt darin, dass den ursprünglich zwischenstaatlichen,<br />
jetzt treffend als supranational bezeichneten<br />
Europäischen Integrationsformen – EG und EU –<br />
von den Mitgliedstaaten ausschließlich diesen zustehende<br />
staatliche Hoheitsrechte „übertragen“ worden<br />
sind. Der EuGH hat dies schon früh in seiner Rechtsprechung<br />
damit charakterisiert, dass „die Mitgliedstaaten<br />
den Gemeinschaften Hoheitsrechte übertragen<br />
und ihren Organen die Befugnis zu eigenständiger<br />
Rechtsetzung zugewiesen haben“ (EuGH E<br />
1964, 1254, 1259 – Costa ./. E.N.E.L.). Mit dieser<br />
Entscheidung begründete der EuGH auch die Eigenständigkeit<br />
der Gemeinschaften. Durch die Gründungsverträge<br />
haben die Mitgliedstaaten eine eigene<br />
verbindliche Rechtsordnung und damit auch autonome<br />
Rechtsquelle geschaffen. Die Eigenständigkeit<br />
des Europäischen Rechts hat zur Folge, dass es den
Staaten unmöglich ist, gegen eine von ihnen auf der<br />
Grundlage der Gegenseitigkeit angenommene<br />
Rechtsordnung nachträglich einseitige Maßnahmen<br />
ins Feld zu führen. Denn es würde eine Gefahr für die<br />
in Art. 10 Abs. 2 EGV aufgeführten Ziele bedeuten<br />
und dem Verbot des Art. 12 EGV widersprechende<br />
Diskriminierungen zur Folge haben, wenn das Gemeinschaftsrecht<br />
je nach innerstaatlicher Gesetzgebung<br />
von einem Staat zum anderen verschiedene<br />
Geltung haben könnte. Daher beansprucht das Gemeinschaftsrecht<br />
gegenüber nationalen kollidierenden<br />
Hoheitsakten Anwendungsvorrang (�Vorrangfrage<br />
<strong>Europa</strong>recht – nationales Recht). Hierin<br />
kommt auch zum Ausdruck, dass die EG/EU nicht<br />
nur nationale Hoheitsrechte – quasi als fremde Rechte<br />
– ausübt, sondern mit der Übertragung eigene, von<br />
den mitgliedstaatlichen Verfassungsordnungen unabhängige<br />
gemeinschaftsrechtliche Hoheitsrechte/<br />
-befugnisse begründet wurden ( EuGH E 1978, 629 –<br />
Simmenthal II).<br />
2.2 Beschränkte gemeinschaftsrechtliche Hoheitsbefugnisse:<br />
Allerdings erfolgte lediglich eine Übertragung<br />
von einzelnen, enumerativ in den Gründungsverträgen<br />
aufgezählten Hoheitsrechten<br />
(�„Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung“,<br />
Art. 5 Abs. 1 EGV bzw. Art. I-11 Abs. 1 VVE 2004).<br />
Diese spezifischen Hoheitsrechte werden jetzt nicht<br />
mehr von den Mitgliedstaaten allein, sondern von<br />
den europäischen Einrichtungen allein (ausschließliche<br />
�Zuständigkeit) bzw. unter Beteiligung der<br />
Mitgliedstaaten ausgeübt (konkurrierende Zuständigkeit),<br />
Art. 5 Abs. 2 EGV. Da die Integration in der<br />
Vergangenheit – naturgemäß – zunehmend zentralistische<br />
Tendenzen aufwies, wird die Kompetenzausübung<br />
der europäischen Organe seit dem Vertrag<br />
von Maastricht an das �Subsidiaritätsprinzip (Art. 5<br />
Abs. 2 EGV) und an die Grundsätze der �Verhältnismäßigkeit<br />
(Art. 5 Abs. 3 EGV) gebunden. Auch der<br />
Verfassungsvertrag 2004 ändert an dieser grundlegenden<br />
Konzeption nichts (vgl. Art. I-11 VVE).<br />
Trotz dieser Versuche, die „Regulierungswut“ europäischer<br />
Rechtsetzung einzuschränken, bleiben die<br />
wenigsten Lebensbereiche heute von europäischer<br />
Normierung unberührt.<br />
Gleichwohl kann nach überwiegender Auffassung<br />
weder gegenwärtig noch für die Zukunft nach einem<br />
etwaigen Inkrafttreten des Verfassungsvertrages<br />
von einem europäischen Staat gesprochen werden.<br />
Es bleibt in der Terminologie des Bundesverfas-<br />
Hoheitsrechte<br />
sungsgerichts bei einem Staatenverbund bzw. bei einem<br />
Verfassungsverbund (Pernice), da die Mitgliedstaaten<br />
weder der Europäischen Gemeinschaft noch<br />
der künftigen Europäischen Union die �Kompetenz-Kompetenz<br />
noch die gesamte Fülle staatlicher<br />
Regelungsmacht überantwortet haben. Die Ausarbeitung<br />
und auch die Verfahren zur Ratifikation des<br />
Verfassungsvertrages 2004 können nicht als Verfassungsgebung<br />
im staatsrechtlichen Sinn angesehen<br />
werden.<br />
2.3 Grundrechtliche Bindung gemeinschaftsrechtlicher<br />
Hoheitsrechtsausübung: Neben einer Ausrichtung<br />
der EG/EU auf Grundsätze der Rechtstaatlichkeit<br />
(etwa EuGH E 1974, 607, 620) und der Demokratie<br />
(EuGH E 1991 I-2867,2901 – Titandioxydrichtlinie)<br />
ist die Ausübung der Hoheitsgewalt durch<br />
europäische Organe an Grundrechte gebunden. Da<br />
die Gründungsverträge ursprünglich keinen Grundrechtskatalog<br />
enthielten, hat der Europäische Gerichtshof<br />
– wohl unter dem Druck der nationalen<br />
Verfassungsgerichte – Grundrechte als allgemeine<br />
Rechtsgrundsätze statuiert, die die Gemeinschaftsgewalt<br />
binden (grundlegend EuGH E 1969, 419, 425<br />
– Stauder; 1970, 1125 ff., 1135 – Internationale Handelsgesellschaft;<br />
1974, 491 ff. – Nold/Kommission;<br />
zur Anerkennung dieser Bindung in Deutschland<br />
BVerfGE 73, 339 – Solange II). Gemeinschaftsgrundrechte<br />
hat der EuGH entwickelt, weil das Handeln<br />
der Gemeinschaftsorgane ansonsten wegen des<br />
Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts und<br />
der Tatsache, dass es damals keinen verbindlich geschriebenen<br />
Grundrechtskatalog gab, keinerlei<br />
Grundrechtsstandards unterliegen würde. Der Gerichtshof<br />
hat sich hierbei auf die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen<br />
der Mitgliedstaaten berufen,<br />
nach der die Ausübung staatlicher Hoheitsgewalt<br />
rechtlich begrenzt sei. Zudem verweist der Gerichtshof<br />
auch auf die �Europäische Menschenrechtskonvention,<br />
die Ausdruck dieser Tradition sei.<br />
Mit dem Maastrichter Vertrag ist dies auch primärrechtlich<br />
als Bindung an allgemeine Grundsätze des<br />
Gemeinschaftsrechts normiert (Art. 6 II EGV, vgl.<br />
auch Art. 1, Art. 46 lit. d EUV). Der Verfassungsvertrag<br />
2004 geht über den bisherigen Rechtszustand insoweit<br />
hinaus, als er nunmehr die bisher unverbindliche<br />
Grundrechtscharta in sich aufnimmt und damit<br />
eine Bindung auch ausdrücklich in allen Einzelheiten<br />
und letztlich dem nationalen Standard normativ<br />
weitgehend entsprechend festgeschrieben wird.<br />
433
Hoheitsrechte<br />
3. Verfassungsrechtliche Grundlagen in Deutschland<br />
3. 1 Normativer Befund: Nach Art. 24 Abs. 1 Grundgesetz<br />
kann der Bund generell Hoheitsrechte auf<br />
zwischenstaatliche Einrichtungen, nach der 1992<br />
neu eingefügten Regelung des Art. 23 GG Hoheitsrechte<br />
auf europäische Einrichtungen, etwa auf die<br />
Europäische Union, durch Gesetz übertragen. Artikel<br />
23 Abs. 1 GG stellt die spezielle Verfassungsbestimmung<br />
für die deutsche Mitwirkung an der Begründung<br />
der EU dar und ist Ausdruck der <strong>Europa</strong>rechtsfreundlichkeit<br />
Deutschlands. Die Einfügung<br />
dieses „<strong>Europa</strong>-Artikels“ macht deutlich, dass sich<br />
die EU inzwischen qualitativ von üblichen zwischenstaatlichen<br />
Einrichtungen unterscheidet.<br />
Die h. L. geht nicht von einer Übertragung der Hoheitsrechte,<br />
sondern vielmehr von einem Verzicht<br />
auf die Ausübung bestimmter staatlicher Hoheitsbefugnisse<br />
zugunsten einer internationalen/supranationalen<br />
Hoheitsgewalt aus. Die Frage, wie weit dabei<br />
der Verzicht auf Hoheitsbefugnisse gehen darf,<br />
ist umstritten und bisher vor allem im Rahmen der<br />
Europäischen Gemeinschaft bedeutsam geworden.<br />
Die „Übertragung“ von Hoheitsrechten, besser der<br />
Verzicht auf ihre Ausübung, erfolgt durch förmliches<br />
Bundesgesetz, unter den Voraussetzungen des<br />
Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG sogar mit verfassungsändernder<br />
Mehrheit. Artikel 23 Abs. 1 GG enthält eine sog.<br />
Struktursicherungsklausel, die im Zusammenhang<br />
mitderebenfallsdortangesiedeltenÜbertragungsermächtigung<br />
zu sehen ist. Demnach muss die Struktur<br />
der EU Grundsätzen entsprechen, die auch für die<br />
Ausübung der Hoheitsgewalt in Deutschland maßgeblich<br />
sind: Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, soziale<br />
und föderale Ordnung sowie Grundrechtsgeltung.<br />
3.2 Entwicklung und Problemkreise: Angesichts der<br />
Eigenart des Gemeinschaftsrechts geht es bei seiner<br />
Anwendung dem nationalen Recht vor. Das Bundesverfassungsgerichthatdiesanerkannt,solangedurch<br />
das Europäische Gemeinschaftsrecht, insbes. durch<br />
die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes,<br />
ein ausreichender Grundrechtsschutz gewährleistet<br />
sei (BVerfG E 73, 339; 89, 155). Anlässlich<br />
der gegen das Vertragsgesetz zum Unionsvertrag gerichteten<br />
Verfassungsbeschwerden hat das Bundesverfassungsgericht<br />
u. a. ausgeführt, dass die Union<br />
(noch) keinen Staat darstelle, sondern einen „Staatenverbund“.<br />
Bezüglich der Rechtsakte der europäi-<br />
434<br />
schen Organe prüfe das Bundesverfassungsgericht,<br />
ob sich diese innerhalb der Grenzen der eingeräumten<br />
Hoheitsbefugnisse hielten. Bei der Rechtsprechung<br />
über die Anwendbarkeit von Sekundärrecht in<br />
der Bundesrepublik bestehe ein „Kooperationsverhältnis“<br />
zum Europäischen Gerichtshof (�Kooperationsverhältnis<br />
BVerfG – EuGH). Insgesamt sei sowohl<br />
unter dem Gesichtspunkt der demokratischen<br />
Legitimation als auch hinsichtlich der Gewährleistung<br />
eines ausreichenden Rechtsschutzes der Vertrag<br />
von Maastricht mit dem Grundgesetz vereinbar.<br />
DiebisherigeRücknahmeeigenerHoheitsgewaltzugunsten<br />
der Ausübung von Gemeinschaftshoheitsrechten,<br />
die den deutschen Bürger unmittelbar berechtigen<br />
oder verpflichten, steht mit den dafür vorhandenen<br />
verfassungsrechtlichen Grundlagen des<br />
Art. 23 und 24 GG in Einklang. Dagegen ist bisher<br />
verfassungsrechtlich die Frage nur teilweise geklärt,<br />
ob und inwieweit die Integrationsermächtigungen<br />
des Grundgesetzes für die Fälle ausreichen, in denen<br />
europäische Rechtsakte selbst keine materiellen Bestimmungen<br />
treffen, sondern nur die Anerkennung<br />
von Hoheitsrechtsakten anderer Mitgliedstaaten<br />
vorsehen. (�Prinzip der gegenseitigen Anerkennung).<br />
Zwar reichen diese Ermächtigungen für die<br />
Anerkennung ausländischer Genehmigungen im<br />
RahmendesBinnenmarktessowiedes�freienPersonen-,<br />
Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs<br />
aus, weil hier letztlich keine (unmittelbaren) hoheitlichen<br />
Eingriffe in rechtlich geschützte Positionen<br />
der Bürger vorliegen, sondern die Freiheit der Bürger<br />
erweitert wird. Anders verhält es sich hingegen<br />
bei solchen Vorschriften, die ohne ausdrückliche<br />
Harmonisierung auf der europäischen Ebene lediglich<br />
vorschreiben, dass ausländische Vorschriften<br />
anzuerkennen sind und die fremden Vorschriften<br />
Eingriffe in Rechtspositionen der eigenen Staatsangehörigen<br />
bewirken (so etwa bei den Vorschriften<br />
über den �Europäischen Haftbefehl, vgl. BVerfG,<br />
Urt. v. 18. 7. 05 – 2 BvR 2236/04), zumal wenn es<br />
sich um Unionsvorgaben auf der Grundlage �intergouvernementaler<br />
Zusammenarbeit (zweite und<br />
dritte �Säule) handelt. Das Unionsrecht entfaltet hier<br />
trotz einer Positivierung der Handlungsnormen keine<br />
supranationale Wirkung.<br />
Mit Inkrafttreten des Verfassungsvertrages werden<br />
weitere Kernbereiche nationalstaatlicher Hoheitsgewalt<br />
gegenüber der Ausübung von Hoheitsgewalt<br />
durch Unionsrecht zurückgenommen und damit su-
pranational. Nachdem das Bundesverfassungsgericht<br />
in der Maastrichtentscheidung (E 89, 155) ausgeführt<br />
hatte, dass dem Deutschen Bundestag wesentliche<br />
Bereiche zur Entscheidung verbleiben<br />
müssen, werden seine Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten<br />
in vielen klassischen staatlichen Sektoren<br />
abnehmen. Justiz, Polizei, Verteidigung und<br />
auswärtiges Handeln gehören zu den Kernbereichen<br />
der Staatlichkeit. Selbst wenn Bundestag und Bundesrat<br />
dem Verfassungsvertrag mit verfassungsändernder<br />
Mehrheit (Art. 23 GG) zustimmen, könnte<br />
der Verfassungsvertrag die Integrationsgrenzen des<br />
Art. 79 Abs. 3 GG verletzen. Denn diese Norm sichertdieGrundsätzedesArtikels1und20GG.Wenn<br />
aber in einem Übertragungsakt maßgebliche Entscheidungs-<br />
und Gestaltungsmöglichkeiten des<br />
Bundestages neben der bereits weit reichenden Entäußerung<br />
von Entscheidungen im Bereich des bisherigen<br />
Gemeinschaftsrechts auf die Union übertragen<br />
werden und Bundestag und Bundesrat wegen des<br />
Vorrangs des Unionsrechts Gefahr laufen, in Zukunft<br />
allenfalls Umsetzungsautomaten zu sein, steht<br />
zu befürchten, dass das Demokratieprinzip und damit<br />
auch die deutsche Staatlichkeit in einem Maße<br />
ausgehöhlt werden, das die Identität der Verfassung<br />
unddesStaatesauflöst. St. U. P.<br />
Literatur:<br />
Bleckmann, A.: Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre.<br />
Köln u.a. 1995<br />
Bogdandy, A. v.: Europäisches Verfassungsrecht. Heidelberg<br />
u.a. 2003<br />
Häberle, P.: Europäische Verfassungslehre.<br />
Baden-Baden 2005 3<br />
Lenz, C. O./Borchardt, K.-D.: Vertrag über eine Verfassung für<br />
<strong>Europa</strong>. Bundesanzeiger Nr. 218a v. 17. 11. 2004<br />
Pernice, I.: Europäische Justizpolitik in der Perspektive der<br />
Verfassung für <strong>Europa</strong>. WHI-paper 03/05, 2005<br />
Ders.: Die dritte Gewalt im Europäischen Verfassungsverbund.<br />
<strong>Europa</strong>recht 1996, 27 ff.<br />
Reinhard, W.: Geschichte der Staatsgewalt. München 1999<br />
Hoher Vertreter für die GASP (HR)<br />
1. Rechtsgrundlage: Mit dem �Vertrag von Amsterdam<br />
(1997) im Rahmen der �GASP geschaffenes<br />
Amt, das in „Personalunion“ vom Generalsekretär<br />
des Rats wahrgenommen wird (Art. 18 Abs. 3 EUV,<br />
Art. 26 EUV, Art. 207 Abs. 2 EGV). Der Hohe Vertreter<br />
für die GASP, der auch Hoher Repräsentant genannt<br />
wird (HR), ist zugleich „Diener“ und „Leitbild“<br />
für eine vollständige Integration der Außenund<br />
Sicherheitspolitik <strong>Europa</strong>s. Er soll mit Blick auf<br />
Hoher Vertreter für die GASP<br />
den halbjährlich rotierenden Vorsitz für mehr Kontinuität<br />
und Sichtbarkeit in der �GASP sorgen.<br />
2. Aufgaben: Der HR hat die Aufgabe, den Vorsitz<br />
sowie den Rat zu unterstützen, indem er insbes. zur<br />
Formulierung, Vorbereitung und Durchführung politischer<br />
Entscheidungen beiträgt. Im System der rotierenden<br />
Präsidentschaft stellt der HR mit seiner<br />
fünfjährigen Amtszeit den Faktor der Kontinuität<br />
dar. Der HR ist Teil der �Troika, kann aber auf Ersuchen<br />
des Vorsitzes auch allein im Namen des Rats<br />
den Politischen Dialog mit anderen Staaten führen.<br />
Auf gleiche Weise kann er den Vorsitz gegenüber<br />
den GASP-relevanten �Ausschüssen des Europäischen<br />
Parlaments vertreten.<br />
Mit dem kontinuierlichen Auf- und Ausbau der<br />
GASP, insbes. im Bereich der �ESVP, aber auch<br />
durch die konstruktive Rolle, die der gegenwärtige<br />
Amtsinhaber Javier Solana u. a. bei der Stabilisierung<br />
des Balkans (Kosovo, Serbien und Montenegro)<br />
aber auch im Nahost-Friedensprozess sowie bei<br />
den Vermittlungsbemühungen der EU im Zusammenhang<br />
mit den Präsidentschaftswahlen in der<br />
Ukraine 2004 gespielt hat, sind das Ansehen und der<br />
Handlungsspielraum des HR in den vergangenen<br />
Jahren kontinuierlich gewachsen.<br />
Zur Stärkung der Position des HR tragen nicht unwesentlich<br />
die �Sonderbeauftragten der EU sowie die<br />
SondergesandtenundpersönlichenBeauftragtendes<br />
HR bei (Sondergesandte gibt es derzeit für den Kosovo<br />
und den Irak, persönliche Beauftragte für Menschenrechte,<br />
den internationalen Terrorismus und<br />
den Kampf gegen Massenvernichtungswaffen). Immer<br />
häufiger lässt sich beobachten, dass der HR, mit<br />
Billigung der jeweiligen Präsidentschaft, in der<br />
GASP einschl. der ESVP aktiv die Initiative ergreift<br />
und damit entscheidend zur Vorstrukturierung einer<br />
Entscheidung beiträgt. Da passt ins Bild, dass der<br />
HR, insbes. in Krisensituationen, immer häufiger anstelle<br />
oder zumindest deutlich abgesetzt von der<br />
Troika auftritt. Dies mag insbes. mit Blick auf die<br />
Rolle der Kommission in der GASP vertragsrechtlich<br />
bedenklich sein. Der Effektivität der GASP und<br />
ihrer Wahrnehmung innerhalb der Internationalen<br />
Gemeinschaft dient ein einziges „Sprachrohr“ mehr,<br />
als der vielseits kritisierte „Dreiklang“ der sog.<br />
„klassischen“ Troika. Der HR lässt die Funktion des<br />
Generalsekretärs (GS) des Rats, an die das Amt des<br />
HR aus Sorge vor einer allzu großen Selbständigkeit<br />
auch weiterhin de iure angebunden bleibt, de facto in<br />
435
Humanitäre Hilfe<br />
großem Umfang vom stellvertretenden GS wahrnehmen.<br />
3. Erweiterung des Aufgabenspektrums: Der HR ist<br />
neben seinen vertragsrechtlich festgeschriebenen<br />
Funktionen gemäß den entsprechenden Rechtsakten<br />
qua Amt auch Vorsitzender des Verwaltungsrats der<br />
in Unterstützung der �ESVP eingerichteten<br />
EU-�Agenturen (s. �Institut für Sicherheitsstudien<br />
der EU, �Satellitenzentrum der EU, �Europäische<br />
Rüstungsagentur). Damit soll sichergestellt werden,<br />
dass die EU-Agenturen ungeachtet ihrer rechtlichen<br />
Selbständigkeit auch strukturell eng an den einheitlichen<br />
institutionellen Rahmen der EU angegliedert<br />
bleiben.<br />
4. Ausblick: Mit dem Inkrafttreten des Europäischen<br />
436<br />
Verfassungsvertrags wird der HR durch den �Europäischen<br />
Außenminister (EU-AM) ersetzt werden.<br />
Mit der von ihm wahrzunehmenden Doppelfunktion<br />
als HR und Kommissar für das übrige Außenhandeln<br />
der EU, zu der der Vorsitz im Rat für Auswärtige Angelegenheiten<br />
hinzukommt, ist die Hoffnung verbunden,<br />
„endlich“ die bereits seit langem geforderte<br />
„einheitliche Telefonnummer“ im Bereich des AußenhandelnsderEUanbietenzukönnen.<br />
U. S.<br />
Humanitäre Hilfe �Nahrungsmittelhilfe<br />
Hundertdreizehner-Ausschuss �Ausschuss nach<br />
Art. 133 EGV, �Außenhandelspolitik
IATE (Inter-Agency Terminology Exchange) ist<br />
eine seit 1999 im Aufbau begriffene zentrale Datenbank<br />
des Übersetzungszentrums der EU. Sie wird<br />
sämtliche Begriffe aller EU-Organe und -Einrichtungen<br />
in allen Amtssprachen zusammenzufassen.<br />
Nach erfolgreichen Tests wurde IATE an die KommissionübergebenundstehtseitDezember2002den<br />
EU-Institutionen zur Verfügung. IATE hat die zentrale<br />
Terminologiedatenbank �Eurodicautom übernommen<br />
sowie die Datenbanken TIS (Rat), Euterpe<br />
(EP), Euroterms (Übersetzungszentrum), CDC-<br />
TERM (Rechnungshof) und Thesaurus (EuGH). Für<br />
die Öffentlichkeit soll IATE im Laufe des Jahres<br />
2005 bereit stehen.<br />
IDEA ist ein vom Amt für amtliche Veröffentlichungen<br />
der EU im Internet angebotenes elektronisches<br />
Verzeichnis für die Suche nach Personen (Namen,<br />
Funktionen, Behörden) und Diensten (hierarchisch<br />
nach Generaldirektionen, Direktionen, Referaten)<br />
aller Organe, Agenturen, Ämter, Institutionen und<br />
sonstigen Einrichtungen der EU in allen Amtssprachen.<br />
IDEA wird laufend aktualisiert (am aktuellsten:<br />
die französische Fassung).<br />
Internet: http://europa.eu.int/idea<br />
Identität, europäische. Die Kopenhagener Gipfelkonferenz<br />
der Staats- und Regierungschefs der<br />
EG-Länder verabschiedete im Dezember 1973 das<br />
„Dokument über die europäische Identität“. Darin<br />
wird der Wunsch nach Gemeinsamkeiten der BürgerinnenundBürgerinBezugaufeingemeinsames<strong>Europa</strong>bewusstsein<br />
zum Ausdruck gebracht. Deshalb<br />
ist zu überlegen, was übernationale, europäische<br />
Identität bedeutet und wie sie vermittelt werden kann<br />
(vgl. �<strong>Europa</strong>-Union: Charta der europäischen Identität<br />
1995).<br />
Die übergreifende Identität der Gruppe ist Bedingung<br />
für die individuelle Identität als symbolische<br />
Einheit der Person. Für die Entstehung der Identität<br />
ist die Gesellschaft selbst zuständig, indem sie unverwechselbare,<br />
intersubjektiv anerkannte Momente<br />
(z. B. bestimmte Traditionen, Rollen, Normen)<br />
hervorbringt, die ihrerseits als Erwartungen und An-<br />
I<br />
Identität<br />
forderungen an den Einzelnen von außen herangetragen<br />
werden. Es handelt sich um „Konsistenzforderungen“<br />
(Habermas). Früher war(en) es die Religion(en),<br />
die das normative Bewusstsein einer ganzen<br />
Bevölkerung integrierte(n) und kollektive Identität<br />
erzeugte(n). Heute wird die traditionelle Identität<br />
nicht mehr übernommen, sondern die Einzelnen beteiligen<br />
sich an einer flexiblen Identität, in der sich<br />
alle Gesellschaftsmitglieder wiedererkennen und<br />
gegenseitig anerkennen (achten).<br />
War die Identitätsbildung früher auf den Staat bezogen<br />
und von Religion, Recht und politischen Institutionen<br />
konstituiert worden, sind heute hochdifferenzierte<br />
(z. T. überstaatliche) Teilsysteme maßgebend,<br />
die die Individuen integrieren. Von hier kann das<br />
Verständnis für eine regionale Identität(sbildung) in<br />
einer komplexen (staatsübergreifenden) Gesellschaft<br />
ausgehen. Identität ist demnach nicht mehr<br />
mitgliedschaftlich (staatsbürgerschaftlich) geregelt,<br />
sondern reflexiv, d. h. sie ist im Bewusstsein der allgemeinen<br />
und gleichen Teilnahmechancen an wertund<br />
normbildenden Lernprozessen begründet. Diese<br />
können sich weder an retrospektiven, tradierten<br />
Werten noch allein an prospektiven Entwürfen<br />
orientieren. Sie können auch nicht von (Schul-)Verwaltungen<br />
etwa qua Curriculum verordnet und legitimiertwerden,sondernerfolgeninderKommunikation<br />
zwischen den Menschen. In modernen (pluralen)<br />
Massengesellschaften macht sich Identität also<br />
nicht mehr an umfassenden transzendenten Integrationssystemen<br />
fest, sondern sie vollziehen den Prozess<br />
der Identitätsbildung durch Gemeinschaftsbildung<br />
mittels Legitimation, Repräsentation, Institutionalisierung,<br />
Konfliktregelung, Konsensherstellung<br />
u. dgl.<br />
„Identität“ ist somit auch ein Relationsbegriff, der<br />
sich aus der Frage nach der (selbsterfahrenen) örtlichenundzeitlichenRelationergibt,z.B.:Werbinich<br />
„hier“ (im Vergleich zu „dort“) und „heute“ (im Vergleich<br />
zu „damals“)? Außerdem ist – in Einschränkung<br />
zu Habermas – zu bedenken, dass die nationalstaatliche<br />
Grundlage von Identität, konkretisiert in<br />
den Begriffen Demokratie, Freiheit, Gleichheit und<br />
Solidarität, nicht ohne Weiteres aufhebbar ist. Die<br />
437
Implied powers<br />
Präambel des Grundgesetzes der Bundesrepublik<br />
Deutschland zielte auf die „nationale und staatliche<br />
Einheit“ des deutschen Volkes ab, und in den anderen<br />
EU-Staaten würde eine Aufgabe der Nationalstaatlichkeit<br />
auf wenig Resonanz stoßen.<br />
Als kollektive Identität beruht sie auf der Konstanz<br />
derInteraktionen,RollenundSymbole,ihreFindung<br />
bedarf der gemeinsamen Überzeugungen, Zuschreibungen<br />
und Einordnungen. Sie äußert sich u. a. in der<br />
Art und Weise, wie Menschen denken, in der Form<br />
der Verankerung ihrer Weltbilder und gesellschaftlichen<br />
Konstruktionen. Sie wird von der regionalen<br />
und nationalen Identität (notwendigerweise) überdeckt<br />
und ist infolge der starken Mobilität der Menschen<br />
und der Pluralität und Differenzierungen der<br />
Erscheinungen nur schwer zu erzeugen. AndererseitsgibtesimmernebeneinanderstehendeTeilidentitäten<br />
des Einzelnen: mit der Wir-Gruppe, der Familie,<br />
der Gemeinde, dem Staat. Die Frage erhebt sich,<br />
inwieweit eine europäische Identität angesichts der<br />
konzeptionellen Dynamik der europäischen �Integration<br />
herstellbar ist. Historische und andere „Bausteine“,<br />
konstitutiv für eine europäische Identität,<br />
sind: Idee der Freiheit, der �Menschenrechte, Demokratie/Parlamentarismus,<br />
Vielfalt der Kulturen, Idee<br />
der Individualität, Zentrum der Wissenschaften, Humanismus/Aufklärung,<br />
Industrialisierung, Christentumusw.<br />
W. M.<br />
Implied powers. Sinngemäß in den (geschriebenen)<br />
Ermächtigungsnormen der europäischen Verträge<br />
enthaltene ungeschriebene Zuständigkeiten<br />
der EU. „Implied powers“ werden aus bestehenden<br />
(geschriebenen) Kompetenznormen durch AuslegungabgeleitetundgebenderEUerweiterteKompetenzen<br />
in einem bestimmten Politikfeld, ähnlich wie<br />
bei der Generalrmächtigung nach Art. 308 EGV.<br />
Verschiedene Urteile des EuGH haben die Kompetenzen<br />
der Gemeinschaft im Sinne der implied powers<br />
erweitert (EuGH, Slg. 1956, 297 – Fédéchar –;<br />
EuGH, Slg. 1971, 263 – AETR –), bislang insbes. zur<br />
Begründung von Außenkompetenzen: Vorschriften<br />
eines völkerrechtlichen Vertrages oder eines Gesetzes<br />
beinhalteten auch ungeschriebene Ermächtigungen,<br />
bei deren Fehlen die ausdrücklich genannten<br />
Vorschriften sinnlos wären oder nicht in vernünftiger<br />
und zweckmäßiger Weise angewendet werden<br />
könnten.<br />
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Maas-<br />
438<br />
tricht-Urteil Bedenken gegenüber einer zu großzügigen<br />
Interpretation geäußert. Eine Auslegung der Gemeinschaftsverträge<br />
dürfe in ihrem Ergebnis nicht<br />
einer Vertragserweiterung gleichkommen.<br />
Indirekte Steuern �Steuerrecht,Steuerharmonisierung<br />
Industriepolitik<br />
1. Begriffliches: Industriepolitik umfasst die Gesamtheit<br />
der wirtschaftspolitischen Maßnahmen, die<br />
auf Sicherung und Steigerung der Leistungs- und<br />
Wettbewerbsfähigkeit der Industrie ausgerichtet<br />
sind, und die damit verbundene Rolle des Staats in<br />
der �Wirtschaftspolitik. Als eigenständige Aufgabe<br />
ist die Industriepolitik mit der �Einheitlichen EuropäischenAkteverankertworden(1.7.1987inKraft).<br />
Sie ist der Generaldirektion „Unternehmen und Industrie“<br />
in der Kommission zugeordnet und wird<br />
neutral als Teil der Wirtschaftspolitik verstanden, so<br />
wie die Industrie ein Teil der Wirtschaft ist, und beinhaltet<br />
noch kein staatsinterventionistisches Verständnis.InAbgrenzungzudenMitgliedstaatensetzt<br />
dieUnionstarkaufdenStrukturwandelundkaumauf<br />
den Erhalt von Krisenbranchen. Ursache dafür ist,<br />
dass bei der Umstrukturierung einer Branche in mehreren<br />
EU-Ländern die Kommission die Anpassungslasten<br />
unter den Mitgliedstaaten einfacher verteilen<br />
kann als eine Regierung innerhalb ihres Landes, wo<br />
Krisenbranchen oft zugleich das industrielle Rückgrat<br />
einer Region darstellen.<br />
So erlaubt z. B. die EU-Fusionskontrolle weitaus<br />
mehr die Berücksichtigung industriepolitischer Belange<br />
im staatsinterventionistischen Sinn als etwa<br />
das deutsche Bundeskartellamt.<br />
AusSichtderVertretereinerreinenmarktwirtschaftlichen<br />
Lehre darf es eine Industriepolitik nicht geben,<br />
da die Marktwirtschaft vom Wettbewerb und<br />
seinem damit verbundenen Ausleseprozess lebt.<br />
Durch das Ausscheiden unrentabler Unternehmen<br />
wird der Strukturwandel gefördert und damit die<br />
Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft erhöht. Sie<br />
lehnen die selektiven Eingriffe des Staates in das<br />
Wirtschaftsgeschehen ab. Für die Befürworter ist die<br />
Industriepolitik dagegen ein Instrument, um den industriellen<br />
Strukturwandel zu steuern. Unbestritten<br />
ist für beide Gruppen die Wettbewerbspolitik, die für<br />
den Wettbewerb gleiche Rahmenbedingungen<br />
schafft.
2. Industriepolitik in europäischer Dimension: EuropäischeIndustriepolitikstehtzwischenzweiextremen<br />
Positionen: zum einen die Protektionisten, die<br />
eine interventionistische Industriepolitik fordern<br />
(�Protektionismus), zum anderen die konsequenten<br />
Marktwirtschaftler. Interventionistische Industriepolitik<br />
versucht mit handelspolitischen Maßnahmen,<br />
wie Importbeschränkungen, und durch Subventionierung<br />
(�Subventionen) die eigene Wirtschaft<br />
vor ausländischer Konkurrenz zu schützen.<br />
DiedahinterstehendegrundsätzlicheFrage,obIndustriepolitik<br />
in einem Gegensatz zur marktwirtschaftlichen<br />
Politik steht, wurde (europäisch) in Form einer<br />
eher pragmatisch orientierten marktwirtschaftlichen<br />
Industriepolitikstrategie gelöst, da eine marktwirtschaftliche<br />
Ordnung kein geschlossenes System<br />
darstellt. Dies gilt besonders für die EU. Danach ist<br />
eine eher interventionistische Industriepolitik zum<br />
Scheitern verurteilt, nicht hingegen eine wettbewerbsorientierte<br />
Industriepolitik, die sich den Weltmarkt<br />
zum Maßstab nimmt. Der �Binnenmarkt als<br />
wettbewerbsförderndes Element beschleunigt den<br />
Strukturwandel, liberalisiert und dereguliert die<br />
Wirtschaft durch Gewährung von Freiheiten. Diese<br />
marktwirtschaftliche Variante der Industriepolitik<br />
versucht ein günstiges wirtschaftliches Umfeld zu<br />
schaffen, indem ihre Aktionen in der Vorphase des<br />
Wirtschaftens (u. a. Förderung von Infrastrukturmaßnahmen,<br />
Berufsbildung, Forschung und Technologie)<br />
ansetzen.<br />
Die Instrumente der Industriepolitik sind vielfältig.<br />
Branchenspezifische Maßnahmen lassen sich von<br />
Maßnahmen unterscheiden, die eher allgemein auf<br />
die Verbesserung der wirtschaftlichen Standortbedingungen<br />
gerichtet sind (industrielle Wettbewerbsfähigkeit).<br />
Sie greifen in folgenden Industriebereichen:<br />
Eisen und Stahl, Grundstoffindustrien, Chemie,<br />
Holz- und Papier, Maschinenbau, Elektro, Automobilbau,maritimeWirtschaft(Schiffbaupolitik),<br />
Luft- und Raumfahrt, Rüstung, Eisenbahn, Textil<br />
und Bekleidung, Biotechnologie, Pharmazeutik und<br />
Kosmetik, Informationstechnologie und Bauwesen.<br />
Die Kommission weist darauf hin, dass bei einem<br />
VerzichtaufeineaktiveIndustriepolitikindustriepolitische<br />
Maßnahmen verdeckt über �Sozialpolitik,<br />
�Forschungs-, �Regional- oder �Wettbewerbspolitik<br />
in die �Regionen gelangen. So wird in demokratischenGesellschaftennichtohneWeiteresakzeptiert,<br />
dassganzeIndustriezweigeabsterbenoderRegionen<br />
Industriepolitik<br />
industriellveröden.EinindustriepolitischerSchwerpunktbildetdeshalbfürdieEUdieFörderungkleiner<br />
und mittlerer Unternehmen (�KMU).<br />
3. Zielfelder: Ziel der Industriepolitik ist eine europäische<br />
Unternehmensstruktur, die international<br />
wettbewerbsfähig ist.<br />
Mit dem �Verfassungsvertrag 2004 fällt die Industriepolitik<br />
in die Politikbereiche, in denen die Union<br />
beschließen kann, eine Koordinierungs-, Ergänzungs-<br />
oder Unterstützungsmaßnahme durchzuführen<br />
(Art. I-17 VVE). Die Ziele sind gegenüber dem<br />
EG-Vertrag (Art. 157) nur leicht modifiziert und haben<br />
folgende Kernpunkte:<br />
a) Beschleunigung der Anpassung der Industrie an<br />
die strukturellen Veränderungen;<br />
b) Förderung eines günstigen Umfelds für die Initiative<br />
und Weiterentwicklung der Unternehmen, insbes.<br />
der kleinen und mittleren Unternehmen;<br />
c) Förderung eines günstigen Umfeld für die Zusammenarbeit<br />
zwischen Unternehmen;<br />
d) Förderung einer besseren Nutzung des industriellen<br />
Potenzials der Politik in den Bereichen Innovation,<br />
Forschung und technologische Entwicklung.<br />
4. Förderbereiche: Im EU-Bereich beinhaltet Industriepolitik<br />
die Tendenz, im vorwettbewerblichen<br />
Raum und auf dem Felde außenwirtschaftlicher Strategien<br />
tätig zu werden. Der Erfolg der Unternehmen<br />
auf dem Markt wird dann dem freien Spiel der Kräfte<br />
überlassen, so z. B. die Technologiepolitik (�Forschungs-<br />
und Technologiepolitik) als angebotsorientierte<br />
Organisation eines flächendeckenden<br />
Technologietransfers, d. h. eine Konzipierung der<br />
TechnologiepolitikmitdenUnternehmenfürdieUnternehmen.<br />
Zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit werden in<br />
den Bereichen Elektronik, Informatik und Biotechnologien<br />
Programme durchgeführt. Schwerpunkte<br />
sind dabei die Produktqualität und die Produktionstechniken,<br />
die mit folgenden Maßnahmen verbessert<br />
wurden/werden:<br />
– im Bereich des europäischen �Gesellschaftsrechts<br />
die Verankerung der �Europäischen Wirtschaftlichen<br />
Interessenvereinigung (EWIV) mit dem Ziel,<br />
Kooperation zu ermöglichen;<br />
– die Unterstützung kleinerer und mittlerer Unternehmen<br />
(insbes. gezielte Förderung des Zugangs zu<br />
Forschungs- und Entwicklungsprogrammen);<br />
– Gründung und Betrieb eines �Büros für Unternehmenskooperation;<br />
439
Industriepolitik<br />
– das Netzwerk BC-Net (�Business Cooperation<br />
Network) als Netz von Unternehmensberatern, die<br />
Kooperationen vorbereiten und unterstützen;<br />
– die Projektunterstützung durch die �Europäische<br />
Investitionsbank;<br />
– die Finanzierung von Rahmenprogrammen für<br />
Forschung und technologische Entwicklung in den<br />
Bereichen Informations- und Kommunikationstechnologien,<br />
industrielle Technologien und neue Werkstoffe,<br />
Umwelttechnik, Biowissenschaft und Biotechnik,<br />
Energie, Mensch und Mobilität.<br />
5. Lissabon-Strategie für mehr Wachstum, mehr<br />
Wettbewerbsfähigkeit und mehr Beschäftigung:Im<br />
März 2000 beschloss der Europäische Rat in Lissabon<br />
eine neue Strategie. Im Kern handelt es sich um<br />
ein Bündel sich gegenseitig beeinflussender Reformen:<br />
a) Den Übergang zu einer wissensbasierten Wirtschaft<br />
und Gesellschaft durch bessere Politiken für<br />
die Informationsgesellschaft und für die Bereiche<br />
Forschung und Entwicklung sowie durch die Forcierung<br />
des Prozesses der Strukturreform im Hinblick<br />
auf Wettbewerbsfähigkeit und Innovation und durch<br />
die Vollendung des Binnenmarktes vorzubereiten;<br />
b) das europäische Gesellschaftsmodell zu modernisieren;<br />
c) für anhaltend gute wirtschaftliche und günstige<br />
Wachstumsaussichten Sorge zu tragen.<br />
Die Zielsetzungen sehen u. a. vor<br />
a) bis 2010 in die Bereiche Forschung und EntwicklungimprivatenundöffentlichenSektorrund3%des<br />
BIP zu investieren;<br />
b) die Beschäftigungsquote bis 2010 möglichst nahe<br />
an 70% heranzuführen (2000: 61%);<br />
c) eine durchschnittliche Wachstumsrate von etwa<br />
3% zu erzielen.<br />
Ziel ist es, die Union bis zum Jahr 2010 zum „wettbewerbsfähigsten<br />
und dynamischsten, wissensbasierten<br />
Wirtschaftsraum der Welt“ zu machen. Mit der<br />
Lissabon-Strategie verbindet sich somit „Wachstum,<br />
Beschäftigung und nachhaltige Entwicklung“.<br />
Sie hat jedoch nach Einschätzung der Kommission<br />
nach halber Laufzeit (2005) nicht genügend Fortschritte<br />
erzielt. Die Union definiert daher die Prioritäten<br />
dieser Strategie neu. Für die Industriepolitik<br />
sieht die Kommission Handlungsansätze auf Basis<br />
der Artikel 95 (Binnenmarkt), 152 (Gesundheitswesen)<br />
und 157 (Wettbewerbsfähigkeit) sowie Titel<br />
XVIII(InnovationundForschung)desEG-Vertrags:<br />
440<br />
a) Folgende allgemeine Ziele hat sich die Kommission<br />
gesetzt:<br />
– Abbau von Hürden für Unternehmer in <strong>Europa</strong> und<br />
Förderung potenzieller Unternehmer,<br />
– Innovationsförderung sowohl im technischen Bereich<br />
als Ergänzung zur Forschung als auch im Geschäftsprozess,<br />
– weitere Steigerung der Effizienz des Binnenmarktes,<br />
insbes. seines Funktionierens in den neuen Mitgliedstaaten<br />
und nach Möglichkeit Ausweitung der<br />
Vorteile des Binnenmarktes auf andere Regionen,<br />
– Verbesserung der globalen Wettbewerbsfähigkeit<br />
der europäischen Industrie im Rahmen einer nachhaltigen<br />
Entwicklung.<br />
b) Tätigkeitsfelder sind<br />
– die Förderung der unternehmerischen Initiative:<br />
Dieser Bereich umfasst Maßnahmen zur ständigen<br />
Verbesserung des wirtschaftlichen Umfelds vor allem<br />
mithilfe des BEST-Verfahrens (Rahmenregelung<br />
für Projekte zur Förderung der Arbeit der Mitgliedstaaten<br />
bei Ermittlung und Austausch bewährter<br />
Verfahren durch �Benchmarking und andere Methoden)<br />
und Netze zur Unterstützung von Unternehmen;<br />
– die Förderung von Innovation und Wandel;<br />
– die Steigerung des Binnenmarktes;<br />
– die Wettbewerbsfähigkeit und �Nachhaltige Entwicklung:<br />
Hier geht es um horizontale und sektorale<br />
Tätigkeiten zur Analyse und Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit<br />
der europäischen Wirtschaft.<br />
Dazu gehören auch Überschneidungen mit anderen<br />
EU-Politikfeldern, die in den wirtschaftlichen Bereich<br />
hineinwirken können.<br />
c) Auch der EU-weite Abbau der Bürokratie ist ein<br />
wichtiges Anliegen der Lissabon-Strategie für mehr<br />
Wachstum und Beschäftigung. In deren Rahmen soll<br />
die EU-Gesetzgebung durch den Abbau von Überregulierungen<br />
verbessert werden. Ziel ist eine Vereinfachung<br />
der Rechtssetzung. Die Kommission setzt<br />
beim Bürokratieabbau auf drei Qualitätsparameter:<br />
Verbesserte Folgenabschätzung bereits im Gesetzgebungsverfahren,<br />
eine stärkere Vereinfachung vorhandener<br />
EU-Regelungen und eine kontinuierliche<br />
Umsetzung des Bürokratieabbaus über jährliche Aktionspläne.<br />
6. Fazit: Mit der Lissabon-Strategie konzentriert<br />
sichdieIndustriepolitikderEUaufdie–auchfürUnternehmen<br />
– Hauptfaktoren Wettbewerbsfähigkeit<br />
und Wachstum, d. h. Verbesserung der Wissensge-
sellschaft, Vollendung des Binnenmarktes, Schaffung<br />
eines besseren Unternehmensklimas, mehr Anpassungsfähigkeit<br />
der Arbeitsmärkte und Investitionen<br />
in Öko-Innovationen.<br />
Damit folgt die Industriepolitik einem Mix aus aktiver<br />
und rahmenorientierter Politik. Aktiv, wenn sie<br />
einzelne Unternehmen oder Unternehmensgruppen<br />
gegenüber anderen Produzenten begünstigt und sich<br />
(über Forschung und technologische Entwicklung)<br />
in die Entscheidungen darüber einschaltet, welche<br />
Güter mit welchen Produktionsmethoden angeboten<br />
werden sollen. Rahmenorientiert zur Stärkung der<br />
Marktkräfte, wenn sie in einem innovativen Wettbewerb,dessenFörderungübereininvestitions-undinnovationsfreundliches<br />
Klima und ein effizientes Bildungssystem<br />
(�Bildungspolitik) bei ansonsten weitgehendem<br />
Verzicht auf staatliche Eingriffe in das<br />
Wirtschaftsleben erfolgt.<br />
Hier lässt sich auch die erneuerte Strategie für<br />
Wachstum und Beschäftigung verorten, mit der die<br />
Kommission bis Ende 2010 über sechs Millionen Arbeitsplätze<br />
schaffen und gleichzeitig den sozialen<br />
und umweltpolitischen Bedürfnissen gerecht werden<br />
will. Zunächst sollen Forschung und Entwicklung<br />
stärker gefördert, das System der staatlichen<br />
Beihilfen reformiert und ein für kleine und mittlere<br />
Unternehmen (KMU) freundliches Klima geschaffen<br />
werden. Die Strategie verfolgt drei Hauptziele:<br />
Wirtschaftliche, soziale und die Umwelt betreffende<br />
Belange sind nicht voneinander zu trennen. Daher<br />
bindet die Union auch die Themen nachhaltige Entwicklung<br />
und Klimaveränderung ein, wobei man<br />
sich insbes. auf Maßnahmen zur Verringerung von<br />
Treibhausgasemissionen für den Zeitraum nach<br />
EndedesKyoto-Protokollsab2012orientiert. L. U.<br />
Literatur:<br />
Bangemann, M.: Mut zum Dialog – Wege zu einer<br />
europäischen Industriepolitik. Bonn 1992<br />
Bleitschacher, G./Klodt, H.: Braucht <strong>Europa</strong> eine neue<br />
Industriepolitik? Universität Kiel 1991<br />
Dickersbach, A.: Die Entwicklung des Subventionsrechts seit<br />
1993. In: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 10/1996,<br />
S. 962–970<br />
Hutschenreiter, G.: Industriepolitik der EG. Wien 1993<br />
Info-Points �Informationsstellen<br />
Informationsbüros der deutschen Länder in<br />
Brüssel, auch Länderbüros oder Vertretungen genannt.<br />
Sie dienen der ständigen Beobachtung der für<br />
Informationsgesellschaft<br />
die einzelnen Länder bedeutsamen Maßnahmen und<br />
Entwicklungen der EU-Organe und -Politik. Wegen<br />
ihres Anspruchs, die Bundesrepublik nach außen zu<br />
vertreten, ist die Bundesregierung nicht erfreut, dass<br />
viele Länder ihre Büros als „Vertretung des Landes<br />
…/des Freistaats ...“ bezeichnen. Doch diese Namensgebung<br />
spiegelt das gestiegene Selbstbewusstsein<br />
der Länder wider, die gelegentlich <strong>Europa</strong>fragen<br />
als Innenpolitik betrachten. Die Ständige Vertretung<br />
der Bundesrepublik Deutschland bei der EU<br />
und die bilaterale Botschaft beim Königreich Belgien<br />
unterstützen die Länderbüros, soweit dies erforderlichist.<br />
H. D.-K.<br />
Informationsbüros des Europäischen Parlaments<br />
gibt es in allen Mitgliedstaaten. In Deutschland:<br />
Europäisches Parlament, Informationsbüro für<br />
Deutschland, Unter den Linden 78, 10117 Berlin.<br />
Europäisches Parlament, Informationsbüro München,<br />
Erhardtstraße 27, 80331 München. In Österreich:<br />
Europäisches Parlament, Informationsbüro<br />
für Österreich, Kärntner Ring 5–7, A-1010 Wien.<br />
Adressen aller Infobüros unter: www.europarl.de<br />
Informationsgesellschaft. Die rasante EntwicklungderInformations-undKommunikationstechnologien<br />
verursacht einen umfassenden wirtschaftlichen<br />
und gesellschaftlichen Wandel. An dessen<br />
Ende steht die Informationsgesellschaft, in der neue<br />
Informations- und Kommunikationstechnologien<br />
einen umfassenden Umgang mit den Ressourcen<br />
„Information“, „Wissen“ und „Unterhaltung“ ermöglicht.<br />
Vor allem werden interaktive Möglichkeiten<br />
elektronischer Kommunikation im wirtschaftlichen,<br />
behördlichen und privaten Bereich erheblich<br />
zunehmen.<br />
Bereits in den 1980er Jahren legte die EU zwei<br />
Grundsteine für eine Strategie für die Informationsgesellschaft:<br />
Mit dem Programm ESPRIT (Informationstechnik)<br />
im Jahre 1984, dem kurz darauf 1986<br />
spezifische Programme für Telematikanwendungen<br />
(Verkehr, Gesundheit und Fernunterricht) und das<br />
Programm RACE (fortgeschrittene Telekommunikationstechnologien)<br />
folgten, begann sie Forschungsprogramme<br />
im Bereich der Informationstechnologien.<br />
1987 nahm die Politik zur Liberalisierung<br />
des Telekommunikationsmarkts ihren Anfang,<br />
durch die nicht nur die bis dahin vorhandenen Monopole<br />
aufgelöst und die Wettbewerbsregelnstrikt an-<br />
441
Informationsgesellschaft<br />
gewendet wurden, sondern auch gemeinsame Regeln<br />
und Normen den Markt harmonisierten.<br />
Im Dezember 1993 beauftragte der Europäische Rat<br />
erstmals infolge des Weißbuchs „Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit,<br />
Beschäftigung“ eine Gruppe von<br />
Persönlichkeiten unter Federführung des damaligen<br />
Kommissionsmitglieds Martin Bangemann, einen<br />
Bericht über konkrete Maßnahmen vorzulegen, die<br />
von der EU und den Mitgliedstaaten in Bezug auf die<br />
Informationsinfrastrukturen zu ergreifen sind. Dieser<br />
Bericht enthielt Empfehlungen für den Beitrag<br />
der Europäischen Union zur Schaffung günstiger<br />
rechtlicher, technologischer und sozialer Rahmenbedingungen<br />
für die Informationsgesellschaft.<br />
Auf dieser Grundlage entstand im Juni 1994 der erste<br />
Aktionsplan der EU für die Informationsgesellschaft<br />
mit dem Titel „<strong>Europa</strong>s Weg in die Informationsgesellschaft“.<br />
Die Hauptziele dieses Aktionsplans waren<br />
die Beschleunigung der 1998 begonnenen vollständigen<br />
Liberalisierung der Telekommunikationsdienste<br />
und -infrastrukturen, der Ausbau und die<br />
Neuausrichtung der Forschungsprogramme und die<br />
Einbeziehung der neuen Aspekte der Informationsgesellschaft<br />
in alle einschlägigen Bereiche der Gemeinschaftspolitik.<br />
Im Jahre 1999 war die Informationsgesellschaft bereits<br />
keine Zukunftsvorstellung mehr, sondern zunehmend<br />
zu einer Wirklichkeit geworden, die sich<br />
mit dem rasanten Wachstum des Internet und dem<br />
schnellen Einzug der wissensbestimmten Wirtschaft<br />
deutlich abzeichnete. So benötigte die EU-Politik im<br />
Bereich der Informationsgesellschaft einen erneuten<br />
Anstoß und neue Ziele, die den geänderten Bedingungen<br />
besser gerecht würden.<br />
Deshalb legte die Kommission im Dezember 1999<br />
eine Mitteilung mit dem Titel „eEurope – Eine Informationsgesellschaft<br />
für alle“ vor (KOM 1999/687<br />
endg., nicht im ABl. veröffentlicht). Im März 2000<br />
beauftragtederEuropäischeRatdieKommissionmit<br />
der Ausarbeitung eines Aktionsplans eEurope, der<br />
dann im Juni 2000 gebilligt wurde. Der Aktionsplan<br />
„eEurope 2002“ sollte, so die Kommission, der Politik<br />
der EU „neuen politischen Elan verleihen“ (KOM<br />
2001/140endg.).DasZielbestanddarin,dieVorteile<br />
der Informationsgesellschaft allen Bürgern und der<br />
Geschäftswelt der Union, insbes. kleinen und mittleren<br />
Unternehmen (�KMU), zugänglich zu machen.<br />
Er enthielt eine Reihe wichtiger Zielsetzungen, die<br />
jeder Mitgliedstaat bis Ende 2002 erreichen sollte.<br />
442<br />
So sollte ein schnelleres und sichereres Internet geschaffen,<br />
Investitionen in Menschen und Fertigkeiten<br />
gefördert und die Nutzung des Internets insgesamt<br />
gefördert werden. Im Juni 2002 folgte ihm der<br />
Aktionsplan „eEurope 2005“ (KOM 2002/263<br />
endg.), der den Breitbandzugang zu wettbewerbsfähigen<br />
Preisen ermöglichen, die Sicherheit der Netze<br />
verbessern und die Anwendung der Informationstechnologien<br />
durch die Behörden verstärken sollte<br />
(„E-Government“). Im November 2003 wurde das<br />
Programm „MODINIS“ (Entscheidung 2256/2003,<br />
ABl. L 336/2003) verabschiedet, das den Leistungsvergleich<br />
zwischen den Mitgliedstaaten und die Unterstützung<br />
von Aufklärungsmaßnahmen zur Erhöhung<br />
der Netz- und Informationssicherheit zum Inhalt<br />
hat.<br />
Die Telekommunikationspolitik bildet den Schwerpunkt<br />
der EU-Strategie für die Informationsgesellschaft,<br />
da sie weiterhin die Haupttriebkraft für die<br />
schnelle und weite Verbreitung und Übernahme neuer<br />
Dienste der Informationsgesellschaft darstellt.<br />
Nachdem der Telekommunikationsmarkt im Jahre<br />
1998 weitgehend liberalisiert worden war, wurde im<br />
Jahr 2002 ein „Telekommunikationspaket“ verabschiedet<br />
(Rahmenichtlinie 2002/21, ABl. L 108/<br />
2002) mit der Richtlinie über den Zugang zu elektronischen<br />
Kommunikationsnetzen und zugehörigen<br />
Einrichtungen sowie deren Zusammenschaltung<br />
(2002/19), der Richtlinie über die Genehmigung<br />
elektronischer Kommunikationsnetze und -dienste<br />
(2002/20), der Richtlinie über Universaldienst und<br />
Nutzerrechte (2002/22, alle ABl. L 108/ 2002)) und<br />
der Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation<br />
(2002/58, ABl. L 201/2002).<br />
Im Juni 2002 veröffentlichte die Kommission eine<br />
Mitteilung mit dem Titel „Wege zur allgemeinen<br />
Verbreitung der Mobilfunkdienste der dritten Generation“(KOM2002/301endg.),indersiediewesentlichen<br />
finanziellen, technischen und rechtlichen Fragen<br />
analysiert und Handlungsschwerpunkte vorschlägt,<br />
um diese Entwicklung zu unterstützen. Im<br />
Bereich der Sicherheit und des Datenschutzes bestehen<br />
eine Richtlinie über die gegenseitige rechtliche<br />
Anerkennung elektronischer Signaturen (1999/93,<br />
ABl. L 13/2000), eine Verordnung zur Liberalisierung<br />
des innergemeinschaftlichen Handels mit VerschlüsselungsproduktenundeineRichtlinieüberden<br />
Schutz personenbezogener Daten (95/46, ABl. L<br />
281/1995). Ferner hat die EU einen Aktionsplan zur
Förderung der sicheren Nutzung des Internet (Entscheidung<br />
276/1999, ABl. L 33/1999) und zur Bekämpfung<br />
illegaler und schädlicher Inhalte angenommen<br />
und arbeitet an der Bekämpfung der Cyberkriminalität<br />
und der Verbesserung der Netzsicherheit.<br />
Im Juli 2002 wurde eine Datenschutzrichtlinie<br />
für elektronische Kommunikation verabschiedet, in<br />
der Aspekte geregelt werden, die mehr oder weniger<br />
kritisch sind, darunter die Aufbewahrung von VerbindungsdatenzumZweckederÜberwachungdurch<br />
Strafverfolgungsbehörden durch die Mitgliedstaaten,<br />
die Übermittlung unerbetener Nachrichten, die<br />
Verwendung von „Cookies“ und die Aufnahme persönlicher<br />
Daten in Teilnehmerverzeichnisse.<br />
Um den Nutzern eine höhere Sicherheit garantieren<br />
zu können, hat die EU die Europäische Agentur für<br />
Netz- und Informationssicherheit (ENISA) gegründet<br />
(VO 460/2003, ABl. L 336/2003), die eine beratende<br />
Funktion hat und die Maßnahmen der Mitgliedstaaten<br />
zur Sicherung ihrer Netze und Informationssysteme<br />
koordinieren soll. Ziel ist es, die Reaktionsfähigkeit<br />
der EU, der Mitgliedstaaten und der<br />
Unternehmen auf Probleme im Zusammenhang mit<br />
der Netz- und Informationssicherheit zu stärken. Die<br />
Agentur hat im März 2004 ihre Arbeit aufgenommen.<br />
Ein wesentliches Augenmerk richtet die EU auf den<br />
elektronischen Geschäftsverkehr. Notwendig sind<br />
EU-Regelungen, um wesentliche Rechtsgarantien<br />
für die elektronische Abwicklung von Geschäften<br />
und eine freie Erbringung elektronischer Dienstleistungen<br />
zu ermöglichen. Dabei ist die EU bestrebt,<br />
ein ausgewogenes Gleichgewicht herzustellen zwischen<br />
der Notwendigkeit, den elektronischen Geschäftsverkehr<br />
zu regeln, und der Gefahr einer Überregulierung,<br />
die ein schnelles Wachstum in diesem<br />
Bereich torpedieren könnte. Richtlinien regeln<br />
rechtliche Aspekte des elektronischen Geschäftsverkehrs<br />
(2000/31, ABl. L 178/2000), den Schutz<br />
geistiger Eigentumsrechte in der Informationsgesellschaft<br />
(2001/29, ABl. L 167/2001) sowie den<br />
Fernabsatz von Finanzdienstleistungen. Eine im Juli<br />
2005 vorgestellte Studie sieht darüber hinaus einen<br />
akuten Bedarf, europäische Strukturen für die kollektive<br />
Rechtevergabe für urheberrechtsgeschützte<br />
Musikwerke zur Verbreitung im Internet zu schaffen,<br />
da derzeit nationale Verwertungsgesellschaften<br />
keineeuropaweitenNutzungslizenzenermöglichen.<br />
Forschungsprogramme im Bereich der Telekommu-<br />
nikation ergänzen die Strategie der EU. Zu erwähnen<br />
ist hier der Schwerpunktbereich „Technologien für<br />
die Informationsgesellschaft (TIG, Information Society<br />
Technologies, IST)“, mit einem Volumen von<br />
3,625 Mrd. Euro im 6. Forschungsrahmenprogramm<br />
(2002 – 2006). Ergänzend gibt es eine Reihe wichtiger<br />
Begleitmaßnahmen, Programme und spezieller<br />
Maßnahmen wie z. B. das Programm eContent zur<br />
Förderung der Entwicklung europäischer multimedialer<br />
Inhalte (Kultur, Sprache) für das Internet und<br />
der Aktionsplan eLearning, das die Tätigkeit der EU<br />
in Bezug auf die Bildung im digitalen Zeitalter bündeln<br />
soll.<br />
Das Internet und der elektronische Geschäftsverkehr<br />
sindvonNaturausglobalangelegt.Deshalbmussein<br />
Mindestmaß an gemeinsamen Regeln auf internationalerEbenefestgelegtwerden.Umdieszuerreichen,<br />
arbeitet die Kommission in verschiedenen multilateralen<br />
Organisationen mit, z. B. in der Internationalen<br />
Fernmeldeunion(ITU)derWelthandelsorganisation<br />
(WTO), der Weltorganisation für geistiges Eigentum<br />
(WIPO), der Organisation für wirtschaftliche<br />
Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) u. a. Als<br />
wichtigste internationale Vereinbarung ist das im<br />
Rahmen der WTO geschlossene Allgemeine Abkommen<br />
über den Handel mit Dienstleistungen<br />
(�GATS) für die Telekommunikation, das den Weg<br />
für den Wettbewerb auf einem bedeutenden Teil des<br />
weltweiten Marktes der Telekommunikationsdiensteebnet,zuerwähnen.<br />
M. K.<br />
Informationsstellen (Info-Points-<strong>Europa</strong> und Carrefours)<br />
in den Mitgliedstaaten und insbes. für den<br />
ländlichen Raum haben neben fachkundiger Beratung<br />
und Information über die Europäische Union<br />
auch offizielle Dokumente und Broschüren für Bürgerinnen<br />
und Bürger angeboten. Info-Points und<br />
Carrefours werden seit 2005 ersetzt durch das neue,<br />
EU-weit einheitliche Informationsnetz �Europe-<br />
Direct mit 400 Informationszentren in den 25 EU-<br />
Staaten. Träger sind in der Regel Handelskammern<br />
oder kommunale Behörden. Anfragen werden<br />
mündlich oder schriftlich beantwortet. Gebührenfrei<br />
(vom Festnetz aus) ist das „Europe Direct Kontaktzentrum“<br />
unter 0800/67891011 aus allen 25 EU-<br />
Staaten zu erreichen.<br />
Internet: http://europa.eu.int/europedirect<br />
Initiativrecht �Gesetzgebungsverfahren<br />
Initiativrecht<br />
443
Inkrafttreten<br />
Inkrafttreten. Im primären �Gemeinschaftsrecht<br />
der EU: Verträge zur Änderung der bestehenden<br />
Verträge bedürfen der Ratifizierung. Der Tag des Inkrafttretens<br />
ist in der Regel im Vertragstext genannt,<br />
andernfalls tritt der Vertrag am ersten Tag des auf die<br />
Hinterlegung der letzten Ratifizierungsurkunde folgendenMonatsinKraft.ErkannnichtinKrafttreten,wennauchnureinMitgliedstaatdenVertragnichtratifiziert.<br />
Der �Verfassungsvertrag 2004 sieht dafür<br />
in Art. IV-443 Abs. 4 ein geändertes Verfahren vor:<br />
Haben nach Ablauf von zwei Jahren nach der Unterzeichnung<br />
des Vertrags zur Änderung dieses Vertrags<br />
vier Fünftel der Mitgliedstaaten den genannten<br />
Vertrag ratifiziert und sind in einem Mitgliedstaat<br />
oder in mehreren Mitgliedstaaten Schwierigkeiten<br />
bei der Ratifikation aufgetreten, so befasst sich der<br />
Europäische Rat mit der Frage.<br />
Im sekundären �Gemeinschaftsrecht der EU: Die<br />
nach dem Kodezisionsverfahren (Art. 251 EGV,<br />
�Gesetzgebungsverfahren)angenommenen �Rechtsakte<br />
werden im �Amtsblatt der EG veröffentlicht.<br />
Sie treten zu dem durch sie festgelegten Zeitpunkt in<br />
Kraft, andernfalls am zwanzigsten Tag nach ihrer<br />
Veröffentlichung.DasgleichegiltfürVerordnungen<br />
des Rates und der Kommission sowie für Richtlinien<br />
dieser Organe, die an alle Mitgliedstaaten gerichtet<br />
sind. Alle anderen Richtlinien und Entscheidungen<br />
werden wirksam, sobald sie dem Adressaten bekannt<br />
gegeben worden sind. Der �Verfassungsvertrag<br />
2004 ändert daran nichts (Art. I-39 VVE). Er selbst<br />
tritt gem. Art. IV-447 am 1. 11. 2006 in Kraft, sofern<br />
alle EU-Staaten ihn ratifiziert haben, andernfalls am<br />
ersten Tag des zweiten auf die Hinterlegung des letzten<br />
Ratifikationsurkunde folgenden Monats. Das bedeutet,<br />
er tritt nicht in Kraft, wenn auch nur ein Staat<br />
ihn nicht ratifiziert.<br />
Inmarsat. Ein seit 1982 bestehendes Unternehmen,<br />
das ein weltweites System zur drahtlosen Übertragung<br />
von Nachrichten von Schiffen, Flugzeugen<br />
oder Fahrzeugen aus betreibt. Das System besteht<br />
aus neun geostationär in 36 000 km Höhe über dem<br />
Äquator stehenden Satelliten, die die gesamte Erdoberfläche<br />
(mit Ausnahme der Pole) in vier Bereichenabdecken:Atlantik-Ost,Atlantik-West,Pazifik<br />
und Indischer Ozean. Das Inmarsat-System wird<br />
auch von Übertragungswagen für Hörfunk und Fernsehen<br />
genutzt, ebenso von Katastrophendiensten,<br />
Expeditionen oder zur Kommunikation mit entfern-<br />
444<br />
ten Baustellen. Am 11. 3. 2005 wurde der erste von<br />
drei Inmarsat-Satelliten der 4. Generation gestartet<br />
und in seine Position gebracht. Sie dienen der Hochgeschwindigkeitsübertragung<br />
von Daten und Stimmen<br />
für Mobiltelefone.<br />
Institut für Europäische Politik (e.V.). 1959 gegründet<br />
als selbständiges wissenschaftliches Institut.<br />
Das IEP ist Gründungsmitglied der Trans European<br />
Policy Studies Association (TEPSA), Brüssel.<br />
Aufgabe des IEP ist es, die Probleme der europäischen<br />
Politik und der Integration wissenschaftlich zu<br />
untersuchen und die praktische Anwendung der Untersuchungsergebnisse<br />
zu fördern. Arbeitsschwerpunkte:<br />
Grundlagen, Strukturen und Institutionen<br />
der EU, Reformdebatten und europapolitische Langzeittrends,<br />
Beiträge zur Integrationstheorie und -geschichte<br />
(�Integration), deutsche <strong>Europa</strong>politik und<br />
Deutschlands Rolle in der EU, EU-Erweiterung und<br />
�Europäische Nachbarschaftspolitik, �Gemeinsame<br />
Außen- und Sicherheitspolitik, �Wirtschaftsund<br />
Währungsunion und andere Politikbereiche,<br />
Fortbildung und europäische politische Bildung<br />
(�Bildungspolitik).<br />
Regelmäßige Publikationen: Jahrbuch der Europäischen<br />
Integration (seit 1981); Vierteljahreszeitschrift<br />
„integration“ (seit 1977); <strong>Europa</strong> von A bis Z.<br />
Taschenbuch der europäischen Integration (9. Auflage<br />
2005); Reihen: Europäische Schriften, Analysen<br />
zur europäischen Verfassungsdebatte (seit 2004<br />
alleNomosVerlag,Baden-Baden). W.M.<br />
Anschrift: Jean-Monnet-Haus, Bundesallee 22, 10717 Berlin.<br />
Institut für Sicherheitsstudien (EUISS). Ursprünglich<br />
in der �Westeuropäischen Union (WEU)<br />
angesiedeltes, infolge des Beschlusses des Europäischen<br />
Rats (ER) in Köln 1999 zur schrittweisen<br />
Überleitung der Rolle und Aufgaben der WEU vom<br />
Rat durch �Gemeinsame Aktion vom 20. 7. 2001 in<br />
die EU überführtes Institut zur wissenschaftlichen<br />
Forschung und Analyse im Bereich der �Gemeinsamen<br />
Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) einschl.<br />
der �Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik<br />
(ESVP). Das EUISS ist in der Rechtsform einer<br />
�Agentur der EU verfasst. Ungeachtet der damit<br />
verbundenen eigenen Rechtspersönlichkeit ist das<br />
EUISSengandeneinheitlicheninstitutionellenRahmen<br />
der EU angebunden (�Satellitenzentrum der<br />
EU, �Europäische Verteidigungsagentur). Die Ar-
eitdesEUISSwirdvoneinemVerwaltungsratüberwacht,demunterdemVorsitzdes<br />
�HohenVertreters<br />
(HR) alle Mitgliedstaaten der EU angehören. Die politische<br />
Aufsicht über das EUISS wird vom �Politischen<br />
und Sicherheitspolitischen Komitee (PSK)<br />
ausgeübt.SitzdesEUISSistParis. U S.<br />
Institutionelles Gleichgewicht ist ein wünschenswerter,<br />
in der Praxis aber kaum vollkommen erreichbarer<br />
Zustand der Ausgewogenheit von Ausübung<br />
derMachtundihrerKontrollezwischendenOrganen<br />
(Institutionen) der EU. Das modellhafte Gleichgewicht<br />
durch Trennung der drei Gewalten Exekutive,<br />
Legislative und Jurisdiktion (Montesquieu 1748) ist<br />
auf die politische Arbeit der EU nicht einfach übertragbar.<br />
Ausgewogene Machtverteilung in der EU<br />
entstehteherdurchdasausderangelsächsischenTradition<br />
entstandene System von checks and balances,<br />
vom Gleichgewicht durch gegenseitige Kontrolle<br />
mit hemmender Wirkung.<br />
In den Anfangsjahren der Europäischen GemeinschaftenwarderRatdasalleinentscheidendelegislative<br />
Organ, das auch exekutive Befugnisse, also den<br />
Erlass von Durchführungsverordnungen, weitgehend<br />
in der Hand behielt. Dem heute erreichten, noch<br />
unvollkommenen Zustand von institutionellem<br />
Gleichgewicht näherte sich die Gemeinschaft durch<br />
schrittweise Änderungen der Gründungsverträge<br />
und allmähliche Übertragung von Zuständigkeiten<br />
auf das Europäische Parlament (legislative Mitentscheidung)<br />
und die Kommission (exekutive Befugnisse).<br />
Auch �Interinstitutionelle Vereinbarungen<br />
trugen zur Austarierung des Gleichgewichts bei. So<br />
wurde einerseits das �Demokratiedefizit im Rechtsetzungsverfahren<br />
der EG abgebaut, andererseits die<br />
MachtdesRatesdurchwachsendeEntscheidungsbefugnisse<br />
des EP beschnitten.<br />
Da diese Machtverlagerung vom Rat zum Parlament<br />
mit dem Abbau des Vetorechts der Mitgliedstaaten<br />
einherging (Übergang von der Einstimmigkeit zum<br />
Mehrheitsbeschluss), also mit Souveränitätsübertragung<br />
verbunden war, kam sie oft nur mühsam und<br />
durch Überwindung hinhaltenden Widerstands einzelner<br />
Regierungen zustande. Aber dieser Übergang<br />
zur „echten“ �Supranationalität der Gemeinschaft<br />
war die Voraussetzung für das Entstehen eines annähernden<br />
Gleichgewichts der Institutionen und der<br />
Annäherung an das Ziel der Rechtsetzung auf demokratischer<br />
und rechtsstaatlicher Basis.<br />
Dem Versuch eines Organs der EU, das institutionelle<br />
Gleichgewicht vertragswidrig zu seinen Gunsten<br />
zu verändern, kann ein anderes Organ mit einer Klage<br />
vor dem EuGH begegnen. Ein einschlägiges Urteil<br />
begründete der EuGH u. a. so: „Die Wahrung des<br />
institutionellen Gleichgewichts gebietet es, dass jedes<br />
Organ seine Befugnisse unter Beachtung der Befugnisse<br />
der anderen Organe ausübt. Sie verlangt<br />
auch, dass eventuelle Verstöße gegen diesen Grundsatz<br />
geahndet werden können“ (vgl. EuGH, Slg.<br />
1990, I-2041 – Tschernobyl –).<br />
Institutionen der EU �Organe (allgemein)<br />
Integration<br />
Integration<br />
1. Begriffserklärung: Integration bedeutet den Zusammenschluss<br />
einzelner Teile zu einem übergeordneten<br />
Ganzen. In der Politik beschreibt Integration<br />
etwas Weitergehendes als die Zusammenarbeit von<br />
Staaten: Wenn diese sich zu einer Integration entscheiden,<br />
dann geben sie nationalstaatliche ZuständigkeitenaneineübergeordneteEbeneab,dieeigene<br />
Organe ausbildet. Es entsteht ein supranationales Institutionensystem<br />
(�Supranationalität) mit autonomer<br />
Rechtsordnung, d. h. Staaten arbeiten nicht nur<br />
auf Gebieten gemeinsamen Interesses zusammen,<br />
sondern übertragen auf freiwilliger Basis nationale<br />
Hoheitsrechte an überstaatliche Institutionen. Im<br />
Gegensatz zur Kooperation kommt es zu einer Verschmelzung<br />
von ursprünglich nationalstaatlichen<br />
Hoheitsrechten. Die gemeinschaftliche Politik soll<br />
mehr sein als nur die Summe der Politiken der einzelnen<br />
Mitglieder.<br />
Die europäische Integration ist in ihrer Art bisher ein<br />
weltweit einzigartiger Vorgang. Das Wort Integration<br />
bezeichnet im politischen Sprachgebrauch sowohl<br />
ein Ziel als auch den zu diesem Ziel führenden<br />
Prozess.<br />
2. Historische Entwicklung: Das Nachdenken über<br />
ein politisch geeintes <strong>Europa</strong> hat eine lange Tradition.<br />
Konkretisiert hat sich die Idee nach den zwei<br />
Weltkriegen. Die zweimalige Zerstörung des Kontinents<br />
gab Überlegungen Auftrieb, dass es eine Form<br />
der Zusammenarbeit geben müsse, die solche Katastrophen<br />
verhindere. Instrumente zur friedlichen Lösung<br />
von Konflikten sollten entwickelt werden. Dabei<br />
standen sich zwei unterschiedliche Konzeptionen<br />
gegenüber:<br />
Die Konföderalisten setzten auf einen eher losen, un-<br />
445
Integration<br />
verbindlichen Staatenbund, der die SouveränitätsrechtederMitgliedstaatenunangetastetlassensollte.<br />
Hier wird kein Gesamtstaat mit eigener Staatsgewalt<br />
und eigenen Staatsorganen angestrebt. Die Mitgliedstaaten<br />
können sich zwar verpflichten, gemeinsame<br />
Einrichtungen zu unterhalten und gemeinsam einheitliche<br />
Gesetze zu erlassen; diese müssen aber, um<br />
rechtsverbindlich zu werden, gemäß den Bestimmungen<br />
der Mitgliedstaaten als Übereinkommen<br />
verabschiedetwerden.DeshalbistdieseineFormder<br />
�intergouvernementalen Zusammenarbeit zwischen<br />
Staaten. Grundgedanke ist, dass allein der klassische<br />
NationalstaatüberdieMittelverfüge,diezuroptimalen<br />
Entwicklung einer modernen Nation notwendig<br />
seien.<br />
Die Föderalisten gehen davon aus, dass es eine Reihe<br />
von Problemen gibt, die nur in einem sehr engen Verbund<br />
der Mitgliedstaaten mit eigenständigen Entscheidungsstrukturen<br />
zu lösen sind. Ein Teil der gemeinsamen<br />
Politik wird dann über die eigens hierfür<br />
ausgebildeten supranationalen Organe betrieben.<br />
Vorteile:<br />
– größere Effizienz durch die Bündelung gemeinsamer<br />
Ressourcen (z. B. in der Forschungs- und Technologiepolitik);<br />
– wirksame Lösungen bei Problemen, die nationale<br />
Grenzen überschritten haben (z. B. in der Umweltpolitik);<br />
– größere Wettbewerbschancen auf dem Weltmarkt<br />
durch gegenseitiges Abstimmen von Normen (z. B.<br />
in der Außenhandelspolitik);<br />
– das Setzen von Standards gibt auch den weniger<br />
entwickelten Mitgliedstaaten Anreiz zu neuen Anstrengungen<br />
(z. B. soziale Dimension, Verbraucherschutzniveau);<br />
– die Lasten des Strukturwandels können in gegenseitiger<br />
Solidarität getragen werden.<br />
Die föderale Idee geht davon aus, dass bestimmte<br />
Kompetenzen bei den Gliedstaaten verbleiben, d. h.<br />
die Mitgliedstaaten werden sich nicht auflösen. Deshalb<br />
wird der Begriff Föderation auch mit Bundesstaat<br />
gleichgesetzt. Das Austarieren der Balance<br />
zwischen den Mitgliedstaaten und der europäischen<br />
Struktur ist Ausdruck eines lebendigen Föderalismus.<br />
Da keines der beiden Modelle ohne Weiteres zu verwirklichen<br />
war, einigten sich die Gründerstaaten der<br />
EWG, den Weg der sektoriellen Teilintegration einzuschlagen:<br />
Es wurde nur ein bestimmter definierter<br />
446<br />
Teilbereich (EGKS: Kohle und Stahl; EWG: Agrarund<br />
Zollbereich; EAG: Atomwirtschaft) vergemeinschaftet.<br />
Die Erwartung war, dass sich die in der engen<br />
wirtschaftlichen Kooperation angesammelten<br />
Erfahrungen auch auf andere Bereiche ausdehnen<br />
lassen werden (Funktionalismus) und zuletzt auch<br />
sensiblere politische Sachbereiche einbezogen werden<br />
können („spill over“). Während beim Ansatz des<br />
Funktionalismus der Integrationsprozess eher inkrementalistischerNatur,d.h.aufZuwachsangelegtist,<br />
ist Ausgangspunkt des Föderalismus/Konföderalismus<br />
eine politische Willenserklärung und ggf. damit<br />
verbunden ein verfassungsähnlicher Akt.<br />
Der Prozess der Vertiefung der politischen Integration<br />
erwies sich als problematisch: Alle Versuche, ein<br />
politisches Dach über die bisherigen Integrationsfortschritte<br />
zu wölben, verliefen erfolglos (�Verfassungsvertrag<br />
2004, �Verfassungsentwürfe). So war<br />
es in den siebziger Jahren nur möglich, einen Teilbereich<br />
originärer nationalstaatlicher Kompetenz im<br />
Kooperationsverfahren (intergouvernemental) in<br />
gemeinsames Handeln zu überführen (�Europäische<br />
Politische Zusammenarbeit). Erst mit dem Vertrag<br />
über die Europäische Union (1993) ist es gelungen,<br />
drei Säulen unterschiedlicher Integrationsqualität<br />
mit einem Unions-Vertrag zu überwölben.<br />
Die bisherige Entwicklung der europäischen Integration<br />
zeigt zwei unterschiedliche Formen: Einmal<br />
gibt es im Vertragswerk festgeschriebene Ziele, die<br />
bei den Mitgliedstaaten keine unmittelbaren Kosten<br />
verursachen, so dass man davon ausgeht, dass der<br />
Markt selbst zu einer gerechten Verteilung der Güter<br />
führt und deshalb keine flankierenden Strukturmaßnahmen<br />
vonseiten der EU notwendig sind (negative<br />
Integration, z. B. europäischer Binnenmarkt). Dann<br />
wieder gibt es Politikbereiche, in denen die EU politisch<br />
gestaltend agiert, was auch haushaltsrelevante<br />
Kostenansätze zur Folge hat (positive Integration,<br />
z. B. wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt).<br />
3. Gegenstandsbeschreibung: Die europäische Integration<br />
ist immer noch durch ihre Prozesshaftigkeit<br />
gekennzeichnet; die endgültige Form der Integration<br />
ist noch nicht erreicht. Die Europäische Union, so<br />
wie sie sich aktuell darstellt, ist eine Mischung aus<br />
den beiden Elementen Konföderation und Föderation:<br />
Es gibt nebeneinander sowohl supranationale<br />
wie intergouvernementale Elemente. Das deutsche<br />
Bundesverfassungsgericht hat deshalb in seinem Urteil<br />
zum Vertrag über die Europäische Union als
Klassifizierung des Integrationsstandes den Begriff<br />
„Staatenverbund “ eingeführt. Auch der Entwurf eines<br />
Vertrages über eine Verfassung für <strong>Europa</strong> überwindet<br />
diese unterschiedlichen Integrationsansätze<br />
nicht.<br />
Vor dem Hintergrund der immer größer werdenden<br />
EU und damit verbunden der Notwendigkeit des Erhalts<br />
ihrer Handlungsfähigkeit werden Formen differenzierter<br />
Integration verstärkt diskutiert (�Integrationsmodelle,<br />
u. a. �Kerneuropa, �Abgestufte Integration<br />
etc.).<br />
4. Kritische Wertung: Problematisch bei der Qualifizierung<br />
des Integrationsprozesses ist, dass das Ziel<br />
bisher nur vage beschrieben worden ist. Die Formel<br />
„EuropäischeUnion“kannvielerleiInterpretationen<br />
beinhalten. Dadurch findet bei jedem weiterreichenden<br />
Integrationsschritt eine intensive Diskussion<br />
über das zu wählende Konzept statt. Dieses hat – je<br />
nachdem, welche Seite sich durchsetzen konnte – zu<br />
einer vom Ansatz her heterogenen Vertragsrealität<br />
geführt. Auf der anderen Seite bleibt durch die Offenheit<br />
der Formel „Europäische Union“ eine Handlungsmarge<br />
in der aktuellen politischen Situation gegeben.<br />
Vielleicht macht dies auch den Erfolg der bisherigen<br />
Integration aus: Man konnte immer mit den<br />
zu dem jeweiligen Zeitpunkt angemessenen, durchsetzbaren<br />
Mitteln weiter voranschreiten. Wäre das<br />
Konzept starrer, wäre die Integration behindert worden.<br />
M. P.<br />
Literatur:<br />
Bieling, H. J./Lerch. M.: Theorien der europäischen<br />
Integration. Stuttgart 2005<br />
Faber, A.: Europäische Integration und politikwissenschaftliche<br />
Theorienbildung. Neofunktionalismus und<br />
Intergouvernementalismus in der Analyse. Wiesbaden 2005<br />
Hallstein, W.: Der unvollendete Bundesstaat.<br />
Düsseldorf/Wien 1969<br />
Haltern, U.: Die Wissenschaft des öffentlichen Rechts und die<br />
europäische Integration. Köln 2005<br />
Integrationsmodelle und -theorien<br />
1. Begriff: Die europäische Integration wird von<br />
Überlegungen aus Wissenschaft und Praxis im Hinblick<br />
auf Möglichkeiten ihrer aktuellen und künftigenEntwicklungbegleitet.DieEUistimLichtepolitikwissenschaftlicher<br />
Analysen eine „intergouvernementale<br />
Kooperationsform“ bzw. ein „Zweckverband<br />
funktioneller Integration“, woraus diverse Modelle<br />
entwickelt worden sind. Ein „Modell“ stellt<br />
eine gedankliche Vereinfachung eines Komplexes<br />
auf seine wesentlichen Bestandteile dar. Es ist die<br />
Integrationsmodelle<br />
Suche nach Verallgemeinerungen und wichtigen<br />
Strukturzusammenhängen. Ausgangspunkt ist die<br />
politische Entscheidung nach einer Vollintegration<br />
oder (funktionalen) Teilintegration. Einige alternative<br />
Modellentwürfe aus der Zeit bis zur Mitte der<br />
1970er Jahre werden im Folgenden präsentiert.<br />
2. Modelle<br />
– Modell „Evolutionäres <strong>Europa</strong>“: Es visiert eine<br />
Teilunionan,währenddiebisherigeStruktursichnur<br />
unwesentlich ändert; eine stärkere Zusammenarbeit<br />
in mehreren Bereichen wird stattfinden, aber diplomatisch<br />
und machtpolitisch wird dieses <strong>Europa</strong> als<br />
Ganzes schwach bleiben; die Unabhängigkeit von<br />
den USA wird wachsen, gleichzeitig soll Ost(mittel)europa<br />
hinzugezogen werden.<br />
– Modell „Atlantisches <strong>Europa</strong>“: Enge Zusammenarbeit<br />
mit der Großmacht USA in Politik, Sicherheit,<br />
Industrie und Technologie usw.<br />
– Modell „<strong>Europa</strong> der Staaten“ (Vaterländer): Europäische<br />
Institutionen ergänzen nur die nationalstaatliche<br />
Autonomie; eine Staatenunion (Konföderation)<br />
mit koordinierter Politik (�Fouchet-Pläne<br />
1961/62); bilaterale und multilaterale Bündnisse<br />
(vgl. Locarno-Pakt).<br />
– Modell „Partnerschafts-<strong>Europa</strong>“: Europäische Föderation<br />
und Partnerschaft mit den USA; Endziel:<br />
VereinigteStaatenvon<strong>Europa</strong>mitbundesstaatlicher<br />
Verfassung, föderaler Superstaat durch Zusammenfassung<br />
aller wirtschaftlichen, sozialen, militärischen<br />
und politischen Verantwortung (Forderung<br />
Monnets seit 1950; Barzel-Plan); <strong>Europa</strong> würde zum<br />
weltpolitischen Faktor.<br />
– Modell „Unabhängige Europäische Föderation“:<br />
Vereinigtes <strong>Europa</strong> als „<strong>Europa</strong> der Staaten“ mit<br />
bundesstaatlicher Struktur, ohne die USA.<br />
– Modell „Wirtschafts- und Währungsunion“: Sie<br />
würde einer Politischen Union angenähert sein<br />
(�Werner-Plan).<br />
– Modell „Europäische Union“: Forderung der Pariser<br />
Gipfelkonferenz von 1972; nach internationaler<br />
Interpretation eine (Kon-)Föderation, nach bundesdeutscher<br />
Interpretation eine politische Union<br />
(�Einheitliche Europäische Akte 1986 und �Vertrag<br />
über die Europäische Union 1992).<br />
Schließlich sind institutionelle und Rationalchoice-Ansätze<br />
zu nennen.<br />
3. Theoretische Grundlagen: Als Verfahrensweisen<br />
bieten sich verschiedene Wege zur europäischen Integration<br />
an: der föderalistische, der institutionelle,<br />
447
Integrierte Mittelmeerprogramme<br />
der konstitutionelle, der funktionalistische und der<br />
kulturelle Weg. Daraus wurden verschiedene Integrationstheorien<br />
entwickelt, und zwar<br />
a) die föderalistische Theorie (einmaliger politischer<br />
Verfassungsakt zur Schaffung eines Vereinigten<br />
<strong>Europa</strong>);<br />
b) die funktionalistische Theorie (Zusammenschluss<br />
von Funktionsbereichen, z. B. Wirtschaft,<br />
Politik, Kultur; durch technische und administrative<br />
Kooperation wird ein allmählicher Wandel der einzelstaatlichen<br />
Handlungsparameter erwartet; nach<br />
der neofunktionalistischen Theorie stehen die konfliktregelnden<br />
Institutionen, einschl. der in ihnen arbeitenden<br />
Menschen, im Vordergrund, spezifische<br />
integrationsfördernde Variablen werden berücksichtigt<br />
und gebündelt zu Hintergrundvariablen und<br />
Prozessvariablen; als wichtigste Variable gelten die<br />
nationalen Interessengruppen, die sich zu regionalen<br />
Interessenverbänden mit eigenständigen Entscheidungsstrukturen<br />
zusammenschließen und durch<br />
Druck auf mehr Integration hinarbeiten);<br />
c) die systemtheoretische Konzeption;<br />
d) das (neo-)liberale Konzept (Marktmechanismus<br />
als per se freiheitsverbürgendes und wohlfahrtsoptimierendes<br />
Grundprinzip).<br />
Eine andere integrationstheoretische Klassifizierung<br />
teilt ein<br />
a) in den Ansatz Kerneuropa: Vertiefung, enger Zusammenschluss<br />
integrationsfähiger und -williger<br />
Staaten, funktional-sektoral orientiert;<br />
b) in den intergouvernementalen Ansatz: vor allem<br />
von den britischen Konservativen verfolgt; richtet<br />
sich gegen eine föderalistische Zentralisierung;<br />
c) in den Ansatz �Abgestufte Integration: einige<br />
Mitglieder gehen voran, die anderen folgen (z. B.<br />
�Währungsunion); es handelt sich um eine differenzierte<br />
Integration durch ein „opting-in“ leistungsbereiter<br />
Mitgliedstaaten.<br />
Schließlich hält die kybernetische Methode die Ausweitung,<br />
Regelung und Steuerung grenzüberschreitender<br />
Kommunikations- und Transaktionsströme<br />
für den grundlegenden Vorgang der transnationalen<br />
Gemeinschaftsbildung.<br />
Seit Mitte der 1970er Jahre stagniert die Theorieentwicklung,<br />
wobei die Integration eigentlich keine<br />
Theorie im strengen sozialwissenschaftlichen Sinne<br />
darstellt, sondern eher ein Beschreibungsschema bestimmter<br />
pragmatischer Strategien der Politik, Prozessmodelle<br />
für das Zusammenwachsen ökonomi-<br />
448<br />
scher, politischer und sozialer Systeme, deren Realitätsbezugnichteindeutigist.NebenderIntegrationssteht<br />
daher die (oft realistischere) Kooperationsmethode.<br />
Diese beruht auf einem Grad von Demokratie<br />
in den teilnehmenden Staaten. Soll sich die Kooperation<br />
in Richtung auf die Integration bewegen, so<br />
muss gleichzeitig der Grad an Demokratie erhöht<br />
werden. W. M.<br />
Literatur:<br />
Bellers, J.: Integrationstheorien. In: Nohlen, D. (Hg.): Pipers<br />
Wörterbuch zur Politik. Bd. 3: Europäische Gemeinschaft<br />
(hg. von W. Woyke). München 1984, S. 354 – 362<br />
Giering, Cl.: <strong>Europa</strong> zwischen Zweckverband und Superstaat.<br />
Die Entwicklung der politikwissenschaftlichen Integrationstheorie<br />
im Prozess der europäischen Integration.<br />
München 1997<br />
Integrierte Mittelmeerprogramme �Barcelona-<br />
Prozess<br />
Integrierte ProduktpolitikistdasZieleinervonder<br />
KommissionimGrünbuchvom7.2.2001entwickelten<br />
Strategie, die zu umweltfreundlicheren Produkten<br />
führen soll. Die Industrie soll zu ökologischer<br />
Produktion angehalten, die Preisbildung ökologischer<br />
Produkte durch (z. B. steuerliche) Vorteile begünstigt<br />
und die Verbraucher sollen zu kritischer<br />
Wahl motiviert werden.<br />
Intelligente Energie für <strong>Europa</strong>. Das Programm<br />
Intelligente Energie für <strong>Europa</strong> (IEE) wurde am 26.<br />
6. 2003 mit der Entscheidung Nr. 1230/2003 (ABl. L<br />
176/2003) für eine Dauer von zunächst vier Jahren<br />
(2003–2006)ausderTaufegehobenundverfügtüber<br />
ein Budget von 250 Mio. Euro. Es folgt dem sog.<br />
Energierahmenprogramm, konzentriert sich jedoch<br />
auf die Förderung erneuerbarer Energien und der rationellen<br />
Nutzung von Energie. Das IEE-Programm<br />
ist als nicht-technologisches Programm der GemeinschaftimBereichEnergiekonzipiert,d.h.imGegensatz<br />
zum EU-Forschungsrahmenprogramm befasst<br />
es sich nicht mit Erforschung und Demonstration<br />
nachhaltiger Energietechnologien, sondern setzt in<br />
der Phase der Markteinführung ein. Das IEE trägt<br />
den übergreifenden energiepolitischen Zielen der<br />
EU–Klimaschutz,VersorgungssicherheitundWettbewerbsfähigkeit<br />
– und den quantitativen Vorgaben<br />
für den Ausbau regenerativer Energien und die Steigerung<br />
der Energieeffizienz Rechnung. Dabei fördertesinersterLinieProjektelokaler,regionaler,nationaler<br />
und europäischer Akteure, die zur Markter-
schließung von nachhaltigen Energietechnologien<br />
beitragen und Investitionen ankurbeln, administrative<br />
Barrieren abbauen helfen, die Bewusstsein für<br />
nachhaltige Energieerzeugung und -nutzung schaffen<br />
sowie die Umsetzung bestehenden und die Vorbereitung<br />
zukünftigen EU-Rechts unterstützen. Das<br />
laufende Programm ist in vier Bereiche unterteilt:<br />
SAVE (Energieeffizienz und rationelle Nutzung von<br />
Energie); ALTENER (neue und erneuerbare Energien),<br />
STEER (Energieeffizienz und Nutzung neuer<br />
und erneuerbarer Energiequellen im Verkehrssektor)<br />
sowie COOPENER (Förderung erneuerbarer<br />
Energien und Energieeffizienz in Entwicklungsländern).<br />
Die Umsetzung des Programms liegt mittlerweile<br />
größtenteils in den Händen der neu gegründeten<br />
Exekutivagentur (Intelligent Energy Executive<br />
Agency),dieihrenSitzinBrüsselhatunddieersteihrer<br />
Art ist.<br />
Im Zuge der Verhandlungen über die Finanzielle<br />
Vorausschau 2007 – 2013 wird auch über die FortführungdesIEE-Programmsundseinenzukünftigen<br />
Zuschnitt entschieden.<br />
Anlässlich des EU-Frühjahrsgipfels nahm die Kommission<br />
am 6. 4. 2005 den Vorschlag für ein neues<br />
Rahmenprogramm für Wettbewerbsfähigkeit und<br />
Innovation an, das u. a. das Programm Intelligente<br />
Energiefür<strong>Europa</strong>einschließensoll. U. N.<br />
Internet:<br />
http://europa.eu.int/comm/energy/intelligent/index_en.html<br />
Intergouvernementale Zusammenarbeit (Zusammenarbeit<br />
der Regierungen) ist die Methode der<br />
politischen Entscheidungsfindung und der Durchführung<br />
gemeinsamer Maßnahmen in den Bereichen<br />
der zweiten und der dritten �Säule im Rahmen des<br />
EU-Vertrages. Intergouvernementale Zusammenarbeit<br />
ist die allgemeine Form der Zusammenarbeit internationaler<br />
Organisationen, beruht also, anders als<br />
die (supranationale) �Gemeinschaftsmethode der<br />
EG, auf dem Völkerrecht. In der intergouvernementalen<br />
Zusammenarbeit werden verbindliche Entscheidungen<br />
in der Regel einstimmig bzw. im Konsensgetroffen.DamitstehtjedemStaateinVetorecht<br />
zu; intergouvernementale Zusammenarbeit ist insoweit<br />
nicht mit einer Übertragung von Souveränität<br />
auf gemeinsame Organe verbunden.<br />
Interinstitutionelle Konferenzen werden von der<br />
Ratspräsidentschaft der Europäischen Union, dem<br />
Interinstitutionelle Vereinbarungen<br />
Europäischen Parlament und der Europäischen<br />
Kommission gemeinsam veranstaltet und finden unter<br />
Teilnahme außerinstitutioneller Fachleute statt.<br />
Sie sind bestimmten Themen (z. B. der Drogenpolitik<br />
in <strong>Europa</strong>) gewidmet. Auch der „Konvent zur Zukunft<br />
<strong>Europa</strong>s“ zur Vorbereitung des Entwurfs einer<br />
Verfassung für <strong>Europa</strong> oder der Konvent zur Ausarbeitung<br />
der Grundrechtecharta können als interinstitutionelle<br />
Konferenzen angesehen werden.<br />
Interinstitutionelle Vereinbarungen. Mit diesem<br />
Begriff bezeichnet man „Rechtshandlungen“, die<br />
das Verhältnis zwischen den EU-Organen oder gemeinsame<br />
Absprachen der Organe für das Handeln<br />
nach außen betreffen.<br />
Interinstitutionelle Vereinbarungen beinhalten eine<br />
Selbstbindung der betreffenden Organe. Auf der<br />
Grundlage von Art. 272 EGV, der für den Haushalt<br />
einen Dialog von Rat und Europäischem Parlament<br />
festlegt, entwickelte sich als erste Vereinbarung<br />
1975 ein Konzertierungsverfahren (�Gesetzgebungsverfahren)zwischendenOrganenderEG.Dieses<br />
betrifft neben dem Haushaltsverfahren alle<br />
Rechtsakte mit erheblichen finanziellen Auswirkungen.<br />
Sofern es zu Meinungsverschiedenheiten zwischen<br />
Rat und EP kommt, wird ein Konzertierungsausschuss,indemauchdieKommissionvertretenist,<br />
zusammengerufen, um innerhalb von drei Monaten<br />
eineAnnäherungderStandpunktezuerreichen.Erstmals<br />
angewendet wurde das Verfahren 1977 bei der<br />
Vorbereitung der EG-Haushaltsordnung. Dialoge<br />
zwischen den Organen fanden auch bei der Beschlussfassung<br />
über die Direktwahl zum EP statt.<br />
Durch den Vertrag über die Europäische Union, der<br />
die Mitwirkungsrechte des EP bei der Rechtsetzung<br />
erheblich erweiterte und neue Institutionen schuf<br />
(Bürgerbeauftragter, nichtständige Untersuchungsausschüsse,Vermittlungsausschuss),warenauchdie<br />
gegenseitigen Rechte und Pflichten der Organe neu<br />
zu bestimmen. Im November 1992 wurden unter britischem<br />
Vorsitz interinstitutionelle Verhandlungen<br />
aufgenommen und deren Ergebnisse am 25. 10. 1993<br />
paraphiert:<br />
1. In der interinstitutionellen Erklärung zu Demokratie,TransparenzundSubsidiaritäterklärtsichderRat<br />
zu folgenden Maßnahmen bereit: Öffentlichkeit bei<br />
bestimmten Aussprachen; Veröffentlichung und Erläuterung<br />
der Abstimmungsergebnisse; Zustimmung<br />
der Kommission zu umfassenderen Konsulta-<br />
449
Interkulturelles Lernen<br />
tionen vor der Vorlage von Vorschlägen und Angabe<br />
von geplanten Vorschlägen im Legislativprogramm,<br />
zu denen weiterer Diskussionsbedarf bestehen könnte.<br />
Darüber hinaus wurde ein Notifizierungsverfahren<br />
eingeführt. Es beinhaltet die zusammenfassende<br />
Veröffentlichung von Initiativen der Kommission<br />
und nennt eine Antwortfrist für die interessierten<br />
Parteien.<br />
2.DieVereinbarungüberdie„VerfahrenzurAnwendung<br />
des Subsidiaritätsprinzips“ sieht vor, dass jeder<br />
Vorschlag der Kommission eine Rechtfertigung im<br />
Hinblick auf das Subsidiaritätsprinzip enthält. Entsprechend<br />
hat die Kommission alle Rechtsvorschriften<br />
überprüft und in ihrem Bericht an den Europäischen<br />
Rat vom 10./11. 12. 1993 erstmals Vorschläge<br />
zur Überarbeitung der Rechtsvorschriften entwickelt,<br />
um deren hohe Komplexität zu beseitigen. Sie<br />
schlug zudem vor, eine �Normenhierarchie einzuführen.<br />
3. Außerdem wurden in den interinstitutionellen<br />
Verhandlungen der Beschluss des EP über die Regelung<br />
der Aufgaben des �Bürgerbeauftragten von Rat<br />
und Kommission gebilligt und die Modalitäten für<br />
deninArt.251EGVvorgesehenenVermittlungsausschuss<br />
zwischen den Organen vereinbart.<br />
Vorschläge zur Regelung der interinstitutionellen<br />
Vereinbarungen, die im Verfassungsentwurf des EP<br />
undauchimZusammenhangmitderRegierungskonferenz<br />
1996 angesprochen wurden, fanden keinen<br />
Niederschlag im Amsterdamer Vertrag. In der dem<br />
Vertrag von Nizza beigefügten „Erklärung für die<br />
Schlussakte der Konferenz zu Art. 10 EGV“ wird lediglich<br />
darauf verwiesen, dass das EP, der Rat und<br />
die Kommission interinstitutionelle Vereinbarungen<br />
schließen können, wenn dadurch die Anwendung<br />
der Bestimmungen des EG-Vertrages erleichtert<br />
werde. Artikel IV-438 VVE 2004 bestimmt, dass<br />
Interinstitutionelle Vereinbarungen nach Inkrafttreten<br />
des �Verfassungsvertrags als „weitere Teile des<br />
�Besitzstandes der EG und der EU“ weiter Bestand<br />
habenwerden. U. M.<br />
Literatur<br />
Jopp, M./Maurer, A./Schmuck, O. (Hg.): Die Europäische<br />
Union nach Amsterdam. Analysen und Stellungnahmen zum<br />
neuen EU-Vertrag, Bonn 1998<br />
Weidenfeld, W. (Hg.): Nizza in der Analyse, Gütersloh 2001<br />
Interkulturelles Lernen<br />
1. Der Begriff: Unter Verzicht auf mannigfaltige Implikationen<br />
und Probleme kann man interkulturelles<br />
450<br />
Lernen folgendermaßen zusammenfassen: Die Jugendlichen<br />
erwerben Einstellungen und Fähigkeiten,<br />
welche ihnen einen vernünftigen und offenen<br />
Umgang mit Menschen anderer Sprache, Kultur und<br />
Nationalität in einer multikulturellen Gesellschaft<br />
ermöglichen und zu möglichst konfliktfreien Kulturbegegnungen<br />
im Zeitalter der Europäisierung und<br />
Globalisierung beitragen. Interkulturelles Lernen<br />
stellt eine Herausforderung dar, welche sich gleichzeitig<br />
an die einheimischen wie an die zugewanderten<br />
Mitglieder der Gesellschaft richtet. „Interkulturelles<br />
Lernen ist eine Form des sozialen Lernens, das<br />
durch die Erfahrung kultureller Unterschiede und in<br />
Form kultureller Vergleiche sowohl zu einer genauen<br />
Analyse und Relativierung der eigenen Normen<br />
und Sozialsysteme als auch zum Abbau kultureller<br />
(nationaler)Vorurteileführt“(Bundeszentrale1998,<br />
S. 356). In einer multikulturellen Gesellschaft wird<br />
interkulturelles Lernen zu einem unverzichtbaren<br />
Element der Persönlichkeitsbildung und Identitätsfindung<br />
jedes Einzelnen.<br />
2. Von der „Ausländerpädagogik“ zur InterkulturellenPädagogik:Spätestensseitden1970erJahrenhaben<br />
die Begriffe interkulturelles Lernen, interkulturelle<br />
Erziehung und interkulturelle Bildung einen<br />
nachhaltigen Eingang in die pädagogische Literatur,<br />
aber auch in offizielle bildungspolitische Stellungnahmen<br />
und Empfehlungen gefunden und sind rasch<br />
zu einem Schwerpunktthema der Pädagogik geworden.<br />
Als Konsequenz der starken Zuwanderung ausländischer<br />
Arbeitskräfte mit ihren Familien ging es<br />
zunächst vor allem darum, die Integration der Migrantenkinder<br />
zu erleichtern und deren Schwierigkeiten<br />
bei der Eingliederung in die deutschen Schulen<br />
abzubauen sowie ihre Anpassung an die dominante<br />
deutsche Kultur zu fördern.<br />
Diese „Sonderpädagogik für Ausländerkinder“ sah<br />
sich jedoch bald heftiger Kritik ausgesetzt, weil sie<br />
die Migranten ausgrenzte, indem deren Sonderstellung<br />
betont wurde (Defizithypothese), und zugleich<br />
bei den ausländischen Kindern und Jugendlichen<br />
durch massive Assimilations- und Integrationsversuche<br />
zu Identitätsproblemen führte. Deshalb wurde<br />
interkulturelles Lernen in den 1980er Jahren dahingehend<br />
erweitert, dass man nun auch die soziale und<br />
kulturelle Eigenständigkeit der jugendlichen Migranten<br />
förderte. Die Beschäftigung mit Religion,<br />
Brauchtum und Sprache der Herkunftsländer wurde<br />
in die pädagogischen Maßnahmen einbezogen. Das
ZielderIntegrationindiedeutscheGesellschaftwurde<br />
darüber freilich nicht aufgegeben. Andererseits<br />
richtete sich interkulturelles Lernen jetzt auch an die<br />
einheimischen Schülerinnen und Schüler, indem die<br />
Bildungseinrichtungen nun alle gleichermaßen auf<br />
das Zusammenleben in einer dauerhaft multikulturellen<br />
und pluralen Gesellschaft vorbereiten sollen;<br />
interkulturelles Lernen wurde zu einer besonderen<br />
Ausprägung des politischen und des sozialen Lernens.<br />
3. Die europäische Dimension im interkulturellen<br />
Lernen: Pädagogische und didaktische Überlegungen<br />
zu einem „Lernen für <strong>Europa</strong>“ begleiteten den<br />
europäischen Integrationsprozess von Anfang an.<br />
Die Kommission und der Ministerrat der Europäischen<br />
Gemeinschaft, der <strong>Europa</strong>rat sowie die deutschen<br />
Kultusminister fassten weitreichende Beschlüsse<br />
und entwarfen Richtlinien für eine europäische<br />
Erziehung, welche die Notwendigkeit aufzeigten,<br />
ein hinreichendes Grundwissen über die Institutionen<br />
und die Funktionen der Gemeinschaft zu vermitteln<br />
und die Herausbildung einer „europäischen<br />
Identität“ bei den Schülerinnen und Schülern zu unterstützen.<br />
Die Vollendung des europäischen Binnenmarktes in<br />
den frühen 1990er Jahren und die damit verbundene<br />
nahezu völlige Freizügigkeit für Selbständige und<br />
Arbeitnehmer innerhalb der Europäischen Union<br />
verstärkte die Möglichkeit, aber auch die Notwendigkeit<br />
zu einer hochgradigen grenzüberschreitenden<br />
Mobilität. Die Erweiterung der Union um zehn<br />
mittel- und osteuropäische Staaten im Jahr 2004 auf<br />
25 Mitglieder hat das Feld möglicher Begegnungen<br />
und Auseinandersetzungen mit Angehörigen andererVölkerundmitanderenKulturenabermalserheblich<br />
vergrößert. Ungeachtet der ethnischen und der<br />
sozialen Herkunft müssen sich nunmehr alle Jugendlichen<br />
auf Kulturbegegnungen vorbereiten und zur<br />
Bewältigung von Situationen und Herausforderungen<br />
in anderem kulturellen Umfeld befähigt werden.<br />
Interkulturelles Lernen in europäischer Dimension<br />
bedeutet nicht weniger als die Vorbereitung auf die<br />
eigene zukünftige Lebenswelt. Bei der Konzeption<br />
der Lernprozesse ist sowohl die immigrationspolitischeeuropäischeKomponente(Multikulturalitätder<br />
deutschen Gesellschaft durch die Zuwanderung von<br />
Unionsbürgern) als auch die emigrationspolitische<br />
Komponente (zeitlich befristete oder auf Dauer angelegte<br />
Verlagerung des Lebensmittelpunktes von<br />
Interkulturelles Lernen<br />
Deutschen in andere Mitgliedstaaten der Gemeinschaft)<br />
zu berücksichtigen.<br />
Die europäische Dimension kann interkulturelles<br />
Lernen bereichern, weil der charakteristische Wesenszug<br />
der europäischen Einigung „Einheit in der<br />
Vielfalt“ die Akzeptanz eines geregelten Neben- und<br />
Miteinanders unterschiedlicher Kulturen und Lebensweisen<br />
geradezu voraussetzt. Das �„Mehrebenensystem“derEUermöglichteinHineinwachsenin<br />
den größeren europäischen Lebensraum, ohne dass<br />
regionale und einzelstaatliche kulturelle Bindungen<br />
und Identifikationen aufgegeben werden müssen;<br />
diese werden vielmehr durch die Zugehörigkeit zur<br />
Europäischen Gemeinschaft vielfältig erweitert und<br />
ergänzt.EsentstehtkeineneueeuropäischeEinheitskultur;<br />
interkulturelles Lernen in europäischer Dimension<br />
eröffnet vielmehr die Chance zur Begegnung<br />
mit einer Vielzahl von Denk- und Lebensformen<br />
anderer gleichberechtigter Unionsbürger und<br />
trägt so zu einer vorurteilsfreien und Neuem gegenüber<br />
offenen Persönlichkeitsbildung bei.<br />
4. Das Integrationsproblem. Sowohl die Schul- und<br />
die Unterrichtsorganisation als auch die Didaktik<br />
und Methodik der einzelnen Fächer stehen angesichts<br />
der großen und weiter wachsenden Zahl<br />
nicht-einheimischer Schülerinnen und Schüler vor<br />
neuen Herausforderungen. Interkulturelles Lernen<br />
hat immer zwei Aspekte: Die Kinder und Jugendlichen<br />
des eigenen Landes müssen befähigt werden,<br />
mit den historischen Erfahrungen, den Einstellungen<br />
und Verhaltensweisen der Fremden zurechtzukommen,<br />
während die aus anderen Ländern zugewanderten<br />
bzw. aus nicht-deutschen Familien stammenden<br />
Kinder bei der angemessenen Anpassung an die Lebensgewohnheiten<br />
und gesellschaftlichen Wertvorstellungen<br />
in Deutschland gefordert und gefördert<br />
werden müssen. Ohne gewisse Zumutungen ist dies<br />
nicht zu erreichen.<br />
Weitgehend hat sich die Auffassung durchgesetzt,<br />
dass es dabei nicht um Assimilation und völlige Aufgabe<br />
von Familien- und Milieubindungen gehen<br />
kann, sondern um das Erlernen eines Lebens in einer<br />
offenen multikulturellen Gesellschaft, deren Regelungen<br />
verstanden und loyal eingehalten werden<br />
müssen. Diese Regelungen ermöglichen durchaus<br />
auchdieArtikulationundVerfolgungdereigenenInteressen<br />
der Immigranten, was unbedingt Gegenstand<br />
einer verantwortungsbewussten interkulturellen<br />
Pädagogik sein sollte.<br />
451
Interkulturelles Lernen<br />
„Die Bildungspolitik ist wahrscheinlich das wichtigste<br />
Feld, auf dem ein gewisser Integrationszwang<br />
ausgeübt werden muss“ (Paul Nolte; in: DIE ZEIT<br />
vom 17. 12. 2004, S. 9). Schule und Unterricht haben<br />
die schwierige Aufgabe der drohenden Verweigerung<br />
und Abschottung ausländischer Schülerinnen<br />
und Schüler gegenüber der deutschen Gesellschaft<br />
entgegenzuwirken; sie müssen deshalb sowohl einem<br />
Kulturimperialismus, der nur die eigenen –<br />
deutschen–Wertegeltenlässt,alsaucheinerüberzogenenToleranz,dieeinZusammenlebennurdannfür<br />
möglich hält, wenn kulturelle Wertvorstellungen der<br />
Immigranten vorbehaltlos Gültigkeit behalten, eine<br />
Absage erteilen.<br />
5. Inhalte und Ziele: Die wichtigsten Intentionen in<br />
dem breit gefächerten Lernzielkatalog für interkulturelles<br />
Lernen sind:<br />
– Entwicklung von sprachlicher, emotionaler und<br />
problembewusster Kommunikations- und Interaktionsfähigkeit<br />
(kommunikative Kompetenz),<br />
– Ausbildung der Fähigkeit, Angehörigen anderer<br />
Kultur- und Lebenswelten mit Toleranz, Achtung<br />
und Verständigungsbereitschaft zu begegnen und<br />
andere Kulturen als gleichberechtigt wahrzunehmen,<br />
– Ausprägung der Bereitschaft gesellschaftliche<br />
Pluralität als Wesenszug und Bereicherung menschlichen<br />
Zusammenlebens anzuerkennen,<br />
– Förderung der Einsicht in die Tatsache, dass unterschiedliche<br />
Lebensformen und Verhaltensweisen in<br />
einer hochkomplexen und multikulturellen Gesellschaft<br />
jeweils auf spezifische historische und soziale<br />
Voraussetzungen und Bedingungen zurückzuführen<br />
sind,<br />
– Erwerb der Fähigkeit zur kritischen Selbstwahrnehmung<br />
und realistischen Selbsteinschätzung,<br />
– Vergewisserung der eigenen Identität in der Auseinandersetzung<br />
mit Fremden und Bereitschaft, die<br />
eigenen Einstellungen und Verhaltensweisen rationalzuüberprüfenundgegebenenfallszukorrigieren,<br />
– Überwindung von Vorurteilen, Stereotypen, selektiver<br />
Wahrnehmung und der Angst vor Neuem<br />
und Fremdem.<br />
6. Wege, Chancen und Grenzen: Eine unabdingbare<br />
Voraussetzung produktiver interkultureller Begegnungen<br />
ist die Mehrsprachigkeit; interkulturelles<br />
Lernen beinhaltet deshalb vorrangig das Erlernen<br />
von Fremdsprachen (Fremdsprachenunterricht bereits<br />
in der Grundschule, bilingualer Unterricht,<br />
452<br />
Sprachreisen). Freilich ist längst deutlich geworden,<br />
dass sprachbezogene Ansätze durch andere unterrichtliche<br />
Maßnahmen ergänzt werden müssen; hier<br />
sind vor allem zu nennen: Rollenspiele, Perspektivenwechsel,<br />
biografisches Erzählen und Fall- bzw.<br />
Konfliktanalysen. Positive Erfahrungen ergaben<br />
sich auch bei Kulturvergleichen (interkultureller<br />
Vergleich), wobei sowohl Gemeinsamkeiten als<br />
auch Unterschiede der jeweiligen Kulturen zu erarbeiten<br />
und zu begründen sind; zu denken ist zunächst<br />
an Lebensgewohnheiten (Kleidung, Tagesablauf,<br />
Ess-Sitten), an die Gestaltung von Feiertagen und<br />
Festen in verschiedenen Kulturkreisen, aber auch an<br />
unterschiedliches Reagieren auf bestimmte Situationen<br />
und Herausforderungen sowie an Einstellungen<br />
und Wertesysteme. Eine besondere Bedeutung<br />
kommt der schwerpunktmäßigen Behandlung eines<br />
bestimmten Landes oder Kulturkreises in fächerverbindenden<br />
Projekten mit produktions- und produktorientierter<br />
Zielsetzung zu (vgl. Bundeszentrale<br />
1998 und Mickel 1993, S. 170).<br />
Schließlich ist auch auf das umfangreiche Bildungsprogramm<br />
der Europäischen Union (�Comenius,<br />
�Erasmus usw.), auf die Möglichkeit des Schülerund<br />
Jugendaustausches, auf grenzüberschreitende<br />
Schulpartnerschaften, den �„<strong>Europa</strong>tag“ und den<br />
alljährlich durchgeführten �Europäischen Wettbewerb<br />
hinzuweisen.<br />
Interkulturelles Lernen darf die Schülerinnen und<br />
Schüler nicht überfordern. Alle Lernprozesse sind<br />
auf ihre Zumutbarkeit für die Jugendlichen und ihre<br />
Altersgemäßheit hin zu überprüfen; andererseits hat<br />
interkulturelles Lernen in allen Schularten, in allen<br />
Bildungseinrichtungen und auf allen Schulstufen<br />
seinen Platz. Die Bereitschaft zu Toleranz, Offenheit<br />
gegenüber Fremdem und die uneingeschränkte<br />
Akzeptanz multikulturellen Zusammenlebens kann<br />
nicht verordnet, wohl aber in überlegt konzipierten<br />
Unterrichtsarrangements erworben werden. Da häufigEinstellungs-undVerhaltensänderungendasZiel<br />
sind, dürfen die Erwartungen nicht zu hoch angesetzt<br />
werden; interkulturelles Lernen erfolgt in der Regel<br />
stufen- und schrittweise (Spiralcurriculum) und solltemöglichstfreiwilligvonstattengehen.„Vominterkulturellen<br />
Unterricht kann man nicht erwarten, dass<br />
mit ihm die großen Ziele wie Duldsamkeit und interkulturelles<br />
Einvernehmen von heute auf morgen realisiert<br />
werden. Mit anderen Kulturen zusammenleben<br />
kann man nur in einem langwierigen Prozess ler-
nen, mit dem man nicht früh genug beginnen kann.“<br />
(van Geertruyen, G.; in: Hohmann/Reich 1993).<br />
Interkulturelles Lernen verfehlt seine Erfolgschancen<br />
dann, wenn die Möglichkeit von Konflikten,<br />
welche bei der Begegnung und beim Zusammenleben<br />
von Menschen aus verschiedenen Kulturen auftreten<br />
können, verharmlost oder gar geleugnet werden;<br />
Konfliktwahrnehmung und rationale Konfliktbewältigung<br />
sind konstitutive Elemente interkulturellen<br />
Lernens. „Einmal aufgebaute Weltorientierungen<br />
geben Handlungssicherheit... . Wenn diese<br />
grundlegenden Weltorientierungen preisgegeben<br />
werden müssen, dann erzeugt dies unvermeidlich<br />
Orientierungslosigkeit“ (Nieke 2000). Deshalb hat<br />
interkulturelles Lernen die Aufgabe, das Weltbild<br />
der Jugendlichen zu erweitern, nicht aber es zu zerstören.<br />
Der zentrale Ort interkulturellen Lernens ist zwar die<br />
Schule, der Erfolg ist jedoch auch von den EinstellungenundderErziehungimElternhaus,vomgesellschaftlichen<br />
Umfeld der Jugendlichen und von politischenVorgabenabhängig.<br />
G. M.<br />
Literatur:<br />
Auernheimer, G. u.a.(Hg.): Interkulturalität im Arbeitsfeld<br />
Schule. Opladen 2001<br />
Brocker, M./Nau. H. H. (Hg.): Ethnozentrismus. Möglichkeiten<br />
und Grenzen des interkulturellen Dialogs. Darmstadt 1997<br />
Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): Lernen für<br />
<strong>Europa</strong>. Bonn 1993<br />
Dies. ( Hg.): Interkulturelles Lernen. Bonn 1998<br />
Dallmann, H.-U.: Das Recht, verschieden zu sein. Gütersloh<br />
2002<br />
Hohmann, M./Reich, H. H.(Hg.): Ein <strong>Europa</strong> für Mehrheiten<br />
und Minderheiten. Münster/New York 1993 2<br />
Jungmann, W.: Kulturbegegnung als Herausforderung der<br />
Pädagogik. Münster/New York 1995<br />
Kanther, M.: Interkulturelles Lernen. Stuttgart 2001<br />
Körber, A. (Hg.): Interkulturelles Geschichtslernen. Münster<br />
u.a. 2001<br />
Mickel, W. W.: Lernfeld <strong>Europa</strong>. Grundlagen einer<br />
europäischen Erziehung. Opladen 1993 2<br />
Möbius, B.: Die liberale Nation. Deutschland zwischen nationaler<br />
Identität und multikultureller Gesellschaft. Opladen 2003<br />
Neubert, S. u. a. (Hg.): Multikulturalität in der Diskussion.<br />
Opladen 2002<br />
Nieke, W.: Interkulturelle Erziehung und Bildung.<br />
Opladen 2000 2<br />
Rauscher, A.: Immigration und Integration. Berlin 2003<br />
Internationaler Strafgerichtshof (IStGH). Der<br />
IStGH mit Sitz in Den Haag (Niederlande) ist ohne<br />
Zweifel ein bedeutendes neues Instrument zur Ahndung<br />
von Völkermord, Verbrechen gegen die<br />
Internetadressen<br />
Menschlichkeit und Kriegsverbrechen und damit<br />
auch zur völkerrechtlichen Prävention solcher Straftaten.<br />
Das Römische Statut zur Errichtung des noch<br />
im Aufbau befindlichen Gerichtshofs trat am 1. 7.<br />
2002 in Kraft. Deutscher Richter und Mitglied der<br />
Vorermittlungskammer des IStGH ist derzeit Hans-<br />
Peter Kaul. Die Bundesrepublik ist größter Beitragszahler<br />
und gehörte von Anfang an zu den wichtigsten<br />
Unterstützern des Gerichtshofes, ganz im Gegensatz<br />
zu den USA, die das Projekt (derzeit) grundsätzlich<br />
ablehnen.<br />
Nach der Idee des IStGH sollen sich künftig die Verantwortlichen<br />
für Krieg und Vertreibung nicht mehr<br />
unter den Schutzschirm nationaler Souveränität stellen<br />
und damit Strafe entziehen können. Auch soll<br />
eine positive Ausstrahlung auf nationale Strafrechtssysteme<br />
und Rechtsüberzeugungen entstehen. Mit<br />
Hilfe des IStGH sollen künftig schwerste Verbrechen<br />
gegen das Völkerrecht, welche die internationale<br />
Gemeinschaft als Ganzes berühren, auch gegenüber<br />
Individuen wirkungsvoll geahndet werden. Zugleich<br />
soll hierdurch die Herrschaft des Rechts in den<br />
internationalenBeziehungengefestigtwerden.Nach<br />
denpolitischenVorgabendesEuropäischenRatesist<br />
die effektive Zusammenarbeit mit dem IStGH VoraussetzungfüreinenEU-Beitritt.<br />
J. M. B.<br />
Internet: http://www.icc-cpi.int/<br />
Internet-Adressen der EU. Die Europäische<br />
Union ist über das zentrale Internetportal „<strong>Europa</strong>“<br />
(http://europa.eu.int) zu erreichen. Über diese EingangsseiteerfolgtzunächstdieSprachwahlunddann<br />
der Zugang zu den Internet-Adressen (Webseiten)<br />
derEuropäischenUnion,ihrerOrgane,Institutionen,<br />
Einrichtungen und Dienste, welche jedoch teilweise<br />
häufig wechseln.<br />
Diese bieten einen Überblick über sämtliche Politikbereiche,<br />
in denen die Europäische Union aufgrund<br />
der ihr durch die Verträge übertragenen Zuständigkeiten<br />
tätig ist und geben Zugang zu allen geltenden<br />
und in Vorbereitung befindlichen Rechtsakten. Hinzu<br />
kommen aktuelle Informationen („Schlagzeilen“),<br />
Themenschwerpunkte und Kontakthinweise<br />
(„Dialog“). Die meisten Seiten ermöglichen die<br />
Kontaktaufnahme über E-Mail-Adressen.<br />
Die Institutionen der EU präsentieren sich in ihren<br />
Stammangeboten (auf den ‚homepages‘) in der Regel<br />
in allen Amtssprachen, aktuelle und speziellere<br />
Angebote werden anfänglich, zum Teil aber auch<br />
453
INTERREG<br />
dauerhaft, oft nur in englischer und französischer<br />
Sprache vorgelegt.<br />
Spätestens im Jahr 2006 soll (in Abstimmung mit<br />
ICANN, der quasi-offiziellen Internet-Regulierungsstelle,<br />
eineeigeneTop-Level-Domain„eu“zur<br />
Verfügung stehen. Die Registrierung der „eudomains“<br />
erfolgt über die belgische Nonprofit-Organisation<br />
EURid.<br />
Eigenständige Internet-Adressen der EU-Einrichtungen<br />
(vorbehaltlich möglicher Änderungen, Stand<br />
Frühjahr 2005):<br />
EP: www.europarl.eu.int<br />
Rat: http://ue.eu.int<br />
Europäische Kommission:<br />
http://europa.eu.int/comm<br />
EuGH: http://curia.eu.int/de/index.htm<br />
EuRH: www.eca.eu.int<br />
Europäischer Bürgerbeauftragter:<br />
www.euro-ombudsman.eu.int<br />
EZB: www.ecb.int<br />
EIB: www.eib.eu.int<br />
EIF: www.eif.eu.int<br />
Eurostat: http://europa.eu.int/comm/eurostat<br />
EWSA: www.esc.eu.int<br />
AdR: www.cor.eu.int<br />
Internet-Adressen anderer europäischer Institutionen und<br />
Einrichtungen:<br />
<strong>Europa</strong>rat: www.coe.int<br />
EFTA: www.efta.int<br />
OSZE: www.osce.org<br />
B. K. S.<br />
Eine umfangreiche kommentierte Sammlung von europabezogenen<br />
Internetadressen bietet das �Institut für Europäische Politik<br />
unter: www.iep-berlin.de/links<br />
INTERREG �Regionalpolitik<br />
Ioannina-Kompromiss, Vereinbarung von Ioannina.<br />
Der �Maastrichter Vertrag (in Kraft getreten am<br />
1. 11. 1993) hatte die Stimmen im Rat der 12 Mitgliedstaaten<br />
auf 76 festgelegt, wovon 54 eine qualifizierte<br />
Mehrheit bildeten. 23 Stimmen konnten also<br />
einen Beschluss verhindern (Sperrminorität). Der<br />
Beitritt von Finnland, Österreich und Schweden am<br />
1. 1. 1995 erhöhte die Stimmenzahl im Rat auf 87, die<br />
Sperrminorität sollte entsprechend auf 26 Stimmen<br />
wachsen. Einige Mitgliedstaaten, darunter Großbritannien<br />
und Spanien, sahen darin eine Schmälerung<br />
ihres nationalen Einflusses und verlangten weiterhin<br />
eineBegrenzungderSperrminoritätauf23Stimmen.<br />
Nach langen Verhandlungen stimmten sie der neuen<br />
Regelung in Art. 205 EGV zu und erhielten vom Rat,<br />
454<br />
der am 29. 3. 1994 in Ioannina (Korfu) tagte, einen<br />
Kompromiss angeboten: Wenn sich bei einem Beschluss<br />
mit qualifizierter Mehrheit 23 bis 25 Neinstimmen<br />
melden, wird weiter verhandelt, bis ein einvernehmliches<br />
Ergebnis erzielt wird. In der Erklärung<br />
Nr. 50 der Regierungskonferenz zum Amsterdamer<br />
Vertrag (in Kraft getreten am 1. 5. 1999) wurde<br />
vereinbart, dass der Ioannina-Kompromiss bis<br />
zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der ersten Erweiterung<br />
verlängert wird und dass bis dahin eine Lösung<br />
für den Sonderfall Spanien gefunden werden muss.<br />
Diese Frage wurde im Vertrag von Nizza (2001) entschieden<br />
durch eine neue Stimmverteilung im Rat<br />
(Art. 3 des Protokolls über die Erweiterung der EU)<br />
und die Möglichkeit jedes Ratsmitglieds, feststellen<br />
zu lassen, ob die Mitgliedstaaten, die eine qualifizierteMehrheitbilden,mindestens62%derGesamtbevölkerung<br />
der EU repräsentieren.<br />
IRDAC (Industrial Research and Development Advisory<br />
Committee). Ehemaliger Beratender Ausschuss<br />
für industrielle Forschung und Entwicklung<br />
bei der Europäischen Kommission. Ersetzt durch<br />
�ERF (European Research Forum)<br />
ISPA (Instrument for Structural Policies for Pre-<br />
Accession),einEU-ProgrammimRahmenderintensivierten<br />
�Heranführungsstrategie für die �MOE-<br />
Staaten zur finanziellen Unterstützung im Bereich<br />
der wirtschaftlichen und sozialen Kohäsion, insb.<br />
der Umwelt- und der Verkehrspolitik. In der Planungsperiode2000–2006werdendazujährlichetwa<br />
1 Mrd. Euro an nicht rückzahlbaren Hilfsmitteln zur<br />
Verfügunggestellt.RechtsgrundlagefürISPAistdie<br />
Verordnung 1267/1999 des Rates vom 21.6.1999<br />
über ein strukturpolitisches Instrument zur VorbereitungaufdenBeitritt(ABl.L161/1999).<br />
B. K. S.<br />
IST (Information Society Technologies), Technologien<br />
für die Informationsgesellschaft. Entwicklung<br />
benutzerfreundlicher Informationstechnologien ist<br />
einer der sieben vorrangigen Themenbereiche im 6.<br />
Forschungsrahmenprogramm (2002 bis 2006). Gefördert<br />
wird Forschung und Entwicklung im Bereich<br />
Informationsgesellschaft.<br />
IStGH �Internationaler Strafgerichtshof<br />
ITER �JET
Jaunde-Abkommen. Bei Gründung der EWG wurdendieKolonienBelgiensundFrankreichsderEWG<br />
assoziiert (Teil IV EWGV). Nach ihrer UnabhängigkeitvondenMutterländernschlossen17neuentstandene<br />
afrikanische Staaten und Madagaskar am 20. 7.<br />
1963inJaunde(Kamerun)einAssoziierungsabkommen<br />
mit der EWG, das am 1. 7. 1964 in Kraft trat und<br />
eine Laufzeit von 5 Jahren hatte. Als Assoziierte<br />
Afrikanische Staaten und Madagaskar (AASM) hatten<br />
sie bevorzugte Handelsbeziehungen zur EWG<br />
(stufenweise Bildung einer Freihandelszone) und<br />
wurden durch entwicklungspolitische Maßnahmen<br />
gefördert. Die Maßnahmen wurden aus dem 1958<br />
(gem. Art. 131 und 136 EWGV) gegründeten, nicht<br />
in den Haushalt der Gemeinschaft einbezogenen<br />
�Europäischen Entwicklungsfonds finanziert (Budget<br />
1964–1968: 730 Mio. RE = �Europäische Rechnungseinheit).<br />
Das Nachfolgeabkommen vom 29. 7. 1969 (Jaunde<br />
II, in Kraft am 1. 1. 1971) stockte die Mittel für die<br />
nächsten fünf Jahre auf 828 Mio. RE auf.<br />
Das Jaunde-Abkommen wurde nach dem Beitritt<br />
Großbritanniens und seinen Bindungen im Commonwealth<br />
1975 durch das �Lomé-Abkommen ersetzt,<br />
das auch Staaten der Karibik und des Pazifiks<br />
einschloss (�AKP-Staaten).<br />
Jenkins, Roy (1920 – 2003), britischer Politiker,<br />
Minister in verschiedenen Ressorts. 1955 – 1957<br />
Mitglied der Beratenden Versammlung des <strong>Europa</strong>rats,<br />
1977–1980 Präsident der EG-Kommission,<br />
Träger des Karlspreises der Stadt Aachen.<br />
JESSI (Joint European Submicron Silicon Initiative),1988gestartetesundimRahmenvon�EUREKA<br />
gefördertes Mega-Projekt im Bereich der Mikroelektronik<br />
zur Entwicklung eines 64-MB-Chips.<br />
Laufzeit des Projekts bis 1997. Eines der Ergebnisse<br />
ist die Entwicklung des tragbaren Telefons (Handy).<br />
Nachfolger war das Projekt �Medea (1997–2000).<br />
JET (Joint European Torus) ist die in Culham/England<br />
stationierte, weltweit größte Anlage für Fusionsexperimente,<br />
betrieben ursprünglich (seit<br />
J<br />
1978) von EURATOM, jetzt von EFDA (European<br />
Fusion Development Agreement). Hier versuchen<br />
Forscher, die kontrollierte thermonukleare Verschmelzung<br />
von Atomkernen als neue Energiequelle<br />
nutzbar zu machen. Die Anlage arbeitet nach dem<br />
Tokamak-Prinzip (magnetischer Einschluss von<br />
Plasmen). Als Nachfolger war NET (Next European<br />
Torus) geplant, jetzt abgelöst von ITER. An der Entwicklung<br />
von ITER (International Thermonuclear<br />
Experimental Reactor; auch: iter, lat.: der Weg) sind<br />
neben der EU auch die USA, Russland, Japan, China<br />
und Südkorea beteiligt. Mit dem Bau soll Ende 2005<br />
in Cadarache (Südfrankreich) begonnen werden.<br />
Joint European Venture (JEV) �Finanzierungsinstrumente<br />
Ziff. 2<br />
Jugend für <strong>Europa</strong> �Bildungsprogramme<br />
Jugendforum<br />
Jugendforum der EU. 1978 gegründet; vertritt die<br />
Jugendorganisationen als Sprachrohr gegenüber den<br />
EU-Institutionen, dem <strong>Europa</strong>rat und den Vereinten<br />
Nationen. Mitglieder sind nationale Komitees für Jugendarbeit<br />
aus europäischen Staaten und GUS-Staaten<br />
sowie internationale Jugendverbände, insgesamt<br />
93. Das Forum wird finanziell von der EU unterstützt<br />
und vor jugendspezifischen Entscheidungen der<br />
Kommission und des EP angehört.<br />
Das Jugendforum beschäftigt sich mit allen die EU<br />
betreffenden Fragen. Die Vertreter der Jugendlichen<br />
befürworten u. a. ein �<strong>Europa</strong> der Bürger, eine Zusammenarbeit<br />
der Jugendorganisationen auf europäischer<br />
Ebene (um die Entscheidungen der EU-<br />
Gremien zu beeinflussen), ein Initiativrecht zugunsten<br />
einer Diskussion jugendpolitischer Fragen und<br />
Chancen zu ihrer Durchsetzung. Die Jugendvertreter<br />
lehnen die Art der europäischen Integrationspolitik<br />
(mangelnde Bürgerbeteiligung), das Vorherrschen<br />
des ökonomischen über das soziale <strong>Europa</strong>, die Art<br />
der Beziehungen zur Dritten Welt, das Fortbestehen<br />
der regionalen und sozialen Unterschiede in <strong>Europa</strong><br />
ab. Das Jugendforum erweist sich als eine demokratisch<br />
strukturierte Plattform der Jugend gegenüber<br />
der EU. Es besteht aus den Vorsitzenden, der Gene-<br />
455
Jugendschutz<br />
ralversammlung, den Permanenten Kommissionen<br />
und dem Exekutivkomitee; das Sekretariat ist in<br />
Brüssel. W. M.<br />
Adressen: Rue Joseph II 120 B, B–1000 Bruxelles ; Deutsches<br />
Nationalkomitee für Internationale Jugendarbeit, c/o Deutscher<br />
Bundesjugendring, Mühlendamm 3, 10178 Berlin<br />
Internet: www.youthforum.org<br />
Jugendschutz. Unter dem Begriff Jugendschutz<br />
werden Maßnahmen zum Schutz der Jugendlichen<br />
vor gesundheitlichen und moralischen Gefahren zusammengefasst.Inden25EU-StaatenistderJugendschutz<br />
sehr unterschiedlich geregelt, teils gibt es eigenständige<br />
Gesetze, teils sind sie Bestandteil allgemeiner<br />
Rechtsvorschriften. Die Europäische Union<br />
verfügt grundsätzlich über keine Kompetenz in diesem<br />
Aufgabenbereich; diese liegt weiterhin bei den<br />
Mitgliedstaaten. Dennoch hat die EU innerhalb von<br />
einzelnen Aktionsprogrammen – speziell in den Bereichen<br />
Medien, Gesundheit und Inneres – Verbote<br />
und präventive Jugendschutzmaßnahmen formuliert.<br />
Für die audiovisuellen Medien verlangt z. B. die<br />
Richtlinie 89/552 „Fernsehen ohne Grenzen“ (ABl.<br />
L 298/1989) von den Mitgliedstaaten in Art. 22,<br />
Maßnahmen zu ergreifen, „um zu gewährleisten,<br />
dass Sendungen von Fernsehveranstaltern, die ihrer<br />
Rechtshoheit unterworfen sind, keine Programme<br />
enthalten, die die körperliche, geistige und sittliche<br />
Entwicklung von Minderjährigen schwer beeinträchtigen<br />
können, insbes. solche, die Pornografie<br />
oder grundlose Gewalttätigkeiten zeigen“. Im Zuge<br />
der technischen Weiterentwicklung konzentrieren<br />
sich die Empfehlungen und Maßnahmenprogramme<br />
der EU auf die Kompetenzstärkung der durch Eltern<br />
ausgeübten Kontrolle der Nutzung audiovisueller<br />
MediendurchKinderundJugendlichesowieaufeine<br />
Selbstregulierung der Medienanbieter. Bespielhaft<br />
seien hier das Grünbuch über den Jugendschutz und<br />
den Schutz der Menschenwürde (KOM 1996/483<br />
endg.),derAktionsplanzurFörderungeinessicheren<br />
Gebrauchs des Internets (ABl. L 92/1999), die Mitteilung<br />
über illegale und schädigende Inhalte im Internet<br />
(KOM 1996/487) und der Empfehlung des<br />
Rats zum Jugendschutz und Schutz der Menschenwürde<br />
in den audiovisuellen Medien und den Informationsdiensten<br />
(98/560, ABl. L 270/1998) genannt.<br />
Auch bieten die neuesten technologischen<br />
Entwicklungen wie der V-Chip beim Fernsehen und<br />
das PICS (Platform for Internet Content Selection)<br />
456<br />
bei den Online-Medien ein größeres Maß an elterlicher<br />
Kontrolle. Außerdem, so die Kommission, „besteht<br />
in jedem Fall der Vorteil (der elterlichen Kontrolle,<br />
G. C. G.) darin, dass eine Lösung ‚von unten‘<br />
und keine Lösung ‚von oben‘ angeboten wird, die die<br />
Notwendigkeit der Vorzensur und die potenzielle<br />
Wirksamkeit der Selbstkontrolle erhöht“. Die Kompetenzstärkung<br />
von Eltern und Lehrkräften über die<br />
RisikendesInternetsstehtauchbeimdemProgramm<br />
„Mehr Sicherheit im Internet“ (2005 –2008, mit 45<br />
Mio. Euro ausgestattet) im Vordergrund.<br />
Im Gesundheitsbereich finden sich sowohl Anbieter-<br />
und Werbungsverbote als auch PräventionsmaßnahmengegenDrogen-,Tabak-undAlkoholprodukte<br />
und für ungesunde Ernährung und Verhütung von<br />
HIV/Aids.UnterstütztdurchdieErkenntnis,dassgesundheitsschädigendes<br />
Konsumverhalten bereits im<br />
Kindes- und Jugendalter beginnt, zielen EU-Maßnahmen<br />
wie das Aktionsprogramm der Gemeinschaft<br />
im Bereich der öffentlichen Gesundheit (2003<br />
– 2008) darauf, die betroffenen Jugendlichen, Eltern<br />
und betreuenden Personen über Risiken aufzuklären<br />
und dafür zu sensibilisieren. Desgleichen fordert die<br />
EU-Kommission die Mitgliedstaaten auf sicherzustellen,<br />
dass die Hersteller von Tabak- und Alkoholprodukten<br />
keine Erzeugnisse gezielt für Kinder und<br />
Jugendliche produzieren und dass die Aufmachung<br />
der Erzeugnisse und/oder die Werbung nicht auf<br />
KinderundJugendlicheabzielt.Dabeiistspeziellauf<br />
die verwendeten Trendsymbole oder die Verwendung<br />
von Bildern, die mit dem Konsum der Produkte<br />
assoziiert sind, z. B. Konsum und sportlicher/gesellschaftlicher<br />
Erfolg, den Einsatz von Kindern in Werbekampagnen<br />
für die Erzeugnisse sowie das Sponsoring<br />
für Getränke und Tabakprodukte (Sportmannschaften,<br />
Merchandising im sportlichen Bereich<br />
usw.) zu achten. Mit „HELP – For a life without tobacco“<br />
(2005 – 2008), lanciert die EU eine „Gegen-Rauchen-Kampagne“<br />
für junge Leute. Die<br />
Kampagne wirbt für ein Leben ohne Tabak, macht<br />
die Gefahren des Passivrauchens deutlich und unterstützt<br />
die Bemühungen um rauchfreie öffentliche<br />
Zonen. Jugendliche (15 bis 18 Jahre) und junge Erwachsene<br />
(18 bis 30 Jahre) sind die Hauptzielgruppe<br />
der Aktion.<br />
Auch im Bereich der Gewaltprävention und Gewalt<br />
gegen Kinder und Jugendliche ist die EU aktiv. Das<br />
DAPHNE II Programm (2004 – 2008) ist ein präventiv<br />
ausgerichtetes Aktionsprogramm der EU zur Be-
kämpfung von Gewalt gegen Kinder, Jugendliche<br />
und Frauen, das auf die Unterstützung und Tätigkeit<br />
nichtstaatlicher Organisationen abzielt, die sich im<br />
Kampf gegen Gewalt an Kindern, Jugendlichen und<br />
Frauen engagieren.<br />
Gefördert werden z. B. der Auf- und Ausbau multidisziplinärer<br />
Netze für die Zusammenarbeit zwischen<br />
�Nichtregierungsorganisationen, der Austausch<br />
von Informationen und bewährten Praktiken<br />
sowie die Sensibilisierung der Öffentlichkeit.<br />
Allen Maßnahmen der EU ist gemeinsam, dass sie<br />
Jugendliche über Risiken und Gesundheitsgefahren<br />
aufklären und ihre eigene Handlungskompetenz<br />
stärken, die Hersteller zur Selbstregulierung anregen,<br />
die Kompetenz der betreuenden Erwachsenen<br />
schulen und grundsätzlich eine gesunde Entwicklung<br />
– körperlich wie auch geistig und seelisch – von<br />
Jugendlichen fördern wollen. Da es sich bei allen<br />
Programmen um zeitlich und räumlich begrenzte<br />
Projektehandelt,istdieNachhaltigkeitdereinzelnen<br />
Aktionen nur bedingt messbar. Anzunehmen ist,<br />
dass viele der Programme auf eine Veränderung des<br />
BewusstseinsderBeteiligtenhinwirken. G. C. G.<br />
Jugendwerk, Deutsch-Französisches. Eine aufgrund<br />
des Deutsch-Französischen Vertrages (Elysée-Vertrag)<br />
vom 22. 1. 1963 und durch Abkommen<br />
vom 5. 7. 1963 entstandene Organisation zur Förderung<br />
der Beziehungen zwischen der Jugend beider<br />
Staaten. Es bietet das umfangreichste, staatlich subventionierte<br />
(bilaterale) Austauschprogramm zwischen<br />
Jugendorganisationen, Sportvereinen, Schulen,<br />
Universitäten, Gewerkschaften, Partnerschaftskomitees<br />
und Gemeinden. Unter anderem führt es<br />
junge Menschen aus beiden Ländern zu mehrwöchigenBegegnungslagernzusammen.<br />
W. M.<br />
Anschriften: Molkenmarkt 1, D–10179 Berlin;<br />
51 rue de l’Admiral-Mouchez, F–75013 Paris<br />
Internet: www.dfjw.org<br />
Jugendwerk, Deutsch-Polnisches. Auf der<br />
Grundlage der Vereinbarung über den Deutsch-<br />
Polnischen Jugendaustausch (6. 11. 1990) und dem<br />
Abkommen über das Deutsch-Polnische Jugendwerk<br />
(17. 6. 1991) fördert das Deutsch-Polnische Jugendwerk<br />
seit 1. 1. 1993 den Schüler- und Jugendaustausch<br />
zwischen beiden Ländern. Durchgeführt<br />
werden u. a. Workcamps, Seminare, Fortbildungen<br />
und Sprachkurse. Maßnahmen wie Workcamps, Jugendfreizeiten<br />
und -treffen, Musik- und Sportveran-<br />
Justiz und Inneres<br />
staltungen werden teilweise durch Zuschüsse gefördert.<br />
Höchstes Organ des Jugendwerkes ist der<br />
Deutsch-Polnische Jugendrat, dessen Vorsitzende<br />
die für Jugend zuständigen Minister(innen) beider<br />
Ländersind. W. M.<br />
Anschrift: Deutsch-Polnisches Jugendwerk,<br />
Friedhofsgasse 2, 14473 Potsdam<br />
Junge Europäische Föderalisten (JEF) (Jeunes<br />
EuropéensFédéralistes),1949gegründetalsJugendorganisation<br />
der �Union der Europäischen Föderalisten<br />
UEF (in Deutschland: 1949 Bund Europäischer<br />
Jugend BEJ, ab 1957 Junge Europäische Föderalisten).<br />
Europäischer, föderalistischer, überparteilicher<br />
Jugendverband mit Sitz in Brüssel und Sektionen<br />
in über 30 Ländern; Mitglieder bis 35 Jahre.<br />
Ziele: ein gemeinsames, demokratisches, soziales,<br />
ökologisches<strong>Europa</strong>;Vereinigungdereuropäischen<br />
Völker auf föderalistischer Grundlage (europäischer<br />
Bundesstaat);föderaleStruktureninallenLebensbereichen,<br />
eine menschliche Umwelt, Menschenrechte,<br />
soziale Gerechtigkeit, Toleranz und Freiheit, Abbau<br />
von Herrschaft über Menschen, Demokratisierung<br />
der Wirtschaft, d. h. föderalistische Neuordnung<br />
der europäischen Gesellschaft (Bundessatzung,<br />
Art. 2). <strong>Europa</strong> soll zur Selbstbestimmung in<br />
der Welt(politik) fähig sein. Grundlage der Arbeit ist<br />
das �Hertensteiner Programm.<br />
Veranstaltung von Seminaren, Diskussionen, Informationsfahrten,<br />
Jugendaustausch und -treffen, Aktionen<br />
zu allen Fragen der europäischen Einigung,<br />
gesamteuropäischer Dialog und Kooperation auf der<br />
Grundlage des friedlichen Nebeneinanders, Bildung<br />
eineseuropäischenBewusstseins. W. M.<br />
Anschrift: JEF-Deutschland e.V., Bundessekretariat,<br />
Greifswalder Straße 4, 10405 Berlin.<br />
Grundsatzdokument: „Europäisches Manifest“, 1977<br />
Justitielle Zusammenarbeit �Polizeiliche und<br />
justitielle Zusammenarbeit (PJZS)<br />
Justiz und Inneres. Bis 1986 einigte man sich auf<br />
das europäische Vorgehen in Fragen der Justiz und<br />
des Inneren in �Ad-hoc-Gruppen auf Regierungsebene<br />
völlig außerhalb der legislativen Strukturen<br />
der EU. Justiz und Inneres standen im Zentrum des<br />
Konzepts nationalstaatlicher Souveränität. Dies änderte<br />
sich im Mai 1986, als die Mitgliedstaaten beschlossen,<br />
in der Frage der Einreise von Drittstaatsangehörigen<br />
in die EU und ihrer Reise- und Aufenthaltsrechte<br />
in der EU zusammenzuarbeiten.<br />
457
Justiz und Inneres<br />
1. Maastrichter Vertrag: Mit dem �Maastrichter<br />
Vertrag (7. 2. 1992) wurden die Befugnisse der europäischen<br />
Handlungsebene unter ausdrücklichem<br />
Verweis auf das Prinzip der �Subsidiarität erweitert<br />
und eindeutiger festgelegt. Darunter fallen auch die<br />
neuen Bestimmungen über die Zusammenarbeit in<br />
den Bereichen Justiz und Inneres.<br />
UnbeschadetderZuständigkeitenderEUwurdenzur<br />
Verwirklichung ihrer Ziele folgende Bereiche als<br />
Angelegenheiten von gemeinsamem Interesse klassifiziert:<br />
�Asylpolitik, �Einwanderungspolitik,<br />
Grenzkontrollpolitik der EU-Außengrenzen, Bekämpfung<br />
der Drogen- und Betrugskriminalität im<br />
Bereich internationaler Kriminalität, justitielle Zusammenarbeit<br />
in Zivil- und Strafsachen, die Zusammenarbeit<br />
im Zollwesen und die polizeiliche Zusammenarbeit<br />
im Bereich innerer Sicherheit zur Verhütung<br />
und Bekämpfung des Terrorismus, des illegalen<br />
DrogenhandelsundsonstigerschwerwiegenderFormen<br />
der internationalen Kriminalität in Verbindung<br />
mit dem Aufbau eines unionsweiten Systems zum<br />
Austausch von Informationen im Rahmen eines Europäischen<br />
Polizeiamtes (Europäische kriminalpolizeiliche<br />
Zentralstelle, �Europol).<br />
Damit wurde formell anerkannt, dass die Bereiche<br />
Justiz und Inneres Angelegenheiten von gemeinsamemInteressesind,undeswurdeeineeigenelegislative<br />
Struktur für den Erlass von Rechtsvorschriften<br />
in diesem Bereich geschaffen. In diesem Kontext<br />
sprichtmanhäufigvonder„drittenSäule“derEU,im<br />
Unterschied zu den traditionellerweise in EU-Verantwortung<br />
liegenden Bereichen, der „ersten Säule“,<br />
und der �Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik,<br />
der „zweiten Säule“ (�Tempelstruktur). Bei den<br />
mühevollen und langwierigen Rechtssetzungsakten<br />
handelt es sich konkret um Regierungsvereinbarungen,<br />
die für die EU rechtlich bindend sind.<br />
Sie wurden in Form internationaler Vereinbarungen<br />
verfasst, die von den EU-Regierungen anzunehmen<br />
und dann von jedem der nationalen Parlamente formell<br />
zu ratifizieren waren.<br />
2. Vertrag von Amsterdam: Mit dem Inkrafttreten<br />
des Amsterdamer Vertrages (1. 5. 1999) wurden<br />
mehrere politische Schlüsselbereiche, darunter die<br />
Asyl- und Einwanderungspolitik sowie Fragen der<br />
Zusammenarbeit zwischen Zivilgerichten, in die<br />
normale gesetzgeberische Struktur der EU eingebunden.<br />
Die vertraglichen Regelungen sind im Sinne<br />
des „Säulen-Modells“ zweigeteilt: Die Politik in den<br />
458<br />
Bereichen Visa, Einwanderung und freier Personenverkehr<br />
fällt unter Titel IV des EG-Vertrages, wogegen<br />
die Bestimmungen über polizeiliche und justitielle<br />
Zusammenarbeit in Strafsachen (�PJZS) unter<br />
Titel VI des EU-Vertrages fällt.<br />
2.1 Geregelt wurde im EG-Vertrag die Visapolitik,<br />
die Voraussetzungen für den Aufenthalt von Zuwanderern,<br />
das Asylverfahren sowie die justitielle Zusammenarbeit<br />
in Zivilsachen. Damit gelten für die<br />
jeweiligen Sachbereiche die EG-Vorschriften, d. h.<br />
die Beteiligung aller Organe und die Kontrolle der<br />
Rechtmäßigkeit durch den Europäischen Gerichtshof.<br />
In diesen Angelegenheiten beschließt der Rat<br />
während eines Übergangszeitraums von fünf Jahren<br />
nach Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages einstimmig.<br />
Nach Ablauf dieser Übergangszeit werden<br />
die Entscheidungsverfahren der EG angewandt.<br />
Die Europäische Kommission erhält danach das volle<br />
Initiativrecht für den EGV-Titel. Ziel ist es, einen<br />
�Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts<br />
aufzubauen.<br />
2.2 Nach EU-Vertrag erfolgte die (direkte oder über<br />
Europol laufende) Zusammenarbeit zwischen Polizeibehörden<br />
und anderen Strafverfolgungsbehörden<br />
hingegen weiterhin im Wege der Regierungszusammenarbeit.<br />
Dies gilt auch für die Rechtshilfe bei<br />
Strafsachen sowie für die wichtigsten Felder der Zusammenarbeit<br />
der EU-Staaten, nämlich Terrorismus,<br />
organisierte Kriminalität, Straftaten gegenüber<br />
Personen und Kindern, Drogen- und Waffenhandel<br />
sowie Betrug und Korruption im internationalen<br />
Maßstab. Die Form der Regierungszusammenarbeit<br />
bedeutet vor allem, dass gemeinsame Standpunkte<br />
festgelegt und gemeinsame Maßnahmen beschlossen<br />
werden können. Die eigentliche Verantwortung<br />
und �Souveränität bleibt bei den Mitgliedstaaten,<br />
d. h. dass die Kompetenz für ihre eigene Sicherheit in<br />
diesen Bereichen nicht angetastet wird.<br />
2.3 Ein wichtiges Ziel des Amsterdamer Vertrages<br />
war die Schaffung eines europäischen Raumes, in<br />
dem Personen frei verkehren können und allen Bürgern<br />
ein hohes Maß an Sicherheit geboten wird. Folgende<br />
Instrumente wurden vereinbart:<br />
– EngereZusammenarbeitderPolizei-,Zoll-undanderen<br />
Behörden in den EU-Staaten, auch unter Einschaltung<br />
von Europol;<br />
– Aufforderung der zuständigen Behörden der EU-<br />
Staaten,durchEuropolErmittlungendurchzuführen;<br />
– Aufforderung an die EU-Staaten, gemeinsame
Teams mit Europol-Vertretern in unterstützender<br />
Funktion zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität<br />
zu bilden;<br />
– Erleichterung der Auslieferung zwischen den<br />
EU-Staaten;<br />
– Festlegung unionsweit geltender Mindestvorschriften<br />
über die Tatbestandsmerkmale strafbarer<br />
Handlungen und die in den Bereichen organisierte<br />
Kriminalität, Terrorismus und Drogenhandel zu verhängenden<br />
Strafen;<br />
– eine rechtliche Verpflichtung zu engerer Zusammenarbeit<br />
der Polizei- und Justizbehörden aller<br />
EU-Staaten, um Rassismus, Fremdenfeindlichkeit,<br />
Terrorismus, organisierte Kriminalität, Menschenhandel<br />
und Straftaten gegenüber Kindern, Drogenhandel,<br />
Bestechung und Betrug zu verhüten und zu<br />
bekämpfen.<br />
2.4 In der Folge verpflichteten sich die Mitgliedstaaten<br />
auf einem Sondergipfel des Europäischen Rates<br />
im Oktober 1999 in Tampere (Finnland) zu einer<br />
ganzen Reihe von Initiativen zum Asylrecht, zur Kriminalitätsbekämpfung<br />
und zur justitiellen und polizeilichen<br />
Zusammenarbeit.<br />
Auf der Ebene der Kriminalitätsermittlung wurde<br />
vereinbart:<br />
– Euroteams: Gemeinsame Ermittlungsteams (Drogenhandel,<br />
Menschenhandel, Terrorismus) mit Unterstützung<br />
durch Europol;<br />
– Task Force: Einrichtung einer operativen Task<br />
Force der EU-Polizeichefs, die mit Europol sich über<br />
grenzüberschreitende Kriminalität verständigt und<br />
operative Maßnahmen plant;<br />
– Europol: Aufwertung und stärkere finanzielle<br />
Ausstattung des Europäischen Polizeiamtes, das<br />
1995 gegründet wurde;<br />
– �Eurojust: Bekämpfung der schweren organisierten<br />
Kriminalität;<br />
– Akademie: Einrichtung einer europäischen Polizeiakademie.<br />
Als weitere Maßnahmen wurden vereinbart:<br />
– Strafrechtsharmonisierung unter Betonung des<br />
Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung in<br />
Rechtsfragen; die Harmonisierung konzentriert sich<br />
auf gemeinsame Definitionen, Tatbestandsmerkmale<br />
und Sanktionen bei Delikten wie Finanzkriminalität,Drogen-undMenschenhandel,sexuellerKindesmissbrauch,<br />
Umweltkriminalität;<br />
– uneingeschränkte Rechtshilfe bei schwerer Wirtschaftskriminalität;<br />
Justiz und Inneres<br />
– Forcierung der Drogenbekämpfung;<br />
– Sondermaßnahmen zur Bekämpfung der �Geldwäsche.<br />
Die EU konkretisierte zunehmend ihr integrationspolitisches<br />
Ziel, die Schaffung eines „Raumes der<br />
Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“. Der �Verfassungsvertrag<br />
2004 legt dazu in Art. I-3 (Die Ziele<br />
der Union) fest: „Die Union bietet ihren Bürgerinnen<br />
und Bürgern einen Raum der Freiheit, der Sicherheit<br />
und des Rechts ohne Binnengrenzen.“<br />
2.5 Terrorismusbekämpfung: Seit den Terroranschlägen<br />
in Madrid am 11. 3. 2004 hat die EU ihre<br />
Anstrengungen zur Bekämpfung des Terrorismus<br />
verstärkt und zu diesem Zweck konkrete Maßnahmen<br />
ergriffen. Der Tag selbst wurde zum Europäischen<br />
Tag der Opfer des Terrorismus erklärt. In einem<br />
Bericht hat die Kommission eine Bestandsaufnahme<br />
all dieser Maßnahmen durchgeführt, ihre<br />
Umsetzung auf nationaler und europäischer Ebene<br />
überprüft und die noch zu bewältigenden Herausforderungenaufgeführt.EineWochenachdenAnschlägen<br />
nahm der Europäische Rat eine Erklärung zur<br />
Terrorismusbekämpfung an, in der sich die Union<br />
und ihre Mitgliedstaaten verpflichten, „alles in ihrer<br />
Macht Stehende zu tun, um alle Formen des Terrorismus<br />
gemäß den Grundprinzipien der EU zu bekämpfen“.<br />
Der Aktionsplan zur Terrorismusbekämpfung<br />
setzt diese Erklärung in strategisch erreichbare Zielsetzungen<br />
um, darunter die Beseitigung von Barrieren<br />
zwischen den Mitgliedstaaten bei der VerbreitungvonInformationenzuTerrorismus,AufspürungundUnterbindungderTerrorismusfinanzierung,Beseitigung<br />
der Ursachen für Terrorismus sowie die<br />
Vorbereitung auf die Bewältigung von Folgen möglicher<br />
Anschläge.<br />
Die Kommission hat folgende Aufgabenbereiche:<br />
– Die Einrichtung eines allgemeinen Frühwarnsystems,<br />
das alle bestehenden Warnsysteme auf<br />
EU-Ebene vernetzt, und die Einrichtung eines Krisenzentrums,<br />
das im Notfall alle bestehenden Dienste<br />
der Kommission miteinander in Kontakt bringen<br />
würde.<br />
– Die Erarbeitung eines Vorschlages zur Einrichtung<br />
eines europäischen Strafverfolgungsnetzes (bis<br />
2006). Hierdurch soll eine Verbindung zwischen den<br />
zuständigen Behörden der einzelnen Mitgliedstaaten,<br />
Europol und dem Frühwarnsystem der Kommission<br />
hergestellt werden.<br />
– Entwicklung von Maßnahmen zur Gewährleistung<br />
459
Justiz und Inneres<br />
größerer Sicherheit vor Sprengstoffen, Material zur<br />
Herstellung von Bomben und vor Schusswaffen.<br />
– Im Hinblick auf die Terrorismusfinanzierung will<br />
die Kommission mehr Zusammenarbeit und Informationsaustausch<br />
erzielen, um die Rückverfolgung<br />
von für den Terrorismus bestimmten Mitteln zu erleichtern.<br />
3. Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts<br />
(RFSR): Der RFSR als Leitkonzept für die Innenund<br />
Justizpolitik der Union gehört zu den wichtigsten<br />
jüngeren Integrationszielen. Folgende Politikfelder<br />
sind in ihm integriert:<br />
– Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung<br />
– Justitielle Zusammenarbeit in Zivilsachen<br />
– Justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen<br />
– Polizeiliche Zusammenarbeit<br />
4. Verfassungsvertrag 2004: Mit dem Verfassungsvertrag<br />
verändert sich, sofern er in Kraft treten kann,<br />
der rechtliche Rahmen erneut. Grundsätzlich soll der<br />
Verfassungsvertrag die seitherige Struktur der drei<br />
„Säulen“ durch einen einheitlichen rechtlichen Rahmen<br />
auflösen. Der RFSR ist grundsätzlich als Ziel<br />
der Union definiert (Art. I-3 Abs. 2 VVE); ausgeformt<br />
wird er in den Art. III-257 bis Art. III-277. FolgendeallgemeineBestimmungensindgrundlegend:<br />
– Die Union bildet einen Raum der Freiheit, der Sicherheit<br />
und des Rechts, in dem die Grundrechte geachtet<br />
und die Rechtstraditionen der Mitgliedstaaten<br />
berücksichtigt werden.<br />
– Die Union stellt sicher, dass Personen an den Binnengrenzen<br />
nicht kontrolliert werden. Sie entwickelt<br />
eine gemeinsame Politik in den Bereichen Asyl, Einwanderung<br />
und Kontrolle an den Außengrenzen.<br />
– Die Union wirkt präventiv und bekämpft Kriminalität,<br />
Rassismus und Fremdenfeindlichkeit.<br />
– Die Union fördert die Koordination und Zusammenarbeit<br />
von Polizeibehörden und Organen der<br />
Strafrechtspflege; auch gegenseitige Anerkennung<br />
strafrechtlicher Entscheidungen.<br />
– Die Union erleichtert den Zugang zum Recht, insbes.<br />
durch den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung<br />
gerichtlicher und außergerichtlicher Entscheidungen<br />
in Zivilsachen.<br />
460<br />
Der Erkenntnis, dass Freiheit, Sicherheit und Recht<br />
engmiteinanderverbundensind,folgtauchdieKommission.<br />
Mit der Kommission 2004 – 2009 existiert<br />
der Kommissionsbereich (Generaldirektion) „Justiz,<br />
Freiheit und Sicherheit“. Der Europäische Rat<br />
legt für die Kommission die strategischen Leitlinien<br />
für die legislative und operative Programmplanung<br />
fest.<br />
Bemerkenswert ist, dass der Verfassungsvertrag 2004<br />
dafür das Mitentscheidungsverfahren mit Mehrheitsentscheidung<br />
im Rat zum Regelverfahren benennt.<br />
Bedeutende Ausnahmen sind Einstimmigkeit bei Beschlüssen<br />
– zum Familienrecht mit grenzüberschreitenden Bezügen;<br />
– zur Einführung von Mindestvorschriften für Aspekte<br />
des Strafverfahrensrechts;<br />
– zur Erweiterung der Liste von Bereichen besonders<br />
schwerer Kriminalität, in denen Mindestvorschriften<br />
zur Festlegung von Straftaten und Strafen<br />
zur Anwendung gelangen können;<br />
– für die Einführung der europäischen Staatsanwaltschaft;<br />
– für Maßnahmen zur operativen Zusammenarbeit<br />
zwischen den Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten;<br />
– für die Festlegung der Bedingungen, unter denen<br />
Behörden der Mitgliedstaaten im Hoheitsgebiet eines<br />
anderen Mitgliedstaates tätig werden dürfen.<br />
Der Verfassungsvertrag 2004 (Art. i-43) verankert<br />
eine Solidaritätsklausel: Die Union und ihre Mitgliedstaaten<br />
handeln gemeinsam im Geist der Solidarität,<br />
wenn ein Mitgliedstaat von einem Terroranschlag<br />
oder einer betroffen ist. Die Union mobilisiert<br />
alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel (einschl. militärischerMittel).<br />
L. U.<br />
Literatur:<br />
Monar, J.: Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des<br />
Rechts im Verfassungsentwurf des Konvents. In: Integration<br />
4/2003, S.536 – 549<br />
Müller-Graff, P. (Hg.): Europäische Zusammenarbeit in den<br />
Bereichen Justiz und Inneres. Baden-Baden 1996<br />
Rupprecht, R./Hellenthal, H.: Die Europäische Gemeinschaft<br />
der inneren Sicherheit. Gütersloh 1992
Kabinette sind Gruppen persönlicher Berater, die<br />
jedes Mitglied der Kommission gem. Art. 14 der Geschäftsordnung<br />
bilden kann. Kabinette unterstützen<br />
die einzelnen Kommissionsmitglieder bei der Erfüllung<br />
ihrer Aufgaben und bereiten die Beschlüsse der<br />
Kommission vor. Bei Abwesenheit eines KommissionsmitgliedskannseinKabinettschefanSitzungen<br />
der Kommission teilnehmen und hat nach Aufforderung<br />
des Präsidenten Rederecht (Art. 8 GO).<br />
Die Kabinettschefs aller Kommissionsmitglieder<br />
bereiten die Beschlussfassung der Kommission in<br />
ähnlicher Weise vor wie der �AStV die Beschlüsse<br />
des Rates.<br />
Kabotage. Begriff aus dem Transportwesen, der bei<br />
der Verwirklichung der Dienstleistungsfreiheit im<br />
Rahmen des �Binnenmarktes eine Rolle spielt(e).<br />
Kabotage ist jede Beförderungsleistung ohne Grenzüberschreitung.<br />
Sie war früher Inländern vorbehalten,<br />
was gegen das �Diskriminierungsverbot in der<br />
EG verstieß. Eine EG-Verordnung von 1989, die<br />
eine erste Lockerung des Kabotageverbots für Ausländer<br />
vorsah, war Mitte 1990 in Kraft getreten: Es<br />
wurden zunächst 15 000 Kabotagegenehmigungen<br />
vergeben, die zwei Monate gültig waren.<br />
Die Kabotage im Straßengüterverkehr (Erdkabotage)<br />
wurde am 1. 7. 1998 völlig freigegeben. Das bedeutet:<br />
Jeder Lkw-Halter mit Sitz in einem Mitgliedstaat<br />
der EU kann seitdem mit seinen Fahrzeugen innerhalb<br />
eines jeden Landes der EU seinen Transportgeschäften<br />
nachgehen – ohne mengenmäßige oder<br />
räumliche Marktzugangsbeschränkungen.<br />
In der �Binnenschifffahrt ist die Kabotage seit 1. 1.<br />
1995 frei, im Luftfrachtverkehr seit 1. 4. 1997, im<br />
Seeverkehr seit Anfang 1999. �Verkehrspolitik<br />
Kalanke-/Marschall-(Frauenquoten-)Urteil. Im<br />
Urteil vom 17. 10. 1995 (Rs. C–450/93; NJW 1995,<br />
3109) entschied der EuGH im Wege der �Vorabentscheidung,<br />
dass die Gleichbehandlungsrichtlinie<br />
(76/207, ABl. L 39/1976) einer nationalen Regelung<br />
(Bremer Gleichstellungsgesetz) entgegenstehe,<br />
nach der bei gleicher Qualifikation von Bewerbern<br />
unterschiedlichen Geschlechts um eine Beförderung<br />
K<br />
in Bereichen, in denen die Frauen unterrepräsentiert<br />
sind (weniger als die Hälfte Frauen in der jeweiligen<br />
Vergütungsgruppe), den weiblichen Bewerbern automatisch<br />
der Vorrang eingeräumt wird. Diese absolute<br />
und unbedingte Bevorzugung stelle eine unzulässige<br />
Diskriminierung der Männer aufgrund des<br />
Geschlechts dar, die auch nicht über die grundsätzlich<br />
mögliche Förderung der Chancengleichheit von<br />
Männern und Frauen zu rechtfertigen sei. Im konkreten<br />
Fall wurde schließlich (nach Abschluss der Gerichtsverfahren)<br />
dennoch der weiblichen Konkurrentin<br />
die Beförderungsstelle zugeteilt, da sie doch<br />
die „bessere persönliche Eignung“ aufweise.<br />
ImUrteilMarschallstelltederEuGHam11.11.1997<br />
(Rs. C–409/95; N7W 1997, 3429) klar, dass dagegen<br />
eine flexible Quotenregelung, die etwa durch eine<br />
„Härtefallklausel“ für Männer ergänzt wird, grundsätzlich<br />
europarechtskonform ist. In zahlreichen Urteilen<br />
hat der EuGH zwischenzeitlich diese Rechtsprechungverfestigt.<br />
J. M. B.<br />
Kaleidoskop. Eines der drei ersten KulturförderprogrammederGemeinschaftvon1996(nebenAriane<br />
und Raphael). Gefördert wurden künstlerische<br />
und kulturelle Veranstaltungen, an denen Organisationen<br />
aus mindestens drei Mitgliedstaaten beteiligt<br />
waren (Beschluss 719/96; ABL. L 99/1996). Kaleidoskop<br />
wurde ersetzt durch das Programm �Kultur<br />
2000.<br />
Kapitalverkehr �Freier Kapitalverkehr<br />
Kartellrecht<br />
Kartellrecht, Europäisches<br />
1. Allgemeines. Das Europäische Kartellrecht hat die<br />
Aufgabe, den Wettbewerb zwischen Wirtschaftsunternehmen<br />
in der Europäischen Union vor Beschränkungen<br />
zu schützen. Der �Binnenmarkt, den die<br />
EU-Mitgliedstaaten verwirklichen, indem sie Handelshemmnisse<br />
abbauen, soll nicht dadurch beeinträchtigt<br />
werden, dass Unternehmen Kartelle bilden<br />
oder ihre starke Stellung auf dem Markt missbrauchen.<br />
Folglich dienen die Regeln des europäischen<br />
Kartellrechts auch der Verwirklichung des europäischenBinnenmarktes(vgl.Art.3Abs.1lit.gEGV).<br />
461
Kartellrecht<br />
Die wichtigsten Rechtsnormen des Europäischen<br />
Kartellrechts finden sich im Kapitel des EG-Vertrages<br />
über „Wettbewerbsregeln“ (Art. 81 – 89<br />
EGV). Abschnitt 2 dieses Kapitels enthält das europäische<br />
Beihilfenrecht; er richtet sich an die<br />
EU-Mitgliedstaaten. Diese dürfen Wirtschaftsunternehmen<br />
keine �staatlichen Beihilfen gewähren, die<br />
den Wettbewerb verfälschen. Abschnitt 1 der Wettbewerbsregeln<br />
(Art. 81 – 86 EGV) richtet sich an die<br />
im Binnenmarkt aktiven Unternehmen; dieser Abschnitt<br />
bildet den Kern des heute geltenden europäischenKartellrechts.ImnochnichtvonallenEU-Mitgliedstaaten<br />
ratifizierten �Verfassungsvertrag 2004<br />
finden sich diese Vorschriften im Wesentlichen unverändert<br />
in den Artikeln III-161 ff.<br />
Der Wettbewerb kann durch Unternehmen auf drei<br />
verschiedene Arten beschränkt werden. Erstens können<br />
Unternehmen ihr Verhalten koordinieren, indem<br />
siez.B.wettbewerbsbeschränkendeVerträgeschließen.<br />
Dagegen richtet sich Art. 81 EGV. Zweitens<br />
können sie Mitbewerber behindern (z. B. durch<br />
Kampfpreisunterbietung oder Lieferverweigerung).<br />
Diese Verhaltensweisen werden von Art. 82 EGV erfasst.<br />
Und drittens kann im Wege von Strukturveränderungen<br />
dem Wettbewerb geschadet werden. Unter<br />
einer solchen Strukturveränderung ist zu verstehen,<br />
dassUnternehmensichzusammenschließenunddiese<br />
Fusion dazu führt, dass nach ihrem Vollzug auf<br />
dem betroffenen Markt kein wirksamer Wettbewerb<br />
mehr herrscht. Gegen derartige Fusionen richtet sich<br />
die europäische �Fusionskontrollverordnung (VO<br />
139/2004, ABl. L 24/2004).<br />
2. Kartellverbot<br />
a) In Art. 81 EGV ist das europäische Kartellverbot<br />
geregelt. Bestimmte Formen, in denen Unternehmen<br />
ihr Verhalten auf dem Markt koordinieren und mit<br />
denen sie den Wettbewerb beschränken, sind demnach<br />
verboten. Diese Handlungsformen sind: Vereinbarungen<br />
zwischen Unternehmen, Beschlüsse<br />
von Unternehmensvereinigungen (wie z. B. Ärzteoder<br />
Architektenkammern) und aufeinander abgestimmte<br />
Verhaltensweisen.<br />
Sie werden vom europäischen Kartellverbot allerdings<br />
nur erfasst, wenn sie geeignet sind, den Handel<br />
zwischen den EU-Mitgliedstaaten spürbar zu beeinträchtigen.<br />
An diese Eignung, den Handel zwischen<br />
den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen, sind keine<br />
hohen Anforderungen zu stellen. Sie liegt bereits<br />
dann vor, wenn sich mit hinreichender Wahrschein-<br />
462<br />
lichkeit voraussehen lässt, dass die wettbewerbsbeschränkende<br />
Absprache unmittelbar oder mittelbar,<br />
tatsächlich oder auch nur potenziell den Wirtschaftsverkehr<br />
zwischen den Mitgliedstaaten beeinflussen<br />
kann. Der Handel zwischen den Mitgliedstaaten<br />
muss also noch gar nicht beeinträchtigt worden sein.<br />
Kleine Kartelle, die keine spürbaren Auswirkungen<br />
auf den Handel in der EU haben können, fallen jedoch<br />
nicht unter das europäische Kartellverbot. Diese<br />
und auch alle anderen Kartelle, die nicht geeignet<br />
sind, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu<br />
beeinträchtigen, können nur durch das nationale<br />
Kartellrecht, in Deutschland etwa durch das Gesetz<br />
gegen Wettbewerbsbeschränkungen, sanktioniert<br />
werden.<br />
Eine weitere Voraussetzung für die Anwendung des<br />
europäischen Kartellverbots ist, dass die Vereinbarung,<br />
der Beschluss oder die aufeinander abgestimmten<br />
Verhaltensweisen eine Wettbewerbsbeschränkungbezweckenoderbewirken.EineWettbewerbsbeschränkung<br />
liegt vor, wenn die Unternehmen<br />
ihre wirtschaftliche Handlungs- und Entscheidungsfreiheit<br />
einschränken und insofern auf dem<br />
Markt nicht mehr selbständig agieren.<br />
Genau wie die Eignung, den Handel zwischen den<br />
EU-Mitgliedstaatenzubeeinträchtigen,mussjedoch<br />
auch die Wettbewerbsbeschränkung spürbar sein; in<br />
Bagatellfällen, in denen nur eine geringe Wettbewerbsbeschränkung<br />
vorliegt, ist das europäische<br />
Kartellverbot nicht einschlägig. Die EU-Kommission<br />
sieht einen derartigen Bagatellfall als gegeben<br />
an, wenn die an der Vereinbarung beteiligten Unternehmen<br />
zusammen genommen nur einen Marktanteil<br />
von 10 %, in manchen Fällen auch 15 % besitzen.<br />
Liegt der Marktanteil über dieser Schwelle, so ist die<br />
Wettbewerbsbeschränkung spürbar. Diese Rechtsauffassung<br />
hat die Kommission in ihrer �„de-minimis-Bekanntmachung“<br />
aus dem Jahre 2001 mitgeteilt<br />
(ABl. C 368/2001).<br />
Damit ein verbotenes Kartell vorliegt, muss es noch<br />
nicht zu einer Wettbewerbsbeschränkung gekommen<br />
sein; es genügt vielmehr, wenn diese nur bezweckt<br />
wird.<br />
Derartige, nach Art. 81 Abs. 1 EGV verbotene wettbewerbsbeschränkende<br />
Vereinbarungen sind z. B.<br />
Absprachen von Unternehmen, für ihre Produkte am<br />
Markt die gleichen Preise zu fordern (Preisabsprachen);<br />
Vereinbarungen, den Markt räumlich unter<br />
den beteiligten Unternehmen aufzuteilen, wobei
kein Unternehmen im Gebiet eines Konkurrenten tätig<br />
wird (Gebietsabsprachen); Verträge, in denen ein<br />
Hersteller seinen Vertriebshändlern die Verkaufspreise<br />
vorschreibt (vertikale Preisbindungen).<br />
b) Die nach Art. 81 Abs. 1 EGV verbotenen Kartelle<br />
sind nichtig (Art. 81 Abs. 2 EGV); das bedeutet, dass<br />
die beteiligten Unternehmen nicht an die Kartellabsprache<br />
gebunden sind. Ein Kartell ist eine Ordnungswidrigkeit,<br />
die von der Europäischen Kommission<br />
und auch von den Kartellämtern der Mitgliedstaaten<br />
mit einem Bußgeld belegt werden kann.<br />
Die von der EU-Kommission verhängten Bußgelder<br />
erreichen in manchen Fällen mittlerweile die GrößenordnungvonmehrerenhundertMillionenEuro.<br />
Den Opfern von Kartellen können zudem Unterlassungsansprüche<br />
und vor allem auch Schadensersatzansprüche<br />
gegen die Mitglieder des Kartells zustehen.<br />
Diese Ansprüche ergeben sich jedoch aus dem<br />
jeweiligen Recht der Mitgliedstaaten und nicht aus<br />
<strong>Europa</strong>recht. Entsteht z. B. dem Abnehmer von Waren<br />
eines Kartells ein Schaden, weil der Preis für die<br />
WareninfolgederKartellabspracheüberhöhtwar,so<br />
kann er diesen Schaden vor einem nationalen Zivilgericht<br />
geltend machen.<br />
In einem wichtigen Urteil aus dem Jahre 2001 hat der<br />
Europäische �Gerichtshof zudem entschieden, dass<br />
unter gewissen Voraussetzungen auch einer Partei<br />
eines wettbewerbsbeschränkenden Vertrages gegen<br />
seinen Vertragspartner ein europarechtlicher Schadensersatzanspruch<br />
wegen Kartellverstoßes zustehen<br />
kann („Courage/Crehan“; Rs. C-453/99; Slg.<br />
2001, I-6297).<br />
In Zukunft soll die zivilrechtliche Durchsetzung des<br />
Kartellrechts erleichtert werden; die Betroffenen<br />
sollen (durch EU-Kommission und nationale Kartellbehörden)<br />
ermuntert werden, Schadensersatzansprüche<br />
gegen Kartelle einzuklagen.<br />
c)AbgesehenvondenverbotenenundnichtigenKartellen<br />
gibt es auch Vereinbarungen, die zwar den<br />
Wettbewerb beschränken, aber dennoch insgesamt<br />
positiv zu bewerten sind. So kann etwa durch die Zusammenarbeit<br />
von Unternehmen im Bereich Forschung<br />
und Entwicklung der technische oder wirtschaftliche<br />
Fortschritt gemehrt werden. Manche<br />
wettbewerbsbeschränkenden Absprachen führen<br />
auch zu einer effizienteren Organisation des Vertriebs,<br />
was den Preis der betreffenden Produkte sinken<br />
lässt. Diese Errungenschaften kommen letztlich<br />
auch dem Verbraucher zugute. Derartige Vereinba-<br />
Kartellrecht<br />
rungen sind daher, wenn ihre positiven Auswirkungen<br />
stärker wiegen als die Wettbewerbsbeschränkung,<br />
durch Art. 81 Abs. 3 EGV vom Kartellverbot<br />
freigestellt und damit gültig. Früher überprüfte die<br />
Europäische Kommission, ob die Voraussetzungen<br />
einer Freistellung vom Kartellverbot vorlagen und<br />
erließ hierzu Freistellungsentscheidungen. Seit Mai<br />
2004 (zeitgleich mit der Osterweiterung der EU) ergehen<br />
zur Entlastung der Kommission keine derartigen<br />
Entscheidungen mehr. Statt dessen müssen die<br />
betroffenen Unternehmen, die eine wettbewerbsbeschränkende<br />
Vereinbarung treffen, nun selbst einschätzen,<br />
ob ihre Vereinbarung von Gesetzes wegen<br />
freigestellt ist. Dies ergibt sich aus Art. 1 Abs. 2 der<br />
neuen Kartellverfahrensverordnung, der VO 1/2003<br />
(ABl. L 1/2003). Dadurch entsteht eine gewisse<br />
Rechtsunsicherheit.<br />
Diesewirddadurchgemildert,dassdieEU-Kommission<br />
für manche wettbewerbsbeschränkenden Absprachen<br />
durch Verordnung geregelt hat, ob diese<br />
vom Kartellverbot freigestellt sind oder nicht (sog.<br />
Gruppenfreistellungsverordnungen). Derartige Verordnungen<br />
existieren zum einen für bestimmte Bereiche<br />
der Wirtschaft, etwa den KraftfahrzeugvertrieboderdenVersicherungssektor,zumanderenallgemein<br />
für bestimmte Arten von wettbewerbsbeschränkenden<br />
Vereinbarungen. So sind z. B. wettbewerbsbeschränkende<br />
Vereinbarungen und abgestimmte<br />
Verhaltensweisen zwischen Unternehmen,<br />
die auf unterschiedlichen Produktions- oder Vertriebsstufen<br />
tätig sind (d. h. Vertikalvereinbarungen,<br />
z. B. zwischen einem Hersteller von Elektrogeräten<br />
und seinen Vertriebshändlern), pauschal vom Kartellverbot<br />
freigestellt, wenn die Unternehmen höchstens<br />
einen Marktanteil von 30 % auf dem betroffenen<br />
Markt haben. Von dieser Freistellung sind nur<br />
bestimmte, besonders schwerwiegende Wettbewerbsbeschränkungen<br />
ausgenommen, z. B. Preisbindungen.<br />
Dies regelt die VO 2790/ 1999 der Kommission,<br />
die sog. „Vertikal-Gruppenfreistellungsverordnung“.<br />
3. Missbrauchskontrolle. Auch dann, wenn Unternehmen<br />
ihr Verhalten auf dem Markt nicht untereinander<br />
koordinieren, sondern wenn sie durch einseitiges<br />
Verhalten den Wettbewerb beschränken, kann<br />
dies durch das europäische Kartellrecht verboten<br />
sein. Artikel 82 EGV bestimmt, dass die missbräuchliche<br />
Ausnutzung einer beherrschenden Stellung auf<br />
dem Gemeinsamen Markt oder auf einem wesentli-<br />
463
KASEF<br />
chen Teil desselben verboten ist. Dies gilt jedoch nur<br />
dann, wenn (wie beim Kartellverbot des Art. 81 EGV<br />
auch) das missbräuchliche Verhalten dazu geeignet<br />
ist, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen.<br />
Einseitige wettbewerbsbeschränkende Maßnahmen<br />
sind nach dem europäischen Kartellrecht somit nur<br />
dann verboten, wenn das betreffende Unternehmen<br />
über eine marktbeherrschende Stellung verfügt. Um<br />
zuermitteln,obdiesderFallist,musszunächstderjeweilseinschlägigeMarktabgegrenztwerden.Hierzu<br />
untersucht die Kommission bzw. der EuGH, welche<br />
Waren oder Dienstleistungen zu einem Markt gehören.<br />
Alle Produkte, die aus der Sicht der Nachfrager<br />
zur Befriedigung eines gleich bleibenden Bedarfs<br />
gleichermaßen geeignet sind und die untereinander<br />
hinreichendaustauschbarsind,bildenzusammengenommen<br />
einen Markt. Zudem muss der Markt auch<br />
räumlich abgegrenzt werden.<br />
In einem nächsten Schritt wird dann die Frage geklärt,<br />
ob das Unternehmen auf diesem Markt über<br />
eine beherrschende Stellung verfügt. Eine marktbeherrschende<br />
Stellung ist die wirtschaftliche Machtstellung,<br />
durch die ein Unternehmen die Aufrechterhaltung<br />
eines wirksamen Wettbewerbs auf dem<br />
Markt verhindern kann. Dafür muss das Unternehmen<br />
über kein Monopol verfügen; auch wenn auf<br />
dem Markt noch Wettbewerb herrscht, kann eine<br />
marktbeherrschende Stellung vorliegen. Um eine<br />
solche zu ermitteln, ist die Gesamtbetrachtung der<br />
Marktverhältnisse erforderlich. Das wichtigste Kriterium<br />
sind hierbei die Marktanteile der miteinander<br />
konkurrierenden Unternehmen. Je höher der Marktanteil<br />
eines Unternehmens ist, desto eher hat dieses<br />
eine beherrschende Stellung inne.<br />
Verfügt demnach ein Unternehmen über eine marktbeherrschende<br />
Stellung, so ist der Missbrauch derselben<br />
nach Art. 82 EGV verboten. Ein Missbrauch<br />
liegt vor, wenn die Verhaltensweise die Struktur des<br />
betroffenen Marktes beeinflussen kann und die Aufrechterhaltung<br />
des auf dem Markt noch bestehenden<br />
Wettbewerbs behindert, indem Mittel verwendet<br />
werden, die von den normalerweise im Wettbewerb<br />
eingesetzten Mitteln abweichen. Ein wichtiges Beispiel<br />
hierfür ist der Fall, dass ein Unternehmen über<br />
eine wesentliche Einrichtung verfügt und diese Einrichtung<br />
selbst nutzt, seinen Konkurrenten aber den<br />
Zugang zu dieser Einrichtung unberechtigterweise<br />
verweigert (sog. „essential facility doctrine“). So<br />
464<br />
handelt etwa ein Stromkonzern missbräuchlich, der<br />
über ein wichtiges Stromnetz verfügt und dieses<br />
nicht seinen Mitbewerbern zur Durchleitung zur<br />
Verfügung stellt. Ähnliche Beispiele sind auch im<br />
Bereich der Telekommunikation denkbar.<br />
Liegt ein Missbrauch einer marktbeherrschenden<br />
Stellung vor, so verhängt die EU-Kommission ein<br />
Bußgeld gegen das handelnde Unternehmen. Zudem<br />
kann dem geschädigten Unternehmen nach nationalem<br />
Recht ein Schadensersatzanspruch zustehen.<br />
4. Zusammenschlusskontrolle. Um Wettbewerbsbeschränkungen<br />
infolge von Strukturveränderungen<br />
zu begegnen, überprüft die Europäische Kommission<br />
Unternehmenszusammenschlüsse von gemeinschaftsweiter<br />
Bedeutung (Europäische �Fusionskontrolle).<br />
Im Gegensatz zum Kartellverfahren besteht<br />
im Fusionskontrollverfahren die Pflicht für die<br />
betroffenen Unternehmen, ihren Zusammenschluss<br />
bei der Kommission anzumelden (s. Art. 4 Abs. 1 VO<br />
139/2004). Durch die seit Mai 2004 geltende neue<br />
Fusionskontrollverordnung (VO 139/2004, ABl. L<br />
133/2004) wurde ein neues Prüfkriterium eingeführt.DanachuntersagtdieKommissionalleZusammenschlüsse,<br />
„durch die wirksamer Wettbewerb im<br />
Gemeinsamen Markt oder in einem wesentlichen<br />
Teil desselben erheblich behindert würde, insbes.<br />
durch Begründung oder Verstärkung einer beherrschenden<br />
Stellung“ (Art. 2 Abs. 3 VO 139/ 2004).<br />
Rechtzeitig zur Osterweiterung der Europäischen<br />
Union wurde somit nicht nur das Kartellverfahren,<br />
sondernauchdieFusionskontrolledurchErlasseiner<br />
neuen Verordnung reformiert. Inwieweit Fusionen<br />
nachdemneuenPrüfkriteriumimErgebnisanderszu<br />
beurteilenseinwerdenalsnachdemfrühergeltenden<br />
„Marktbeherrschungstest“, bleibt abzuwarten.<br />
H. Sch.<br />
Literatur:<br />
Mestmäcker, E.-J./Schweitzer, H.: Europäisches Wettbewerbsrecht.<br />
München 2004 2<br />
Schröter, H./Jakob, Th./Mederer, W. (Hg.): Kommentar zum<br />
Europäischen Wettbewerbsrecht. Baden-Baden 2003<br />
KASEF (Katholisches Sekretariat für Europäische<br />
Fragen, Office Catholique d’Information et<br />
d’Initiative Pour l’Europe, OCIPE). Sekretariat des<br />
Jesuitenordens in Brüssel. Gibt zusammen mit<br />
�COMECE die monatlich in fünf Sprachen erscheinenden<br />
„Europe Infos“ heraus.<br />
Anschrift: 3, rue des Trévires, Brüssel<br />
Internet: www.ocipe.org
Katastrophenhilfe �Nahrungsmittelhilfe, �Solidaritätsfonds<br />
Katastrophenschutz. Bezeichnung für Maßnahmen<br />
zur Vorsorge oder Reaktion auf besonders<br />
schwere Unglücke oder schadensträchtige Naturereignisse<br />
von erheblichem Ausmaß. Der Katastrophenschutz<br />
ist eine hoheitliche Aufgabe der Mitgliedstaaten.<br />
Überlegungen innerhalb der EU, eine<br />
europäische Katastrophenschutztruppe aufzustellen,sindbishernichtzurEntscheidungsreifegelangt.<br />
Jüngste Initiativen in diese Richtung beruhen auf<br />
Vorschlägen von Frankreich, Deutschland, Belgien<br />
und Luxemburg vom 29. 4. 2003 (Tervuren) (Schaffung<br />
eines europäischen Systems der humanitären<br />
Soforthilfe) und Vorstößen einzelner Mitgliedstaaten<br />
auf dem Sonderrat der EU vom 7. 1. 2005, der<br />
über Maßnahmen im Zusammenhang mit der Tsunami-Flutwelle<br />
in Südostasien 2004 beriet. Die Vorschläge<br />
umfassen auch Maßnahmen im Rahmen der<br />
�Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik<br />
(ESVP), zu deren Aufgabenfeldern gem. den<br />
�„Petersberg Aufgaben“ auch humanitäre Aufgaben<br />
und Rettungseinsätze gehören sowie der Einsatz der<br />
�zivil-militärischen Zelle zur Führung entsprechender<br />
Operationen der EU. Der Europäische �Verfassungsvertrag<br />
2004 würde erstmals eine eigenständige<br />
Rechtsgrundlage für den Katastrophenschutz<br />
schaffen (Art. III-284 VVE), die sich jedoch wegen<br />
der bestehenden Souveränitätsvorbehalte der Mitgliedstaaten<br />
auf unterstützende Maßnahmen und<br />
eine verstärkte Koordinierung beschränkte. Vom<br />
Katastrophenschutz zu trennen ist die �Humanitäre<br />
Hilfe, die sich auf die Linderung der akuten Not von<br />
Menschenbeschränkt,dieinfolgevonKatastrophen,<br />
Kriegen oder Krisen nicht in der Lage sind, sich aus<br />
eigenerKraftzuhelfen. U. S.<br />
Keck-Urteil. Mit dem Urteil vom 24. 11. 1993 (Rs.<br />
C–267 u. 268/91; Slg. 1993, I–6097), das z. T. als<br />
„Novemberrevolution“ bezeichnet wird, schränkte<br />
der EuGH erstmals seine fast grenzenlose �Dassonville-Formel<br />
ein und stellte die mitgliedstaatlichen<br />
Regelungskompetenzen im Bereich des freien Warenverkehrsklar.DieNormierungdiskriminierungsfreier<br />
Verkaufsmodalitäten, die nicht faktisch zur<br />
Abschottung der nationalen Märkte führen, bleibe<br />
den Mitgliedstaaten unbenommen. Damit wurde<br />
verdeutlicht, dass die Mitgliedstaaten trotz des Bin-<br />
Kennzeichnungspflicht<br />
nenmarktes vertriebsbezogene Beschränkungen wie<br />
bspw. das Verbot, Waren zu Verlustpreisen zu verkaufen,<br />
Arbeitszeitregelungen, Ladenschlusszeiten<br />
etc.weiterhinerlassendürfen,auchwenndiesenegative<br />
Folgen auf den freien Warenverkehr haben können.<br />
Produktbezogene Beschränkungen des freien<br />
Warenverkehrs (Vorschriften bzgl. Bezeichnung,<br />
Form, Abmessung, Gewicht, Zusammensetzung,<br />
Etikettierung, Verpackung usw.) dagegen seien den<br />
Mitgliedstaaten grundsätzlich verboten, wenn diese<br />
geeignet seien, den zwischenstaatlichen Handel zu<br />
behindern. Insoweit gelte weiterhin die �Dassonville-Formel.<br />
J. M. B.<br />
Kennzeichnungspflicht<br />
Allergene: Die Richtlinie 2003/89 (ABl. L 308/<br />
2003) verpflichtet Hersteller von Lebensmitteln zu<br />
detaillierten Angaben über Zutaten, die Allergien<br />
hervorrufen können. Dazu zählen insbes. folgende<br />
Stoffe und daraus hergestellte Erzeugnisse: glutenhaltiges<br />
Getreide, Krebstiere, Eier, Fisch, Erdnüsse,<br />
Soja, Milch einschl. Laktose, Schalenfrüchte, Sellerie,<br />
Senf, Sesamsamen, Schwefeldioxid und Sulfite<br />
in einer Konzentration von mehr als 10 mg je Kilogramm<br />
oder Liter. Die Umsetzung der Richtlinie in<br />
deutsches Recht tritt am 25. 11. 2005 in Kraft. Die allergenen<br />
Zutaten werden regelmäßig wissenschaftlich<br />
überprüft und die Richtlinie ggf. angepasst.<br />
Gentechnisch veränderte Organismen (GVO): Gentechnisch<br />
veränderte Lebens- und Futtermittel müssen<br />
seit 18. 4. 2004 gekennzeichnet sein (Verordnung<br />
1830/2003, ABl. L 268/2003), unabhängig davon,<br />
ob darin noch GVO nachweisbar sind, außerdemLebensmittel,dieGVOenthaltensowieLebensmittel<br />
oder Lebensmittelzutaten, die zufällig oder<br />
technisch unvermeidbar mehr als 0,9 % GVO-<br />
Spuren enthalten. Zu kennzeichnen sind auch gentechnisch<br />
verändertes Obst und Gemüse. AusgenommenvonderKennzeichnungspflichtsindMilch,<br />
Eier oder Fleischprodukte von Tieren, die Futtermittel<br />
aus gentechnisch veränderten Pflanzen erhalten<br />
haben.<br />
Rindfleisch muss seit 1. 9. 2000 mit einem Etikett<br />
versehen sein, aus dem hervorgeht, in welchem Land<br />
dasTiergeschlachtetundzerlegtwordenist(Verordnung<br />
820/97, ABl. L 117/1997, aufgehoben durch<br />
Verordnung 1760/2000, ABl. L 204/2000).<br />
Eier der Güteklasse A müssen seit 1. 1. 2004 (für Direktvermarkter:<br />
ab 1. 7. 2005) einen Stempel tragen,<br />
465
Kerneuropa<br />
ausdemHaltungsform(Freiland-,Boden-,Käfighaltung<br />
oder ökologische Haltung) und die Herkunft erkennbar<br />
sind: 0 bedeutet Öko, 1 Freilandhaltung, 2<br />
Bodenhaltung, 3 Käfighaltung; DE steht für das Herkunftsland<br />
Deutschland, AT für Österreich, NL für<br />
Niederlande usw., eine siebenstellige Ziffer identifiziert<br />
die Region, den Betrieb und die Stallnummer<br />
(Verordnung 2295/2003, ABl. L 340/2003).<br />
Lebende Nutztiere. Kennzeichen müssen nach der<br />
deutschen Viehverkehrsordnung (Neufassung vom<br />
18. 4. 2000, BGBl. I S.547, Änderung BGBl. I S.<br />
1879) tragen: Rinder, Pferde, Schweine, Ziegen und<br />
Schafe. Kälber müssen seit 1. 9. 1999 spätestens 7<br />
Tage nach der Geburt mit zwei Ohrmarken gekennzeichnet<br />
werden, Schafe und Ziegen 6 Monate nach<br />
der Geburt bzw. vor der Ausfuhr, Ferkel nach dem<br />
Absetzen. Pferde, Esel, Maultiere und Maulesel<br />
müssen einen Equidenpass haben, wenn sie aus einem<br />
Bestand entfernt werden.<br />
Lebende Tiere geschützter Arten dürfen seit 1. 1.<br />
2000 nur gehalten werden, wenn sie gekennzeichnet<br />
sind, z. B. mit geschlossenen Ringen (Vögel) oder<br />
mitTranspondernnachISO11784:1996(E)undISO<br />
11785: 1996 (E).<br />
CE-Zeichen:Produkte,diegrundlegendeundfüralle<br />
Mitgliedstaaten verbindliche Sicherheitsforderungen<br />
erfüllen müssen, damit sie zum freien Verkehr<br />
im Binnenmarkt zugelassen sind, müssen das �CE-<br />
Zeichen tragen. Es ist kein Prüfzeichen, sondern<br />
zeigt an, dass der Hersteller bzw. der Importeur die<br />
Konformität des Produkts mit allen einschlägigen<br />
Richtlinien bestätigt und die Verantwortung dafür<br />
übernimmt. Beispiele: Aufzüge RL 95/16, SeilbahnenRL2000/9,SpielzeugRL88/378,MaschinenRL<br />
89/ 392.<br />
Kerneuropa. Begriff, der eine veränderliche Anzahl<br />
von Mitgliedstaaten der EU kennzeichnen soll,<br />
die entweder<br />
a) auf dem Weg der Integration weiter fortschreiten<br />
wollen oder fortgeschritten sind als die restlichen<br />
Staaten, auch in Bereichen der 2. und 3. Säule (�Flexibilität,<br />
�verstärkte Zusammenarbeit), oder<br />
b) bei einem evtl. Rückbau der Union zu einer weniger<br />
integrierten Gemeinschaft (�Freihandelszone)<br />
den derzeitigen Stand der Integration beibehalten<br />
wollen, oder<br />
c) neben ihrer Mitgliedschaft in der EU auch allen<br />
weiteren, für <strong>Europa</strong> wichtigen völkerrechtlichen<br />
466<br />
Organisationen oder Vereinbarungen angehören wie<br />
NATO, Schengen etc., oder<br />
d) in besonderer, unspezifischer Weise unverzichtbare<br />
Teile der Europäischen Union sind.<br />
Der Begriff geht zurück auf die Dokumentation<br />
„Überlegungen zur europäischen Politik“ der CDU/<br />
CSU-Fraktion des Deutschen Bundestages vom 1. 9.<br />
1994 (nach ihren Autoren Schäuble/Lamers-Papier<br />
genannt). �Abgestufte Integration, �Avantgarde<br />
Kirchen/Religionsgemeinschaften. Mit dem<br />
�Verfassungsvertrag 2004 wollen sich die 25 Mitgliedstaaten<br />
eine Konstitution geben, die auch dem<br />
Thema Religion sowie den Kirchen und Religionsgemeinschaften<br />
in den Mitgliedstaaten eine zukunftsweisende<br />
Bedeutung beimisst. Das wird bereits<br />
in der Präambel der Verfassung deutlich. Sie<br />
enthält zwar keinen ausdrücklichen Bezug zum<br />
Christentum, aber einen allgemeinen Religionsbezug<br />
(kulturelles, religiöses und humanistisches Erbe<br />
<strong>Europa</strong>s). Im Einzelnen finden sich entsprechende<br />
rechtliche Gewährleistungen in Artikel II-70 VVE<br />
(Religionsfreiheit) und Artikel II-74 Abs. 3 VVE<br />
(Recht auf religiöse Bildung). In Artikel II-81 VVE<br />
ist ein Diskriminierungsverbot aus religiösen Gründen<br />
enthalten. In Artikel II-82 VVE verpflichtet sich<br />
die Europäische Union zur Achtung der Vielfalt der<br />
Religionen durch die EU.<br />
In der Diskussion über die Kodifizierung der Grundrechte<br />
spielte vor allem der Streit um den sog. �Gottesbezug<br />
in der Verfassung eine große Rolle. Dabei<br />
standen hinter kontroversen Positionen, wie sie etwa<br />
Deutschland gegenüber Frankreich vertrat, auch die<br />
unterschiedlichestaatskirchenrechtlicheOrdnungin<br />
den Mitgliedstaaten. Deutlich wurde aber – gerade<br />
anlässlich der Erweiterung der EU 2004 um 10 Staaten–,dassreligiöseBezügeinderVerfassungdieReferenz<br />
auf Seele und Geist der EU ermöglichen und<br />
die religiösen Freiheiten, die durchgehend von den<br />
jeweiligen nationalen Verfassungen garantiert werden,<br />
zu Grundwerten der Gemeinschaft erklären.<br />
Der Verfassungsvertrag 2004 hat zudem in Artikel<br />
I-52 VVE die sog. Amsterdamer Kirchenerklärung<br />
aufgenommen. Damit enthält die Verfassung die<br />
grundsätzliche Botschaft, dass die europäische Einigung<br />
sich nicht ohne Mitwirkung von Kirchen und<br />
Religionsgemeinschaften vollziehen wird.<br />
Nach Artikel I-52 Abs. 1 VVE achtet die Union den<br />
Status von Kirchen, religiösen Vereinigungen und
Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach den jeweiligen<br />
Rechtsvorschriften. Neben einer gleichwertigen<br />
Statusachtung (Abs. 2) entsprechend dem<br />
nationalstaatlichen Schutz verpflichtet sich die EU<br />
zu einem „offenen, transparenten und regelmäßigen<br />
Dialog“mitdenKirchenundReligionsgemeinschaften.VerfassungsrechtlichkommtdieserVertragsbestimmung<br />
große Bedeutung zu: Zum einen begründet sie<br />
– ausgehend vom Schutz der nationalen staatskirchenrechtlichen<br />
Ordnungen – die notwendige verfahrensmäßige<br />
Beteiligung der Mitgliedstaaten und<br />
der Religionsgemeinschaften bei der Schaffung europäischen<br />
Rechts mit Bezug oder Auswirkungen<br />
auf die Religionsgemeinschaften. Zum anderen erhalten<br />
die Religionsgemeinschaften mit dem ProgrammdesDialogseinenpartnerschaftlichenStatus.<br />
Hinter dem von Kirchen/Religionsgemeinschaften<br />
und EU gewollten Dialog steht als Prämisse auf nationaler<br />
Ebene die gewollte partnerschaftliche Verständigung<br />
über nationale Interessen von Kirche und<br />
Staat. Eine solche Verständigung zeigt sich bereits<br />
heute in vielfacher Form und trotz unterschiedlicher<br />
staatskirchenrechtlicher Ordnungsformen, die vom<br />
System der Staatskirche (z. B. Malta) bis zum Trennungssystem<br />
i. S. der laicité (z. B. Frankreich) reichen.<br />
Interessant wird sein, wie sich förmliche VertragsbeziehungenzwischenEUunddenindenMitgliedstaaten<br />
vertretenen Kirchen und Religionsgemeinschaften<br />
entwickeln werden. Offizielle vertragliche Beziehungen<br />
solcher Art bestehen bisher lediglich mit<br />
dem Heiligen Stuhl und dem Malteser Orden.<br />
Die Diskussionen im Vorfeld des �Verfassungsvertrags<br />
2004 gestalteten unterschiedliche Zusammenschlüsse<br />
von Kirchen und Religionsgemeinschaften<br />
auf europäischer Ebene. Beispielhaft zu nennen sind<br />
die �KonferenzEuropäischerKirchen(KEK)alsZusammenschluss<br />
von 125 anglikanischen, protestantischenundorthodoxenKirchen,derRatdereuropäischen<br />
Bischofskonferenzen (CCEE) auf katholischerSeite,aberauchdieEKDalsZusammenschluss<br />
der Evangelischen Kirchen Deutschlands in einzelnen<br />
Stellungnahmen.<br />
Als Themenfelder für den Dialog werden voraussichtlich<br />
die allgemeine „Wertedebatte“ (anlässlich<br />
der Frage des Beitritts der Türkischen Republik),<br />
aber auch wichtige ethische, soziale, entwicklungsund<br />
umweltpolitische Fragen aufgerufen werden.<br />
Grundlegende und kontrovers zu diskutierende Fragen<br />
werden dabei insbes. der Bereich der Bioethik<br />
(Embryonenforschung, pränatale Implantationsdiagnostik,<br />
Sterbehilfe u. a.), Ernährungs- und �Entwicklungspolitik<br />
und der Sicherheitspolitik aufwerfen.<br />
Bildung und Kultur sind angesichts des religiösen<br />
Selbstbestimmungsrechts der Kirchen der in den Nationalverfassungen<br />
unterschiedlich ausgestalteten<br />
Mitwirkungsrechten von Kirchen und Religionsgemeinschaften<br />
ebenfalls von zentraler Bedeutung.<br />
Fragen der theologischen Ausbildung im Zuge des<br />
�Bologna-Prozesses werden dort eine wichtige Rollespielen,ebensoauch<strong>Europa</strong>undderkirchlicheArbeitsmarkt.<br />
Das zuletzt genannte Stichwort rückt<br />
auch die interessante und schwierige Frage in den<br />
Blick, wie einerseits das EU-rechtliche �Diskriminierungsverbot<br />
Beachtung finden soll, andererseits<br />
die Forderung von Kirchen nach einer kirchlichen<br />
Mitgliedschaft von Arbeitnehmern für bestimmte<br />
kirchliche Ämter.<br />
Inwieweit die unterschiedlichen Fragen und Konsultationsprozesse<br />
ihrerseits zur Ausgestaltung eines<br />
europäischen Staatskirchenrechtssystems beitragen<br />
können,bleibtspannendundabzuwarten. B. L.<br />
Kleinunternehmen �Charta für Kleinunternehmen<br />
Kleine und mittlere Unternehmen �KMU<br />
KMU<br />
Klepsch, Egon Alfred (geb. 1930), deutscher Politiker;<br />
Mitglied des Deutschen Bundestages (1965 –<br />
1980), Mitglied des Europäischen Parlaments ab<br />
1973 (1979 Vorsitzender der EVP-Fraktion), 1989<br />
Präsident der �<strong>Europa</strong>-Union Deutschland, 1992 –<br />
1994 Präsident des Europäischen Parlaments. Sein<br />
Nachfolger wurde Klaus �Hänsch.<br />
KMU – Kleine und mittlere Unternehmen. Im Europäischen<br />
Wirtschaftsraum (einschl. der Schweiz)<br />
gab es 2003 19,31 Mio. Unternehmen mit 139,71<br />
Mio. Beschäftigten, in den Beitritts- und Kandidatenländern<br />
2001 weitere 5,97 Mio. Unternehmen mit<br />
30,67 Mio. Beschäftigten. Von diesen insgesamt<br />
25,28 Mio. Unternehmen sind 25,22 Mio. (99,8 %)<br />
kleine und mittlere Unternehmen (KMU, englisch<br />
Small and Medium Enterprises, SME) mit 117,95<br />
Mio.Beschäftigten(69%allerBeschäftigten).Diese<br />
Handwerksbetriebe und mittelständischen Unter-<br />
467
Köbler-Urteil<br />
nehmen bilden das Rückgrat der europäischen Wirtschaft<br />
(zwei Drittel des Gesamtumsatzes).<br />
Die EU hat erstmals 1996 Schwellenwerte für die<br />
Definition von KMU festgelegt (Empfehlung des<br />
Rates 96/280) und diese am 8. Mai 2003 geändert<br />
(03/652). Diese Änderungen gelten seit 1. 1. 2005.<br />
– Mittlere Unternehmen haben weniger als 250 Beschäftigte<br />
und einen Umsatz bis 50 Mio. Euro (früher:<br />
40 Mio.) oder einen Bilanzwert bis 43 Mio. Euro<br />
(früher: 27 Mio.).<br />
– Kleine Unternehmen haben weniger als 50 Mitarbeiter<br />
und einen Umsatz bis 10 Mio. Euro (früher:<br />
7 Mio.) oder einen Bilanzwert bis 10 Mio. Euro (früher:<br />
5 Mio.).<br />
– Kleinstunternehmen haben weniger als 10 Mitarbeiter<br />
und einen Umsatz oder einen Bilanzwert bis<br />
2 Mio. Euro (früher: keine Definition).<br />
Als weiteres Kriterium kommt die Unabhängigkeit<br />
hinzu: Höchstens 25 % des Kapitals oder der Stimmanteile<br />
dürfen im Besitz von Unternehmen liegen,<br />
die keine KMU sind.<br />
Innerhalb der KMU bilden die Kleinstunternehmen<br />
mit 23,49 Mio. Betrieben die Hauptgruppe (93 %).<br />
Sie haben im Durchschnitt 3 Beschäftigte.<br />
KMU werden von der EU in besonderer Weise gefördert;<br />
die Rechtsgrundlage dafür bieten u. a. Art. 157<br />
und 163 EGV, die Bedeutung der Förderung im Hinblick<br />
auf die �Lissabon-Strategie wird unterstrichen<br />
durch die �Charta für Kleinunternehmen, vom Europäischen<br />
Rat in Santa Maria da Feira am 19. 6. 2000<br />
verabschiedet.<br />
Förderung erfahren KMU durch Programme und Initiativen.<br />
Seit 1989 legt die EU Mehrjahresprogramme<br />
auf, um für KMU beschäftigungswirksame Investitionsanreize<br />
zu schaffen. Insbesondere wird<br />
KMU der Zugang zu Investitionskapital zu annehmbaren<br />
Kosten erleichtert, zu Kreditbürgschaften und<br />
zu Risikokapital. Wichtigstes Instrument hierfür ist<br />
der �Europäische Investitionsfonds (EIF), der eine<br />
Startkapital- und eine Bürgschaftsfazilität für KMU<br />
eingerichtet hat. Mit Hilfe des Informationsaustauschnetzes<br />
�ELISE wird KMU der Zugang zu Krediten<br />
für beschäftigungswirksame Investitionen erleichtert.<br />
Das Programm �CRAFT fördert KMU in den Bereichen<br />
Forschung und Entwicklung, indem es die Auftragsvergabe<br />
an externe Forschungseinrichtungen<br />
bezuschusst. Ein weiteres Programm fördert die<br />
Gründung von Joint European Ventures (JEF, Ge-<br />
468<br />
meinschaftsunternehmen); dieses Förderprogramm<br />
wird voraussichtlich Mitte 2005 auslaufen. Existenzgründer<br />
innovativer KMU finden Förderung in<br />
den �Business & Innovation Centres (BIC).<br />
Unter den Initiativen ist Gate2Growth (www.gate2growth.com)<br />
zu erwähnen, die von der Kommission<br />
im Rahmen ihrer Innovations/KMU-Programme<br />
unterstützt wird. Es vermittelt innovativen KMU<br />
u. a. Partner für Kapital, Forschung, Beteiligung.<br />
Bei den meisten allgemeinen Förderprogrammen<br />
(wie Leonardo da Vinci), Finanzierungsinstrumenten<br />
(wie LIFE, FIAF, EFRE) und Gemeinschaftsinitiativen<br />
(wie INTERREG) wird besonderer Wert<br />
auf die Beteiligung von KMU gelegt.<br />
ZentraleAnsprechpartnerfüralleKMU-Fördermaßnahmen<br />
der EU sind die Euro-Info-Zentren (�EIC).<br />
Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit von<br />
KMU wird durch das seit 1973 bestehende Büro für<br />
Unternehmenskooperation (BUK bzw. BCC) und<br />
das Business Cooperation Network (BC-Net) unterstützt.<br />
Zur Beobachtung der wirtschaftlichen Entwicklung<br />
der KMU hat die Kommission im Dezember<br />
1992 das Beobachtungsnetz der europäischen<br />
KMU geschaffen<br />
Literatur:<br />
Europäische Kommission: Beobachtungsnetz der europäischen<br />
KMU 2003, Nr. 8. Brüssel 2004<br />
Dies.: Förderprogramme der Europäischen Union für KMU.<br />
Brüssel 2003.<br />
Europäischer Rat: Schlussfolgerungen des Vorsitzes,<br />
Santa Maria da Feira. 2000<br />
Köbler-Urteil. Mit diesem Grundsatzurteil vom 30.<br />
9.2003(Rs.C-224/01=NJW03,3539)entschiedder<br />
EuGH, dass einem Kläger, der aufgrund einer „offenkundigen“<br />
<strong>Europa</strong>rechtsignoranz eines nationalen<br />
Gerichtes kausalen Schaden nachweisen kann,<br />
grundsätzlich Ersatz im Wege der Staatshaftung geleistet<br />
werden muss. Nicht anerkannt wurde damit<br />
ein Richterprivileg im Sinne etwa des deutschen<br />
§ 839 Abs. 2 BGB. Auch wurde in Kauf genommen,<br />
dass schon rechtskräftig entschiedene Fragen so womöglich<br />
noch einmal im Rahmen eines Schadensersatzprozesses<br />
aufgerollt werden. Wenn Richter aufgrund<br />
offenkundiger <strong>Europa</strong>rechtsmissachtung dem<br />
Bürger einen Schaden zufügen, habe der MitgliedstaatalsDienstherrhierfürzuhaften.<br />
J. M. B.<br />
Kodex für gute Verwaltungspraxis. Vom Europäischen<br />
�Bürgerbeauftragten 1998 ausgearbeiteter
und vom Europäischen Parlament am 6. 11. 2001 gebilligter<br />
Kodex, der sich insbes. an die Bürgerinnen<br />
und Bürger wendet und sie darüber aufklärt, was sie<br />
berechtigterweise von der Verwaltung und ihren<br />
Mitarbeitern erwarten können und welche Grundsätze<br />
der öffentliche Dienst bei seiner Tätigkeit berücksichtigen<br />
sollte.<br />
DerKodexpräzisiert,wasinder �Grundrechtecharta<br />
als „Recht auf gute Verwaltung“ (Art. II-101 VVE<br />
2004)bezeichnetwird.Eristrechtlichnichtbindend,<br />
doch haben die Verwaltungsorgane der EU eine<br />
Selbstverpflichtung abgegeben, wonach sie die Verhaltensregeln<br />
befolgen wollen.<br />
Internet: www.euro-ombudsman.eu.int<br />
Kodezision. Mitentscheidung des Europäischen<br />
Parlaments gemeinsam mit dem Rat im �Gesetzgebungsverfahren<br />
der EU (Art. 252 EGV). �Mitentscheidungsverfahren<br />
Kodifikation von Rechtsvorschriften bezeichnet<br />
allgemein die Zusammenfassung aller zu einem<br />
Rechtsgebiet (z. B. zum Verwaltungsrecht) zählenden<br />
Normen zu einem Gesetzeswerk. In der EU<br />
spricht man von amtlicher (oder konstitutiver) Kodifikation<br />
der Rechtsvorschriften, wenn ein Basisrechtsakt<br />
und weitere ändernde Rechtsakte in einen<br />
neuen, im Amtsblatt (Reihe L) veröffentlichten (also<br />
angenommenen) Rechtsakt integriert (und damit<br />
aufgehoben), aber inhaltlich nicht verändert sind.<br />
Als vertikal wird die Zusammenfassung eines Basisrechtsakts<br />
und weiterer, ihn ändernder Rechtsakte<br />
bezeichnet, eine horizontale Kodifikation integriert<br />
mehrere, zu einem Rechtsgebiet gehörende Rechtsakte<br />
samt ändernder Rechtsakte in einem einzigen<br />
neuen.DieKodifikationdientderVereinfachungdes<br />
Sekundärrechts. �Konsolidierung der Rechtsvorschriften<br />
Kohärenz (lat. Zusammenhang) bezeichnet in der<br />
EU insbes. die erforderliche Übereinstimmung politischer<br />
Maßnahmen in allen 3 Säulen der EU (�Tempelstruktur)<br />
im Hinblick auf die zu erreichenden Ziele<br />
der Verträge. Die Kohärenz wird u. a. durch den<br />
�einheitlichen institutionellen Rahmen der EU sichergestellt<br />
(Art. 3 EUV). Insbesondere im Bereich<br />
der Außenbeziehungen muss die Union auf Kohärenz<br />
aller von ihr ergriffenen Maßnahmen achten (in<br />
der2.Säule:�GASPund�ESVP;inder1.Säule:Ent-<br />
wicklungspolitik, Wirtschaftsbeziehungen, Handelspolitik,<br />
Abkommen mit Drittstaaten). Verantwortlich<br />
dafür sind Rat und Kommission gemeinsam.<br />
Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, jede<br />
Handlung zu unterlassen, die im Bereich der 2. Säule<br />
(GASP) die Kohärenz schwächen könnte (Art. 11<br />
EUV).<br />
Kohäsion. Allgemein: Zusammenhalt (Bindung)<br />
als Wirkung einander anziehender Kräfte. Die EG<br />
entwickelt und verfolgt eine Politik zur Stärkung ihres<br />
wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts<br />
(frz. cohésion), um eine harmonische Entwicklung<br />
der Gemeinschaft als Ganzes zu fördern (Art. 158<br />
EGV). In diesem Sinne wird „Kohäsion“ auch im<br />
Deutschen verwendet, wenn von der EU die Rede ist.<br />
Instrumente der Kohäsionspolitik sind vor allem die<br />
Strukturfonds und der Kohäsionsfonds der EU<br />
(�Fonds der EU).<br />
Kohäsionsfonds �Fonds der EU<br />
Kollegialitätsprinzip<br />
Kohl, Helmut (geb. 1930), deutscher Bundeskanzler<br />
(1982–1998),seit3.10.1990deswiedervereinigten<br />
Deutschlands, dessen staatliche Einheit in erheblichem<br />
Maße seinem entschlossenen Handeln nach<br />
demFallderMauerunddemSturzdesSED-Regimes<br />
der DDR 1989 zu verdanken ist. Helmut Kohl ist<br />
überzeugter Verfechter der europäischen Integration.Erwurde1988zusammenmitFrançoisMitterand<br />
mit dem Karlspreis der Stadt Aachen ausgezeichnet.<br />
Im Dezember 1998 wurde er zum zweiten Ehrenbürger<br />
<strong>Europa</strong>s, nach Jean Monnet, ernannt.<br />
Kollegialitätsprinzip, auch Kollegialprinzip.<br />
Durch Gesetz oder Verfassung (z. B. in Schweizer<br />
Kantonen) oder durch Geschäftsordnung (z. B. der<br />
Europäischen Kommission) vorgeschriebene Form<br />
der Entscheidungsfindung in einem Kollegium<br />
gleichberechtigter Mitglieder. Beschlüsse werden<br />
vom Kollegium als Ganzes in geheimer Sitzung gefasst,<br />
entweder im Konsens oder durch die Mehrheit.<br />
Nach außen werden die Beschlüsse von allen Mitgliedern<br />
vertreten und verantwortet. Abweichende<br />
Meinungen einzelner Mitglieder werden nicht veröffentlicht.<br />
Nach ihrer Geschäftsordnung (ABl. L 308/2000)<br />
handelt die Europäische Kommission als Kollegium<br />
(Art. 1), die Sitzungen der Mitglieder sind nicht öf-<br />
469
Kölner Prozess<br />
fentlich und die Beratungen vertraulich (Art. 9), die<br />
Beschlüsse werden mit der Mehrheit der Mitglieder<br />
gefasst(Art.8).AuchbeianderenzulässigenFormen<br />
der Beschlussfassung (Art. 12) muss das Prinzip der<br />
kollegialenVerantwortlichkeitvollgewahrtbleiben.<br />
Entsprechend müssen die Mitglieder der Kommission<br />
gem. Art. 201 EGV geschlossen ihr Amt niederlegen,<br />
wenn wegen der Tätigkeit der Kommission ein<br />
Misstrauensantrag im Europäischen Parlament eingebracht<br />
und angenommen wird.<br />
Kölner Prozess<br />
1. Der Hintergrund. Bis zur Revision des �Maastrichter<br />
Vertrags auf dem Amsterdamer Gipfel im<br />
Jahr 1997 konnte dem europäischen Integrationsprozess<br />
von Kritikern mit einigem Recht vorgehalten<br />
werden, er stelle zu einseitig auf die Sicherung der<br />
�Preisstabilität der neuen Währung in der �Europäischen<br />
Währungsunion (EWU) ab: Zweifellos sind<br />
die EWU seit 1999 und die Einführung der Gemeinschaftswährung<br />
�Euro seit Anfang 2002 historisch<br />
bahnbrechende Schritte auf dem Weg in eine gemeinsameeuropäischeZukunft,dochistgleichzeitig<br />
mit dem trendmäßigen Anstieg der Arbeitslosigkeit<br />
in den 1990er Jahren in den meisten Mitgliedstaaten<br />
(die durchschnittliche Arbeitslosenquote in der<br />
EU-12 lag in den 1970er Jahren bei 4,2 %, in den<br />
1980er Jahren bereits bei 9,0 % und in den 1990er<br />
Jahrenschließlichbei10,4%)eineVerschiebungdes<br />
Politikfokus von der Preisstabilität auf die Bekämpfung<br />
der Beschäftigungsmisere zu verzeichnen, die<br />
schließlich zur Aufnahme eines „Beschäftigungskapitels“<br />
durch den �Vertrag von Amsterdam (Art. 125<br />
–130EGV)führte.DamitwurdezwareinneuesPolitikfeld<br />
auf europäischer Ebene erschlossen, die Weigerung<br />
einer Aufstockung der EU-Finanzen zeigt<br />
aber bereits, dass die EU-Beschäftigungspolitik allenfalls<br />
prozeduralen Charakter haben kann, mithin<br />
keine eigenständigen, finanzielle Ressourcen bindende<br />
Interventionen umfasst.<br />
Auf verschiedenen Gipfeltreffen seit Amsterdam<br />
sind nun die genaueren Inhalte der europäischen Beschäftigungspolitik<br />
herauskristallisiert worden. Auf<br />
dem Luxemburger Sondergipfel 1997 wurde eine<br />
Koordination der Arbeitsmarktpolitik (�„Luxemburger<br />
Prozess“) beschlossen, deren wesentliche Inhalte<br />
(Förderung der Beschäftigungsfähigkeit, des<br />
Unternehmergeistes, der Anpassungsfähigkeit und<br />
der Chancengleichheit) die Allokationsfähigkeit des<br />
470<br />
Arbeitsmarktes in den Vordergrund stellt. Der 1998<br />
beschlossene �„Cardiff Prozess“ umfasst die Reform<br />
der europäischen Güter- und Finanzmärkte und<br />
setzt im Wesentlichen auf eine verstärkte Privatisierung<br />
öffentlicher Güterbereitstellung (Post, Telekom,<br />
Energie, Wasserversorgung) und LiberalisierungeinstmalsgeschützterMärkte.Der„KölnerProzess“<br />
schließlich ist von anderem Charakter, da er<br />
makroökonomisch orientiert ist und nachfragetheoretisch<br />
argumentiert. Es geht um die Koordination<br />
der makroökonomischen Politikbereiche Geld-, Finanz-<br />
und Lohnpolitik zur Schaffung eines für<br />
Wachstum und Beschäftigung günstigen Policy mix.<br />
Insbesondere der zeitgeschichtliche Hintergrund<br />
lässt vermuten, weshalb der Kölner Prozess bereits<br />
als „eurokeynesianische Strategie“ bezeichnet wurde:<br />
(1) Mit dem �Stabilitäts- und Wachstumspakt<br />
von 1997 wurden die finanzpolitischen Konvergenzkriterien<br />
des Maastrichter Vertrages insbes. von der<br />
deutschen Bundesregierung unter Helmut Kohl in<br />
die EWU hinein verlängert und verschärft und eine<br />
angebotspolitische Orientierung festgeschrieben.<br />
(2) Mit dem Regierungswechsel in mehreren EU-<br />
Mitgliedstaaten, insbes. in Deutschland im Herbst<br />
1998, stellte sich kurzzeitig ein Stimmungswechsel<br />
ein, der dem angebotspolitisch und mikroökonomisch<br />
ausgerichteten Kurs der europäischen Wirtschafts-<br />
und Beschäftigungspolitik eine neue Orientierung<br />
geben wollte. Die deutsche Bundesregierung<br />
unter Finanzminister Oskar Lafontaine nutzte dieses<br />
„window of opportunity“, indem sie Vorarbeiten der<br />
beschäftigungspolitisch besonders engagierten österreichischen<br />
Bundesregierung aufgriff und auf<br />
dem Kölner EU-Gipfel 1999 den makroökonomischen<br />
Dialog institutionalisierte und die drei Politikprozesse<br />
zu einem „Beschäftigungspakt“ vereinte.<br />
2. Makro-Dialog als Form der kooperativen Wirtschaftspolitik.<br />
Bereits im Weißbuch „Wachstum,<br />
Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung“ von 1993<br />
(KOM 1993/700 endg.) hatte die Kommission herausgearbeitet,<br />
dass eine nachhaltige Verbesserung<br />
der Beschäftigungssituation in der EU nur durch eine<br />
Abstimmung der Geldpolitik, der Finanzpolitik und<br />
der Lohnpolitik zu erreichen ist. Aufgrund von Wirkungsinterdependenzen<br />
zwischen den Politikbereichen<br />
können die einzelnen Akteure – die Europäische<br />
Zentralbank (EZB), die europäischen Finanzminister<br />
(Ecofin-Rat) und die europäischen Tarifparteien<br />
– ihre Zielgrößen (Preisstabilität, hoher Be-
schäftigungsstand, hohe Einkommen) nicht unabhängig<br />
voneinander erreichen. Eine eindeutige Zielzuweisung<br />
und lineare Politikverfolgung ist deshalb<br />
nicht möglich, es müssten notwendigerweise Zielkonflikte<br />
entstehen. Eine Verhaltensabstimmung<br />
führt deshalb nicht nur zu einem gesamtwirtschaftlich<br />
überlegenen Ergebnis, sondern ermöglicht es<br />
auch den einzelnen Akteuren, ihre Ziele (und damit<br />
ihren Nutzen) besser zu verfolgen. Dennoch gelingt<br />
eine solche Kooperation nicht ohne institutionelle<br />
Ausgestaltung, denn ohne vertragliche Beziehungen<br />
– die im Falle des Makro-Dialogs allerdings unmöglich<br />
sind – befinden sich die Akteure in der sog. Kooperationsfalle:<br />
sie müssen befürchten, bei gutmütigem<br />
Verhalten (Kooperation) von den anderen Akteuren<br />
zu deren Vorteil ausgenutzt zu werden.<br />
Mit dem Kölner Prozess sind diese Zusammenhänge<br />
offiziell anerkannt und erstmals die unabhängige<br />
EZB in ein EU-weites Koordinierungsverfahren einbezogen<br />
worden.<br />
3. Aussichten des Kölner Prozesses. Der Kölner Prozess<br />
teilt sich in eine „politische“ und eine „technische“<br />
Ebene. Auf technischer Ebene tauschen sich<br />
Experten der beteiligten Akteure – also der EZB, des<br />
Wirtschafts- und des Arbeitsmarkt- und Beschäftigungsausschusses,dermakroökonomischenGruppe<br />
der EU-Sozialpartner unter Anleitung der Kommission<br />
– halbjährlich über die konjunkturelle Entwicklung<br />
und die Wirkungsweise der Wirtschaftspolitik<br />
in der Euro-Zone aus. Auf der politischen Ebene treffen<br />
sich die politischen Vertreter der beteiligten Akteure<br />
ebenfalls zwei Mal pro Jahr in einem Forum, in<br />
dem Strategien verhaltensabstimmender und vertrauensbildender<br />
Maßnahmen besprochen werden<br />
können. Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass<br />
diese Zusammenkünfte über den Austausch weitgehend<br />
bekannter Informationen und Standpunkte bisher<br />
nicht hinausgegangen sind – ein wachstumsförderlicher<br />
Policy mix (das erklärte Ziel des Kölner<br />
Prozesses) hat sich zumindest bislang nicht eingestellt.<br />
Dieses enttäuschende Ergebnis, dass mit der<br />
weitgehenden Unbekanntheit des Kölner Prozesses<br />
in der europäischen Öffentlichkeit in Einklang steht,<br />
hat mehrere Ursachen: (1) Nach dem Rücktritt des<br />
deutschen Finanzministers Oskar Lafontaine hat<br />
sich das „window of opportunity“ für eine makroökonomisch<br />
ausgerichtete Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik<br />
wieder geschlossen. (2) Die<br />
Rahmenbedingungen des EU-Makrodialogs (Unan-<br />
Komitologie<br />
tastbarkeit der Unabhängigkeit der Akteure, Dominanz<br />
der Bestimmungen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes,<br />
Gültigkeit des �Subsidiaritätsprinzips)<br />
konterkarieren die wirtschaftspolitische Ausrichtung<br />
des Makrodialogs, und (3) die institutionelle<br />
Ausgestaltung ist nicht in der Lage, die „Kooperationsfalle“zuüberwinden,indersichdieAkteurebefinden.<br />
Insbesondere fehlen einem effektiven<br />
EU-Makrodialog bislang die EU-weit handlungsfähigen<br />
Akteure (lediglich die Geldpolitik ist ja in der<br />
EWU europäisiert, nicht so aber die Finanz- oder Tarifpolitik)<br />
oder eine Unterfütterung des EU-Makrodialogs<br />
mit nationalen Makrodialogen auf der Ebene<br />
der jeweiligen Mitgliedstaaten.<br />
Bestenfalls verbleibt der Kölner Prozess damit eine<br />
leere Hülle ohne Inhalt, schlechtestenfalls könnte er<br />
als ein Verfahren missbraucht werden, um die Sozialpartner<br />
auf den Kurs einer „moderaten Lohnpolitik“<br />
einzuschwören, wenn sich die EZB aufgrund ihrer<br />
Unabhängigkeit und der Ecofin-Rat aufgrund des<br />
Stabilitäts- und Wachstumspaktes für verhandlungsunfähigerklären.<br />
A. H.<br />
Literatur<br />
Angelo, S./Schweighofer, J.: Makroökonomische Koordinierung<br />
auf EU-Ebene. In: Kurswechsel, H.3, 2001, S. 49 – 61<br />
Aust, A.: ‚Dritter Weg‘ oder ‚Eurokeynesianismus‘? Zur Entwicklung<br />
der Europäischen Beschäftigungspolitik seit dem<br />
Amsterdamer Vertrag. In: Österreichische Zeitschrift für<br />
Politikwissenschaften, Nr.3, 2000, S. 269–283<br />
Bofinger, P.: Politikkoordinierung nützt <strong>Europa</strong>s Zukunft.<br />
In: Randzio-Plath, Chr. (Hg.); Wege aus der Krise.<br />
Baden-Baden 2004, S. 63–76<br />
Heise, A.: Der Kölner Prozess – Theoretische Grundlagen und<br />
erste Erfahrungen mit dem EU-Makrodialog. In: integration,<br />
24. Jg., H. 4, 2001, S. 390–402<br />
Heise, A.: Bedeutung und Perspektiven des EU-Makrodialogs.<br />
In: Heise, A. (Hg.), Neues Geld – alte Geldpolitik? Die EZB<br />
im makroökonomischen Interaktionsraum. Marburg 2002<br />
Köhler, C.: Beschlüsse zu einer fehlentwicklungsfreien wirtschaftlichen<br />
Entwicklung in der EWU. Berlin 2000<br />
Komitologie (Ausschusswesen). Der Begriff „Komitologie“<br />
(frz. „comité“ = Ausschuss) bezeichnet<br />
die Mitwirkung von Ausschüssen bei der Durchführung<br />
des Gemeinschaftsrechts durch die Kommission.<br />
Denn der Rat ist ermächtigt, der Kommission die<br />
Durchführungsbefugnisse zu übertragen (Art. 202<br />
dritter Spiegelstrich EGV). Hierzu wird im (Basis-)Rechtsakt<br />
Inhalt und Ausmaß der Durchführungsbefugnisse<br />
festgelegt sowie das entsprechende<br />
Ausschussverfahren ausgewählt. Da die meisten<br />
�Rechtsakte weder im Rat noch im Europäischen<br />
471
Komitologie<br />
Parlamentverabschiedetwerden,sondernalsDurchführungsbestimmungen<br />
von der Kommission festgelegt<br />
werden, kommt dem Ausschusswesen erhebliche<br />
Bedeutung zu. Die Ausschüsse bestehen in nahezu<br />
allen wichtigen Politikbereichen und sind zahlreich.<br />
Sie setzen sich aus Vertretern der Mitgliedstaaten<br />
zusammen und tagen unter dem Vorsitz eines<br />
Vertreters der Kommission.<br />
Das Entscheidungsverfahren in den Ausschüssen<br />
wurde im Interesse der Vereinfachung, der Transparenz<br />
und der stärkeren Einbindung des Europäischen<br />
Parlamentes im Beschluss des Rates vom 28. 6. 1999<br />
zur Festlegung der Modalitäten für die Ausübung der<br />
der Kommission übertragenen Durchführungsbefugnisse<br />
neu gestaltet (1999/468, ABl. L 184/1999 –<br />
Komitologie-Beschluss), der den ersten Beschluss<br />
vom 13. 7. 1987 ersetzt. Neu werden dem Europäischen<br />
Parlament im Zusammenhang mit der Durchführung<br />
von Rechtsakten, die im �Mitentscheidungsverfahren<br />
erlassen werden, ein Mitspracherecht<br />
eingeräumt, klarere Kriterien für die Wahl des<br />
Ausschusses und vereinfachte, transparentere Verfahrensmodalitäten<br />
geschaffen. Auch der EU-Bürger<br />
hat nunmehr besseren Zugriff auf Ausschussdokumente,<br />
die zudem ab 2003 in einem öffentlichen<br />
Registererfasstwerden(RegisterderKomitologie).<br />
Die Arbeitsweise der Ausschüsse ist auf drei Arten<br />
von Verfahren (Beratender Ausschuss, Verwaltungsausschuss,<br />
Regelungsausschuss) beschränkt,<br />
die sich durch die unterschiedlichen Einflussmöglichkeiten<br />
unterscheiden.<br />
Bei Angelegenheiten von geringer politischer Tragweite<br />
bzw. im Zusammenhang mit der Verwirklichung<br />
des Binnenmarktes erlassenen Rechtsakten<br />
wird ein beratender Ausschuss eingesetzt. Dieser<br />
gibt gegenüber der Kommission eine Stellungnahme<br />
ab. Die Kommission ist aufgefordert, aber nicht verpflichtet,<br />
die Stellungnahme soweit wie möglich zu<br />
berücksichtigen und dem Ausschuss darüber Rechenschaft<br />
abzulegen.<br />
Demgegenüber wird das Verwaltungsverfahren insbes.beiMaßnahmenzurUmsetzungder�Gemeinsamen<br />
Agrarpolitik oder der �Fischereipolitik und zur<br />
Durchführung von Programmen mit erheblichen<br />
Auswirkungen auf den �Haushalt angewandt. Bei<br />
diesem Verfahren muss die Kommission vor dem Erlass<br />
der von ihr beabsichtigten Maßnahmen den Verwaltungsausschussanhören.DiesergibtzudenMaßnahmeentwürfen<br />
eine Stellungnahme ab. Hiervon<br />
472<br />
unabhängig erlässt die Kommission die Maßnahmen<br />
grundsätzlich selbst. Stimmen diese jedoch nicht mit<br />
der Stellungnahme des Ausschusses überein, so<br />
muss die Kommission die beschlossenen Maßnahmen<br />
unverzüglich dem Rat mitteilen, der innerhalb<br />
von drei Monaten mit qualifizierter Mehrheit einen<br />
anders lautenden Beschluss fassen kann.<br />
Ein Regelungsausschuss wird hingegen vor allem<br />
bei Maßnahmen von allgemeiner Tragweite eingesetzt<br />
wie z. B. zum Schutz der Gesundheit oder Sicherheit<br />
von Menschen, Tieren oder Pflanzen sowie<br />
bei Maßnahmen, mit denen nicht als wesentlich zu<br />
betrachtende Bestimmungen eines Basisrechtsakts<br />
geändert werden sollen. Im Unterschied zum Verwaltungsverfahren<br />
ist die Stellung der Kommission<br />
im Falle der Ablehnung der Maßnahme durch den<br />
Regelungsausschuss erheblich geschwächt. In diesen<br />
Fällen kann die Kommission ihre Durchführungsmaßnahme<br />
nicht zur Anwendung bringen, sondernmussdiezutreffendenMaßnahmendemRatzur<br />
Beschlussfassung vorschlagen und das Europäische<br />
Parlament unterrichten. Das Europäische Parlament<br />
prüft, ob sich die vorgeschlagene Maßnahme im<br />
Rahmen der durch den durchzuführenden Rechtsakt<br />
gesetzten Grenzen hält, und unterrichtet den Rat von<br />
seinem Standpunkt. Der Rat kann unter Berücksichtigung<br />
des Standpunktes des Europäischen ParlamentesinnerhalbeinesZeitraumsvonhöchstensdrei<br />
Monaten mit qualifizierter Mehrheit über den Vorschlag<br />
der Kommission befinden. Spricht sich der<br />
RatgegendenVorschlagaus,überprüftdieKommission<br />
den Vorschlag und kann dem Rat einen geänderten<br />
Vorschlag vorlegen, ihren Vorschlag erneut vorlegen<br />
oder den Erlass der Maßnahme mit einem entsprechenden<br />
Vorschlag dem Europäischen Parlament<br />
und dem Rat überantworten. Hat der Rat nach<br />
Ablauf der Frist von drei Monaten weder den vorgeschlagenen<br />
Durchführungsrechtsakt erlassen noch<br />
sich gegen den Vorschlag für die Durchführungsmaßnahme<br />
ausgesprochen, so wird der vorgeschlagene<br />
Durchführungsakt von der Kommission erlassen.<br />
Anders als beim Beratungs- und Verwaltungsverfahren<br />
kann es somit im Regelungsverfahren zu<br />
einer gesetzgeberischen Blockade führen, sofern der<br />
Ausschuss nicht zustimmt und der Rat die vorgeschlagene<br />
Maßnahme fristgerecht ablehnt.<br />
Das Komitologie-Verfahren ist als „politische Verwaltung“<br />
weiterhin stark umstritten. Als KritikpunktesindvorabdasDemokratiedefizit(EinflussdesRa-
tes beim Vollzug der Rechtsakte, Ausschussmitglieder<br />
nicht direkt gewählt), die Stellung des Europäischen<br />
Parlamentes (mangelnde Einbindung, fehlendes<br />
Vetorecht) und die Intransparenz zu nennen. Bereits<br />
Anfang 2000 hat die Kommission eine Reform<br />
der europäischen �Governance angekündigt (Weißbuchvom25.7.2001,KOM2001/428),dieaucheine<br />
Neugestaltung des Ausschussverfahrens umfasst.<br />
Im Verfassungsvertrag 2004 in Art. I–36 VVE 2004<br />
sollnundemEuropäischenParlamentnebendemRat<br />
ein generelles, jederzeitiges Widerrufsrecht der Befugnisübertragung<br />
und im Einzelfall ein Vetorecht<br />
für die delegierte Europäische Verordnung übertragen<br />
werden. Weiter sind bereits im Voraus im EuropäischenGesetzRegelnundGrundsätzederÜbertragung<br />
von Durchführungsbefugnissen an die Kommission<br />
festzulegen, nach denen die Mitgliedstaaten<br />
ihr Kontrollrecht ausüben (Art. I–37 Abs. 3 VVE<br />
2004). Neu soll zudem durch die Verankerung des<br />
GrundsatzesderOffenheitundTransparenzeineverantwortungsvolle<br />
Verwaltung gefördert werden<br />
(Art.I–50Abs.1VVE2004). U. W.<br />
Kommission der<br />
Europäischen Gemeinschaften<br />
1. Begriffserklärung: Die Kommission ist ein Kollegium<br />
der von den Regierungen der Mitgliedstaaten<br />
der EU einvernehmlich ernannten, vom Europäischen<br />
Parlament (EP) zu bestätigenden, ihr Amt jedoch<br />
unabhängig ausübenden Mitglieder, einschl.<br />
der dazugehörigen Verwaltungsbehörde. Die Kommission<br />
ist Kontroll-, Initiativ- und Exekutivorgan<br />
zugleich (Art. 211–219 EGV). Die Kommission<br />
sieht sich als „Motor“ der europäischen Integration<br />
und als „Hüterin“ der Verträge. Seit Dezember 1993<br />
ist in den offiziellen Sprachgebrauch die Bezeichnung<br />
„Europäische Kommission“ eingegangen, obwohl<br />
es rechtlich korrekt nach wie vor „Kommission<br />
der Europäischen Gemeinschaften“ heißt.<br />
2. Historische Entwicklung: Die Kommission ist aus<br />
der Hohen Behörde der EGKS und den Kommissionen<br />
der EWG und der EAG hervorgegangen. Durch<br />
den Fusionsvertrag vom 8. 4. 1965 wurden die Organe<br />
der drei Gemeinschaften zusammengeführt (in<br />
Kraft ab 1. 7. 1967). Die Fusion zu einer gemeinsamen<br />
Kommission sollte der Rationalisierung und<br />
Koordinierung der Verwaltung dienen mit dem Ziel,<br />
das politische Gewicht dieser Gemeinschaftsinstitution<br />
zu stärken.<br />
Kommission<br />
Die Stellung der Kommission innerhalb des institutionellen<br />
Systems der EU wird besonders geprägt<br />
von ihren Präsidenten.<br />
3. Organisatorische Details: Sitz der Kommission<br />
ist Brüssel. Sie hat 25 Mitglieder (Stand Mitte 2005),<br />
je Mitgliedstaat eines. Bis zum Jahr 2004 besetzten<br />
die fünf größeren Staaten der EU zwei Kommissarsposten.SobalddieEU27Staatenumfasst,solleinnäher<br />
noch nicht festgelegtes Rotationsprinzip eingeführt<br />
werden.<br />
Die Kommissare sind zu voller Unabhängigkeit verpflichtet<br />
und dürfen keine andere berufliche Tätigkeit<br />
ausüben. Die Amtszeit betrug bis 1995 vier Jahre;<br />
durch den Maastrichter „Vertrag über die Europäische<br />
Union“ wurde sie ab 1995 auf fünf Jahre ausgeweitet<br />
und damit dem Wahlrhythmus des EP angepasst.<br />
Der Präsident der Kommission wird durch den<br />
Rat, der in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs<br />
tagt, mit qualifizierter Mehrheit und<br />
nach Zustimmung des EP ausgewählt. In Abstimmung<br />
mit dem designierten Präsidenten benennt der<br />
Rat wiederum mit qualifizierter Mehrheit die übrigen<br />
Mitglieder. Das Kollegium muss sich dann einem<br />
Zustimmungsvotum des EP stellen. Seit dem<br />
Amsterdamer Vertrag wurde die Legitimation der<br />
Einsetzung der Kommission durch einen Ausbau der<br />
Rechte des EP verstärkt; ebenso wurde die Rolle des<br />
Präsidenten ausgebaut: er hat die Richtlinien- und<br />
OrganisationskompetenzfürdieinnereOrganisation<br />
der Kommission sowie politische Führungsfunktion.<br />
Zur Erfüllung ihrer Aufgaben verfügt die Kommission<br />
über einen Verwaltungsapparat mit �Generaldirektionen<br />
und verschiedenen Diensten, in denen<br />
ca. 25 000 Beamte (Stand 2004) arbeiten.<br />
4. Aufgaben der Kommission: Die Kommission ist<br />
dem Gemeinschaftswohl verpflichtet und vertritt die<br />
gemeinschaftlichen Interessen. Alle Informationen<br />
und Aktivitäten der EG laufen bei der Kommission<br />
zusammen, und die meisten gehen von ihr aus. Unabhängigkeit<br />
und Überparteilichkeit der Kommission<br />
beiderErfüllungihrerAufgabenwerdendadurchgarantiert,<br />
dass sie weder vom Rat noch von den Mitgliedstaaten<br />
abgesetzt werden kann. Lediglich ein<br />
Misstrauensvotum des EP kann die gesamte Kommission<br />
zum Rücktritt zwingen (im März 1999 kam<br />
die Kommission einem drohenden Misstrauensvotum<br />
durch Rücktritt zuvor). Bei schweren Verfehlungen<br />
eines Kommissars ist die Einleitung eines<br />
Amtsenthebungsverfahrens möglich.<br />
473
Kommission<br />
Die Kommission hat vier Hauptaufgaben:<br />
– Sie ist Initiator der Tätigkeit der EG, d. h. es obliegt<br />
ihr, Vorschläge zur Aufrechterhaltung, Weiterentwicklung<br />
und Ausweitung der Gemeinschaftspolitiken<br />
zu machen. Sie verfügt über das alleinige Vorschlagsrecht,<br />
so dass der Ministerrat – von Ausnahmen<br />
abgesehen – nur auf der Grundlage eines von der<br />
Kommission vorgelegten Entwurfs beschließen<br />
kann. Der Rat und das EP können die Kommission<br />
zwar auffordern, initiativ zu werden, dürfen jedoch<br />
nicht ohne solche Vorschläge selbst tätig werden.<br />
Die Wahl des Zeitpunktes, des Inhalts und der<br />
Rechtsgrundlage liegt ausschließlich in der Kompetenz<br />
der Kommission. Solange noch kein Beschluss<br />
des Rates vorliegt, kann die Kommission ihren Entwurf<br />
jederzeit ändern oder sogar zurückziehen.<br />
– Die Kommission ist das Exekutivorgan der EU,<br />
d. h. sie ist mit der Durchführung der EG-Verträge<br />
beauftragt und kann in diesem Rahmen verbindliche<br />
Verordnungen erlassen. Dazu gehört auch die Beteiligung<br />
der Kommission an der Verabschiedung des<br />
Die Präsidenten der Kommission<br />
der E(W)G, der EURATOM und der<br />
Hohen Behörde der EGKS<br />
Hohe Behörde der EGKS<br />
1952 – 1955: Jean Monnet, Frankreich<br />
1955 – 1958: René Mayer, Frankreich<br />
1958 – 1959: Paul Finet, Belgien<br />
1959 – 1963: Piero Malvestiti, Italien<br />
1963 – 1067: Dino del Bo, Italien<br />
1967 Fusion mit der Kommission der EWG<br />
Kommission der EURATOM<br />
1958 – 1959: Louis Armand, Frankreich<br />
1959 – 1962: Etienne Hirsch, Frankreich<br />
1962 – 1967: Pierre Chatenet, Frankreich<br />
1967 Fusion mit der Kommission der EWG<br />
Kommission der E(W)G<br />
1958 – 1967: Walter Hallstein, Deutschland<br />
ab 1967 Kommission der 3 Gemeinschaften<br />
1967 – 1970: Jean Rey, Belgien<br />
1970 – 1972: Franco Maria Malfatti, Italien<br />
1972: Sico L. Mansholt, Niederlande<br />
1973 – 1976: François-Xavier Ortoli, Frankreich<br />
1977 – 1980: Roy Jenkins, Großbritannien<br />
1981 – 1984: Gaston Thorn, Luxemburg<br />
1985 – 1994: Jacques Delors, Frankreich<br />
1995 – 1999: Jacques Santer, Luxemburg<br />
1999 – 2004: Romano Prodi, Italien<br />
seit 2004: José Manuel Durão Barroso, Spanien<br />
474<br />
Haushalts der EU, die Ausführung des Haushaltsplans,<br />
die Befugnis, Abkommen mit Drittländern<br />
und internationalen Organisationen auszuhandeln.<br />
– Die Kommission ist die Hüterin der Verträge, d. h.<br />
sie ist für die Anwendung des Gemeinschaftsrechts<br />
sowie der von den Organen getroffenen Bestimmungen<br />
verantwortlich. Hat nach Auffassung der Kommission<br />
ein Mitgliedsland gegen eine Verpflichtung<br />
aus den Verträgen verstoßen, so kann sie ein Vertragsverletzungsverfahren<br />
einleiten, das bis zur Klage<br />
vor dem Europäischen Gerichtshof führen kann.<br />
Gegen den Rat kann die Kommission eine Untätigkeitsklage<br />
beim Europäischen Gerichtshof einreichen.<br />
Sie ist für die Einhaltung der Regeln des freien<br />
Wettbewerbs verantwortlich (�Gemeinsame Wettbewerbspolitik),<br />
sie kann �staatliche Beihilfen kontrollieren<br />
(Beihilfenkontrollen) sowie Unternehmenszusammenschlüsse<br />
untersagen (�Fusionskontrolle)<br />
und gegen Unternehmen Geldbußen verhängen.<br />
– Der Kommission obliegt die Aushandlung handelspolitischer<br />
und sonstiger Abkommen mit Drittländern,<br />
wobei sie in Einzelfällen selbst für die Europäische<br />
Union Abkommen abschließen kann. Darüber<br />
hinaus ist die Kommission in vollem Umfang an<br />
den Arbeiten im Rahmen der �Gemeinsamen Außen-<br />
und Sicherheitspolitik beteiligt und teilt sich ein<br />
Vorschlagsrecht für Maßnahmen und Beschlüsse<br />
mit den Mitgliedstaaten. Mit dem Amsterdamer Vertrag<br />
wurden die Rechte der Kommission in diesem<br />
Bereich erweitert: Die Kommission wurde Mitglied<br />
der �Troika. Die Mitarbeiter der �Strategie- und<br />
Frühwarneinheit rekrutieren sich aus Personal der<br />
Kommission. Die außenpolitische Kompetenz soll<br />
in Zukunft in einer Person gebündelt werden (Vizepräsident),<br />
um ihr so mehr Gewicht zu verleihen. Zudem<br />
ist die Kommission in Zukunft im vollen Umfang<br />
an der Außenvertretung sowie Durchführung<br />
von gemeinsamen Aktionen zu beteiligen (Art. 18,<br />
22, 27 EUV); für gemeinsame Aktionen kann die<br />
Kommission nach Aufforderung durch den Rat Vorschläge<br />
unterbreiten.<br />
– Im Bereich der polizeilichen und justitiellen ZusammenarbeitinStrafsachen(�PJZS)wirddieKommission<br />
in vollem Umfang an den Arbeiten beteiligt<br />
(Art. 36, 39, 42 EUV).<br />
5. Kritische Wertung: Die Kommission hat einem<br />
doppelten Anspruch zu genügen: Sie muss innovative<br />
Vorschläge entwickeln und andererseits die Poli-
tiken der EU auf der Grundlage des bestehenden<br />
Rechts durchsetzen.<br />
Die Kommission wird aufgrund ihrer Rolle als Vertreterin<br />
der Interessen der Gemeinschaft in der Öffentlichkeit<br />
und den Medien sprachlich oft mit der<br />
Gemeinschaft gleichgesetzt und dann auch für die<br />
Beschlüsse, die eigentlich der Rat trifft, verantwortlich<br />
gemacht. Defizite und Probleme dieser Beschlüsse<br />
werden häufig der Kommission angelastet,<br />
die dann in den Augen der Bürger als Eurokratie erscheint.<br />
Überlegungen zu einer Reform des institutionellen<br />
Gefüges, die durch die Erweiterungsphasen<br />
der EU, aber auch durch die Diskussion über<br />
Handlungsfähigkeit und Transparenz der europäischen<br />
Gesetzgebung ausgelöst wurden, bezogen<br />
auchdieKommissionmitein.WennaucheinigeVeränderungen<br />
zur Stärkung der Rolle der Kommission<br />
vorgenommen wurden, so hat der Vertrag von Nizza<br />
das Problem der Größe und damit Handlungsfähigkeit<br />
der Kommission, die Rollenzuordnung „Europäische<br />
Regierung“ gleichzeitig an die Kommission<br />
und den Rat sowie die Frage, wie die Kommission<br />
ihre politisch-strategische Funktion wieder stärken<br />
kann, nicht zufriedenstellend gelöst. Der „Vertrag<br />
übereineVerfassungfür<strong>Europa</strong>“(�Verfassungsvertrag<br />
2004) liefert für diese offenen Fragen auch nur<br />
begrenzteLösungsansätze. M. P.<br />
Anschriften:<br />
Europäische Kommission, rue de la Loi 200,<br />
B–1049 Bruxelles<br />
Europäische Kommission, Vertretung in der Bundesrepublik<br />
Deutschland, Unter den Linden 78, 10711 Berlin<br />
Dies.: Bertha-von-Suttner-Platz 2-4, 53111 Bonn<br />
Dies.: Erhardtstr. 27, 80331 München<br />
Literatur:<br />
Bieber, R.: Die Europäische Union. Baden-Baden 2005<br />
Seibold, U.: Die Kontrolle der Europäischen Kommission<br />
durch das Europäische Parlament. Inhalt und Umfang.<br />
Frankfurt/Main 2004<br />
Kommunalpolitik<br />
1. Allgemeines: In der EU sind Kommunen die unterste<br />
Verwaltungseinheit. In Deutschland gibt es 439<br />
kreisfreie Städte und Landkreise sowie 14 308 Gemeinden<br />
(Stand: 2005). Schätzungsweise 60 bis<br />
70 % der EU-Gesetzgebung betreffen die Kommunen<br />
(Angabe nach dem <strong>Europa</strong>-Jahresbericht des<br />
Deutschen Städtetages 2004). Besonders in Bereichen<br />
wie Umweltschutz, Lebensmittelkontrolle und<br />
Veterinärrecht wird deutlich, dass die EU-Entscheidungen<br />
nur greifen, wenn auf kommunaler Ebene die<br />
Kommunalpolitik<br />
entsprechende Umsetzung stattfindet. Kommunen<br />
müssen ihrerseits EU-weit öffentlich ausschreiben,<br />
wenn z. B. Bauaufträge im Straßenbau ein Volumen<br />
von mehr als 5 Mio. Euro und bei Liefer- und Dienstleistungsaufträgen<br />
400 000 Euro überschreiten.<br />
2. Kommunalpolitische Auswirkungen der <strong>Europa</strong>politik:<br />
EG-Vertrag und EU-Vertrag lassen sich in<br />
ihren Auswirkungen auf die kommunale Ebene wie<br />
folgt kategorisieren:<br />
– Maßnahmen, die bis in den Kern des Selbstverwaltungsrechts<br />
vorstoßen: Hierzu zählen z. B. die<br />
Durchsetzung des �Kommunalwahlrechts für Bürgerinnen<br />
und Bürger der EU, die Vergabe öffentlicher<br />
Aufträge, Beihilfekontrollen und die mögliche<br />
Einschränkung der wirtschaftlichen Betätigung der<br />
Kommunen.<br />
– Regelungen, die kommunale Gebietskörperschaften<br />
im Bereich der Pflichtaufgaben nach Weisungen<br />
gegenüber Dritten zu vollziehen haben. Zu nennen<br />
sind hier insbes. das Baurecht, das Umweltrecht, das<br />
Lebensmittelrecht, das Naturschutzrecht und das<br />
Straßenverkehrsrecht.<br />
– Regelungen, die allgemein gelten, aber Kommunen<br />
in besonderer Weise treffen oder von ihnen zu<br />
beachten sind. Dazu gehört die gegenseitige Anerkennung<br />
von beruflichen Abschlüssen, Berechtigungen<br />
und Zulassungen (z. B. Bauvorlageberechtigung<br />
ausländischer Architekten, �Diskriminierungsverbote<br />
bei der Einstellung in den öffentlichen<br />
Dienst sowie bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen).<br />
– Finanzielle Fördermaßnahmen der Europäischen<br />
Union, deren Empfänger die Kommunen selbst sein<br />
können oder die für die Entwicklung der Gemeinden<br />
von Bedeutung sind. Zu erwähnen sind die Strukturfonds<br />
(�Fonds der EU) und eine ganze Reihe von<br />
kleinen Sonderprogrammen, geförderten Pilotvorhaben<br />
und Forschungsmitteln sowie die �Europäische<br />
Investitionsbank, die durch günstige Konditionen<br />
zunehmend Bedeutung im kommunalen Bereich<br />
erlangt.<br />
3. EU und der Grundsatz der kommunalen Selbstverwaltung:<br />
Aus deutscher Perspektive von Bedeutung<br />
ist die in Art. 28 GG festgeschriebene Verfassungsgarantie<br />
der kommunalen Selbstverwaltung. Sie bindet<br />
die Organe der Bundesrepublik Deutschland,<br />
aber nicht die �Organe der EU. Die EU kennt einen<br />
solchen, für die kommunale Selbstverwaltung wirkenden<br />
Kernschutz nicht. Die kommunalen Spitzen-<br />
475
Kommunalpolitik<br />
verbände forderten schon lange, dass im Rahmen einer<br />
europäischen Verfassung dieser Rechtsschutz<br />
festgeschrieben wird. Die „Europäische Charta der<br />
kommunalen Selbstverwaltung“ des �<strong>Europa</strong>rates<br />
leistet das als völkerrechtlicher Vertrag nicht, da die<br />
EU als Nicht-Vertragspartner nicht daran gebunden<br />
ist. Das in Art. 5 EGV fixierte Prinzip der �Subsidiarität<br />
ordnet der kommunalen Handlungsebene zwar<br />
Bestandsschutz zu, ist aber nicht so weit greifend wie<br />
Art. 28 GG.<br />
3.1 <strong>Europa</strong>rat und Kommunalcharta: Der <strong>Europa</strong>rat<br />
hat früh den Beitrag erkannt, den Kommunal- und<br />
Regionalbehörden für den Fortgang der europäischen<br />
Einigung leisten können. 1957 wurde die<br />
„Ständige Konferenz der Gemeinden und Regionen<br />
<strong>Europa</strong>s“ gegründet, die als einzige Kommunalkonferenz<br />
offiziellen Status innerhalb einer zwischenstaatlichen<br />
Organisation besaß. 1982 verabschiedete<br />
die Ständige Konferenz den Entwurf einer „Europäischen<br />
Charta der kommunalen Selbstverwaltung“,<br />
die 1985 vom Ministerkomitee des <strong>Europa</strong>rates beschlossen<br />
wurde und seit dem 1. 9. 1988 in Kraft ist.<br />
Die Europäische Charta ist der erste multilaterale,<br />
völkerrechtliche Vertrag zwischen europäischen<br />
Staaten, der das Prinzip der kommunalen Selbstverwaltung<br />
in Form einer Konvention absichert. Sie enthält<br />
die wesentlichen Gesichtspunkte, die für eine<br />
kommunale Selbstverwaltung der lokalen und regionalen<br />
Körperschaften unerlässlich sind:<br />
– Verfassungsmäßige Garantie der kommunalen<br />
Selbstverwaltung;<br />
– Bestandsschutz der bereits existierenden lokalen<br />
Körperschaften;<br />
– Begrenzung der Staatsaufsicht;<br />
– Organisationshoheit der lokalen Körperschaften<br />
und<br />
– angemessene finanzielle Ausstattung zur Erledigung<br />
der Selbstverwaltungsaufgaben.<br />
Die Inhalte der Kommunalcharta des <strong>Europa</strong>rats<br />
wurden vom Europäischen Parlament (EP) als Strukturprinzipien<br />
für die kommunale Ebene im Rahmen<br />
der EU übernommen.<br />
Die „Ständige Konferenz der Gemeinden und Regionen<br />
<strong>Europa</strong>s“ wurde 1994 abgelöst vom �„Kongress<br />
der Gemeinden und Regionen“ (�<strong>Europa</strong>rat).<br />
3.2 Kommunen und �Vertrag von Amsterdam: Der<br />
Amsterdamer Vertrag (in Kraft 1. 5. 1999) stärkt die<br />
Belange der Kommunen und Regionen vor allem im<br />
institutionellen Bereich. Das von den Kommunen<br />
476<br />
geforderte Klagerecht für den �Ausschuss der Regionen<br />
(AdR) vor dem EuGH und die Verankerung<br />
des kommunalen Selbstverwaltungsrechts wurde<br />
dagegen nicht in den Vertrag übernommen.<br />
Im Einzelnen betreffen folgende Vertragsregelungen<br />
die Kommunen:<br />
– Anerkennung der Interessen der innerstaatlichen<br />
Gliederung in einem Protokoll über die Anwendung<br />
der Prinzipien der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit;<br />
– neue Zuständigkeiten des AdR in Form der Ausweitung<br />
der Beratungsbefugnisse auf die Bereiche<br />
Beschäftigung, Soziale Angelegenheiten, Öffentliche<br />
Gesundheit, Umwelt, Europäischer Sozialfonds,<br />
Berufliche Bildung und Verkehr;<br />
– Bestandsgarantie für die öffentliche Kreditwirtschaft<br />
in der Bundesrepublik Deutschland.<br />
3.3 Kommunen und der Verfassungsvertrag: Der<br />
�Verfassungsvertrag 2004 (VVE) würde den Kommunen<br />
den Rücken stärken, wenn er in Kraft treten<br />
sollte. Die kommunale Selbstverwaltung ist als Bestandteil<br />
der nationalen Identität der Mitgliedstaaten<br />
anerkannt (Art. I-5 Abs. 1 VVE). Die regionale und<br />
lokale Ebene werden explizit in das Subsidiaritätsprinzip<br />
einbezogen; die Organe der EU werden auf<br />
dessen Einhaltung verpflichtet (Art. I-9 Abs. 3<br />
VVE). Im Unterschied zum EU-Vertrag besitzt der<br />
VVE ein allgemeines Bekenntnis zugunsten der<br />
kommunalen Gebietskörperschaften. Ihren Interessen<br />
muss damit bei der europäischen Rechtsetzung<br />
Rechnung getragen werden. Grundsätzlich sind damit<br />
Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im<br />
RahmenderGesetzeineigenerVerantwortungzuregeln.<br />
Realisiert wurde das längst überfällige Klagerecht<br />
des AdR vor dem Europäischen Gerichtshof,<br />
wenn er der Ansicht ist, dass von der Kommission initiierte<br />
Rechtsvorschriften gegen das Subsidiaritätsprinzip<br />
verstoßen.<br />
4. Regionalisierungspolitik der EU: Im Mittelpunkt<br />
der europäischen Unionsdebatte steht die Forderung<br />
nach einer durchgängigen effektiven Regionalisierung<br />
der EU. Die Entschließung zur �Regionalpolitik<br />
der Gemeinschaft und zur Rolle der �Regionen<br />
vom 18. 11. 1988 (ABl. L 326/1988) sowie die Gemeinschaftscharta<br />
zur Regionalisierung (Regionalcharta)<br />
sind wesentliche Schritte auf dem Weg zu einem<br />
dem Prinzip der Subsidiarität verpflichteten <strong>Europa</strong><br />
der Regionen. Die Fortentwicklung der europäischen<br />
�Integration in Richtung einer Europäi-
schen Union auf der Basis von starken Regionen und<br />
Kommunen liegt im europäischen Interesse. Regionalismusdiskussionen<br />
und kommunale Selbstverwaltung<br />
stehen in einem inneren Zusammenhang.<br />
Den kommunalen Einheiten kommt eine wichtige<br />
Brückenfunktion im <strong>Europa</strong> der Regionen und Kommunen<br />
zu, da die Weiterentwicklung der Union nur<br />
Bestand haben kann, wenn sie in der Bevölkerung<br />
verankert ist. So auch das Fazit des Weißbuchs European<br />
�Governance (2001), nach dem regionale und<br />
lokale Erfahrungen und Bedingungen bei der Entwicklung<br />
politischer Vorschläge stärker berücksichtigt<br />
werden sollten. Die Kommission pflegt bereits<br />
den Dialog durch Anhörungen, Folgeabschätzungen<br />
und im Internet mittels der Datenbank �CONECCS.<br />
Die Absicherung und Stärkung der kommunalen und<br />
regionalen Selbstverwaltung in den EU-Staaten ist<br />
daher für die kommunalen und regionalen Gebietskörperschaften<br />
eine Grundvoraussetzung für den<br />
Aufbaueines�„<strong>Europa</strong>sderBürger“.Diekommunalen<br />
Spitzenverbände (�Rat der Gemeinden und Regionen<br />
<strong>Europa</strong>s, RGRE, und der Internationale Gemeindeverband)<br />
forderten die Überführung der<br />
Kommunalcharta des <strong>Europa</strong>rates in das primäre<br />
�Gemeinschaftsrecht der EU und die Absicherung<br />
ihrer Kernaussagen in einer zukünftigen europäischen<br />
Verfassung. Mit der Verankerung der kommunalen<br />
Selbstverwaltung in den VVE 2004 ist hier ein<br />
Einstieg gelungen.<br />
Anzumerken ist an dieser Stelle, dass in dem Beziehungsgefüge<br />
von Kommunen und EU-Organen die<br />
Aktivitäten der kommunalen Spitzenverbände von<br />
besonderem Gewicht sind. Ein wachsendes Geflecht<br />
von kommunalen Institutionen arbeitet deshalb auf<br />
EU-Ebene zusammen. In der Datenbank CONECCS<br />
haben sich rund 150 Büros (Stand 2004) in Brüssel<br />
und Straßburg registriert, um ihren Interessen direkt<br />
Gewicht und Stimme zu verleihen, mit Schwerpunkt<br />
auf Beschäftigung, Soziales, Umweltschutz und Unternehmen.<br />
Von großer Bedeutung ist mittelfristig der mit dem<br />
�Maastrichter Vertrag eingerichtete �Ausschuss der<br />
Regionen. Für Deutschland sind die Kommunen mit<br />
drei Vertretern in diesem Ausschuss (Art. 263 EGV)<br />
vertreten (insgesamt 24 deutsche Sitze). Damit ist<br />
erstmals auch die deutsche kommunale Selbstverwaltung<br />
in den institutionellen Rahmen der EU integriert.<br />
Der VVE 2004 definiert den AdR als beratende<br />
Einrichtung der Union (Art. I-31 VVE).<br />
Kommunalpolitik<br />
Dennoch haben – unter institutionellen Gesichtspunkten<br />
– die Regionen und Kommunen nach wie<br />
vor einen geringen Einfluss auf die europäischen<br />
Entscheidungsverfahren. Mit dem Beirat der kommunalen<br />
und regionalen Gebietskörperschaften bei<br />
derKommission(seit1987)verfügendielokalenund<br />
regionalen Gebietskörperschaften über ein schwach<br />
ausgeprägtes institutionelles Mitspracherecht. Der<br />
Beirat kann von der Kommission bei allen Fragen,<br />
die sich auf die regionale Entwicklung und insbes.<br />
auf die Erarbeitung und Durchsetzung der Regionalpolitik<br />
der Gemeinschaft beziehen, konsultiert werden.<br />
Die weitere Ausgestaltung des Subsidiaritätsprinzips<br />
wird letztlich darüber entscheiden, ob es als<br />
Korrektiv gegen Zentralismus wirken kann.<br />
5. Kommunalpolitische Dimensionen europäischer<br />
Politik<br />
a) Politikinhalte: Kommunalrelevante Themen sind<br />
in einer Vielzahl in die europäische Politik integriert.<br />
Exemplarisch seien angeführt der Umweltschutz<br />
(z. B. die Trinkwasserrichtlinie), die Richtlinie zur<br />
Umweltverträglichkeitsprüfung, die Richtlinien<br />
über gefährliche Abfälle und Hausmüll, der<br />
Verkehrs- und Infrastrukturbereich im Rahmen<br />
�Transeuropäischer Netze für Verkehrs-, Telekommunikations-<br />
und Energieinfrastruktur, die Subventionskontrollen<br />
im Bereich kommunaler Wirtschaftsförderung,<br />
Fragen des ländlichen Raumes infolge<br />
der europäischen Agrarpolitik/-reform, das<br />
Kommunalwahlrecht für EU-Bürger, der Fremdenverkehr<br />
und das Kurwesen, die Bauleitplanung und<br />
das Bauordnungsrecht, die Kreditwirtschaft, die<br />
Vergabe öffentlicher Aufträge, Haftungsfragen bei<br />
Dienstleistungen, das Energierecht und die Steuerharmonisierung.<br />
b) Die Kommunen sind Förderer und MultiplikatorendereuropäischenIdee.EinAnsatzfürdieHerausbildung<br />
einer europäischen �Identität liegt in dem<br />
Bemühen, <strong>Europa</strong> im besten Sinne des Subsidiaritätsprinzips<br />
in direktem Kontakt zu Bürgerinnen und<br />
Bürgern, also auf kommunaler Ebene erfahrbar zu<br />
machen. Die Kommunalverwaltungen wären somit<br />
Schnittstellen zwischen den EU-Bürgern und den<br />
EU-Institutionen, so dass sich der europäische Einigungsprozess<br />
nicht abstrakt, wenig transparent und<br />
anonym, sondern – vor Ort – konkret und personifiziert<br />
darstellt. Instrumente sind z. B. <strong>Europa</strong>beauftragte<br />
oder ein <strong>Europa</strong>büro.<br />
c) Bezüglich der europäischen Interessenvertretung<br />
477
Kommunalpolitik<br />
der Kommunen wirkt im außerinstitutionellen Bereich<br />
der EU insbes. der Rat der Gemeinden und Regionen<br />
<strong>Europa</strong>s. Der Rat (1951 gegründet) umfasst<br />
24 Mitgliedssektionen und ist aufgrund einer Integrationsvereinbarung<br />
gleichzeitig die europäische<br />
Sektion des Internationalen Gemeindeverbandes.<br />
HistorischeVerdienstehatderRatimBereichdereuropäischen<br />
Partnerschaftsbewegung. Initiativen des<br />
Rates führten auf <strong>Europa</strong>rats- und EU-Ebene zu Gremien,<br />
die eine institutionelle Mitsprache der kommunalen<br />
und regionalen Gebietskörperschaften ermöglichen.<br />
Im institutionellen Bereich der EU wirkt neben dem<br />
Beirat der kommunalen und regionalen Gebietskörperschaften<br />
bei der Kommission eine interfraktionelle<br />
Gruppe gewählter Vertreter der Kommunen<br />
und Regionen des EP. Auf Initiative des Rates der<br />
Gemeinden und Regionen <strong>Europa</strong>s wurde diese interfraktionelle<br />
Gruppe unmittelbar nach der EP-<br />
Wahl 1979 einberufen. Sie setzt sich aus Mitgliedern<br />
des EP zusammen, die gleichzeitig ein Wahlmandat<br />
auf kommunaler oder regionaler Ebene besitzen. Arbeitsschwerpunkte<br />
sind u. a. die Probleme großstädtischer<br />
Ballungsgebiete, die Planung von Verkehrssystemen,<br />
die Stadterneuerung, die Beschäftigungspolitik<br />
und Reformen im Bereich der EU-�Strukturpolitik.<br />
d) Mit ihren Förderprogrammen unterstützt die<br />
Kommission zahlreiche Projekte kommunaler Gebietskörperschaften<br />
sowie ihre Netzwerkbildung.<br />
Vor allem die Gemeinschaftsprogramme für die<br />
grenzüberschreitende Zusammenarbeit (�INTER-<br />
REG II), den ländlichen Raum (�LEADER II), städtischeProbleme(�URBAN)undPartnerschaftenmit<br />
mittel- und osteuropäischen Kommunen (früher:<br />
PHARE)bietenvielHandlungsspielraum.ZweiBeispiele:<br />
Die Kommission fördert seit 2003 mit<br />
URBACT (Netzwerk für europaweiten Erfahrungsaustausch)<br />
im Rahmen von URBAN II exemplarisch<br />
ProjektezurintegriertenStadtentwicklung.Gearbeitet<br />
wird an innovativen Finanzierungsinstrumenten<br />
der lokalen Wirtschaftsförderung im Rahmen des<br />
Netzwerkprojektes ECO-FIN-NET. Nicht nur rechtliche,<br />
sondern auch negative KonjunkturentwicklungenundfinanzielleGrenzendurchkreuzenhäufig<br />
kommunale Wirtschaftsstrategien. ECO-FIN-NET<br />
prüft,wieIhnenerfolgreichentgegenzuwirkenist.<br />
6. Konfliktfeld Daseinsvorsorge: Städte und Gemeinden<br />
sind Dienstleister im Interesse des Gemein-<br />
478<br />
wohls. In Fachressorts wie Soziales, Allgemeinbildung,<br />
Gesundheit, Kultur, Umweltschutz, Veterinärwesen,<br />
Verkehr, Energie und Telekommunikation<br />
decken sie nicht nur Grundbedürfnisse der Zivilgesellschaft<br />
ab. Sie tragen zugleich in erheblichem<br />
MaßezurWettbewerbsfähigkeitbei(Art.16EGV).<br />
Die Diskussion über den Rahmen und die Grenzen<br />
für die kommunale Wirtschaft im Binnenmarkt führt<br />
zuderFrage,welchederDienstleistungenvonAllgemeinemInteressedenRegelndesBinnenmarktesunterworfen<br />
sein sollen. Konsens besteht vor allem<br />
beim Prinzip „Gemeinwohl vor Marktliberalisierung“,<br />
so das Fazit im Weißbuch 2004. Kannbereiche<br />
für Liberalisierung sind ausschließlich Felder<br />
wie Wasserversorgung, Abfallentsorgung, Energieversorgung,<br />
Mobilität oder Postdienste. Generell<br />
steht der Gesetzgeber mit der Liberalisierung der<br />
Märkte vor der schwierigen Aufgabe, ChancengleichheitzwischenprivatenundöffentlichenUnternehmen<br />
herzustellen. Deshalb gewinnt die allgemeine<br />
Wettbewerbspolitik der Union mit Beihilfekontrolle,<br />
Vergaberecht und Transparenzvorschriften<br />
zunehmende Bedeutung für die kommunalen Unternehmen.<br />
Der VVE 2004 (Art. III-122) ordnet der<br />
UnionundihrenMitgliedstaatenimRahmenihrerjeweiligen<br />
Zuständigkeiten die Kompetenz zu, Grundsätze<br />
und Bedingungen so zu gestalten, dass die<br />
Dienstleistungenvonallgemeinemwirtschaftlichem<br />
Interesse erfüllt werden können.<br />
Die Dienste der Daseinsvorsorge werden nicht von<br />
der umstrittenen Richtlinie über Dienstleistungen im<br />
Binnenmarkt erfasst. Die Richtlinie über Dienstleistungen<br />
im Binnenmarkt (sog. Bolkestein-Richtlinie)<br />
zielt darauf ab, einen Binnenmarkt für Dienstleistungen<br />
zu schaffen. Die neue Maßnahme würde<br />
EU-Mitgliedstaaten dazu verpflichten, den Verwaltungsaufwand<br />
zu verringern, der Unternehmen davon<br />
abhält, ihre Dienste über die Grenzen der einzelnen<br />
Mitgliedstaaten hinaus anzubieten. Mit der<br />
DienstleistungsrichtliniewürdeaufDienstleisterdas<br />
„Herkunftslandprinzip“ angewandt, nach dem der<br />
Dienstleistungserbringer nicht den Rechtsvorschriften<br />
des Landes unterliegt, in dem die Dienstleistung<br />
erbracht wird, sondern des Landes, in dem er niedergelassen<br />
ist. Von der neuen Richtlinie wären eine<br />
Vielzahl von Dienstleistungen betroffen, die von<br />
Reisebüros bis zu Gesundheitsdienstleistungen reichen.<br />
Dienste, die bereits von spezifischen EU-<br />
Maßnahmen geregelt werden – z. B. Finanzdienst-
leistungen, Telekommunikation und Verkehr – sind<br />
vonderRichtlinieausgenommen. L. U.<br />
Anschrift: Rat der Gemeinden und Regionen <strong>Europa</strong>s,<br />
Deutsche Sektion, Lindenallee 13–17, 50968 Köln<br />
Literatur:<br />
Deutscher Städtetag (Hg.): 2. Jahresbericht des <strong>Europa</strong>büros<br />
des Deutschen Städtetages 2003/2004. Köln/Berlin 2004<br />
Götsche, U.: <strong>Europa</strong>–Region–Kommune. Baden-Baden 2004<br />
Knemeyer, F.-L. (Hg.): Die Europäische Charta der kommunalen<br />
Selbstverwaltung. Entstehung und Bedeutung –<br />
Länderberichte und Analysen. Baden-Baden 1990<br />
Schultze, Cl. J.: Die deutschen Kommunen in der<br />
Europäischen Union. Baden-Baden 1997<br />
Schwarze, J. (Hg.): Das Verwaltungsrecht unter europäischem<br />
Einfluss. Baden-Baden 1996<br />
Kommission – Vertretung der EU-Kommission in der Bundesrepublik<br />
Deutschland (Hg.): EU-Kommunal. Handbuch zu<br />
europäischen Themen für Kommunalpolitiker und lokale<br />
Medien. Bonn 1995 3<br />
Kommission (Hg.): Grünbuch zu Dienstleistungen von<br />
allgemeinem Interesse. KOM(2003)270. Brüssel 2003<br />
Dies. (Hg.): Weißbuch Europäisches Regieren.<br />
KOM(2001) 428. Brüssel 2001<br />
Dies. (Hg.): Weißbuch zu Dienstleistungen von allgemeinem<br />
Interesse. KOM(2004)374. Brüssel 2004<br />
Kommunalwahlrecht für Unionsbürger. Der<br />
�Maastrichter Vertrag von 1992 hat in die Gründungsverträge<br />
der Gemeinschaft Bestimmungen<br />
zum Kommunalwahlrecht in Mitgliedstaaten eingefügt<br />
(Art 19 Abs. 1 EGV, Art. 40 der �Grundrechtecharta,<br />
entsprechend Art. I-10 und Art. II-100 VVE<br />
2004). Danach besitzen Unionsbürgerinnen und<br />
Unionsbürger (�Unionsbürgerschaft) unabhängig<br />
vonihrerStaatsangehörigkeitanihremWohnsitzdas<br />
aktiveundpassiveWahlrechtbeiKommunalwahlen.<br />
Einzelheiten (auch Ausnahmen) legte der Rat am 19.<br />
12. 1994 in einer Richtlinie fest (94/80, ABl. L<br />
368/1994), die in Deutschland und den Bundesländern<br />
bis Ende 1995 in nationales Recht umgesetzt<br />
wurde. In Deutschland regeln die Bundesländer die<br />
Einzelheiten des Kommunalwahlrechts. Weitere<br />
Einzelheiten enthält die Richtlinie 96/30 (ABl. L<br />
122/1996).<br />
Um in Deutschland die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen<br />
zu schaffen, wurde Art. 28 GG um folgenden<br />
Satz ergänzt: „Bei Wahlen in Kreisen und<br />
Gemeinden sind auch Personen, die die Staatsangehörigkeit<br />
eines Mitgliedstaates der Europäischen<br />
Gemeinschaft besitzen, ... wahlberechtigt und wählbar.“<br />
Die Teilnahme von EU-Bürgern ist auf die<br />
Wahl begrenzt und gestattet nicht eine Beteiligung<br />
an kommunalen Abstimmungen wie Bürgerbegeh-<br />
Konferenz der <strong>Europa</strong>-Ausschüsse<br />
ren und -entscheiden. Dies kann durch Gesetz geändert<br />
werden. Die EU-Richtlinie vom 19. 12. 1994<br />
stellt frei, ob EU-Ausländer von Amts wegen oder<br />
nur auf deren Antrag ins Wählerverzeichnis aufzunehmen<br />
sind. Exekutivämter (Bürgermeister, Landrat<br />
und deren Stellvertreter) können wegen des den<br />
Deutschen vorbehaltenen Beamtenstatus den eigenen<br />
Staatsangehörigen vorbehalten bleiben (z. B. in<br />
Bayern und Sachsen). Seit 1993 haben Bund und<br />
Länder ihre Beamtengesetze geändert, so dass auch<br />
EU-Bürger/-innen berufen werden können, aber wegen<br />
hoheitlicher Aufgaben nicht als Bürgermeister,<br />
Landräte oder Beigeordnete, solange für diese das<br />
Beamtenverhältnis gesetzlich vorgeschrieben ist.<br />
EU-Ausländer könnten in einem anderen Dienstverhältnis<br />
(als Angestellter) durchaus in kommunale<br />
Spitzenämter gewählt werden.<br />
Ein EU-Ausländer, dem das passive Wahlrecht in<br />
seinem Herkunftsland aberkannt wurde, verliert<br />
auch die Wählbarkeit in den deutschen Bundesländern<br />
(Ausnahme: Hessen). In vielen Bundesländern<br />
müssen EU-Bürger, die bei Kommunalwahlen kandidieren<br />
möchten, eine förmliche Erklärung abgeben,<br />
dass ihnen im Heimatland das passive Wahlrechtnichtaberkanntwordenist.<br />
W. M.<br />
Kompetenz-Kompetenz bezeichnet im Staatsrecht<br />
die Befugnis des Staates, seine eigene Zuständigkeit<br />
durch Änderung der Verfassung zu erweitern<br />
(u. U. zu Lasten untergeordneter Glieder). In der EU<br />
haben grundsätzlich nur die Mitgliedstaaten die Befugnis,<br />
die Kompetenzen der Union zu verändern.<br />
Die EU verfügt also nicht über eine Kompetenz-<br />
Kompetenz. Allerdings gibt es ansatzweise Durchbrechungen<br />
(vgl. Art. 95 und 308 EGV, �Generalermächtigung).<br />
Kompromiss von Ioannina �Ioannina, Kompromiss<br />
von<br />
Konferenz der <strong>Europa</strong>-Ausschüsse der Parlamente<br />
der Mitgliedstaaten der EU und des EuropäischenParlaments(COSAC,ConférencedesOrganes<br />
Spécialisés dans les Affaires communautaires et Européenne<br />
des Parlements de l’Union Européenne).<br />
Gremium aus Vertretern der für <strong>Europa</strong>fragen zuständigen<br />
Ausschüsse der nationalen Parlamente<br />
und Mitgliedern des Europäischen Parlaments.<br />
Ausführlich�COSAC<br />
479
Konferenz der Parlamente<br />
Konferenz der Parlamente �Assises<br />
Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) �Ökumenische<br />
Begegnungen in <strong>Europa</strong><br />
Konföderation der Rektorenkonferenzen der<br />
EU �Europäische Rektorenkonferenz<br />
Konkurrierende Zuständigkeit. In föderal organisierten<br />
Staaten teilt die Verfassung die legislativen<br />
und exekutiven Kompetenzen für alle Bereiche der<br />
Politik den einzelnen staatlichen Ebenen zu. Soweit<br />
dabei nicht ausschließliche Zuständigkeit festgelegt<br />
ist, gilt konkurrierende Zuständigkeit (Kompetenz).<br />
In diesen Fällen soll das Prinzip der �Subsidiarität<br />
über die Zuständigkeit entscheiden.<br />
Die EU hat, entsprechend dem �Prinzip der begrenzten<br />
Einzelermächtigung, ausschließliche Kompetenz<br />
nur in einigen Politikbereichen (z. B. �Zollunion,<br />
�Außenhandelspolitik). In allen Bereichen,<br />
dienichtinihreausschließlicheZuständigkeitfallen,<br />
muss die Union nach Art. 5 EGV das �Subsidiaritätsprinzip<br />
strikt beachten. Der �Verfassungsvertrag<br />
2004 nennt als Bereiche konkurrierender (geteilter)<br />
Zuständigkeit u. a.: Binnenmarkt, Landwirtschaft<br />
und Fischerei, Umwelt, Verbraucherschutz, Verkehr,<br />
Energie (vgl. Art. I-14 VVE).<br />
Konsolidierung der Rechtsvorschriften in der<br />
EU ist eine inoffizielle Zusammenfassung eines<br />
Rechtsakts und seiner Änderungen. Der konsolidierte<br />
Text dient lediglich der besseren Lesbarkeit, hat<br />
aber keine Rechtswirkung. Er kann im Amtsblatt<br />
(Reihe C) veröffentlicht werden. �Kodifikation von<br />
Rechtsvorschriften<br />
Konstruktive Enthaltung(positiveEnthaltung)ist<br />
bei einstimmigen Beschlüssen des Rats im Rahmen<br />
der �GASP möglich (Art. 23 EUV). Die Stimmenthaltung<br />
verhindert den Beschluss nicht. Die stimmenthaltende<br />
Regierung kann eine förmliche Erklärung<br />
abgeben und akzeptiert damit, dass der Beschluss<br />
für die EU bindend ist. Sie muss den Beschluss<br />
nicht durchführen, muss jedoch alles unterlassen,<br />
was die Durchführung des Beschlusses durch<br />
die Union behindern oder dem Beschluss zuwiderlaufen<br />
könnte.<br />
WenndiestimmenthaltendenRatsmitgliederzusammen<br />
über mehr als ein Drittel der Stimmen verfügen,<br />
480<br />
die zur qualifizierten Mehrheit gehören, kommt der<br />
Beschluss nicht zustande.<br />
Konsultation �GASP, �ESVP<br />
Konsultationsverfahren �Gesetzgebungsverfahren<br />
Kontrolle der Anwendung des Gemeinschaftsrechts<br />
(Art. 226 EGV) �Vertragsverletzungsverfahren<br />
Konvent / Konventsverfahren. Änderungen der<br />
europäischen Verträge wurden seit Bestehen der Europäischen<br />
Gemeinschaften stets durch Regierungskonferenzen<br />
„hinter verschlossenen Türen“ vorbereitet.<br />
Die Unterzeichnung erfolgte jeweils durch die<br />
Staats- und Regierungschefs auf einem Europäischen<br />
Rat (so in Maastricht, Amsterdam, Nizza).<br />
Erstmals wurde auf Vorschlag der deutschen Regierung<br />
auf dem Europäischen Rat in Köln im Juni 1999<br />
einanderesVerfahrengewählt,zurErarbeitungeiner<br />
�Grundrechtecharta. Es wurde ein Konvent (von lateinisch<br />
convenire = zusammenkommen) einberufen.<br />
Dieser tagte unter dem Vorsitz des früheren<br />
deutschen Bundespräsidenten Roman Herzog und<br />
entwickelte den Entwurf einer Grundrechtecharta.<br />
DieChartawurdezunächstnurfeierlichproklamiert,<br />
ohne Bindungswirkung zu erlangen.<br />
Konvent zur Zukunft <strong>Europa</strong>s. Nachdem das KonventsverfahrensichbeiderGrundrechtechartaalserfolgreich<br />
erwiesen hatte, entschied sich der Europäische<br />
Rat von Laeken am 14./15. 12. 2001, einen „Europäischen<br />
Konvent zur Zukunft <strong>Europa</strong>s“ einzuberufenmitderAufgabe,ÄnderungenderVerträge,auf<br />
denen die Union beruht, vorzubereiten.<br />
Zum Vorsitzenden wurde der frühere französische<br />
Präsident Valéry �Giscard d’Estaing ernannt. Der<br />
Konvent hatte 105 Mitglieder. Neben dem Vorsitzenden<br />
und zwei Vizepräsidenten gehörten ihm je<br />
ein Vertreter der nationalen Regierungen und je zwei<br />
Mitglieder jedes mitgliedstaatlichen Parlaments sowie<br />
16 Vertreter des Europäischen Parlaments und<br />
zwei Vertreter der Kommission an. Die Beitrittsländer<br />
waren in gleicher Weise beteiligt. Für DeutschlandwarenimKonvent:zunächstProfessorDr.Peter<br />
Glotz als Vertreter der Bundesregierung, später Außenminister<br />
Joschka Fischer, Ministerpräsident Erwin<br />
Teufel (Baden-Württemberg) für den Bundes-
at, Professor Dr. Jürgen Meyer für den Bundestag.<br />
Der Konvent tagte vom 28. 2. 2002 bis zum 10. 7.<br />
2003. Er beendete seine Arbeit mit dem Entwurf eines<br />
„Vertrages über eine Verfassung für <strong>Europa</strong>“<br />
(�Verfassungsvertrag2004).DarinhatderKonvent<br />
– eine bessere Aufteilung der Zuständigkeiten der<br />
Union und der Mitgliedstaaten vorgeschlagen;<br />
– empfohlen, die bisherigen vier Vertragswerke von<br />
Union und Gemeinschaften zusammenzufassen und<br />
dieneueEUmitRechtspersönlichkeitauszustatten;<br />
– vorgeschlagen, die Grundrechtecharta in das neue<br />
Vertragswerk aufzunehmen;<br />
– verschiedene Handlungsinstrumente der EU ausgearbeitet;<br />
– Maßnahmen für mehr Demokratie, Transparenz<br />
und Effizienz in der EU vorgeschlagen;<br />
– Maßnahmen ausgearbeitet, die zur Verbesserung<br />
der Struktur und zur Stärkung der Rolle aller drei Organe<br />
der Union erforderlich sind.<br />
Das in Art. 48 EUV festgelegte Verfahren zur Änderung<br />
der Verträge sieht die Einberufung einer Konferenz<br />
von Vertretern der Regierungen vor, um die vorzunehmenden<br />
Änderungen zu vereinbaren. Der Entwurf<br />
des Konvents bildete die Basis für die Arbeit<br />
dieser sich anschließenden Regierungskonferenz.<br />
Sie hat die Ergebnisse des Konvents überwiegend<br />
übernommen. Die Verfassung wurde am 29. 10.<br />
2004 feierlich in Rom von den Staats- und Regierungschefs<br />
unterzeichnet. Sie muss in allen Mitgliedstaaten<br />
ratifiziert werden. In mehreren Staaten<br />
wird dazu ein Referendum durchgeführt. In Frankreich<br />
und den Niederlanden sind die Referenden gescheitert<br />
(�Ratifizierung des Verfassungsvertrags).<br />
In Deutschland wurde das Zustimmungsgesetz von<br />
Bundestag und Bundesrat im Mai 2005 beschlossen.<br />
�Verfassungsvertrag H. D.-K.<br />
Konvent zur Zukunft <strong>Europa</strong>s �Konvent / Konventsverfahren<br />
Konvergenz<br />
1. Allgemeines: Der Begriff der wirtschaftlichen<br />
Konvergenz beschreibt die gegenseitige Angleichung<br />
(Annäherung und Übereinstimmung) zwischen<br />
konkreten, unterschiedlich ausgeprägten wirtschaftlichen<br />
Gesamtsystemen und ihrer Lage, Entwicklung<br />
und Ziele.<br />
In der Union beschreibt der Begriff eine Angleichung<br />
der Wirtschafts-, Haushalts- und Währungs-<br />
Konvergenz<br />
politik der Mitgliedstaaten, die auch zu einer Annäherung<br />
wichtiger volkswirtschaftlicher Indikatoren<br />
(Zinsen, Wachstum, Inflation, Stabilität von Wechselkurs<br />
und Zahlungsbilanz) führt. Ein breit angelegtes<br />
Konvergenzprojekt war das �Europäische Währungssystem<br />
(1979), dessen stabilitätsorientierte Politik<br />
zu einer Konvergenz der Inflationsraten, Zinsen<br />
und Wechselkursabweichungen beitrug. Eine gesamtwirtschaftliche<br />
Konvergenz unter den Teilnahmeländern<br />
entstand daraus jedoch nicht. Einige Kriterien<br />
für die Teilnahme an der �Wirtschafts- und<br />
Währungsunion (WWU) beruhen ebenfalls auf der<br />
Konvergenz: Inflationsvorgabe, Wechselkursstabilität<br />
und Langfrist-Zinssätze orientieren sich an der<br />
Entwicklung der Mitgliedstaaten.<br />
In der Entscheidung des Rates vom 18. 2. 1974 zur<br />
Erreichung eines hohen Grades an Konvergenz der<br />
Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten wurden eine<br />
Reihe von Gemeinschaftsprozeduren festgelegt,<br />
durch die eine Abstimmung der �Wirtschafts- und<br />
�Währungspolitik zwischen den Mitgliedstaaten<br />
verstärkt wurde. Eingeführt wurde vor allem ein<br />
straffer jährlicher Konsultationskalender, nach dessen<br />
Rhythmus der Rat im Jahresverlauf einen Jahresbericht<br />
über die wirtschaftliche Lage in der EU verabschiedet<br />
und seine wirtschaftspolitischen Leitlinien<br />
fortschreibt.<br />
Für die Realisierung der WWU waren und sind Konvergenzfragen<br />
entscheidend. Die Konvergenz der<br />
EU-Staaten ist die Voraussetzung für den Eintritt eines<br />
Staates in die WWU und für deren Erfolg. Die<br />
erste Stufe der WWU (ab 1. 7. 1990) war durch ihr<br />
Ziel gekennzeichnet, die Wirtschaftspolitiken der<br />
EU-Staaten in einen größeren Gleichklang zu bringen<br />
(Konvergenz). Jeder EU-Staat verpflichtete<br />
sich, mittelfristige Konvergenzprogramme vorzulegen,indenendiewirtschaftspolitischenMaßnahmen<br />
skizziert wurden, durch die die Bedingungen für die<br />
uneingeschränkte Teilnahme an der 3. Stufe der<br />
�Währungsunion (WU) erfüllt werden sollten, da für<br />
den Eintritt in die 3. Stufe der WWU die im<br />
EG-Vertrag festgelegten �Konvergenzkriterien verbindlich<br />
sind.<br />
2.ElementederEU-Konvergenzpolitik:DieKonvergenz<br />
in der Geld- und Haushaltspolitik erfolgt in<br />
Form von Prüfsteinen zur Stabilitätssicherung<br />
(�Konvergenzkriterien). Die wirtschaftliche EntwicklungjedesMitgliedstaateswirdregelmäßighinsichtlich<br />
der wirtschaftlichen Konvergenz über-<br />
481
Konvergenz<br />
wacht sowie auf die Vereinbarkeit mit den Grundzügen<br />
überprüft. Wird im Rahmen dieses multilateralen<br />
Überwachungsverfahrens festgestellt, dass die<br />
WirtschaftspolitikeinesEU-StaatsvondeninArt.98<br />
und Art. 99 Abs. 2 EGV normierten Grundzügen abweicht<br />
oder das Funktionieren der WWU zu gefährdendroht,dannkanndieEUandenbetreffendenMitgliedstaat<br />
eine Empfehlung richten. Diese Empfehlungkannveröffentlichtwerden.Überwachungsverfahren<br />
und Empfehlungsrecht sollen eine mit den<br />
Zielen der WWU zu vereinbarende Wirtschafts- und<br />
Finanzpolitik der EU-Staaten gewährleisten. Der<br />
EG-Vertrag verpflichtet jeden Staat, übermäßige<br />
Haushaltsdefizite zu vermeiden und verankert zentrale<br />
Grundsätze stabilitätsorientierter Haushaltspolitik.<br />
Dazu gehören insbes. das Verbot der KreditgewährunganöffentlicheStellendurchdieZentralbanken<br />
sowie die Eigenverantwortlichkeit jedes Mitgliedstaates<br />
für seine Staatsschulden. Der EG-<br />
VertragenthältdarüberhinausKriterienzurFeststellungübermäßigerHaushaltsdefizite(Art.104)sowie<br />
in dem „Protokoll über das Verfahren bei einem<br />
übermäßigen Defizit“ präzise Referenzwerte für diese<br />
Kriterien. Stellt die EU ein übermäßiges Defizit<br />
fest, kann sie ein Verfahren in Gang setzen, das auf<br />
seinen Abbau hinzielt und auch die Möglichkeit finanzieller<br />
Sanktionen einschließt.<br />
Mit den �Strukturpolitiken verfügt die EU über Instrumente,<br />
die den Konvergenzprozess nachhaltig<br />
positiv beeinflussen. Der wirtschaftliche und soziale<br />
Zusammenhalt (�Kohäsion) ist grundlegend, weil<br />
nur Volkswirtschaften gleicher Entwicklungsstufen<br />
dauerhaft in einer einheitlichen Währungszone zusammengehalten<br />
werden können. Struktur- und Kohäsionsfonds<br />
(�Fonds der EU) leisten Transferzahlungen<br />
in die weniger wohlhabenden EU-Staaten<br />
und �Regionen. Die mit der Kohäsionspolitik verbundenen<br />
Transferzahlungen müssen von den Empfängerländernfürvolkswirtschaftlichsinnvolle,d.h.<br />
wachstumsfördernde Investitionen verwendet werden,umdiegesamtwirtschaftlicheDynamikzuerhöhen.<br />
Voraussetzung ist, dass diese Länder Programme<br />
zur Anpassung ihrer Wirtschaft (Konvergenzprogramme)<br />
durchführen.<br />
Gemäß �Stabilitäts- und Wachstumspakt verpflichten<br />
sich die noch nicht der Euro-Gruppe angehörenden<br />
Mitgliedstaaten zur Erarbeitung jährlicher Konvergenzprogramme.<br />
Die Mitgliedstaaten der Euro-<br />
Gruppe legen jährlich ein Stabilitätsprogramm vor.<br />
482<br />
BeideProgrammtypengebenAuskunftdarüber,mithilfe<br />
welcher Maßnahmen die Erreichung bzw. die<br />
weitere Einhaltung des Defizitkriteriums ermöglicht<br />
werden soll. Außerdem müssen Konvergenz- und<br />
Stabilitätsprogramme die Hauptannahme über die<br />
voraussichtliche wirtschaftliche Entwicklung erläutern<br />
und darlegen, welche Probleme sich bei Abweichungen<br />
von diesen Annahmen ergeben. Der Rat<br />
überwacht laufend die Umsetzung der Programme.<br />
Die Überwachung spielt eine wichtige Rolle als<br />
Frühwarnsystem im Rahmen des Stabilitäts- und<br />
Wachstumspakts.<br />
3. Fazit: Die WWU ist Endpunkt eines nachhaltigen<br />
Prozesses der Konvergenz. Der mit dem Start der<br />
WWU erreichte hohe Grad an Konvergenz zwischen<br />
den Wirtschaften der Euro-Länder bildet das Fundament<br />
für stabile wirtschaftliche Rahmenbedingungen<br />
in der EU.<br />
Die Situation der 11 Euro-Länder zum Start der<br />
WWU (1999) war bemerkenswert und ist ein Beweis<br />
dafür, dass sich die Konvergenz ihrer Wirtschaften<br />
deutlich verstärkt hat. Am 1. 1. 2002 wurde letztlich<br />
das Ziel erreicht: Die Einführung der Euro-Banknoten<br />
und -Münzen als letzter Schritt eines Konvergenzprozesses<br />
innerhalb eines multilateralen Rahmens<br />
von 12 Staaten der Euro-Gruppe.<br />
Im Rahmen ihrer Berichts- und Informationspflicht<br />
geben die Monatsberichte der EZB der Öffentlichkeit<br />
Auskunft über die Entwicklung der Fundamentaldaten:<br />
Leitzins-Sätze (2005 z. B. mit 2 % für die<br />
Hauptrefinanzierungsgeschäfte) auf einem historisch<br />
niedrigen Niveau, Wachstum des BIP im Euro-Währungsgebiet<br />
(2005 mit 2 %), Inflationsrate<br />
(2005 durchschnittlich stabil unter 2 %), öffentliche<br />
Finanzen (2005 anhaltender Konsolidierungsbedarf<br />
nationaler Haushalte bei einigen Euro-Ländern) und<br />
strukturelle Entwicklungen (z. B. Produktivitätswachstum,Arbeitsmarktreformen,außenwirtschaftliches<br />
Umfeld).<br />
Kommission und Europäische Zentralbank berichten<br />
alle zwei Jahre und auf Antrag eines Mitgliedstaats,<br />
der nicht der Euro-Gruppe angehört, darüber<br />
inwieweit die Mitgliedstaaten, die nicht der Euro-Gruppe<br />
angehören, bei der Verwirklichung der<br />
WWU ihren Verpflichtungen nachgekommen sind<br />
(Konvergenzbericht). Als Konvergenz-Parameter<br />
regelt der �Verfassungsvertrag 2004: Vereinbarkeit<br />
der innerstaatlichen Rechtsvorschriften einschl. der<br />
Satzung der jeweiligen nationalen Zentralbank mit
den Vertragsvorgaben (Art. III-189 VVE) sowie der<br />
Satzung des �Europäischen Systems der Zentralbanken<br />
(ESZB) und der Europäischen Zentralbank; die<br />
nachhaltige Erfüllung der vier Konvergenzkriterien;<br />
die Ergebnisse bei der Integration der Märkte; den<br />
Stand und die Entwicklung der Leistungsbilanzen;<br />
die Entwicklung bei den Lohnstückkosten und anderePreisindizes.<br />
L. U.<br />
Literatur:<br />
Collignon, St.: Geldwertstabilität für <strong>Europa</strong>. Gütersloh 1996<br />
Deutsche Bundesbank (Hg.): Europäische Organisationen und<br />
Gremien im Bereich von Währung und Wirtschaft. Frankfurt/M.<br />
1997<br />
Europäische Kommission (Hg.): Euro 1999. Bericht über den<br />
Konvergenzstand. In: EU-Nachrichten Nr. 3 v. 25 .3. 1998<br />
Tietmeyer, H.: Die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion.<br />
Stuttgart 1992<br />
Konvergenzkriterien sind die wirtschaftlichen<br />
Voraussetzungen für den Eintritt in die Währungsunion<br />
(WU), die in Art. 121 EGV und im „Protokoll<br />
über die Konvergenzkriterien nach Art. 121 des Vertrages<br />
zur Gründung der EG“ festgelegt wurden. Der<br />
Verfassungsvertrag weist sie in Art. III-92 aus. Damit<br />
wird geprüft, ob ein hoher Grad an dauerhafter<br />
�Konvergenz erreicht ist. Maßstab hierfür ist, ob jeder<br />
Mitgliedstaat, der noch nicht der Euro-Gruppe<br />
angehört, folgende Kriterien erfüllt:<br />
1. Preisstabilität: Erreichung eines hohen Grades an<br />
Preisstabilität, ersichtlich aus einer Inflationsrate,<br />
die der Inflationsrate jener – höchstens drei – Mitgliedstaaten<br />
nahe kommt, die auf dem Gebiet der<br />
Preisstabilität das beste Ergebnis erzielt haben. Konkret:<br />
Vom Durchschnitt der drei preisstabilsten Länder<br />
darf höchstens 1,5 % abgewichen werden. Beispiel:<br />
In der Gründungsphase der Euro-Gruppe hattenimJahr1997Österreichmit1,1%,Frankreichmit<br />
1,2 % und Irland mit 1,2 % die geringsten Inflationsraten.<br />
Der Durchschnittswert betrug 1,16%, der Referenzwert<br />
aufgerundet 2,7 %.<br />
2. Öffentliche Finanzen: Eine auf Dauer tragbare Finanzlage<br />
der öffentlichen Hand, ersichtlich aus einer<br />
öffentlichen Haushaltslage ohne übermäßiges Defizit.<br />
Konkret: Das jährliche Haushaltsdefizit darf 3 %<br />
des BIP nicht überschreiten und die Gesamtschulden<br />
der öffentlichen Hand dürfen nicht mehr als 60 % des<br />
BIP ausmachen. Zu den öffentlichen Finanzen gehören<br />
die Haushalte des Zentralstaates, der regionalen<br />
und kommunalen Gebietskörperschaften sowie der<br />
Sozialversicherungseinrichtungen. Das 3 %-Kriterium<br />
ist ein Richtwert, d. h. ein Überschreiten wird to-<br />
Kooperationsabkommen<br />
leriert, wenn der Wert erheblich und laufend zurückgeht<br />
und die Nähe von 3 % erreicht oder er nur ausnahmsweise<br />
und vorübergehend überschritten wird<br />
und in der Nähe von 3 % bleibt. Gleiches gilt für das<br />
60 %-Kriterium, wo ebenfalls ein Überschreiten toleriert<br />
wird, wenn der Wert rückläufig ist.<br />
3. Wechselkurse: Einhaltung der normalen Bandbreiten<br />
des �Wechselkursmechanismus seit mindestens<br />
zwei Jahren ohne Abwertung gegenüber dem<br />
Euro.<br />
4. Zinsen: Dauerhaftigkeit der erreichten Konvergenz<br />
und Teilnahme am Wechselkursmechanismus,<br />
die im Niveau der langfristigen Zinssätze zum Ausdruck<br />
kommt. Konkret: Der durchschnittliche langfristige<br />
Nominalzinssatz darf nicht mehr als 2 Prozentpunkte<br />
über dem entsprechenden Satz in jenen<br />
drei EU-Staaten liegen, die auf dem Gebiet der Preisstabilität<br />
das beste Ergebnis erzielen. Beispiel: In der<br />
Gründungsphase der Euro-Gruppe hatten im Jahr<br />
1997 die drei preisstabilsten Länder folgende Zinssätze<br />
Österreich 5,6 %, Frankreich 5,5 % und Irland<br />
6,2 %. Der Durchschnittswert betrug damit 5,76 %,<br />
der Referenzwert aufgerundet 7,8 % für das Zinskriterium.<br />
L. U.<br />
Literatur:<br />
Europäische Kommission (Hg.): Wirtschaftliche Konvergenz<br />
in der Gemeinschaft. In: Jahreswirtschaftsbericht der EU 1993<br />
Nötig, W.: Unser Geld. Der Kampf um die Stabilität der<br />
Währungen in <strong>Europa</strong>. Berlin/Frankfurt/M. 1993<br />
Vedder,C. (Hg.): EU-Verfassung. Baden-Baden 2005<br />
Konvergenzprogramm �Stabilitäts- und Wachstumspakt<br />
Ziff. 2 b)<br />
Konzentrische Kreise �Integrationsmodelle<br />
Kooperation (Zusammenarbeit)<br />
– im zwischenstaatlichen Bereich: �intergouvernementale<br />
Zusammenarbeit;<br />
– zwischen den EU-Organen: �Gesetzgebungsverfahren(KooperationsverfahrennachArt.252EGV);<br />
– mit Drittstaaten: Kooperationsabkommen (�Völkerrechtliche<br />
Verträge).<br />
Kooperationsabkommen. Die EG hat mit einer<br />
Reihe von Drittstaaten bilaterale und mit regionalen<br />
Zusammenschlüssen mulilaterale Kooperationsabkommen<br />
geschlossen. Rechtsgrundlage dafür ist nebenArt.133EGVinsbes.Art.300EGV.DieAbkommen<br />
enthalten in unterschiedlichem Maße neben<br />
483
Kooperationsverhältnis BVerfG – EuGH<br />
handelspolitischen Vereinbarungen auch Zusagen<br />
überZusammenarbeitinanderenBereichen,z.B.der<br />
Forschung und Entwicklung, der Industriepolitik,<br />
der allgemeinen Wirtschaftspolitik, der Kultur. In<br />
vielen Fällen sind die Kooperationsabkommen mehr<br />
dem Bereich der �Entwicklungspolitik als dem der<br />
�Handelspolitik zuzuordnen; sie können neben dem<br />
eigentlichen Vertrag ein zusätzliches Finanzprotokoll<br />
enthalten, das ohne Vertragsänderung von Zeit<br />
zu Zeit angepasst werden kann.<br />
Sind mit einem Kooperationsabkommen erhebliche<br />
finanzielle Folgen für die EG verbunden oder wird<br />
durch das Abkommen ein besonderer institutioneller<br />
Rahmen geschaffen (z. B. regelmäßige Treffen von<br />
Parlamentariern), muss das Europäische Parlament<br />
ihm zustimmen, in den übrigen Fällen wird das<br />
Parlament gehört. Entstehen durch ein Kooperationsabkommen<br />
besondere Verpflichtungen für die<br />
MitgliedstaatenoderwirddurchdasAbkommenihre<br />
Eigenschaft als Völkerrechtssubjekt berührt, wird es<br />
inderRegelals�gemischtesAbkommenverabschiedet.<br />
Bestehen Zweifel, ob ein Abkommen mit dem<br />
EG-Vertrag vereinbar ist, können die gesetzgebenden<br />
Organe der Europäischen Union und die Mitgliedstaaten<br />
ein Gutachten beim EuGH einholen, das<br />
verbindlich ist.<br />
Bilaterale Kooperationsabkommen bzw. Partnerschafts-<br />
und Kooperationsabkommen hat die Europäische<br />
Gemeinschaft u. a. abgeschlossen mit Russland<br />
(ABl. L 327/1997), der Ukraine (ABl. L 49/<br />
1998), den Maghreb-Staaten, Brasilien, Argentinien,<br />
Chile, Mexiko, Uruguay, Südafrika, China, Indien,<br />
Sri Lanka, Pakistan, Bangladesh; multilaterale<br />
Abkommen bestehen u. a. mit den Andenpaktstaaten<br />
und den ASEAN-Staaten.<br />
�Außenhandelspolitik, �Entwicklungspolitik,<br />
�Völkerrechtliche Verträge<br />
Kooperationsverhältnis BVerfG – EuGH.<br />
Im �Maastricht-Urteil vom 12. 10. 1993 hatte das<br />
Bundesverfassungsgericht (BVerfG) im Anschluss<br />
an den �„Solange-II“-Beschluss bezüglich des<br />
Grundrechtsschutzes ausgeführt, es sichere durch<br />
seine Zuständigkeiten auch gegenüber dem Gemeinschaftsrecht<br />
den Wesensgehalt der deutschen<br />
Grundrechte. Allerdings übe es seine diesbezügliche<br />
Gerichtsbarkeit in einem „Kooperationsverhältnis“<br />
zum EuGH aus, „in dem der EuGH den Grundrechtsschutz<br />
in jedem Einzelfall für das gesamte Gebiet der<br />
484<br />
(...) Gemeinschaften garantiert, das BVerfG sich<br />
deshalb auf eine generelle Gewährleistung des unabdingbaren<br />
Grundrechtsstandards beschränken<br />
kann“.<br />
Ein solches „Kooperationsverhältnis“ ist allerdings<br />
nirgendwo geregelt. Vielmehr kann nur von einem<br />
Verhältnis der „Koexistenz“ zwischen den beiden<br />
Gerichten gesprochen werden. Streitig war darum in<br />
Folge, ob das BVerfG nunmehr ein Prüfungsrecht in<br />
jedem Einzelfall beanspruchen kann bzw. wer hier<br />
„das letzte Wort“ hat. Aus der völkerrechtlichen Perspektive<br />
des damaligen BVerfG-Richters Kirchhof<br />
ist der Geltungsgrund des Gemeinschaftsrechts in<br />
Deutschland allein das deutsche Zustimmungsgesetz<br />
zu den europäischen Verträgen, das den innerstaatlichen<br />
Rechtsanwendungsbefehl erteilt. Das<br />
deutsche Zustimmungsgesetz sei mithin „die alleinige<br />
Brücke“, über die Gemeinschaftsrecht rechtsverbindlich<br />
„nach Deutschland fließe“; was diese Brücke<br />
„nicht trage“, gewinne in Deutschland keine<br />
Rechtsverbindlichkeit. Aus der europarechtlichen<br />
Perspektive des ehemaligen EuGH-Richters Hirsch<br />
dagegen legt derjenige „die Axt an die Wurzel der<br />
Gemeinschaftsrechtsidee“, der das letzte Wort über<br />
die innerstaatliche Anwendbarkeit von Gemeinschaftsrecht<br />
nationalen Gerichten vorbehalten will.<br />
Über das �Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung<br />
und der �Subsidiarität dürfe kein „Konfrontationsverhältnis“<br />
konstruiert werden. Im „Brückenhäuschen“<br />
hätten nationale Gerichte und vielleicht<br />
auch noch das Heer der nationalen Beamten keinen<br />
Platz. Die authentische Interpretation des Gemeinschaftsrechts<br />
obliege nach den Verträgen vorbehaltlos<br />
dem EuGH. Nur inhaltlich finde eine Kooperation<br />
statt bei der gemeinsamen Aufgabe, das Recht zu<br />
wahren. Aus Gründen der Rechtseinheit in der europäischen<br />
Rechtsgemeinschaft könne nur der EuGH<br />
bezüglich der Gültigkeit europäischen Rechts das<br />
letzte Wort haben. Im �Bananenmarktordnung-<br />
Beschluss vom 7. 6. 2000 ist das BVerfG im WesentlichenaufdieseLinieeingeschwenkt.<br />
J. M. B.<br />
Koordinierungsausschuss �Ausschuss Hoher<br />
Beamter<br />
Kopenhagener Bericht �Luxemburger Bericht<br />
Ziff. 1<br />
Kopenhagen-Kriterien �Beitrittskriterien
Kopenhagen-Prozess, Kopenhagener Erklärung<br />
(auch Brügge-Kopenhagen-Prozess)<br />
Begriff: Am 30. 11. 2002 von 30 Ländern und der Europäischen<br />
Kommission in Kopenhagen unterzeichnete<br />
intergouvernementale (Bemühens-)Erklärung<br />
zur verstärkten europäischen Zusammenarbeit in der<br />
beruflichen Bildung (Kopenhagen-Prozess). Die Erklärung<br />
ist auf den Europäischen Rat in Lissabon<br />
vom 22./23. 3. 2000 (�Lissabon-Strategie) zurückzuführen<br />
und ist eine Parallele zum �Bologna-<br />
Prozess.<br />
Hintergrund und Zielsetzung: Der im Rahmen der<br />
Lissabon-Strategie dem Europäischen Rat auf seiner<br />
Frühjahrstagung in Brüssel am 23./24. 3. 2001 vorgelegte<br />
Bericht der Kommission vom 31. 1. 2001<br />
über „die konkreten künftigen Ziele der Bildungssysteme“<br />
(KOM/2001/059) enthielt Vorschläge für<br />
die Bereiche der allgemeinen und beruflichen Bildung<br />
und des lebenslangen Lernens. Damit sich <strong>Europa</strong><br />
zu einem „offenen, europäischen Raum des lebenslangen<br />
Lernens“ entwickeln kann, ist während<br />
einer Sitzung der Generaldirektoren für Berufsbildung<br />
im Oktober 2001 in Brügge die Notwendigkeit<br />
eines (zum Bologna-Prozess) „parallelen, jedoch<br />
nichtidentischenKooperationsprozessesimBereich<br />
der Berufsbildung“ unterstrichen worden. Der Europäische<br />
Rat hat am 15./16. 3. 2002 in Barcelona zu<br />
„entsprechenden Maßnahmen“ aufgefordert. Auf einer<br />
von der Kommission am 10./11. 6. 2002 ausgerichteten<br />
Konferenz, an der Vertreter aus 29 europäischen<br />
Ländern (EU-Mitgliedstaaten, Beitrittskandidaten<br />
und EWR-Länder) und Vertreter der Sozialpartner<br />
teilnahmen, wurde die Zusammenarbeit insbes.<br />
für die Problemfelder Transparenz, Anerkennung<br />
und Qualität im Einzelnen festgelegt. Es wurde<br />
vereinbart, nationale Referenzstellen als Informationszentren<br />
zu Fragen über berufliche Qualifikationen<br />
einzurichten (in Deutschland das Bundesinstitut<br />
für Berufliche Bildung BIBB, für die EU das �Europäische<br />
Zentrum für die Förderung der Berufsbildung<br />
CEDEFOP). Weitere Instrumente des Kopenhagen-Prozesses<br />
sind der �„<strong>Europa</strong>ss Berufsbildung“,<br />
der „europäische Lebenslauf“, das „CertificateSupplement“unddieErarbeitungeinesÜbertragungssystemsnachdemMusterdes<br />
�CreditTransfer<br />
Systems. Die Bildungsminister fassten am 12. 11.<br />
2002 eine Entschließung (förmlich am 19. 12. 2002)<br />
„zur Förderung einer verstärkten europäischen Zusammenarbeit<br />
bei der beruflichen Bildung“ (ABl. C<br />
Kopenhagen-Prozess<br />
13 vom 18. 1. 2003), in der folgenden Problemfeldern<br />
Vorrang eingeräumt wurde: Europäische Dimension,<br />
Transparenz, Information und Orientierung,<br />
Anerkennung von Fähigkeiten und Qualifikationen,Qualitätssicherung.DieseBeschlüssefanden<br />
Eingang in die „Kopenhagener Erklärung“, die am<br />
30. 11. 2002 in Kopenhagen auf einer von der dänischen<br />
Präsidentschaft ausgerichteten Tagung von 30<br />
Ländern beschlossen wurde.<br />
Die Kopenhagener Erklärung, mit der der Kopenhagen-Prozess<br />
beginnt, unterzeichneten Ministerinnen<br />
und Minister aus allen 15 EU-Staaten, den 10 Beitrittsstaaten,<br />
den EWR-Staaten Island und Norwegen,<br />
den Beitrittskandidaten Bulgarien, Rumänien<br />
und Türkei sowie die Europäische Kommission.<br />
Die Erklärung wurde unterstützt von folgenden Sozialpartnern:<br />
Das European Center of Enterprises<br />
with Public Participation and of Enterprises of General<br />
Economic Interest (�CEEP), die Union of Industrial<br />
and Employers Confederations of Europe<br />
(�UNICE) und die European Trade Union Confederation<br />
(�ETUC). Als Beobachter waren anwesend:<br />
CEDEFOP, die European Training Foundation<br />
(ETF), das Europäische Parlament und das Generalsekretariat<br />
des <strong>Europa</strong>rats.<br />
Erste Ergebnisse des Kopenhagen-Prozesses fasste<br />
der von der Kommission am 11. 11. 2003 vorgelegte<br />
und vom Bildungsministerrat in geänderter Form am<br />
26. 2. 2004 angenommene gemeinsame Zwischenbericht<br />
„Allgemeine und berufliche Bildung 2010“<br />
zusammen (KOM/2003/685). Er verweist auf die<br />
Rolle des Kopenhagen-Prozesses bei der Förderung<br />
von Reformen, der Unterstützung von lebenslangem<br />
Lernen und beim Aufbau von Vertrauen zwischen<br />
den wichtigsten Akteuren und zwischen den Ländern.<br />
Nachfolgekonferenz von Maastricht 2004: Die Unterzeichner<br />
der Kopenhagener Erklärung und Kroatien<br />
beschlossen am 14. 12. 2004 in dem „Kommuniqué<br />
von Maastricht ,Stärkung der europäischen Zusammenarbeit<br />
im Bereich der beruflichen Bildung’“<br />
13 künftige Prioritäten für die verstärkte Europäische<br />
Zusammenarbeit in der Berufsbildung (FortschreibungderKopenhagenerErklärungvom30.11.<br />
2002):<br />
Auf nationaler Ebene: Stärkung des Beitrags der Berufsbildungssysteme,<br />
von Institutionen und Unternehmen<br />
sowie der Sozialpartner zur Erreichung der<br />
Lissabonziele.<br />
485
Korruptionsbekämpfung<br />
Auf europäischer Ebene: Mehr Transparenz, Qualität<br />
und gegenseitiges Vertrauen als Voraussetzung<br />
für einen echten europäischen Arbeitsmarkt.<br />
Zur Umsetzung des Kopenhagen-Prozesses werden<br />
„alle Akteurinnen und Akteure im Bereich der Berufsbildung<br />
– Anbieter/innen, Arbeitgeber/innen,<br />
Gewerkschaften, Sektororganisationen, Kammern<br />
für Handel, Industrie und Gewerbe, Arbeitsverwaltungen,<br />
regionale Einrichtungen und Netzwerke<br />
etc.“ zur Mitarbeit aufgerufen. Der Beratende Ausschuss<br />
für Berufsbildung wird umfassend in die Umsetzung<br />
und das Follow-up einbezogen.<br />
Für einen Europäischen Qualifikationsrahmen und<br />
ein Europäisches Anrechnungssystem für die Berufsbildung<br />
sollen Vorschläge ausgearbeitet und geprüft<br />
werden.<br />
SowohlaufnationaleralsauchaufeuropäischerEbene<br />
soll ein kohärenter Ansatz entwickelt und in folgenden<br />
Bereichen die Zusammenarbeit vertieft werden:<br />
– Hochschulbereich, einschl. der Weiterentwicklung<br />
des Bologna-Prozesses;<br />
– Europäische Politik in den Bereichen Wirtschaft,<br />
Beschäftigung, nachhaltige Entwicklung und sozialerZusammenhalt(LeitlinienundnationaleAktionspläne);<br />
– Instrumente und Finanzmittel zur Vorbereitung<br />
auf den Beitritt;<br />
– Vernetzung und Austausch von Innovationen und<br />
erfolgreichen Beispielen zwischen Forschung, Praxis<br />
und Politik.<br />
Besondere Bedeutung wird der Strategie für lebenslanges<br />
Lernen zugemessen.<br />
Das nächste Ministertreffen zur Evaluierung der<br />
Umsetzung und zur Überprüfung der Prioritäten und<br />
Strategien für die Berufsbildung im Rahmen des Arbeitsprogramms<br />
„Allgemeine und berufliche Bildung<br />
2010“ soll 2006 stattfinden.<br />
Rechtliche Würdigung: Beim Kopenhagen-Prozess<br />
handelt es sich um ein Bündel von Initiativen, die<br />
teils innerhalb des Vertrages (<strong>Europa</strong>ss, Qualitätssicherung)<br />
bzw. in der �gemischten Formel (Ermittlung<br />
und Validierung von Lernprozessen, Prioritäten,<br />
Lebenslanges Lernen) teils in unverbindlicher<br />
Form (Beteiligung nicht staatlicher Organisationen)<br />
erfolgen.<br />
ZurRechtswirkung�Bologna-Prozess I. H.<br />
Internet: http://europa.eu.int/comm/education/copenhagen/index_de.html<br />
486<br />
Korruptionsbekämpfung. Ins Blickfeld der Öffentlichkeit<br />
rückte das Thema Korruption auf EU-<br />
EbeneverstärktEndeder1990erJahrewegeneiniger<br />
Skandale innerhalb der EU-Institutionen, die 1999<br />
zum Rücktritt der Kommission Santer führten. DanachrichtetensichdieBefürchtungenimVorfeldder<br />
EU-Osterweiterung 2004 zusätzlich auf Korruptionsrisiken<br />
innerhalb der damaligen Kandidatenstaaten.<br />
Betrieben wird Korruptionsbekämpfung auf<br />
EU-Ebene auf dreierlei Grundlagen:<br />
1) Im Rahmen der polizeilichen und justitiellen Zusammenarbeit(derzeitdiesog.„dritteSäule“;�Tempelstruktur)<br />
schafft Art. 29 EUV die Basis für ein gemeinsames<br />
Vorgehen bei der Verhütung und BekämpfungvonBestechungundBestechlichkeit.Entsprechend<br />
wurden auch die Mandate von �Europol<br />
und �Eurojust ausgestaltet.<br />
2) Im Bereich des Gemeinschaftsrechts fällt Korruptionsbekämpfung<br />
als Maßnahme zum Schutz der finanziellen<br />
Interessen der EU unter die Kompetenzgrundlage<br />
des Art. 280 EUV. Korruptionsbekämpfung<br />
wird insofern als Unterfall der �Betrugsbekämpfung<br />
behandelt, für die das Europäische Amt<br />
für Betrugsbekämpfung (�OLAF) eingerichtet wurde.<br />
Für die Bekämpfung von Korruption in der Privatwirtschaft<br />
und im innerstaatlichen Bereich der<br />
Mitgliedstaaten besteht keine Rechtsgrundlage im<br />
Gemeinschaftsrecht, solange EU-Finanzinteressen<br />
nicht betroffen sind.<br />
3) Bei EU-Beitrittsverhandlungen hingegen sind tiefe<br />
Eingriffe in den nationalen Rechtsbereich der<br />
Kandidatenländer möglich, wie sich bei der Vorbereitung<br />
der EU-Erweiterung um zehn neue Mitgliedstaaten<br />
für 2004 zeigte. Ausreichende gesetzliche<br />
und tatsächliche Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung<br />
innerhalb der beitrittswilligen Länder<br />
wurden bei dieser Erweiterungsrunde erstmals zum<br />
BeitrittskriteriumundwareneinwichtigerPrüfungsgegenstand<br />
der jährlichen Fortschrittsberichte der<br />
Kommission. Dieser Ansatz wird im Verhältnis zu<br />
den Kandidatenländern Rumänien, Bulgarien, Türkei<br />
und Kroatien entsprechend weiter verfolgt.<br />
J. W.<br />
Kreditverbot der EZB �EZB<br />
Kriminalitätsbekämpfung. Die �vier Freiheiten<br />
des Binnenmarktes sowie unterschiedliche Rechtsvorschriften<br />
der EU-Staaten erleichtern der organisierten<br />
Kriminalität das Eindringen in die Gesell-
schaft. Ein erstes Aktionsprogramm zur Bekämpfung<br />
der organisierten Kriminalität hat der Europäische<br />
Rat im Juni 1997 verabschiedet. Der Vertrag<br />
von Amsterdam ermöglichte ab 1999 ein verbessertes<br />
abgestimmtes Vorgehen der EU-Staaten, der Organe<br />
sowie von �Europol und �Eurojust, um den<br />
Aufbau des �Raums der Freiheit, der Sicherheit und<br />
des Rechts zu verwirklichen.<br />
Der Rat hat nach Aufforderung des Europäischen<br />
Rats in Tampere/Finnland (Oktober 1999) eine<br />
„Strategie zur Prävention und Bekämpfung der organisierten<br />
Kriminalität“ verabschiedet (ABl. C 124/<br />
2000). Sie besteht aus politischen Leitlinien und einer<br />
Reihe von Empfehlungen. Ziele der Initiativen<br />
sind u. a.:<br />
– Sammlung und Analyse von Daten,<br />
– Verbesserung der Rechtsvorschriften auf nationaler<br />
Ebene,<br />
– Verbesserung der Ermittlungsarbeit,<br />
– Ausbau der Rolle von Europol,<br />
– Verstärkte Zusammenarbeit der Strafverfolgungs-<br />
und Justizbehörden der Mitgliedstaaten,<br />
– Verstärkte Zusammenarbeit mit Drittstaaten und<br />
internationalen Organisationen.<br />
Eine multidisziplinäre Gruppe „Organisierte Kriminalität“berichtetdemRatunddemEuropäischenRat<br />
regelmäßig über den Stand der Durchführung der<br />
Strategie. Spätestens Mitte 2005 wird die Kommission<br />
einen Gesamtbericht vorlegen, auf dessen Basis<br />
der Europäische Rat neue Leitlinien verabschieden<br />
will.<br />
Kriminalitätsprävention, Europäisches Netz für<br />
Kriminalprävention (EUPCN). Auf Beschluss des<br />
Rats vom Mai 2001 (2001/427/JI, ABl. L 153/2001)<br />
wurdedasEUPCNeingerichtet,dasüber1bis3Kontaktstellen<br />
je Mitgliedstaat verfügt. In Deutschland<br />
sind dies das Innen- und das Justizministerium sowie<br />
das Deutsche Forum für Kriminalprävention.<br />
Das Netz dient der Information über und der Weiterentwicklung<br />
von Methoden der Verbrechensvorbeugung,<br />
insbes. in den Bereichen Jugendkriminalität,<br />
Drogenkriminalität und Kriminalität in Städten. Das<br />
Netz sammelt und analysiert einschlägige Daten.<br />
�Hippokrates<br />
Krisenmanagement, ziviles. Bezeichnung für die<br />
nichtmilitärischen Aspekte der �Europäischen Sicherheits-<br />
und Verteidigungspolitik (ESVP).<br />
Kultur 2000<br />
Krisenreaktionstruppe, europäische. Im Rahmen<br />
der Europäischen �Sicherheits- und Verteidigungspolitik<br />
(ESVP) baut die EU derzeit gewissermaßen<br />
als ihre „militärische Faust“ die sog. Europäische<br />
Krisenreaktionstruppe auf. Demnächst soll der<br />
EU so mit Hilfe von Soldaten der Mitgliedstaaten der<br />
Zugang zu einer operativen Kapazität eröffnet werden.<br />
Geplant sind schnell verfügbare Landstreitkräfte<br />
im Umfang von etwa 60 000 Soldaten sowie entsprechende<br />
Luft- und Seestreitkräfte (ca. 400 Flugzeuge<br />
und 100 Schiffe), die innerhalb von 60 Tagen<br />
in ein Krisengebiet verlegbar sind und die – unter<br />
Führung des EU-Militärausschusses – auch anspruchsvolle<br />
Krisenmanagement-Operationen mindestens<br />
ein Jahr lang durchhalten können. Insgesamt<br />
ist an einen Umfang von 150 000 bis 180 000 Soldaten<br />
gedacht, an dem Deutschland mit allen Teilstreitkräften<br />
mit etwa 20 % beteiligt sein soll. Bereits vorhandeneEinheitensollenumgeschultundneuausgerüstet<br />
werden. Allerdings soll die kollektive Verteidigung<br />
weiter Sache der NATO bleiben. Die EU will<br />
künftig(nur)imStandesein,Krisennotfallsauchmilitärisch<br />
zu bewältigen; bei Bedarf in Eigenregie und<br />
mit eigenen Mitteln, falls die NATO die ihrigen nicht<br />
hergeben will oder kann. Bemerkenswert ist insoweit,<br />
dass im Konzept der Europäischen Krisenreaktionstruppe<br />
für Interventionen weder eine geographische<br />
Grenze gezogen worden ist noch ein Mandat<br />
desSicherheitsratsverlangtwird. J. M. B.<br />
Kultur 2000. Erstes Rahmenprogramm der EU zur<br />
Kulturförderung (Entscheidung 508/2000 des EP<br />
und des Rates vom 14. 2. 2000) für die Zeit vom 1. 1.<br />
2000bis31.12.2006,Budget236,5Mio.Euro.Esersetzt<br />
die früheren Programme �Raphael, �Kaleidoskop<br />
und �Ariane. Mit der Durchführung des Programms<br />
ist die Kommission beauftragt, die von einem<br />
Ausschuss mit beratender Funktion unterstützt<br />
wird. Beteiligt sind alle EU-Staaten, die EWR-StaatenunddieBeitrittsländerBulgarienundRumänien.<br />
Kultur 2000 dient der Schaffung eines gemeinsamen<br />
KulturraumsderEuropäer.Esfördertdenkulturellen<br />
Dialog, die Kenntnis der Geschichte und des europäischen<br />
Kulturerbes sowie der wirtschaftlichen und<br />
sozialen Bedeutung der Kultur, den Austausch von<br />
Künstlern und ihrer Werke, die Entstehung neuer<br />
Formen kulturellen Ausdrucks, die Schaffung und<br />
Verbreitung neuer kultureller Werke und unterstützt<br />
dietransnationaleZusammenarbeitzwischenKünst-<br />
487
Kultur 2007<br />
lern und Kulturinstitutionen. Der Begriff Kultur umfasst<br />
dabei auch die volkstümliche Kultur, die Alltagskultur<br />
und die industrielle Massenkultur.<br />
Von den Finanzmitteln dienen<br />
– höchstens 45 % der Förderung spezieller innovativer<br />
und/oder experimenteller Maßnahmen, an denen<br />
mindestens drei Länder beteiligt sind und die neue<br />
Formen kulturellen Ausdrucks zeigen, den Zugang<br />
zur Kultur verbessern, insbesondere für Jugendliche<br />
und für benachteiligte Bevölkerungsgruppen, sowie<br />
der Live-Übertragung von kulturellen Veranstaltungen;<br />
– mindestens 35 % für integrierte Maßnahmen im<br />
Rahmen von mehrjährigen Abkommen über kulturelle<br />
Zusammenarbeit zwischen mindestens fünf<br />
Ländern; die Aktionen sollen einen Kulturbereich<br />
vertiefen oder mehrere Kulturbereiche miteinander<br />
verknüpfen und ein vorher festgelegtes Ziel von kulturellem<br />
Belang erreichen;<br />
– 10%fürbesonderekulturelleVeranstaltungenvon<br />
herausragender Bedeutung mit europäischer Ausstrahlung(Beispiel:EuropäischeKulturhauptstadt);<br />
– 10 % für sonstige Ausgaben.<br />
Jedes Jahr werden Akteure des Kulturbetriebs aufgefordert,<br />
Vorschläge für Projekte einzureichen<br />
Kultur2007.UnterdiesemTitelhatdieKommission<br />
am14.7.2004VorschlägefürEU-Programmeinden<br />
Bereichen allgemeine und berufliche Bildung, Kultur,<br />
Jugend und audiovisueller Sektor vorgelegt. Die<br />
VorschlägemüssenvonRatundEPbewilligtwerden<br />
(Zeitplan: Ende 2005). Laufzeit der neuen Programme:<br />
2007 – 2013.<br />
Vorgeschlagen werden vier Programme:<br />
– Integriertes Aktionsprogramm im Bereich des lebenslangen<br />
Lernens. Die bestehenden Programme<br />
Comenius (Schulen), Erasmus (Hochschulen), Leonardo<br />
da Vinci (Berufsausbildung) und Grundtvig<br />
(Erwachsenenbildung) sollen durch ein neues Querschnittsprogramm<br />
„Jean Monnet“ mit Schwerpunkt<br />
europäische Integration ergänzt werden. Budgetvorschlag:<br />
13,62 Mrd. Euro.<br />
– Jugend in Aktion soll ein Budget von 915 Mio.<br />
Euro erhalten.<br />
– Kultur 2007 soll die Programme von Kultur 2000<br />
fortführen. Budgetvorschlag 408 Mio. Euro.<br />
– MEDIA 2007 soll die bestehenden Programme<br />
MEDIAPlusundMEDIAFortbildungweiterführen.<br />
Finanzrahmen: 1,055 Mrd. Euro.<br />
488<br />
Kulturkonvention�EuropäischeKulturkonvention<br />
Kulturpolitik. Die Formierung des Bürgers in <strong>Europa</strong><br />
mit europäischem Bewusstsein ist ohne die europäische<br />
Kultur („Abendland“) ausgeschlossen. Ihre<br />
gemeinsamen Wurzeln liegen in der griechischen<br />
Philosophie, im römischen Rechts- und Staatsdenken<br />
(Ideen der Gerechtigkeit, Legitimität, Rechtsstaatlichkeit),inderjüdischenundchristlichenGlaubensüberlieferung,<br />
im Humanismus und in der Aufklärung,<br />
in der neuzeitlichen Verfassungsentwicklung<br />
u. dgl. Ein <strong>Europa</strong> der Wirtschaft und der Politik<br />
reicht nicht aus. Die kulturelle Vielfalt der europäischen<br />
Völker und Regionen muss als Wert erfahren<br />
werden.<br />
1. Begriff und Zielsetzungen: Nach dem Rahmenprogramm<br />
1988–1992 der Europäischen Kommission<br />
(„Neue Impulse für die Aktion der Europäischen Gemeinschaft<br />
im kulturellen Bereich“) bedeutet die<br />
„kulturelleDimension“die„Teilnahmeaneinemauf<br />
Demokratie,GerechtigkeitundFreiheitgegründeten<br />
pluralistischen Humanismus“. Sie soll stärker in die<br />
Definition und Anwendung der Gemeinschaftspolitikeinbezogenwerden.KultursollRisiken,diedurch<br />
Wirtschaft und Technologie entstehen, abmildern<br />
und bewältigen helfen; ferner wird das Gefühl der<br />
Zugehörigkeit zur europäischen Kultur als Voraussetzung<br />
für die Solidarität der „europäischen Bürger“<br />
in der Gemeinschaft betrachtet.<br />
Das Programm (Mitteilung der Kommission an den<br />
Rat 87/603/EWG) beschreibt fünf Bereiche:<br />
– Schaffung eines europäischen Kulturraums, der<br />
darin besteht, „im Hinblick auf die Verwirklichung<br />
des großräumigen Binnenmarktes ... vorrangig den<br />
freien Verkehr von Kulturgütern und kulturellen<br />
Dienstleistungen ... zu gewähren“;<br />
– Förderung der europäischen audiovisuellen Industrie;<br />
– Zugang zu den kulturellen Ressourcen durch „Verbesserung<br />
der Sprachkenntnisse der europäischen<br />
Bürger durch Förderung der Mehrsprachigkeit, Unterstützung<br />
der Kulturförderung in den europäischen<br />
Regionen“ (u. a. Erhaltung des architektonischen Erbes,<br />
Kulturausweis für Jugendliche);<br />
– kulturelle Aus- und Weiterbildung;<br />
– kultureller Dialog mit der übrigen Welt.<br />
Dazu sollen – neben den Organen der Europäischen<br />
Union – die folgenden Einrichtungen einen Beitrag<br />
leisten: das �Europäische Hochschulinstitut in Flo-
enz, das �<strong>Europa</strong>-Kolleg in Brügge, die �Europäische<br />
Kulturstiftung in Amsterdam, das �Europäische<br />
Institut für öffentliche Verwaltung in Maastricht,<br />
das �Europäische Zentrum für die Förderung<br />
der Berufsbildung (CEDEFOP) in Thessaloniki, die<br />
�<strong>Europa</strong>-Schulen, das �Jugendforum der EG/EU;<br />
ferner ist seit 1985 die jährliche Nominierung einer<br />
�„Europäischen Kulturhauptstadt“ zu nennen. Außerdem<br />
werden vergeben: ein Europäischer Literaturpreis<br />
und ein Europäischer Übersetzungspreis<br />
u. dgl. Diese (teilweise realisierten) Maßnahmen<br />
werden als wesentlich für das Heranwachsen eines<br />
europäischen Bürgersinns erachtet, der sich in seiner<br />
ausgereiften Form als �„europäische Identität“ darstellen<br />
soll.<br />
Die praktische Folge besteht in einem �interkulturellen<br />
Lernen, das sich u. a. auf die Andersartigkeit<br />
fremder Kulturen und Menschen bezieht, das Kultur<br />
und Bildung generell unter übernationalen Aspekten<br />
betrachtetunddiesealseineErweiterungdereigenen<br />
(Erkenntnis-, Erfahrungs- usw.) Möglichkeiten ansieht.<br />
Dies reicht bis in die Perspektivität und Begrifflichkeit<br />
der Sprache(n) hinein. So wird man sich<br />
bspw. fragen müssen: Wie sieht ein Ausländer die<br />
Deutschen,wasbedeutenihmWörterwieParlament,<br />
Souveränität,europäischePolitischeUnionu.dgl.?<br />
2. Vertragliche Grundlagen: Bei Fragen der Kulturpolitik<br />
auf europäischer Ebene stellt sich schließlich<br />
für die Bundesrepublik Deutschland, als dem einzigen<br />
föderalistischen Staat neben Österreich und Belgien<br />
in der EU, das Problem, inwieweit die grundsätzlich<br />
verankerte Kulturhoheit der Bundesländer<br />
betroffenist,d.h.dieLänderzustimmungsberechtigt<br />
sind (vgl. Positionspapier der KMK zur Bildungsund<br />
Kulturpolitik vom 24. 4. 1989).<br />
Seit 1984 tagen die EG/EU-Kulturminister zweimal<br />
jährlich informell, d. h. ohne explizite Kompetenzen<br />
aus dem EG-Vertrag. Aufgrund der (bis 1992, s. u.)<br />
fehlenden Gemeinschaftskompetenz im kulturellen<br />
Bereich wurden Beschlüsse in rein zwischenstaatlicher<br />
(= völkerrechtlicher) Rechtsform oder mit Hilfe<br />
der sog. �„gemischten Formel“ verabschiedet.<br />
Für den Kulturbereich ist in der Europäischen Kommission<br />
– GD Bildung und Kultur, GD Informationsgesellschaft<br />
und Medien – eine Arbeitseinheit, die<br />
sog. „action culturelle“, zuständig.<br />
Die „Feierliche Deklaration zur Europäischen<br />
Union“ 1983 enthält in ihrem Abschnitt über die kulturelle<br />
Zusammenarbeit (3.3) die Forderung nach<br />
Kulturpolitik<br />
– „Intensivierung des Erfahrungsaustauschs, insbes.<br />
unter der Jugend, und den Ausbau des Unterrichts in<br />
denSprachenderMitgliedstaatenderGemeinschaft;<br />
– Verbesserung der Kenntnis über die anderen Mitgliedstaaten<br />
der Gemeinschaft und eine bessere Unterrichtung<br />
über die Geschichte und Kultur <strong>Europa</strong>s<br />
im Hinblick auf die Förderung eines europäischen<br />
Bewusstseins“.<br />
Neben den notwendigen landeskundlichen Kenntnissen<br />
wird hier das <strong>Europa</strong>bewusstsein (unpolitisch)alskulturell-historischeDimensionpostuliert.<br />
Als Einzelprojekte im Rahmen der kulturellen Zusammenarbeit<br />
der EG-Mitgliedstaaten ragen heraus:<br />
die Entschließungen vom 24. 7. 1984 über die Bekämpfung<br />
der widerrechtlichen Verwertung audiovisuellen<br />
Materials; vom 13. 6. 1985 über die alljährliche<br />
Benennung einer „Kulturhauptstadt <strong>Europa</strong>s“;<br />
vom 27. 9. 1985 über die Zusammenarbeit zwischen<br />
denBibliothekenimBereichderInformatik;vom18.<br />
5. 1989 über die Förderung des Buches und der Lektüre<br />
(u. a. europäischer Literatur-, Übersetzerpreis,<br />
Statistik für den Buchsektor); die Schlussfolgerungen<br />
vom 19. 11. 1990 über die Berufsbildung im kulturellen<br />
Bereich (Restauratoren/Denkmalpfleger,<br />
Übersetzer);derBeschlussvom21.12.1990überdie<br />
Durchführung eines Aktionsprogramms zur Förderung<br />
der Entwicklung der europäischen audiovisuellen<br />
Industrie (MEDIA 1991–1995); die Entschließungen<br />
vom 7. 6. 1991 über die Ausbildung von Verwaltungsfachleuten<br />
im kulturellen Bereich; vom<br />
7.6.1991überdieEntwicklungdesTheatersin<strong>Europa</strong>.<br />
Die Kommission hat diese (informellen) Entschließungen<br />
und Beschlüsse ergänzt durch ein Dokument<br />
„Neue Impulse für die Aktion der EG im kulturellen<br />
Bereich“ (s. o.).<br />
3. Die neue vertragsrechtliche Regelung der Kulturpolitik:<br />
Im revidierten EG-Vertrag (Maastricht) von<br />
1992 wird die Kulturpolitik erstmals als Kompetenzbereich<br />
der EU anerkannt und zu einer genuinen vertraglichen<br />
Aufgabe gemacht (Titel XII). Artikel 151<br />
lautet:<br />
„(1) Die Gemeinschaft leistet einen Beitrag zur Entfaltung<br />
der Kulturen der Mitgliedstaaten unter Wahrung<br />
ihrer nationalen und regionalen Vielfalt sowie<br />
gleichzeitiger Hervorhebung des gemeinsamen kulturellen<br />
Erbes.<br />
(2) Die Gemeinschaft fördert durch ihre Tätigkeit die<br />
Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und<br />
489
Kulturstadt <strong>Europa</strong>s<br />
unterstützt und ergänzt erforderlichenfalls deren Tätigkeit<br />
in folgenden Bereichen:<br />
– Verbesserung der Kenntnis und Verbreitung der<br />
Kultur und Geschichte der europäischen Völker,<br />
– Erhaltung und Schutz des kulturellen Erbes von<br />
europäischer Bedeutung,<br />
– nichtkommerzieller Kulturaustausch,<br />
– künstlerisches und literarisches Schaffen, einschließlich<br />
im audiovisuellen Bereich ...“.<br />
In den Angelegenheiten des (durch den Vertrag über<br />
die EU aufgewerteten) Rates der Kulturminister verabschiedet<br />
dieser „einstimmig auf Vorschlag der<br />
Kommission Empfehlungen“ (Art. 151 Abs. 5, 2.<br />
Spiegelstr.). Die EU betreibt demnach keine eigene<br />
Kulturpolitik und tritt nur subsidiär ein (�Subsidiarität).<br />
So bleiben die regionale Verwurzelung der Kultur<br />
und die nationale Identität der EU-Staaten erhalten<br />
(Art. 6 EUV). Neu ist allerdings die Kulturverträglichkeitsklausel,<br />
wonach die kulturpolitischen<br />
490<br />
Auswirkungen bei allen EU-Initiativen zu berücksichtigen<br />
sind sowie die kulturelle Zusammenarbeit<br />
der EU mit Drittländern, einschl. <strong>Europa</strong>rat und internationalenOrganisationen.<br />
W. M.<br />
Anschrift: Deutsches Komitee für kulturelle Zusammenarbeit<br />
in <strong>Europa</strong>. c/o Deutsch-Französisches Institut, Asperger Straße<br />
34, 71634 Ludwigsburg<br />
Literatur:<br />
Rat der Europäischen Union, Generalsekretariat (Hg.): Texte<br />
zur Kulturpolitik im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft.<br />
Luxemburg 1994<br />
Weidenfeld, W. u. a.: Europäische Kultur. Das Zukunftsgut des<br />
Kontinents. Gütersloh 1990<br />
Zentrum für Kulturforschung (Hg.): Europäisches Kulturhandbuch.<br />
Baden-Baden, 1995 2<br />
Kulturstadt <strong>Europa</strong>s, Kulturhauptstadt <strong>Europa</strong>s<br />
�Europäische Kulturhauptstadt<br />
Kulturstiftung �Europäische Kulturstiftung<br />
Kyoto-Protokoll �Umweltpolitik
Lagezentrum �EU-Lagezentrum<br />
Länderbeobachter.Eineseitden1950erJahrenbestehende<br />
gemeinsame Einrichtung aller Länder der<br />
Bundesrepublik Deutschland in Brüssel. Die Aufgabe<br />
besteht im Schwerpunkt darin, über Ratssitzungen<br />
an den Bundesrat und die Landesregierungen<br />
Bericht zu erstatten. Die Länderbeobachterberichte<br />
sind ausführlicher als die Berichte der Ständigen<br />
Vertretung und länderspezifisch. Der Länderbeobachter<br />
beschäftigt zwei bis drei hauptamtliche Länderbeamte,<br />
die zeitlich befristet nach Brüssel abgeordnet<br />
werden. In der Vergangenheit wurde wiederholt<br />
diskutiert, ob an Stelle oder in Ergänzung zum<br />
Länderbeobachter in der Ständigen Vertretung Länderbeamte<br />
aufgenommen werden sollten. Inzwischen<br />
gibt es Länderbeamte in der Ständigen Vertretung<br />
zusätzlich zur Einrichtung des Länderbeobachters.<br />
H. D.-K.<br />
Länderbüros �Informationsbüros der deutschen<br />
Bundesländer in Brüssel<br />
Ländliche Entwicklung / Entwicklung des ländlichen<br />
Raums �Gemeinsame Agrarpolitik, �Regionalpolitik,<br />
�Fonds der EU<br />
Landwirtschaft in der EU �Gemeinsame Agrarpolitik<br />
Lateinamerikapolitik<br />
1. Einleitung. Zahlreiche bilaterale Beziehungen<br />
existierten schon seit langem zwischen <strong>Europa</strong> und<br />
Lateinamerika, bevor die EU in den 1960er Jahren<br />
als Akteur die Bühne der internationalen Politik betrat<br />
und eine gezielte europäische Lateinamerikapolitik<br />
begann (im Folgenden wird immer von der Europäischen<br />
Union gesprochen, auch wenn der Vorläufer<br />
EWG bzw. EG der tatsächliche Akteur war).<br />
Dabei muss bedacht werden, dass <strong>Europa</strong> bis heute<br />
nicht als einheitlicher Akteur auftritt, sondern vielfach<br />
parallel zur EU die Einzelstaaten ihre bilateralen<br />
Politiken verfolgen. Stärker noch ist die Zersplitterung<br />
auf Seiten Lateinamerikas, wo es neben Ver-<br />
L<br />
Lateinamerikapolitik<br />
suchen der gesamtregionalen Kooperation mehrere<br />
subregionale Integrationsversuche gibt und selbstverständlich<br />
daneben die Einzelstaaten. 25 europäische<br />
Staaten, 33 lateinamerikanische und karibische<br />
Länder, die supranationalen Akteure Europäische<br />
Kommission und Europäisches Parlament sowie<br />
eineVielzahltransnationalerAkteure(Unternehmer,<br />
Kirchen, Gewerkschaften, Universitäten, Nichtregierungsorganisationen<br />
und andere) schaffen ein komplexes<br />
Beziehungsgeflecht, das aber einer kohärenten,<br />
verbindenden Strategie ermangelt.<br />
Die Beziehungen zwischen beiden Regionen haben<br />
sich dennoch seit den 1960er Jahren kontinuierlich<br />
fortentwickelt.DieEUistheutederwichtigsteGeber<br />
von Entwicklungshilfe für Lateinamerika, wichtiger<br />
ausländischer Investor und zweitwichtigster Handelspartner.<br />
Die wirtschaftliche Bedeutung Lateinamerikas<br />
für <strong>Europa</strong> ist dagegen eher gering. Allein<br />
der Handel mit der Schweiz übersteigt das gesamte<br />
Handelsvolumen der EU mit Lateinamerika. Das Interesse<br />
<strong>Europa</strong>s an Lateinamerika ist daher nicht primär<br />
ökonomischer Natur.<br />
Auf lateinamerikanischer Seite haben die seit 1979<br />
stattfindendenpolitischenundökonomischenTransformationsprozesse<br />
zu einer stärkeren Hinwendung<br />
des Subkontinents zu Demokratie und marktwirtschaftlichen<br />
Prinzipien geführt. Damit entstand eine<br />
Werte- und Interessengemeinschaft mit <strong>Europa</strong>, die<br />
auf vielfältige Traditionslinien zurückgreifen konnte.<br />
Eine wesentliche verbindende Klammer ist die<br />
Tatsache, dass Lateinamerika die „europäischste“<br />
unter allen Entwicklungsregionen ist. Die spanisch-portugiesische<br />
Kolonialzeit und europäische<br />
Einwanderung haben kulturell den Subkontinent europäisch<br />
geprägt, die meisten Lateinamerikaner sind<br />
europäischer Abstammung, sprechen europäische<br />
Sprachen (v. a. spanisch und portugiesisch) und sind<br />
katholisch. Die Beziehungen zwischen <strong>Europa</strong> und<br />
Lateinamerika sind die einer „special relationship“.<br />
Sie finden auf biregionaler Ebene statt (EU–Lateinamerika),<br />
auf subregionaler Ebene (Mercosur, Andengemeinschaft,<br />
Zentralamerika) und mit Einzelstaaten<br />
(Mexiko und Chile).<br />
2. Historische Entwicklung. Die Beziehungen zwi-<br />
491
Lateinamerikapolitik<br />
schen <strong>Europa</strong> und Lateinamerika begannen 1492.<br />
Die über dreihundertjährige spanisch-portugiesische<br />
Kolonialzeit sorgte für die bereits erwähnte<br />
EuropäisierungLateinamerikasunddieZurückdrängung<br />
der indianischen Urbevölkerung. Auch nach<br />
der Unabhängigkeit blieb der Subkontinent unter europäischem<br />
Einfluss und war im 19. Jahrhundert Bestandteil<br />
des britischen „Informal Empire“. Daneben<br />
waren Deutschland und Frankreich bedeutende<br />
Wirtschaftsmächte, Italien Hauptherkunftsland vieler<br />
Einwanderer, v. a. des �Cono Sur. Erst im 20. Jh.<br />
verlor <strong>Europa</strong> im Kontext beider Weltkriege die vorherrschende<br />
Stellung. Neue Hegemonialmacht wurde<br />
die USA. Dabei ist allerdings ein starkes<br />
Nord-Süd-Gefälle zu konstatieren. Während spätestens<br />
mit der Eröffnung des Panama-Kanals 1914 die<br />
Karibik faktisch zum „mare nostrum“ der USA wurde<br />
und Mittelamerika damit zum „Hinterhof“ der<br />
Vereinigten Staaten, blieb der Cono Sur stärker <strong>Europa</strong><br />
verbunden, auch im ökonomischen Bereich.<br />
Ein „Meilenstein“ europäisch-lateinamerikanischer<br />
Beziehungen stellte der 1984 begonnene San José-<br />
Dialog dar. Die EU griff die Initiative der Contadora-Gruppe<br />
(zunächst Kolumbien, Mexiko, Venezuela,Panama,späternochArgentinien,Brasilien,Peru,<br />
Uruguay) zur Befriedung Zentralamerikas auf und<br />
initiierte die Außenministerkonferenzen von San<br />
José. Respekt erwarb <strong>Europa</strong> in Lateinamerika vor<br />
allem aufgrund der Tatsache, dass es aus europäischer<br />
Perspektive nicht um eigene machtpolitische<br />
Interessen, sondern um grundsätzliche Vorstellungen<br />
von Völkerrecht, Frieden, Gerechtigkeit, Demokratie<br />
und sozialer Ordnung ging und sich die EU dabei<br />
sogar gegen die USA stellte.<br />
Auf lateinamerikanischer Seite erwuchs daraus die<br />
Rio-Gruppe, ein informelles Forum der politischen<br />
Koordination, dem mittlerweile fast alle Staaten des<br />
Subkontinents angehören. 1990 begannen jährliche<br />
Außenministerkonferenzen der EU und der Rio-<br />
Gruppe, die 1999 zum ersten europäisch-lateinamerikanischen<br />
Gipfeltreffen in Rio de Janeiro führten.<br />
2002 folgte ein zweites Gipfeltreffen in Madrid,<br />
2004 das dritte in Guadalajara, das vierte Treffen ist<br />
für 2006 in Wien geplant.<br />
Parallel zu diesen politischen Dialogforen intensivierte<br />
sich die ökonomische Zusammenarbeit. Verschiedene<br />
Abkommen wurden mit der Andengemeinschaft<br />
und Zentralamerika geschlossen, 1993<br />
gab es die ersten Freihandelsangebote der EU gegen-<br />
492<br />
über Chile, Mexiko und dem Mercosur. Im Jahr 2000<br />
trat ein Freihandelsabkommen mit Mexiko, 2002 mit<br />
Chile in Kraft, die Verhandlungen mit dem Mercosur<br />
dauern noch an.<br />
3. Politische Ebene. Auf politischer Ebene unterhält<br />
die EU, anknüpfend an den Ausgangspunkt des San<br />
José-Dialogs, verschiedene Dialogforen. Spezielle<br />
Dialoge werden mit den karibischen Staaten, die in<br />
den �Lomé- bzw. �Cotonou-Vertrag eingebunden<br />
sind, geführt, mit Zentralamerika, der Andengemeinschaft,<br />
Mexiko, Chile und dem Mercosur. Während<br />
bei diesen speziellen Dialogen wirtschaftliche<br />
Fragen im Vordergrund stehen, sind die regelmäßig<br />
stattfindendeneuropäisch-lateinamerikanischenGipfelderStaats-undRegierungschefsdaszentralebiregionale<br />
Dialogforum auf politischer Ebene.<br />
Der erste Gipfel fand am 28./29. 6. 1999 in Rio de Janeiro<br />
statt und galt als europäische Reaktion auf die<br />
beiden panamerikanischen Gipfel (Miami 1994 und<br />
Santiago de Chile 1998), die eine Freihandelszone<br />
für ganz Amerika initiieren sollten. 13 Staats- und<br />
Regierungschefs aus <strong>Europa</strong> trafen auf 33 Kollegen<br />
ausLateinamerikaundderKaribik.(Esfehltenlediglich<br />
Großbritannien und Irland wegen gleichzeitig<br />
stattfindender Nordirland-Gespräche sowie Jamaika<br />
und Guatemala.) Ergebnis des Gipfeltreffens war die<br />
Erklärung einer „strategischen Partnerschaft“ zwischen<br />
der EU und Lateinamerika. „Auf der Grundlage<br />
des tiefen kulturellen Erbes, das uns eint“, sollten<br />
die Beziehungen in den Bereichen politischer Dialog,<br />
Wirtschafts- und Handelsbeziehungen und<br />
Kultur ausgebaut werden (Rio-Abschlussdeklaration<br />
1999). Die zehnseitige Abschlusserklärung<br />
führte69Unterpunkteauf,derenUmsetzungzueiner<br />
Vertiefung der biregionalen Beziehungen führen<br />
sollten. Das Dokument enthielt sehr allgemein gehaltene<br />
Absichtserklärungen zur Wirtschaft, Kriminalität,<br />
Demokratie, Umwelt und zu Menschenrechten.<br />
Kritiker stuften deshalb den Gipfel als vage und<br />
nichtssagend ein. Im Wesentlichen, so muss Kritikern<br />
entgegnet werden, war der Rio-Gipfel ein symbolischer<br />
Akt, dessen Bedeutung in dieser Hinsicht<br />
nicht zu unterschätzen ist. Die Funktion von GipfeldiplomatieliegtnichtinderVermittlungneuerInhalte,<br />
sondern dient vor allem politischen Demonstrationseffekten.<br />
So blieb denn auch der zweite Gipfel am 17./18. 5.<br />
2002 in Madrid die Konkretisierung der anvisierten<br />
strategischen Partnerschaft schuldig. Zwar wurde
das Treffen von der EU auch genutzt, um separat mit<br />
den subregionalen und einzelstaatlichen Partnern zu<br />
sprechen. Hier konnte als herausragendes Ergebnis<br />
die Unterzeichnung eines umfassenden Assoziierungsabkommens<br />
mit Chile präsentiert werden.<br />
Aberinsgesamtwurden,unterdemEindruckderTerroranschläge<br />
des 11. 9. 2001 in den USA, eher allgemeine<br />
politische Fragen der Weltpolitik diskutiert.<br />
Dabei wurde kaum ein Thema ausgelassen und folgerichtig<br />
standen globale Fragen wie die Stärkung<br />
des Multilateralismus, Drogen- und Terrorismusbekämpfung<br />
im Mittelpunkt der Abschlusserklärung.<br />
Das dritte Gipfeltreffen am 28. 5. 2004 in Guadalajara,<br />
Mexiko, verlief ähnlich unspektakulär. Das Abschlussdokument<br />
umfasste mit 104 Unterpunkten<br />
eine umfassende, aber ebenfalls sehr allgemein gehaltene<br />
Bestandsaufnahme und zukünftige Bezugspunkte<br />
gemeinsamer europäisch-lateinamerikanischer<br />
Positionen. Zwei zentrale Themen bestimmten<br />
den Gipfel: soziale Kohäsion und Multilateralismus.<br />
Das Thema sozialer Kohäsion sprach ein KernproblemderlateinamerikanischenStaatenan,dieArmut<br />
weiter Teile der Bevölkerung. 2003 lebten 44,3 Prozent<br />
der Lateinamerikaner unterhalb der Armutsgrenze,<br />
2004 42,9 Prozent, mehr als noch 25 Jahr zuvor.<br />
Zum einen spielt die EU als größter Entwicklungshilfegeber<br />
eine besondere Rolle bei dieser Thematik,<br />
zum anderen ist die Verarmung Teil einer lateinamerikanischen<br />
Wirtschaftspolitik, die sich lange<br />
Jahre an dem nordamerikanischen Vorbild des<br />
Washington Konsenses orientierte und nach dieser<br />
verheerenden sozialen Bilanz nach ordnungspolitischen<br />
Alternativen sucht, die <strong>Europa</strong> anscheinend zu<br />
bieten hat. Sowohl bei diesem als auch dem anderen<br />
wichtigen Thema des Gipfels zeigte sich eine Verstärkung<br />
der gemeinsamen Werte- und Interessengemeinschaft<br />
zwischen der EU und Lateinamerika, die<br />
sich als Fortschritte auf dem Weg zu einer strategischen<br />
Partnerschaft deuten lassen. Das andere Thema<br />
war der Multilateralismus in der internationalen<br />
Politik. Hier zeigten sich offen gemeinsame Werte<br />
und Interessen. Beide Seiten formulierten gemeinsame<br />
Interessen in Bezug auf die Bedeutung der Vereinten<br />
Nationen, des Internationalen Strafgerichtshofs,<br />
des Kyoto-Klimaschutzprotokolls, der Internationalen<br />
Konvention gegen Antipersonenminen sowie<br />
hinsichtlich der eindeutigen Verurteilung von<br />
Folter, die sich indirekt ganz klar gegen US-ame-<br />
Lateinamerikapolitik<br />
rikanische Positionen und Handlungen im Irak und<br />
Guantánamo abgrenzten.<br />
Einen besonderen symbolischen Wert hatte der Gipfel<br />
von Guadalajara im Übrigen auch allein aufgrund<br />
derTatsache,dasszumerstenMaldieneue,erweiterte<br />
EU auf internationalem Parkett auftrat.<br />
4. Wirtschaftliche Ebene. Die wirtschaftlichen Beziehungen<br />
zwischen Lateinamerika und der EU sind,<br />
wie bereits erwähnt, von einer starken Asymmetrie<br />
geprägt. Diese wirkt doppelt, zum einen zwischen<br />
denRegionen,zumandereninnerhalbderRegionen.<br />
LateinamerikaistinsgesamtfürdieEUeinrelativunbedeutender<br />
Partner. Der Anteil an den Im- und Exporten<br />
beträgt etwa drei bis vier Prozent (2003: 4,6<br />
Prozent; �Außenhandelspolitik). Die europäischen<br />
Länder mit den stärksten Wirtschaftsinteressen sind<br />
Spanien, Deutschland und Frankreich, wobei Spanien,<br />
vor allem auch als Investor, eine herausragende<br />
Stellung hat.<br />
Umgekehrt hat die EU einen Anteil von rund 10 Prozent(2003:13Prozent)amAußenhandelLateinamerikas,<br />
der insgesamt von Nordamerika dominiert<br />
wird. Die USA und Kanada wickeln mehr als 50 Prozent<br />
(2003: 52 Prozent) der lateinamerikanischen<br />
Im- und Exporte ab. Dabei ist ein klares Nord-Süd-<br />
Gefälle innerhalb des lateinamerikanischen Kontinents<br />
zu konstatieren. Das nördliche Lateinamerika<br />
hängt von der US-Wirtschaft ab. Während die Vereinigten<br />
Staaten auch für Zentralamerika (Außenhandel<br />
2002 mit USA und Kanada 41,8 Prozent, mit der<br />
EU 10,4 Prozent) und die Andengemeinschaft der<br />
wichtigste Handelspartner sind (Anteil am Außenhandel<br />
2003: USA und Kanada 40,4 Prozent, EU 13<br />
Prozent), dominiert die EU im südlichen Lateinamerika.<br />
Im Mercosur ist die EU mit Investitionen in<br />
Höhe von 137 Mrd. US-Dollar im Jahr 2003 wichtigster<br />
Investor (gegenüber 83 Mrd. US-Dollar aus<br />
den USA) sowie wichtigster Handelspartner mit einem<br />
Anteil am Außenhandel von 23,5 Prozent (gegenüber<br />
20,1 Prozent Anteil der USA und Kanada<br />
2003). Chile wickelte 2003 mit der EU 22,2 Prozent,<br />
mit den Vereinigten Staaten und Kanada 18,1 Prozent<br />
des Außenhandels ab.<br />
Die wirtschaftliche Hegemonie der USA wird durch<br />
mehrereFreihandelsabkommenverstärkt.1994wurde<br />
die Nordamerikanische Freihandelszone NAFTA<br />
(North American Free Trade Agreement: Kanada,<br />
USA, Mexiko) abgeschlossen, im selben Jahr eine<br />
gesamtamerikanische Freihandelszone von Alaska<br />
493
Lateinamerikapolitik<br />
bis Feuerland offiziell vorgeschlagen, die für 2005<br />
vorgesehen war, sich aber bis dato im Verhandlungsstadium<br />
befindet, 2004 kamen Abkommen mit Chile<br />
und Zentralamerika zustande. Um der Expansion der<br />
US-Ökonomie entgegen zu halten, initiierte auch die<br />
EU verschiedene Abkommen, die aber nicht nur<br />
Freihandel, sondern auch politischen Dialog sowie<br />
Menschenrechts- und soziale Fragen erfassten.<br />
2000 wurde ein Freihandelsabkommen mit Mexiko<br />
geschlossen, das 95 Prozent des Warenverkehrs erfasste<br />
und für 2007 die vollständige Zollfreiheit für<br />
alle Waren vorsieht. Mit Chile wurde 2002 der weitreichendste<br />
Assoziationsvertrag unterzeichnet, den<br />
die EU je vereinbart hat. Kernbestandteil des �Assoziationsabkommens<br />
ist die Errichtung einer Freihandelszone<br />
EU-Chile innerhalb von 10 Jahren nach Inkrafttreten<br />
des Abkommens. Seit 2003 sind bereits<br />
85 Prozent aller chilenischen Exporte in die EU zollfrei.<br />
Die Andengemeinschaft und Zentralamerika<br />
sind durch �Kooperationsabkommen erfasst. Seit<br />
1999 verhandelt die EU mit dem Mercosur über einen<br />
Assoziationsvertrag, der auch eine Freihandelszone<br />
umfassen soll. Bereits 1993 hatte die EU Freihandelsabkommen<br />
mit Mexiko, Chile und dem Mercosur<br />
angeregt. Die Tatsache, dass noch immer ohne<br />
konkretes Ergebnis mit dem Mercosur verhandelt<br />
wird, dagegen mit Mexiko und Chile abgeschlossen<br />
wurde, ist auf den ersten Blick paradox, ist doch der<br />
Mercosur der wichtigste EU-Partner in Lateinamerika.<br />
Allerdings gibt es große Probleme im sensiblen<br />
Agrarbereich, der fast 50 Prozent der Mercosur-<br />
Exporte nach <strong>Europa</strong> ausmacht.<br />
5. Ausblick. Fünf Faktoren dürften für das künftige<br />
Verhältnis eine Rolle spielen:<br />
– Wichtig wird sein, wie sich Lateinamerika, nachdemsichdemokratischeRegimetrotzallerProbleme<br />
etabliert haben, ökonomisch entwickelt. Die Überwindung<br />
der Argentinienkrise, die auch zu einer Belebung<br />
des Mercosur geführt hat, bietet Anlass zur<br />
Hoffnung, ebenso die am 8. Dezember 2004 im peruanischen<br />
Cuzco beschlossene südamerikanische<br />
Staatengemeinschaft, die den Mercosur mit der Andengemeinschaft<br />
zusammenführen soll. Interessant<br />
wird auch sein, welche Rolle die asiatischen Ökonomien<br />
in Lateinamerika spielen werden. Der Beginn<br />
von Verhandlungen zwischen Chile und China über<br />
ein Freihandelsabkommen ist in diesem Zusammenhang<br />
besonders erwähnenswert. Der ökonomische<br />
Aufschwung Lateinamerikas in den letzten beiden<br />
494<br />
Jahren ist wesentlich auf die asiatische, vor allem<br />
chinesische, Nachfrage nach Rohstoffen zurückzuführen.<br />
Dass eine rohstoffbasierte Weltmarktintegration<br />
in der Regel nicht zu einem nachhaltigen,<br />
selbsttragenden Wirtschaftswachstum führt, sollte<br />
allerdings als Warnsignal angesehen werden.<br />
– Ebenfalls bleibt abzuwarten, wie sich die EU-Osterweiterung<br />
auf die europäisch-lateinamerikanischen<br />
Beziehungen auswirken wird. Einerseits gibt<br />
es Befürchtungen, dass sich der europäische HandelsaustauschnochstärkerinnerhalbderEUkonzentriert.<br />
Die osteuropäischen Länder gelten auch als direkte<br />
Konkurrenten um Direktinvestitionen. Andererseits<br />
liegt in der EU-Osterweiterung auch eine<br />
Chance, wickelten die zehn neuen Mitgliedsländer<br />
2002 doch lediglich 1 Prozent ihres Außenhandels<br />
mit Lateinamerika ab.<br />
– Im Kontext der Erweiterung ist möglicherweise<br />
der Umstand problematisch, dass Spanien mehr und<br />
mehr als zentraler Brückenkopf zwischen Lateinamerika<br />
und <strong>Europa</strong> fungiert. Die seit 1991 stattfindenden<br />
iberoamerikanischen Gipfeltreffen, eine<br />
Konzentration spanischer Entwicklungshilfe sowie<br />
ein verstärktes Engagement im Rahmen von Direktinvestitionen<br />
führen zu einer Verstärkung der spanisch-lateinamerikanischen<br />
Beziehungen, allerdings<br />
auf Kosten anderer europäischer Länder, vor<br />
allem Deutschlands.<br />
– Die europäisch-lateinamerikanischen Beziehungen<br />
stehen im Schatten des regionalen Hegemons,<br />
der Vereinigten Staaten von Amerika. Die EU-Lateinamerikapolitik<br />
kann nicht als KonkurrenzunternehmenzudenUSAgesehenwerden.Faktischfindet<br />
eine immer stärker werdende Dominanz der Vereinigten<br />
Staaten statt, vor allem im ökonomischen Bereich.<br />
Das Bestreben der USA, eine hemisphärische<br />
Freihandelszone zu errichten, ist Ausdruck dieser<br />
Dominanz. Bestenfalls kann eine doppelte informelle<br />
Arbeitsteilung konstatiert werden: zum einen ist<br />
<strong>Europa</strong> eher zuständig für politischen Dialog und<br />
Entwicklungshilfe,dieUSAdagegensindderbedeutendste<br />
Handelspartner, zum anderen ist die USamerikanische<br />
Dominanz überragend im nördlichen<br />
Lateinamerika, während der Mercosur noch immer<br />
eine europäische Domäne ist. Es mehren sich Stimmen,<br />
die von einer zukünftigen transatlantischen trilateralen<br />
Partnerschaft sprechen.<br />
– Eine „special relationship“ lässt sich derzeit auf<br />
dem internationalen Parkett feststellen. Die gemein-
samen Vorstellungen in Bezug auf Multilateralismus,<br />
Völkerrecht und die Bedeutung Internationaler<br />
Organisationen wie der UNO sind keine schlechte<br />
Grundlage für ein strategisches Bündnis.<br />
Die europäisch-lateinamerikanischen Beziehungen<br />
sindinsgesamtdurcheindichtesBeziehungsgeflecht<br />
politischer wie ökonomischer Art gekennzeichnet.<br />
Die kulturelle Nähe lässt dieses enge Beziehungsgeflechtzueiner„specialrelationship“werden,diesich<br />
allerdings eher in „weicher“ Sympathie und Verbundenheit<br />
als „harter“ Kooperation ausdrückt. Beispiel<br />
hierfür sind die biregionalen Gipfeltreffen. Die „harte“<br />
Kooperation zeichnet sich dagegen durch eine<br />
„variable Geometrie“ aus. An erster Stelle stehen dabei<br />
die ökonomisch interessanten Länder wie Mexiko<br />
und Chile sowie, allerdings mit den erwähnten<br />
spezifischen Problemen, der Mercosur, an zweiter<br />
Stelle die Andenländer und Zentralamerika, die,<br />
ökonomisch weniger interessant, eher über Entwicklungshilfeleistungen<br />
und politischen Dialog mit der<br />
EU verbunden sind, sowie die karibischen Staaten<br />
mit dem Sonderstatus durch die Lomé- bzw. Cotonou-Abkommen.<br />
Doch trotz dieses engen Beziehungsgeflechts nimmt<br />
Lateinamerika auf der EU-Agenda keinen vorderen<br />
Rang ein, Nordamerika, Osteuropa, Russland und<br />
der Balkan, aber auch die Mittelmeeranrainer genießenVorrang.<br />
W. Mu.<br />
Literatur:<br />
Bodemer, K.: Auftakt zu einer strategischen Partnerschaft? Der<br />
erste Europäisch-Lateinamerikanische Gipfel in Rio de<br />
Janeiro. Brennpunkt Lateinamerika 14/1999, Hamburg 1999<br />
Ders.: Auf dem Weg zu einer strategischen Partnerschaft? –<br />
Die europäisch-lateinamerikanischen Beziehungen an der<br />
Wende zum 21. Jahrhundert. In: Zippel, W. (Hg.), Die<br />
Beziehungen zwischen der EU und den Mercosur-Staaten.<br />
Baden-Baden 2001/2002, 99 – 123<br />
Gratius, S:/Risi, M.: Das zweite europäisch-lateinamerikanische<br />
Gipfeltreffen in Madrid: Mucho ruido, pocas nueces?<br />
Brennpunkt Lateinamerika 10/2002: Hamburg 2002<br />
Gratius, S.: <strong>Europa</strong> und Lateinamerika: zwischen Rückzug und<br />
Annäherung. Ergebnisse des Gipfeltreffens in Mexiko:<br />
SWP-Aktuell 26/Juni 2004, Berlin 2004<br />
Gratius, S.: Spielt <strong>Europa</strong> in Lateinamerika noch eine Rolle?<br />
In: Aus Politik und Zeitgeschichte B38 – 39/2003, 38 – 46<br />
Hoffmann, K.-D.: Die EU und Lateinamerika: Chancen und<br />
Grenzen einer special relationship. In: Schubert, K./Brandeck-Müller-Bocquet,<br />
G. (Hg.): Die Europäische Union als<br />
Akteur der Weltpolitik. Opladen 2000, 187–204<br />
Maihold, G.: Die südamerikanische Staatengemeinschaft. Ein<br />
neuer Partner für die EU in Lateinamerika? SWP-Aktuell 60,<br />
Berlin 2004<br />
Mols, M.: Großbritannien und Lateinamerika: Vom „informellen<br />
Empire“ zu einer europäisch-lateinamerikanischen<br />
Normalbeziehung. Mainz 1997<br />
Pohl, Th.: Die Verhandlungen zwischen der Europäischen<br />
Union und dem Mercosur: ein langer, steiniger Weg.<br />
Brennpunkt Lateinamerika 24/2004<br />
Sangmeister, H.: Gute Aussichten für die gesamtwirtschaftliche<br />
Entwicklung in Lateinamerika 2005. Brennpunkt Lateinamerika<br />
1/2005, Hamburg 2005<br />
Internet:<br />
Madrid-Abschlussdeklaration 2002:<br />
http://europa.eu.int/ comm/world/lac/conc_en/decl.htm<br />
Rio-Abschlussdeklaration 1999: http://europa.eu.int/comm/external_relations/andean/doc/rio_sum06_99.htm<br />
LEADER �Regionalpolitik<br />
Lebensmittelrecht<br />
Lebenslanges Lernen �Erwachsenenbildung<br />
Lebensmittelbehörde �Europäische Behörde für<br />
Lebensmittelsicherheit (EFSA), �Lebensmittelrecht<br />
Lebensmittelrecht. Um ein hohes Gesundheitsschutzniveau<br />
gewährleisten zu können, haben die<br />
Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten der Lebensmittelsicherheit<br />
auf der europäischen politischen<br />
Agenda höchste Priorität eingeräumt. Die Lebensmittelsicherheit<br />
darf keineswegs isoliert betrachtet<br />
werden, sondern stellt eine Querschnittsaufgabe<br />
dar, der bei der Umsetzung der gesamten Gemeinschaftspolitik<br />
Rechnung zu tragen ist. Mehrere<br />
Zuständigkeitsbereiche der Europäischen Union<br />
sind jedoch direkter betroffen. Es handelt sich um die<br />
�Gemeinsame Agrarpolitik (GAP), die Verwirklichung<br />
des Binnenmarktes, den Schutz der Verbraucher,<br />
die öffentliche Gesundheit sowie die Maßnahmen<br />
zum Schutz der Umwelt.<br />
1.Genese:DieursprünglichzurBekämpfungderLebensmittelknappheit<br />
in der Nachkriegszeit konzipierteGAPdienteinersterLiniedemZiel,dieSelbstversorgung<br />
der Gemeinschaftsbürger mit Lebensmitteln<br />
sicherzustellen. In den 1970er Jahren wurde<br />
bei den meisten landwirtschaftlichen Erzeugnissen<br />
das Ziel der Selbstversorgung nicht nur erreicht, sondern<br />
sogar übertroffen. Landwirtschaft und Lebensmittelindustrie,<br />
die zunächst nur auf Produktion ausgerichtetwaren,musstensichzunehmendaufdieBefriedigung<br />
der Sicherheits- und Qualitätsansprüche<br />
der Verbraucher einstellen. Die im Vertrag von Rom<br />
noch nicht vorgesehene Verbraucherpolitik entwickelte<br />
sich in dieser Zeit und wurde 1972 vom Europäischen<br />
Rat in Paris anerkannt. Mit der �Einheitlichen<br />
Europäischen Akte konnte der Verbraucherbegriff<br />
in den Vertrag aufgenommen werden. Seitdem<br />
495
Lebensmittelrecht<br />
kann die Kommission Maßnahmen zum Schutz der<br />
Verbraucher vorschlagen, wobei sie von einem „hohen<br />
Schutzniveau“ als politische Basis ausgeht. Im<br />
Laufeder1990erJahreführtenKrisenimLebensmittelsektor–wiez.B.derBSE-Skandal–zueinerWende<br />
in der Politik des �Verbraucherschutzes und der<br />
Lebensmittelsicherheit. Sie ließen die Grenzen des<br />
Gemeinschaftsrechts deutlich werden, was eine<br />
energische Reaktion der staatlichen Stellen hervorrief.<br />
Der Erlass sektorspezifischer Richtlinien hatte<br />
indeneinzelnenMitgliedstaatenzuUnterschiedenin<br />
der Auslegung und Anwendung geführt. Mitunter<br />
gab es sogar Regelungslücken.<br />
Mit Blick auf eine grundlegende Neufassung der<br />
Rechtsvorschriften veröffentlichte die Europäische<br />
KommissionimJahre1997dasGrünbuchüberallgemeine<br />
Grundsätze des Lebensmittelrechts in der Europäischen<br />
Union, das als Grundlage einer umfassendenDiskussionüberdasgeltendeRechtundmögliche<br />
Verbesserungen diente (KOM 1997/176<br />
endg.). Die mit dem Grünbuch eingeleitete öffentliche<br />
Debatte hat im Januar 2000 zur Veröffentlichung<br />
des Weißbuchs zur Lebensmittelsicherheit geführt<br />
(KOM 1999/719 endg.). Dieses stellt einen weiteren<br />
Schritt in die Richtung einer vollständigen Neufassung<br />
der einschlägigen Rechtsvorschriften dar. Die<br />
Kommission kündigte darin die Ausarbeitung eines<br />
rechtlichen Rahmens an, der mit einem globalen und<br />
integrierten Konzept die gesamte Lebensmittelkette<br />
– „vom Erzeuger bis zum Verbraucher“ – erfassen<br />
soll. Vorgesehen war auch die Schaffung einer �Europäischen<br />
Behörde für Lebensmittelsicherheit. Im<br />
Weißbuch wird ferner darauf hingewiesen, dass ein<br />
echtes einheitliches Vorgehen in der gesamten Gemeinschaftvoraussetzt,dassdieHarmonisierungder<br />
nationalen Kontrollsysteme weiter vorangetrieben<br />
und diese angesichts der nächsten Erweiterung bis zu<br />
den Außengrenzen der Union ausgedehnt werden.<br />
AußerdemwirdzurWiederherstellungdesgegenseitigen<br />
Vertrauens zwischen beiden Seiten die Aufnahme<br />
eines permanenten Dialogs zwischen den<br />
Verbrauchern und den einschlägigen Fachkreisen<br />
befürwortet. Schließlich wird im Weißbuch die Notwendigkeit<br />
unterstrichen, den Bürgern klare und eindeutige<br />
Informationen über die Qualität, etwaige Risiken<br />
und die Zusammensetzung von Lebensmitteln<br />
an die Hand zu geben.<br />
2. Rechtsgrundlagen: Das Lebensmittelrecht der<br />
Gemeinschaft basiert im Wesentlichen auf vier Arti-<br />
496<br />
keln des Vertrages zur Gründung der Europäischen<br />
Gemeinschaft:<br />
– Stehen landwirtschaftliche Aspekte im Vordergrund,<br />
so ist Art. 37 (Titel „Landwirtschaft“) anwendbar.Dieserbestimmtinsbes.,dassdieKommission<br />
Vorschläge für Verordnungen, Richtlinien oder<br />
Entscheidungen vorlegt, die sich auf die Ausgestaltung<br />
und Durchführung der GAP beziehen.<br />
– Artikel 152 bildet den Titel XIII „Gesundheitswesen“<br />
des EG-Vertrags. Er bezweckt die Sicherstellung<br />
eines hohen Gesundheitsschutzniveaus bei der<br />
Festlegung und Durchführung aller Gemeinschaftspolitiken<br />
und -maßnahmen. Abweichend von Art. 37<br />
stützt sich der Rat auf diesen Artikel, wenn er Maßnahmen<br />
im Veterinär- und Pflanzenschutzbereich<br />
erlässt, die unmittelbar auf den Schutz der öffentlichen<br />
Gesundheit abzielen.<br />
– Artikel 95 enthält die zur Verwirklichung des Binnenmarkts<br />
erforderlichen Bestimmungen und trägt<br />
dem vordringlichen Ziel Rechnung, in den Bereichen<br />
öffentliche Gesundheit und Umwelt ein hohes<br />
Schutzniveau zu gewährleisten.<br />
– Titel XIV („Verbraucherschutz“) mit Art. 153 zielt<br />
daraufab,einhohesVerbraucherschutzniveauzugewährleisten.<br />
In diesem Artikel sind drei grundlegende<br />
Prinzipien der Verbraucherpolitik verankert: das<br />
Recht auf Schutz der Gesundheit, der Sicherheit und<br />
der wirtschaftlichen Interessen der Verbraucher. Die<br />
Gemeinschaft leistet ferner einen Beitrag zur Förderung<br />
ihres Rechtes auf Information, Erziehung und<br />
BildungvonVereinigungenzurWahrungihrerInteressen.<br />
Den Erfordernissen des Verbraucherschutzes<br />
wird außerdem bei der Festlegung und Durchführung<br />
der anderen Gemeinschaftspolitiken und -maßnahmen<br />
Rechnung getragen.<br />
3. Mit der Lebensmittelsicherheitspolitik werden die<br />
folgenden allgemeinen Ziele verfolgt:<br />
– Gewährleistung eines hohen Niveaus beim Schutz<br />
der Gesundheit von Mensch und Tier durch mehr<br />
Kontrollen, die die gesamte Lebensmittelherstellungskette<br />
erfassen.<br />
– Die Qualität in den Vordergrund stellen. Bei dem<br />
untrennbarmitderLebensmittelsicherheitverknüpften<br />
Begriff der Qualität sind zwei Stufen zu unterscheiden:<br />
a) die unverzichtbare Qualität betrifft die Sicherheit<br />
unserer Nahrungsmittel und die Mindestanforderungen<br />
an den Schutz der Umwelt und der Tier- und<br />
Pflanzenarten;
) die relative oder subjektiv empfundene Qualität<br />
verleiht jedem Lebensmittel seine besondere Note<br />
durch den Geschmack, das Aussehen, den Geruch,<br />
dieHerstellungsmethodenoderdieArtdesVerzehrs.<br />
– Das Vertrauen der Verbraucher wiederherstellen.<br />
Zur Wiederherstellung dieses Vertrauens wird die<br />
Überwachung und Kontrolle der Sicherheit von Lebensmitteln<br />
durch strengere Verfahren verschärft.<br />
Die Verbraucher müssen somit über klare und präzise<br />
Informationen über alle Aspekte der Lebensmittelsicherheit<br />
verfügen. Kennzeichnungssysteme wie<br />
das Umweltzeichen oder geografische Angaben und<br />
geschützte Ursprungsbezeichnungen sind Initiativen,derenHauptanliegendieSicherungderQualität,<br />
der Verbraucherschutz und der Schutz traditioneller<br />
Erzeugnisse ist.<br />
4. Lebensmittel und Gemeinsamer Markt:<br />
Strategien der Kommission<br />
4.1 Harmonisierungsstrategie: Seit ihrer Gründung<br />
bemüht sich die EG um den Abbau von Handelshemmnissen<br />
(�Binnenmarkt), die u. a. durch lebensmittelrechtliche<br />
Bestimmungen in den Mitgliedstaaten<br />
entstanden sind (insbes. unterschiedliche Herstellungs-,<br />
Verpackungs-, Kennzeichnungs- und<br />
Qualitätsvorschriften). Die Kommission war bestrebt,<br />
den Lebensmittelmarkt zu liberalisieren und<br />
die nationalen Märkte zu öffnen. Das europäische<br />
Lebensmittelrecht sollte zunächst die nationale Gesetzgebung<br />
in der Form vereinheitlichen, dass für jedes<br />
auf nationalen Vorschriften beruhende Handelshemmnis<br />
eine entsprechende gemeinschaftliche Regelung<br />
gefunden werden sollte.<br />
Das Harmonisierungsprogramm der EG von 1969<br />
folgte dieser Vorgabe und listete über 50 Teilbereiche<br />
des Lebensmittelrechts auf, die harmonisiert<br />
werden sollten. Die Kommission entwickelte horizontale<br />
Rechtsmaßnahmen (z. B. Vorschriften über<br />
Kennzeichnung oder Zusatzstoffe) und vertikale<br />
Rechtsmaßnahmen (z. B. Anforderungen für Fruchtsäfte,<br />
Marmelade und Mineralwasser), die in die nationale<br />
Gesetzgebung umgesetzt wurden. Das Konzept<br />
der absoluten �Harmonisierung stieß jedoch zunehmend<br />
auf Kritik der EG-Staaten; eine Konsensfindung<br />
wurde immer schwieriger (1985 waren lediglich<br />
zwei Fünftel des Programms verwirklicht),<br />
so dass seitens der Kommission über eine Neuorientierung<br />
nachgedacht wurde.<br />
4.2 Strategiewandel (infolge des Prinzips gegenseitiger<br />
Anerkennung): Versuchen von Abschottungen<br />
Lebensmittelrecht<br />
gegen Importe aus anderen EG-Staaten setzte die EG<br />
nun das �Prinzip der gegenseitigen Anerkennung<br />
entgegen, abgeleitet aus dem �Casssis-de-Dijon-<br />
Urteil des EuGH 1979. Produkte, die in einem Mitgliedstaat<br />
der EU rechtmäßig hergestellt und in Verkehr<br />
gebracht worden sind, müssen in allen Ländern<br />
der Union zugelassen werden.<br />
Über dieses Urteil hinaus übte der EuGH mit seiner<br />
Rechtsprechung prägenden Einfluss auf die Entwicklung<br />
des europäischen Lebensmittelrechts aus.<br />
Dem Grundgedanken des EuGH folgend, entwickelte<br />
die Kommission eine neue Strategie, um die Liberalisierung<br />
im Lebensmittelverkehr zu verwirklichen.<br />
Statt Harmonisierung forderte sie jetzt einen<br />
weit gehenden Verzicht auf Harmonisierung. Strategie<br />
der Kommission ist es, vom Ansatz der Rechtsangleichung<br />
wegzukommen und das Gewicht auf gegenseitige<br />
Anerkennung und die Gleichwertigkeit<br />
der nationalen Regeln zu legen. Recht setzende Maßnahmen<br />
von Seiten der EU sollen nur in den Bereichen<br />
getroffen werden, die Fragen des allgemeinen<br />
RechtsbetreffenundeinebesondereRelevanzfürdie<br />
GesundheitundSicherheitderVerbraucher,dieLauterkeit<br />
des Handelsverkehrs und den Umweltschutz<br />
beinhalten.<br />
1985 veröffentlichte die Kommission eine Dokumentation<br />
(an Rat und EP) zum gemeinschaftlichen<br />
Lebensmittelrecht, in der die Grundthesen des neuen<br />
Ansatzes dargelegt werden. Sie legte ferner die Sektoren<br />
dar, die einer gemeinschaftlichen Regelung bedürfen:<br />
– Schutz der öffentlichen Gesundheit (Zusatzstoffregelungen;<br />
Behandlungs- und Herstellungsverfahren<br />
von Lebensmitteln, insbes. Lebensmittelbestrahlung,<br />
Lebensmittelzutaten und Tiefkühlung; Schadstoffe<br />
in Lebensmitteln);<br />
– Bedürfnis der Verbraucher nach Unterrichtung<br />
und deren Schutz in nicht gesundheitlichen Bereichen<br />
(Kennzeichnung und Verkehrsbezeichnung<br />
von Lebensmitteln);<br />
– Sicherstellung eines lauteren Wettbewerbs (gegenseitige<br />
Anerkennung von Gütezeichen; Notifizierung<br />
von Normierungsvorhaben; diätetische Lebensmittel;<br />
biologisch erzeugte Lebensmittel);<br />
– Notwendigkeit der amtlichen Überwachung.<br />
Für alle anderen Bereiche gilt das Prinzip der gegenseitigen<br />
Anerkennung. Grundsätzlich sollen nur horizontale<br />
Regelungen getroffen werden. Rezepturen<br />
sollen nicht durch europäisches Recht festgeschrie-<br />
497
Lebensmittelrecht<br />
benwerden.ÜberallemstehtderGrundsatz,dassLebensmittel<br />
nicht gesundheitsgefährdend sein dürfen.<br />
Der Schutz vor Irreführung und Täuschung des Verbrauchers<br />
wird dadurch gewährleistet, dass Abweichungen<br />
in der Zusammensetzung eines Lebensmittels<br />
ausreichend gekennzeichnet werden. Die Kennzeichnung<br />
ist wichtigstes Hilfsmittel des Verbrauchers<br />
im �Binnenmarkt. Sie wird u. a. auch von der<br />
Kommission bevorzugt, weil sie das geringste Handelshemmnis<br />
darstellt.<br />
5. Vorrangige Tätigkeiten und Ziele: Unter dem Eindruck<br />
von �BSE (Rinderseuche) und der Debatte um<br />
�gentechnisch veränderte Lebensmittel gehört die<br />
Herstellung und das Inverkehrbringen sicherer Lebensmittel<br />
zu den Prioritäten der EU (vgl. Erklärung<br />
des Europäischen Rates in Luxemburg im Dezember<br />
1997).<br />
5.1 Allgemeine Grundsätze des Lebensmittelrechts<br />
a) Ziel ist die Sicherstellung eines hohen Schutzniveaus<br />
für die Gesundheit des Menschen und die Verbraucherinteressen<br />
bei gleichzeitiger Gewährleistung<br />
eines reibungslosen Funktionierens des Binnenmarkts<br />
durch<br />
– Festlegung allgemeiner Grundsätze der Lebensmittelsicherheit<br />
auf einzelstaatlicher und gemeinschaftlicher<br />
Ebene,<br />
– die Einrichtung einer Europäischen Behörde für<br />
Lebensmittelsicherheit,<br />
– die Festlegung von Verfahren zur Gewährleistung<br />
der Lebensmittelsicherheit.<br />
Der freie Verkehr sicherer und gesundheitlich unbedenklicher<br />
Lebensmittel ist ein wesentlicher Grundsatz<br />
eines reibungslos funktionierenden Binnenmarkts.<br />
Allerdings behindern die Unterschiede zwischen<br />
den einzelstaatlichen Lebensmittelgesetzen<br />
zuweilen den freien Verkehr der Lebensmittel. Deshalbisteserforderlich,aufGemeinschaftsebeneeine<br />
gemeinsame Grundlage für die Lebens- und Futtermittelvorschriften<br />
festzulegen.<br />
b) Das allgemeine Lebensmittelrecht erstreckt sich<br />
auf die gesamte Lebensmittelkette mit folgenden<br />
Zielen:<br />
– den Schutz des menschlichen Lebens und der<br />
menschlichen Gesundheit, den Schutz der Verbraucherinteressen<br />
unter Berücksichtigung des Tierschutzes<br />
und der artgerechten Tierhaltung, des<br />
Pflanzenschutzes und des Umweltschutzes,<br />
– die Verwirklichung des freien Verkehrs der Lebens-<br />
und Futtermittel in der Gemeinschaft,<br />
498<br />
Zentrale Regelungen des Lebensmittelrechts<br />
Zusatzstoff-Richtlinie (89/107, ABl. L 40/1989, geändert<br />
durch RL 94/34 und VO 1882/2003): Nach dem<br />
Verbotsprinzip mit Erlaubnisvorbehalt sind alle Zusatzstoffe<br />
im Prinzip verboten, sofern sie nicht in der<br />
Richtlinie als ausdrücklich erlaubt bezeichnet werden.<br />
Kriterien für die Zulassung ist die hinreichende technische<br />
Notwendigkeit, die gesundheitliche Unbedenklichkeit<br />
und die Nicht-Irreführung des Verbrauchers.<br />
Mit der Richtlinie über „Lebensmittelzusatzstoffe außer<br />
Farbstoffe und Süßstoffe“ (95/2, ABl. L 61/1995,<br />
geändert durch 96/85, 98/72, 2001/5) mussten allein<br />
13 000 verschiedene Regeln und Gepflogenheiten der<br />
europäischen Lebensmittelindustrie kompatibel gemacht<br />
werden. Die Richtlinie erlaubt beinahe alle in<br />
der EU gebräuchlichen Lebensmittelzusätze. Die Zusätze<br />
werden von einem ständigen Lebensmittelausschuss<br />
der EU geprüft. (Weitere Richtlinien: 94/35,<br />
ABl. L 237/1994, über Süßungsmittel in Lebensmitteln;<br />
94/36, ABl. L 237/1994, über Farbstoffe in Lebensmitteln.)<br />
Lebensmittelkennzeichnung: 1979 erließ der Rat eine<br />
Kennzeichnungsrichtlinie (79/112, geändert durch RL<br />
2000/13, ABl. L 109/2000 und durch RL 2001/101,<br />
ABl. L 310/2001), um Verbraucher vor Täuschungen<br />
zu schützen. Kennzeichnungsbereiche sind: auf Maßeinheiten<br />
bezogene Preisangaben, die Herstellerund<br />
Handelsmarke, die allgemeine Verkehrsbezeichnung,<br />
die Zutaten nach Gewichtsanteilen und das Mindesthaltbarkeitsdatum.<br />
Umstritten ist die Angabe des<br />
Nährwerts.<br />
Lebensmittelimitate: Im Bereich der Milchprodukte<br />
untersagt eine Verordnung (1898/87, ABl. L 1982/<br />
1987) die Anlehnung von Lebensmittelimitaten an<br />
echte Butter, Käse oder Jogurt; selbst die Abbildung<br />
einer Kuh oder einer Milchkanne auf Imitat-Erzeugnissen<br />
wird nicht geduldet. Im Bereich der Kunstprodukte<br />
verzichtet die EU auf Regelungen.<br />
Kontrolle: Ein weiteres Regelungsfeld der EU ist die<br />
Kontrolle der Lebensmittelrechtsakte. Schwerpunkt<br />
bildet die Richtlinie zur Lebensmittelüberwachung<br />
(89/397, ABl. L 186/1989). Die europäischen Verbraucherverbände<br />
fordern, dass die Harmonisierung<br />
durch europäisches Recht auf höchstem Niveau stattzufinden<br />
hat.<br />
Bio-Produkte: Um einen lauteren Wettbewerb zu sichern<br />
(für Produkte, die ohne chemisch-synthetische<br />
Mittel erzeugt wurden), existiert die Verordnung über<br />
den ökologischen Landbau und die entsprechende<br />
Kennzeichnung der landwirtschaftlichen Erzeugnisse<br />
und Lebensmittel (1991). Die Kennzeichnung „aus<br />
ökologischem Landbau“ ist nur zulässig, wenn sich die<br />
Agrarbetriebe an die strengen EU-Vorschriften halten<br />
und gänzlich auf Chemieeinsatz verzichten.
– die Berücksichtigung bereits bestehender oder geplanter<br />
internationaler Normen.<br />
Das Lebensmittelrecht beruht hauptsächlich auf der<br />
Risikoanalyse, die sich wiederum auf die verfügbaren<br />
wissenschaftlichen Nachweise stützt. Gemäß<br />
demVorsorgeprinziptreffendieMitgliedstaatenund<br />
die Kommission vorläufige und verhältnismäßige<br />
Maßnahmen zum Risikomanagement, wenn eine<br />
Bewertung die Wahrscheinlichkeit gesundheitsschädigender<br />
Auswirkungen nahe legt. Bei der Erarbeitung,<br />
Bewertung und Überprüfung des Lebensmittelrechts<br />
wird die Öffentlichkeit unmittelbar oder<br />
über Vertretungsgremien in offener und transparenter<br />
Weise konsultiert. Sobald ein Lebens- oder Futtermittel<br />
ein Risiko mit sich bringt, informieren die<br />
Behörden die Öffentlichkeit über die Art des Risikos<br />
für die Gesundheit von Mensch oder Tier.<br />
c) Allgemeine Anforderungen des Lebensmittelrechts:<br />
Kein Lebensmittel, das gefährlich, d. h. gesundheitsschädlich<br />
und/oder genussuntauglich ist,<br />
darf auf den Markt gebracht werden. Bei der Entscheidung,<br />
ob ein Lebensmittel gefährlich ist, werden<br />
die normalen Verwendungsbedingungen, die an<br />
den Verbraucher gerichteten Informationen, die<br />
wahrscheinlichen unmittelbaren oder verzögerten<br />
gesundheitlichen Auswirkungen, kumulative toxische<br />
Auswirkungen und etwaige gesundheitliche<br />
Unverträglichkeiten bei einer bestimmten Verbrauchergruppe<br />
berücksichtigt. Ist ein gefährliches Lebensmittel<br />
Teil einer Partie oder Charge, so gilt die<br />
gesamte Partie bzw. Charge als gefährlich. Kein Futtermittel,<br />
das gefährlich ist, darf auf den Markt gebracht<br />
oder an Lebensmittel erzeugende Tiere verfüttert<br />
werden. Ein Futtermittel ist gefährlich, wenn<br />
es schädliche Auswirkungen auf die Gesundheit von<br />
Mensch oder Tier hat. Enthält eine Partie ein gefährliches<br />
Futtermittel, so gilt die gesamte Partie als gefährlich.<br />
Auf allen Stufen der Lebensmittelkette sorgen die<br />
Unternehmen dafür, dass die Lebens- und Futtermittel<br />
die Anforderungen des Lebensmittelrechts erfüllen.<br />
Die Mitgliedstaaten kontrollieren die Anwendung<br />
dieser Rechtsvorschriften; sie überprüfen, ob<br />
dieUnternehmendieseRechtsvorschrifteneinhalten<br />
und legen Maßnahmen und Sanktionen fest, die bei<br />
VerstößengegendieseRechtsvorschriftenanzuwenden<br />
sind. Auf allen Erzeugungs-, Verarbeitungs- und<br />
Vertriebsstufen ist die Rückverfolgbarkeit der Lebens-<br />
und Futtermittel, der Lebensmittel erzeugen-<br />
Lebensmittelrecht<br />
den Tiere sowie aller sonstigen Stoffe, die in Lebensmitteln<br />
verarbeitet werden, sicherzustellen. Zu diesem<br />
Zweck richten die Lebens- und Futtermittelunternehmer<br />
Systeme und Verfahren ein, die eine solche<br />
Rückverfolgbarkeit ermöglichen. Erkennt ein<br />
Lebensmittelunternehmer, dass ein von ihm eingeführtes,<br />
erzeugtes, verarbeitetes oder vertriebenes<br />
Lebensmittel für Mensch oder Tier gesundheitsschädlich<br />
ist, so leitet er unverzüglich Verfahren ein,<br />
um das betreffende Lebensmittel vom Markt zu nehmen,<br />
und unterrichtet die zuständigen Behörden sowie<br />
die Verbraucher darüber.<br />
5.2 Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit<br />
(EBLS): Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit<br />
hat ihre Tätigkeit am 1. 1. 2002 aufgenommen.<br />
Ihre Aufgabe besteht darin, für wissenschaftliche<br />
und technische Beratung und Unterstützung in<br />
allen Bereichen zu sorgen, die Auswirkungen auf die<br />
Lebensmittelsicherheit haben. Sie bildet bei allen<br />
einschlägigen Fragen eine unabhängige Informationsquelle;<br />
außerdem stellt sie die Risikokommunikation<br />
mit der Öffentlichkeit sicher. Die Beteiligung<br />
an der Behörde steht den Mitgliedstaaten der Europäischen<br />
Union sowie denjenigen Ländern offen,<br />
welche die Bestimmungen des gemeinschaftlichen<br />
Lebensmittelrechts anwenden. Die Behörde ist eine<br />
juristische Person. Im Falle eines Rechtsstreits über<br />
vertragliche Haftung ist der Europäische Gerichtshof<br />
zuständig. Aufgaben.<br />
Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit<br />
hat in ihren Zuständigkeitsbereichen folgende<br />
Aufgaben :<br />
– Sie liefert den Organen der Gemeinschaft und den<br />
Mitgliedstaaten die bestmöglichen wissenschaftlichen<br />
Gutachten auf eigene Initiative oder im Auftrag<br />
der Kommission, des Europäischen Parlaments oder<br />
eines Mitgliedstaats.<br />
Diese unabhängigen wissenschaftlichen Gutachten<br />
betreffen Fragen der Lebensmittelsicherheit und<br />
sonstige, damit im Zusammenhang stehende Themen<br />
(Futtermittel und Tiergesundheit, Pflanzenschutzkontrollen,<br />
Ernährung usw.). Sie dienen als<br />
Grundlage für politische Entscheidungen über das<br />
Risikomanagement.<br />
– Sie gibt die für die Erfüllung ihres Mandats erforderlichen<br />
wissenschaftlichen Studien in Auftrag,<br />
wobei sie Überschneidungen mit den europäischen<br />
und einzelstaatlichen Forschungsprogrammen vermeidet.<br />
499
Leerer Stuhl<br />
– Sierecherchiertdiewissenschaftlichenundtechnischen<br />
Daten über den Lebensmittelkonsum und die<br />
Exposition gefährdeter Personen, stellt diese Daten<br />
zusammen, analysiert sie und fasst sie zusammen.<br />
Die Kommission veröffentlicht einen Bericht über<br />
die auf Gemeinschaftsebene vorhandenen Datenerhebungssysteme.<br />
– Sie führt Maßnahmen zur Ermittlung und Beschreibung<br />
neu auftretender Risiken durch. Die Behörde<br />
legt Kontrollverfahren fest, um Informationen<br />
zu recherchieren, zu erheben, zusammenzustellen<br />
und auszuwerten, welche die Ermittlung neu auftretender<br />
Risiken ermöglichen.<br />
– Sie sorgt für die Vernetzung von Organisationen,<br />
die im Bereich der Lebensmittelsicherheit tätig sind.<br />
Die Behörde beteiligt sich am Schnellwarnsystem,<br />
das die Kommission und die Mitgliedstaaten vernetzt.<br />
Sie fördert den Austausch von Informationen,<br />
Erkenntnissen und bewährten Verfahren, die Koordinierung<br />
von Maßnahmen sowie die Durchführung<br />
gemeinsamer Projekte.<br />
Die Kommission veröffentlicht ein Verzeichnis der<br />
auf Gemeinschaftsebene vorhandenen Datenerhebungssysteme.<br />
– Sie gewährt wissenschaftliche und technische Unterstützung<br />
mit dem Ziel, die Zusammenarbeit zwischen<br />
der Kommission, den Beitrittsländern, internationalen<br />
Organisationen und Drittländern zu verbessern.<br />
– Sie stellt sicher, dass die Öffentlichkeit und alle<br />
Beteiligten zuverlässige, objektive und verständlicheInformationenerhalten.<br />
L. U.<br />
Literatur:<br />
Epiney, A.: Umgekehrte Diskriminierungen im Lebensmittelrecht.<br />
In: Zeitschrift für das Lebensmittelrecht 3/1996,<br />
S. 259 – 272<br />
Europäische Kommission (Hg.): Grünbuch über allgemeine<br />
Grundsätze des Lebensmittelrechts in der EU. KOM(97) 176.<br />
Brüssel 1997<br />
Reich, N.: Europäisches Verbraucherrecht. Baden-Baden 1996<br />
Verordnung (EG) Nr. 178/2002 des Europäischen Parlaments<br />
und des Rates vom 28. 1. 2002 zur Festlegung der allgemeinen<br />
Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur<br />
Errichtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit<br />
und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit<br />
(Amtsblatt L 31/ 2002)<br />
„Leerer Stuhl“ �Politik des leeren Stuhls<br />
Legislaturperiode �Europäisches Parlament, �<strong>Europa</strong>wahlen<br />
500<br />
Legitimation, Legitimationsprobleme. Eine Kernforderung<br />
der Demokratie, nämlich die demokratische<br />
Kontrolle über die ausführenden Organe, kann<br />
durch das Europäische Parlament nur unvollkommen<br />
erfüllt werden. Zentrale Machtinstanzen – Ministerrat,<br />
Europäischer Rat, Europäische Kommission<br />
– haben kein Direktmandat von den europäischen<br />
Bürgerinnen und Bürgern. Ausgangspunkt für die<br />
ersten beiden Organe ist der Nationalstaat. Auch der<br />
�Ausschuss der (sehr heterogenen) Regionen hat nur<br />
Konsultativrechte. Ein erfolgreicher wirtschaftlicher<br />
Zusammenschluss allein schafft keine gemeinsamen<br />
politischen Strukturen. Die Regierungsvertreter<br />
haben nur eine indirekte Legitimation in europäischen<br />
Fragen. Ein herausragendes Beispiel ist die<br />
Beschlussfassung über den Euro.<br />
„Brüssel“ (d. h. der Rat) handelt oftmals weitgehend<br />
ohne parlamentarischen Auftrag, ohne die Vertreter<br />
des Souveräns. Brüsseler Projekten fehlt so womöglich<br />
bisweilen die mehrheitliche Unterstützung<br />
durchdieöffentlicheMeinungunddiegroßenVolksparteien.<br />
Es wird oft zu sehr die (vermeintliche) administrative<br />
Sachkompetenz hervorgehoben, ohne<br />
die parlamentarisch-demokratische Absicherung zu<br />
bedenken. Auch die Reflexionsgruppe für die Regierungskonferenz<br />
von 1996/97 (als Vorbereitung des<br />
�Vertrags von Amsterdam) hatte nur eine Beauftragung<br />
durch den Europäischen Rat (Gipfelkonferenz<br />
von Korfu, Juni 1994).<br />
Die demokratische Legitimation in den europäischen<br />
Entscheidungsverfahren war bislang schwach<br />
ausgeprägt. Da es keinen europäischen demos<br />
(Staatsvolk) gibt, gibt es womöglich auch kein europäisches<br />
Zusammengehörigkeitsgefühl, kein europäisches<br />
Gemeinwesen. Infolgedessen gibt es nur<br />
eine vom Europäischen Parlament, dessen Mitentscheidungsbefugnisse<br />
insbes. vom Amsterdamer<br />
Vertrag erheblich erweitert wurden, abgeleitete eingeschränkte<br />
Legitimation. Das Europäische Parlament<br />
ist jedoch keine Repräsentativkörperschaft eines<br />
europäischen (Volks-)Souveräns. Die Souveränität<br />
ist nach wie vor an den Nationalstaat gebunden.<br />
Die Interessen der Bürger/-innen der einzelnen Mitgliedstaaten<br />
der EU differieren u. U. erheblich. Deshalb<br />
kann die im Rat (= nach dem Territorialprinzip<br />
zusammengesetzte Regierungsvertreter) überstimmte<br />
Minderheit jede gegen sie getroffene Entscheidung<br />
als ethnische Fremdbestimmung betrachten.<br />
Der zukünftige Verfassungsvertrag soll die le-
gislatorische Kompetenz des Europäischen Parlaments<br />
verstärken.<br />
Generell besteht im europäischen Entscheidungsprozess<br />
ein Spannungsverhältnis zwischen Verfahrensregeln<br />
nach dem Demokratieprinzip und effizienter<br />
Entscheidung(sfindung). Theoretisch müssten<br />
– besonders in einer erweiterten Union – Mehrheitsentscheidungen<br />
die Einstimmigkeit ersetzen<br />
und intergouvernementale Handlungsfelder abgebaut<br />
werden. Der Entscheidungsfindung in der europäischen<br />
�Mehrebenenstruktur mangelt es an vertikaler<br />
Gewaltenteilung, nicht zuletzt, so lange �Subsidiarität<br />
als Kompetenzausübungs- und nicht als<br />
Vertragsregel praktiziert wird, d. h. ohne föderale<br />
Legitimation bleibt, die letztlich wohl nur durch eine<br />
europäischeVerfassunghergestelltwerdenkannund<br />
von der öffentlichen Meinung als Ausdruck der<br />
Partizipation der Bürger unterstützt wird..<br />
Kommission und Ministerrat (Rat der EU) sind die<br />
zentralen Organe des Gesetzgebungsverfahrens,<br />
trotzdesAusbausderdemokratischenStrukturendes<br />
Europäischen Parlaments (�Mitentscheidungsverfahren,<br />
durch den Nizzavertrag erweiterte Mitspracherechte<br />
des EP durch Zunahme der Mehrheitsentscheidungen).<br />
Was fehlt, ist die starke legitimatorische<br />
Absicherung der Gesetzgebung. Diese beruht<br />
noch auf der Rückkoppelung der obigen Organe an<br />
die nationalen Parlamente. Eine zufriedenstellende<br />
demokratische Kontrolle durch das EP ist oftmals<br />
nicht vorhanden. Die nationalen Regierungen spielen<br />
die entscheidende Rolle. Auch fehlen aktive, europaweit<br />
agierende Parteien. Die Bevölkerung hat<br />
demnachkaumMöglichkeiten,aufdiePolitikderEU<br />
einzuwirken. Es ist grundsätzlich zu fragen, inwieweit<br />
parlamentarische Superorgane ohne Staat und<br />
Staatsvolk zufriedenstellend funktionieren können.<br />
Das EP repräsentiert kein (Staats-)„Volk“, sondern<br />
eher Völker. Es gibt nicht immer eine einheitliche<br />
Position der EU in den Politikbereichen. Die EU besitztkeinestaatlicheAutorität(keineeigenenExekutivbehörden).EineGemeinsamkeitfehltz.B.beiden<br />
Folgeverhandlungen (Erweiterung – Reduzierung<br />
der strengen Anforderungen an die gemeinsamen<br />
Werte von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Grundrechtsgarantien,<br />
Marktwirtschaft – Kerneuropa –<br />
multinationaleAllianzen–Opt-out-Klauseln–keine<br />
Fixierung allgemeingültiger Grund- und Freiheitsrechte),<br />
die nach Möglichkeit die nationalen Interessen<br />
berücksichtigen sollen.<br />
Leitlinien-Kompetenz<br />
Das Legitimationsfundament liegt so im Wesentlichen<br />
noch bei den Einzelstaaten, die durch ihr Veto<br />
bei einstimmigen Beschlüssen alles blockieren können.<br />
Im Einzelnen geht es darum, dass die Mitglieder<br />
des Ministerrats zuhause Repräsentanten der nationalen<br />
Exekutive sind, während sie in der EU eine rein<br />
legislative Funktion wahrnehmen, deren Bedeutung<br />
weit über die Befugnisse des Europäischen Parlaments<br />
hinausgeht (Fehlen des eigentümlichen Initiativrechts).<br />
Die Kommission besitzt mit dem alleinigenInitiativrechteineessentiellelegislativeKompetenz.<br />
Dies kollidiert wiederum mit ihrer Aufgabe als<br />
„Hüterin der Verträge“. Des Weiteren übt die Kommission<br />
mit der Verwaltung der zahlreichen EU-Programme<br />
und Fonds sowie mit der Führung der Außenhandelspolitik<br />
erhebliche (Regierungs-)Macht<br />
aus. W. M.<br />
Leistungsgebundene Reserve �Haushalt<br />
Leitlinien-Kompetenz. Der Begriff der Leitlinien<br />
darf nicht mit dem Begriff der Richtlinien, der Form<br />
europäischer �Rechtsakte nach Art. 249 des EG-<br />
Vertrags, verwechselt werden. Leitlinien sind vielmehr<br />
Teil der Erarbeitung und Durchführung einer<br />
gemeinsamen Politik im Wechselspiel von Kommission,<br />
Rat und Mitgliedstaaten. Leitlinien besitzen<br />
zwar auch eine Art der Verbindlichkeit, werden aber<br />
nicht in den Verfahren, wie sie für die europäischen<br />
Rechtsakte vorgesehen sind, verabschiedet. Das bedeutet,<br />
dass die Mitentscheidung oder aktive Mitwirkung<br />
des Europäischen Parlaments hier nicht stattfindet.<br />
Nach der Entwicklung der europäischen<br />
Wirtschaftsunion wurde das Verfahren einer Koordinierung<br />
der mitgliedstaatlichen Politiken mittels<br />
Leitlinien in der Beschäftigungspolitik vertraglich<br />
verankert.<br />
1. Entstehung der Leitlinienkompetenz. Nach Art.<br />
128 EGV, eingefügt durch den Vertrag von Amsterdam,<br />
legt der Rat auf Vorschlag der Kommission und<br />
nach Anhörung des Europäischen Parlaments, des<br />
�Wirtschafts- und Sozialausschusses, des �Ausschusses<br />
der Regionen und des �Beschäftigungsausschusses<br />
jährlich mit qualifizierter Mehrheit Leitlinien<br />
fest, welche die Mitgliedstaaten in ihrer Beschäftigungspolitik<br />
berücksichtigen. Diese LeitlinienmüssenmitdereuropäischenWirtschaftspolitik<br />
in Einklang stehen. Bereits vor Inkrafttreten des Vertrages<br />
von Amsterdam am 1. 5. 1999 wurde aber<br />
501
Leitlinien-Kompetenz<br />
durch den Europäischen Rat in Luxemburg die gemeinsame<br />
Beschäftigungspolitik am 20./21. 11.<br />
1997 vorweg genommen und der sog. �„Luxemburg-Prozess“<br />
begründet. Damals hatte der Europäische<br />
Rat beschlossen, den einschlägigen Bestimmungen<br />
des neuen Titels „Beschäftigung“ im Vertrag<br />
von Amsterdam sofortige Wirksamkeit zu verleihen<br />
und die Abstimmung der Beschäftigungspolitik<br />
der Mitgliedstaaten bereits auf das Jahr 1998 vorzuziehen.<br />
Diese Abstimmung beruhte bereits auf gemeinsamen<br />
Leitlinien, die sich sowohl auf die Ziele<br />
als auch auf das Mittel bezogen – den sog. „Beschäftigungspolitischen<br />
Leitlinien“. Seit dem Inkrafttreten<br />
des Vertrages von Amsterdam ist die vertragliche<br />
Zuständigkeit der Gemeinschaft nach Art. 128 EGV<br />
gegeben. Auch der Verfassungsvertrag 2004 würde<br />
hier nichts ändern (Artikel III-206 VVE). Damit hat<br />
die Europäische Union insoweit eine Leitlinienkompetenz.<br />
Entsprechende Leitlinien wurden in den vergangenen<br />
Jahren zunächst durch Entschließung des<br />
Rates und dann durch förmlichen Ratsbeschluss angenommen.<br />
2. Methodik der Leitlinien. Die damals eingeführte<br />
Methodik der Leitlinien gilt weiterhin. Ausgehend<br />
von einer gemeinsamen Analyse der Beschäftigungslage<br />
werden in den „Leitlinien“ konkrete Ziele,<br />
unterstützt durch Messlatten und �Benchmarks,<br />
festgesetzt, deren Verwirklichung regelmäßig nach<br />
einem gemeinsamen Vorgehen bei der Bewertung<br />
der Ergebnisse überprüft wird. Die „Leitlinien“ können<br />
je nach ihrer Art, ihren Auswirkungen für die<br />
Mitgliedstaaten und ihre Adressaten von den Mitgliedstaaten<br />
in unterschiedlicher Weise durchgeführtwerden.DieLeitlinienmüssendas�Subsidiaritätsprinzip<br />
sowie die Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten,<br />
einschl. der ihrer Gebietskörperschaften, im<br />
Bereich der Beschäftigung wahren und mit den<br />
Grundzügen der Wirtschaftspolitik vereinbar sein.<br />
Das politische Konzept, auf das sich die Leitlinien<br />
der Beschäftigungsstrategie im Luxemburg-Prozess<br />
stützten und stützen, umfasst vier „Grundpfeiler“ :<br />
Unternehmertum, Beschäftigungsfähigkeit der Bevölkerung,<br />
Anpassungsfähigkeit und Chancengleichheit.<br />
3. Ausweitung der Leitlinienmethode. Darüber hinaus<br />
hat der Begriff der Leitlinien und die Frage nach<br />
einer Kompetenz der Gemeinschaft zum Erlass derartiger<br />
Instrumente eine neue Bedeutung im Zusammenhang<br />
mit der �„offenen Koordinierungsmetho-<br />
502<br />
de“, denn das Verfahren der europäischen Beschäftigungsstrategie<br />
erschien so vielversprechend, dass es<br />
bald auch auf andere Bereiche der Politik übertragen<br />
wurde. Der Europäische Rat von Lissabon vom<br />
23./24. 3. 2000 legte neue Zielvorgaben für eine umfassende<br />
Strategie für den Weg zu Beschäftigung,<br />
Wirtschaftsreform und sozialem Zusammenhalt als<br />
Bestandteile der wissensbasierten Gesellschaft fest<br />
und verpflichtete sich darauf, die Voraussetzungen<br />
für Vollbeschäftigung zu schaffen. Dies führte zur<br />
Festlegung einer neuen „offenen Koordinierungsmethode“:<br />
Das bedeutet: Die mit der �Lissabon-Strategie<br />
über den Beschäftigungsbereich hinaus<br />
ausgedehnte Methode der Koordinierung sieht<br />
für eine Reihe von Politiken eine Verfahrensweise<br />
vor,diedenMitgliedstaateneineHilfebeiderschrittweisen<br />
Entwicklung ihrer eigenen Politiken sein<br />
soll. Sie umfasst Folgendes:<br />
– Festlegungen von Leitlinien für die Union mit einem<br />
jeweils genauen Zeitplan für die Verwirklichung<br />
der von ihnen gesetzten kurz-, mittel- und<br />
langfristigen Ziele.<br />
– Gegebenenfalls Festlegung quantitativer und qualitativer<br />
Indikatoren und Benchmarks im Vergleich<br />
zu den Besten der Welt, die auf die in den einzelnen<br />
Mitgliedstaaten und Bereichen bestehenden Bedürfnisse<br />
zugeschnitten sind, als Mittel für den Vergleich<br />
der bewährten Praktiken.<br />
– Umsetzung dieser europäischen Leitlinien in die<br />
nationale und regionale Politik durch Entwicklung<br />
konkreter Ziele und Erlass entsprechender Maßnahmen.<br />
Dazu kommen regelmäßige Überwachung, Bewertung<br />
und gegenseitige Prüfung des Erreichten im<br />
Rahmen eines Prozesses, bei dem alle Seiten voneinander<br />
lernen sollen.<br />
Mit der Halbzeitbilanz zur Lissabon-Strategie wurden<br />
die koordinierte Wirtschaftspolitik gem. Art. 99<br />
EGV und die Leitlinienpolitik im Beschäftigungsbereich<br />
gem. Art. 128 EGV zu „integrierten Leitlinien“<br />
zusammengefasst.<br />
4. Fehlende Leitlinienkompetenz – z. B. im Bildungsbereich.<br />
Die beschäftigungspolitischen Leitlinien<br />
richten sich nach dem Europäischen Rat in Lissabon<br />
nach dessen Vorgaben aus. Dabei wurde die Bedeutung<br />
des lebenslangen Lernens betont. Die Vorgaben<br />
enthalten deshalb auch konkrete Vorgaben für die<br />
Bildungspolitik der Mitgliedstaaten. So wird u.a.<br />
festgelegt, dass die Mitgliedstaaten ihre Pro-Kopf-
Investitionen in die Humanressourcen erhöhen und<br />
die Qualität ihrer Bildungs- und Ausbildungssysteme<br />
sowie die einschlägigen Lehrpläne verbessern<br />
und vor allem im Bereich der Informationstechnologien<br />
und des Spracherwerbs aktiv sein sollen. Es<br />
werden konkrete Messzahlen vorgegeben wie z. B.<br />
dieHalbierungderZahlder18-bis24jährigen,dielediglich<br />
über einen Abschluss der Sekundarstufe I<br />
verfügen und keine weitere Schul- oder Berufsausbildung<br />
durchlaufen, bis zum Jahre 2010. Die Mitgliedstaaten<br />
sollen sicherstellen, dass ihre Bildungssysteme<br />
ein kontinuierlich an den Bedarf angepasstes<br />
Bündel von Schlüsselqualifikationen vermitteln<br />
(so aus dem Anhang der beschäftigungspolitischen<br />
Leitlinien für das Jahr 2000 – unmittelbar nach dem<br />
Inkrafttreten der Lissabon-Strategie).<br />
Die Europäische Union besitzt jedoch im Bildungsbereich<br />
nur ganz geringe Zuständigkeiten – sie kann<br />
die Politiken der Mitgliedstaaten lediglich fördern<br />
und ergänzen. Eine Harmonisierung der Rechts- und<br />
Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten ist dabei<br />
nicht möglich. Deshalb stieß die derartige Festlegung<br />
von bildungspolitischen Zieldaten in den<br />
europäischen Leitlinien auch auf Kritik: So begrüßten<br />
die Bildungsminister der Mitgliedstaaten im Bildungsministerrat<br />
zwar die neue aktive Rolle der Bildungspolitik<br />
bei der Mitgestaltung der europäischen<br />
Beschäftigungspolitik und die Aufnahme bildungsbezogenerZielsetzungenindieLeitlinien,siewiesen<br />
aber auch darauf hin, dass sich Bildung nicht in beschäftigungspolitischer<br />
Relevanz erschöpfe, sondern<br />
dass es auch um die persönliche, soziale und<br />
kulturelle Entfaltung des Einzelnen gehe (Stellungnahme<br />
des Rates [Bildung] zum Vorschlag für eine<br />
EntscheidungdesRatesüberLeitlinienfürbeschäftigungspolitische<br />
Maßnahmen der Mitgliedstaaten im<br />
Jahr 2001, verabschiedet am 9. 11. 2000, Rats-Dok.<br />
128 14/00). Der Bundesrat, über den die deutschen<br />
LänderanderWillensbildungineuropäischenAngelegenheiten<br />
innerhalb der Bundesrepublik Deutschland<br />
mitwirken, hatte stets die Eigenständigkeit des<br />
Bildungswesens gegenüber der Sozial-, Beschäftigungs-<br />
und Wirtschaftspolitik betont und es deshalb<br />
abgelehnt, die Bildung in die Koordinierungsmaßnahmen<br />
für die Beschäftigungspolitik mit einzubeziehen.<br />
Der Bundesrat betonte demgegenüber die<br />
eingeschränkten Zuständigkeiten der Europäischen<br />
Gemeinschaft für die Bildung und sah in den beschäftigungspolitischen<br />
Möglichkeiten des Art. 128<br />
EGV keine Ausweitung der Grenzen, die in den einschlägigen<br />
Bildungsartikeln für ein Handeln der Europäischen<br />
Gemeinschaft gesetzt sind (BR.Drs.<br />
658/00, Beschluss vom 1. 12. 2001). �Bildungspolitik<br />
5. Bewertung. Obwohl Leitlinien und Indikatoren es<br />
erlauben, dass jeder Mitgliedstaat sie im Sinne des<br />
Subsidiaritätsprinzips nach den eigenen Vorgaben<br />
und Bedürfnissen umsetzen kann, bleibt es doch bei<br />
einer politischen Steuerung der Politik der Mitgliedstaaten<br />
durch die Gemeinschaftsvorgaben. Dies<br />
wäre dann, wenn die Europäische Union ohnehin<br />
eine Rechtsetzungszuständigkeit hätte, zu akzeptieren,weilhiermitsogareinmilderesMittelgegenüber<br />
einem Rechtsakt gefunden wurde. Das entspricht<br />
dem Subsidiaritätsprinzip. Besteht aber eine derartige<br />
Zuständigkeit der Gemeinschaft zum Setzen von<br />
Rechtsakten nicht, ist die Vorgabe von Leitlinien aus<br />
der Sicht der Unionskompetenzen problematisch.<br />
Wenn schon nicht eindeutig rechtlich, so wird doch<br />
zumindest durch politische Bindung in die ZuständigkeitenderMitgliedstaateneingegriffen.<br />
I. B.-M.<br />
Leitzinsen �ESZB<br />
Leonardo da Vinci �Bildungsprogramme der EU<br />
Liberalisierung �Binnenmarkt<br />
LIFE<br />
Lien-Programm (1993 – 2000) im Rahmen von<br />
Phare und (ab 1999) TACIS. Es förderte Initiativen<br />
und Projekte von Nichtregierungsorganisationen im<br />
sozialen Bereich, insbes. zur Unterstützung von unterprivilegierten<br />
Bevölkerungsgruppen. Das Lien-<br />
Programm wurde 2000 vom �Access-Programm abgelöst.<br />
LIFE. Finanzierungsinstrument der EU für den Umweltschutz<br />
und den Naturschutz. Ziel ist es, einen<br />
Beitrag zur Entwicklung, Durchführung und Aktualisierung<br />
der Umweltpolitik sowie der Umweltbestimmungen<br />
der Gemeinschaft – vor allem auch im<br />
Hinblick auf die Einbeziehung von Umweltaspekten<br />
in andere Politikfelder sowie auf die �nachhaltige<br />
Entwicklung – zu leisten (VO 1655/2000, ABl. L<br />
192/2000).<br />
Die erste Phase lief von 1992 bis 1995 und umfasste<br />
Finanzmittel in Höhe von 400 Mio. ECU (= Euro),<br />
die zweite Phase lief von 1996 bis 1999 und war mit<br />
503
Lingua<br />
etwa 450 Mio. Euro ausgestattet. Die dritte Phase lief<br />
von 2000 bis Ende 2004 und war mit 640 Mio. Euro<br />
veranschlagt; sie wurde durch VO 1682/2004 bis 31.<br />
12. 2006 verlängert und mit zusätzlichen 317,2 Mio.<br />
Euro ausgestattet. Von LIFE finanzierte Vorhaben<br />
müssen von gemeinschaftlichem Interesse sein und<br />
den LIFE-Zielen entsprechen, von technisch und finanziell<br />
zuverlässigen Partnern vorgelegt werden<br />
und es muss die Durchführbarkeit hinsichtlich der<br />
technischen Lösungen, der Zeitplanung, der Mittelausstattung<br />
und der Wirtschaftlichkeit gesichert<br />
sein.<br />
LIFE umfasst drei thematische Bereiche: LIFE-<br />
Nature und LIFE-Umwelt (jeweils 47 % der Gesamtmittel)<br />
sowie LIFE-Drittländer (6 % der Gesamtmittel).<br />
Weitere 5 % der Gesamtmittel können für Begleitmaßnahmen<br />
verwendet werden. Die Kommission<br />
ist für die Überprüfung der Finanzierung zuständig,<br />
verfolgt die Durchführung der Maßnahmen und<br />
fordert ggf. unberechtigt vereinnahmte Mittel zurück.<br />
LIFE-Nature hat besondere Bedeutung für die Erhaltung<br />
der natürlichen Lebensräume und insbes. des<br />
europäischen Netzes �Natura 2000. Finanziert werden<br />
können Naturschutzvorhaben und Begleitmaßnahmen,<br />
welche für den Erfahrungsaustausch oder<br />
die Vorbereitung, die Bewertung und die Überwachung<br />
eines Vorhabens erforderlich sind. Die finanzielle<br />
Förderung erfolgt ausschließlich in Form einer<br />
Kofinanzierung. Der Höchstsatz beträgt 50 % der zuschussfähigen<br />
Kosten bei Naturschutzvorhaben und<br />
bis zu 100 % bei bestimmten Begleitmaßnahmen.<br />
Ziel von LIFE-Umwelt ist die Förderung der Entwicklung<br />
innovativer und integrierter Techniken<br />
und Verfahren sowie die Fortentwicklung der Umweltpolitik<br />
der EU. Es können finanziert werden:<br />
Demonstrationsvorhaben zur Einbeziehung von Aspekten<br />
der Umwelt in die Raumordnungspolitik sowiezurFörderungdernachhaltigenBewirtschaftung<br />
von Wasser und Abfällen oder zur Verringerung der<br />
Umweltauswirkungen wirtschaftlicher Tätigkeiten,<br />
vorbereitende Vorhaben im Hinblick auf neue Umweltmaßnahmen<br />
und -instrumente sowie -rechtsvorschriften.<br />
Die Kofinanzierung kann bei Vorhaben,<br />
die mit beträchtlichen Nettoeinnahmen verbunden<br />
sind, bis 30 %, in anderen Fällen bis zu 50 % betragen.<br />
LIFE-Drittländer kommt für Vorhaben der technischen<br />
Hilfe und entsprechende Begleitmaßnahmen<br />
504<br />
in Frage. Ziel ist hierbei, in den Drittländern im Mittelmeer-<br />
und Ostseeraum beim Aufbau der für den<br />
Umweltschutz erforderlichen Kapazitäten und VerwaltungsstrukturensowiebeiderAusarbeitungeiner<br />
Umweltpolitik und entsprechender Aktionsprogramme<br />
für den Umweltschutz zu helfen. Dabei<br />
müssen die Vorhaben (Kofinanzierung i. d. R. bis zu<br />
70 % der Gesamtkosten) von Interesse für die Gemeinschaft<br />
sein, eine nachhaltige Entwicklung fördern<br />
und Lösungen für größere Umweltprobleme<br />
bieten. Gefördert wurden damit u. a. Projekte zur<br />
nachhaltigen Verkehrsentwicklung in Tirana (Albanien),<br />
zum integrierten Umweltschutz in ländlichen<br />
Gebieten im Gaza Streifen und der West Bank (Palästinensische<br />
Autonomiegebiete) sowie zur Einrichtung<br />
des Öko-Tourismus Park in der Jerash-<br />
ProvinzinJordanien. C.-P. H.<br />
Lingua �Bildungsprogramme der EU<br />
Lissabon-Agenda. Bezeichnung für Arbeitsprogramme,<br />
Aktionspläne, Auflistungen von geplanten<br />
Maßnahmen,vonAufgabenoderForderungeninBezug<br />
auf die Umsetzung der �Lissabon-Strategie.<br />
Lissabon-Strategie (Lissabon-Prozess). Die Lissabon-Strategie<br />
umfasst die Vorgabe des Europäischen<br />
Rates, der bei seiner Tagung im Frühjahr 2000<br />
das strategische Ziel gesetzt hatte, die Europäische<br />
Union in 10 Jahren zum wettbewerbfähigsten und<br />
dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum<br />
der Welt zu machen. Diese Plansetzung umfasste ein<br />
stetiges Wirtschaftswachstum, Vollbeschäftigung<br />
sowie die Stärkung der sozialen Integration. Der<br />
Verlauf der Anstrengungen, dieses Ziel zu erreichen,<br />
die Ernüchterungen angesichts einer weltweit sich<br />
verändernden Wirtschaftslage und der Versuch,<br />
nach einer enttäuschenden Halbzeitbilanz zu einem<br />
neuen Aufbruch zu gelangen, kennzeichnen diesen<br />
Prozess, der wegen seiner strategischen Ausrichtung<br />
bald schon als „Lissabon-Strategie“ bezeichnet wurde.<br />
1. Die neue Zielsetzung des Europäischen Rats von<br />
Lissabon. Der Europäische Rat führte am 23./24. 3.<br />
2000 eine Sondertagung in Lissabon zu dem Thema<br />
„Beschäftigung, Wirtschaftsreform und sozialer Zusammenhalt“<br />
durch. Als Ergebnis gab der Europäische<br />
Rat ein „neues strategisches Ziel“ vor: Die Europäische<br />
Union müsse bis zum Jahre 2010 „zum
wettbewerbfähigsten und dynamischsten wissensbasierten<br />
Wirtschaftsraum der Welt werden – einem<br />
Wirtschaftsraum, der fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum<br />
mit mehr und besseren Arbeitsplätzen<br />
und einem größeren sozialen Zusammenhalt<br />
zu erzielen“. Das Ziel umfasste Vollbeschäftigung<br />
und eine durchschnittliche wirtschaftliche Wachstumsratevon3%.DieSchwerpunktewarendabei:<br />
– Der Übergang zu einer wissensbasierten Wirtschaft<br />
und Gesellschaft. Das bedeutete vermehrte<br />
politische Anstrengungen für das Entstehen der Informationsgesellschaft,<br />
die Stärkung von Forschung<br />
und Entwicklung, die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit<br />
und Innovation sowie die Vollendung<br />
des Binnenmarktes.<br />
– Eine Modernisierung des europäischen Sozialmodells.<br />
Das bedeutete Investitionen in die Humanressourcen,<br />
eine aktive Arbeitsmarktpolitik, die Reform<br />
des Sozialschutzes und die Bekämpfung von<br />
sozialer Ausgrenzung.<br />
Um diese übergreifende Zielsetzung zu erreichen,<br />
wurden ganz konkrete einzelne Zielvorgaben und<br />
Maßnahmen festgesetzt, die zum Teil mit Zeitplänen<br />
zu ihrer Umsetzung verbunden waren. Dies galt vor<br />
allem für folgende Bereiche:<br />
–eEurope – eine Informationsgesellschaft für alle<br />
– Forschung und Innovation<br />
– Schaffung eines günstigen Umfelds für Unternehmen<br />
(vor allem für die kleinen und mittleren<br />
Unternehmen, �KMU)<br />
– Wirtschaftsreformen für einen vollendeten und<br />
einwandfrei funktionierenden Binnenmarkt<br />
– Investition in Bildung und Ausbildung<br />
– Aktive Beschäftigungspolitik<br />
– Modernisierung des Sozialschutzes<br />
– Förderung der sozialen Integration.<br />
In den folgenden Europäischen Räten in Feira vom<br />
19./ 20. 6. 2000 und in Stockholm vom 23./24. 3.<br />
2001 wurde diese Strategie in der sozialen Komponente<br />
vertieft und durch eine Umweltdimension für<br />
eine nachhaltige Entwicklung erweitert.<br />
Durch diesen neuen Ansatz sollte mit der Wirtschaft<br />
der USA Schritt gehalten werden. Diese stützte sich<br />
damals vor allem auf ihre Spitzenposition in den Informations-<br />
und Kommunikationstechnologien und<br />
nahm dadurch einen starken Aufschwung. Ferner<br />
ging von Asien ein zunehmender Wettbewerbsdruck<br />
aus. Hinzu kam das niedrige europäische Bevölkerungswachstum.<br />
Die geplante neue wirtschaftliche<br />
Lissabon-Strategie<br />
Dynamik sollte aber mit den traditionellen europäischen<br />
Anliegen, wie dem sozialen Zusammenhalt,<br />
der sozialen Gerechtigkeit und dem Umweltschutz,<br />
in Einklang gebracht werden. Dies konnte nach Auffassung<br />
des Europäischen Rates nur mit einer gemeinsamen<br />
Anstrengung der Union sowie der Mitgliedstaaten<br />
verwirklicht werden. Der Europäische<br />
Rat ging davon aus, dass die Maßnahmen eines Mitgliedstaates<br />
nur dann ihre volle Wirkung entfalten<br />
könnten, wenn sie mit den anderen Mitgliedstaaten<br />
und der Unionspolitik abgestimmt wurden. Die einzelnen<br />
Reformen der Mitgliedstaaten sollten sich gegenseitig<br />
beeinflussen und verstärken. Aus diesen<br />
Zielen, der damit verbundenen Dynamik und gegenseitigen<br />
Wechselwirkung, erwuchs bald der Begriff<br />
„Lissabon-Strategie“.<br />
2. Die Instrumentarien zum Erreichen der Ziele. Zur<br />
Verwirklichung dieser Zielvorgaben wurden zwei<br />
Wege festgelegt:<br />
Zum einen sollten die bereits bestehenden Instrumente,<br />
wie die Koordinierung der Wirtschaftspolitik<br />
(Art. 99 EGV) und der Beschäftigungspolitik (Art.<br />
128 EGV), d. h. des �Luxemburg-, �Cardiff- und<br />
�Köln-Prozesses, vereinfacht und besser miteinanderverzahntsowieandenneuenZielenvonLissabon<br />
ausgerichtet werden. Dies bedeutete eine gezielte<br />
EU-Gesetzgebung zur Förderung des BinnenmarktpotentialsundEU-Aktionspläne,z.B.zurFörderung<br />
neuer Produkte und Dienstleistungen vor allem im<br />
Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien.DasumfassteaberauchverstärkteFolgenabschätzungen<br />
aller Vorhaben, um sicherzustellen,<br />
dass den Geboten der Wirtschaftlichkeit und der<br />
sozialen sowie ökologischen Nachhaltigkeit Rechnung<br />
getragen wurde. Gefordert waren auch die<br />
EU-�Strukturfonds und die Tätigkeit der �Europäischen<br />
Investitionsbank, z. B. im Rahmen der europäischen<br />
Wachstumsinitiative.<br />
Zum anderen sollte eine neue �„offene Koordinierungsmethode“<br />
eingeführt werden. Diese Methode<br />
baute auf mehreren Stufen auf:<br />
– Die Festlegung von Leitlinien für die Union mit jeweilsgenauenZeitplänenfürdieVerwirklichungder<br />
gesetzten Ziele.<br />
– Die Festlegung quantitativer und qualitativer Indikatoren<br />
und �Benchmarks als Mittel für den Vergleich<br />
der bewährten Praktiken.<br />
– Eine Umsetzung dieser europäischen �Leitlinien<br />
in die nationale und regionale Politik durch Vorgabe<br />
505
Lissabon-Strategie<br />
konkreter Ziele und den Erlass entsprechender Maßnahmen.<br />
– Regelmäßige Überwachung und Bewertung des<br />
Fortschrittes durch die Europäische Ebene sowie gegenseitige<br />
Prüfung im Rahmen dieses Prozesses von<br />
Seiten der Mitgliedstaaten, so dass alle Seiten voneinander<br />
lernen können.<br />
Diese neue Methode sollte der Tatsache Rechnung<br />
tragen, dass die Lissabon-Strategie mit ihren ehrgeizigen<br />
Zielen auch Bereiche abdeckte, für die nicht<br />
die Europäische Union, sondern ausschließlich die<br />
Mitgliedstaaten zuständig sind. Deshalb sollte in einem<br />
gemeinsamen Prozess, der voll im Einklang mit<br />
dem �Subsidiaritätsprinzip stehen sollte, mit einem<br />
dezentralen Ansatz vorgegangen werden. Die<br />
Union, die Mitgliedstaaten, die regionalen und lokalen<br />
Ebenen sowie die Sozialpartner und die Zivilgesellschaft<br />
sollten im Rahmen ihrer Möglichkeiten in<br />
unterschiedlichen Formen und Partnerschaften aktiv<br />
zur Erreichung der gesetzten Ziele mitwirken.<br />
Außerdem wurde festgelegt, dass der Europäische<br />
Rat künftig jedes Frühjahr eine Tagung über Wirtschafts-<br />
und Sozialfragen abhalten werde<br />
3. Reaktion in der Bundesrepublik Deutschland. In<br />
der Bundesrepublik Deutschland fand diese neue<br />
Strategie nicht ungeteilte Zustimmung. Der Bundesrat,<br />
über den die deutschen Länder an der Meinungsbildung<br />
in europäischen Angelegenheiten mitwirken,<br />
unterstützte zwar grundsätzlich den Europäischen<br />
Rat in seiner ehrgeizigen Zielsetzung. Er sah<br />
jedoch in der Überwachungsfunktion der Kommission<br />
über die nationalen Politiken eine Stärkung des<br />
europäischen Zentralismus (BR.Drs. 27400 – Beschluss<br />
vom 29. 9. 2000).<br />
4. Halbzeitbilanz der Lissabon-Strategie (Wim-<br />
Kok-Bericht). Kurz darauf änderte sich weltweit die<br />
wirtschaftliche Situation. Die Terroranschläge vom<br />
11. 9. 2001, der Zusammenbruch der New Economy,<br />
die steigenden Öl- und Rohstoffpreise, aber auch ein<br />
z.T.erheblicherwirtschaftlicherReformbedarfineiner<br />
großen Anzahl von Mitgliedstaaten führten zu<br />
enttäuschenden Ergebnissen – während allerdings<br />
einige Mitgliedstaaten die Vorgaben von Lissabon<br />
sogar übertreffen konnten. Auf seiner Frühjahrstagung<br />
2004 forderte der Europäische Rat ein größeres<br />
Tempo der Reformen, um die Ziele der Lissabon-Strategie<br />
bis 2010 zu erreichen. Das bedeutete<br />
vor allem eine Belebung des Binnenmarktes, eine<br />
verstärkte Deregulierung des EU-Rechtes und grö-<br />
506<br />
ßere Investitionen in das Humankapital. Der Europäische<br />
Rat forderte zu diesem Zweck von der EU -<br />
Kommission ein entsprechendes Aktionsprogramm.<br />
Er setzte ferner eine Expertengruppe unter dem Vorsitz<br />
des früheren niederländischen Premierministers<br />
Wim Kok ein, die eine Halbzeitbewertung der Lissabon-Strategie<br />
vornehmen und Vorschläge für eine<br />
Neuausrichtung ausarbeiten sollte.<br />
Im November 2004 legte diese Arbeitsgruppe einen<br />
Bericht über die Lissabon-Strategie für Wachstum<br />
und Beschäftigung vor, der die enttäuschenden bisherigen<br />
Ergebnisse feststellte. Die Sachverständigengruppe<br />
rügte als Ursache dafür vor allem den<br />
mangelnden politischen Handlungswillen der Mitgliedstaaten,<br />
Reformen durchzusetzen. Sie forderte<br />
eine entschlossene und überzeugende politische<br />
Führung sowie eine Verstärkung der Anstrengungen<br />
vonSeitenderMitgliedstaatenundderEuropäischen<br />
Kommission, um tatsächliche Veränderungen zu bewirken.<br />
Der Bericht verlangte, die europäischen Sozialpartner<br />
stärker einzubeziehen und die europäischenBürgerinnenundBürgerfürdenWandelzugewinnen.<br />
Jedem Menschen müsse begreiflich gemacht<br />
werden, weshalb Lissabon für jeden Bürger in<br />
<strong>Europa</strong> von Bedeutung ist. Die Arbeitsgruppe hielt<br />
Maßnahmen in folgenden Politikbereichen für dringend<br />
erforderlich:<br />
– Wissensgesellschaft: Forschung und Entwicklung<br />
sollten zur absoluten Priorität werden und der EinsatzfürdieInformations-undKommunikationstechnologien<br />
sollte erhöht werden.<br />
– Binnenmarkt: Der Binnenmarkt sollte unverzüglich<br />
vollendet werden – hier ging es vor allem um die<br />
Freiheit der Dienstleistungen.<br />
– Wirtschaftsklima: Die administrative Belastung<br />
der Wirtschaft müsste reduziert, die Qualität der<br />
Rechtsvorschriften verbessert und die Abwicklung<br />
von Unternehmensgründungen beschleunigt werden.<br />
Ein unternehmensfreundliches Umfeld müsse<br />
geschaffen werden.<br />
– Arbeitsmarkt: Das Ziel einer Steigerung der Beschäftigung<br />
müsste verstärkt angegangen werden;<br />
Strategien für lebenslanges Lernen und aktives Altern<br />
sowie Partnerschaften für Wachstum und Beschäftigung<br />
sollten erarbeitet werden.<br />
– Ökologische Nachhaltigkeit: Das bedeutete ökologische<br />
Innovationen, eine Führungsrolle in der Ökoindustrie<br />
und langfristige nachhaltige Produktivitätssteigerungen<br />
im Sinne einer höheren Ökoeffizienz.
Der Bericht schlug detaillierte Maßnahmen vor, die<br />
von einer neuen Führungsrolle des Europäischen Rates<br />
ausgingen, um die die Umsetzung der Lissabon-Strategie<br />
weiter voranzutreiben. Er verlangte<br />
nationale Programme der Mitgliedstaaten, mit denen<br />
sich diese zur Durchführung von Reformen verpflichten<br />
und auch die Bürger in den Prozess mit einbinden<br />
sollten. Die Europäische Kommission sollte<br />
die Fortschritte überprüfen, über diese berichten und<br />
weitere Fortschritte fördern. Auch forderte der BerichteineaktiveRollebeiderÜberwachungderFortschritte<br />
durch das Europäische Parlament. Letztlich<br />
sollten die europäischen Sozialpartner ihre Verantwortung<br />
wahrnehmen und aktiv an der Umsetzung<br />
der Lissabon-Strategie mitwirken.<br />
6. Vorschläge der EU Kommission zur Halbzeitbilanz.<br />
Entsprechend dem Auftrag des Europäischen<br />
Rates legte die EU-Kommission am 2. 2. 2005 ihre<br />
Halbzeitbilanz zur Umsetzung der Lissabonner Strategie<br />
vor und präsentierte eine „neue Strategie für die<br />
Europäische Union zur Schaffung von mehr Wachstum<br />
und Arbeitsplätzen“ (KOM 2005/24). Die EU-<br />
Kommission ging davon aus, dass durch eine Wiederbelebung<br />
der Lissabon-Strategie bis zum Jahre<br />
2010 ein Wachstum des Bruttoinlandsproduktes von<br />
3%sowie6MillionenneueArbeitsplätzegeschaffen<br />
werden könnten. Die neue Strategie richtete sie sowohl<br />
an die Europäische Union als auch an die Mitgliedstaaten.<br />
Sie verlangte, die Instrumente des beschäftigungspolitischen<br />
Leitlinienprozesses (�Luxemburg-,<br />
�Cardiff-Prozess) mit den wirtschaftspolitischen<br />
Ausrichtungen zu einem einheitlichen<br />
„Lissabonner Leitlinienprozess“ zu verbinden. Über<br />
diesen Prozess sollten die Mitgliedstaaten regelmäßig<br />
Bericht in Form „nationaler Lissabon-Aktionspläne“<br />
erstatten und außerdem bis zum Herbst eines<br />
jeden Jahres jeweils ein sog. „Einheitliches Nationales<br />
Aktionsprogramm für Wachstum und Beschäftigung“<br />
vorlegen. Ein innerstaatlicher Koordinator<br />
sollte durch die nationale Regierung ernannt werden<br />
(ein „Mr“/eine „Mrs. Lisbon“ ). Bis Januar sollte<br />
dann der Entwurf eines strategischen Jahresberichtes<br />
durch die Kommission dem Europäischen Rat zu<br />
seiner Frühjahrstagung vorgelegt und von diesem<br />
verabschiedet werden. Daraus würde die Kommission<br />
in einem Monat ein Leitlinienpaket erarbeiten,<br />
das im folgenden Monat von den einzelnen Fachministerräten<br />
angenommen werden sollte. Damit sollte<br />
deutlich werden, dass die Verantwortlichkeiten vor<br />
Lissabon-Strategie<br />
allem bei den Mitgliedstaaten als den „Besitzern des<br />
Reformprozesses“ liegen. Die Rolle der Kommission<br />
sollte sich darauf beschränken, durch Benchmarking,<br />
finanzielle Unterstützung, die Förderung des<br />
sozialen Dialogs und die Darstellung von besten<br />
Praktiken koordinierend und überwachend einzuwirken.<br />
Die Mitgliedstaaten dagegen sollten im Rahmen<br />
ihrer Nationalen Lissabon-Programme feste<br />
Zusagen mit zeitlichen Umsetzungsplänen und Fortschrittsindikatoren<br />
abliefern.<br />
7.PositioneninderBundesrepublikDeutschlandzur<br />
Halbzeitbilanz. Bereits im Oktober 2004 hatte die<br />
BundesregierungeinPositionspapierzurHalbzeitbilanz<br />
der Lissabon-Strategie vorgelegt und sowohl<br />
auf europäischer als auch auf nationaler Ebene eine<br />
Neuausrichtung und Konzentration der Reformbemühungen<br />
für unerlässlich erklärt, sollten die Kernziele<br />
der Lissabon-Strategie erreicht werden. Sie<br />
verlangte,sichaufdieZieledesnachhaltigenWachstums,<br />
der Beschäftigung durch Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit<br />
der Unternehmen in einer wissensbasierten<br />
Wirtschaft zu konzentrieren (BR.Drs.<br />
917/04).<br />
DiedeutschenLänderteiltenimBundesratdieseEinschätzung<br />
der Bundesregierung. Der Bundesrat hielt<br />
die Ausgangskonzeption der Lissabon-Strategie mit<br />
ihrer Vielzahl an Zielvorgaben, Indikatoren und Programme<br />
für schädlich. Er forderte einen Prioritätenkatalog<br />
zur Umsetzung einzelner Ziele. Er forderte,<br />
Stärken und Reformdefizite in den einzelnen Mitgliedstaaten<br />
konkreter als bisher zu benennen und<br />
darzustellen,. Er bedauerte, dass in den nationalen<br />
Aktionsplänen, wie sie die Kommission vorgeschlagen<br />
hatte, auf eine vergleichende Bewertung und auf<br />
Ranglisten der Mitgliedstaaten hinsichtlich ihrer Reformanstrengungen<br />
verzichtet wurde (BR.Drs. 917/<br />
04 – Beschluss vom 18. 2. 2005).<br />
8. Der Europäische Rat von Brüssel zur Halbzeitbilanz.<br />
Am 22./23. 3. 2005 legte der Europäische Rat<br />
eine Strategie zur Neubelebung der Lissabon-Strategie<br />
vor. Er räumte ein, dass 5 Jahre nach Einleitung<br />
der Lissabon-Strategie die Bilanz nicht zufriedenstellend<br />
sei. Deshalb hielt er es für unabdingbar, der<br />
Lissabon-Strategie unverzüglich neue Impulse zu<br />
geben und die Prioritäten auf Wachstum und Beschäftigung<br />
auszurichten. Er forderte, dass die<br />
Union alle geeigneten einzelstaatlichen und gemeinschaftlichen<br />
Mittel für die drei Dimensionen der<br />
Strategie – Wirtschaft, Soziales und Umwelt – mobi-<br />
507
Lissabon-Strategie<br />
lisieren müsse. Neben den Regierungen forderte er<br />
alle anderen Beteiligten, d. h. die Parlamente, die regionalen<br />
und lokalen Stellen, die Sozialpartner sowie<br />
die �Zivilgesellschaft auf, sich die neue StrategiezueigenzumachenundaktivzurVerwirklichung<br />
ihrer Ziele beizutragen. Außerdem verlangte er, die<br />
Union für den Zeitraum 2007 bis 2013 mit den angemessenen<br />
Mitteln auszustatten, damit diese die Strategie<br />
zum Erfolg führen könne.<br />
Schwerpunkte für die Neubelebung sollen sein:<br />
– Wissen und Innovation – Triebkräfte für nachhaltiges<br />
Wachstum: Es geht um das Investitionsniveau<br />
von3%imBereich von Forschung und Entwicklung<br />
bei gleichzeitiger Ausgewogenheit der privaten und<br />
öffentlichen Investitionen, um die Verwirklichung<br />
des europäischen Forschungsraumes durch Zusammenarbeit<br />
innerhalb <strong>Europa</strong>s, um die Unterstützung<br />
von innovativen Unternehmen, vor allem der kleinen<br />
und mittleren Unternehmen, um ein neues Gemeinschaftsprogramm<br />
zur Förderung von Wettbewerbsfähigkeit<br />
und Innovationen, um eine aktive Industriepolitik<br />
und um einen umfassenden Einsatz der Informations-<br />
und Kommunikationstechnologien vor<br />
allem auch in öffentlichen Diensten. Dabei spielt die<br />
Umweltpolitik eine wichtige Rolle zur Beschäftigung<br />
und Lebensqualität. Hervorgehoben sind ein<br />
effizienter Energieeinsatz sowie die Förderung der<br />
Umwelttechnologien im öffentlichen Auftragwesen.<br />
Der Europäische Rat forderte hierzu einen echten<br />
Dialog zwischen öffentlichen und privaten Akteuren<br />
der Wissensgesellschaft.<br />
– Ein attraktiver Raum für Investitionen und Arbeit:<br />
Hier stehen die Vollendung des Europäischen Binnenmarktes<br />
– vor allem im Bereich der Dienstleistungen<br />
–, ein günstiger Regelungsrahmen für die Unternehmen<br />
und die Stärkung der sozialen VerantwortungderUnternehmenimMittelpunkt.Esgehtferner<br />
um leistungsfähige Infrastrukturen der Daseinsvorsorge<br />
und eine gesunde Umwelt – vor allem auch im<br />
Bereich der Chemikalien. Horizontale Ziele wie Forschung<br />
und Entwicklung und die Erschließung von<br />
Humankapitalsindwiederummaßgeblich.Vorgegeben<br />
wird ferner eine Verbesserung des Regelungsrahmens,<br />
wobei eine gemeinsame Methode zur Bemessung<br />
des Verwaltungsaufwands bis Ende 2005<br />
geregelt werden soll. Es geht letztlich um eine offene<br />
Weltwirtschaft und die Stellung der Europäischen<br />
Union im Rahmen der Verhandlungen des Welthandelsabkommens.<br />
508<br />
– Wachstum und Beschäftigung im Dienste des sozialen<br />
Zusammenhaltes:<br />
Das Ziel ist weiterhin die Verwirklichung des europäischen<br />
Sozialmodells und der Vollbeschäftigung.<br />
Das bedeutet Beschäftigung als realistische Möglichkeit<br />
für alle, Erhöhung der Arbeitsmarktbeteiligung,<br />
Modernisierung des Sozialschutzes, Förderung<br />
der Chancengleichheit – vor allem zwischen<br />
MännernundFrauen,MaßnahmenzurVereinbarkeit<br />
von Berufs- und Familienleben, Strategien für ein<br />
aktives Altern, Förderung der sozialen Eingliederung,neueFormenderArbeitsorganisationsowieInvestitionen<br />
in das Humankapital. Ein Schwerpunkt<br />
ist dabei das lebenslange Lernen, wobei einer hohen<br />
Qualität auf allen Ebenen des Lernens eine große Bedeutung<br />
zugemessen wird. Die Mitgliedstaaten sollendaslebenslangeLernenzueinemAngebotfüralle<br />
Menschen in Schulen, Unternehmen und Haushalten<br />
machen. Es geht um die Entwicklung eines europäischen<br />
Bildungsraums durch Förderung der geographischen<br />
und beruflichen Mobilität und um einen<br />
Europäischen Qualifikationsrahmen. Eine besondere<br />
Zielgruppe sind in Armut lebende Kinder.<br />
Das bisherige Instrumentarium der Lissabon-Strategie<br />
soll ab dem Jahre 2005 vereinfacht werden, um<br />
Prioritäten leichter festlegen zu können und gleichzeitig<br />
das Gesamtgleichgewicht der Strategie und<br />
der Synergieeffekte zwischen ihren verschiedenen<br />
Bestandteilen zu erreichen. Damit soll auch eine bessere<br />
Umsetzung der Prioritäten durch eine stärkere<br />
Einbeziehung der Mitgliedstaaten und eine Rationalisierung<br />
des Beobachtungsverfahrens erreicht werden.<br />
So werden dreijährige Zyklen geschaffen, die 2006<br />
beginnen und 2008 fortgeschrieben werden. Am<br />
Ausgangspunkt eines Zyklus steht ein „Strategiebericht“derKommission.AufgrunddessenlegtderEuropäische<br />
Rat in seiner Frühjahrstagung die politischen<br />
Zielvorstellungen für die wirtschaftliche, die<br />
soziale und die umweltpolitische Dimension der<br />
Strategie fest. Ferner werden die koordinierte Wirtschaftspolitik<br />
gem. Art. 99 EGV und die Leitlinienpolitik<br />
im Beschäftigungsbereich gem. Art. 128<br />
EGV zu „integrierten Leitlinien“ zusammengefasst.<br />
Die Grundzüge der Wirtschaftspolitik sind dabei der<br />
übergreifende Rahmen für die Gesamtkohärenz der<br />
drei Dimensionen Wirtschaft, Soziales und Umwelt.<br />
Aufgrund der „integrierten Leitlinien“ erstellen<br />
dann die Mitgliedstaaten in ihrer jeweiligen Verant-
wortung „nationale Reformprogramme“, die ihren<br />
Bedürfnissen und spezifischen Gegebenheiten entsprechen.<br />
Dazu sollen die Mitgliedstaaten ihre innerstaatliche<br />
Koordinierung verbessern – ggf. durch die<br />
Benennung eines „nationalen Lissabon-Koordinators“.<br />
Die Kommission ihrerseits unterbreitet ein<br />
„Lissabon-Programm der Gemeinschaft“, das alle<br />
auf Unionsebene zu treffenden Maßnahmen für<br />
WachstumundBeschäftigungumfasstunddabeiden<br />
Erfordernissen der Konvergenz der Politiken Rechnung<br />
trägt. Die bisher von den Mitgliedstaaten an die<br />
Kommission zu richtenden Berichte über die UmsetzungderLissabon-Strategiewerdenkünftigineinem<br />
einzigen Dokument zusammengefasst, in dem Maßnahmen<br />
aufgeführt werden, die während der 12 vorangegangenen<br />
Monate zur Durchführung der nationalenProgrammeergriffenwordenwaren.DieKommission<br />
erstattet jährlich Bericht über die Umsetzung<br />
der Strategie. Am Ende des dritten Jahres eines<br />
jeden Zyklus werden die „integrierten Leitlinien“,<br />
die „nationalen Reformprogramme“ und das „Lissabon-Programm<br />
der Gemeinschaft“ erneuert, wobei<br />
wiederum ein Strategiebericht der Kommission<br />
Grundlage ist. Dieser Strategiebericht stützt sich auf<br />
eine umfassende Wertung der in den drei vorangegangenen<br />
Jahren erzielten Fortschritte.<br />
9. Ausblick. Der Erfolg der neuen Strategie wird von<br />
vielen Faktoren abhängen. Dazu gehört neben den<br />
Auswirkungen der Erweiterung auch die wirtschaftliche<br />
Entwicklung in großen Mitgliedstaaten wie Italien,<br />
Frankreich und Deutschland. Wieweit zentrale<br />
Steuerungs- und Überwachungsmechanismen, Berichtspflichten<br />
und konkrete Zielvorgaben die gegenwärtigen<br />
Probleme lösen können, mag fraglich<br />
erscheinen. Notwendig aber ist ein stärkeres gemeinsames<br />
Vorgehen der Union und ihrer Mitgliedstaaten<br />
sowie gemeinsame Anstrengungen, um in den<br />
Bereichen Wachstum, Soziales und Umwelt zu signifikantenFortschrittenzukommen.<br />
I. B.-M.<br />
Lissabon-Strategie im Bildungsbereich<br />
Begriff: Die �Lissabon-Strategie umfasst sämtliche<br />
Maßnahmen zur wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen<br />
Erneuerung der EU. Im Bildungsbereich<br />
enthält sie das strategische Ziel, die europäischen<br />
Systeme und Einrichtungen der allgemeinen und beruflichen<br />
Bildung bis zum Jahre 2010 hinsichtlich<br />
Qualität und Bedeutung zur Weltgeltung zu entwickeln.<br />
Lissabon-Strategie im Bildungsbereich<br />
Hintergrund, Zielsetzung, Prozessverlauf: Mit der<br />
Sondertagung des Europäischen Rates am 23./24.<br />
März 2000 in Lissabon trat die Europäische Zusammenarbeit<br />
in eine neue Phase. Der Europäische Rat<br />
setzte sich zum Ziel, für das kommende Jahrzehnt<br />
(bis 2010), „die Union zum wettbewerbsfähigsten<br />
und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum<br />
in der Welt zu machen“. Zu den Kernpunkten<br />
zählt auch eine Reform der Bildungssysteme (im<br />
Rahmen der rechtlichen Möglichkeiten der Mitgliedstaaten;<br />
vgl. �Bologna-Prozess).<br />
Für den Bereich der allgemeinen und beruflichen<br />
Bildung forderte der Europäische Rat eine NeuorientierungdereuropäischenBildungs-undAusbildungssysteme<br />
hin „auf den Bedarf der Wissensgesellschaft<br />
und die Notwendigkeit von mehr und besserer<br />
Beschäftigung“. Mitgliedstaaten, Rat und<br />
Kommission sollten in ihren Zuständigkeitsbereichen<br />
– die Mitgliedstaaten im Rahmen ihrer verfassungsrechtlichen<br />
Vorschriften – auf folgende Ziele<br />
hinarbeiten:<br />
– Steigerung der Humankapitalinvestitionen;<br />
– bis 2010 Halbierung der Zahl der 18- bis 24-jährigen,<br />
die lediglich über einen Sekundarstufen I-Abschluss<br />
verfügen und keine weiterführende Schuloder<br />
Berufsausbildung durchlaufen;<br />
– Entwicklung von lokalen Mehrzweck-Lernzentren<br />
und Gründung von Lernpartnerschaften;<br />
– Förderung neuer Grundfertigkeiten durch lebenslanges<br />
Lernen, insbesondre im IT-Bereich;<br />
– Förderung der Mobilität von Schülern und Studenten,<br />
Lehrern sowie Ausbildungs- und Forschungspersonal;<br />
mehr Transparenz bei der Anerkennung<br />
von Abschlüssen sowie von Studien- und Ausbildungszeiten;<br />
– Entwicklung eines gemeinsamen, europäischen<br />
Musters für Lebensläufe, das auf freiwilliger Basis<br />
gelten sollte.<br />
Die konkreten künftigen Ziele der Bildungssysteme<br />
(„Zielebericht“):<br />
Ziffer 27 der Schlussfolgerungen des Europäischen<br />
Rates von Lissabon fordert den Bildungsministerrat<br />
auf, als „Beitrag zum �Luxemburg-Prozess und<br />
�Cardiff-Prozess für die Frühjahrstagung des EuropäischenRates2001inStockholm,allgemeineÜberlegungen<br />
über die konkreten künftigen Ziele der Bildungssysteme<br />
anzustellen“ (sog. „Zielebericht“).<br />
Ziffer 37 der Schlussfolgerungen sieht für die Verwirklichung<br />
der Strategieziele die �offene Koordi-<br />
509
Lissabon-Strategie im Bildungsbereich<br />
nierungsmethode vor (Lenkung der im Vertrag vorgesehenen<br />
Selbstkoordinierung der Mitgliedstaaten<br />
durch Festlegung von �Leitlinien, Indikatoren und<br />
�Benchmarks mit Zielvorgaben und jährlichen Ergebnisüberprüfungen).<br />
Die Kommission legte am 31. 1. 2001 den Bericht<br />
über „die konkreten künftigen Ziele der Bildungssysteme“<br />
vor („Zielebericht“: – KOM 2001/059<br />
endg.), mit folgenden drei allgemeinen strategischen<br />
Zielen, die nochmals in dreizehn Teilziele untergliedert<br />
sind:<br />
– höhere Qualität und verbesserte Wirksamkeit der<br />
Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung in<br />
der Europäischen Union,<br />
– leichterer Zugang zu den Systemen der allgemeinen<br />
und beruflichen Bildung für alle und<br />
– Öffnung dieser Systeme gegenüber der Welt.<br />
Der Bildungsministerrat billigte am 12. 2. 2001 den<br />
Bericht.<br />
„Detailliertes Arbeitsprogramm“: Der Europäische<br />
Rat billigte den Zielebericht am 23./24. 3. 2001 in<br />
Stockholm und beauftragte die Kommission, ein detailliertes<br />
Arbeitsprogramm vorzuschlagen. Dies ist<br />
am 14. 2. 2002 vom Rat angenommen worden („Detailliertes<br />
Arbeitsprogramm zur Umsetzung der Ziele<br />
der Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung<br />
in <strong>Europa</strong>“ (KOM 2001/501 endg., Abl. C 142/<br />
2002).<br />
Der Europäische Rat nahm das Arbeitsprogramm<br />
mit seinen 3 strategischen und 13 Teilzielen auf seiner<br />
Tagung am 15./16. März 2002 in Barcelona an<br />
und legte als weiteres Ziel fest, dass “die Systeme der<br />
allgemeinen und beruflichen Bildung bis 2010 zu einer<br />
weltweiten Qualitätsreferenz“ fortentwickelt<br />
werden sollte. Er ersuchte den Rat und die Kommission,<br />
ihm auf seiner Frühjahrstagung 2004 über die<br />
effektive Umsetzung einen Zwischenbericht zu erstatten<br />
(Ziff. 43 der Schlussfolgerungen des Vorsitzes).<br />
Zwischenbericht: Die Kommission legte am 11. 11.<br />
2003 den Entwurf eines gemeinsamen Zwischenberichtsvor:„AllgemeineundberuflicheBildung2010<br />
– die Dringlichkeit von Reformen für den Erfolg der<br />
Lissabon-Strategie – Entwurf eines gemeinsamen<br />
Zwischenberichts über die Maßnahmen im Rahmen<br />
des detaillierten Arbeitsprogramms zur Umsetzung<br />
der Ziele der Systeme der allgemeinen und beruflichen<br />
Bildung in <strong>Europa</strong>“ (KOM 2003/685 endg.).<br />
Darin werden drei Schlüsselbereiche (sog. Key mes-<br />
510<br />
sages) für das weitere Arbeitsprogramm bis 2010<br />
hervorgehoben:<br />
1. Die zentrale Rolle der Bildung und Bildungsinvestitionen<br />
als Schlüsselfaktoren für die Wettbewerbsfähigkeit<br />
der Union, für Wachstum und Beschäftigung<br />
verbunden mit dem Ziel einer Steigerung<br />
der öffentlichen und privaten Investitionen in<br />
den Mitgliedstaaten.<br />
2. Die Notwendigkeit, auf nationaler Ebene Strategien<br />
für das lebenslange Lernen zu entwickeln unter<br />
Einbeziehung der Wirtschaft, Sozialpartner und Bildungseinrichtungen<br />
auf allen Ebenen.<br />
3. Schaffung eines europäischen Referenzrahmens<br />
für die Anerkennung von Qualifikationen und Kompetenzen.<br />
Der Europäische Rat nahm den gemeinsamen Bericht<br />
auf seiner Frühjahrstagung am 25. und 26. März<br />
2004 in Brüssel zur Kenntnis.<br />
Frühjahrsbericht: In ihrem „Bericht für die Frühjahrstagung<br />
2004 des Europäischen Rates : Die Lissabon-Strategie<br />
realisieren, Reformen für die erweitere<br />
Union“ (KOM 2004/29 endg. vom 21. 1. 2004)<br />
ersucht die Kommission den Europäischen Rat, für<br />
die folgenden drei prioritären Bereiche die notwendigen<br />
Entscheidungen zu treffen und die DringlichkeitdervondenMitgliedstaatenzutreffendenAktionen<br />
zu unterstreichen:<br />
– Steigerung der Investitionen in Netze und Wissen,<br />
insbes. durch die Umsetzung der „Europäischen<br />
Wachstumsinitiative“ und durch eine Erhöhung von<br />
Umfang und Qualität der Investitionen im Bereich<br />
der Forschung und der allgemeinen und beruflichen<br />
Bildung.<br />
– Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen<br />
durch die Optimierung der Regulierung, insbes.<br />
im Industriesektor und durch Verabschiedung der<br />
Vorschläge für eine Rahmenrichtlinie über Dienstleistungen<br />
sowie für einen Aktionsplan für Umwelttechnologie.<br />
– Förderung des aktiven Alterns durch Anreize für<br />
ältere Erwerbstätige, im Arbeitsleben zu bleiben, sowie<br />
durch die Modernisierung der Systeme der beruflichenBildungundderArbeitsorganisationsowie<br />
der Systeme der Prävention und der Gesundheitssysteme.<br />
Halbzeitbilanz (Wim-Kok-Bericht): Der Europäische<br />
Rat (25./26. 3. 2004 in Brüssel) beauftragte die<br />
Kommission außerdem, zur nächsten Frühjahrstagung<br />
am 22./23. 3. 2005 in Brüssel eine Halbzeitbi-
lanz (Fünfjahresbilanz) der Lissabonstrategie durch<br />
eineHochrangigeGruppeunterdemehemaligenniederländischen<br />
Ministerpräsidenten Wim Kok ausarbeiten<br />
zu lassen (Ziff 48 der Schlussfolgerungen des<br />
Vorsitzes). Der Bericht „Die Herausforderung annehmen<br />
– Die Lissabon-Strategie für Wachstum und<br />
Beschäftigung“wurdeam3.11.2004derKommission<br />
und dem Europäischen Rat (für seine Sitzung am<br />
4./5. 11. 2004 in Brüssel) abgeliefert (vgl. �Lissabon-Strategie<br />
Ziff. 4).<br />
Der Kok-Bericht nahm zum bisherigen Ergebnis der<br />
Lissabon-Strategie eine kritische Position ein<br />
(„mangelnde Schwungkraft“), kritisierte ihre Überfrachtung<br />
mit 28 Haupt- und 120 untergeordneten<br />
Zielen und 117 verschiedenen Indikatoren und<br />
schlugdieFestlegungeinesbegrenztenRahmensaus<br />
14 Zielen und Indikatoren vor (S. 49). Außerdem<br />
habe die offene Koordinierungsmethode die in sie<br />
gesetzten Erwartungen „bei weitem nicht erfüllt“;<br />
auch die Gemeinschaftsmethode habe nicht das geleistet,<br />
was von ihr erwartet wurde (S. 48). Zu dem<br />
die Bildung betreffenden Bereich nahm der Bildungsministerrat<br />
am 21. 2. 2005 in Schlussfolgerungen<br />
Stellung. Darin wird erneut die Notwendigkeit<br />
von Investitionen in das Bildungssystem, die Förderung<br />
des lebenslangen Lernens, die Schaffung eines<br />
Europäischen Raums der Bildung und Ausbildung<br />
und die verstärkte Zusammenarbeit im Rahmen der<br />
offenen Koordinierungsmethode angemahnt. Zu der<br />
PositionderBundesregierungzumKok-Berichtvom<br />
18. 11. 2004 beschloss der Bundesrat am 18. 2. 2005<br />
eine Stellungnahme (BR.Drs. 917/04).<br />
In ihrer Stellungnahme zur Halbzeitbilanz nahm die<br />
Kommission (KOM 2005/24 endg.) die Kritik auf<br />
und schlug eine Straffung der Strategie vor. Die Lissabon-Strategie<br />
sei auf die zentralen Aufgaben<br />
Wachstum und Arbeitsplätze zu konzentrieren. Für<br />
den Bildungsbereich wird empfohlen:<br />
– mehr Investitionen in die allgemeine und berufliche<br />
Bildung und Forschung,<br />
– Vollendung des Europäischen Hochschulraums<br />
(�Bologna-Prozess),<br />
– nationale Strategien für lebenslanges Lernen zu<br />
entwickeln,<br />
– vereinfachte gegenseitige Anerkennung beruflicher<br />
Qualifikationen.<br />
MitBezugaufdieFrühjahrsorientierungendesEuropäischen<br />
Rates sollten nationale Aktionsprogramme<br />
(mitnationalenKoordinatoren)entwickeltwerden.<br />
Lissabon-Strategie im Bildungsbereich<br />
Der Frühjahrsgipfel 2005 des Europäischen Rates:<br />
Der Europäische Rat begrüßte auf seiner Frühjahrstagung<br />
am 22./23. 3. 2005 in Brüssel den Halbzeitbericht<br />
und bat die Kommission, den Rat und die Mitgliedstaaten,<br />
„die Strategie neu zu beleben“; im Einzelnen:<br />
– Forschung, Bildung und Innovation in all ihren<br />
Formen zu intensivieren,<br />
– Einsetzung eines Europäischen Forschungsrates,<br />
der Spitzen- und Grundlagenforschung unterstützen<br />
soll,<br />
– Verringerung der Zahl der Schulabbrecher,<br />
– Lebenslanges Lernen für alle in Schulen, Unternehmen<br />
und Haushalten,<br />
– Weiterentwicklung des europäischen Bildungsraums<br />
durch Förderung der geografischen und beruflichen<br />
Mobilität, Einführung des �<strong>Europa</strong>sses, Annahme<br />
der Richtlinien über die Anerkennung der Berufsqualifikationen<br />
im Jahr 2005 und des europäischen<br />
Qualifikationsrahmens im Jahre 2006,<br />
– Zusammenfassung der bisherigen nationalen Berichte<br />
über die Umsetzung der Lissabonner Strategie<br />
in einem einzigen Dokument.<br />
Für den Fortgang der Lissabon-Strategie im Bildungsbereich<br />
und mit Hinblick auf den nächsten<br />
ZwischenberichtimJahr2006wurdefürdieBundesrepublik<br />
vereinbart, künftig einen gemeinsamen<br />
Bund/Länder-Bildungsbericht für Deutschland herauszugeben,<br />
der das gesamte Feld der Bildung vom<br />
Elementarbereich bis zur Erwachsenenbildung umfasst.<br />
Hierfür wurde eine Steuerungsgruppe auf<br />
Staatssekretärsebene (Vertretung von Bund und<br />
Ländern unter Beteiligung des Generalsekretärs der<br />
KMK) gebildet, die durch einen wissenschaftlichen<br />
Beirat beraten wird.<br />
Die Lissabon-Strategie ist alljährlich Gegenstand<br />
der Frühjahrsberichte der Kommission und das einzige<br />
Dokument auf der Tagesordnung der Frühjahrstagungen<br />
des Europäischen Rates.<br />
Rechtliche Würdigung: Die Lissabon-Strategie<br />
deckt mit ihren ehrgeizigen Zielen auch Bereiche ab,<br />
für die nicht die EU, sondern ausschließlich die Mitgliedstaaten<br />
zuständig sind. Die herkömmliche, auf<br />
dem Vorschlagsmonopol der Kommission beruhende„Gemeinschaftsmethode“wirdinsoferndurchdie<br />
offene Methode der Koordinierung „ergänzt“, die<br />
die freiwillige Zusammenarbeit und Selbstkoordinierung<br />
der Mitgliedstaaten voraussetzt. Hieraus ergeben<br />
sich zahlreiche Probleme für die Substanz und<br />
511
Lobbyismus<br />
den zeitlichen Ablauf des Lissabon-Prozesses. Die<br />
Länder der Bundesrepublik standen dem „Zielebericht”<br />
zunächst zurückhaltend gegenüber. Sie kritisierten<br />
namentlich die darin enthaltenen �Leitlinien<br />
und Vorgaben (�Benchmarks) und die vorgeschlagene<br />
offene Methode der Koordinierung als Überschreitung<br />
der Befugnisgrenzen des Vertrages und<br />
Eingriff in ihre verfassungsrechtlich verbürgte Kulturhoheit<br />
(BR.Drs. 173/01 [Beschluss] vom 11. 5.<br />
2001)..<br />
SowiederersteZwischenberichtwerdenauchdiefür<br />
2006, 2008 und 2010 vorgesehenen weiteren Berichte<br />
nicht nur auf EU-Ebene, sondern auch zwischen<br />
Bund und Ländern einen gesteigerten Beratungsbedarferfordern.<br />
I. H.<br />
Internet: http://europa.eu.int/comm/lisbon_strategy/reports/index_de.htm<br />
Dokumente:<br />
Europäische Kommission: Frühjahrsberichte: Stockholm 2001<br />
– KOM (2001) 79 endg.; Barcelona 2002 – KOM (2002) 14<br />
endg.; Brüssel 2003 – KOM (2003) 05 endg.; Brüssel 2004 –<br />
KOM (2004) 29 endg.; Brüssel 2005 – KOM (2005) 24 endg.<br />
Dies.: Das intellektuelle Potenzial <strong>Europa</strong>s wecken – So<br />
können die Universitäten ihren vollen Beitrag zur Lissabon-<br />
Strategie leisten. Mitteilung der Kommission KOM (2005) 152<br />
Europäischer Rat: Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Ziff. 7.<br />
Brüssel 16./17. 6. 2005<br />
Lobbyismus �Europäische Verbände<br />
Lomé-Abkommen<br />
1. Entstehung und Absicht: Das Lomé-Abkommen<br />
war (als Vorläufer des �Cotonou-Abkommens) das<br />
Kernstück der �Entwicklungspolitik der EU und der<br />
Zusammenarbeit zwischen der E(W)G und den Entwicklungsländern<br />
Afrikas, der Karibik und des Pazifiks<br />
(�AKP-Staaten), die früher Kolonien von<br />
EU-Staaten waren. Dieses Abkommen wurde am 28.<br />
2 1975 in Lomé/Togo mit damals 46 AKP-Staaten<br />
abgeschlossenunddanachdreimalerneuert(LoméII<br />
1979mit58,LoméIII1984mit66,LoméIV1989mit<br />
69 Staaten).<br />
Während Lomé I bis III eine Laufzeit von jeweils<br />
fünf Jahren hatten, galt das am 1. 9. 1990 in Kraft getretene<br />
Lomé IV-Abkommen für zehn Jahre (Finanzprotokolle:<br />
je fünf Jahre). Vorläufer des Lomé-Abkommens<br />
waren die gem. Art. 131 ff. EWGV 1957<br />
abgeschlossenen Verträge über die �Assoziierung<br />
der außereuropäischen Gebiete (z. B. Kolonien), die<br />
mit einzelnen Gründungsstaaten der EWG besondere<br />
Beziehungen unterhielten (Entwicklungspolitik),<br />
512<br />
und die �Jaunde-Abkommen I und II. Letztere wurden<br />
mit 17 bzw. 19 mit der Gemeinschaft verbundenen<br />
Staaten nach Erlangung der Unabhängigkeit als<br />
Assoziierungsabkommen geschlossen; sie traten am<br />
1. 7. 1964 bzw. am 1. 1. 1971 in Kraft.<br />
Zur Ablösung des Jaunde-Abkommens durch das<br />
Lomé-Abkommen führte der Beitritt Großbritanniens<br />
zu den Europäischen Gemeinschaften 1973.<br />
Um das Verhältnis der Commonwealth-Staaten zur<br />
EWG für alle Seiten befriedigend lösen und auf eine<br />
partnerschaftliche Basis stellen zu können, wurden<br />
gemeinsame Verhandlungen über ein einheitliches<br />
Abkommen mit den Ländern Subsahara-Afrikas, der<br />
Karibik und des Pazifiks geführt.<br />
Ziele der Assoziierungspolitik des Lomé-Abkommens<br />
waren von Anfang an die Schaffung eines großen<br />
Wirtschaftsraumes mit einem Höchstmaß an<br />
Freizügigkeit, eine wirksame finanzielle Unterstützung<br />
der assoziierten Länder, die Entwicklung eines<br />
Systems zur Stabilisierung von Exporterlösen der<br />
AKP-Staaten und die institutionelle Zusammenarbeit.<br />
Die in Lomé I vereinbarte partnerschaftliche<br />
Zusammenarbeit wurde in den anschließenden Abkommen<br />
Lomé II bis IV fortgesetzt, verstärkt und erweitert;<br />
insbes. Lomé IV setzte neue Akzente.<br />
2. Zusammenarbeit: In den Verträgen wurden die<br />
wichtigen Bereiche der Zusammenarbeit zwischen<br />
der E(W)G und AKP-Staaten rechtlich verbindlich<br />
geregelt:<br />
– Handelspolitische Zusammenarbeit: Zollfreier Zugang<br />
für fast alle Erzeugnisse aus AKP-Staaten zum<br />
EG-Markt. Ausgenommen waren eine Reihe agrarischer<br />
Exportgüter, deren Einfuhrbeschränkungen<br />
auf Agrarmarktordnungen der EG zurückzuführen<br />
sind (�Agrarprotektionismus, �Gemeinsame Agrarpolitik)<br />
.<br />
– Zusammenarbeit im Bereich der Grundstoffe: Das<br />
im Rahmen des Lomé I-Abkommens entwickelte<br />
System der Exporterlösstabilisierung (STABEX)<br />
zielte darauf, negative Auswirkungen, die sich aus<br />
Schwankungen der Erlöse aus dem Export landwirtschaftlicher<br />
Rohstoffe ergeben, aufzufangen. Für<br />
insgesamt 49 Agrarprodukte wurden Ausgleichszahlungen<br />
geleistet, wenn das Land von diesen Exporterlösen<br />
abhängig war und die Einnahmen aus der<br />
Ausfuhr dieses Gutes unter einen bestimmten Referenzwert<br />
gefallen waren. Lomé III stellte 925 Mio.<br />
ECU für Ausgleichszahlungen zur Verfügung, für<br />
Lomé IV waren es für den Zeitraum von 1990 bis
1995 1,5 Mrd. ECU und von 1995 – 1999 1,8 Mrd.<br />
ECU. Die ursprünglich bei einem Wiederansteigen<br />
der Exportpreise von den am weitesten entwickelten<br />
AKP-Staaten zu leistenden Rückzahlungen wurden<br />
mit Lomé IV abgeschafft.<br />
– Das auf unbestimmte Zeit zum Abkommen Lomé I<br />
vereinbarte Zuckerprotokoll: Es sichert den 18 Zucker<br />
exportierenden AKP-Staaten nach bestimmten<br />
Quoten jährlich den Export von insgesamt 1,3 Mio. t<br />
Zucker auf den EG-Markt zu garantierten Preisen,<br />
die sich an den Erzeugerpreisen in der EG orientieren.<br />
Das Zuckerprotokoll wurde in Lomé II, III und<br />
IV unverändert übernommen.<br />
– Das durch Lomé II geschaffene Kreditsystem zur<br />
Sanierung und Diversifizierung von Bergbauunternehmen<br />
(SYSMIN) sollte den AKP-Staaten, die<br />
Bergbauerzeugnisse ausführen, eine gewisse Erlösstabilisierung<br />
gewährleisten. Jedoch wurden im Unterschied<br />
zum STABEX-System, das beim Rückgang<br />
der Erlöse einen automatischen Ausgleichsanspruch<br />
gewährte, im SYSMIN-System die Mittel für<br />
konkrete Förderungs-, Sanierungs-, Diversifizierungs-<br />
oder Rehabilitierungsprogramme und -projekte<br />
eingesetzt, um die Wettbewerbsfähigkeit wiederherzustellen<br />
oder zu stärken. Außerdem war<br />
SYSMIN anwendbar, wenn die Exporterlöse aus<br />
dem Bergbausektor so stark zurückgingen, dass dessen<br />
Existenz gefährdet war. In dieses System waren<br />
vor allem Kupfer, Phosphate, Bauxit, Aluminiumoxid,Zinn,EisenerzundManganeinbezogen.Eswar<br />
nur anwendbar, wenn die gefährdeten Bergbauprodukte<br />
mindestens 20 % (bei einigen 15 %) der Ausfuhrerlöse<br />
des betreffenden Landes ausmachten (bei<br />
den am wenigsten entwickelten Ländern, bei Inselund<br />
Binnenstaaten 12 % bzw. 10 %).<br />
– Zusammenarbeit bei der Entwicklungsfinanzierung:<br />
Der Schwerpunkt der finanziellen und technischen<br />
Zusammenarbeit lag bei der Förderung der<br />
Landwirtschaft, der Ernährungssicherung und der<br />
ländlichen Entwicklung; Unterstützung dabei leistete<br />
das Technische Zentrum Landwirtschaft.<br />
DanebenkamderFörderungderprivatenWirtschaft,<br />
insbes. kleinerer und mittlerer Betriebe, große Bedeutung<br />
zu. Hilfe bei der Anbahnung von Joint-<br />
Ventures zwischen AKP-Unternehmen und EU-<br />
Partnern bot das Zentrum für Industrielle Entwicklung<br />
in Brüssel an. Darüber hinaus wurden je nach<br />
Bedarf auch andere Bereiche, z. B. Energie, Dienstleistungen,<br />
Transport und Kommunikation, Handel,<br />
Lomé-Abkommen<br />
kulturelle und soziale Kooperation, unterstützt. Die<br />
Grundprinzipien, auf die sich die Zusammenarbeit<br />
zwischen der EG/EU und den AKP-Staaten bis heute<br />
stützt, sind: Gleichheit der Partner; Achtung ihrer<br />
Souveränität; beiderseitiges Interesse und wechselseitige<br />
Abhängigkeit.<br />
3. Organe und Instrumente: Die für die Durchführung<br />
des Abkommens (auch des nachfolgenden Cotonou-Abkommens)<br />
verantwortlichen Organe sind<br />
der AKP-EU-Ministerrat, der Botschafterausschuss<br />
und die Paritätische Versammlung.<br />
Der Ministerrat setzt sich aus den Mitgliedern des<br />
RatsundMitgliedernderEuropäischenKommission<br />
einerseits und je einem Mitglied der Regierungen der<br />
AKP-Staaten andererseits zusammen. Er hat die<br />
Aufgabe, die Hauptleitlinien für die Durchführung<br />
der Abkommen festzulegen und alle politischen Beschlüsse<br />
zur Verwirklichung der Vertragsziele zu<br />
fassen.<br />
Der Botschafterausschuss besteht aus den ständigen<br />
Vertretern der Mitgliedstaaten bei der EU sowie einem<br />
Vertreter der Kommission einerseits und aus<br />
den Leitern der �Missionen der einzelnen AKP-<br />
Staaten bei der EU andererseits. Er unterstützt den<br />
Ministerrat als Entscheidungs-, Aufsichts- und<br />
Streitbeilegungsorgan.<br />
Die Paritätische Versammlung setzt sich zu gleichen<br />
TeilenausMitgliederndesEuropäischenParlaments<br />
und aus von den AKP-Staaten benannten Parlamentsmitgliedern<br />
zusammen. Sie hat beratende Aufgaben.<br />
Für die Finanzierung der Maßnahmen in den AKP-<br />
Staaten ist der 1957 auf der Grundlage des Internen<br />
Finanzierungsabkommens von den Mitgliedstaaten<br />
errichtete Europäische Entwicklungsfonds (EEF)<br />
zuständig. Die Aufbringung der Mittel erfolgt nach<br />
einemfestgelegtenSchlüsseldurchdieMitgliedstaaten<br />
(vgl. Cotonou-Abkommen); ihre Verwaltung obliegt<br />
der Europäischen Kommission unter Beachtung<br />
der vorgesehenen Mitwirkungsmöglichkeiten<br />
der Mitgliedstaaten. Der EEF hat eine Laufzeit von<br />
jeweils fünf Jahren. Sein Umfang stieg von 3,1 Mrd.<br />
ECU (4. EEF, Lomé I) auf 13,5 Mrd. Euro für den 9.<br />
EEF (2000 – 2005/07). Außerdem stellt die �Europäische<br />
Investitionsbank (EIB) Darlehen für Entwicklungsvorhaben<br />
der AKP-Länder zur Verfügung:<br />
1,7 Mrd. Euro für die Laufzeit von 2000 bis<br />
2005.<br />
4. Lomé IV: Neben der Konsolidierung der in den<br />
513
Lomé-Abkommen<br />
Lomé -Verträgen I bis III grundgelegten und weiterentwickelten<br />
Politik packte Lomé IV neue Aufgaben<br />
an und setzte neue Schwerpunkte. In allen wichtigen<br />
Bereichen wurden im Vergleich zu seinen VorgängernbeachtlicheVerbesserungenerreicht.Dieschon<br />
inLoméIIIinFormeiner„GemeinsamenErklärung“<br />
enthaltenen Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte,<br />
zur demokratischen Kontrolle und zur<br />
Teilhabe der Bevölkerung an Entwicklungsprozessen<br />
wurden konkretisiert und in den Vertragstext<br />
übernommen;beiHandelundRohstoffen–zentralen<br />
BereichenfürdieAKP-Länder–konntennurgeringe<br />
Fortschritteverbuchtwerden,z.B.Verbesserungder<br />
STABEX- und SYSMIN-Systeme, Erhöhung der<br />
Mittel dafür und Lockerung der Ursprungsregeln für<br />
Handelsgüter aus den AKP-Staaten. Neue Schwerpunkte<br />
des Lomé IV-Abkommens waren:<br />
– die Ausweitung und Intensivierung der Zusammenarbeit<br />
im kulturellen und sozialen Bereich;<br />
– die Erhaltung und Verbesserung der Umwelt;<br />
– die dezentralisierte Entwicklung durch stärkere<br />
BeteiligungvonBasisgruppen(z.B.Genossenschaften,<br />
Dorfgemeinschaften, einheimischen und europäischen<br />
Nichtregierungsorganisationen an der Entwicklungszusammenarbeit);<br />
– die regionale Zusammenarbeit;<br />
– die Förderung der Privatinitiative;<br />
– die Finanzhilfe für Strukturanpassungsmaßnahmen;<br />
– der Beitrag zur Verminderung der Verschuldung<br />
der AKP-Staaten.<br />
5. Würdigung: Nach 25 Jahren Lomé-Abkommen<br />
(1975–2000)isteineentwicklungspolitischeEpoche<br />
zu Ende gegangen. Sie wurde in der ersten Phase (bis<br />
1990) durch den Kalten Krieg, in der zweiten Phase<br />
durch die Auflösung des globalen Blockdenkens geprägt.<br />
Die daraus resultierenden Veränderungen haben<br />
sich in der konzeptionellen Fortentwicklung des<br />
Vertragswerkes niedergeschlagen. Konzentrierte<br />
sich im Rahmen der Abkommen von Jaunde (1964–<br />
69,1970–75) die entwicklungspolitische Kooperation<br />
der EWG auf damals 19 unabhängig gewordene<br />
Staaten des französischsprachigen Schwarzafrika,<br />
so führte der Beitritt Großbritanniens zur EG 1975<br />
zum ersten Lomé-Abkommen, durch das die Gruppe<br />
derPartnerländerauf46AKP-Staaten erweitertwurde.<br />
Leitgedanken schon dieser ersten Kooperationsabkommen<br />
waren<br />
– das Prinzip der Partnerschaft,<br />
514<br />
– die vertragliche Vereinbarung gegenseitiger<br />
Rechte und Pflichten,<br />
– der Kooperationsansatz und<br />
– die Vorhersehbarkeit automatisch bereit gestellter<br />
Finanzmittel.<br />
DiesesgrundlegendeKonzeptdermultilateralenKooperation<br />
als Rahmen der AKP-EG/EU-Entwicklungszusammenarbeit<br />
hatte als leitendes Prinzip 25<br />
JahreBestand.JedochsinddieeinzelnenHandlungsinstrumente<br />
kontinuierlich weiterentwickelt worden.<br />
Ab 1990 wurden Strukturanpassungsmaßnahmen<br />
vereinbart. Zeitgleich mit dem Ende des<br />
Ost-West-KonfliktserhieltdasVertragswerkmitder<br />
Aufnahme von Menschenrechtsbestimmungen eine<br />
politische Dimension. Diese wurde durch die Aufnahme<br />
demokratischer und rechtsstaatlicher Grundsätze<br />
in den Vertragstext von Lomé IV weiter ausgebaut.<br />
Zugleich wurde die Möglichkeit eröffnet, die<br />
Verletzung dieser Grundsätze des Abkommens mit<br />
der teilweisen oder vollständigen Aussetzung des<br />
Abkommens zu ahnden (Art. 366a).<br />
Die Lomé-Abkommen verfolgten ehrgeizige Ziele,<br />
sie scheiterten aber häufig an der Realität. Insbesondere<br />
wurde die Leistungsfähigkeit der institutionellen<br />
und politischen Strukturen vieler AKP-Staaten<br />
überschätzt. Pauschale Mittelzuweisungen an die<br />
AKP-Staaten förderten deren Anspruchsdenken.<br />
Daraus resultierte, dass bei Neuverhandlungen immer<br />
wieder zusätzliche Sonderfonds, Fazilitäten<br />
usw. das Vertragswerk zunehmend komplexer, damit<br />
unübersichtlicher und schwieriger handhabbar<br />
machten und die Mittelabflüsse verzögerten. Auch<br />
die den AKP-Staaten eingeräumten Handelspräferenzen<br />
haben, wenn auch von Land zu Land unterschiedlich,<br />
aufgrund der Globalisierung der Wirtschaft<br />
und neuer Regelwerke des �GATT an Wirksamkeit<br />
verloren. Der Handel der EG/EU mit den<br />
AKP-Staaten ist auf eine marginale Größe zurückgefallen:<br />
Nur ca. 3 % der EU-Exporte gehen in die<br />
AKP-Staaten, die umgekehrt nur noch 4 % ihrer Ausfuhren<br />
auf den europäischen Markt schicken. Die<br />
Rohstoffabhängigkeit der westlichen Industrieländer<br />
von den Entwicklungsländern hat sich seit Öffnung<br />
des Ostens und der Globalisierung der Märkte<br />
wesentlich verringert. Außenwirtschaftlich haben<br />
die Entwicklungsländer immer mehr an Bedeutung<br />
für die EU verloren. Zwar hat Lomé IV manchen dieser<br />
Kritikpunkte Rechnung getragen, doch die<br />
grundlegend veränderten Rahmenbedingungen er-
fordern eine diesem Wandel Rechnung tragende<br />
Umgestaltung und Neubelebung der Kooperation<br />
zwischen AKP-Ländern und Europäischer Union.<br />
Die Europäische Kommission hat frühzeitig die Notwendigkeit<br />
dafür erkannt und ihre Vorschläge dazu<br />
in einem „Grünbuch über die Beziehungen zwischen<br />
derEuropäischenUnionunddenAKP-Staatenander<br />
Schwelle zum 21. Jahrhundert – Herausforderungen<br />
und Optionen für eine neue Partnerschaft“ (1996,<br />
KOM 1996/570) niedergelegt. Darin wird der Wille<br />
unterstrichen, die Beziehungen zu den AKP-Staaten<br />
zu „revitalisieren“. Das Grünbuch macht dafür eine<br />
Reihe bemerkenswerter Vorschläge, die zum großen<br />
Teil Eingang in das Cotonou-Abkommen als Nachfolge-AbkommenvonLoméIVgefundenhaben.Mit<br />
dem neuen Abkommen ist es gelungen, ein Vertragswerkzuschaffen,dassichweitgehendandieseitdem<br />
Ende des Kalten Krieges veränderten Rahmenbedingungen<br />
und an die fortschreitenden Differenzierungen<br />
zwischen den AKP-Ländern anpasst. Der neue<br />
Name des Abkommens signalisiert einen grundlegenden<br />
Neuanfang, der zugleich aber auch die Leitidee<br />
des Lomé-Abkommens bewahrt. �Cotonou-<br />
Abkommen,�Entwicklungspolitik K. E.<br />
Literatur:<br />
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit<br />
(BMZ): Lomé IV. Materialien Nr. 82. Bonn 1991<br />
Dass.: Das Abkommen von Cotonou – Neue Wege in der<br />
AKP-EG-Partnerschaft. Materialien Nr. 118 Bonn 2002<br />
Buntzel-Cano, R..: Alles außer Waffen – und Zucker?<br />
In: EuZ, 4/2001<br />
Europäische Kommission: Grünbuch über die Beziehungen<br />
zwischen der Europäischen Union und den AKP-Staaten an<br />
der Schwelle zum 21. Jahrhundert – Herausforderungen und<br />
Optionen für eine neue Partnerschaft. Luxemburg 1997<br />
Dies.: Das IV. Abkommen von Lomé nach der Halbzeitüberprüfung.<br />
Änderungen und Aussichten. Brüssel, Luxemburg<br />
1996<br />
Frisch, D.: Jenseits von Lomé. Die Zukunft der<br />
EU-AKP-Beziehungen nach dem Jahr 2000. In: EuZ, 4/1998<br />
Ders.: Abschied von Lomé- IV – Was kommt danach?<br />
In:EuZ,10/1999<br />
Lutz, G./Tellkämper, W.: Weltmarktintegration oder besondere<br />
Beziehungen? Interessengegensätze zwischen EU und<br />
AKP-Staaten. In: EuZ 10/1999<br />
Wolf, S.: Partnerschaft auf dem Prüfstand: Die EU und die<br />
AKP-Staaten. In: Integration 3/97, S. 160–174<br />
Londoner Bericht �Luxemburger Bericht Ziff. 1<br />
Luxemburger Bericht<br />
1. Begriff und Entwicklung: Mit dem Luxemburger<br />
Berichtvon1970wurdederEinstiegindie �Europäi-<br />
Luxemburger Bericht<br />
sche Politische Zusammenarbeit (EPZ) der damals<br />
sechs Mitgliedstaaten der EWG vollzogen. Der Bericht<br />
ist nach dem Konferenzort der Außenminister<br />
benannt. Die Staats- und Regierungschefs der EWG<br />
beschlossenaufderHaagerGipfelkonferenzam1./2.<br />
12. 1969, die politische Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten<br />
auszubauen. Drei Berichte bildeten die<br />
Grundlage für die außenpolitische Zusammenarbeit<br />
der Staaten:<br />
– Auf den Konferenzen in Viterbo (19. 5. 1970) und<br />
endgültig in Luxemburg (27. 10. 1970) einigten sich<br />
die Außenminister auf Grundsätze und Verfahren<br />
der engeren politischen Zusammenarbeit (Luxemburger<br />
Bericht). Dieser Luxemburger Bericht wiederum<br />
basierte auf einer Vorlage, welche die Leiter<br />
der politischen Abteilungen der Außenministerien<br />
unter dem Vorsitz von Etienne �Davignon ausgearbeitet<br />
hatten (�Davignon-Bericht).<br />
– Eine weitere Vertiefung der politischen Zusammenarbeit<br />
beschlossen die Staats- und Regierungschefs<br />
auf der Pariser Gipfelkonferenz (19./20. 10.<br />
1972),nämlichdenjährlichviermaligenZusammentritt<br />
der Außenminister im Rahmen der EPZ und die<br />
Verstärkung der Konsultationen auf allen Gebieten.<br />
Sie vereinbarten darüber hinaus, einen zweiten Bericht<br />
über die weitere Verbesserung der politischen<br />
Zusammenarbeit ausarbeiten zu lassen, der am 11. 9.<br />
1973 von den Außenministern der dann neun Mitgliedstaaten<br />
in Kopenhagen angenommen wurde<br />
(Kopenhagener Bericht).<br />
– Der dritte Bericht datiert von 1981 und beteiligt die<br />
Kommission an der außenpolitischen Zusammenarbeit,<br />
auch wenn sie in diesem Bereich nicht über die<br />
besondere institutionelle Rolle verfügt, wie sie in der<br />
EG festgelegt ist (Londoner Bericht).<br />
DiesedreiBerichtebildetendasFundamentderEPZ,<br />
bevor diese mit der �Einheitlichen Europäischen<br />
Akte (1986) eine Grundlage im primären Gemeinschaftsrecht<br />
erhielt.<br />
2. Gegenstandsbeschreibung: Im Luxemburger Bericht<br />
wurde festgelegt, dass die Außenminister der<br />
sechs Mitgliedstaaten mindestens zweimal jährlich<br />
zu Beratungen zusammenkommen. Ein „Politisches<br />
Komitee“, dem die Leiter der politischen Abteilungen<br />
der Außenministerien angehören, trifft sich viermaljährlich,umdieMinistertreffenvorzubereiten.<br />
Weil diese Treffen nicht unter dem Dach der EWG,<br />
sondern als eigenständige Form der Zusammenarbeit<br />
der Staaten stattfanden, wurden sie – ebenso wie<br />
515
Luxemburger Erklärung<br />
Erklärungen der EPZ – auch nach der Anzahl der<br />
Mitgliedstaaten benannt (1970 – 1973: die Sechs;<br />
1973 – 1980:dieNeun;1981 – 1985:dieZehn;1986<br />
– 1993: die Zwölf).<br />
Die Außenminister trennten zuerst genau, ob sie sich<br />
im Rahmen der EWG zu Sitzungen trafen oder im<br />
Rahmen der EPZ. Dies führte – für Außenstehende –<br />
zu verwunderlichen Verhaltensweisen: Vormittags<br />
tagten die Außenminister z. B. in London, um über<br />
die Verstärkung der politischen Zusammenarbeit zu<br />
beraten; dann bestiegen sie das Flugzeug, um nachmittags<br />
in Brüssel als Ministerrat der EWG zusammenzutreten.<br />
Dieser Ortswechsel sollte zeigen, dass die Europäische<br />
Politische Zusammenarbeit keine Angelegenheit<br />
der EWG ist. Dieses umständliche und ineffizienteVerfahrenwurdeimLaufederZeiteingestellt.<br />
3. Kritische Wertung: Die Europäische Politische<br />
Zusammenarbeit wurde durch den Luxemburger Bericht<br />
mit intergouvernementalen Mechanismen etabliert,<br />
d. h. die Entscheidungskompetenz lag bei den<br />
nationalen Regierungen, und es galt das Konsens-<br />
Prinzip. Die Kommission war zu Beginn nicht in das<br />
Verfahren eingebunden, was zur Schwächung ihrer<br />
Position führte. Der Europäische Gerichtshof hatte<br />
keinerlei Kompetenzen. Die EPZ bestand also rechtlich<br />
gesehen zusätzlich zu den EWG-Verträgen und<br />
war Ausdruck einer Zeit der Stagnation in der europäischen<br />
Integrationsentwicklung.<br />
Durch den Vertrag über die Europäische Union wurde<br />
die EPZ zur �Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik<br />
(GASP) weiterentwickelt. Die Verträge<br />
vonAmsterdamundNizzabeinhalteneineReihevon<br />
institutionellen Veränderungen der GASP (�Hoher<br />
Vertreter der GASP, �Strategie- und Frühwarneinheit,�Troika,VerhältnisEUzurWEU).<br />
M. P.<br />
Literatur:<br />
Fröhlich, S.: Die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik<br />
GASP. Wiesbaden 2005<br />
Pijpers, A./Regelsberger, E.: Die Europäische Politische<br />
Zusammenarbeit in den 80er Jahren. Eine gemeinsame Außenpolitik<br />
für Westeuropa? Bonn 1989<br />
Regelsberger, E.: Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik<br />
der EU (GASP). Konstitutionelle Angebote im Praxistest<br />
1993 – 2003. Baden-Baden 2004<br />
Rummel, R.: Zusammengesetzte Außenpolitik. Westeuropa als<br />
übernationaler Akteur. Kehl a. Rh. 1982<br />
Luxemburger Erklärung �Außenbeziehungen der<br />
EU Ziff. 4.1.4<br />
516<br />
Luxemburger Kompromiss �Luxemburger Vereinbarung<br />
Luxemburger Vereinbarung<br />
1. Begriffserklärung und -beschreibung: Die Luxemburger<br />
Vereinbarung von 1966 (häufig „Luxemburger<br />
Kompromiss“ genannt) ist eine rechtlich<br />
nicht verbindliche Vereinbarung, welche die damals<br />
noch sechs Staats- und Regierungschef der EWG in<br />
Luxemburg getroffen haben. Inhalt ist die Absprache,<br />
dass bei Entscheidungen im Ministerrat grundsätzlicheinKonsensanzustrebenist,auchwennnach<br />
dem Vertrag ein Beschluss mit qualifizierter Mehrheit<br />
möglich ist. Der Mitgliedstaat, der „sehr wichtige<br />
Interessen“ geltend macht, soll nicht ohne weiteres<br />
überstimmt werden, sondern „die Erörterung<br />
(muss) fortgesetzt werden, bis ein einstimmiges Einvernehmen<br />
erzielt worden ist“. Dieser Kompromiss<br />
beendete die Krise der EWG, die durch die französische<br />
„Politik des leeren Stuhls“ (s. u.) ausgelöst wordenwar.Offenblieb,wieeinwichtigesnationalesInteresse<br />
zu definieren und wie zu verfahren ist, wenn<br />
der Dissens nicht auszuräumen ist.<br />
Gemäß Art. 43 EWGV von 1957 sollte zu Beginn der<br />
dritten Stufe zur Verwirklichung des Gemeinsamen<br />
Agrarmarktes, also zum 1. 1. 1966, im Ministerrat<br />
das für eine Übergangszeit angewandte Einstimmigkeitsprinzip<br />
von der Mehrheitsentscheidung abgelöst<br />
werden. Der französische Regierungsvertreter<br />
nahm die Beratungen über ein Maßnahmenpaket der<br />
Kommission vom 31. 3. 1965 (Finanzierung der Gemeinsamen<br />
Agrarpolitik durch eigene Finanzmittel<br />
der Gemeinschaft; bessere Kontrolle des Haushaltsbudgets<br />
durch eine Ausdehnung der Rechte des Europäischen<br />
Parlaments und der Kommission) zum<br />
Anlass, sich aus dem Ministerrat zurückzuziehen<br />
und nicht mehr zu den Sitzungen zu erscheinen<br />
(�„Politik des leeren Stuhls“). So konnte die EWG<br />
ein halbes Jahr lang (vom 1. 7.1965 bis 29. 1. 1966)<br />
keine Entscheidungen mehr treffen. Erst durch die<br />
Luxemburger Vereinbarung wurde Frankreich wieder<br />
an den Verhandlungstisch geholt und die Krise<br />
überwunden.<br />
Praktisch bedeutete die Luxemburger Vereinbarung<br />
eine Außerkraftsetzung der im EWG-Vertrag vorgesehenen<br />
Mehrheitsabstimmungen. Über die Folgen<br />
eines Scheiterns der Vereinbarung, wenn also kein<br />
einvernehmlicher Konsens unter den Mitgliedstaaten<br />
herzustellen ist, waren Frankreich und die ande-
en Mitgliedstaaten unterschiedlicher Auffassung<br />
(Formel: Man war sich einig, dass man sich uneinig<br />
war.): Frankreich ging davon aus, dass das einzelne<br />
Mitglied eine Veto-Position besitze, falls vitale Interessen<br />
des eigenen Landes berührt seien. Die fünf<br />
anderen EWG-Staaten wollten in diesen Fällen die<br />
vertraglich vorgesehenen Abstimmungsprozeduren<br />
verwirklichen. Frankreich gelang es, seine Sicht<br />
durchzusetzen, so dass für jedes Land faktisch die<br />
Möglichkeit eines Vetos bestand.<br />
Der Luxemburger Kompromiss ist formalrechtlich<br />
nicht verbindlich. Er schuf aber einen Vertrauenstatbestand,<br />
der nicht einseitig aufgekündigt werden<br />
konnte, es sei denn, ein Mitgliedsland wollte einen<br />
offenen Konflikt heraufbeschwören.<br />
Hinter der Blockade der Tätigkeit der EWG durch<br />
Frankreich stand ein grundsätzlicher Dissens über<br />
die Integrationskonzepte: Die Übertragung von politischen<br />
Entscheidungsbefugnissen auf die EWG<br />
ging Frankreich (unter Charles de �Gaulle, der seit<br />
Dezember1958Präsidentwar)zuweit.Unterschiedliche<br />
Konzepte zur Organisation der europäischen<br />
Einigung (supranationale und intergouvernementale<br />
Entscheidungsfindung) standen hier einander gegenüber.<br />
In der Zeit nach der Luxemburger Vereinbarung erfolgte<br />
gegen den Willen eines Mitgliedslandes keine<br />
Mehrheitsabstimmung mehr, mehrere MitgliedstaatenberiefensichaufdenKompromissundverhinderten<br />
so Entscheidungen. Die �Einheitliche Europäische<br />
Akte (1986) tastete die Regelung des Luxemburger<br />
Kompromisses nicht an. Seit 1986 kam es jedoch<br />
vermehrt zu Entscheidungen mit qualifizierter<br />
Mehrheit. In den letzten Jahren wurde auf den Luxemburger<br />
Kompromiss kein Bezug mehr genommen.<br />
In den �Vertrag von Amsterdam hat eine abgewandelte<br />
Form der Luxemburger Vereinbarung Eingang<br />
gefunden, sowohl im Bereich der �Gemeinsamen<br />
Außen- und Sicherheitspolitik (Art. 23 Abs. 2 EUV)<br />
wie auch bei den Regularien zur �Flexibilität in der<br />
ersten (Art. 11 EGV) und dritten Säule (Art. 40<br />
EUV). Neu ist, dass ein Veto bei einer qualifizierten<br />
Mehrheitsabstimmung möglich wird. Wenn wichtige<br />
nationale Gründe ein Mitgliedsland dazu veranlassen,<br />
eine mit Mehrheit zu treffende Entscheidung<br />
abzulehnen, dann erfolgt überhaupt keine Abstimmung.<br />
2. Kritische Wertung: Der Kompromiss von Luxem-<br />
Luxemburg-Prozess<br />
burg war die Minimallösung in einer großen Krise<br />
der europäischen Einigung. Durch ihn erfuhr aber<br />
auch der Leitgedanke, der alle europäischen Föderationspläne<br />
der Nachkriegszeit bestimmt und die<br />
EWG so erfolgreich gemacht hatte, eine Niederlage.<br />
Der Integrationsprozess wurde schwerfälliger. Die<br />
neuen, dem Luxemburger Kompromiss ähnlichen<br />
Regelungen im Amsterdamer Vertrag wurden notwendig,<br />
um in den drei genannten Fällen überhaupt<br />
einen Einstieg in die Mehrheitsentscheidung zu erreichen.<br />
Durch die weitere Einführung von Mehrheitsentscheidungen<br />
– das letzte Mal durch den Nizza-Vertrag<br />
– und die im �Verfassungsvertrag 2004<br />
vorgesehenen Möglichkeiten zum vereinfachten<br />
Übergang zu Mehrheitsentscheidungen (�Passerelle)<br />
werden die Regelungen des Luxemburger Kompromisses<br />
immer weniger relevant. Die Staats- und<br />
Regierungschefs erhalten sie aber gewissermaßen<br />
„inderSchublade“weiterhinamLeben. M. P.<br />
Literatur:<br />
Berens, A.: Der Weg der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft<br />
zur Politik des leeren Stuhls und zum Luxemburger<br />
Kompromiss. Düsseldorf 2002<br />
Streinz, R.: Die Luxemburger Vereinbarung. München 1984<br />
Luxemburg-Prozess. Der sog. Luxemburg-Prozess<br />
zielt auf eine Weiterentwicklung und bessere<br />
Umsetzung einer europäischen Beschäftigungsstrategie,<br />
welche die Maßnahmen der Mitgliedstaaten<br />
der Europäischen Union koordiniert. Damit soll die<br />
Effizienz der Arbeitsmärkte erhöht und durch die<br />
Verbesserung von Beschäftigungsfähigkeit, Unternehmensgeist,<br />
Anpassungsfähigkeit der Unternehmen<br />
und ihrer Arbeitsnehmer sowie der gleichberechtigten<br />
Teilhabe von Frauen an der Erwerbstätigkeit<br />
ein beschäftigungspolitischer Aufschwung erreicht<br />
werden.<br />
1. Entstehen des Luxemburg-Prozesses. Eingeleitet<br />
wurde diese neue „europäische Beschäftigungsstrategie“<br />
durch die Sondertagung des Europäischen Rates<br />
über Beschäftigungsfragen in Luxemburg vom<br />
20./21. 11. 1997. Grundlage für diesen Prozess war<br />
die Unterzeichnung des �Vertrages von Amsterdam<br />
am 2. 10. 1997. In diesem Vertrag war der Europäischen<br />
Gemeinschaft eine neue Aufgabe und Zuständigkeit<br />
in Bezug auf Beschäftigung zugewiesen worden<br />
(Titel VIII, Artikel 125–130 EGV). Die Ratifizierung<br />
dieses Vertragstextes bedurfte eines gewissen<br />
Zeitraumes – der Vertrag trat am 1. 5. 1999 in<br />
Kraft. Angesichts der prekären Beschäftigungslage<br />
517
Luxemburg-Prozess<br />
innerhalb der EU beschloss der Europäische Rat auf<br />
seiner Tagung in Luxemburg, auf der erstmalig das<br />
Beschäftigungsproblem alleiniges Thema war, den<br />
einschlägigen Bestimmungen des neuen Titels „Beschäftigung“<br />
im Vertrag von Amsterdam sofort Wirkung<br />
zu verleihen. Damit sollte die Anwendung der<br />
Bestimmungen über die Abstimmung der Beschäftigungspolitik<br />
der Mitgliedstaaten bereits auf das Jahr<br />
1998 vorgezogen werden. Die Problematik, ob möglicherweise<br />
durch diesen Vorgang in das Ratifizierungsrecht<br />
der nationalen Parlamente eingegriffen<br />
wurde, wurde nicht weiter vertieft. Es war das gemeinsame<br />
Ziel, den Erfolg bei der Konvergenz der<br />
Wirtschaftspolitik, die zur Einführung des Euro notwendig<br />
war, nunmehr auch im Bereich Beschäftigung<br />
herbeizuführen. Deswegen rief der Europäische<br />
Rat in Luxemburg alle Beteiligten – die Mitgliedstaaten,dieRegionen,dieSozialpartner,dieOrgane<br />
der Gemeinschaft – dazu auf, die sich zu diesem<br />
Zeitpunkt bietende Gelegenheit zu ergreifen, um<br />
sich zu einem kohärenten und geschlossenen VorgehenimBereichderBeschäftigungzuentschließen.<br />
2. Verfahrensschritte der Beschäftigungsstrategie –<br />
rechtliche Grundlage. Die koordinierte Strategie für<br />
die nationalen Beschäftigungspolitiken stützte sich<br />
dabei auf die Vorgaben des Artikel 128 des EG-<br />
Vertrages in der Fassung des später so in Kraft getretenen<br />
Vertrages von Amsterdam. Nach dieser Vertragsbestimmung<br />
legen Rat und Kommission dem<br />
Europäischen Rat jährlich einen Bericht über die Beschäftigungslage<br />
in der Gemeinschaft vor. Der Europäische<br />
Rat beschließt hierüber. Anhand dieser<br />
Schlussfolgerungen des Europäischen Rates legt der<br />
Rat auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung<br />
des Europäischen Parlaments, des �Wirtschafts-<br />
und Sozialausschusses, des �Ausschusses<br />
der Regionen und eines extra eingesetzten �Beschäftigungsausschusses<br />
jährlich Leitlinien fest, welche<br />
dieMitgliedstaateninihrerBeschäftigungspolitikzu<br />
berücksichtigen haben. Wichtig ist dabei, dass diese<br />
Leitlinien mit der gemeinsamen Wirtschaftspolitik<br />
in Einklang stehen. Danach übermittelt jeder Mitgliedstaat<br />
dem Rat und der Kommission jährlich einen<br />
Bericht über die wichtigsten Maßnahmen, die er<br />
zur Durchführung seiner Beschäftigungspolitik getroffen<br />
hat – das sind die sog. Nationalen Aktionspläne<br />
Beschäftigung (NAP). Diese Pläne werden dann<br />
ausgewertet. Der Rat überprüft auf dieser Grundlage<br />
die Beschäftigungspolitiken der Mitgliedstaaten im<br />
518<br />
Lichte der beschäftigungspolitischen Leitlinien.<br />
Dies geschieht jährlich. Dann kann der Rat auf Empfehlung<br />
der Kommission Empfehlungen an die Mitgliedstaaten<br />
richten, wenn er dies aufgrund der Ergebnisse<br />
seiner Prüfung für angebracht hält. Außerdem<br />
erstellen Rat und Kommission einen gemeinsamen<br />
Jahresbericht für den Europäischen Rat über die<br />
Beschäftigungslage in der Gemeinschaft und die<br />
Umsetzung der beschäftigungspolitischen Leitlinien.<br />
Der �Verfassungsvertrag 2004 hat die BestimmungendesAmsterdamerVertrageszurBeschäftigungspolitik,<br />
vor allem den Prozess der Analysen, Leitlinien,<br />
nationalen Berichte und möglichen Empfehlungen<br />
übernommen (Artikel III-206 VVE). Der Beschäftigungsprozess<br />
geht somit weiter, wenn der<br />
Verfassungsvertrag in Kraft tritt.<br />
3. Der Luxemburg-Prozess im Einzelnen. Der Luxemburg-Prozess<br />
besteht aus den genannten Vertragsvorgaben:<br />
Auf der Ebene der Union werden<br />
„beschäftigungspolitischeLeitlinien“festgelegt,die<br />
auf einer gemeinsamen Analyse der Lage und der<br />
Richtung einer Politik aufbauen, die zu einer dauerhaften<br />
Verringerung der Arbeitslosigkeit durchzuführen<br />
ist. Aufgrund dieser Analyse werden in den<br />
„Leitlinien“ dann konkrete Ziele festgelegt, deren<br />
Verwirklichung regelmäßig nach einem gemeinsamen<br />
Verfahren der Bewertung der Ergebnisse überprüft<br />
wird. Die beschäftigungspolitischen Leitlinien<br />
enthalten vier Grundpfeiler: das Unternehmertum<br />
und den Unternehmensgeist, die Beschäftigungsfähigkeit,<br />
die Anpassungsfähigkeit der Europäischen<br />
Union und die Chancengleichheit. Wichtig ist dabei,<br />
dass die „Leitlinien“ je nach ihrer Art und ihren Auswirkungen<br />
für die Mitgliedstaaten in unterschiedlicher<br />
Weise durchgeführt werden. Die Leitlinien<br />
müssen das �Subsidiaritätsprinzip sowie die ZuständigkeitenderMitgliedstaaten,einschl.ihrerGebietskörperschaften,<br />
im Bereich der Beschäftigung wahren<br />
und mit den Grundzügen der Wirtschaftspolitik<br />
vereinbar sein. Nach ihrer Annahme durch den Rat<br />
sind diese „Leitlinien“ in „Nationale Beschäftigungspolitische<br />
Aktionspläne“ einzufügen, die von<br />
den Mitgliedstaaten auf mehrjährige Sicht ausgearbeitetwerden.AufdieseWeisewerdendieLeitlinien<br />
jedes Mal, wenn es sich als möglich und angemessen<br />
erweist, als einzelstaatliche und in Zahlen ausgedrückte<br />
Ziele konkretisiert und anschließend in einzelstaatlichen<br />
Rechts- und Verwaltungsvorschriften
oder andere Regelungen umgesetzt. Dabei wird der<br />
unterschiedlichen Ausgangslage der Mitgliedstaaten<br />
hinsichtlich der in den „Leitlinien“ behandelten<br />
ProblemedurchdifferenzierteLösungenundAkzente<br />
entsprochen, die der Lage jedes einzelnen Mitgliedstaatesangepasstsind.MitderÜbermittlungihrer<br />
„Nationalen Beschäftigungspolitischen Aktionspläne“<br />
an Kommission und Rat und dem dann möglichen<br />
Erlass von Empfehlungen erhalten Kommission<br />
und Rat eine Überwachungsfunktion über die Beschäftigungspolitiken<br />
der Mitgliedstaaten. So prüft<br />
der Rat jährlich, in welcher Weise die Mitgliedstaaten<br />
die „Leitlinien“ in ihrer einzelstaatlichen Politik<br />
umgesetzthabenundlegtdiesdemEuropäischenRat<br />
vor. In diesem Prozess legt der Europäische Rat Wert<br />
auf Indikatoren, die anhand vergleichbarer statistischer<br />
Daten entwickelt worden sind und die bei den<br />
Beschäftigungspolitiken verfolgt werden sollen.<br />
Entsprechend wurde in den Folgejahren verfahren.<br />
Mit der ersten Entschließung des Rates vom 15. 12.<br />
1997zudenbeschäftigungspolitischenLeitlinienfür<br />
1998 wurde ein Prozess eingeleitet, der sich durch<br />
eine große Öffentlichkeit, politische Verpflichtungen<br />
und – so wurde erhofft – weitreichende Akzeptanz<br />
bei allen Akteuren auszeichnen sollte und mit<br />
Beschluss des Rates vom 13. 3. 2000 über die Leitlinien<br />
für beschäftigungspolitische Maßnahmen im<br />
Jahr 2000 (ABl. L 72/2000) formalisiert wurde.<br />
4.Einbindungindie �Lissabon-Strategie. Durchden<br />
Europäischen Rat vom 23./24. 3. 2000 in Lissabon<br />
wurde ein neues strategisches Ziel gesetzt: Die Europäische<br />
Union sollte zum wettbewerbsfähigsten und<br />
dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum<br />
der Welt werden. Das umfasste weitgehend den Bereich<br />
der Beschäftigung. Die Ziele der Lissabon-<br />
Strategie mussten somit in die beschäftigungspolitischen<br />
Leitlinien Eingang finden. Auf seiner Tagung<br />
vom 19./20. 6. 2000 in Santa Maria da Feira forderte<br />
der Europäische Rat die Sozialpartner auf, bei der<br />
Festlegung, Durchführung und Bewertung der beschäftigungspolitischenLeitlinieneinestärkereRolle<br />
zu übernehmen. Der Europäische Rat von StockholmimMärz2001bestimmtedannweiterebeschäftigungspolitische<br />
Ziele – so sollte bis zum Jahr 2005<br />
die allgemeine Beschäftigungsquote 67 % erreichen,<br />
die von Frauen 57 %, die der älteren Arbeitnehmer<br />
bis zum Jahr 2000 50 %.<br />
Der Europäische Rat von Barcelona bestätigte im<br />
März 2002 die Vollbeschäftigung als das übergrei-<br />
Luxemburg-Prozess<br />
fende Ziel der Europäischen Union und forderte eine<br />
verstärkte Beschäftigungsstrategie, um die Ziele der<br />
Lissabon-Strategie in einer erweiterten Europäischen<br />
Union zu unterstützen.<br />
Der Luxemburg-Prozess als laufendes Arbeitsprogramm<br />
der jährlichen Planung, Überwachung, Überprüfung<br />
und Neuanpassung hat durch die maßgeblichen<br />
Vorgaben der Europäischen Räte seit Lissabon<br />
inhaltlich einen stärkeren Impuls erhalten. Im Jahr<br />
2002 wurde eine umfassende Wirkungsbewertung<br />
der ersten fünf Jahre dieses Prozesses durchgeführt.<br />
Dabei wurden zentrale Herausforderungen und Themen<br />
für die Zukunft der europäischen Beschäftigungsstrategie<br />
identifiziert. Bei der Halbzeitbewertung<br />
wurde deutlich, dass der Luxemburg-Prozess<br />
noch nicht weitgehend im öffentlichen Bewusstsein<br />
verankert war. Es wurde die Notwendigkeit gesehen,<br />
die Ziele noch mehr mit den Vorgaben des Europäischen<br />
Rates von Lissabon im Hinblick auf ein nachhaltiges<br />
wirtschaftliches Wachstum und mehr und<br />
bessere Arbeitsplätze sowie einen größeren sozialen<br />
Zusammenhalt zu verbinden; auch erschien eine<br />
Vereinfachung, vor allem des Berichtswesens, notwendig.<br />
Ferner sollten andere Ministerräte, wie vor<br />
allem der Bildungsministerrat, stärker eingebunden<br />
werden. Die Entwicklung der Indikatoren sollte fortgesetzt<br />
werden. Die bildungspolitischen Leitlinien<br />
sollen in Zukunft kontinuierlicher ausgestaltet werden.<br />
5. Grenzen der Strategie – z. B. Beschäftigung und<br />
Bildung. Bei den beschäftigungspolitischen Leitlinien,<br />
dem Kern des Beschäftigungspaketes der Luxemburg-Strategie,<br />
ist auch ein Bereich angeführt,<br />
bei dem die Europäische Gemeinschaft nach den<br />
Vertragsgrundlagen nur ergänzende und fördernde<br />
Maßnahmen ergreifen darf – dies ist der Bildungsbereich.<br />
Im Rahmen der Beschäftigungsfähigkeit der<br />
Arbeitnehmergehtesdarum,durcheineModernisierung<br />
der Bildungs- und Ausbildungssysteme und<br />
durch eine bessere Verbindung zwischen Bildungsund<br />
Ausbildungssystemen und Arbeitswelt das Qualifikationsdefizit<br />
der europäischen Arbeitnehmer zu<br />
überwinden. Dabei wird das Ziel gesetzt, alle Arbeitskräfte<br />
in den Stand zu versetzen, neue Beschäftigungsmöglichkeitenzunutzen.Sosindu.a.folgende<br />
Vorgaben gemacht: Zur Bekämpfung der Langzeit-<br />
und der Jugendarbeitslosigkeit soll jedem arbeitslosen<br />
Erwachsenen innerhalb von 12 Monaten<br />
eine neue Chance in Form eines Arbeitsplatzes, einer<br />
519
Luxemburg-Prozess<br />
Ausbildung, einer Umschulung, eines Berufspraktikums<br />
oder einer anderen Beschäftigungsmaßnahme<br />
angeboten werden. Jedem arbeitslosen Jugendlichen<br />
soll bereits innerhalb von sechs Monaten eine entsprechende<br />
Chance angeboten werden. Die Zahl der<br />
SchulabbrechersollhalbiertunddieZahlderjenigen,<br />
welche die Sekundarstufe II nicht abschließen, verringert<br />
werden. Die Systeme der Lehrlingsausbildung<br />
sollen verbessert und die Lehrlingsausbildung<br />
nach dem Vorbild der leistungsfähigsten Mitgliedstaaten<br />
ausgebaut werden. Die Ausbildungssysteme<br />
sollen Anreize zur Beschäftigung geben. Die Zahl<br />
der Arbeitslosen, denen Ausbildungsmaßnahmen<br />
angeboten werden, ist maßgeblich zu erhöhen.<br />
Die beschäftigungspolitischen Leitlinien haben<br />
auch die konkreten bildungspolitischen Ziele, die in<br />
der Lissabon-Strategie festgelegt sind, aufgegriffen.<br />
Es geht hier um Einzelheiten im Bereich der Grund-,<br />
Sekundar- und Hochschulausbildung sowie des lebenslangen<br />
Lernens, des Umgangs mit Informationstechnologien<br />
und der beruflichen Bildung, damit<br />
die Beschäftigungsfähigkeit, die Anpassungsfähigkeit<br />
und die Qualifikation der Menschen verbessertwird.(�Lissabon-StrategieimBildungsbereich)<br />
Dieser Ansatz wurde aber von den deutschen Ländern<br />
zurückgewiesen: Der Bundesrat, über den die<br />
Länder an der europäischen Meinungsbildung und<br />
Rechtsetzung mitwirken, hat stets darauf hingewie-<br />
520<br />
sen,dassdieBildungspolitikeineigenständigerPolitikbereich<br />
und nicht der Beschäftigungs- und Wirtschaftspolitik<br />
zuzuordnen sei. Verbindliche Vorgaben<br />
für die Mitgliedstaaten im Bereich der Bildung<br />
seien durch den Vertrag ausgeschlossen und könnten<br />
deshalb auch nicht über die allgemeinen beschäftigungspolitischen<br />
Maßnahmen eingeführt werden<br />
(BR.Drs. 658/00, Beschluss vom 1. 12. 2000, vgl.<br />
auch BR.Drs. 765/00 – Beschluss vom 30. 3. 2001,<br />
BR.Drs. 86/01 – Beschluss vom 09.03.2001). Auch<br />
dieBildungsministerderMitgliedstaatenbestätigten<br />
im Bildungsministerrat der Europäischen Union den<br />
beschäftigungspolitischen Ansatz für das Bildungswesen<br />
nur zum Teil und verwiesen auf die eingeschränkten<br />
Zuständigkeiten der Europäischen Gemeinschaft<br />
im Bildungsbereich. Zwar begrüßten die<br />
Minister die neue aktive Rolle der Bildungspolitik<br />
bei der Mitgestaltung der europäischen Beschäftigungspolitik<br />
und die Aufnahme bildungsbezogener<br />
ZielsetzungenindenLeitlinien,siewiesenaberauch<br />
aufdiepersönliche,sozialeundkulturelleEntfaltung<br />
der Bürger als Ziel der Bildung hin (Stellungnahme<br />
des Rates (Bildung) zum Vorschlag für eine Entscheidung<br />
des Rates über Leitlinien für beschäftigungspolitische<br />
Maßnahmen der Mitgliedstaaten im<br />
Jahr 2001, verabschiedet am 9. 11. 2000, Rats-Dok.<br />
12814/00). I. B.-M.<br />
Internet: http://europa.eu.int/pol/socio/overwiew_de.htm
Maastrichter Vertrag (Vertrag über die Europäische<br />
Union)<br />
1. Begriffserklärung: Der „Vertrag über die EuropäischeUnion“(EUV)istaufdemGipfelderStaats-und<br />
Regierungschefs am 9./10. 12. 1991 im niederländischenMaastrichtvereinbartworden(daherdieKurzbezeichnung<br />
„Maastrichter Vertrag“). Er wurde am<br />
7. 2. 1992 in Maastricht unterzeichnet und ist nach<br />
seiner Ratifizierung in – damals – allen zwölf Staaten<br />
am 1. 11. 1993 in Kraft getreten. Der Vertrag wurde,<br />
vorbereitet durch Regierungskonferenzen, auf den<br />
Gipfeln der Staats- und Regierungschefs in Amsterdam<br />
(Juni 1997) und Nizza (Dezember 2000) weiterentwickelt<br />
und soll nun durch den �Verfassungsvertrag<br />
2004 ersetzt werden.<br />
2. Historische Entwicklung: In den Jahrzehnten seit<br />
ihrer Gründung (1957/1958) hat die Gemeinschaft<br />
mehrfach auf drängenden Reformbedarf mit unterschiedlich<br />
umfangreichen und funktionstüchtigen<br />
Regelungen reagiert. Einer der Versuche eines umfassenderen<br />
Entwurfs für eine Europäische Union –<br />
der Verfassungsentwurf des Europäischen Parlaments<br />
(EP) von 1984 – mündete in die �Einheitliche<br />
Europäische Akte (EEA), die das erste umfassende<br />
Reformwerk in der Geschichte der Gemeinschaft<br />
war. Die EEA konkretisierte das Ziel der europäischen<br />
Einigung explizit durch den Begriff „EuropäischeUnion“undunterstrichdamitdieProzesshaftigkeit<br />
der europäischen Einigung. Sehr viel schneller<br />
als erwartet hat die 1986 beschlossene und am 1. 7.<br />
1987 in Kraft getretene EEA einen erneuten ReformbedarfimGemeinschaftssystementfacht,sodassvor<br />
allemimHinblickaufdieZeitnachdervorgesehenen<br />
Verwirklichung des Binnenmarktes der Bedarf nach<br />
einer weiteren Vertragsrevision deutlich wurde.<br />
Unter dem Vorsitz des damaligen Kommissionspräsident<br />
Jacques Delors wurde ein Drei-Stufen-Plan<br />
zur �Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) ausgearbeitet.<br />
Die Auswirkungen des Binnenmarkt-<br />
Programms gingen über den wirtschafts- und währungspolitischen<br />
Bereich weit hinaus: Eine E(W)G,<br />
die immer mehr Regelungskompetenz bindet, muss<br />
auch über ein dazu passendes politisches Instrumentarium<br />
verfügen, damit eine demokratisch abgesi-<br />
M<br />
Maastrichter Vertrag<br />
cherte Entscheidungsfindung möglich ist. Es galt,<br />
die inneren Strukturen so zu reformieren, dass die<br />
Gemeinschaft auch im Hinblick auf ihre künftige Erweiterung<br />
die Handlungsfähigkeit bewahren und ihrem<br />
Anspruch als Zentrum des europäischen Einigungsprozesses<br />
weiterhin gerecht werden kann.<br />
Auch aus diesen Gründen beschlossen die Staatsund<br />
Regierungschefs der EG auf dem Gipfel des Europäischen<br />
Rates in Dublin (Juni 1990), in inhaltlicher<br />
Ergänzung zur geplanten WWU-Konferenz<br />
eine zweite Regierungskonferenz über die Politische<br />
Union einzuberufen. Ab Dezember 1990 tagten die<br />
beiden Regierungskonferenzen zur WWU und zur<br />
Politischen Union.<br />
Am 7. 2. 1992 wurde der am 10. 12. 1991 auf dem<br />
Gipfel in Maastricht von den zwölf Staats- und Regierungschefs<br />
der EG-Mitgliedstaaten vereinbarte<br />
„Vertrag über die Europäische Union“ offiziell von<br />
den Außen- und Finanzministern der Gemeinschaft<br />
unterzeichnet. Ergänzt wird der Maastricht-Vertrag<br />
durch 17 Protokolle und 33 Erklärungen.<br />
Die Vertragsänderungen mussten in allen Mitgliedstaaten<br />
ratifiziert werden. In neun EG-Staaten war<br />
ein ausschließlich parlamentarisches Verfahren vorgesehen,währendinDänemarkundIrlandzusätzlich<br />
Volksbefragungen stattfanden. Mehr als zwei Drittel<br />
der Iren (69 %) stimmten in einem Referendum im<br />
Juni 1992 für den Vertrag. In Dänemark endete die<br />
Auszählung des Referendums mit negativem Ergebnis:<br />
50,7 % der Dänen stimmten im Juni 1992 gegen<br />
das Vertragswerk. Auf dem Gipfeltreffen in Edinburgh<br />
im Dezember 1992 einigten sich die Staatsund<br />
Regierungschefs auf Sonderregelungen (Optout-Klauseln)<br />
für Dänemark, um in einer dann im<br />
Mai 1993 stattfindenden zweiten Volksbefragung<br />
den Dänen doch noch eine Zustimmung zu ermöglichen<br />
(56,8 % dafür, 25 % dagegen). In Frankreich<br />
hatte Staatspräsident Mitterrand aus innenpolitischen<br />
Gründen ein verfassungsmäßig eigentlich<br />
nicht vorgesehenes Referendum angesetzt, in dem er<br />
über das Vertragswerk befinden ließ. Die Zustimmung<br />
zum Vertrag fiel knapper aus als in Irland: 51%<br />
stimmten im September 1992 für die Vereinbarungen<br />
von Maastricht.<br />
521
Maastrichter Vertrag<br />
Bevor der Maastrichter Vertrag am 1. 11. 1993 in<br />
Kraft treten konnte, war über eine deutsche Verfassungsklage<br />
zu entscheiden. Unter anderem hatte ein<br />
ehemaliger EG-Beamter wegen der vermeintlichen<br />
Entmachtung der nationalen Volksvertretung und<br />
damitdesAnfangsvomEndedesselbständigenStaates<br />
Bundesrepublik Deutschland Verfassungsbeschwerde<br />
erhoben: Das Wahlrecht zum Deutschen<br />
Bundestag nach Art. 38 GG werde ausgehöhlt.<br />
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil<br />
vom 12. Oktober 1993 die Beschwerden abgewiesen<br />
und u. a. erklärt: Die Mitgliedstaaten bleiben Herren<br />
der Verträge (sie können diese ggf. sogar kündigen),<br />
derUnionsvertragbelässtdemDeutschenBundestag<br />
nochhinreichendesubstantielleBefugnisseundlässt<br />
bisher nur einen „Staatenverbund“ (keinen Bundesstaat)<br />
zu. Nach dem Urteil des BVerfG (�Maastricht-Urteil)<br />
ist darauf zu achten, dass die durch<br />
Wahl(Art.38GG)zustandegekommeneLegitimation<br />
von Staatsgewalt und deren Ausübung nicht so<br />
entleert wird, „dass das demokratische Prinzip, soweit<br />
es Art. 79 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 20 Abs.<br />
1 und 2 GG für unantastbar erklärt, verletzt wird“.<br />
Das Urteil des BVerfG beschreibt also den aktuellen<br />
Stand der Integration, befindet diesen als mit dem<br />
Grundgesetz vereinbar, enthält aber keine Aussagen<br />
über mögliche weitere Integrationsschritte. (Vgl.<br />
auch „Zur Geschichte der Europäischen Einigung“,<br />
Abschn. 7, S. 865 ff.).<br />
Mit dem Vertrag von Amsterdam (1997) und dem<br />
Vertrag von Nizza (2000) wurde der Maastrichter<br />
Vertrag weiterentwickelt und ausgebaut.<br />
3. Inhalt des Maastrichter Vertrages: Der Maastrichter<br />
Vertrag bedeutete einen „qualitativen<br />
Sprung“ hin zur Europäischen Union. Der Vertrag<br />
soll – so formulieren es die einleitenden Gemeinsamen<br />
Bestimmungen – eine „neue Stufe“ bei der Verwirklichung<br />
der Europäischen Union darstellen: Zu<br />
den bisher vorrangig wirtschaftlichen Motiven und<br />
Begründungen für die europäische Einigung, wie sie<br />
vor allem im EWG-Vertrag von 1957 zu finden sind,<br />
kommenverstärktpolitischeZielbestimmungenhinzu.<br />
Der Vertrag revidiert und aktualisiert in einer<br />
Vielzahl von Punkten den ursprünglichen EWG-<br />
Vertrag und versucht, das in 40 Jahren angewachsene<br />
Gemeinschaftsrecht zu systematisieren.<br />
Die Beschlüsse von Maastricht sichern den Bestand<br />
der bisherigen Integration, binden weitere Politikbereiche<br />
in den europäischen Integrationsprozess ein<br />
522<br />
und führen bestimmte Bereiche stufenweise an die<br />
europäische Einigung heran. Das Maastrichter Vertragswerk<br />
besteht aus dem „Vertrag über die Europäische<br />
Union“, mit dem die EU gegründet wurde; er<br />
enthält Fortschreibungen des EWG-Vertrags und<br />
entsprechende Anpassungen des EGKS- und des Euratom-Vertrags.<br />
Diese drei Gemeinschaften werden<br />
als Grundlage der Union bezeichnet (Art. A EUV,<br />
jetzt Art. 1); sie werden ergänzt durch die mit dem<br />
EU-Vertrag eingeführte Zusammenarbeit in der Außen-<br />
und Sicherheitspolitik und in Bereichen der<br />
Justiz- und Innenpolitik.<br />
Die Europäische Union verbindet als Dach diese<br />
„drei Säulen“ (�Tempelstruktur) miteinander: Im<br />
Rahmen der drei Gründungsverträge (EGKS, EWG,<br />
EAG) wurde bzw. wird weiterhin gemeinschaftliche<br />
Politik betrieben, hier agieren supranationale Organe<br />
und Institutionen (wie z. B. die Europäische Kommission,<br />
das Europäische Parlament, der Rat der Europäischen<br />
Union, der Ausschuss der Regionen). Sie<br />
bilden die erste Säule der „Europäischen Union“.<br />
Zweite Säule ist die �Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik<br />
(GASP), in der die Mitgliedstaaten<br />
der Europäischen Union als Akteure gemeinsame<br />
Politik betreiben, eine Mischform aus zwischenstaatlichen<br />
und supranationalen Entscheidungsregeln.<br />
Die dritte Säule der Europäischen Union bilden<br />
die Bestimmungen über die Zusammenarbeit in den<br />
Bereichen �Justiz und Inneres (ZBJI). Diese bisher<br />
klassisch nationalstaatlichen Regelungsbereiche<br />
wurden neu in das Vertragswerk eingefügt, wobei<br />
das Verfahren durch intergouvernementale Abläufe<br />
gekennzeichnet ist. Teile der ZBJI wurden durch den<br />
Vertrag von Amsterdam in die erste Säule überführt,<br />
sodass heute nur noch die Zusammenarbeit von Polizei<br />
und Justiz in Strafsachen (�PJZS) die dritte Säule<br />
bildet. Am detailliertesten im Maastrichter Vertrag<br />
sind die Regelungen zur Wirtschafts- und Währungsunion<br />
(WWU), die in der ersten Säule (EGV)<br />
verankert sind und den Stufenplan zur Einführung<br />
des Euro enthalten.<br />
Der Maastrichter Vertrag legt weitreichende StrukturprinzipienfürdieEuropäischeUnionfest.Sowurde<br />
eine Formulierung zur �Subsidiarität und eine<br />
Umschreibung des Föderalismus in den Vertrag aufgenommen,<br />
in dem die Gemeinschaft als „immer engere<br />
Union der Völker <strong>Europa</strong>s“ beschrieben wird,<br />
„in der die Entscheidungen möglichst bürgernah getroffen<br />
werden“ (Art. 1 EUV). Darüber hinaus wird
in Art. 5 EGV festgelegt, dass die (von „EWG“ umbenannte)<br />
EG in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche<br />
Zuständigkeit fallen, nach dem Subsidiaritätsprinzip<br />
nur tätig wird, soweit die in Betracht<br />
gezogenen Maßnahmen durch die Mitgliedstaaten<br />
nicht ausreichend geregelt werden können und wegen<br />
ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf<br />
Gemeinschaftsebene beschlossen werden sollten.<br />
Zudem wurden Regelungen zur Unionsbürgerschaft<br />
(Art.8–8eEGV,jetztArt.17–22)neuindenVertrag<br />
aufgenommen.<br />
Zum Zeitpunkt der Verhandlungen um das Maastrichter<br />
Vertragswerk konnten nicht gänzlich die angestrebte<br />
Ausweitung der Rechte des Europäischen<br />
Parlaments durchgesetzt und die Revision der Abgeordnetenzahlen<br />
erreicht werden. Neben einigen wesentlichen<br />
Kompetenzerweiterungen (wie �Mitentscheidungsverfahren,<br />
�Vermittlungsausschuss, Investitur<br />
der Europäischen Kommission, �Untersuchungsausschüsse),<br />
die in die Maastrichter Beschlüsse<br />
Eingang gefunden haben, wurde für 1996<br />
eine erneute Regierungskonferenz zur Überprüfung<br />
der getroffenen Regelungen und zur Weiterentwicklung<br />
der Rechte des Europäischen Parlaments vereinbart(�VertragvonAmsterdam).DieNeuordnung<br />
der durch die deutsche Einheit im Oktober 1990 notwendiggewordenenAbgeordnetenkontingentewurde<br />
von den Staats- und Regierungschefs am 11./12.<br />
12. 1992 beschlossen; seit der <strong>Europa</strong>-Wahl im Juni<br />
1994 sind 99 deutsche Abgeordnete im EP vertreten;<br />
auch für die anderen Mitgliedstaaten sind die Mandatszahlen<br />
angepasst worden.<br />
Mit dem Vertrag wurde neu ein �Ausschuss der Regionen<br />
eingesetzt, der für die Kommission und den<br />
Ministerrat beratende Funktion hat.<br />
4. Kritische Wertung: Die Bilanz der Verhandlungen<br />
umden„VertragüberdieEuropäischeUnion“,wieer<br />
in Maastricht verabschiedet worden ist, muss immer<br />
auch im Lichte der Kompromissbereitschaft der Mitgliedstaatengezogenwerden.Angesichtsderheterogenen<br />
Ausgangslage, den aus unterschiedlichen MotivengespeistenInteressender(damals)12Mitgliedstaaten,<br />
repräsentierte der erzielte Kompromiss das<br />
politisch Durchsetzbare. Der Maastrichter Vertrag<br />
wurde in der Zeit der Überwindung des Ost-West-<br />
Konfliktes und des Falls der Mauer verhandelt;<br />
schon bald zeigte sich, dass er den Anforderungen<br />
nachHandlungsfähigkeitundTransparenzeinersich<br />
stark erweiternden EU nicht gewachsen ist. Die<br />
Maastricht-Urteil<br />
nächste Revision des europäischen Vertragswerkes<br />
ließ nicht lange auf sich warten: Der Amsterdamer<br />
Vertrag. M. P.<br />
Literatur:<br />
Ahrens, J. (Hg.): Zehn Jahre Vertrag von Maastricht.<br />
Berlin 2003<br />
Hahn, H. J.: Der Vertrag von Maastricht als völkerrechtliche<br />
Übereinkunft und Verfassung. Baden-Baden 1992<br />
Hrbek, R. (Hg.): Der Vertrag von Maastricht in der wissenschaftlichen<br />
Debatte. Baden-Baden 1993<br />
Läufer, Th. (Bearb.): Europäische Union, Europäische<br />
Gemeinschaft: die Vertragstexte von Maastricht mit den<br />
deutschen Begleitgesetzen. Bonn 1998 8<br />
Simson, W. v./Schwarze, J.: Europäische Integration und<br />
Grundgesetz. Maastricht und die Folgen für das deutsche<br />
Verfassungsrecht. Berlin 1992<br />
Maastricht-Urteil. Das Bundesverfassungsgericht<br />
(BVerfG) wies in seinem Urteil vom 12. 10. 1993<br />
(BVerfGE 89, 155; NJW 1993, 3047) die gegen den<br />
Vertrag über die Europäische Union erhobenen Verfassungsbeschwerden<br />
zurück und ermöglichte so<br />
dessen Inkrafttreten zum 1. 11. 1993. In den UrteilsgründenwurdendabeigrundsätzlicheAusführungen<br />
zur Rolle Deutschlands in der EU getroffen. Zunächst<br />
wurde festgestellt, dass das Demokratieprinzip<br />
Deutschland nicht an einer Mitgliedschaft in einer<br />
supranationalen, zwischenstaatlichen Gemeinschaft<br />
hindere. Voraussetzung sei aber, dass eine<br />
vom Volk ausgehende �Legitimation und Einflussnahme<br />
auch innerhalb des „Staatenverbundes“ gesichert<br />
bleibe. Im Rahmen der EU erfolge diese über<br />
die nationalen Parlamente der Mitgliedstaaten sowie<br />
über das direkt gewählte Europäische Parlament.<br />
Entscheidend sei, dass die demokratischen GrundlagenderEUschritthaltendmitder�Integrationausgebaut<br />
würden und auch in deren Fortgang in den Mitgliedstaaten<br />
eine lebendige Demokratie erhalten<br />
bleibe.<br />
AußerdempochtedasBVerfGaufdieEinhaltungdes<br />
�Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung. Bei<br />
der Auslegung der Befugnisnormen durch die europäischen<br />
Einrichtungen und Organe sei zu beachten,<br />
dass der EU-Vertrag grundsätzlich zwischen der<br />
Wahrnehmung einer begrenzt eingeräumten Hoheitsbefugnis<br />
sowie der Vertragsänderung unterscheide.<br />
Die Auslegung einer Vertragsnorm dürfe<br />
deshalbimErgebnisnichtzueinerVertragsänderung<br />
führen; eine solche wäre für Deutschland jedenfalls<br />
nicht bindend. In einem „Kooperationsverhältnis“<br />
zum EuGH werde das BVerfG prüfen, ob sich das se-<br />
523
Madariaga<br />
kundäre �Gemeinschaftsrecht insoweit in den eingeräumten<br />
Grenzen halte oder aus ihnen „ausbreche“.<br />
Somit wurde die Vorrangfrage thematisiert. Dies sei<br />
schon aus Sicht des deutschen Grundrechtsschutzes<br />
erforderlich. Auch müssten dem Bundestag Aufgaben<br />
und Befugnisse von substanziellem Gewicht<br />
verbleiben. Der EU-Vertrag begründe einen „Staatenverbund“<br />
zur Verwirklichung einer immer engeren<br />
Union der staatlich organisierten Völker <strong>Europa</strong>s,nichtabereinensichaufeineuropäischesStaatsvolk<br />
stützenden Staat.<br />
Unter anderem billigte das BVerfG im Maastricht-Urteil<br />
schließlich die Europäische �Wirtschafts-<br />
und Währungsunion. Allerdings unterwerfe<br />
sich Deutschland mit der Ratifikation des EU-Vertrags<br />
nicht „einem unüberschaubaren, in seinem<br />
Selbstlauf nicht mehr steuerbaren Automatismus zu<br />
einerWährungsunion“;derVertrageröffnevielmehr<br />
„denWegzueinerstufenweisenweiterenIntegration<br />
der europäischen Rechtsgemeinschaft, der in jedem<br />
weiteren Schritt entweder von gegenwärtig für das<br />
Parlament voraussehbaren Voraussetzungen oder<br />
aber von einer weiteren, parlamentarisch zu beeinflussenden<br />
Zustimmung der Bundesregierung“ abhänge.<br />
J. M. B.<br />
Madariaga y Rojo, Salvador de (1886 – 1978), spanischer<br />
Schriftsteller und Diplomat. Er war 1922 im<br />
Völkerbund tätig, wurde 1931 spanischer Botschafter<br />
in den USA, 1932 in Paris, ab 1936 im Exil in<br />
Großbritannien. Er schrieb Romane und Essays,<br />
auch zur Völkerpsychologie, über internationale politische<br />
Beziehungen und über Liberalismus. Er engagierte<br />
sich in der Europäischen Bewegung und erhielt<br />
1973 den Karlspreis der Stadt Aachen.<br />
Magna Charta Universitatum (auch: Bologna<br />
Magna Charta Universitatum)<br />
Begriff: Am 18. 9. 1988 von zahlreichen Universitätspräsidenten<br />
und -rektoren anlässlich der 900-<br />
JahrfeierderUniversitätBologna(gegr.1088)undin<br />
Erinnerung an das vor 830 Jahren von Kaiser Friedrich<br />
Barbarossa die akademische Freiheit begründende<br />
Dekret „Authentica habita“ (1158) unterzeichnete<br />
Erklärung zum Bildungsauftrag der Hochschulen<br />
und den Grundvoraussetzungen ihrer Tätigkeit<br />
im Binnenmarkt.<br />
Hintergrund und Beweggründe: Die im „Weißbuch<br />
zur Vollendung des Binnenmarkts“ vom 14. 6. 1985<br />
524<br />
enthaltene Zielvorstellung für die Verwirklichung<br />
des Binnenmarkts wurde durch den Binnenmarktartikel<br />
8a der �Einheitlichen Europäischen Akte<br />
(EEA) vertraglich festgeschrieben. Der Beschluss<br />
des Erasmus-Programms vom 15. 6. 1987 und die<br />
Entschließung des Bildungsministerrats vom 24. 5.<br />
1988 zur europäischen Dimension im Bildungswesen<br />
ergänzen die Binnenmarktzielsetzung durch die<br />
bildungspolitischen Perspektiven der Mobilitätsförderung.<br />
Die bevorstehende 900-Jahrfeier der Gründung<br />
der Rechtsschule von Bologna im Jahre 1088<br />
und deren spätere Rolle bei der Rezeption des Römischen<br />
Rechts, namentlich des Körperschaftsrechts<br />
(„universitas non moritur“, universitas als der dem<br />
kirchlichen corpus spirituale entsprechenden „ewigen“<br />
Gemeinschaft, der „Bolognität“), gab Anlass,<br />
Bologna für die Proklamation der Magna Charta auszuwählen.<br />
Der Gedanke hierzu entstand auf einem<br />
Treffen europäischer Rektoren 1986 in Löwen; auf<br />
dem Erasmus-Eröffnungssymposium am 5./6. 6.<br />
1987 in Bologna wurde dann eine Initiativ- und Redaktionsgruppeberufen,derdieRektorenderPariser<br />
Sorbonne, der Universitäten von Barcelona, Löwen<br />
und Utrecht, der Vorsitzende des für Bildungsfragen<br />
zuständigen Ausschusses des Europäischen Parlaments,derPräsidentderEuropäischenRektorenkonferenz<br />
und der Rektor der Universität Bologna als<br />
verantwortlicher Organisator angehörten. Der Text<br />
der Charta wurde von diesem Ausschuss am 7./8. 1.<br />
1988 in Barcelona abgeschlossen.<br />
Zielsetzung: Anknüpfend an das „Weißbuch“ proklamiert<br />
die Magna Charta Universitatum als<br />
„Grundvoraussetzung“ für die Rolle der Hochschulen<br />
im Binnenmarkt die<br />
– Autonomie der Universitäten,<br />
– Akademische Freiheit und Verknüpfung von Forschung<br />
und Lehre,<br />
– den gegenseitigen Austausch und<br />
– ihre Beteiligung bei der Schaffung eines europäischen<br />
Hochschulraumes.<br />
Zur rechtlichen Würdigung �Bologna-Erklärung.<br />
I. H.<br />
Makrodialog, Makroökonomischer Dialog.Vom<br />
Europäischen Rat in Köln 1999 eingesetztes Gremium<br />
aus hochrangigen Vertretern der Regierungen<br />
(Ratsmitglieder), der Kommission, der Europäischen<br />
Zentralbank und der Sozialpartner. Es trifft<br />
sich halbjährlich zur Abstimmung der Geld-, Lohn-
und Fiskalpolitik der Mitgliedstaaten. Die vertraulichen<br />
Treffen dienen dem Informationsaustausch, es<br />
werden keine Berichte erstellt. Köln-Prozess<br />
Mansholt, Sicco Leendert (1908 – 1995), niederländischer<br />
Minister für Landwirtschaft und Fischerei<br />
(1945 – 1958). Vizepräsident der Kommission<br />
(1958 – 1972). Als zuständiger �Kommissar für die<br />
Landwirtschaft arbeitete er 1968 einen Plan zur Reform<br />
der Agrarpolitik aus (�Mansholt-Plan). 1972<br />
Interimspräsident der Kommission.<br />
Mansholt-Plan von 1968, benannt nach dem Vizepräsidenten<br />
der EG-Kommission, Sicco L. Mansholt.<br />
Der Plan sah eine Reform der europäischen<br />
Landwirtschaft vor mit dem Ziel, einen marktwirtschaftlichfunktionierendenAgrarmarktzuschaffen.<br />
Erreicht werden sollte das Ziel durch die Aufgabe<br />
von Höfen, Herstellung größerer landwirtschaftlicher<br />
Einheiten, Stilllegung unrentabler Böden, Reduzierung<br />
des Bestandes an Milchkühen (alles bei<br />
Zahlung von Ausgleichs-Prämien), Strukturhilfen<br />
für überlebensfähige landwirtschaftliche Betriebe.<br />
DerPlanwurdehartdiskutiertundinTeilendurchgesetzt.<br />
Gemeinsame Agrarpolitik<br />
Marco-Polo-Programm. Durch Verordnung 1382/<br />
2003 (ABl. L 196/2003) entstandenes EU-Programm,<br />
das Projekte zur Verbesserung der Umweltverträglichkeit<br />
des Güterverkehrs finanziell fördert.<br />
Gefördert werden Aktionen zur Verlagerung des Güterverkehrs<br />
von der Straße auf die Schiene, die Binnenschifffahrt<br />
und den Kurzstrecken-Seeverkehr,<br />
sog. katalytische Aktionen zur Überwindung von<br />
strukturellen Hindernissen im europäischen Markt<br />
des nicht straßengebundenen Güterverkehrs sowie<br />
gemeinsame Lernaktionen zur Verbreitung fortschrittlicher<br />
Methoden und Verfahren der Zusammenarbeit<br />
im Güterverkehr. Ziel ist, den Straßengüterverkehr<br />
bis 2010 auf den Stand von 1998 zurückzuführen.<br />
Markenamt �Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt<br />
Markenrecht, europäisches. Die Marke und das<br />
Warenzeichen dienen dazu, die Bekanntheit einer<br />
Ware oder eines Unternehmens zu sichern. Um den<br />
Missbrauch einer Marke, die sich bereits durchge-<br />
Markenrecht<br />
setzt oder einen gewissen Bekanntheitsgrad erworben<br />
hat, zu verhindern, wurde bereits Ende des<br />
19. Jhs. ein Warenzeichengesetz geschaffen, das die<br />
Möglichkeit eröffnete, Marken schützen zu lassen.<br />
Da Marken auch im grenzüberschreitenden Warenund<br />
Dienstleistungsverkehr eine große Rolle spielen,<br />
wurden auch internationale Verträge zum<br />
Schutz von Marken und Warenzeichen geschlossen.<br />
So entstand 1883 die „Pariser Verbandsübereinkunft<br />
zum Schutz des gewerblichen Eigentums“ und 1891<br />
das „Madrider Markenabkommen über die internationale<br />
Registrierung von Fabrik- und Handelsmarken“.<br />
1967 wurde durch das Stockholmer Übereinkommen<br />
eine Weltorganisation für geistiges Eigentum<br />
(WIPO) gegründet, deren Ziel die Angleichung<br />
der unterschiedlichen Markenrechte durch Konsultationen<br />
ist. Auf europäischer Ebene musste zunächst<br />
der Europäische �Gerichtshof Grundsätze<br />
aufstellen, nach denen nationale Marken bei Kollision<br />
mit Marken in anderen Mitgliedstaaten anerkannt<br />
werden. So stellt der EuGH für eine Verbotsbefugnis<br />
einesMarkeninhabersgegenübereinergleichenoder<br />
ähnlichen Marke aus einem anderen Land darauf ab,<br />
ob diese Marke mit Wissen und Wollen des Inhabers<br />
im anderen Land geschützt wird.<br />
Da es durch Unterschiede in der Markengesetzgebung<br />
teilweise zu Behinderungen im grenzüberschreitenden<br />
Verkehr im Binnenmarkt kam, verabschiedete<br />
der Rat am 21. 12. 1988 eine Richtlinie zur<br />
Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten<br />
über die Marken (89/104, ABl. L 40/1989),<br />
die in Deutschland durch das Markengesetz von<br />
1995 umgesetzt wurde. Geschützt werden danach<br />
alle Marken, geschäftlichen Bezeichnungen und<br />
geografische Herkunftsangaben, gleich ob in Form<br />
von Wörtern, Abbildungen, Buchstaben, Zahlen,<br />
Hörzeichen oder dreidimensionalen Gestalten.<br />
Dabei entsteht Markenschutz nicht allein durch die<br />
Eintragung der Marke (in Deutschland zuständig:<br />
das Bundespatentamt in München), sondern schon<br />
durchihreBenutzungimgeschäftlichenVerkehr,sofernsieinnerhalbbeteiligterVerkehrskreisealsMarke<br />
Verkehrsgeltung erworben hat, oder durch die<br />
feststellbare Bekanntheit der Marke.<br />
Der Inhaber einer solchen Marke hat das ausschließliche<br />
Recht, ihre Benutzung durch andere zu verbieten<br />
oder (gegen Entgelt) zu erlauben, gegenüber Verletzern<br />
hat er einen Unterlassungs- und einen Schadensersatzanspruch.<br />
Wichtig sind der Benutzungs-<br />
525
Marktordnung<br />
zwang (bei Nichtbenutzung kann die Marke gelöscht<br />
werden) und der Erschöpfungsgrundsatz, wonach<br />
die Benutzung von Waren mit einer Marke einem anderen<br />
nicht untersagt werden kann, wenn die Waren<br />
unter dieser Marke bereits von ihm oder mit seiner<br />
Zustimmung in Verkehr gebracht wurden.<br />
Die Entwicklung der Europäischen Union zu einem<br />
einheitlichen Markenraum soll die Verordnung über<br />
die Gemeinschaftsmarke vom 20. 12. 1993 fördern<br />
(40/94, ABl. L 11/1994). Hiernach können seit dem<br />
1. 4. 1996 im �„Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt“<br />
(Europäisches Markenamt) in Alicante<br />
(Spanien) Marken angemeldet werden, deren Schutz<br />
einheitlich für die gesamte EU gilt. Die Anmeldung<br />
kann aber auch beim zuständigen nationalen Amt,<br />
hier also beim Bundespatentamt, eingereicht werden,<br />
das diese nach Alicante weiterreicht.<br />
Im Übrigen gelten hier nahezu die gleichen Voraussetzungen<br />
wie im – vereinheitlichten – nationalen<br />
Markenrecht. Da die Gemeinschaftsmarke einen<br />
Markenschutz eigener Art gewährt, kann sie neben<br />
einer nationalen Marke bestehen. Allerdings ist der<br />
Antrag auf Eintragung abzulehnen, sofern der beantragtenMarkeeinenationaleMarkeentgegensteht.<br />
Hierzu recherchiert das Markenamt in eigenen Beständen<br />
und in den nationalen Markenämtern. Da allerdings<br />
die Recherche in den Mitgliedstaaten zeitaufwändig,<br />
kostenintensiv und nicht sicher ist, sieht<br />
eine Änderung der Gemeinschaftsmarkenverordnung<br />
vor, dass ab 2008 eine Recherche in den Mitgliedstaaten<br />
nur noch auf ausdrücklichen Antrag<br />
durchgeführt wird.<br />
Die Gemeinschaftsmarke empfiehlt sich insbes. für<br />
Marken, die in der gesamten EU oder großen Teilen<br />
eingesetzt werden sollen oder auch für Haus- und<br />
Dachmarken international tätiger Unternehmen,<br />
auch wenn diese bereits in Teilen der EU geschützt<br />
sind,sowiefürMarken,diehäufigVerletzungenausgesetzt<br />
sind.<br />
NachMitteilungdesMarkenamtsinAlicantewerden<br />
in jedem Jahr etwa 50 000 bis 60 000 Marken zur Anmeldung<br />
eingereicht, so dass es seit Beginn seiner<br />
Tätigkeit in 1996 derzeit ca. 430 000 Marken verwaltet.<br />
Durch Beschluss des Rates und Verordnung vom 27.<br />
10. 2003 (1992/2003, ABl. L 296/2003) ist die EU<br />
dem Madrider Abkommen über die internationale<br />
Registrierung von Marken beigetreten, das von der<br />
Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO)<br />
526<br />
verwaltet wird. Auf diese Weise soll es den Unternehmen<br />
ermöglicht werden, sich künftig mit einer<br />
einzigen Anmeldung den Schutz ihrer Marke nicht<br />
nur in der gesamten Gemeinschaft – als Gemeinschaftsmarke<br />
–, sondern auch in den (derzeit etwa<br />
60)Ländern,diedemMadriderProtokollbeigetreten<br />
sind, zu sichern.<br />
Durch eine „Durchsetzungs-Richtlinie“ vom 29. 4.<br />
2004 für den Schutz geistigen Eigentums (2004/48,<br />
ABl. L 157/2004) soll – zwar nicht allein, aber auch –<br />
der Schutz der Marken gestärkt werden. Sie hat das<br />
Ziel, Verfahren zur Durchsetzung und Sicherung<br />
von Schadensersatzansprüchen bei Verletzung geistigenEigentumszuharmonisieren.<br />
M. K.<br />
Literatur:<br />
Marx, C.: Deutsches und europäisches Markenrecht.<br />
Neuwied 1997<br />
Marktordnung(en) �Gemeinsame Agrarpolitik<br />
MAST (Marine sciences and technologies). Ein spezifisches<br />
EU-Programm für Forschung und Entwicklung<br />
im Bereich der Meereswissenschaften und<br />
-technologien, das Hochschulen, Forschungseinrichtungen<br />
und Unternehmen förderte. Ziel war eine<br />
�nachhaltige Nutzung der Ozeane. Das Programm<br />
MASTIIIliefvon1994bis1998(ABl.L334/1994).<br />
Matthews-Urteil des �EGMR. In dem Urteil Matthews<br />
./. Vereinigtes Königreich vom 18. 2. 1999 (dt.<br />
Übersetzung in EuGRZ 1999, 200) stellt der Europäische<br />
Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)<br />
fest, dass das Vereinigte Königreich Art. 3 des 1. Zusatzprotokolls<br />
(ZP) zur Europäischen Menschenrechtskonvention<br />
(EMRK) verletzt habe, indem es<br />
dieinGibraltarwohnhafteBeschwerdeführerin,eine<br />
britischeStaatsangehörige,vondenWahlenzumEuropäischen<br />
Parlament (EP) ausschloss. Artikel 3 des<br />
1. ZP EMRK schützt das Recht auf freie Wahlen. Ungeachtet<br />
der speziellen Probleme, die aus dem Sonderstatus<br />
von Gibraltar herrühren, ist dieses Urteil<br />
wichtig, weil hiermit das EP gerichtliche Anerkennung<br />
als wesentlichen Bestandteil der politischen<br />
Demokratie im System der Europäischen Gemeinschaften<br />
(EG) und als gesetzgebende Körperschaft<br />
gefunden hat. Damit geht der EGMR viel weiter als<br />
das deutsche Bundesverfassungsgericht (BVerfG),<br />
das dem EP bislang wohl nur stützende Funktion zugebilligt<br />
hat. Zugleich ist das Matthews-Urteil aber
auchderersteFall,indemderEGMReinenMitgliedstaat<br />
im Zusammenhang mit der Umsetzung des Europäischen<br />
Gemeinschaftsrechts verurteilt hat. Die<br />
weitergehende Frage hingegen, ob eine Zuständigkeit<br />
des EGMR auch für Beschwerden gegen Maßnahmen<br />
der Organe der Europäischen Gemeinschaften<br />
zulässig ist, hat der EGMR bislang bewusst offen<br />
gehalten, so zuletzt in seiner Entscheidung Senator<br />
Lines ./. 15 Mitgliedstaaten vom 10. 3. 2004, (dt.<br />
ÜbersetzunginEuGRZ2004,279).�Cantoni S. W.<br />
MEDA ist das Finanzierungsinstrument der EG für<br />
Maßnahmen im Rahmen der �Euro-Mediterranen<br />
Partnerschaft. Rechtsgrundlage ist die VO 1488/96,<br />
geändert durch VO 2698/2000 (ABl. L 311/2000).<br />
Das Budget für den Zeitraum 2000 – 2006 beträgt<br />
5,35 Mrd. Euro.<br />
MEDIA, MEDIA PLUS, MEDIA 2007 �Medienpolitik<br />
Medienentwicklung in <strong>Europa</strong>. Die traditionellen<br />
Medien Film, Fernsehen, Radio und Presse haben<br />
wesentlich dazu beigetragen, den Kenntnisstand<br />
über die jeweils anderen Länder in <strong>Europa</strong> und über<br />
europäische Politik und Kultur bei einem nationalen<br />
Publikumzuvergrößern.Zugleichhatsichaber,trotz<br />
der grenzüberschreitenden Kommunikationsmöglichkeiten,<br />
keine breite paneuropäische Öffentlichkeit<br />
entwickelt. Zwar gibt es einige breiter angelegte<br />
Angebote – Euronews und arte, Deutsche Welle,<br />
BBC World oder TV5 als Beispiele aus dem Fernsehen,<br />
Financial Times oder Le Monde als auch international<br />
gelesene Presse – doch ein wirkliches Massenpublikum<br />
wird gestreut über ganz <strong>Europa</strong> weder<br />
von einem relativ homogenen Inhaltsangebot noch<br />
von audiovisuellen Koproduktionen kontinuierlich<br />
erreicht. Unterschiedliche Sprachen, unterschiedliche<br />
Codes, unterschiedliche nationale Interessen<br />
und Motivlagen verhindern, dass es, von einigen<br />
Ausnahmen abgesehen, durchgängig europäische<br />
Gemeinschaftsthemen, Unterhaltungsangebote, ja<br />
Identifikationsfiguren wie Filmstars oder hochpopuläre<br />
Politiker gibt. Es sind eher nationale oder amerikanische<br />
Film- und Fernsehprodukte, die eine Chance<br />
auf heimischen Erfolg haben, oder europäische<br />
Regisseure und Schauspieler, die über den Umweg<br />
HollywoodwiederaufdenMärktenderanderenLänder<br />
des Kontinents gelandet sind.<br />
Medienentwicklung<br />
Die wirtschaftlichen Auswirkungen dieses Defizits<br />
sollenhiernichtbewertetwerden.Kulturellundpolitisch<br />
hat die fehlende Mediengemeinsamkeit allerdings<br />
zur Folge, dass eine europäische Öffentlichkeit,<br />
eine europäische Identitätsstiftung über die<br />
Massenmedien kaum stattfinden. Zweifellos ist die<br />
Vielfalt eine der Stärken <strong>Europa</strong>s. Anders als in den<br />
USA aber, wo die verschiedensten kulturellen Strömungen<br />
innerhalb der Nation gerade durch gemeinsamePopulärmedieninhalteintegriertwurden,ergab<br />
sich in <strong>Europa</strong> nie ein vergleichbarer Druck zur medialen<br />
Zusammenführung. Sprachen, Medienökonomien<br />
und -systeme existierten und existieren lose<br />
umklammert letztlich auch geographisch immer<br />
noch nebeneinander.<br />
Dass also die USA in der Populärkultur global und<br />
selbst in <strong>Europa</strong> erfolgreicher sind als grenzüberschreitende<br />
Angebote unseres Kontinents, Ausnahmen<br />
immer konzediert, ist nicht nur eine Frage der<br />
wirtschaftlichen Macht, sondern auch eine der sozialenNotwendigkeit,nebendergesprocheneneinemediale,<br />
populäre Universalsprache zu entwickeln. Sie<br />
hat gemeinsame Codes für die eigene Nation, aber<br />
auch für die Welt geschaffen.<br />
<strong>Europa</strong> erfährt Anfang des 21. Jhs. ähnlich wie viele<br />
weitere Regionen des Globus eine fundamentale<br />
Veränderung der Medienstrukturen. Traditionelle<br />
Formen dominieren noch, aber vor allem die Digitaltechnologie<br />
hat neue Möglichkeiten der Produktion,<br />
Aufnahme und Verbreitung von audiovisuellen und<br />
gedruckten Inhalten geschaffen. Besonders für die<br />
europäische Öffentlichkeit, grenzüberschreitende<br />
Kommunikation und Identitätsbildung ergeben sich<br />
hier auch neue Chancen des Zusammenwachsens.<br />
Vor allem mit dem Stichwort Maß- und Massenkommunikation<br />
lässt sich eine Entwicklung kennzeichnen,<br />
die die gemeinsame kulturelle Basis <strong>Europa</strong>s<br />
mit den spezifischen Interessen und Routinen der<br />
einzelnen europäischen Regionen koppeln kann.<br />
Ein zentraler Punkt ist dabei die Möglichkeit, sog.<br />
bottom-up-Prozesse mit einer zentraler gesteuerten<br />
Kommunikation zu verknüpfen. Zunehmend ist das<br />
alte Sender-Empfänger-Modell, das auch bei den<br />
Medieninstitutionen und vor allem bei der Entwicklung<br />
von Kampagnen die entscheidende Rolle spielt,<br />
ersetzt worden durch eine Kommunikationsform, in<br />
derdieBürgeruntereinanderThemenundInhaltebestimmen.<br />
In vielen Ländern <strong>Europa</strong>s nimmt unter<br />
jüngerenMenschendieInternetnutzungbereitsmehr<br />
527
Medienentwicklung<br />
Raum ein als die Nutzung von Fernsehen, Presse und<br />
Radio. Besondere Aufmerksamkeit verdienen hier<br />
die Weblogs, eine Art digitaler Tagebücher, die zum<br />
Teil als Informationsquelle ergänzend oder sogar ersetzendzumklassischenJournalismushinzugetreten<br />
sind. Hier ergibt sich die Chance, die viel beschworene<br />
Bürgernähe, die in herkömmlichen Kommunikationskampagnen<br />
nur selten realisiert wurde, doch<br />
noch zu schaffen. Für die Politik heißt dies, sich aktiv<br />
an der Weblog-Kultur zu beteiligen, dabei vor allem<br />
aber Authentizität zu wahren. Denn die kommunikative<br />
Krise mancher nationaler Politik ist auch eine<br />
<strong>Europa</strong>s: Bürger haben häufig zu sehr das Gefühl,<br />
dass sie mit dem Handwerk der Medienindustrie<br />
überzeugt werden sollen, zugleich aber nicht wirklich<br />
an die Botschaften glauben. Das Aufgreifen der<br />
in Weblogs thematisierten Wünsche gegenüber <strong>Europa</strong><br />
könnte zu einer individualisierteren und interaktiven<br />
Form des Nahebringens unserer gemeinsamen<br />
Kultur führen. Der Bürger fühlt sich besser verstanden.<br />
Insgesamt lohnt es, bei der Kommunikationsentwicklung<br />
innerhalb <strong>Europa</strong>s die fundamentalen EigenschaftenderdigitalenWelt,auchimVergleichzu<br />
den traditionellen Medien, zu berücksichtigen. Dabei<br />
kann man das Fünf-U-Prinzip anwenden. Digital<br />
vermittelte Inhalte erreichen den Nutzer<br />
– unmittelbar,<br />
– universal,<br />
– umfassend,<br />
– unabhängig von Zeit und Raum,<br />
– unterwegs.<br />
Konkret heißt dies, dass sich jedes Ereignis, aber<br />
auch jede private Auffassung, nahezu synchron beliebig<br />
in der Gesellschaft verbreitet. Dies hat gerade<br />
für tagesaktuelle Ereignisse, besonders aber auch für<br />
Stimmungen einen Aktualitätsdruck und Aktualitätserwartungen<br />
geschaffen, die von den führenden<br />
Akteuren <strong>Europa</strong>s stärker genutzt werden könnten.<br />
AuchdieserFaktorträgtzugrößererBürgernähebei.<br />
Lange wurde unterstellt, dass mit dem Internet endgültig<br />
die geographischen Grenzen in der Kommunikation<br />
gesprengt würden. Und tatsächlich hat sich in<br />
der besser ausgebildeten Schicht sowie bei sehr vielen<br />
Jugendlichen eine Gemeinschaft entwickelt, die<br />
– bevorzugt englischsprachig – einen manchmal größeren<br />
Zusammenhalt über das Netz geschaffen hat,<br />
als er im persönlichen Kontakt existiert. Zugleich ist<br />
dieser Zusammenhalt aber nicht auf <strong>Europa</strong> be-<br />
528<br />
schränkt, sondern findet global statt. Hier liegt die<br />
Herausforderung darin, zwischen der traditionellen<br />
nationalen und der digitalen globalen Kommunikationswelt<br />
ein häufig abstrakt bleibendes <strong>Europa</strong> bürgernah<br />
zu platzieren. Denn wenn auch der internationale<br />
Internetverkehr vorwiegend der einer kleineren<br />
Gruppe ist, so wirkt diese Gruppe doch meinungsbildend<br />
in Richtung einer viel größeren nationalen Öffentlichkeit.<br />
DerBegriff„umfassend“kennzeichnetdieTatsache,<br />
dass die Grenzen zwischen verschiedenen Medienformen<br />
aufgehoben werden. Noch dominiert zwar<br />
der Fernseher das Wohnzimmer, doch bieten andere<br />
Kommunikationsträger wie PC, Mobiltelefon etc.<br />
ebenfallsdieMöglichkeitdesRundfunksempfangs.<br />
Wahrscheinlich ist eine künftige technische Kommunikationsstruktur,<br />
in der zwar immer noch traditionelle<br />
Mediensituationen existieren – also passives<br />
Fernsehen zuhause, individuelle Kommunikation<br />
unterwegs –, aber diese Formen direkt miteinander<br />
verknüpft sind und ineinander übergehen. Für europäische<br />
Inhalte heißt dies, eine Infrastruktur zu nutzen,<br />
die Mediengebrauch viel stärker über die Situation<br />
als über die Technik definiert. Man muss nicht<br />
mehr nach Hause gehen, um zum Beispiel ein <strong>Europa</strong>-Magazin<br />
zu schauen, sondern kann sich vor Ort,<br />
z. B. beim Besuch eines anderen Landes, die entsprechende<br />
Hintergrundinformation fernsehähnlich direktaufseinemobileApparaturholen.Dieser„Situationismus“<br />
bedeutet eine neue kommunikative<br />
Chance für <strong>Europa</strong>. Bei allen <strong>Europa</strong>-Inhalten in den<br />
traditionellen Medien wird derzeit ein eklatantes<br />
Desinteresse der Nutzer beklagt.<br />
Die z. T. ungünstigen Programmplatzierungen reflektieren<br />
das vermutlich tatsächlich vorhandene,<br />
manchmal auch nur unterstellte mangelnde Bürgerbedürfnis<br />
nach <strong>Europa</strong>-Sendungen. Zwar wird auf<br />
der Prioritätenliste persönlich empfundener Wichtigkeit<br />
das Thema <strong>Europa</strong> vermutlich noch für längere<br />
Zeit keine hohe Position einnehmen, jedenfalls<br />
nicht bei positiver Besetzung, aber bei einer flexibleren,<br />
medienübergreifenden Inhalte-Verbreitung<br />
können mithilfe der Digitalisierung die richtigen<br />
Momente – z. B. beim Besuch eines anderen Landes<br />
– dann eben doch bedient werden. Hier wird sich ein<br />
deutlicher Akzent in der Kampagnenplanung setzen<br />
lassen.<br />
Gerade das traditionelle Fernsehen erfährt auch in<br />
anderer Hinsicht eine Veränderung. Zwar gibt es
schon seit langem Video- und seit kurzem DVD-<br />
Rekorder; diese erfordern aber immer noch eine gezielte<br />
und sehr eingeschränkte Auswahl, um sich<br />
orts- und zeitunabhängig audiovisuell zu informieren<br />
und zu unterhalten. Für eine mit vielen Angeboten<br />
konfrontierte Bevölkerung erscheint es fast ein<br />
Glücksfall, wenn sie bei nicht hoch ausgeprägter<br />
Motivation zufällig auf <strong>Europa</strong>-Sendungen trifft.<br />
Dabei gibt es ein umfangreiches Repertoire entsprechender<br />
Programme, die, einmal gesendet, für lange<br />
ZeitindenArchivenverschwinden.Zwarmageshier<br />
manchmal Rechte-Probleme geben, doch das Bereitstellen<br />
bisheriger Produktionen zur jederzeitigen<br />
Online-Nutzung einerseits und die neuen Möglichkeiten<br />
der Festplattenrekorder zur Aufnahme ganzer<br />
thematischer Sendungsblöcke oder auch größerer<br />
Programmstrecken andererseits, erleichtern die Verfügbarkeit<br />
eben auch von <strong>Europa</strong>-Inhalten immens,<br />
zum Beispiel vor Geschäfts- oder Urlaubsreisen.<br />
Die vielleicht größte Veränderung in der Kommunikationswelt<br />
ist die Einführung der Mobiltechnologie.<br />
Seit Beginn der 1990er Jahre hat sich gerade in<br />
<strong>Europa</strong> eine fast vollständige Penetrierung mit Mobiltelefonen<br />
ergeben. Gleichzeitig und darauf folgend<br />
wurden auch Computer (Laptops, PDAs) sowie<br />
die Zwischenformen und aktuell Computerspielkonsolen<br />
mobil. Dies realisiert die bereits genannte Situationszentrierung.<br />
Zugleich belegt es den Befund,<br />
dass digitale Kommunikation räumliche Mobilität<br />
nicht reduziert, sondern weiter steigen lässt. Innerhalb<br />
<strong>Europa</strong>s haben besonders Kurzreisen, nicht zuletzt<br />
durch Schengen und preiswerte Flüge, weiter<br />
zugenommen. Das wirtschaftliche Zusammenwachsen<br />
hat den Geschäftsverkehr ebenfalls gesteigert.<br />
Mit dieser geographischen Mobilität hat dann auch<br />
die kommunikative weiter zugenommen.<br />
Führend waren hier in Technologie und Gebrauch<br />
zunächst die skandinavischen Länder, sogar vor anderen<br />
Weltregionen. Inzwischen wird man vom Abklingen<br />
des sog. Fernsehzeitalters sprechen können,<br />
und auch die Periode der PC-Dominanz dürfte abgelöst<br />
werden durch das Zeitalter der Mobilkommunikation.<br />
Dies ist keine nur auf Nutzungsformen bezogene<br />
Frage.<br />
Das Fernsehen hat als Leitmedium Themen, Denkweisen,Personenbewertungen,jadieWahrnehmung<br />
von Politik, Wirtschaft und Kultur deutlich geprägt.<br />
Mit der Mobilkommunikation steht ein ähnlich einflussreiches<br />
Paradigma an. Es ermöglicht die Ver-<br />
Medienentwicklung<br />
bindung aus geographischem und kommunikativem<br />
Zusammenwachsen innerhalb <strong>Europa</strong>s weit mehr,<br />
als es das Fernsehen in der traditionellen Form mit<br />
seinen doch fixierten Raum- und Zeitmöglichkeiten<br />
geboten hat. Sowohl für die Kommunikations- und<br />
Informationspolitik rund um <strong>Europa</strong>-Inhalte sowie<br />
natürlich auch für die medienpolitischen Perspektiven<br />
der Gestaltung von Technologie, Struktur und<br />
Regulierung bedeuten diese Entwicklungen neue<br />
Möglichkeiten. Mit dem britischen Ofcom-Modell,<br />
das für die Medienregulierung eine Abkehr von restriktiven<br />
Ansätzen als Ausgangspunkt und eine<br />
stark fördernde Politik für Konvergenz vorsieht, dabei<br />
gleichzeitig massiv auf Selbstregulierung setzt,<br />
ist ein interessanter Ansatz gegeben, der auch in anderen<br />
Ländern bzw. für ganz <strong>Europa</strong> den Realitäten<br />
entsprechend geprüft werden müsste. Mit einer Loslösung<br />
der Kommunikation von dominierend offiziellen<br />
Kanälen hin zu stärker vielfältigen und informellen<br />
Formen wird sich in Teilen die national notwendige<br />
Garantie glaubwürdiger und ethisch vertretbarer<br />
Inhalte auf die Gewährleistung entsprechender<br />
Infrastrukturen verlagern. Hier spielen die<br />
öffentlich-rechtlichen Anbieter in ganz <strong>Europa</strong> vermutlich<br />
auch weiterhin eine zentrale Rolle.<br />
Aus der Erkenntnis heraus, dass Kommunikation<br />
und speziell Massenkommunikation der „Kitt“ der<br />
Gesellschaft und natürlich auch <strong>Europa</strong>s ist, wird es<br />
garantierte Inhaltsstrukturen geben müssen, die diesem<br />
Prinzip gerecht werden. Sechs Bereiche definieren,<br />
z. T. in bestehenden Verträgen (unter anderem<br />
demAmsterdamerVertrag),dienotwendigen,jedem<br />
europäischen Bürger zugänglich zu machenden Inhalte:<br />
– Information als vollständige und glaubwürdige Ereignis-<br />
und Themenberichterstattung, dabei auch<br />
Gewährleistung einer hinreichenden, wirtschaftlich<br />
unabhängigen Repräsentanz auch internationaler<br />
Positionen.<br />
– Pluralismus als Zugang zum Senden und Empfangen<br />
durch alle gesellschaftlichen Gruppierungen,<br />
gerade auch von Minderheiten, kommerziell angeblich<br />
nicht relevanten Zielgruppen sowie in kleineren<br />
Ländern. Hier liegt durch die grenzüberschreitende<br />
Kommunikation die Chance, eine Ballung von Programmen<br />
vorzunehmen, z. B. für Roma, die national<br />
kaum möglich ist.<br />
– Forum-Funktion. Der eher abnehmende Austausch<br />
von Film- und Fernsehproduktionen inner-<br />
529
Medienpolitik<br />
halb <strong>Europa</strong>s belegt die Herausforderung, besonders<br />
durch fiktive Inhalte das auf europäischer Ebene zu<br />
schaffen, was auf nationaler Ebene in Teilen immer<br />
noch gelingt: durch gemeinsame Geschichten, Mythen<br />
und Stars eine vereinigende Identität zu entwickeln.<br />
Gerade die öffentlich-rechtlichen Anbieter<br />
können hier, durchaus auch in wettbewerbsferner<br />
Online-Präsenz, eine grenzüberschreitende Funktion<br />
erfüllen. Unterhaltung ist dabei mehr als reine<br />
Entspannungshilfe; sie prägt Weltbilder und Identitäten<br />
mit.<br />
– Partizipation. Der Rundfunk wird kaum noch als<br />
expliziter Volkserzieher anzusehen sein; dennoch<br />
findet über die Medien auch (latentes) Lernen statt.<br />
Die öffentlich-rechtliche Aufgabe ist es hier, durchaus<br />
didaktisch die Bürger <strong>Europa</strong>s zu befähigen, aktiv<br />
an Kultur, Politik und Bildung teilzuhaben. Lernen<br />
ist spielerischer geworden; sogar Computerspiele<br />
vermitteln inzwischen „wertvolle“ Inhalte. Hier<br />
bieten sich in der künftigen Verknüpfung von Medienformen<br />
– Stichwort interaktives Fernsehen –<br />
nicht mehr hausbackene Vermittlungsformen an.<br />
– Innovation. Angeblich ist Fernsehen für viele Bürger<br />
immer langweiliger geworden. Dies mag damit<br />
zusammenhängen, dass kaum noch freier Raum für<br />
Experimente vorhanden ist, die von kommerziellen<br />
Überlegungen unabhängig sind. Rundfunk ist aber<br />
auch ein Kulturfaktor, der die Avantgarde braucht,<br />
uminFreiräumenAngeboteauszuprobieren,diesich<br />
erst langfristig in populären Sendungen auswirken.<br />
VieleheutigeVideoclipstragendieÄsthetikkünstlerischer<br />
Formen aus früheren Jahrzehnten, die sich<br />
niemals entwickelt hätten ohne damals dafür geschaffene<br />
Freiräume. Der Rundfunk braucht entsprechend<br />
die Anerkennung als Kulturfaktor auf europäischer<br />
Ebene; er ist kein reiner Wettbewerbsraum.<br />
– <strong>Europa</strong>. Wirtschaftlich und politisch ist der Kontinent<br />
zusammengewachsen. Große Herausforderungen<br />
stellen sich aber bei der Entwicklung einer europäischen<br />
Öffentlichkeit (s. o.). Auch hier ist es eine<br />
Aufgabe der Öffentlich-Rechtlichen, entsprechende<br />
Inhaltezugarantieren. J. G.<br />
�Urheberrecht Ziff. 1, Ziff. 2.8<br />
Medienpolitik<br />
1. Grundlagen und Inhalte: Die Medienpolitik der<br />
EU ist als Gesamtkonzept ein relativ neuer Bestandteil<br />
der Gemeinschaftspolitiken. Sie ist aus (urhe-<br />
530<br />
ber)rechtlichen, ordnungs- und industriepolitischen<br />
Bestandteilen zusammengesetzt. Auch die Handelspolitik<br />
(WTO) und die Kulturpolitik (Unesco) spielen<br />
eine wichtige Rolle. Wie alle Gemeinschaftspolitiken<br />
beruht auch die medienpolitische auf den Verträgen.<br />
Zu den ersten medienpolitischen Aktivitäten<br />
der Gemeinschaft kam es somit schrittweise auf der<br />
Basis der Art. 23, 25, 28 und 31 EGV zum freien Güterverkehr,<br />
der Art. 39 bis 55 zum freien Verkehr der<br />
Arbeitnehmer sowie der Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit,<br />
der Art. 81 und 82 zum WettbewerbundderArt.94und(später)95und308EGVzur<br />
Rechtsangleichung im Binnenmarkt. In diesem Sinne<br />
wurden schon zwischen 1963 und 1970 mehrere<br />
Richtlinien erlassen die Filmprodukte und den Kinosektor<br />
betreffend.<br />
Bis jüngst war die gemeinschaftliche Medienpolitik<br />
fast ausschließlich auf den klassischen Rundfunksektor<br />
bezogen, wobei in jüngster Zeit ein integriertes<br />
Konzept für den Bereich der Informationsgesellschaft<br />
und der audiovisuellen Medien angestrebt<br />
wird, weil aus technischer Sicht die Kommunikationsnetze,<br />
Medien, Inhalte, Dienste und Geräte in<br />
digitaler Konvergenz zusammenwachsen. Sprache<br />
über Internet, Web-TV, Online-Musik oder Filme<br />
über Handys sind inzwischen Realität geworden.<br />
Eine eigenständige Politik für die stärker nationenund<br />
sprachraumgebundenen Printmedien gibt es bis<br />
heute nicht. Das gleiche gilt für das Radio, was sich<br />
jedoch mit dem Aufkommen des DAB (Digital Audio<br />
Broadcasting) ändern könnte.<br />
Bis zu Beginn der 1980er Jahre hatte sich der Rundfunk<br />
in <strong>Europa</strong> aus technologischen, aber auch aus<br />
gesellschaftspolitischen Gründen innerhalb der nationalstaatlichen<br />
Grenzen und Gesetze entwickelt.<br />
SeineVerbreitungsmöglichkeitenwarenterrestrisch<br />
beschränkt. Ordnungspolitisch gesehen galt in den<br />
meisten demokratischen Staaten <strong>Europa</strong>s, dass der<br />
Rundfunk, bei aller Staatsferne, staatsbürgerlichen<br />
und bildungspolitischen Prämissen zu gehorchen<br />
habe.<br />
Dies änderte sich völlig mit dem Auftreten der neuen<br />
Verbreitungsmöglichkeiten über Satellit und Kabel,<br />
aber auch durch die veränderte gesellschaftspolitische<br />
Grundhaltung zum Rundfunk. Auch für diese<br />
entscheidende Neuentwicklung der Audiovision<br />
legten die Mitgliedstaaten den Grundstein, nicht die<br />
Gemeinschaft. Sie brachen die öffentlich-rechtlichen<br />
Fernsehmonopole, schufen das duale (ge-
mischte) System und verhalfen so den neuen Technologien<br />
zum Siegeszug.<br />
Das aus gemeinschaftlicher Sicht besondere ordnungspolitische<br />
Merkmal dieser Revolutionierung<br />
der audiovisuellen Landschaft liegt in dem grenzüberschreitenden<br />
Charakter der Verbreitungsmöglichkeiten.<br />
Die europäischen Veranstalter nutzten<br />
die neuen Möglichkeiten und schufen dadurch einen<br />
rechtlichen Handlungsbedarf, dem man mit den herkömmlichen<br />
nationalen Rechtsmitteln nicht beikommen<br />
konnte.<br />
MitdemGrünbuchderKommissionvon1984zurErrichtung<br />
eines „Gemeinsamen Marktes für den<br />
Rundfunk“ (KOM 1984/300) betrat die Gemeinschaft<br />
Neuland. Lange Zeit war umstritten, ob sie auf<br />
dem Gebiet über die strikte Anwendung des Gemeinschaftsrechts<br />
hinaus überhaupt tätig werden dürfe.<br />
Tatsächlich erwähnen weder die Römischen Verträge<br />
noch der Vertrag über die Europäische Union eine<br />
ausdrückliche medienrechtliche Kompetenz der Gemeinschaft.<br />
Gleichwohl hat der Maastrichter VertragmitderEinfügungvonArt.128(jetztArt.151)in<br />
den EG-Vertrag erstmals die kulturelle Dimension<br />
der Gemeinschaft anerkannt und den audiovisuellen<br />
Bereich mit einbezogen, in beiden Fällen jedoch im<br />
streng subsidiären Sinne. Artikel 151 schränkt die<br />
kulturelle Kompetenz der Kommission und des Europäischen<br />
Parlaments (EP) bei genauerem Hinsehen<br />
mehr ein, als dass er sie begründet. Der Gemeinschaft<br />
wird lediglich eine zwischenstaatlich fördernde,<br />
unterstützende und nur „erforderlichenfalls“<br />
auch ergänzende Rolle zugestanden. Der besondere<br />
Aspekt dieses Kulturartikels ist zweifelsohne, dass<br />
erstmals in der Form anerkannt wurde, dass Kultur<br />
und Wirtschaft nicht zu trennen sind und dass es eine<br />
Illusion ist zu glauben, man könne im audiovisuellen<br />
Sektor wirtschaftliche und kulturelle Faktoren unabhängig<br />
voneinander behandeln: „Die Gemeinschaft<br />
trägt den kulturellen Aspekten bei ihrer Tätigkeit<br />
aufgrund anderer Bestimmungen dieses Vertrages<br />
Rechnung“ (Art. 151 Abs. 4 EGV). Tatsächlich geht<br />
es der Europäischen Gemeinschaft, seitdem ihre Medienpolitik<br />
als solche umrissen ist, darum, die juristischen,ökonomischenundtechnologischenAnforderungendesSektorsmitdenkulturelleninEinklangzu<br />
bringen.<br />
Zusammengefasst will die EU den medienpolitischen<br />
Sektor an die gesetzmäßigen Anforderungen<br />
des Binnenmarktes anpassen, die Fragmentierung<br />
Medienpolitik<br />
des Marktes überwinden, die kulturelle Vielfalt der<br />
europäischen Produktion bewahren und die wirtschaftliche<br />
Überlebensfähigkeit der europäischen<br />
Soft- und Hardwareindustrie in dem sich verschärfenden<br />
globalen Konkurrenzkampf sichern.<br />
2. Regelungen und Projekte: Die EG-Richtlinie<br />
„Fernsehen ohne Grenzen“ vom Oktober 1989<br />
(89/522, ABl. L 298/1989), deren Revision am 10.<br />
Juni 1997 abgeschlossen wurde (RL 97/36, ABl. L<br />
202/1997), bildet nach wie vor das Herzstück der<br />
EG-Medienpolitik. Ihr Hauptanliegen ist die Verpflichtung<br />
zur ungehinderten Sendefreiheit für<br />
grenzüberschreitendeFernsehsendungenüberSatellit<br />
und Kabel auf der Basis gemeinsamer Mindeststandards.<br />
Die Richtlinie schuf diese Mindestregelungen,<br />
um möglichen Wettbewerbsverzerrungen<br />
entgegenzuwirken. Die diesbezüglichen Regelungen<br />
betreffen vor allem die Bereiche der Werbung<br />
und des Sponsoring sowie des Jugend- und Verbraucherschutzes;<br />
z. B. wurde der Höchstanteil der Werbezeit<br />
auf 15 % der täglichen Sendedauer begrenzt,<br />
mehr als 12 Minuten Werbung pro Stunde sind untersagt,<br />
längere Spielfilme (mindestens 90 Min.) dürfen<br />
erst nach 45 Minuten, Sendungen für Kinder oder religiösen<br />
Inhalts gar nicht unterbrochen werden. Auf<br />
dem Gebiet des Verbraucher- und Jugendschutzes<br />
sind neben dem Recht auf Gegendarstellung vor allem<br />
das prinzipielle Verbot von Sendungen mit gewaltverherrlichendem<br />
oder pornographischem Inhalt<br />
und im Bereich der Werbung das Verbot jedweder<br />
irreführenden, versteckten oder unterschwelligen<br />
Werbung sowie die Verpflichtung zur Respektierung<br />
der Menschenwürde und der religiösen Gefühle<br />
zu nennen.<br />
Dem breiteren Publikum aufgrund zahlreicher Kontroversen<br />
bekannt sind aber die sog. „Quotenartikel“<br />
der Fernsehrichtlinie. Sie bestimmen zum einen,<br />
dass ein Hauptanteil der Sendezeit der europäischen<br />
Veranstalter europäischen Werken vorbehalten<br />
wird. Zwar heißt es, dass sie „wann immer möglich<br />
und mit den geeigneten Mitteln“ anzuwenden seien,<br />
aber gemeint ist eben doch ein Mindestanteil von<br />
51 % (Art. 4). Zum anderen wird in einem weiteren<br />
Quotenartikel verlangt, dass die Veranstalter 10 %<br />
ihres Produktionsbudgets unabhängigen (europäischen)<br />
Produktionen widmen müssen (Art. 5). Diese<br />
Artikel stellen die ersten medienpolitischen Bestimmungen<br />
der Gemeinschaft mit kulturellem Inhalt<br />
dar. Die Absicht der Quotenartikel ist es keineswegs,<br />
531
Medienpolitik<br />
den europäischen Markt für ausländische, heißt:<br />
amerikanische Produkte zu verschließen; sie sollen<br />
vielmehr dazu beitragen, dass die europäischen Produktionen<br />
ungefähr den Anteil halten können, den<br />
sie auch vor der Liberalisierung innehatten. <strong>Europa</strong>s<br />
Filmindustrie soll nicht dafür bestraft werden, dass<br />
<strong>Europa</strong> seinen Binnenmarkt für jedermann öffnet.<br />
<strong>Europa</strong>s Medienmarkt für Inhalte gilt zu Recht als<br />
der offenste der Welt.<br />
Mit der im Juni 1997 abgeschlossenen Revision ist<br />
die Fernsehrichtlinie so weit wie möglich den damaligen<br />
neuen technologischen und damit auch den<br />
neuen politischen Ansprüchen angepasst worden.<br />
Die Revision war zum einen schon in der Richtlinie<br />
von 1989 nach fünf Jahren vorgesehen worden und<br />
zum anderen notwendig, da rechtliche Grauzonen<br />
hinsichtlich der Anwendung und der Verantwortlichkeit<br />
der Mitgliedstaaten aufgetaucht waren.<br />
Eine große Bedeutung nahm schon damals die Definition<br />
der Anwendungsbereiche der Fernsehrichtlinie<br />
ein. Es stand zur Debatte, ob die neuen elektronischen<br />
Dienste wie zum Beispiel Electronic PublishingunddieInternet-Dienstemiteingegliedertwerden<br />
sollten. Dies wäre im Falle einer eins-zueins-Anwendung<br />
jedoch nicht dem selektiven und<br />
eigenverantwortlichen Zugriff auf Information der<br />
interaktiven Dienste gerecht geworden. So wurde<br />
schließlich in Artikel 1 der Rundfunkbegriff restriktiv<br />
definiert. Aufgrund der damals im Vergleich zu<br />
heute noch schwerer einzuschätzenden Entwicklungen<br />
entschied man sich letztlich für einen weiterhin<br />
restriktiven Rundfunkbegriff.<br />
Das Europäische Parlament und die europäische Medienwelt<br />
konzentrieren sich auf eine Revision der<br />
Fernsehrichtlinie,diedieKommissionnochbisEnde<br />
2005 als Vorschlag präsentieren will. Im Folgenden<br />
sei dennoch auf die Diskussion der Vergangenheit<br />
eingegangen.<br />
DieAnwendungderFernsehrichtliniebegrenztesich<br />
damals auf den klassischen Rundfunkbegriff. Es<br />
herrschte 1997 die Meinung, dass die elektronischen<br />
Dienste ein eigenes Regelwerk bekommen sollten,<br />
das ihrem Charakter gerecht wird und so dem Medienstandort<br />
<strong>Europa</strong> auch weiterhin eine gesunde<br />
Basis für seine Entwicklung bieten kann. In diesem<br />
Sinne hat die Kommission schon 1996 ein Grünbuch<br />
über den Jugendschutz und den Schutz der Menschenwürde<br />
vorgelegt (KOM 1996/483), dem im<br />
Dezember 1997 das Grünbuch zur Konvergenz der<br />
532<br />
Branchen der Telekommunikation, Medien und Informationstechnologie<br />
und ihren ordnungspolitischenAuswirkungenfolgte(KOM1997/623,s.u.).<br />
Eine weitere Neuerung in der Fernsehrichtlinie ist<br />
der Artikel betreffend die Übertragung von „gesellschaftlich<br />
bedeutenden Ereignissen“ im Fernsehen<br />
(Art. 3a). Mit Blick auf die Entwicklung hin zum<br />
Pay-TV oder anderen codierten Ausstrahlungen von<br />
Programminhalten ist vom Europäischen Parlament<br />
in der dritten Lesung dieser Absatz eingefügt worden,<br />
um weiterhin der breiten Öffentlichkeit den Zugang<br />
zu Übertragungen von wichtigen Ereignissen<br />
sportlicheroderkulturellerArtzugewährleisten.Die<br />
Mitgliedstaaten können jeweils Listen dieser nationalen<br />
oder internationalen Ereignisse erstellen, die<br />
auch in Zukunft unverschlüsselt zu empfangen sein<br />
sollten wie bspw. die Olympischen Spiele und die<br />
Fußball-Welt- und -<strong>Europa</strong>meisterschaften. Wichtig<br />
ist in diesem Zusammenhang, dass die jeweiligen<br />
nationalen Listen von den Mitgliedstaaten gegenseitig<br />
anerkannt werden, da es ansonsten durch die heutige<br />
grenzüberschreitende Ausstrahlung der Programme<br />
zu Streitigkeiten kommen könnte.<br />
Auch im Bereich des Jugendschutzes sind auf Anregung<br />
des Parlaments in die Richtlinie Neuerungen<br />
aufgenommen worden (Art. 22). Es wurde beschlossen,<br />
dass die Mitgliedstaaten verschärfte Maßnahmen<br />
ergreifen sollten, um den Aufsichtspersonen<br />
bessere Kontrollmöglichkeiten über die Sendungen<br />
von Pornographie und Gewalt im Fernsehen, die von<br />
Minderjährigen gesehen werden können, zu ermöglichen.<br />
Die Kommission soll innerhalb eines Jahres<br />
nach der Veröffentlichung der revidierten Richtlinie<br />
in Zusammenarbeit mit den nationalen Behörden<br />
zwei unabhängige Gutachten über weitere Maßnahmen<br />
anfertigen, die als Basis für ein zweckmäßiges<br />
Vorgehen dienen werden. So wird z. B. an eine Vorschrift<br />
gedacht, dass neue Fernsehgeräte mit einer<br />
technischen Vorrichtung versehen sein müssen, die<br />
es den Eltern oder Aufsichtspersonen ermöglicht,<br />
bestimmte Programme herauszufiltern. Dieser sogenannte<br />
V-Chip blockiert nach einer vorherigen Codierung<br />
der abzuschaltenden Inhalte mit seiner Aktivierung<br />
den Empfang und verhilft damit zu einer selektiven<br />
Kontrolle des Fernsehprogramms (Jugendschutz).<br />
Weiterhin wird die Kommission unter anderem<br />
die Festlegung geeigneter Bewertungssysteme<br />
für die Grundmaßstäbe bezüglich Gewalt und Pornographie<br />
in <strong>Europa</strong> prüfen.
Die schon oben angesprochene Quotenregelung bot<br />
bei der Revision erneut Anlass zur Kontroverse und<br />
wurde schließlich in der dritten Lesung im EP unverändert<br />
übernommen. Wie schon 1989 sind auch diesmal<br />
keine rechtlich verbindlichen Regelungen geschaffen<br />
worden, sondern man hat sich auf die Verpflichtung<br />
geeinigt, europäische Werke „wann immer<br />
möglich“ auszustrahlen. Das Beibehalten der<br />
unverbindlichen Quotenregelung hat auch aus rechtlicher<br />
Sicht eine gewisse Bedeutung. 1989 hatte bereits<br />
die Annahme der Richtlinie erhebliche Debatten<br />
über die Rechtsetzungskompetenzen der Gemeinschaft<br />
im Bereich der Kulturpolitik ausgelöst.<br />
Im deutschen Falle führte die Zustimmung der Bundesregierung<br />
zur Richtlinie zu einer Klage Bayerns<br />
und der Länder vor dem Bundesverfassungsgericht,<br />
die in der Annahme der Richtlinie einen Eingriff in<br />
den Kernbereich der Rundfunkhoheit sahen. Die<br />
Klage wurde zumindest teilweise im Sinne der Länder<br />
entschieden (Urteil des Zweiten Senats vom 22.<br />
3. 1995, 2BvG1/89, BVerfGE 92/203).<br />
EineweitereModernisierungderRegelnfüraudiovisuelle<br />
Dienste sowie einen Zeitplan für künftige<br />
Maßnahmen schlug die Kommission in ihrem Vierten<br />
Bericht über die Anwendung der Richtlinie<br />
89/522 vor (KOM 2002/778 endg.). Die Ergebnisse<br />
des damit eingeleiteten Konsultationsprozesses<br />
fasste die Kommission in ihrer Mitteilung über die<br />
Zukunft der europäischen Regulierungspolitik im<br />
audiovisuellen Bereich zusammen (KOM 2003/784<br />
endg.). Kurzfristig und ohne Änderung der Fernsehrichtlinie<br />
könnten Auslegungsfragen im Bereich<br />
Fernsehwerbung geklärt werden, ebenso ist eine Aktualisierung<br />
der Empfehlungen über Jugendschutz<br />
undSchutzderMenschenwürdemöglich.ZuFragen,<br />
die eine Änderung der Fernsehrichtlinie nötig machen<br />
(Regulierung audiovisueller Inhalte, Werbung,<br />
Recht auf Information) wurden Studien in Auftrag<br />
gegeben und Anhörungen von Sachverständigen angesetzt.<br />
Die Ergebnisse veröffentlichte die Kommission<br />
in Positionspapieren im Juli 2005. Erstmals bekennt<br />
sich die Kommission in ihnen zu einem integrierten<br />
Ansatz einer „Content-Richtlinie“ für alle<br />
an die Allgemeinheit gerichteten audiovisuellen<br />
Dienstleitungen. Es gilt als gesichert, dass sich der<br />
für Ende 2005 erwartete (zweite) Richtlinienänderungsvorschlag<br />
in diesem Sinne an dem deutschen<br />
Modell der „abgestuften Regulierungsdichte“ orientieren<br />
wird.<br />
Medienpolitik<br />
Am 1. 6. 2005 verabschiedete die Kommission im<br />
gleichen Geiste der Antwort an die Herausforderung<br />
der technologischen Konvergenz ihre Initiative<br />
„i2010: Europäische Informationsgesellschaft<br />
2010“, in der 3 Schwerpunkte genannt werden:<br />
– Schaffung eines offenen und wettbewerbsfähigen<br />
EU-Binnenmarkts für die Dienste der Informationsgesellschaft<br />
und der Medien. Zur Förderung der<br />
Konvergenz zwischen Technologie und Politik wird<br />
die Kommission eine Strategie für eine effiziente<br />
Frequenzverwaltung in <strong>Europa</strong> (2005) vorschlagen:<br />
eine Modernisierung der Vorschriften für die audiovisuellen<br />
Mediendienste (Ende 2005), eine Aktualisierung<br />
des Rechtsrahmens für elektronische Kommunikation<br />
(2006), eine Strategie für eine sichere Informationsgesellschaft<br />
(2006) und ein umfassendes<br />
Konzept für die effektive und interoperable Verwaltung<br />
digitaler Rechte (2006/2007).<br />
– Erhöhung der EU-Investitionen in die Forschung<br />
auf dem Gebiet der Informations- und Kommunikationstechnologien<br />
(IKT) auf 80 %. <strong>Europa</strong> investiert<br />
pro Kopf nur 80 Euro in die IKT-Forschung und liegt<br />
damit hinter Japan (350 Euro) und den USA (400<br />
Euro) zurück. In der Strategie „i2010“ werden<br />
Schritte aufgezeigt, wie die Investitionen in die<br />
IKT-ForschungundderenpraktischerNutzenerhöht<br />
werden können, etwa durch Demonstrationsprojekte,<br />
mit denen vielversprechende Forschungsergebnisse<br />
gestestet werden, sowie durch die stärkere Einbeziehung<br />
kleiner und mittlerer Unternehmen in europäische<br />
Forschungsprojekte.<br />
– Förderung einer Informationsgesellschaft, die alle<br />
Menschen einbezieht. Um die Lücke zu schließen<br />
zwischen denen, die die Informationsgesellschaft<br />
nutzen können und denen, die noch keinen Zugang<br />
haben, wird die Kommission einen Aktionsplan für<br />
elektronische, bürgernahe Behördendienste vorschlagen,<br />
drei IKT-Initiativen auf dem Gebiet „Lebensqualität“<br />
– (1) Technologien für eine alternde<br />
Bevölkerung,(2)intelligentere,sicherereundsauberere<br />
Fahrzeuge sowie (3) digitale Bibliotheken, über<br />
die alle Zugang zu Multimedia und zur multilingualen<br />
europäischen Kultur haben – (2007) sowie Maßnahmen<br />
zur Überwindung der geographischen und<br />
gesellschaftlichen Unterschiede, die in eine europäische<br />
Initiative für die digitale Integration münden<br />
werden (2008).<br />
„i2010“ ist die erste Initiative der Kommission, die<br />
im Rahmen der erneuerten Lissabon-Strategie der<br />
533
Medienpolitik<br />
EU verabschiedet wird. Es geht um den vielversprechendsten<br />
Wirtschaftssektor der EU: IKT hat einen<br />
Anteil von 40 % am Produktivitätswachstum und<br />
25 % am BIP-Wachstum in <strong>Europa</strong>. Die Mitgliedstaaten<br />
sind aufgefordert, in ihren nationalen ReformprogrammenbisMitteOktober2005Prioritäten<br />
im Bereich der Informationsgesellschaft festzulegen,<br />
um so zu den Zielen der i2010-Strategie beizutragen<br />
Alternativ zur Quotenregelung der Fernsehrichtlinie<br />
wird die europäische Filmindustrie auch durch andere<br />
Instrumente gefördert. So verlässt der weitaus<br />
größte Teil der europäischen Produktionen wegen<br />
der nationalen Produktions- und Vertriebsstrukturen,<br />
aber auch wegen der Sprachbarrieren sein Ursprungsland<br />
nicht. Hier hat die Gemeinschaft mit ihrem<br />
im Dezember 1990 auf fünf Jahre beschlossenen<br />
MEDIA-Programm eingehakt, das sich nun schon in<br />
seiner dritten Umsetzungsphase befindet (MEDIA<br />
Plus 2001 – 2006). Über eine Laufzeit von 1991 bis<br />
1995 hinweg förderte MEDIA I mit einem Budget<br />
von ungefähr 250 Mio. ECU die europäische Filmindustrie.<br />
Das in etwa 20 Einzelprogramme unterteilte<br />
Programm richtete sich an die kleineren und mittleren<br />
Unternehmen der unabhängigen Kino- und TV-<br />
Produzenten und wurde auch von ihnen geführt. Das<br />
Konzept ist darauf ausgelegt, zur Überwindung der<br />
Schwachstellen ein Netzwerk zu schaffen, das die<br />
europäische Industrie ökonomisch stärkt und somit<br />
die kulturelle Diversität garantieren hilft. Die Priorität<br />
liegt folglich bei der Ausbildung, den Finanzierungs-<br />
und Vertriebsmechanismen und den Übersetzungen.<br />
MEDIA I subventionierte nicht die Produktionen<br />
als solche, sondern bot nur in den ihnen vorund<br />
nachgeschalteten Prozessen seine strukturelle<br />
Hilfean;gefördertwurdenachdemPrinzipdes„seed<br />
money“. Der Erfolg solcher Unterstützung der audiovisuellen<br />
Produktion und des Vertriebs veranlasste<br />
die Neuausschreibung des Programms als<br />
MEDIA II von 1996 –2000. Das Konzept ist vom<br />
Prinzip her das gleiche geblieben, jedoch ist die Verwaltung<br />
der Programme durch deren Verringerung<br />
von 20 auf 3 Schwerpunkte erheblich einfacher gestaltet<br />
worden. Das Budget für diesen Zeitraum ist<br />
mit 310 Mio. ECU veranschlagt worden, das durch<br />
die Zurückzahlung der unter MEDIA I bewilligten<br />
Anleihen noch angereichert wurde.<br />
Media Plus ist durch Beschluss 2000/821 (ABl. L<br />
336/2000) als Programm zur Förderung von Ent-<br />
534<br />
wicklung, Vertrieb und Öffentlichkeitsarbeit europäischer<br />
Werke als Verlängerung der bisherigen Media-Programme<br />
präsentiert worden. Es ist mit einem<br />
Budget von 453,6 Mio. Euro ausgestattet (Laufzeit<br />
1. 1. 2001 – 31. 12. 2006). Im Bereich Entwicklung<br />
werdenunabhängigeUnternehmen,vorallemKMU,<br />
gefördert, die allein oder gemeinsam Produktionen<br />
für den europäischen Markt durchführen, auch unter<br />
Nutzung neuer Informationstechnologien. Im Bereich<br />
Vertrieb werden Vertriebsfirmen unterstützt,<br />
die Werke aus anderen europäischen Staaten für den<br />
öffentlichen oder privaten Gebrauch oder von unabhängigen<br />
Unternehmen produzierte Fernsehprogramme<br />
vertreiben. Im Bereich Öffentlichkeitsarbeit<br />
sollen europäische Werke durch Veranstaltung<br />
von Fachmärkten, Handelsmessen oder Festspielen<br />
europa- und weltweit gefördert werden. Eine Ergänzung<br />
zu Media Plus bildet die von der EIB finanzierte<br />
Initiative „i2i Audiovisual“, die Filmschaffenden<br />
dabei hilft, ihre Kapitalbasis zu stärken, u. a. durch<br />
Bezuschussung von Bürgschaften.<br />
Für eine Fortsetzung des Media-Programms für die<br />
Zeit von 2007 bis 2013 (Media 2007) hat die Kommission<br />
im Juli 2004 einen Vorschlag vorgelegt<br />
(KOM 2004/470 endg.).<br />
3. Die (Medien-)Technologiepolitik: Sie bildet das<br />
dritte Standbein der EU-Medienpolitik. Die Strategie<br />
zur Öffnung der Märkte für Satellitenkommunikation<br />
und Kabelnetze und der schrittweisen Einführung<br />
des hochentwickelten Fernsehens – von der Gemeinschaft,<br />
aber auch von dem paneuropäischen<br />
EUREKA-95-Projekt vorangebracht – hat von allen<br />
Bestandteilen der EU-Medienpolitik eine bewegte<br />
Geschichte.<br />
Bereits 1986 erließ der Rat die erste sog. „MAC-<br />
Richtlinie“(MAC=MultipleAnalogueComponent)<br />
zur Einführung eines europäischen, fortgeschrittenen<br />
Satellitenfernsehens als Vorstufensystem zum<br />
hochauflösenden Fernsehen. Die Grundidee des<br />
MAC-Konzepts war, einen pragmatischen und graduellen<br />
Weg in Richtung HDTV (High Definition<br />
Television = hochauflösendes Fernsehen) einzuschlagen,<br />
um zu verhindern, dass die Europäer ein<br />
weiteres Mal durch Normen getrennt würden, zum<br />
Beispiel durch PAL/SECAM Farbfernsehtechnologien.<br />
MAC (aus einer D2-MAC-Vorstufe und einer<br />
HD-MAC-Endstufe bestehend) war als kompatibles<br />
System ausgelegt für den Empfang von breitformatigen,<br />
aber noch analog gesendeten Bildern. Nach und
nach sollten die Europäer, vorerst über den Satellitenempfang,<br />
an das HDTV herangeführt werden. Im<br />
Juni 1994 haben die Fachminister der EUREKA-<br />
Initiative und die Europäische Kommission grünes<br />
Licht für die Entwicklung des digitalen Systems<br />
ADTT (Advanced Digital Television Techniques)<br />
gegeben,dasaufzweieinhalbJahreveranschlagtund<br />
mit250Mio.ECUausgestattetwar.Damitwurdedas<br />
HDTV-Projekt beendet.<br />
4. Ausblick: Die Medienlandschaft hat sich über die<br />
„Multimediatisierung“ immer komplexer gestaltet;<br />
die Digitalisierung ermöglicht eine Vielzahl neuer<br />
Übertragungswege und hatte neue Formen des ZusammenwachsensderSektorenTelekommunikation<br />
und des audiovisuellen Bereichs zur Folge. Eine Reihe<br />
von möglichen ordnungspolitischen Problemfeldern,<br />
die sich aus dieser Entwicklung ergeben, werden<br />
in dem oben erwähnten Grünbuch der Kommission<br />
zur Konvergenz dargelegt. Der Schwerpunkt<br />
liegtaufderForderungnacheinemklarenRechtsrahmen,<br />
der sowohl den Vertreibern als auch den Nutzern<br />
Vertrauen in die neuen Dienste vermittelt.<br />
Grundlegend achtet die Kommission darauf, dass die<br />
Konvergenz nicht zu weiteren Rechtsvorschriften<br />
führt,sondernsoweitwiemöglichdiealtenRegelungen<br />
den neuen Gegebenheiten angepasst werden.<br />
Eine weitere Fragmentierung des europäischen<br />
Marktes durch nationale Vorschriften würde die<br />
Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Medienpolitik<br />
in der Zukunft empfindlich beeinträchtigen.<br />
Eine entscheidende Frage ist auch, wie die gesamte<br />
Wettbewerbsfähigkeit der europäischen audiovisuellen<br />
Industrie gestärkt werden (sprich: das Handelsdefizit<br />
mit dem größten Konkurrenten, den USA, abgebaut)<br />
und den neuen globalen Herausforderungen<br />
angepasstwerdenkann.Dabeiwirdmanimbesonderen<br />
Maße darauf achten müssen, dass die spezifischen<br />
Regelungen aufeinander abgestimmt werden.<br />
<strong>Europa</strong>s Medienpolitiker, die nationalen und die gemeinschaftlichen,<br />
werden einen subsidiären Weg<br />
(Subsidiarität) des ordnungspolitischen Miteinandersfindenmüssen.<br />
K. H.<br />
Mehrebenenstruktur, Mehrebenensystem<br />
1. Begriff: Zur Beschreibung und Erklärung des politischen<br />
Systems der EU/EG haben sich in der Politikwissenschaft<br />
an den deutschen Föderalismus angelehnte<br />
Bezeichnungen wie Mehrebenenstruktur<br />
bzw. Mehrebenensystem oder europäische Politik-<br />
Mehrebenenstruktur<br />
verflechtung durchgesetzt. Der in diesen Begrifflichkeiten<br />
zum Ausdruck kommende Mehrebenenansatz<br />
versucht die Bedeutung der unterschiedlichen<br />
staatlichen Ebenen im politischen Prozess sowie die<br />
unterschiedlichen Steuerungsmechanismen, die auf<br />
und zwischen diesen Ebenen eine Rolle spielen, zu<br />
erfassen. Er geht von einem modernen Staatsverständnis<br />
aus, nach dem eine effektive politische<br />
Steuerung nur erreicht werden kann, wenn die Grenzen<br />
des rein nationalstaatlichen Denkens überwunden<br />
und nicht-staatliche Akteure (z. B. Verbände,<br />
Regionen) stärker in die Politikformulierung eingebunden<br />
werden (�Governance). Die politischen Prozesse<br />
innerhalb der EU/EG können danach nicht nur<br />
als Resultat des simplen Hinzutretens einer zusätzlichen<br />
Ebene betrachtet werden, die bspw. die bundesdeutsche<br />
Politikverflechtung zwischen Bund und<br />
Ländern lediglich um eine weitere Ebene ergänzt.<br />
Vielmehr führt die europäische Mehrebenenstruktur<br />
zu einem neuartigen Entscheidungssystem „sui generis“,<br />
in der flexible Kooperations- und Interaktionsformen<br />
größere Bedeutung erlangen.<br />
2. Forschungsstand: Der Komplexität der Steuerungsanforderungen<br />
im Mehrebenensystem der EU/<br />
EG hat sich die Politikwissenschaft in erster Linie im<br />
Rahmen von Politikfeld-Analysen versucht zu nähern<br />
(Policy-Analysen). Diese Arbeiten bestätigen<br />
die Annahme, dass es sich bei der Mehrebenenstruktur<br />
nicht um ein festgefügtes Verflechtungsmuster<br />
im Rahmen formalisierter internationaler Verfahren<br />
handelt, sondern um eine vergleichsweise variable<br />
Struktur, innerhalb derer Verhandlungen und der<br />
Austausch von Informationen eine zentrale Rolle<br />
spielen. Angesichts dieser Ergebnisse wird das<br />
Mehrebenensystem auch als „lose gekoppeltes System“<br />
eingestuft, bei dem eine Vielzahl von Akteuren<br />
ihren Einfluss im Rahmen von Verhandlungen und<br />
informellen Verfahren geltend machen können.<br />
Stärker noch als im korporatistischen System<br />
Deutschlands werden auf europäischer Ebene nationale<br />
Experten aus Verwaltung, Verbänden, Unternehmen<br />
oder Gewerkschaften im Vorfeld der Entscheidungen<br />
beteiligt. Die der bundesdeutschen Politikverflechtung<br />
dabei zugeschriebene Blockadeanfälligkeit<br />
aufgrund eines dominierenden Parteienwettbewerbskanndamitumgangenwerden.Diesgilt<br />
vor allem für Expertennetzwerke, die sich innerhalb<br />
bestimmter Politikfelder bilden und durch eine vergleichsweise<br />
homogene Handlungsorientierung und<br />
535
Mehrheiten<br />
eine gewisse Überparteilichkeit charakterisiert werden<br />
können. Innerhalb dieser Netzwerke steigen die<br />
Chancen für Verhandlungslösungen, die auch durch<br />
die auf europäischer Ebene vorhandenen konkurrierenden<br />
Konzepte und den dadurch ausgelösten Anpassungsdruck<br />
Auftrieb erhalten. Zudem werden der<br />
Europäischen Kommission und zunehmend auch<br />
dem EP eine entscheidende Initiatoren- und Koordinatorenrolle<br />
zugesprochen, mit der zustimmungsfähige<br />
Politiken formuliert und den Interessen der Mitgliedstaaten<br />
sowie der Bürger angepasst werden<br />
können.<br />
GleichzeitigwerdenaberauchEntflechtungstendenzeninsolchenBereichensichtbar,indenendiepolitischen<br />
Akteure einer stärkeren Kontrolle durch Parlamente<br />
und Parteien unterliegen. So kann es aufgrund<br />
der Konkurrenz von nationalen und regionalen Regierungen<br />
um Macht und Einfluss in der europäischen<br />
Politik zu strukturellen Spannungen kommen,<br />
die in Richtung einer Entflechtung wirken können.<br />
Dies ist etwa der Fall, wenn Regionen unter Umgehung<br />
der nationalen Regierung direkt mit europäischen<br />
Institutionen über die Vergabe der Strukturfondsmittel<br />
verhandeln.<br />
3. Kritische Wertung: Trotz der mittlerweile vorliegenden<br />
umfassenden Arbeiten zur europäischen Politikverflechtung<br />
ist es der Politikwissenschaft bislang<br />
nicht gelungen, einen konkreten Analyserahmen<br />
zur Beurteilung der Mehrebenenstruktur zu liefern.<br />
Zusammenfassend führt der Mehrebenenansatz<br />
bislang lediglich zu der Einsicht, dass staatlich<br />
dominierte Verhandlungssysteme mit hierarchischen<br />
Strukturen in der politischen Realität der<br />
EU/EG eher die Ausnahme darstellen. Forschungsbedarf<br />
besteht insbes. hinsichtlich der Art und Funktion<br />
der Beziehungen zwischen den Ebenen sowie<br />
der Anpassungsreaktionen, mit denen die Mitgliedstaaten<br />
auf den gestiegenen Koordinationsbedarf<br />
reagieren. S. A.<br />
Literatur:<br />
Benz, A.: Governance – Regieren in komplexen<br />
Regelsystemen. Wiesbaden 2004<br />
Grande, E./Jachtenfuchs, M.: Wie problemlösungsfähig ist die<br />
EU? Baden-Baden 2000<br />
Jachtenfuchs, M./Kohler-Koch, B. (Hg.): Europäische<br />
Integration. 1996<br />
Kohler-Koch, B. et al. (Hg.): Europäische Integration –<br />
europäisches Regieren. Wiesbaden 2004<br />
Marks, G./Scharpf, F. et al. (Hg.): Governance in the European<br />
Union. London 1996<br />
536<br />
Mehrheiten �Organe (allgemein)<br />
Mehrsprachigkeit. Rechtsgrundlage für die Mehrsprachigkeit<br />
in der EU ist zum einen Art. 21 EGV,<br />
zum anderen die Verordnung Nr. 1 des Rats von<br />
1958.Letzteresiehtvor,dassalleRechtsvorschriften<br />
in allen Amtssprachen abgefasst werden. Das entspricht<br />
der Anforderung des Art. 1 EUV, alle Entscheidungen<br />
möglichst bürgernah zu treffen. Sowohl<br />
der Vertrag als auch die Verordnung schreiben<br />
fest, dass die Unionsbürger sich in einer beliebigen<br />
�Amtssprache der EU an die Organe der Gemeinschaftwendenkönnenunddassdieseihneninderselben<br />
Sprache antworten müssen. Damit kommt die<br />
EU ihrer Pflicht gem. Art. 3 EUV nach, die Identität<br />
der Mitgliedstaaten zu achten.<br />
Nach Art. 6 der Verordnung Nr. 1 von 1958 können<br />
die Organe der Gemeinschaft in ihren Geschäftsordnungen<br />
festlegen, wie sie die Sprachenfrage im Einzelnenregeln.�Amts-undArbeitssprachenderEU<br />
Im privaten bzw. beruflichen Bereich gehört Mehrsprachigkeitzur<strong>Europa</strong>kompetenz.Dabeigenügtim<br />
Alltag häufig eine sog. „rezessive Mehrsprachigkeit“,<br />
bei der die Fähigkeit „Verstehen“ (Lesen und<br />
Hören) ausgeprägter ist als die Fähigkeit „Sprechen“.<br />
Mehrwert �Europäischer Mehrwert<br />
Mehrwertsteuer,<br />
Mehrwertsteuerharmonisierung �Steuerrecht<br />
Meistbegünstigungsklausel. Regelung im Rahmen<br />
mehrpoliger Verhältnisse zwischen Staaten<br />
oder anderen Körperschaften, nach der ein im bilateralen<br />
Verhältnis gewährter Vorteil auch auf alle anderen<br />
Beteiligten auszudehnen ist. Meistbegünstigungsklauseln<br />
(most-favoured-nation clause; clause<br />
de la nation la plus favorisée) werden insbes. in internationalen<br />
Handelsverträgen verwendet, um eine<br />
Differenzierung bei den Einfuhrbedingungen für<br />
ausländische Waren zu verhindern.<br />
Die Klausel wird aber auch in anderen Verträgen,<br />
etwa solchen über diplomatische und konsularische<br />
Vorrechte oder im Bereich des Investitionsschutzes,<br />
verwendet. Maßstab für die Beurteilung ist jeweils<br />
die günstigste Behandlung, die einem Beteiligten gewährt<br />
wird.<br />
Die Meistbegünstigung kann einseitig oder gegen-
seitig, entweder uneingeschränkt oder unter der Voraussetzungeingeräumtwerden,dassderandereStaat<br />
dieselbe Vergünstigung wie der meistbegünstigte<br />
Staat gewährt. In der Praxis stehen heute die gegenseitige<br />
und unbedingte Gewährung der Meistbegünstigung<br />
im Vordergrund.<br />
Mit der Meistbegünstigung wird die Gewährung eines<br />
Vorteils mit einem Differenzierungsverbot im<br />
Hinblick auf vergleichbare Rechtsträger oder Sachverhalte<br />
verbunden, so dass die Meistbegünstigung<br />
sich als Ausprägung des allgemeinen Grundsatzes<br />
der Nichtdiskriminierung verstehen lässt. Die Klausel<br />
räumt dem Begünstigten keinen Anspruch auf<br />
eine bestimmte Behandlung im internationalen<br />
Rechtsverkehr ein, sondern erlaubt die Abwehr einer<br />
im Vergleich zu einem Dritten schlechteren Behandlung.<br />
Auf Grund ihrer Zielrichtung hat die Meistbegünstigungsklausel<br />
– bezogen auf ihren jeweiligen<br />
Anwendungsbereich – eine unitarisierende Wirkung.<br />
Vom Grundsatz der Meistbegünstigung werden<br />
häufig Ausnahmen zugunsten von �Freihandelszonen<br />
und Zollunionen sowie Präferenzsystemen<br />
zugelassen.<br />
Die Meistbegünstigung ist neben dem Gebot der Inländergleichbehandlung<br />
der tragende Rechtsgrundsatz<br />
des �WTO-Rechts. Jedes WTO-Mitglied ist<br />
nach dem allgemeinen Meistbegünstigungsgrundsatz<br />
verpflichtet, die Erzeugnisse eines anderen Mitglieds<br />
nicht weniger günstig zu behandeln als vergleichbare<br />
Erzeugnisse anderer Länder. Die Pflicht<br />
erstreckt sich im Warenverkehr nach dem �GATT<br />
1994 auf Zölle und andere Abgaben sowie belastende<br />
Regelungen (Art. I:1 GATT 1994), auf den Handel<br />
mit Dienstleistungen nach dem �GATS (Art. II)<br />
und den Schutz des geistigen Eigentums nach dem<br />
�TRIPS (Art. 4). Die Auslegung des Schlüsselbegriffs<br />
der „vergleichbaren Erzeugnisse“ (like products)<br />
ist dabei häufig ein Anlass für handelspolitische<br />
Streitigkeiten.<br />
Vom Grundsatz der Meistbegünstigung sind Ausnahmen<br />
zugelassen für Freihandelszonen und Zollunionen<br />
(Art. XXIV GATT 1994), bei Störungen des<br />
wirtschaftlichen Gleichgewichts (Art. XIV GATT<br />
1994) oder bei einer gezielten Freistellung von der<br />
Pflicht zur Meistbegünstigung (Art. XXV:5 GATT<br />
1994, sog. „waiver“). Eine solche Freistellung ist die<br />
Grundlage für allgemeine Präferenzsysteme, mit denen<br />
entwicklungspolitische Ziele verfolgt werden.<br />
F. Sch.<br />
Literatur:<br />
Kewenig, W.: Der Grundsatz der Nichtdiskriminierung im<br />
Völkerrecht der internationalen Handelsbeziehungen.<br />
Frankfurt a. M. 1972<br />
Rösner, P.: Die Meistbegünstigungsklausel in den bilateralen<br />
Handelsverträgen der Bundesrepublik Deutschland. 1964<br />
Tietje, C.: Die Meistbegünstigungsverpflichtung im<br />
Gemeinschaftsrecht. <strong>Europa</strong>recht 1995, S. 398 – 415<br />
Mengenbegrenzung �Gemeinsame Agrarpolitik<br />
Mengenmäßige Beschränkungen �Nichttarifäre<br />
Handelshemmnisse<br />
Menschenhandel �Europol<br />
Menschenrechte<br />
Menschenrechte<br />
1.Bedeutung:DieMenschenrechtesindTeilder�europäischen<br />
Identität und ermöglichen ein humanes<br />
Zusammenleben. Sie schließen ein: die Beseitigung<br />
von Hunger und Armut, die Hebung des Wohlstandes,<br />
die Garantie des Rechts auf Leben, die Abschaffung<br />
von Unterdrückung und Unterprivilegierung,<br />
die Herstellung und Erhaltung politischer und persönlicher<br />
Freiheit, die Durchsetzung von Recht und<br />
Gerechtigkeit auch für Minderheiten. Zum erstenmal<br />
in der Geschichte der Menschheit ist der Zeitpunkt<br />
erreicht, an dem die politischen und sozialen<br />
Voraussetzungen für die Verwirklichung der Menschenrechtein<strong>Europa</strong>gegebensind:dasVorhandensein<br />
ausreichender Ressourcen zur Verwirklichung<br />
allgemeiner Wohlfahrt, die freie Entfaltung kultureller<br />
Aktivitäten, die Verbreitung des demokratischen<br />
Gedankens im Sinne einer Einführung bzw. Optimierung<br />
freiheitlicher und partizipativer Rechte der<br />
Individuen u. dgl.<br />
Die Verweigerung bzw. Nichtachtung von Menschenrechten<br />
wird heute nicht mehr überall mit Verfolgung,<br />
Folter und Mord, äußerer Bedrohung und<br />
UnterdrückungjederArtgleichgesetzt,sondernvielfach<br />
als ein strukturelles Problem angesehen. Dabei<br />
entstehen Abgrenzungsfragen wie: Ist das Asylrecht<br />
ein allgemeines Menschenrecht? Ist Umweltschutz<br />
einMenschenrecht?WieweitreichendieMenschenrechte<br />
bei humangenetischen Experimenten? Ist das<br />
(Kommunal-)Wahlrecht für Nicht-EU-Ausländer in<br />
der Bundesrepublik Deutschland mit dem Menschenrechtsargument<br />
zu vertreten? usw.<br />
2. Grundlagen und Gültigkeit: Die Rechtsprechung<br />
des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte<br />
(EGMR)inStraßburgbeziehtsichausschließlichauf<br />
537
Menschenrechte<br />
die Vertragsstaaten des <strong>Europa</strong>rats, soweit sie die<br />
Menschenrechtskonvention von 1950 ratifiziert haben.Darüberhinausgibtes–außerdemEuGH(ingewissen<br />
Grenzen) – noch keine internationale Instanz<br />
zur Durchsetzung der Menschenrechte.<br />
Die Menschenrechte selbst sind inhaltlich nicht fest<br />
umrissen und hängen von den Kulturkreisen, Staatsverfassungen,<br />
herrschenden Ideologien usw. ab. Sie<br />
müssen sich auf einen breiten nationalen bzw. internationalen<br />
Konsens als Legitimationsbasis stützen<br />
können.InDeutschlandhat–inAnlehnungandienaturrechtliche<br />
Tradition der Aufklärung und nach den<br />
Erfahrungen in der NS-Zeit – die Menschenwürde<br />
Verfassungsrang. Sie ist „unantastbar“, muss vor<br />
„aller staatlichen Gewalt“ geschützt werden; die<br />
Grund- und Menschenrechte binden die drei Gewalten<br />
im Staate direkt. Als politische Maxime gilt die<br />
Bindung an die „unverletzlichen und unveräußerlichen<br />
Menschenrechte als Grundlage jeder menschlichen<br />
Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit<br />
in der Welt“ (Art. 1 GG). Es handelt sich dabei –<br />
schon angesichts der vorrangigen Positionierung im<br />
Grundgesetz, konkretisiert in den Grundrechten<br />
(Art. 1–19 GG) – um den höchsten Wert mit universaler<br />
Geltung für Individuen und Staaten. Dies wird<br />
nicht zuletzt durch die Tatsache bestätigt, dass die internationalenKonventionenvondenmeistenStaaten<br />
akzeptiert werden. Viele Beschwerden richten sich<br />
gegen die Länge der Gerichtsverfahren in den Mitgliedstaaten.<br />
Spektakulär entschied der EGMR z. B.<br />
gegen Niedersachsen wegen der Verhängung eines<br />
zeitweiligen Berufsverbots gegen eine kommunistische<br />
Lehrerin. Es sei hier nur an die westliche Traditionslinie<br />
der Menschenrechte in der neuesten Zeit –<br />
von der „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“<br />
der Generalversammlung der Vereinten Nationen<br />
(10. 12. 1948) bis zur „Konvention zum Schutze<br />
der Menschenrechte und Grundfreiheiten“ des <strong>Europa</strong>rats<br />
(4. 11. 1950) sowie an das Abschlussdokument<br />
der KSZE (1975) erinnert, in der die natürlichen,<br />
überstaatlichen Rechte des Menschen und ihre<br />
verfassungsmäßige Ausgestaltung gekoppelt werden.<br />
3. Inhalte: Praktisch geht es bei der Herstellung und<br />
Bewahrung der Menschenrechte um die Sicherstellung<br />
der Autonomie der Person (in sozialer Einbindung),<br />
denn „nur der Mensch ... ist Zweck an sich<br />
selbst“ (Kant). Karl Marx hat besonders den Zusammenhang<br />
von der Würde der Person und ihren mate-<br />
538<br />
riellen Voraussetzungen erkannt, die infolge ihrer<br />
ökonomischen Bedingtheit von ihm als Widerspiegelung<br />
von Klasseninteressen interpretiert werden.<br />
Daraus entstand das Eintreten für wirtschaftliche,<br />
kulturelleundsozialeMenschenrechte(Europäische<br />
Sozialcharta des <strong>Europa</strong>rats, 1961), die infolge ihrer<br />
Interessen- und Standpunktbedingtheit sich definitorischnichtfestlegenlassen(s.o.).Siebewegensich<br />
begrifflich von der Selbsthilfe über die subsidiäre<br />
staatlicheHilfeinNotfällen,vonderVertragsfreiheit<br />
am Arbeitsmarkt bis zum geforderten verfassungsmäßigen<br />
„Recht auf Arbeit“, von der sozialen<br />
Gleichheit bis zur gesellschaftlichen Differenzierung,<br />
von der ökonomischen Ausbeutung bis zum<br />
„gerechten Lohn“, von der sozialen Gleichberechtigung<br />
bis zur (lohn-, arbeitsmarktpolitischen) Diskriminierung<br />
von Frauen u. dgl.<br />
In diesem Zusammenhang der (Nicht-)Gewährung<br />
von sozialen Rechten bestehen noch erhebliche Unterschiede<br />
zwischen den EU-Staaten. Der Europäische<br />
Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg hat mit seiner<br />
Rechtsprechung punktuell einiges zur Einebnung<br />
der nationalen Unterschiede beigetragen. Er<br />
hat die internationalen Verträge und Deklarationen<br />
zumSchutzederMenschenrechtesowiedieGemeinsame<br />
Grundrechtserklärung von 1977 (Grund- und<br />
Menschenrechte in der EU) interpretiert.<br />
4. Menschenrechte in den europäischen Verträgen:<br />
In den Pariser Verträgen und den Römischen Verträgen<br />
werden die Menschenrechte explizit nicht erwähnt,<br />
jedoch sind sie zweifellos implizit in den Absichten<br />
der EU-Mitgliedstaaten, Frieden und Freiheit<br />
zu wahren, rechtliche und soziale Diskriminierungen<br />
der Menschen zu beseitigen u. dgl. enthalten.<br />
Nach der Präambel der �Einheitlichen Europäischen<br />
Akte von 1986 („... entschlossen, gemeinsam für die<br />
Demokratie einzutreten, wobei sie sich auf die in den<br />
Verfassungen und Gesetzen der Mitgliedstaaten, in<br />
derEuropäischenKonventionzumSchutzederMenschenrechte<br />
und Grundfreiheiten und der Europäischen<br />
Sozialcharta anerkannten Grundrechte, insbes.<br />
Freiheit, Gleichheit und soziale Gerechtigkeit<br />
stützen ...“) sehen die (damals) Fünfzehn eine wesentliche<br />
Aufgabe ihrer Politik in der Verteidigung<br />
der Freiheitsrechte auf internationaler Ebene.<br />
Die Organe der Europäischen Union haben aktiv<br />
Stellung bezogen zu Fragen des Rassismus, der<br />
Fremdenfeindlichkeit, des Antisemitismus, der<br />
Apartheid, zum Flüchtlingsproblem, zur Einhaltung
der Menschenrechte in zahlreichen Ländern, zum<br />
Bürgerkrieg usw.<br />
Im Europäischen Parlament spielen die Menschenrechte<br />
als Basis der Grundfreiheiten eine eminent<br />
wichtige Rolle, weil sie eine Art Grundrechtskatalog<br />
für die EU-Mitgliedstaaten darstellen. So kam es am<br />
5. 4. 1977 zu einer Gemeinsamen Grundrechtserklärung<br />
des EP, des Rates und der Kommission, worin<br />
sie „die vorrangige Bedeutung, die sie der Achtung<br />
der Grundrechte beimessen, wie sie insbes. aus den<br />
Verfassungen der Mitgliedstaaten sowie aus der Europäischen<br />
Konvention zum Schutz der Menschenrechte<br />
und Grundfreiheiten hervorgehen“ unterstreichen<br />
(ABl. C 103 vom 27. 4. 1977, Zehnter Gesamtbericht,<br />
Ziff. 567). Dieser Erklärung schlossen sich<br />
die Staats- und Regierungschefs auf ihrer Gipfelkonferenz<br />
am 7./8. 4. 1978 in Kopenhagen mit ihrer Deklaration<br />
zur Demokratie an. Beide Dokumente hält<br />
man für geeignet, die Bildung eines identitären europäischen<br />
(Gemeinschafts-)Bewusstseins zu fördern<br />
undihmeinegemeinsameWertgrundlagezugeben.<br />
Obwohl von den <strong>Europa</strong>abgeordneten das Fehlen einer<br />
klar umrissenen Menschenrechtspolitik der EU<br />
gegenüber Drittländern immer wieder beklagt wird,<br />
habensieinvielenFällengegenMenschenrechtsverletzungen<br />
in aller Welt protestiert – z. B. haben sie in<br />
ihrer „Entschließung zu den Menschenrechten in der<br />
Welt“ vom 17. 5. 1983 44 Länder namentlich genannt<br />
– und die EG-Kommission aufgefordert, im<br />
Rahmen der �Europäischen Politischen Zusammenarbeit<br />
Maßnahmen zum Schutz der Menschenrechte<br />
einzubeziehen, weil deren Missachtung die politischeEntspannunginderWeltbeeinträchtigeundden<br />
Frieden gefährde. Das bedeutendste politische Dokument<br />
über die Menschenrechte ist die EntschließungdesEG-MinisterratsüberMenschenrechte,Demokratie<br />
und Entwicklung von 1991, die sich auf die<br />
HilfefürEntwicklungsländerbezieht. W. M.<br />
Literatur:<br />
Bergmann, J.: Das Menschenbild der Europäischen Menschenrechtskonvention.<br />
Baden-Baden 1995<br />
Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): Menschenrechte,<br />
Dokumente und Deklarationen. Bonn, 2. Auflage 1995<br />
Europäische Kommission (Hg.): Die Europäische Union und<br />
die Menschenrechte in der Welt. Bulletin der Europäischen<br />
Union, Beilage 3/95. Luxemburg 1996<br />
Kühnhardt, L.: Die Universalität der Menschenrechte. Bonn,<br />
Auflage 1991 2<br />
Mercosur (Mercado Común del Sur), der gemeinsame<br />
Markt des Südens, wurde am 26. 3. 1991 durch<br />
den Vertrag von Asunción gegründet und hat Argentinien,<br />
Brasilien, Paraguay und Uruguay als Mitglieder,<br />
Chile seit 1996 und Bolivien seit 1997 als assoziierte<br />
Mitglieder. Beim Güterhandel ist die seit 1. 1.<br />
2000 bestehende Freihandelszone bereits weitgehend<br />
verwirklicht, bis 2006 soll die Freihandelszone<br />
vollends realisiert sein. Beabsichtigt sind weitere<br />
Schritte zum Binnenmarkt, u. a. freier Verkehr von<br />
Dienstleistungen, Kapital und Arbeit sowie eine<br />
Harmonisierung der Wirtschaftspolitiken. Mit den<br />
assoziierten Mitgliedern bestehen Präferenzregelungen<br />
für Zölle.<br />
Rund ein Drittel des Exports der Mercosur-Staaten<br />
gehtindieEU-Staaten,dieHälfteallerDirektinvestitionen<br />
im Mercosur kommt aus EU-Staaten. VerhandlungenzwischenEUundMercosurüberLiberalisierung<br />
des Handels und Zusammenarbeit laufen<br />
seit Jahren. Bei einem EU-Lateinamerika-Gipfel am<br />
28./29. 5. 2004 in Guadalajara, an dem Staats- und<br />
Regierungschefs aus 25 EU-Staaten und 33 Staaten<br />
Lateinamerikas und der Karibik teilnahmen, wurden<br />
die Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen<br />
noch nicht abgeschlossen. �Lateinamerikapolitik<br />
Methode der offenen Koordinierung �offene Koordinierungsmethode<br />
Migrationspolitik �Einwanderungspolitik<br />
Milchquote �Gemeinsame Agrarpolitik<br />
Militärausschuss<br />
Militärausschuss (EUMA). Auf der Grundlage der<br />
Beschlüsse des Europäischen Rats von Köln und<br />
Helsinki (1999) am 1. 3. 2000 zunächst als Interimsorgan<br />
aufgestelltes, dann mit Beschluss des Rats<br />
vom 22. 1. 2001 dauerhaft eingerichtetes, höchstes<br />
militärisches Gremium des Rats. Der Militärausschuss<br />
der EU (EUMA) setzt sich aus den Generalstabschefs<br />
der Mitgliedstaaten zusammen, die von<br />
ihren militärischen Delegierten vertreten werden.<br />
Der in Abweichung vom Präsidentschaftsprinzip<br />
(ständige) Vorsitzende des EUMA wird vom Rat für<br />
die Dauer von drei Jahren ernannt. Der Ausschuss ist<br />
das Forum für die militärische Konsultation und Kooperation<br />
zwischen den Mitgliedstaaten der Union<br />
im Bereich der Konfliktverhütung und der Krisenbewältigung.<br />
Wesentliche Aufgabe des Ausschusses<br />
ist es, das �Politische und Sicherheitspolitische Komitee<br />
(PSK) in allen militärischen Angelegenheiten<br />
539
Militärstab<br />
zu beraten und diesem gegenüber einschlägige Empfehlungen<br />
abzugeben. Der EUMA nimmt die militärische<br />
Leitung aller militärischen Aktivitäten im<br />
Rahmen der Union wahr. Er stützt sich in seiner Arbeit<br />
auf den im Generalsekretariat des Rats angesiedelten�MilitärstabderEU.<br />
U. S.<br />
Militärstab (EUMS). Auf der Grundlage der Beschlüsse<br />
des Europäischen Rats von Köln und Helsinki<br />
(1999) am 1. 3. 2000 zunächst interimistisch als<br />
sog. „Nukleus“ aufgestellte, dann mit Beschluss des<br />
Rats vom 22. 1. 2001 dauerhaft eingerichtete, unmittelbar<br />
dem Generalsekretär und �Hohen Vertreter<br />
(HR) unterstellte Abteilung innerhalb des Generalsekretariats<br />
des Rats. Aufgabe des Militärstabs der<br />
EU (EUMS) ist es, für die �GASP einschl. der<br />
�ESVP militärischen Sachverstand und militärische<br />
Unterstützung bereitzustellen, insbes. auch in Bezug<br />
auf die Durchführung EU-geführter militärischer<br />
Krisenbewältigungsoperationen (�zivil-militärischeZelle).DerMilitärstabbefasstsichmitderFrühwarnung,<br />
der Lagebeurteilung und der strategischen<br />
Planung im Hinblick auf die Ausführung der sog.<br />
�Petersberg-Aufgaben und führt Politiken und BeschlüssegemäßdenVorgabendes�Militärausschusses<br />
der EU (EUMA) durch. Der EUMS fungiert als<br />
Bindeglied zwischen dem EUMA und der der Union<br />
zur Verfügung gestellten militärischen Kräfte und<br />
sorgt für die militärische Beratung der Gremien der<br />
Union gemäß den Vorgaben des EUMA. Er entwickelt<br />
im Krisenfall militärstrategische Optionen und<br />
überwacht im Einklang mit den Krisenmanagementverfahren<br />
der EU ständig alle militärischen Aspekte<br />
von laufenden Operationen. Er unterhält gem. den<br />
�EU-NATO-Dauervereinbarungen ständige Beziehungen<br />
zur NATO. Der EUMS setzt sich aus Personalzusammen,dasvondenMitgliedstaatenabgeordnet<br />
wird. Er wird von einem Generaldirektor im Rangeeines3-Sterne-Generalsgeleitet.<br />
U. S.<br />
Ministerrat �Rat der Europäischen Union<br />
MISEP (Mutual Information System on Employment<br />
Policies). System zur gegenseitigen InformationüberdieBeschäftigungspolitikenindenMitgliedstaaten.<br />
1982 von der Europäischen Kommission gegründet.<br />
Es sammelt die in den Mitgliedstaaten verfügbaren<br />
Informationen und stellt sie den nationalen<br />
Entscheidungsträgern für Maßnahmen zugunsten<br />
540<br />
der Beschäftigung zur Verfügung; außerdem fördert<br />
es den direkten Meinungsaustausch zwischen den<br />
Mitgliedern. Seit 1994 ist es auch zuständig für die<br />
Beobachtung der Maßnahmen für eine integrierte<br />
Europäische Beschäftigungsstrategie (EBS, Beschäftigungspolitik).EsarbeitetmitdemNetzderöffentlichen<br />
Arbeitsmarktverwaltungen der Mitgliedstaaten<br />
zusammen. MISEP ist, wie RESNET und<br />
SYSDEM, die beiden anderen Netze im Bereich der<br />
Beschäftigung, dem Europäischen Beschäftigungsobservatorium<br />
(EBO) angegliedert.<br />
Missionen. Ständige Missionen werden die akkreditierten<br />
Vertretungen von Drittstaaten bei der Europäischen<br />
Kommission in Brüssel im Rang von Botschaften<br />
(Gesandtschaften) genannt. In Brüssel sind<br />
rd. 160 Staaten der Welt diplomatisch vertreten.<br />
MISSOC (Mutual Information System on Social<br />
Protection). Gegenseitiges Informationssystem zur<br />
sozialen Sicherheit in den Mitgliedstaaten der EU<br />
und des EWR. Geschaffen auf Initiative der Generaldirektion<br />
Beschäftigung, soziale Angelegenheiten<br />
und Chancengleichheit der Europäischen Kommission.<br />
Es stellt den Dienststellen der Organe der EU,<br />
den Behörden der Mitgliedstaaten, den Tarifpartnern,denOrganisationendersozialenSicherheitund<br />
allen an Fragen der sozialen Sicherheit interessierten<br />
Personen aktuelle und vergleichbare Informationen<br />
aus den Mitgliedstaaten zur Verfügung. Die redaktionelle<br />
Aufbereitung der Daten für die Darstellung<br />
im Internet übernimmt das Institut für Sozialforschung<br />
und Gesellschaftspolitik (ISG) in Köln. Der<br />
Vertrieb erfolgt über das Amt für amtliche Veröffentlichungen<br />
der EU.<br />
Internet: http://europa.eu.int/comm/employment_social/missoc2000/index_de.htm<br />
Misstrauensantrag des Europäischen Parlaments<br />
(EP) gegen die Tätigkeit der Kommission (nach Art.<br />
201 EGV). Die Formalitäten eines Misstrauensantrags<br />
sind in Art. 100 der Geschäftsordnung des EP<br />
festgelegt. Danach kann ein Zehntel der Mitglieder<br />
des EP beim Präsidenten einen Misstrauensantrag<br />
gegen die Kommission einreichen.<br />
Über einen Misstrauensantrag darf erst nach Ablauf<br />
von drei Tagen nach seiner Einbringung und nur in<br />
offener Abstimmung entschieden werden (Art. 201<br />
EGV). Für ein Misstrauensvotum ist die Mehrheit
von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen bei zugleich<br />
absoluter Mehrheit notwendig. In diesem Falle<br />
müssen die Mitglieder der Kommission geschlossen<br />
ihr Amt niederlegen. Sie führen die Geschäfte bis<br />
zur Ernennung ihrer Nachfolger (gem. Art. 214<br />
EGV) weiter. Die Nachfolger amtieren bis zum vorgesehenen<br />
Ende der Amtsperiode der zurückgetretenen<br />
Kommission.<br />
Nach Inkrafttreten der Verfassung muss nach einem<br />
Misstrauensvotum des EP auch der Außenminister<br />
der Union sein im Rahmen der Kommission ausgeübtes<br />
Amt niederlegen (Art. III-340 VVE).<br />
Mister GASP �Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik<br />
Mitbestimmungsmodelle. Die Mitbestimmung ist<br />
in den EU-Staaten unterschiedlich geregelt. Eine<br />
Vertretung von Arbeitnehmern in Unternehmensorganen<br />
gibt es nur in den Niederlanden, in Deutschland,Frankreich,Luxemburg,DänemarkundIrland.<br />
Im europäischen �Arbeitsrecht enthalten einige<br />
Richtlinien Bestimmungen über Mitwirkungsrechte<br />
der Arbeitnehmervertreter, so die Richtlinien zur<br />
Angleichung der Rechtsvorschriften bei Massenentlassungen<br />
und beim Übergang von Unternehmen,<br />
Betrieben und Betriebsteilen.<br />
EinerstesumfassendesMitbestimmungsmodell–allerdingsnurbetriebsverfassungsrechtlich–aufeuropäischer<br />
Ebene gelang 1994 mit der Verabschiedung<br />
einer Richtlinie zur Einsetzung eines Europäischen<br />
�Betriebsrats (94/45, ABl. L 254/1994).<br />
Mitbestimmungsmodelle für die Angleichung des<br />
Rechts der Aktiengesellschaften und für eine �Europäische<br />
Aktiengesellschaft (SE, �Gesellschaftsrecht):<br />
Bereits 1972 machte die Kommission in ihrer 5. gesellschaftsrechtlichen<br />
Richtlinie zur Struktur der<br />
Aktiengesellschaft (�Gesellschaftsrecht) einen Vorschlag<br />
zu Mitbestimmungsmodellen im nationalen<br />
Recht der AGs. Wegen der großen Unterschiede in<br />
der Frage der Unternehmensmitbestimmung durch<br />
die Arbeitnehmer in den Mitgliedstaaten der EU<br />
konnte diese Richtlinie bisher nicht verabschiedet<br />
werden.<br />
Dagegen konnte bei Schaffung des Statuts der EuropäischenAktiengesellschaft(SE)sowiederEuropäischen<br />
Genossenschaft auch in Sachen Mitbestimmung<br />
ein Erfolg verbucht werden: Jeweils parallel<br />
Mitbestimmungsmodelle<br />
verabschiedete Richtlinien zur Beteiligung der Arbeitnehmer<br />
sehen ein Mitbestimmungsmodell als<br />
Bestandteil einer solchen Gesellschaft an. So regeln<br />
die jeweiligen Arbeitnehmer-Beteiligungsrichtlinien,<br />
dass vor Gründung der Gesellschaft Verhandlungen<br />
zwischen der (den) Unternehmungsleitung(en)<br />
mit einem zu diesem Zweck gegründeten<br />
„besonderen Verhandlungsgremium“ der ArbeitnehmergeführtwerdenmitdemZiel,Regelnüberdie<br />
Beteiligung der Arbeitnehmer, und zwar einerseits<br />
auf Betriebsebene (insbes. über den SE-Betriebsrat)<br />
und andererseits im Rahmen der Unternehmensmitbestimmung<br />
zu vereinbaren. Dies soll innerhalb von<br />
sechs bzw. (falls einvernehmlich verlängert) zwölf<br />
Monaten geschehen sein. Gelingt dies nicht oder<br />
bleibt ihr Modell hinter dem Mitbestimmungsniveau<br />
eines der Gründungsunternehmen zurück, bedarf es<br />
– je nach Grad der Abweichung – einer bestimmten<br />
qualifizierten Zustimmungsmehrheit der Arbeitnehmer.DieVerhandlungspositionderArbeitnehmerist<br />
dabei stark ausgestaltet. So greift etwa im Verschmelzungsfall<br />
bei einem Scheitern der Verhandlungen<br />
automatisch die weitestgehende Mitbestimmung<br />
für die gesamte SE, wenn nur 25 Prozent ihrer<br />
späteren Arbeitnehmer einer Mitbestimmung unterliegen.<br />
Die Mitbestimmung in der SE wie auch der Europäischen<br />
Genossenschaft war während des Gesetzgebungsverfahrens<br />
eine der umstrittensten Regelungsbereiche.<br />
Besonders im Hinblick auf die Arbeitnehmermitbestimmung<br />
in einer SE, welche dem monistischen<br />
System folgt, bestehen offene Fragen. Denn<br />
anders als im dualistischen System, in dem die Arbeitnehmer<br />
im Aufsichtsrat ihre Mitbestimmungsrechte<br />
ausüben, ist im monistischen System die Mitbestimmung<br />
direkt im Verwaltungsrat – und somit<br />
zugleich auch im Management – integriert.<br />
Jeder Mitgliedstaat ist zudem verpflichtet, eine Auffangregelung<br />
zu schaffen, die zumindest Wahl und<br />
Zusammensetzung des Vertretungsorgans festlegt.<br />
Festgelegt werden muss auch, dass dieses mindestens<br />
einmal jährlich zusammentritt und von der Leitung<br />
über transnationale Sachverhalte unterrichtet<br />
und angehört wird. Bei Betriebsverlegungen, Verlagerungen,<br />
Schließungen und anderen außergewöhnlichen<br />
Maßnahmen, die Auswirkungen auf die Arbeitnehmer<br />
haben, besteht ein besonderes Unterrichtungsrecht,<br />
die Letzt-Entscheidung verbleibt allerdings<br />
bei der Unternehmensleitung.<br />
541
Mitentscheidung<br />
Folge dieser vielen unterschiedlichen Möglichkeiten,<br />
die sich sowohl nach den beteiligten Unternehmen<br />
als auch nach den Rechtsordnungen der Sitze<br />
der SEs und Genossenschaften richten, wird eine<br />
Zersplitterung der Mitbestimmungsformen in <strong>Europa</strong>,<br />
ja, sogar innerhalb eines Staates werden.<br />
Daneben regelt eine Richtlinie von 2002 ein allgemeines,<br />
von der Unternehmensform unabhängiges<br />
Unterrichtungs- und Anhörungsrecht für Arbeitnehmervertretungen<br />
in allen Betrieben ab einer Größe<br />
von 50 Arbeitnehmern oder 20 Arbeitnehmern in einem<br />
Mitgliedstaat (RL 2002/14, ABl. L 80/2002).<br />
Wie diese Unterrichtung gestaltet wird, ist Sache des<br />
jeweiligen Sitz-Staats. Inhaltlich muss die Arbeitnehmervertretung<br />
über die jüngste Entwicklung und<br />
die wahrscheinliche Weiterentwicklung des Unternehmens,<br />
die Beschäftigungssituation und über Entwicklungen,<br />
die Folgen für die Beschäftigungssituation<br />
oder die einzelnen Arbeitsverträge haben könnte,informiertundangehörtwerden.<br />
M. K.<br />
Literatur:<br />
Mävers, G.: Die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in der<br />
Europäischen Aktiengesellschaft. Baden-Baden 1999<br />
Mitentscheidung �Gesetzgebungsverfahren<br />
Mitgliedstaaten. Gründungsmitglieder der EGKS<br />
(Vertragsunterzeichnung 18. 4. 1951, in Kraft getreten<br />
am 23. 7. 1951) waren Belgien, Bundesrepublik<br />
Deutschland, Frankreich, Italien, Niederlande, Luxemburg.<br />
Gründungsmitglieder der EWG und der EAG (Euratom)<br />
waren die selben sechs Staaten (Vertragsunterzeichnung<br />
am 25. 3. 1957, in Kraft getreten am 1. 1.<br />
1958).<br />
Am 1. 1. 1973 traten den drei Gemeinschaften bei:<br />
Dänemark, Großbritannien, Irland (Beitrittsverhandlungen<br />
seit 30. 6. 1970). Am 1. 1. 1981 trat Griechenland<br />
bei (Beitrittsverhandlungen seit 27. 7.<br />
1976). Am 1. 1. 1986 traten Portugal (Beitrittsverhandlungen<br />
seit 6. 6. 1978) und Spanien (Beitrittsverhandlungen<br />
seit 5. 2. 1979) bei. Am 1. 2. 1985 trat<br />
Grönland (Teil des Königreichs Dänemark mit innerer<br />
Autonomie) aus den drei Gemeinschaften aus.<br />
Am 1. 1. 1995 traten Finnland, Österreich und<br />
Schweden der EU bei (Beitrittsverhandlungen am 1.<br />
2. 1993 eröffnet). Am 1. 5. 2004 traten der EU bei:<br />
Estland, Polen, Slowenien, Tschechische Republik,<br />
Ungarn, Zypern (Beschluss der Aufnahme von Bei-<br />
542<br />
trittsverhandlungen am 12./13. 12. 1997, sog. „Luxemburg-Runde“),<br />
Lettland, Litauen, Malta und<br />
Slowakei (Aufnahme von Beitrittsverhandlungen<br />
beschlossen am 10./11. 12. 1999, sog. „Helsinki-<br />
Runde“).<br />
Die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Bulgarien<br />
und Rumänien wurde am 10./11. 12 1999 beschlossen,<br />
die Beitrittsverträge wurden am 25. 4.<br />
2005 unterzeichnet, der Beitritt ist für 1. 1. 2007 vorgesehen,<br />
wenn bis dahin die vereinbarten wirtschaftlichen<br />
und politischen Reformen umgesetzt sind.<br />
Mitteleuropäische Initiative. Die Mitteleuropäische<br />
Initiative entstand aus dem am 11. 11. 1989 geschaffenen<br />
„Vier-Länder-Abkommen“ zwischen<br />
Österreich, Italien, Ungarn und Jugoslawien. 1990<br />
trat die Tschechoslowakei bei (jetzt Tschechien und<br />
Slowakei), 1991 Polen. Nach dem Zerfall Jugoslawiens<br />
wurden 1992 die neuen Staaten Bosnien-Herzegowina,<br />
Kroatien und Slowenien aufgenommen;<br />
die Plattform zur Zusammenarbeit im politischen,<br />
wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und<br />
kulturellen Bereich wurde umbenannt in Mitteleuropäische<br />
Initiative (Central-European Initiative,<br />
CEI). 1993 wurde Makedonien aufgenommen, 1994<br />
Albanien, Bulgarien, Rumänien, die Ukraine und<br />
Weißrussland.<br />
Der Mitteleuropäischen Initiative gehören heute 17<br />
Staaten an, das Sekretariat hat seit 2002 seinen Sitz in<br />
Triest. Jährlich im November findet ein Gipfeltreffen<br />
der Staats- und Regierungschefs statt, zur gleichen<br />
Zeit ein Wirtschaftsgipfel (8. Gipfeltreffen am<br />
23./24. 11. 2005 in Bratislava). Ebenfalls jährlich im<br />
Frühjahr findet ein Treffen der Außenminister statt.<br />
Der Finanzierung von Aktivitäten dienen der 1992<br />
bei der �Europäischen Bank für Wiederaufbau und<br />
Entwicklung in London eingerichtete Treuhandfonds,<br />
der 1998 geschaffene Solidaritätsfonds und<br />
der 2002 gegründete Fonds für Zusammenarbeit.<br />
Mittelmeerpolitik. Im November 1995 wurde auf<br />
Initiative der Europäischen Union (EU) die �Euro-Mediterrane<br />
Partnerschaft (EMP) ins Leben gerufen.<br />
Mit der nach ihrem Gründungsort auch als<br />
�„Barcelona Prozess“ bezeichneten EMP reagierte<br />
die EU auf Destabilisierungstendenzen im südlichen<br />
Mittelmeerraum, von denen sie ihre eigenen Wohlfahrts-<br />
und Sicherheitsinteressen zunehmend bedroht<br />
sah. Ganz unterschiedliche Phänomene wur-
den in ihrer Summe als qualitativ neues Bedrohungspotential<br />
wahrgenommen, das nicht mehr von Staaten<br />
ausgeht und auch nicht mehr militärisch definiert<br />
werden kann: Drogenhandel und organisierte Kriminalität,latenteundakuteRegionalkonflikte,eineGefährdung<br />
der Energiezufuhr, Umweltprobleme, illegale<br />
Migration, antiwestliche islamistische Bewegungen<br />
und nicht zuletzt der im politischen und religiösen<br />
Extremismus zu verortende internationale<br />
Terrorismus. Als gemeinsame Wurzel dieser verschiedenen,<br />
zum Teil aber interdependenten Phänomene<br />
wurde die Abwesenheit von Demokratie identifiziert<br />
sowie die wirtschaftliche Unterentwicklung<br />
der meisten Mittelmeer-Drittländer (MDL) bzw. das<br />
wachsende Wohlstandsgefälle zwischen südlichen<br />
und nördlichen Küstenanrainern. Um die Probleme<br />
von diesen Wurzeln her lösen zu können, waren<br />
grundlegend neue Problemlösungsstrategien notwendig<br />
geworden: Dem gleichermaßen innovativen<br />
wie umfassenden Konzept der EMP liegt ein weit gefasster<br />
Sicherheitsbegriff zugrunde, der nicht auf<br />
Konfrontation, sondern auf Kooperation setzt, um<br />
eine Region des Wohlstandes und der Stabilität diesseits<br />
und jenseits des Mittelmeeres zu schaffen. Dieser<br />
partnerschaftliche Ansatz darf allerdings nicht<br />
darüberhinwegtäuschen,dassdieEMPeineeuropäische<br />
Initiative ist, der eine Perzeption des südlichen<br />
MittelmeerraumesalsKrisenregionzugrundeliegt.<br />
Mit Gründung der EMP wurde gleichzeitig der Begriff<br />
„Mittelmeerregion“ zu einer neuen geopolitischen<br />
Kategorie, die außerhalb der EU allerdings<br />
nicht übernommen wurde. Folgende Staaten wurden<br />
zu Partnerländern der EU: Marokko, Algerien Tunesien,<br />
Ägypten, Israel, Libanon, Syrien, Jordanien,<br />
die palästinensischen Autonomiegebiete sowie die<br />
Türkei, Zypern und Malta. Libyen war anfangs nicht<br />
dabei, hat heute aber einen Beobachterstatus mit<br />
EMP-Beitrittsperspektive. Bemerkenswert ist, dass<br />
die EMP auch als anti-westlich eingestufte Länder<br />
wie Syrien und den Libanon einbezieht. Dahinter<br />
steht die Überlegung, dass politische Einbindung<br />
und wirtschaftliche Verflechtung mehr politische<br />
Einflussmöglichkeiten schaffen als Isolation oder<br />
gar Konfrontation.<br />
Gründungsdokument der EMP ist die Deklaration<br />
von Barcelona, in der sowohl die Ziele der Partnerschaft<br />
als auch die Mittel, mit denen diese Ziele erreicht<br />
werden sollen, explizit festgeschrieben wurden.<br />
In Analogie zur Deklaration von Helsinki, dem<br />
Mittelmeerpolitik<br />
Gründungsdokument der Konferenz für Sicherheit<br />
und Zusammenarbeit in <strong>Europa</strong>, besteht auch die Deklaration<br />
von Barcelona aus einer Präambel und drei<br />
Körben, die durch eine linkage-Politik miteinander<br />
verbunden sind: Korb (1) Politische- und Sicherheitspartnerschaft,<br />
Korb (2) Wirtschafts- und FinanzpartnerschaftundKorb(3)Partnerschaftimkulturellen,<br />
sozialen und menschlichen Bereich. Während<br />
Korb (2) als Reform der traditionellen Wirtschafts-<br />
und Handelsbeziehungen zwischen der EU<br />
und ihren südlichen Nachbarn bezeichnet werden<br />
kann, sind Korb (1) und Korb (3) Innovationen, mit<br />
denen die euro-mediterranen Beziehungen eine politische<br />
Dimension erhalten haben. Manifest wird diese<br />
Politisierung insbes. in der Selbstverpflichtung<br />
zur Demokratisierung und zur Achtung der Menschenrechte,<br />
die alle Partnerländer der EMP in der<br />
Deklaration von Barcelona explizit eingegangen<br />
sind und für deren Umsetzung in allen drei Körben –<br />
mehr oder minder effiziente – Instrumente geschaffen<br />
wurden. So baut die für das Jahr 2010 anvisierte<br />
Freihandelszone auf politisch konditionalisierten<br />
pluri-bilateralen Assoziierungsabkommen auf, die<br />
die EU und ihre Mitgliedstaaten mit jedem einzelnen<br />
Partnerland abschließen.<br />
FinanziertwirddieEMPüberdasMEDA-Programm<br />
das, PHARE und TACIS vergleichbar, über Programme<br />
traditioneller Entwicklungshilfe hinausgeht.<br />
Ca. 86 % des MEDA-Budgets werden dazu verwendet,diePartnerländerimwirtschaftlichenTransformationsprozess<br />
und bei der Vorbereitung der anvisierten<br />
euro-mediterrane Freihandelszone zu unterstützen.<br />
Nur 14 % kommen der regionalen Kooperation<br />
zugute, die vorwiegend dem dritten Korb zugerechnet<br />
werden kann. Alle im Rahmen von Korb<br />
(1) anfallenden Kosten werden außerhalb des<br />
MEDA-Budgets über die GASP finanziert. Aus diesem<br />
Zahlenverhältnis wird ersichtlich, dass die Wirtschafts-<br />
und Finanzpartnerschaft eine hervorgehobene<br />
Stellung innerhalb der EMP einnimmt. Ihr gilt<br />
das primäre Interesse der Partnerländer. Für die EU<br />
ist die EMP jedoch ein primär politisches Projekt zur<br />
nachhaltigen Stabilisierung ihrer südlichen Peripherie.<br />
Die Wirtschafts- und Finanzkooperation ist aus<br />
dieser Perspektive vor allem ein Mittel zum – vornehmlich<br />
politischen – Zweck. Die EMP ist somit<br />
auch ein Beispiel für die außen- und sicherheitspolitischen<br />
Gestaltungsmöglichkeiten der EU als Handels-<br />
oder Zivilmacht.<br />
543
Mittelmeerpolitik<br />
Insgesamt gesehen stellt das Konzept der EMP einen<br />
qualitativen Fortschritt für die Gestaltung der bis dahin<br />
wenig strukturierten euro-mediterranen Beziehungen<br />
dar:<br />
– Die Komplexität des Ansatzes trägt den Interdependenzen<br />
zwischen ökonomischen und politischen<br />
Stabilitätsproblemen in der Region Rechnung;<br />
– Die aus Helsinki übernommene langfristige Perspektive<br />
erlaubt die Schaffung eines stabilen Rahmens<br />
für die Entwicklung nachhaltiger Problemlösungsstrategien;<br />
– Mit dem Bekenntnis zu Demokratie und Menschenrechten<br />
wurde ein normativer Bezugspunkt<br />
verankert, auf den sich nunmehr alle Teilnehmer der<br />
EMP berufen können, die sich für die Umsetzung<br />
dieser Prinzipien einsetzen;<br />
– Der ebenfalls verbriefte Partnerschaftsgeist zielt<br />
auf einen fairen Interessenausgleich, ungeachtet der<br />
machtpolitischenUngleichgewichtezwischensüdlichen<br />
und nördlichen Küstenanrainern.<br />
Probleme bei der praktischen Umsetzung der EMP.<br />
Das Konzept der EMP enthält zwei strukturelle Probleme,<br />
die eine konsequente Umsetzung erschweren:<br />
Zum einen besteht ein Interessenkonflikt zwischen<br />
den Zielen Demokratisierung und Stabilisierung,<br />
und zum anderen befindet sich die EMP in einem<br />
ungelösten Spannungsverhältnis zwischen<br />
Partnerschaft und Dominanz.<br />
Der These vom (zumindest temporären) Interessenkonflikt<br />
zwischen Demokratisierung und Stabilisierung<br />
liegt die Annahme zugrunde, dass demokratische<br />
Reformen in den meisten Partnerländern mit<br />
großer Wahrscheinlichkeit schwer berechenbare<br />
Transformationsprozesse auslösen werden. Die jetzt<br />
schon von den Europäern als bedrohlich wahrgenommenen<br />
Destabilisierungstendenzen, die immerhin<br />
den Impuls für die Initiierung der EMP gegeben<br />
haben, könnten sich während der Umbruchphase<br />
verstärken. Eine forcierte Demokratisierungspolitik<br />
wäre damit für die Stabilisierung des Landes zunächst<br />
einmal kontraproduktiv. Hinzu kommt, dass<br />
das Bekenntnis zu Demokratie und Menschenrechten<br />
den autoritär verfassten Regimes unter den Partnerländern<br />
mehr oder minder aufgezwungen wurde,<br />
indem die EU es zur Voraussetzung einer vertieften<br />
wirtschaftlichen Zusammenarbeit machte. Das Bekenntnis<br />
zur normativen Dimension der EMP haben<br />
einige Partnerländer lediglich als „Eintrittsticket“<br />
für den Zugang zum begehrten europäischen Markt<br />
544<br />
geleistet. Einer konsequenteren Implementierung<br />
der EMP steht somit nicht nur der Interessenkonflikt<br />
zwischen Demokratisierung und Stabilisierung entgegen,<br />
sondern auch der Souveränitätsanspruch der<br />
Partnerländer und der – ebenfalls in der Deklaration<br />
von Barcelona verbriefte – Anspruch auf gleichberechtigte<br />
Partnerschaft. Vor diesem Hintergrund<br />
verwundert es nicht, dass sich die EU bei der Implementierung<br />
ihrer Demokratisierungspolitik merklich<br />
zurückhält. Neuere Ansätze, die Partnerländer<br />
mit verbesserten Anreizen zu freiwilligen Reformschritten<br />
zu motivieren, kann die aufgezeigten Dilemmatazwarnichtauflösen,wohlaberentschärfen.<br />
Als nicht minder problematisch für die praktische<br />
UmsetzungderEMPhatsichderVerlaufdesNahostkonflikts<br />
erwiesen. In der EU war man Anfang der<br />
1990er Jahre davon ausgegangen, dass nach „Oslo“<br />
der Friedensprozess bereits ein Selbstläufer sei und<br />
dass es Aufgabe der EMP werden würde, die Konsolidierungsphase<br />
des Friedensprozesses politisch und<br />
ökonomisch abzusichern. Israel sollte die Chance erhalten,<br />
seine Isolation innerhalb der arabischen Welt<br />
zu überwinden, und die Palästinenser sollten die<br />
Möglichkeit erhalten, sich durch die Integration in<br />
eine größere Gemeinschaft aus ihrer einseitigen Abhängigkeit<br />
von Israel zu lösen. Von der sektoralen<br />
Zusammenarbeit aller am Konflikt beteiligten Länder<br />
erhoffte man sich den langfristigen Abbau wechselseitiger<br />
Fehl- und Feindwahrnehmungen. Darüber<br />
hinaus erwartete man von der ökonomischen<br />
Verflechtung den für die Friedenskonsolidierung so<br />
nötigen wirtschaftlichen Aufschwung der Region.<br />
InsgesamtzieltedieEinbettungderFriedenskonsolidierungindenRahmenderEMPaufdieSchaffungso<br />
vieler wirtschaftlicher und politischer Interdependenzen,<br />
dass sich die Wahrscheinlichkeit eines Wiederausbruchs<br />
des Konflikts entscheidend verringern<br />
würde. Der unerwartete Zusammenbruch des nahöstlichen<br />
Friedensprozesses schon Mitte der 1990er<br />
Jahre machte diese Konzeption zur Makulatur und<br />
führte zu einer Umkehrung der erhofften Dynamik:<br />
Die EMP beflügelte nicht die Konsolidierung des<br />
Friedensprozesses, sondern der gescheiterte FriedensprozessbremstedieEntfaltungderEMP,insbes.<br />
in Korb (1), der Politischen und Sicherheits-Partnerschaft.<br />
Dessen ungeachtet ist die EMP (trotz kurzerUnterbrechungen)daseinzigeForum,indemalle<br />
Konfliktparteien regelmäßig an einem Tisch zusammen<br />
kommen. Die Aufrechterhaltung des Dialogs ist
ein nicht zu unterschätzender Beitrag jeglicher Konfliktbearbeitung.<br />
Herausforderungen der EMP. Zwei Faktoren determinieren<br />
die künftige Entwicklung der EMP. Zum<br />
einen die vollzogene EU-Erweiterung um zehn neue<br />
Mitgliedstaaten im Mai 2004, zu denen auch die beiden<br />
Mittelmeerpartner Zypern und Malta gehören.<br />
Und zum anderen das veränderte Koordinatensystem<br />
westlicher Regionalpolitik nach den Terroranschlägen<br />
auf die USA vom 11. 9. 2001.<br />
Mit der EU Erweiterung ist zumindest zahlenmäßig<br />
eine Schieflage in der EMP entstanden: 25 EU-<br />
Mitgliedstaaten stehen nur mehr neun Mittelmeerpartnerngegenüber,vondenensicheiner,dieTürkei,<br />
heute schon eher der europäischen Seite zugehörig<br />
fühlt. Die EU reagierte auf diese Veränderung, indem<br />
sie die Mittelmeerpartner zusätzlich zur EMP in<br />
ihre �NeueNachbarschaftspolitikintegrierte.Dieser<br />
regionalpolitische Ansatz dient der Stabilisierung<br />
derjenigen Länder, die nach der Osterweiterung direkte<br />
Nachbarn der EU geworden sind. Die Neue<br />
Nachbarschaftspolitik enthält starke Anreize zur politischen<br />
und ökonomischen Reform, indem es den<br />
Partnerländern eine weitgehende Annäherung an die<br />
EU anbietet, die allerdings unterhalb der Beitrittsperspektive<br />
liegt. Des Weiteren initiierte die EU<br />
eine „Strategische Partnerschaft mit dem Mittelmeer<br />
und dem Mittleren Osten“, mit der auch die Staaten<br />
des Golfkooperationsrates, der Iran, Jemen und der<br />
Irak in die inter-regionale Zusammenarbeit integriert<br />
werden sollen. Fraglich ist, ob sich daraus eine<br />
„EMP+“ entwickeln wird, oder ob ein inhaltlicher<br />
Paradigmenwechsel in Anlehnung an die amerikanische<br />
Regionalpolitik ansteht.<br />
Allen Divergenzen mit der Bush-Administration<br />
zum Trotz herrscht ein transatlantischer Konsens darüber,<br />
dass Frieden und Stabilität in der Region nur<br />
zu erreichen sind, wenn sich die autoritären Regime<br />
liberalisieren und demokratisieren. Über die Frage,<br />
wieeinesolcheEntwicklungvonaußenzubeeinflussen<br />
sei, besteht jedoch Uneinigkeit. Ankündigungen<br />
der USA, Regimewechsel gegebenenfalls gewaltsam<br />
herbeizuführen, erteilte die EU nach dem Irak-<br />
Debakel eine eindeutige Absage. Dessen ungeachtet<br />
stellt aber auch die EU ihre Mittelmeerpolitik zunehmend<br />
unter den Primat des Kampfes gegen den internationalen<br />
Terrorismus. Das Ursprungskonzepts der<br />
EMP, das auf einen langfristigen und nachhaltigen<br />
Wandel in der Region zielt, gerät zunehmend in Wi-<br />
Mitwirkungsrechte der deutschen Länder<br />
derspruch zu einer regionalen Außen- und Sicherheitspolitik,<br />
die angesichts der Herausforderungen<br />
durch den internationalen Terrorismus auf kurzfristige<br />
Strategien zurückgreift, die der Komplexität der<br />
regionalen Problemfelder nicht gerecht werden und<br />
vor allem deren Ursachen aus den Blick verlieren. So<br />
bleibt es wünschenswert, dass die EU – auch und gerade<br />
in der regionalpolitischen Kooperation mit den<br />
USA–amzivilenGeistderEMPfesthält. A. J.<br />
Literatur:<br />
Schlusserklärung der <strong>Europa</strong>-Mittelmeer-Konferenz von<br />
Barcelona (27./28. 11. 1995). In: Agence Europe,<br />
6. 12. 1995, S. 1–6<br />
Schumacher, T.: Die Europäische Union als internationaler<br />
Akteur im südl. Mittelmeerraum. Zum Verhältnis von „Actor<br />
Capability“ und EU-Mittelmeerpolitik. Baden-Baden 2005<br />
Jünemann, A. (Ed.): Euro-Mediterranean Relations after<br />
September 11. International, Regional and Domestic<br />
Dynamics. Franc Cass, London, Portland, Or 2003. Auch erschienen<br />
als Special Issue of Mediterranean Politics, Vol. 8<br />
(November 2003) No 2/3<br />
Harders, C./ Jünemann, A. (Hg.): 10 Jahre Euro-Mediterrane<br />
Partnerschaft – Bilanz und Perspektiven. Sonderheft in: Orient,<br />
Herbst 2005 (im Erscheinen)<br />
Mittel- und osteuropäische Staaten, mittelosteuropäische<br />
Staaten (MOE-Länder, MOEL). Darunter<br />
versteht man die Staaten östlich der EU-15, die sich<br />
nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion als<br />
�Transformationsländer dem Westen <strong>Europa</strong>s zugewandt<br />
haben („Rückkehr nach <strong>Europa</strong>“), im weitesten<br />
Sinne einschl. Russlands. Im engeren Sinne sind<br />
darunter die zehn MOEL bzw. südosteuropäischen<br />
Länder (SOEL) gemeint, die als Beitrittskandidaten<br />
mit der EU <strong>Europa</strong>abkommen (erste 1991, letzte<br />
1996) abgeschlossen haben: die drei Baltenstaaten<br />
Estland, Lettland und Litauen, Polen und die Tschechoslowakei<br />
(ab 1993: Tschechische Republik und<br />
Slowakei), Bulgarien, Rumänien und Ungarn sowie<br />
Slowenien. Sie verhandelten ab 1998 bzw. 2000 über<br />
den Beitritt zur EU. Acht dieser MOE-Staaten sind<br />
am 1. 5. 2004 der EU beigetreten, zwei weitere<br />
(Bulgarien und Rumänien) werden ihr 2007 bzw.<br />
2008 beitreten.<br />
Mittelstand in der EU �KMU (Kleine und mittlere<br />
Unternehmen)<br />
Mitwirkungsrechte der deutschen Länder in<br />
EU-Angelegenheiten<br />
1. Begriff: Das Fortschreiten des europäischen Integrationsprozesses<br />
hat in wachsendem Maße dazu ge-<br />
545
Mitwirkungsrechte der deutschen Länder<br />
führt, das die Europäische Union in Bereiche eingreift,<br />
die innerstaatlich in der Zuständigkeit der<br />
deutschen Länder liegen, ohne dass diese an den entsprechenden<br />
Gesetzgebungsverfahren auf EU-Ebene<br />
beteiligt sind. Aus diesem Grund forderten die<br />
Länder eine innerstaatliche Kompensation für die<br />
schleichende Erosion ihrer Befugnisse. Die innerstaatliche<br />
Mitwirkung in EU-Angelegenheiten ist<br />
seit Ende 1993 neu geregelt und hat durch eine<br />
Grundrechtsänderung Verfassungsrang erhalten.<br />
Artikel 23 GG, das Gesetz über die �Zusammenarbeit<br />
von Bund und Ländern in Angelegenheiten der<br />
Europäischen Union (EUZBLG) als Ausführungsgesetz<br />
sowie eine ergänzende �Bund-Länder-Vereinbarung<br />
regeln die Verfahren der Ländermitwirkung<br />
in EU-Angelegenheiten. Dabei ist – je nach Zuständigkeit<br />
– ein abgestuftes Verfahren der Ländermitwirkung<br />
vorgesehen. In den Fällen, in denen ausschließliche<br />
Länderkompetenzen (insbes. Bildung,<br />
Kultur), die Verwaltungsstrukturen oder -verfahren<br />
der Länder schwerpunktmäßig betroffen sind, ist die<br />
Stellungnahme des Deutschen Bundesrates für die<br />
Bundesregierung bindend. Sie kann von dieser Position<br />
nur aus unabweisbaren integrationspolitischen<br />
Gründen abweichen. In den übrigen Fällen kann die<br />
Bundesregierung bei den Verhandlungen in Brüssel<br />
die Position des Bundesrats berücksichtigen, sie ist<br />
jedoch nicht dazu verpflichtet.<br />
2. Entstehungsgeschichte: Die Sorge vor einer Aushöhlung<br />
der Eigenstaatlichkeit der Bundesländer<br />
durch wachsende Kompetenzverlagerungen auf<br />
EU-Ebene hat die Länder veranlasst, seit Gründung<br />
der EWG auf Beteiligungsmechanismen zu drängen,<br />
die eine ausreichende Berücksichtigung der LänderinteressenbeiEU-Entscheidungensicherstellen.Zunächst<br />
wurden die Länder durch die Bundesregierung<br />
über anhängige Gesetzgebungsverfahren lediglich<br />
unterrichtet (�Länderbeobachter). In der Zwischenzeit<br />
sind die Mitwirkungsformen schrittweise<br />
zu echten Mitentscheidungsbefugnissen ausgebaut<br />
worden. Im Zuge der innerstaatlichen Ratifizierung<br />
des Vertrages über die Europäische Union von Dezember<br />
1992 ist – auf politischen Druck der Länder –<br />
zugleich auch ein umfangreiches Gesetzgebungspaket<br />
verabschiedet worden, das die Ländermitwirkung<br />
regelt. Durch einen eigenen „<strong>Europa</strong>-Artikel“<br />
im Grundgesetz (Art. 23) haben die Mitwirkungsrechte<br />
der Länder Verfassungsrang erhalten. Ein<br />
Ausführungsgesetz sowie eine Bund-Länder-Ver-<br />
546<br />
einbarung regeln weitere Details der praktischen<br />
Mitwirkungsverfahren. Politisches Ziel der Länder<br />
ist, einer Entwicklung entgegenzutreten, die innerstaatlich<br />
im Verhältnis Bund–Länder dazu führt,<br />
dass – mit Ausnahme weniger Sachgebiete – die Gesetzgebungstätigkeit<br />
weitgehend auf den Bund übergeht.<br />
Zentralisierungstendenzen werden weiter dadurch<br />
begünstigt, dass die überwiegende Zahl der<br />
EU-Mitgliedstaten nicht föderal organisiert ist und<br />
EU-weite Regelungen von Verwaltungsverfahren<br />
somit nicht als Eingriffe in das innerstaatliche Kompetenzgefüge<br />
wahrgenommen werden.<br />
3. Arbeitsweise: Die Mitwirkung der Länder in EU-<br />
Angelegenheiten erfolgt durch den Bundesrat. Gesetzgebungsvorhaben<br />
der EU werden dem Bundesrat<br />
zugeleitet, in den sachlich betroffenen Fachausschüssen<br />
beraten und anschließend vom Bundesratsplenum<br />
beschlossen. In Eilfällen, in denen eine<br />
rechtzeitige Beschlussfassung wegen des Verhandlungsgangs<br />
in Brüssel nicht durch das Bundesratsplenum<br />
erfolgen kann, wird durch die Einberufung<br />
der �<strong>Europa</strong>kammer ein verkürztes Bundesratsverfahren<br />
möglich. Durch die neuen Mitwirkungsrechte,<br />
insbes. in den Bereichen der ausschließlichen Gesetzgebungszuständigkeit<br />
der Länder, ist ein Vertreter<br />
des Bundesrates auf Ministerebene in den entsprechenden<br />
Ratstagungen der EU vertreten. Sie haben<br />
den Auftrag, dort zu verhandeln, den Bundesrat<br />
über die aktuellen Entwicklungen zu unterrichten<br />
und ggf. eine erneute Bundesratsbefassung anzuregen.<br />
Weiterhin nehmen Vertreter der Länder an den<br />
wöchentlichen Weisungssitzungen der Bundesressorts<br />
teil, in denen die deutschen Verhandlungspositionen<br />
für Brüssel abgestimmt werden. Weitere Instrumente<br />
der Ländermitwirkung – unterhalb der<br />
Schwelle gesetzlicher Mitentscheidungsrechte –<br />
sind der �Ausschuss der Regionen sowie die in BrüsselansässigenVertretungenbzw.Verbindungsbüros<br />
der deutschen Länder bei der EU. Nach den ursprünglichen<br />
Vorstellungen der Länder sollte der<br />
Ausschuss der Regionen schrittweise zu einem echten<br />
Mitentscheidungsorgan im EU-Institutionengefüge<br />
ausgebaut werden. Im �Vertrag von Amsterdam<br />
sowie dem Vertrag von Nizza ist es gelungen,<br />
partielle Verbesserungen – etwa die Ausweitung der<br />
obligatorischen Befassung und die Schaffung eines<br />
eigenständigen administrativen Unterbaus – zu erreichen.<br />
Mit dem Nizza-Vertrag ist insbes. auch der<br />
politische Charakter des AdR gestärkt worden. Seit-
her müssen die Mitglieder des AdR entweder ein<br />
Wahlmandat in einer regionalen oder lokalen Gebietskörperschaft<br />
innehaben oder gegenüber einer<br />
gewählten Versammlung politisch verantwortlich<br />
sein. Ein Mitentscheidungsrecht konnte jedoch bislang<br />
nicht verankert werden. Die Ländervertretungen<br />
in Brüssel haben die Aufgabe eines „Frühwarnsystems“<br />
indem sie die Landesregierungen in der<br />
Vorbereitungsphase von EU-Rechtsetzungsverfahren<br />
über wichtige Vorhaben unterrichten.<br />
4. Bewertung: Die Neuregelung der Ländermitwirkung<br />
in EU-Angelegenheiten hat die Position der<br />
Länder auf diesem Gebiet deutlich gestärkt. Mittlerweile<br />
verfügen sie über ein feingefächertes Instrumentarium<br />
an Einfluss- und Mitwirkungsmöglichkeiten<br />
auf EU-Ebene. Während der Ausschuss der<br />
Regionen sich als Säule der interregionalen Zusammenarbeit<br />
in der EU fest etabliert hat, liegt der<br />
Schwerpunkt der Ländervertretungen in Brüssel auf<br />
Lobby- und Repräsentationsaktivitäten.<br />
Mit den im Grundgesetz verankerten Mitwirkungsrechten<br />
in EU-Angelegenheiten sind die Länder über<br />
den Bundesrat in den EU-Gesetzgebungsprozess<br />
eingebunden. Aus Sicht der Bundes mag diese Länderpräsenz<br />
als zu massiv empfunden werden. Im<br />
RahmenderFöderalismusdiskussionzurReformder<br />
bundesstaatlichen Ordnung ist von Vertretern des<br />
Bundes gefordert worden, den <strong>Europa</strong>artikel des GG<br />
abzuschaffen, als Ausgleich für Kompetenzrückübertragungen<br />
vom Bund auf die Länder. Begründet<br />
wurde dies damit, dass die Mitwirkung der Länder in<br />
EU-Angelegenheiten die Handlungsfähigkeit der<br />
Bundesregierung und die EU-Entscheidungsprozesse<br />
behindere. Die Erfahrungen der vergangenen<br />
Jahre können dies jedoch nicht bestätigen. In der Praxis<br />
läuft die Ländermitwirkung geräuschlos und zumeist<br />
konfliktfrei. Gelegentlich gibt es zwischen<br />
Bund und Ländern Meinungsverschiedenheiten da-<br />
rüber, ob ein EU-Vorhaben im Schwerpunkt LänderbelangebetreffeunddieHaltungdesBundesratessomit<br />
für die Bundesregierung in Brüssel bindend sei.<br />
Auch von Länderseite gibt es Wünsche, in Teilbereichen<br />
Präzisierungen vorzunehmen. Gründe dafür<br />
sind im Wesentlichen die neuen Bestimmungen des<br />
�Verfassungsvertrags 2004 zur Mitwirkung der nationalen<br />
Parlamente, zur Subsidiaritätsprüfung, zum<br />
eigenständigen Klagerecht vor dem EuGH sowie der<br />
Anwendung der vereinfachten Vertragsänderung<br />
(sog.�Passerelle-Klausel). Ch. H.<br />
Mobilität �Freizügigkeit<br />
Multinationales Korps<br />
MOEL �Mittelosteuropäische Länder, �Transformationsstaaten<br />
Monnet, Jean (1888 – 1979), französischer Politiker.<br />
Stellvertretender Generalsekretär des Völkerbundes<br />
(1919 – 1923), Präsident der Schuman-<br />
Plan-Konferenz (1950 – 1952) zur Gründung der<br />
Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl<br />
(EGKS)undPräsidentderHohenBehördederEGKS<br />
(1952 – 1955). 1976 von den Staats- und Regierungschefs<br />
der EG zum ersten „Ehrenbürger von <strong>Europa</strong>“<br />
ernannt.<br />
Montanunion �Europäische Gemeinschaft für<br />
Kohle und Stahl (EGKS)<br />
Multinationales Korps Nord-Ost, aufgrund eines<br />
1997 zwischen Dänemark, Deutschland und Polen<br />
gefassten Beschlusses aufgestellter Großverband,<br />
seit Ende 2000 einsatzbereit. Das Korps ist nicht in<br />
die NATO-Struktur eingebunden. Die einzelnen<br />
Truppenteile unterstehen nur im Bedarfsfall dem internationalen<br />
Korpskommando. Hauptquartier:<br />
Stettin.<br />
547
NACE<br />
NACE (Nomenclature générale des activités économiquesdanslesCommunautésEuropéennes).Allgemeine<br />
Systematik der Wirtschaftszweige in der EU<br />
(für statistische Zwecke von eurostat). NACE wurde<br />
1970 aufgestellt. Eine Revision 1986 (NACE Rev. 1)<br />
passte die Klassifikation der revidierten International<br />
Standard Industrial Classification of all Economic<br />
Activities (ISIC Rev. 3) der Vereinten Nationen<br />
an. Gemäß Verordnung (EWG) Nr. 3037/90 muss<br />
NACERev1seit1.1.1993inallenEU-Staatenangewendet<br />
werden.<br />
Nachbarschaftspolitik �Europäische Nachbarschaftspolitik<br />
Nachhaltigkeit,NachhaltigeEntwicklung(sustainabledevelopment)bezeichneteinLeitbild,nachdem<br />
stabile wirtschaftliche Entwicklung (Wachstum der<br />
Lebensqualität, hoher Beschäftigungsgrad, Preisniveaustabilisierung,außenwirtschaftlichesGleichgewicht),<br />
Schutz der Ökosphäre (Erhaltung der Pufferkapazität<br />
der Natur, nachhaltige Nutzung erneuerbarer<br />
Ressourcen, minimale Nutzung nicht-erneuerbarer<br />
Ressourcen) und gerechte Verteilung der Lebenschancen<br />
(zwischen Individuen, Generationen,<br />
Nord und Süd, Ost und West) in Einklang gebracht<br />
werden sollen. Als gängigste deutsche Übersetzung<br />
des englischen Begriffs „sustainable development“<br />
gelten „nachhaltige“, „dauerhafte“ oder „zukunftsfähige<br />
Entwicklung“. Im „Brundtland-Bericht“ der<br />
UN-Kommission für Umwelt und Entwicklung<br />
(1967) wird sustainable development definiert als<br />
eine „Entwicklung, die den Bedürfnissen der heutigen<br />
Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten<br />
künftiger Generationen zu gefährden“.<br />
Spätestens seit der UN-Konferenz für Umwelt und<br />
EntwicklunginRiodeJaneiro(1992)giltsustainable<br />
development als verbindliche Zielsetzung für die internationaleStaatengemeinschaftunddamitauchfür<br />
die Mitgliedstaaten der EU. Mit der „Agenda 21“<br />
wurde auf dieser Konferenz ein umfassendes, dynamisches<br />
Aktionsprogramm verabschiedet, das detaillierte<br />
umwelt- und entwicklungspolitische Handlungsanweisungen<br />
enthält.<br />
548<br />
N<br />
Der Begriff „Nachhaltige Entwicklung“ legt die BetonungaufEntwicklunganstellevonWachstum.Das<br />
Nachhaltigkeitsprinzip entstammt der Forstwirtschaft;<br />
dort kennzeichnet es eine Waldbewirtschaftung,<br />
bei der der Holzeinschlag im Rahmen eines bestimmten<br />
Zeitabschnitts die Regenerationsfähigkeit<br />
des Baumbestandes nicht übersteigt, so dass dauerhaft<br />
ein optimaler Holzertrag gewährleistet ist und<br />
die Bodenqualität nicht beeinträchtigt wird. Entwicklungs-<br />
und umweltpolitisch zielt Nachhaltigkeit<br />
bzw. nachhaltige Entwicklung auf Anpassung<br />
der Wirtschaftstätigkeit und des sozialen Verhaltens<br />
an die ökologische Tragfähigkeit des Planeten Erde.<br />
Weder sein Potential an regenerierbaren und nichtregenerierbaren<br />
Rohstoffen noch seine Fähigkeit,<br />
Schadstoffe aufzunehmen, sollen überbeansprucht<br />
werden, damit das natürliche Fließgleichgewicht des<br />
globalen Ökosystems nicht gefährdet wird. Als globales<br />
Konzept trägt sustainable development sowohl<br />
den Umweltproblemen, die durch die vorwiegend an<br />
wirtschaftlichem Wachstum orientierte Lebensweise<br />
in den Industrieländern verursacht wurden und<br />
werden als auch der Unterentwicklung in den Entwicklungsländern<br />
und den daraus resultierenden armutsbedingten<br />
Umweltzerstörungen Rechnung.<br />
Aufgrund der fehlenden Präzision des Begriffes ist<br />
ein breites Spektrum an Interpretationsmöglichkeiten<br />
gegeben, so dass die Schwäche des Konzepts in<br />
seiner mangelnden Operationalisierungsfähigkeit<br />
liegt. Dank seiner umfassenden Zielsetzung genießt<br />
das Konzept aber eine breite Akzeptanz, im Norden<br />
wie im Süden. Aufgrund der Einbindung des Nordens<br />
(als Mitverursacher und -betroffener der Entwicklungsproblematik)<br />
erscheint das Konzept geeignet,<br />
der Entwicklungsdiskussion eine neue Richtung<br />
und Qualität zu geben.<br />
Das Prinzip Nachhaltigkeit in der Politik der EU:<br />
Nach Art. 2 EGV ist es Aufgabe der Gemeinschaft,<br />
eine nachhaltige Entwicklung des Wirtschaftslebens<br />
zu fördern. Dabei müssen gem. Art. 6 EGV die Erfordernisse<br />
des Umweltschutzes bei der Festlegung und<br />
Durchführung aller Politiken und Maßnahmen der<br />
Gemeinschaft einbezogen werden. Auch durch die<br />
Entwicklungszusammenarbeit (�Entwicklungspoli-
tik) soll nach Art. 177 EGV die nachhaltige wirtschaftliche<br />
und soziale Entwicklung in Drittstaaten<br />
gefördert werden. In einer Erklärung der Regierungskonferenz<br />
1997 (Amsterdam) wird die Zusage<br />
der Kommission zur Kenntnis genommen, Umweltverträglichkeitsprüfungen<br />
zu erstellen, wenn ihre<br />
Vorschläge erhebliche Auswirkungen auf die Umwelt<br />
haben können. In einer Erklärung der Regierungskonferenz<br />
2000 (Nizza) bekräftigen die Mitgliedstaaten<br />
ihre Entschlossenheit, eine führende<br />
Rolle bei der Förderung des Umweltschutzes in der<br />
Union und auf internationaler Ebene zu übernehmen<br />
und dabei auf marktorientierte Anreize und Instrumente<br />
zurückzugreifen, die einer nachhaltigen Entwicklung<br />
dienen. Die Kommission hat am 15. 5.<br />
2001 ihre Strategie zur nachhaltigen Entwicklung<br />
vorgestellt: „Nachhaltige Entwicklung für <strong>Europa</strong><br />
für eine bessere Welt: Strategie der Europäischen<br />
Union für die nachhaltige Entwicklung“. Der Europäische<br />
Rat in Göteborg hat diese Strategie im Juni<br />
2001 in ihren Grundzügen gebilligt. Erstes Ziel der<br />
Strategie ist der Kampf gegen die Klimaänderung<br />
durch Einhaltung der durch Unterzeichnung des<br />
Kyoto-Protokolls eingegangenen Verpflichtung der<br />
EU zur Reduzierung der Treibhausgase. Weitere<br />
Ziele sind: Beherrschung der für die öffentliche Gesundheit<br />
– insbes. von Chemikalien – ausgehenden<br />
Gefahren; nachhaltige Bewirtschaftung der natürlichen<br />
Ressourcen; Begrenzung der negativen AuswirkungendesStraßenverkehrs.<br />
K. E.<br />
Internet: www.nachhaltigkeit.info<br />
Literatur:<br />
Klemmer, P.: Nachhaltige Entwicklung – aus ökonomischer<br />
Sicht. In: Zeitschrift für angewandte Umweltforschung.<br />
H. 1/1994, S. 14 – 19<br />
Meyers, R./Waldmann, J.: Der Begriff „Sustainable Development“,<br />
seine Tauglichkeit als Leitfigur der Entwicklung von<br />
Problembearbeitungskonzepten im ökologischen Krisenkontext<br />
und im sozioökonomischen Verteilungszusammenhang.<br />
In: Engelhard, K. (Hg.), Umwelt und Entwicklung.<br />
Ein Beitrag zur lokalen Agenda 21. Münster 1998<br />
Der Binnenmarkt nach 1992 – Die Herausforderung aufnehmen.<br />
Bericht der hochrangigen „Beratergruppe Binnenmarkt“<br />
an die Kommission der Europäischen Gemeinschaften.<br />
Brüssel 1992 (Sutherland-Bericht)<br />
Nachhaltigkeitsstrategie, nationale. Auf der<br />
WeltkonferenzfürUmweltundEntwicklung1992in<br />
Rio de Janeiro haben sich die Staaten, die die Agenda<br />
21 unterschrieben haben, dazu verpflichtet, nationale<br />
Nachhaltigkeitsstrategien aufzustellen. Die Strategien<br />
sollen dazu führen, dass alle Politikbereiche<br />
Nahrungsmittelhilfe<br />
unter das Leitbild �Nachhaltigkeit gestellt werden<br />
unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen, ökologischen<br />
und sozialen Aspekte.<br />
Nahrungsmittelhilfe / Soforthilfe / Katastrophenhilfe<br />
(Humanitäre Hilfe)<br />
1. Begriffe und rechtliche Grundlagen. Mit „Nahrungsmittelhilfe“<br />
bezeichnet man die Lieferung von<br />
Nahrungsgütern, die ein Empfängerland aufgrund<br />
von Förderungsmaßnahmen eines Geberlandes/einer<br />
Geberorganisation zu Vorzugsbedingungen erhält.<br />
Es handelt sich hauptsächlich um einen in der<br />
�Entwicklungspolitik anzusiedelnden Vorgang.<br />
Im Jahr 2002/03 machte Nahrungsmittelhilfe etwa<br />
die Hälfte aller Hilfslieferungen der EU aus. Sie wird<br />
in der Regel als Geschenk, häufig in Form von Warenhilfe<br />
gegeben und vielfach von Hilfsorganisationen<br />
wie z. B. dem Roten Kreuz durchgeführt. Nahrungsmittelhilfe<br />
zur Linderung akuter Notlagen und<br />
Katastrophen- und Soforthilfe wird unter dem Begriff<br />
„Humanitäre Hilfe“ subsummiert: Sie umfasst<br />
neben Nahrungsmittellieferungen je nach Lage des<br />
Einzelfalls Warenlieferungen verschiedenster Art<br />
(Medikamente, Zelte, Decken, Notunterkünfte<br />
usw.), personelle Hilfe und zweckgebundene finanzielle<br />
Hilfe.<br />
Während die humanitäre Hilfe auf die Behebung<br />
akuter Notlagen ausgerichtet ist und dementsprechend<br />
rasch und flexibel einsetzbar sein muss, um<br />
kurzfristig Not lindern zu können, steht die Nahrungsmittelhilfe,<br />
soweit sie nicht zur Katastrophenhilfe<br />
eingesetzt wird, unter der entwicklungspolitischen<br />
Zielsetzung, durch Unterstützung wirtschaftlichen<br />
und sozialen Fortschritts die Lebensbedingungen<br />
der betroffenen Menschen dauerhaft zu verbessern.<br />
Sie ist sowohl in die entwicklungspolitische<br />
Gesamtkonzeption der Geberländer als auch in den<br />
gesamtwirtschaftlichenundsozialenZielrahmender<br />
Empfängerländer eingebettet.<br />
Erst mit Inkrafttreten des Maastrichter Vertrages am<br />
1. 11. 1993 haben Nahrungsmittel- und Katastrophenhilfe<br />
der EU eine einwandfreie Rechtsgrundlage<br />
erhalten. Vorher stützten sie sich – rechtlich umstritten<br />
– auf die Art. 43 und 113 bzw. 235 EWGV,<br />
außerdemaufdas �Lomé-Abkommen(nachArt.238<br />
EWGV).<br />
Nach Art. 177 bis 181 EGV fördert die Europäische<br />
Union, ergänzend zur entsprechenden Politik der<br />
Mitgliedstaaten,<br />
549
Nahrungsmittelhilfe<br />
– „die nachhaltige wirtschaftliche und soziale Entwicklung<br />
der Entwicklungsländer, insbes. der am<br />
meisten benachteiligten Entwicklungsländer;<br />
– die harmonische, schrittweise Eingliederung der<br />
Entwicklungsländer in die Weltwirtschaft;<br />
– die Bekämpfung der Armut in den Entwicklungsländern“.<br />
Damit sind Nahrungsmittel- und Katastrophenhilfe<br />
eindeutig Bestandteile der Entwicklungspolitik.<br />
Während die Nahrungsmittelhilfe der EG ursprünglich<br />
der Agrar- und Handelspolitik zugeordnet war,<br />
ist die Katastrophenhilfe als humanitäre Verpflichtung<br />
ein besonderes Instrument, das sich nicht in herkömmliche<br />
Politikbereiche einordnen lässt. Mit dem<br />
Nahrungsmittelhilfe-Abkommen von 1967 im Rahmen<br />
der UN, dem die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten<br />
beitraten, gründet sich die NahrungsmittelhilfeaußerdemaufinternationaleVertragsverpflichtungen.<br />
2. Nahrungsmittel- und Katastrophenhilfe der EG.<br />
Ähnlich wie in den USA war auch für die EG die<br />
Überschussproduktion von Getreide, später auch<br />
von anderen Produkten (Milcherzeugnisse, Magermilchpulver,Butterfett)derAnstoßfürihreAktivitäten<br />
auf dem Gebiet der Nahrungsmittelhilfe. Bis<br />
1972 wurden alle Hilfsmaßnahmen mit Milcherzeugnissen<br />
aus dem Europäischen Ausrichtungsund<br />
Garantiefonds für die Landwirtschaft (EAGFL,<br />
�Fonds der EU) finanziert.<br />
Unter maßgeblicher Beteiligung des Europäischen<br />
Parlamentshatsichinden1970erJahrendieKonzeptionundDurchführungderNahrungsmittelhilfekontinuierlich<br />
zu einem Bestandteil der Entwicklungspolitik<br />
weiterentwickelt. Während die Hilfe mit<br />
Milcherzeugnissen usw. autonom von der Gemeinschaft<br />
durchgeführt wird, bestehen bei der Getreidehilfe<br />
geteilte Zuständigkeiten zwischen Gemeinschaft<br />
und Mitgliedstaaten.<br />
Am 1. 3. 1992 wurde ein Europäisches Amt für humanitäre<br />
Hilfe (�ECHO) eingerichtet. Es ist zuständig<br />
für den Bereich der Nahrungsmittelhilfe, für reguläre<br />
Soforthilfe, Nahrungsmittelsoforthilfe,<br />
Flüchtlingshilfe für Entwicklungsländer, für osteuropäische<br />
Länder und für andere Staaten. Das Amt<br />
soll über einen Lagervorrat verfügen, um in Katastrophenfällen<br />
sofort handeln zu können. Damit<br />
Haushaltsmittelschnellverfügbarsind,solleinespezielle<br />
Reserve im Haushalt der Gemeinschaft<br />
eingerichtet werden. Damit ist ein Instrument ge-<br />
550<br />
schaffen worden, das entsprechende Hilfsprogramme<br />
effizienter macht.<br />
3. Entwicklungspolitische Aspekte der Nahrungsmittelhilfe.<br />
Obwohl Nahrungsmittelhilfe zur Bekämpfung<br />
des Hungers in der Welt eingesetzt wird,<br />
ist sie nicht unumstritten. Mit Ratsbeschluss vom<br />
Dezember 1986 wurde sie in einen entwicklungspolitischen<br />
Gesamtrahmen gestellt und der Bezug zur<br />
�Gemeinsamen Agrarpolitik gestrichen. Angesichts<br />
der geteilten Zuständigkeit zwischen Gemeinschaft<br />
und Mitgliedstaaten besteht die latente Gefahr, dass<br />
Nahrungsmittelhilfe zum Abbau von Agrarüberschüssen<br />
verwendet wird. Größer sind jedoch andere<br />
Risiken:<br />
– Im Übermaß und als Dauerhilfe angewendet, wirkt<br />
sie sich nachteilig auf die eigene Agrarproduktion im<br />
Empfängerland aus, weil sie die dortigen Erzeugerpreise<br />
drückt und damit Anreize für eine Intensivierung<br />
und Steigerung der landwirtschaftlichen Eigenerzeugung<br />
nimmt.<br />
– Nahrungsmittelhilfe kann ohne Berücksichtigung<br />
der Ernährungsweise der Empfänger Verbrauchergewohnheiten<br />
ändern und zu Abhängigkeiten führen,<br />
die sich nicht beheben lassen, sofern natürliche<br />
Schranken, Kapitalmangel usw. eine entsprechende<br />
Anpassung der eigenen Landwirtschaft nicht zulassen.<br />
– Langfristig kann Nahrungsmittelhilfe zu einer<br />
Nehmermentalität führen, die jede Motivation zur<br />
Produktivitätssteigerung der Eigenproduktion im<br />
Nehmerland erstickt.<br />
– Ein aktuell diskutiertes Problem im Zusammenhang<br />
mit Nahrungsmittelhilfe ist die Lieferung von<br />
genetisch modifizierten Produkten. Die Kontroverse<br />
um die US-Lieferung von gentechnisch verändertem<br />
Mais ins südliche Afrika im Jahr 2002 hat deutlich<br />
gezeigt, welche politischen Empfindlichkeiten und<br />
Probleme dadurch entstehen können.<br />
Deshalb hat die EU ihre Politik der Nahrungsmittelhilfe<br />
geändert. Die Hilfe wird in langfristige Strategien<br />
zur Armutsbekämpfung und Stärkung der landwirtschaftlichen<br />
Produktion eingebunden, um die<br />
selbständige Versorgung der betroffenen Regionen<br />
zu fördern. Wo Nahrungsmittelhilfe notwendig ist,<br />
werden die Lebensmittel möglichst in benachbarten<br />
Regionen eingekauft, um die dortige Agrarwirtschaft<br />
und die Märkte zu stärken. Zudem wird ein<br />
Frühwarnsystem eingerichtet, um Hungersnöte im<br />
Vorfeld erkennen und bekämpfen zu können. Die
Mitgliedstaaten und die Kommission der EU haben<br />
sichimRahmenderInternationalenNahrungsmittelhilfe-Übereinkunft<br />
(FAC) 1999 verpflichtet, 1,32<br />
Mio. t Getreide oder vergleichbare Produkte an Entwicklungsländer<br />
zu liefern. Zusätzlich stellen sie<br />
130 Mio. Euro für Nahrungsmittelhilfe zur Verfügung.<br />
Im Jahr 2004 hatte das Nahrungsmittelhilfe-<br />
Programm der EU einen Umfang von 436 Mio. Euro.<br />
K.-H. O<br />
Literatur:<br />
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und<br />
Entwicklung: Materialien Entwicklungspolitik Nr. 82, Lomé<br />
IV. Bonn 1991<br />
Dass.: Medienhandbuch Entwicklungspolitik, Berlin 2002<br />
E+Z, Zeitschrift für Entwicklung und Zusammenarbeit:<br />
Nahrungsmittelhilfe (Themenheft). 45. Jg., 6/2004<br />
NARIC (National Academic Recognition Information<br />
Centres). Ein 1984 geschaffenes Netz von nationalen<br />
Zentren, die über die akademische Anerkennung<br />
von ausländischen Hochschulabschlüssen und<br />
im Ausland absolvierten Studienzeiten informieren<br />
und beraten. Die Kommission unterstützt das<br />
NARIC-Netz im Rahmen des �Sokrates-Programms.<br />
NARIC-Zentren gibt es in allen EU-Staaten,<br />
den Beitrittskandidaten Bulgarien und Rumänien<br />
und den zum EWR gehörenden EFTA-Staaten<br />
Island, Liechtenstein und Norwegen.<br />
Die NARIC-Zentren sind auch zuständig für die Information<br />
und Beratung in Fällen, die das gemeinsame<br />
Übereinkommen von <strong>Europa</strong>rat und Unesco betreffen<br />
und arbeiten mit deren �ENIC-Netz zusammen.ENIC(EuropeanNetworkofNationalInformation<br />
Centres on academic recognition and mobility)<br />
und NARIC haben eine gemeinsame Website unter<br />
www.enic-naric.net.<br />
Nationale Aktionspläne Beschäftigung �Beschäftigungspolitik<br />
Ziff. 3, �Luxemburg-Prozess<br />
Ziff. 2, Ziff. 3<br />
Nationaler Alleingang. Insbesondere im Bereich<br />
deseuropäischenArbeits-undSozialrechts(Art.137<br />
Abs. 5 EGV) und der Umweltpolitik (Art. 176 EGV),<br />
aberauchimBereichderRechtsangleichung(Art.95<br />
Abs. 4–7 EGV) sieht der EG-Vertrag heute vor, dass<br />
die Mitgliedstaaten verstärkte Schutzmaßnahmen<br />
ergreifenoderbeibehaltendürfen.DerVertragräumt<br />
hier mithin (unter bestimmten Umständen) ausdrücklich<br />
das Recht zum nationalen Alleingang ein.<br />
Natura 2000<br />
Damit wird den Mitgliedstaaten die Gelegenheit gegeben,<br />
die oftmals systemimmanente Tendenz zur<br />
Harmonisierung auf niedrigem oder nur mittlerem<br />
Schutzniveau („Geleitzugprinzip“) zu durchbrechen.<br />
(Siehe allgemein auch unter �Vorrangfrage<br />
Gemeinschaftsrecht–NationalesRecht.) J. M. B.<br />
Nationale Zentralbanken �Zentralbanken, nationale<br />
NATO (North Atlantic Treaty Organization/Nordatlantikpakt),<br />
wurde am 4. 4. 1949 als Verteidigungsbündnis<br />
von den fünf Staaten des Brüsseler Pakts<br />
(�Westeuropäische Union), den USA und Kanada<br />
sowie Dänemark, Norwegen, Island, Portugal und<br />
Italien auf Grundlage des Nordatlantikvertrags gegründet.<br />
Griechenland und die Türkei traten 1952,<br />
die Bundesrepublik Deutschland 1955 und Spanien<br />
1982 bei.<br />
1999 wurde die NATO um Polen, die Tschechische<br />
Republik und Ungarn erweitert. 2004 wurden Bulgarien,<br />
Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, die Slowakei<br />
und Slowenien aufgenommen; damit wuchs<br />
die NATO auf 26 Mitglieder.<br />
Griechenland verließ 1974 die NATO, trat ihr 1981<br />
aberwiederbei.Frankreichzogsich1966ausdenmilitärischen<br />
Strukturen der NATO zurück, blieb aber<br />
politisches Mitglied. 1996 kündigte Frankreich die<br />
Wiederaufnahme seiner militärischen Beteiligung<br />
an. Spanien verließ 1986 die militärischen Strukturen<br />
und gliederte 1999 seine Streitkräfte wieder ein.<br />
Sitz der NATO ist Brüssel.<br />
1997 wurde der Euro-Atlantische Partnerschaftsrat<br />
(EAPC) gegründet. Er dient der Zusammenarbeit<br />
zwischen der NATO und den 20 Staaten des 1991 gegründeten<br />
Nordatlantischen Kooperationsrats (1997<br />
aufgelöst) und der 1994 initiierten „Partnerschaft für<br />
den Frieden“: die EU-Staaten Finnland, Irland,<br />
Schweden und Österreich, ferner die Schweiz sowie<br />
Albanien, Armenien, Aserbeidschan, Georgien, Kasachstan,<br />
Kirgisistan, Kroatien, Makedonien, Moldawien,<br />
Russland, Tadschikistan, Turkmenistan, die<br />
Ukraine, Usbekistan und Weißrussland.<br />
Zur Zusammenarbeit EU – NATO �EU-NATO-<br />
Dauervereinbarungen, �ESVP<br />
Natura 2000. EU-Schutzgebietssystem zur Bewahrung<br />
der freilebenden Tier- und Pflanzenwelt und ihrer<br />
Lebensräume. Die „Special Area of Conservati-<br />
551
Natura 2000<br />
on“ (SAC) der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie<br />
(�FFH-Richtlinie) bilden zusammen mit den auf der<br />
Basis der Vogelschutzrichtlinie ausgewiesenen<br />
„Special Protected Areas“ (SPA) das europäische<br />
Schutzgebietssystem Natura 2000. Ziel bei der Ausweisung<br />
dieses Netzes in seiner Gesamtheit ist die<br />
Gewährleistung des Erhaltes der in den jeweiligen<br />
Anhängen zur FFH-Richtlinie und zur Vogelschutzrichtlinie<br />
aufgeführten Arten und Lebensraumtypen.<br />
Hierunter wird sowohl die Bewahrung als auch die<br />
Wiederherstellung eines „günstigen Erhaltungszustands<br />
der natürlichen Lebensräume und wildlebenden<br />
Tier- und Pflanzenarten von gemeinschaftlichem<br />
Interesse“ verstanden. Das Natura 2000-Programm<br />
ist die wichtigste Initiative der EU zur Erreichung<br />
der Ziele des Naturschutzes. Zur Schaffung<br />
dieses europäischen ökologischen Netzes ist jeder<br />
Mitgliedstaat dazu verpflichtet, Standorte, welche<br />
für den Schutz der unter die FFH-Richtlinie und die<br />
Vogelschutzrichtlinie fallenden Arten und Habitate<br />
von Bedeutung sind, zu erfassen und als besondere<br />
Schutzgebiete vorzuschlagen. Die Staaten haben dabei<br />
zur langfristigen Erhaltung dieser Gebiete für die<br />
nötigen Verwaltungsakte und Verträge sowie evtl.<br />
notwendigen Bewirtschaftungspläne zu sorgen. Dadurch<br />
sollen die menschlichen Einwirkungen in eine<br />
nachhaltige Entwicklungsstrategie (�Nachhaltigkeit)<br />
eingebunden werden. Es ist jedoch den Mitgliedstaaten<br />
überlassen, in welcher Art und Weise –<br />
und mit welchen Schutzgebietstypen – sie an diesem<br />
Netzwerk mitwirken. Jedenfalls müssen die aufgrund<br />
der landschaftsökologischen, faunistischen<br />
und floristischen Ausstattung relevanten FFH-Gebiete<br />
der EU gemeldet werden. Als Schutzgebietstypen<br />
kommen in Deutschland u. a. Nationalparks, Biosphärenreservate,<br />
Naturparks, großflächige Landschaftsschutzgebiete<br />
und Naturschutzgebiete in Frage.<br />
Die Ausweisung solcher besonderer Schutzgebiete<br />
erfolgt in drei Phasen. Zunächst legt jeder Mitgliedstaat<br />
anhand der in den Anhängen zur Vogelschutzrichtlinie<br />
und zur FFH-Richtlinie festgelegten Kriterien<br />
eine Liste der Gebiete mit natürlichen Lebensräumen<br />
und wildlebenden Tier- und Pflanzenarten<br />
vor. Als nächsten Schritt erstellt die Kommission aus<br />
diesen Listen und im Einvernehmen mit den Mitgliedstaaten<br />
eine Liste der Gebiete von gemeinschaftlicher<br />
– also über den Mitgliedstaat hinausgehender<br />
– Bedeutung. Dafür kommen etwa Gebiete<br />
552<br />
mit dem Vorkommen einer gefährdeten, vor allem<br />
dort beheimateten und nur durch den konsequenten<br />
Schutz des Gebietes überlebensfähigen Art oder<br />
mehrerer solcher Arten in Frage oder Gebiete, die<br />
aufgrund ihrer Bedeutung als Rast- und Überwinterungsplatz<br />
internationale Bedeutung haben. Ist ein<br />
solches Gebiet von gemeinschaftlicher Bedeutung<br />
ausgewählt worden, weist der betreffende Mitgliedstaat<br />
dieses Gebiet im Laufe von spätestens sechs<br />
Jahren als besonderes Schutzgebiet aus.<br />
Ist nach Ansicht der Kommission ein Gebiet mit einem<br />
prioritären natürlichen Lebensraumtyp oder einer<br />
prioritären Art in einer nationalen Liste nicht aufgeführt,<br />
sieht die Richtlinie die Einleitung eines sog.<br />
Konzertierungsverfahrens zwischen dem betreffenden<br />
Mitgliedstaat und der Kommission vor. Führt<br />
dieses nicht zu einem zufriedenstellenden Ergebnis,<br />
kann die Kommission dem Rat vorschlagen, das Gebiet<br />
als Gebiet von gemeinschaftlicher Bedeutung<br />
auszuwählen.<br />
Die Mitgliedstaaten haben in den besonderen<br />
Schutzgebieten alle erforderlichen Maßnahmen zu<br />
treffen, um die Erhaltung der Lebensräume zu garantieren<br />
und ihre Verschlechterung zu vermeiden. Die<br />
Richtlinie sieht auch die Möglichkeit einer Mitfinanzierung<br />
der Erhaltungsmaßnahmen durch die Gemeinschaft<br />
vor.<br />
Zur langfristigen Sicherung wertvoller Lebensräume<br />
– insbes. in Kulturlandschaftsbiotopen – reichen<br />
jedochdieMittelnachAnsichtvonNaturschutzfachleuten<br />
bei weitem nicht aus.<br />
Die Mitgliedstaaten haben bei der Umsetzung des<br />
Natura 2000-Programms u. a. folgende Aufgaben:<br />
– Förderung der Verwaltung von Landschaftselementen,<br />
welche sie für die Migration, die Verbreitung<br />
und den genetischen Austausch von wildlebenden<br />
Arten für wesentlich halten;<br />
– Einführung eines strengen Schutzsystems für bestimmte<br />
bedrohte Tier- und Pflanzenarten (Anhang<br />
IV FFH-Richtlinie) und Prüfung der Möglichkeiten,<br />
diese Arten auf ihrem Gebiet neu einzuführen (Wiederansiedlung);<br />
– VerbotderAnwendungnicht-selektiverMethoden<br />
der Entnahme aus der Natur, des Fangs und der Tötung<br />
bestimmter Tier- und Pflanzenarten (Anhang V<br />
FFH-Richtlinie);<br />
– Die Mitgliedstaaten sollen die Forschungen und<br />
wissenschaftlichen Arbeiten, die zu den Zielen der<br />
Richtlinie beitragen können, fördern.
Alle sechs Jahre berichten die Mitgliedstaaten über<br />
die durch Anwendung der Richtlinie getroffenen<br />
Maßnahmen. Auf der Grundlage dieser Berichte erstellt<br />
die Kommission einen Synthesebericht. (Ändernder<br />
Rechtsakt mit Termin für die Umsetzung in<br />
den Mitgliedstaaten: Richtlinie 97/62, ABl. L 305/<br />
1997.) Mit der EU-Osterweiterung zum 1. 5. 2004<br />
wurden die Anhänge der FFH Richtlinie geändert,<br />
um auch die biologische Vielfalt in diesen Ländern<br />
zu berücksichtigen. Die 10 neuen Mitgliedstaaten<br />
mussten ihre Schutzgebietslisten bis zum 1. 5. 2004<br />
einreichen (ABl. L 236/2003).<br />
Dass die FFH-Richtlinie nur mit erheblichen Verzögerungen<br />
umgesetzt wird, kritisieren nicht nur Wissenschaftler<br />
und Non-Governmental-Organizations<br />
(NGOs), sondern wird auch von der EU-Kommission<br />
im Bericht vom 5. 1. 2004 über die Umsetzung der<br />
Richtlinie 92/43 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume<br />
sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen<br />
eingeräumt (KOM 2003/845 endg. – nicht im<br />
ABl. veröffentlicht).<br />
Mit diesem Bericht, welcher den Zeitraum von 1994<br />
bis Ende 2000 umfasst, werden erhebliche Verzögerungen<br />
bei der Umsetzung der Habitatrichtlinie festgestellt.<br />
Die Auswahl der ausgewiesenen Gebiete<br />
kommt in den meisten Ländern nur schleppend voran,<br />
es gibt noch immer Lücken in sämtlichen einzelstaatlichen<br />
Listen. Dennoch spricht die Kommission<br />
von erheblichen Fortschritten beim Aufbau des Netzes<br />
Natura 2000 zwischen der Abfassung des Berichts<br />
und dem Ende des Berichtszeitraums.<br />
Bei der Erhaltung von Gebieten teilt der Bericht die<br />
Länder bzw. Regionen in drei Gruppen auf:<br />
– Länder bzw. Regionen, welche für alle vorgeschlagenen<br />
Gebiete einen umfassenden Rechtsschutz eingerichtet<br />
haben (insbes. Großbritannien, Irland und<br />
Galizien).<br />
– Länder bzw. Regionen, die bestimmte administrative<br />
Maßnahmen zur Erhaltung aller ihrer vorgeschlagenen<br />
Gebiete eingeführt haben.<br />
– Länder bzw. Regionen, welche die Erhaltung der<br />
vorgeschlagenen Gebiete innerhalb bereits bestehender<br />
Gebiete gewährleisten und somit keine neuen<br />
Gebiete auswählen.<br />
In Deutschland sind nach gegenwärtigem Recht<br />
(2004) die Bundesländer für die Umsetzung von Natura<br />
2000 zuständig. Für die ausschließliche deutsche<br />
Wirtschaftszone der Nord- und Ostsee ist das<br />
BundesamtfürNaturschutz(BfN,Bonn)fürdieAus-<br />
Naturschutz<br />
wahl der Natura 2000 Flächen zuständig; (Neuregelungsgesetz<br />
zum Bundesnaturschutzgesetz v. 4. 4.<br />
2002).DieAusweisungderSchutzgebietsflächenerfolgt<br />
dann durch das Bundesministerium für Umwelt,<br />
Naturschutz und Reaktorsicherheit.<br />
Mit dem Beitritt der 10 neuen Mitgliedstaaten zum<br />
1. 5. 2004 wurde das zukünftige Schutzgebietsnetz<br />
Natura 2000 um wertvollste Lebensräume sowie<br />
Tier- und Pflanzenarten bereichert. Die Anhänge der<br />
FFH-Richtlinie wurden entsprechend überarbeitet<br />
und um 20 neue Lebensraumtypen (6 davon prioritär)<br />
und neue Arten ergänzt. Damit wird zumindest<br />
aufrechtlicherEbenederSchutzstatusvonHabitaten<br />
undArtenindenneubeigetretenenLändernganzwesentlich<br />
verbessert. Jetzt kommt es darauf an, dies<br />
nicht durch eine fehlgeleitete Subventionspolitik zu<br />
konterkarieren. C.-P. H.<br />
Naturschutz<br />
1. Begriff, Bedeutung. Unter Naturschutz – als einem<br />
wichtigen Teilgebiet des �Umweltschutzes – ist<br />
(nach Jedicke, 1995) die gleichberechtigte Erfüllung<br />
der sich gegenseitig durchdringenden Aufgabenbereiche<br />
Artenschutz, Biotopschutz, Ressourcenschutz,<br />
Prozessschutz und Ästhetischer Landschaftsschutz<br />
zu verstehen. Seit der Umweltkonferenz<br />
der Vereinten Nationen 1992 in Rio de Janeiro<br />
wird Naturschutz zunehmend als integrativer Teil<br />
der Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen<br />
auch als Beitrag für eine nachhaltige Entwicklung<br />
(�Nachhaltigkeit) verstanden. Naturschutz ist damit<br />
letztlich für die EU ein ressortübergreifendes Thema,<br />
welches – wie überhaupt der gesamte Umweltschutz<br />
– in alle Politikbereiche Eingang finden muss,<br />
um das Naturerbe auf dem Gebiet der EU ungeschmälert<br />
an künftige Generationen weiterreichen<br />
zu können.<br />
Heute ist die Bewahrung des Naturerbes in der EU<br />
eine der größten Herausforderungen für die einzelnen<br />
Mitgliedstaaten wie für die EU selbst. Denn der<br />
Verlust der biologischen Vielfalt hat bedrohliche<br />
Ausmaße angenommen.<br />
2. Situation. Auf dem europäischen Kontinent sind<br />
42 % der Säugetiere, 15 % der Vögel, 45 % der<br />
Schmetterlinge, 30 % der Amphibien, 45 % der Reptilien<br />
und 52 % der Süßwasserfische gefährdet oder<br />
vom Aussterben bedroht. Bei einer Gruppe von 23<br />
heimischen Feldvogelarten und 24 heimischen<br />
Waldvogelarten,welchein18europäischenLändern<br />
553
Naturschutz<br />
beobachtet wurden, musste zwischen 1980 und 2002<br />
ein Rückgang von 71 Prozent festgestellt werden. Zu<br />
den hoch bedrohten Arten in der EU gehört u. a. der<br />
Iberische Luchs. Von der einst in Spanien und Portugal<br />
weit verbreiteten Großkatze gibt es nur noch einige<br />
hundert Exemplare in wenigen isolierten Gebieten<br />
in Spanien. Damit gehört der Iberische Luchs zu<br />
den weltweit am stärksten gefährdeten Großkatzen.<br />
Das Beispiel zeigt deutlich, dass nicht nur in sog.<br />
Dritte-Welt-Ländern Natur bedroht ist und die wirtschaftlich<br />
starke EU ihre „Hausaufgaben“ beim Naturschutz<br />
noch lange nicht erledigt hat. Dies gilt auch<br />
für andere Großsäuger wie Braunbär, Wolf, Europäischer<br />
Luchs und Wildkatze. Noch immer sterben<br />
Wildtiere und alte, an die jeweiligen Landschaftsformen<br />
angepasste Haustierrassen aus.<br />
Die Ursachen für die Bedrohung der Fauna und Flora<br />
in <strong>Europa</strong> sind vielfältig, die Hauptursache liegt aber<br />
eindeutigimrapidenVerlustderLebensräume.Dazu<br />
gehört sowohl die immer weitere Zurückdrängung<br />
unberührter Naturlandschaften wie auch die Veränderung<br />
besonders der landwirtschaftlichen Praktiken<br />
in genutzten Kulturlandschaften. So wurden<br />
zahlreiche Feuchtgebiete – etwa in Griechenland,<br />
Italien, Spanien, Portugal oder in Südfrankreich –<br />
durchEntwässerung,AuffüllungundandereFormen<br />
der Urbarmachung ganz oder teilweise zerstört. Damit<br />
fehlen wichtige Brutgebiete für Vogelarten, die<br />
auf Feuchtlebensräume angewiesen sind. Zugleich<br />
fehlen Rast- Nahrungs- und Überwinterungsflächen<br />
für Watvögel, Enten, Gänse, Taucher, Reiher, Störche,<br />
Kraniche und andere Arten. In vielen ursprünglichen,<br />
noch wenig vom Menschen veränderten Gebirgslagen<br />
erfolgte vor allem in den 1970er und<br />
1980er Jahren die Erschließung mit Wegen und Straßen<br />
sowie die Anlage touristischer Einrichtungen<br />
wie etwa Skilifte und dergleichen. Viele naturnahe<br />
Waldbereiche gingen in den vergangenen Jahrzehnten<br />
durch die Anlage von Wohn- und Gewerbegebieten,<br />
Brandstiftung und anschließende Überweidung,<br />
Rodung und spätere Umwandlung in forstliche Intensivkulturen<br />
verloren. In der spanischen Extremadura<br />
wurden in den 1980er Jahren mediterrane Hartlaubwälder<br />
in monotone und – in <strong>Europa</strong> lebensfeindliche<br />
– Eukalyptuskulturen umgewandelt. Solche<br />
finden sich großflächig auch in Asturien und Galizien<br />
im Norden Spaniens, wo urwüchsige Bergwälder<br />
den schnellwachsenden Baumarten weichen<br />
mussten. In der Folge verloren viele Tierarten – unter<br />
554<br />
ihnen der Iberische Braunbär – einen Teil ihrer angestammten<br />
Lebensräume. Viele Tierarten sind auch<br />
durch direkte Verfolgung – etwa im Rahmen illegaler<br />
Jagd und Wilderei – gefährdet. Ein Beispiel ist die<br />
heute noch viel zu wenig kontrollierte Tötung von<br />
Zugvögeln durch Abschuss und den Fang mit Netzen<br />
und Leimruten, z. B. auf Malta oder in Süditalien.<br />
Viele Tier- und Pflanzenarten verlieren ihre Lebensgrundlage<br />
durch die immer stärkere Fragmentierung<br />
und Zerschneidung von Lebensräumen, den Bau von<br />
Straßen und andere Verkehrswege. Die Bedrohung<br />
des Naturerbes erfolgt jedoch auch durch die Vernichtung<br />
von Lebensräumen der Kulturlandschaft.<br />
Hauptursache ist der Strukturwandel in der Landwirtschaft<br />
und deren stetige Intensivierung durch<br />
großflächigen Ackerbau, den Einsatz von Pestiziden<br />
und die damit verbundene Beeinträchtigung bzw.<br />
Vernichtung vieler Biotopelemente wie Hecken,<br />
Feldgehölze, Raine bzw. die Aufgabe traditioneller<br />
Nutzungen. Dazu hat zum Großteil die EU durch ihre<br />
Förderpolitik im Rahmen der �Gemeinsamen Agrarpolitik(GAP)sowieder<br />
�Strukturfondsbeigetragen.<br />
Umweltverbände kritisierten jahrelang, dass viele<br />
Milliarden Subventionsgelder Natur und Landschaft<br />
sowie die Lebens- und Umweltqualität der Bürger<br />
vernichten. Auch der Europäische Rechnungshof<br />
wies mit verschiedenen Sonderberichten auf Fehlsubventionen<br />
bzw. Subventionsmissbrauch zu Lasten<br />
der natürlichen Lebensgrundlagen hin. Nicht<br />
besser steht es um die Meeresbiotope der EU. Durch<br />
Schadstoffeinleitungen, Überfischung, Zerstörung<br />
von Laichgebieten u. a. Einflüsse stehen nach Angaben<br />
der EU 80 Prozent der Fischbestände der EU vor<br />
dem Zusammenbruch oder es ist ihr Zustand unbekannt.<br />
40 Prozent der Fischfänge in der EU wurden<br />
(2001) aus Beständen erzielt, welche die sichere biologische<br />
Grenze bereits unterschritten hatten. Und<br />
für verschiedene Fischarten – vor allem bei Kabeljau,<br />
Schellfisch, Seehecht und andere Rundfische,<br />
sowie für Lachs und Meeresforelle – lag der Anteil<br />
schon bei 60 Prozent (�Fischereipolitik). Ein zunehmendes<br />
Problem für den Naturschutz ist auch das<br />
Vordringen invasiver – also ursprünglich nicht heimischer–Arten,welcheandereArtenundLebensgemeinschaften<br />
gefährden können. Dazu gehört u. a.<br />
der Amerikanische Ochsenfrosch, welcher z. B. für<br />
heimische Amphibien eine große Gefahr darstellt,<br />
weil er deren Bestände vernichtet.<br />
3. Geschichte, Entwicklung. Eine der ersten umfas-
senderen Maßnahmen der EU gegen den Artenschwund<br />
und die Lebensraumvernichtung war 1979<br />
die �Vogelschutz-Richtlinie. 1992 folgte die Fauna-Flora-Habitatrichtlinie<br />
(�FFH-Richtlinie), quasi<br />
das moderne Naturschutzgesetz der EU. Aus den<br />
nach der FFH-Richtlinie und der Vogelschutzrichtlinie<br />
ausgewiesenen Gebiete wird das �Natura-2000<br />
Netz entwickelt. So soll ein Verbund von Lebensräumen<br />
geschaffen und gesichert werden, mit dem die<br />
Bewahrung des Naturerbes gelingen und das vom<br />
Europäischen Rat festgelegte Ziel, den Verlust an<br />
Biodiversität bis zum Jahr 2010 zu stoppen, erreicht<br />
werden soll.<br />
Zur Unterstützung der Naturschutzziele hat die EU<br />
1992 innerhalb des Programms �LIFE die Initiative<br />
LIFE-NATURE aufgelegt. Es soll zur Kofinanzierung<br />
von Projekten dienen, welche der Erhaltung der<br />
natürlichen Umwelt und der Umsetzung der Vogelschutz-<br />
und der FFH-Richtlinie dienen. Die hierfür<br />
aufgewandten Mittel sind jedoch nur ein Bruchteil<br />
der Mittel, die letztlich für umweltschädliche Investitionen<br />
ausgegeben wurden, und stehen so in krassem<br />
Gegensatz zu den erheblichen Finanzmitteln,<br />
deren Einsatz direkt oder indirekt zum Artenschwund<br />
und zur Habitatzerstörung führten und führen.AußerdemhatdieEU1992dasaufdemWeltgipfel<br />
von Rio verabschiedete Übereinkommen über die<br />
Biologische Vielfalt unterzeichnet. Hauptziele sind<br />
Schutz und Erhalt der biologischen Vielfalt, die<br />
nachhaltige Nutzung ihrer Bestandteile und die ausgewogene<br />
und gerechte Aufteilung der sich aus der<br />
Nutzung der genetischen Ressourcen ergebenden<br />
Vorteile. Hierzu wurden 2001 vier Aktionspläne zur<br />
Biologischen Vielfalt aufgelegt. Sie legen die Einzelheiten<br />
der Umsetzung der Strategie zur Biologischen<br />
Vielfalt fest und behandeln Fragen zur Landwirtschaft,<br />
Fischerei, Nutzung natürlicher Ressourcen<br />
und die Wirtschafts- und Entwicklungszusammenarbeit.<br />
Damit soll sichergestellt werden, dass die<br />
Maßnahmen auf diesen Politikfelder nicht die Erhaltungsanstrengungen<br />
unterlaufen.<br />
4. Ausblick. Eine Verbesserung der Situation erhoffen<br />
sich viele Naturschützer durch die Agrarreform.<br />
2003 erfolgte eine Halbzeitbewertung der �Gemeinsamen<br />
Agrarpolitik (GAP), in deren Folge die frühere(undinihrenAuswirkungenaufdenNaturhaushalt<br />
so katastrophale) Verknüpfung von Subventionen<br />
undProduktionsmengengekapptwird.ImGegenzug<br />
sollen die nachhaltige Entwicklung des ländlichen<br />
Naturschutz<br />
Raums und die Agrarumweltmaßnahmen stärker unterstützt<br />
werden. Damit werden Subventionen nicht<br />
längerandieproduzierteMenge,sondernandie(umweltgerecht)<br />
bewirtschaftete Fläche geknüpft.<br />
Verbesserungen für den Schutz der Natur sind auch<br />
durch die im Jahr 2000 verabschiedete EU-Wasserrahmenrichtlinie<br />
zu erwarten. Ziel ist es, mit Hilfe einer<br />
grenzübergreifenden nachhaltigen Wasserbewirtschaftung<br />
Gewässer zu schützen und eine gute<br />
Qualität aller Wasserressourcen in der EU bis 2015<br />
zuerreichen.DieswirdauchdieLebensbedingungen<br />
vieler wasserbewohnenden Tierarten wie Fische,<br />
Krebse und Muscheln sowie auf Gewässer angewiesene<br />
Arten wie Eisvogel, Wasseramsel verschiedene<br />
Enten- und Gänsearten sowie Gänsesäger, Flussuferläufer<br />
u. a. verbessern helfen bzw. der Verschlechterung<br />
der Gewässerhabitate entgegenwirken.<br />
Trotz der bedenklichen Situation der Natur in der EU<br />
gibt es auch Erfolge zu verzeichnen: So führten artenspezifische<br />
Aktionspläne der EU sowie regionale<br />
Maßnahmen dazu, dass etwa der Bestand des SpanischenKaiseradlersvon50Paaren1974auf175Paare<br />
2002 und die Population des Mönchsgeiers von 270<br />
Paaren 1984 auf 1 300 Paare 2002 angestiegen sind.<br />
Auch Kranich, Weißstorch, Fischotter und Biber<br />
sind wieder weiter verbreitet.<br />
Das Gebiet der Europäischen Union umfasst folgende<br />
Biogeographische Regionen: Mediterran, Makronesisch,<br />
Alpin, Atlantisch, Kontinental, Boreal<br />
(entspr. FFH-Richtlinie 92/43) Mit der EU-OsterweiterungkamdiePannonischeBiogeographische<br />
Region hinzu. Vor der EU-Erweiterung waren 218<br />
Lebensraumtypen (Anhang I FFH-Richtlinie), annähernd<br />
900 Arten (Anhang II FFH-Richtlinie, ohne<br />
Vögel) und 182 Vogelarten (Anhang I Vogelschutzrichtlinie)<br />
in den EU-Bestimmungen für den Naturschutz<br />
aufgelistet. Mit der EU-Osterweiterung kamen<br />
zahlreiche „neue“ gefährdete Arten und Lebensräume<br />
hinzu. Die neuen Mitgliedstaaten beherbergen<br />
vielfach Arten und Habitatstrukturen, die im<br />
westlichen <strong>Europa</strong> schon verschwunden sind bzw.<br />
zerstört wurden. Damit ist die große Herausforderung<br />
verbunden, die in den westlichen EU-Staaten<br />
gemachtenFehlervonFehlsubventionen,welchezur<br />
Landschafts- und Naturvernichtung führten, nicht<br />
auf den Osten zu übertragen bzw. dort zu wiederholen.<br />
Statt dessen sollte das Hinzukommen der 2004<br />
beigetretenen Länder als Chance für konsequenten<br />
555
NET<br />
Naturschutz und die Wiederausbreitung gefährdeter<br />
Arten gesehen werden. Denn nicht nur im großgeographischen<br />
Sinne, sondern auch im Hinblick auf die<br />
unterschiedlichstenKulturlandschaftengibtesinder<br />
EU eine überaus große ökologische und kulturelle<br />
Vielfalt, welche es für kommende Generationen zu<br />
erhalten gilt. Die Vielfalt der Regionen kann nur erhalten<br />
werden, wenn von der früher zu beobachtenden<br />
Entwicklung einer „Gleichmachung“ Abstand<br />
genommen wird. Ansätze hierfür sind durchaus erkennbar.<br />
Doch es fehlt u. a. an der schlüssigen Finanzierung.<br />
So hat der �Wirtschafts- und Sozialausschuss<br />
(NAT 261 – R/CESE 1350/20004 [DE] av)<br />
deutlich gemacht, dass die Gründe für erforderliche<br />
Naturschutzmaßnahmen nicht nur im rein naturschützerischen/kulturellen<br />
Bereich, sondern durchaus<br />
auch im ökonomischen und gesellschaftlichen<br />
Sektor zu suchen sind. Von der Kommission wird der<br />
jährliche Mittelbedarf für die Schaffung und Aufrechterhaltung<br />
der NATURA 2000 Gebiete mit<br />
6,1 Mrd. Euro pro Jahr beziffert, wobei es sich um<br />
eine erste grobe Schätzung handelt. Letztlich wird es<br />
eine Zielerfüllung des Naturschutzes auf EU-Ebene<br />
nach Auffassung des EWSA nur geben, wenn es gelingt,<br />
eine echte Partnerschaft zwischen Naturschutz<br />
und Landwirtschaft zu entwickeln und klarere Vorgaben<br />
für den Einsatz der Naturschutzmittel zu kontrollieren.<br />
Dabei bezweifelt der EWSA den von der<br />
EU-Kommission geschätzten Mittelbedarf als zu gering,<br />
allein deshalb, weil für die 10 neuen Mitgliedstaaten<br />
nur 300 Mio. Euro „eingeplant“ sind<br />
(5,8 Mrd. Euro für die alten Mitgliedstaaten).<br />
Informationen zur Situation des Naturschutzes auf<br />
dem Gebiet der EU werden ebenso wie entspr. Vorschläge<br />
für konkrete Maßnahmen durch die europäische<br />
�Umweltagentur aufbereitet.<br />
Die Kommission informiert regelmäßig auf ihrer<br />
Homepage über den Status der Umsetzung der Habitat-Richtlinie<br />
sowie zur Situation des Schutzes verschiedener,<br />
gefährdeter Tier- und Pflanzenarten:<br />
http://europa.eu.int/comm/environment/nature<br />
Übereinkommen zur Biologischen Vielfalt (eine Initiative<br />
des Umweltprogramms der Vereinten Nationen,<br />
UNEP): www.biodiv.org/default.shtml<br />
Große international tätige Non-Governmental-Organizations<br />
auf dem Gebiet des Naturschutzes, der<br />
Landschaftspflege sowie der nachhaltigen Entwicklung<br />
sind auf EU-Ebene neben nationalen und regionalen<br />
Verbänden tätig, z. B.: Bird Life, Friends of the<br />
556<br />
Earth, International Union for conservation of Nature<br />
(IUCN), World Wide Fund for Nature (WWF),<br />
Umweltstiftung Euronatur, European Nature Heritage<br />
Fund (Euronatur), Europäisches Umweltbüro,<br />
EuropeanEnvironmentalBureau(EEP). C.-P. H.<br />
Internet:<br />
www.birdlife.net; www.foei.org; www.iucn.org;<br />
www.panda.org; www.euronatur.org; www.eeb. org<br />
Literatur:<br />
Gleich, M./Maxeiner, D./Miersch, M./Nicolay, F.: Life Counts<br />
– Eine globale Bilanz des Lebens. Berlin 2000<br />
Hutter, C.-P./Keller, H.,/Ribbe, L./Wohlers, R.: Die Ökobremser<br />
– Schwarzbuch Umwelt <strong>Europa</strong>. Stuttgart 1993<br />
Jedicke, E.: Ressourcenschutz und Prozessschutz – erforderliche<br />
Ansätze zu einem ganzheitlichen Naturschutz. Bonn 1995<br />
NET Next European Torus �JET<br />
Nettozahler/Nettoempfänger. Als Nettobeitrag<br />
an den EU-Haushalt wird der Saldo zwischen den<br />
Mitteln, die ein Mitgliedstaat insgesamt in einem<br />
Jahr an die Gemeinschaft abführt, und sämtlichen<br />
Rückflüssen aus verschiedenen Haushaltstiteln im<br />
gleichen Zeitraum bezeichnet. Ist der Saldo positiv,<br />
zählt der Staat zu den Nettoempfängern, ist er negativ,<br />
gilt das Land als Nettozahler. Eine solche Gegenüberstellung<br />
von Zahlungen an die EU und Rückzahlungen<br />
der EU an die Mitgliedstaaten ergibt sich aus<br />
statistischen Daten der Kommission. Sie veröffentlicht<br />
einerseits die Herkunft ihrer Einnahmen nach<br />
Ländern und andererseits die Aufteilung ihrer operativen<br />
Ausgaben nach Empfängern. Daraus ergibt<br />
sich für das Jahr 2003 das in der Tabelle dargestellte<br />
Bild (S. 554).<br />
Wertet man die Konten buchhalterisch, dann wirkt<br />
ein negativer Saldo als Verlust, ein positiver als Gewinn.<br />
Daraus lassen sich nachweisbare Argumente<br />
für eine Kritik an der europäischen Integration ableiten.<br />
Andererseits sind die Vorteile der Integration<br />
ganzsichernichtalleinnachEuroundCentzubewerten.<br />
Befürworter der europäischen Einigung können<br />
deshalb andere Rechnungen aufstellen, die ebenso<br />
realistisch und beweiskräftig sind und für jeden Staat<br />
positiv ausfallen. Es erweist sich demnach als unsinnig,<br />
aus dem Saldo eines Staates gegenüber dem<br />
EU-Haushalt auf eine Benachteiligung oder eine Bevorzugung<br />
zu schließen. Dies gilt insbes. unter dem<br />
Gesichtspunkt der in Art. 2 EGV geforderten Solidarität<br />
zwischen den Mitgliedstaaten sowie der Zielsetzung,<br />
den Rückstand der am stärksten benachteilig-
ten Gebiete in der EU zu verringern (Art. 158 EGV).<br />
Ein „gerechterer“ Maßstab zur Beurteilung der Lasten<br />
eines Mitgliedstaats durch die EU ergibt sich ohnehin<br />
aus der Gegenüberstellung der Zahlungen pro<br />
Kopf und nicht pro Staat.<br />
Neues Gemeinschaftsinstrument zur Investitionsförderung<br />
in der Gemeinschaft (NGI). Vom<br />
Rat 1978 geschaffenes Finanzierungsinstrument,<br />
das die Kommission ermächtigt, im Namen der<br />
EG/EU Anleihen aufzunehmen; die Ermächtigung<br />
dazu ist jeweils neu vom Rat zu bestätigen. Aus diesen<br />
Mitteln werden Darlehen an ärmere Mitgliedstaaten<br />
gegeben, die von der �Europäischen Investitionsbank<br />
verwaltet werden. Ziel der Darlehensvergabe<br />
ist die Förderung von Investitionen in den Bereichen<br />
Energie, Infrastruktur und Industrie, bei späteren<br />
NGI-Programmen vor allem für kleine und<br />
mittlere Unternehmen (�KMU) sowie für Notprogramme<br />
(z. B. zur Hilfe bei Erdbebenkatastrophen<br />
1981 in Italien und Griechenland).<br />
Neue Transatlantische Agenda. Im Dezember<br />
1995zwischenUSAundEUvereinbarteZusammenarbeit<br />
ergänzend zur �Transatlantischen Erklärung<br />
von 1990. Ausbau der gegenseitigen Beziehungen<br />
unter Einbeziehung gesellschaftlicher Gruppen<br />
Neutralität<br />
Aufteilung der Einnahmen und der operativen Ausgaben der EU nach Mitgliedstaaten 2003 (in Mio. Euro)<br />
Land<br />
Zahlungen an die<br />
EU<br />
Zahlungen der<br />
EU<br />
Saldo<br />
Zahlung an die EU<br />
pro Kopf in Euro<br />
Belgien 3 486,0 1 696,2 - 1 789,8 337<br />
Dänemark 1 777,7 1 448,6 - 329,1 330<br />
Deutschland 19 202,6 10 474,8 - 8 727,8 233<br />
Finnland 1 337,9 1 322,3 - 15,6 257<br />
Frankreich 15 153,7 13 119,6 - 2 034,1 254<br />
Griechenland 1 533,7 4 836,0 + 3 302,3 139<br />
Großbritannien 9 971,2 6 068,4 - 3 902,8 169<br />
Irland 1 127,5 2 653,3 + 1 525,8 287<br />
Italien 11 758,5 10 530,9 - 1 227,6 208<br />
Luxemburg 204,5 148,2 - 56,3 454<br />
Niederlande 4 919,5 1 940,7 - 3359,8 304<br />
Österreich 1 935,9 1 559,7 - 376,2 237<br />
Portugal 1 292,9 4 754,4 + 3 461,5 124<br />
Schweden 2 501,3 1 430,1 - 1 071,2 280<br />
Spanien 7 429,4 15 842,2 + 8 412,8 183<br />
EU 83 632,5 77 825,4 221<br />
Quelle: Europäische Kommission, GD Haushalt, Aufteilung der operativen Ausgaben 2003 nach Mitgliedstaaten, September 2004<br />
Internet: http://europa.eu.int/comm/budget/agenda2000/reports_de.htm<br />
(Umwelt-, Verbraucher-, Arbeitnehmerverbände,<br />
Unternehmen), deren Dialog (people-to-people)<br />
über den Atlantik hinweg gefördert wird. Zusammenarbeit<br />
zwischen EU und USA in regionalen und<br />
globalen politischen Fragen (Terrorismus, Drogenhandel)<br />
sowie in den Bereichen Justiz, Handel und<br />
Wirtschaft. Im Rahmen der Agenda wurde 1998 die<br />
„Transatlantische Wirtschaftspartnerschaft“ (Transatlantic<br />
Economic Partnership TEP) ins Leben gerufen,<br />
die sich für Marktöffnung (Schaffung der Freihandelszone<br />
„Neuer Transatlantischer Markt“ bis<br />
2010) und Abbau von Handelshemmnissen im Bereich<br />
der WTO einsetzt sowie von Handels- und Investitionshindernissen,<br />
die durch die unterschiedlichen<br />
Rechtssysteme entstehen.<br />
Neufassung von Rechtsvorschriften �Kodifizierung,<br />
�Konsolidierung<br />
Neutralität. Irland, Finnland, Österreich und<br />
Schweden sind gem. ihren Verfassungen neutrale<br />
Staaten. Neutralität nach völkerrechtlicher Regelung<br />
verpflichtet ein Land zur Unparteilichkeit,<br />
wenn Staaten gegeneinander Krieg führen, auch im<br />
Falle von Bürgerkriegen, die von anerkannten Kombattanten<br />
geführt werden. Unparteilichkeit bedeutet<br />
Gleichbehandlung (weder Bevorzugung noch Be-<br />
557
NGO<br />
nachteiligung) und das Verbot der Waffenhilfe. Im<br />
Gegenzug darf die territoriale Souveränität eines<br />
neutralen Staates nicht von kriegführenden Parteien<br />
verletzt werden.<br />
Neutralität verlangt von einem Staat, sich in Friedenszeiten<br />
keinem militärischen Bündnis anzuschließen.<br />
Da die EG/EU kein Militärbündnis ist,<br />
steht einem Beitritt eines neutralen Staates nichts<br />
entgegen. Auch Staaten mit immerwährender Neutralität<br />
(Österreich, Schweiz) können Mitglied der<br />
EG/EU sein. Sie können sich uneingeschränkt an gemeinsamen<br />
Aktionen im Rahmen der �GASP oder<br />
an friedenserhaltenden Maßnahmen (�Petersberg-<br />
Aufgaben) im Rahmen der �ESVP beteiligen, da die<br />
völkerrechtlich geregelte Neutralität nur den Kriegszustand<br />
betrifft, die Aktionen der EG/EU sich aber<br />
auf die Zeit vor (friedenerhaltende Maßnahmen)<br />
oder nach Kriegen (friedenschaffende Maßnahmen)<br />
beziehen. Jeder Mitgliedstaat hat zudem das Recht<br />
der �konstruktiven Enthaltung bei sicherheitspolitischen<br />
Beschlüssen des Rats.<br />
Nicht endgültig geklärt ist die Frage der Beteiligung<br />
neutraler Staaten an militärischen Aktionen, die von<br />
den UN bzw. ähnlichen regionalen Organisationen<br />
(wie der �OSZE) beschlossen werden. Allgemeine<br />
Auffassungist,dassessichhierbeinichtumKonflikte<br />
zwischen Staaten oder Militärbündnissen handelt,<br />
sondern um Einsätze der gesamten internationalen<br />
Staatengemeinschaft gegen einen Einzelstaat, der einen<br />
Angriffskrieg begonnen hat oder die Grundsätze<br />
des humanitären Völkerrechts verletzt. Die europäischen<br />
neutralen Staaten sehen in einer Beteiligung<br />
keinen Widerspruch zur Neutralität, weshalb inzwischenauchdieSchweizMitgliedderUNOgeworden<br />
ist.<br />
NGO �Nichtregierungsorganisationen<br />
Nichtigkeitserklärung gem. Art. 231 EGV �Nichtigkeitsklage<br />
Nichtigkeitsklage. Wie das Zivilverfahrensrecht<br />
(z. B. § 579 der deutschen Zivilprozessordnung)<br />
sieht auch das europäische Gemeinschaftsrecht eine<br />
Nichtigkeitsklage vor, die in Art. 230 EGV normiert<br />
und streng von den zivilverfahrensrechtlichen Klagen<br />
bei nationalen Gerichten zu unterscheiden ist.<br />
Mit der – in der Praxis der Gemeinschaftsgerichte<br />
sehr bedeutsamen – Nichtigkeitsklage nach Art. 230<br />
558<br />
EGV kann die Rechtmäßigkeit von Handlungen des<br />
EuropäischenParlaments,desRats,derKommission<br />
und der EZB überprüft werden, mithin jede rechtlich<br />
erhebliche Maßnahme eines Gemeinschaftsorgans.<br />
Klageberechtigt ist sowohl jeder Mitgliedstaat als<br />
auch das Europäische Parlament, die Kommission<br />
und der Rat. Der �Europäische Rechnungshof und<br />
die �EZB sind insoweit zur Klageeinreichung befugt,<br />
als sie geltend machen können, in eigenen<br />
Rechten verletzt zu sein. Die Klagefrist beträgt zwei<br />
Monate ab Bekanntgabe der Entscheidung.<br />
Natürliche und juristische Personen können unter<br />
den gleichen Voraussetzungen Klage einreichen,<br />
wenn sie Adressat der zu beanstandenden Entscheidung<br />
oder unmittelbar und individuell betroffen sind<br />
(vgl.Art.230Abs.4EGV).FürdieseKlagen–häufig<br />
handelt es sich um sog. Konkurrentenklagen – ist erstinstanzlichdas�GerichtErsterInstanz(EuG)zuständig<br />
(Art. 225 Abs. 1 EGV in Verbindung mit § 51 der<br />
EuGH-Satzung). In den letzten Jahren mehrten sich<br />
die Stimmen, die eine Ausweitung der Klagemöglichkeiten<br />
für natürliche und juristische Personen<br />
forderten. Dem ist der EuGH insbes. in der Rechtssache<br />
Jégo-Quéré / Kommission (Rs. C-263/02) unter<br />
HinweisaufdieeindeutigeFassungdesEG-Vertrags<br />
entgegen getreten. Nunmehr sieht der �Verfassungsvertrag<br />
2004 eine Ausweitung der Klagemöglichkeiten<br />
für natürliche und juristische Personen vor (Art.<br />
III-365 VVE).<br />
Sollte die Klage begründet sein, erklärt der EuGH<br />
bzw. das EuG den angefochtenen Rechtsakt mit Wirkung<br />
ex tunc und erga omnes für nichtig (Art. 231<br />
EGV). Dies ist dann der Fall, wenn einer der in Art.<br />
230 Abs. 2 EGV genannten Nichtigkeitsgründe (Unzuständigkeit,<br />
Verletzung wesentlicher Formvorschriften,<br />
Verletzung des EG-Vertrages oder einer<br />
Durchführungsbestimmung sowie Ermessensmissbrauch)<br />
vorliegt. Auf die Verletzung eines subjektiven<br />
Rechtes kommt es dabei nicht an. Der für nichtig<br />
erklärte Rechtsakt wird rückwirkend so angesehen,<br />
als habe er niemals existiert. Alle auf ihm beruhenden<br />
Handlungen sind folglich wegen fehlender gültiger<br />
Rechtsgrundlage als rechtswidrig zu betrachten.<br />
Die Parteien werden in die Lage zurückversetzt, die<br />
vor dem für nichtig erklärten Rechtsakt bestand. Etwaige<br />
Schäden, die auf die Anwendung des für nichtig<br />
erklärten Rechtsaktes zurückzuführen sind, können<br />
mit der Schadensersatzklage geltend gemacht<br />
werden. Ch. S.
Literatur:<br />
Schwarze, J.: Der Rechtsschutz Privater vor dem Europäischen<br />
Gerichtshof, DVBl. 2002, 1297<br />
Daig, H.-W.: Nichtigkeits- und Untätigkeitsklagen im Recht<br />
der Europäischen Gemeinschaften. Baden-Baden 1985<br />
Nichtobligatorische Ausgaben �Obligatorische<br />
Ausgaben<br />
Nichtregierungsorganisationen (NRO, Non-governmental<br />
organizations, NGO) sind lokale, regionale,<br />
nationale oder internationale Zusammenschlüsse<br />
auf freiwilliger Basis von Bürgerinnen und<br />
Bürgern, die mit ihrer Mitgliedschaft gleiche oder<br />
ähnliche Interessen verfolgen. Gemeinsames und<br />
namensgebendes Merkmal ist ihre Unabhängigkeit<br />
von Regierungen oder staatlichen Institutionen. Die<br />
Ziele von NRO sind in der Regel gesellschaftspolitisch<br />
ausgerichtet, überwiegend von karitativer Art<br />
(sog. Dienstleistungs-NRO) oder gegen gesellschaftliche,<br />
wirtschaftliche oder politische Entwicklungen<br />
gerichtet (sog. politische NRO). NRO arbeiten<br />
ohne Gewinnorientierung. Zur Verfolgung ihrer<br />
gesetzten Ziele planen und verwirklichen sie Maßnahmen,<br />
die sie aus Mitgliedsbeiträgen und Spenden,<br />
z. T. auch aus öffentlichen Mitteln finanzieren.<br />
Eine einheitliche Definition der sehr heterogenen<br />
Gruppierungen ist schwierig. Zu ihnen zählen Einrichtungen<br />
der Kirchen (wie Misereor, Brot für die<br />
Welt), Stiftungen der Parteien, karitative Fonds (wie<br />
SOS-Kinderdörfer),weltweitorganisierteOrganisationen<br />
(wie Rotes Kreuz, Greenpeace oder Amnesty<br />
International), im weiteren Sinne aber auch alle Interessenvertretungen,<br />
also z. B. Gewerkschaften<br />
oder Arbeitgeberverbände.<br />
Hauptsächliche Tätigkeitsfelder großer, z. T. internationaler<br />
NRO sind: Hilfe für Entwicklungsländer,<br />
Umwelt- und Tierschutz, �nachhaltige Entwicklung,<br />
Globalisierung, Menschen-/Bürgerrechte und<br />
soziale Rechte, Abrüstung und Konfliktlösung, Gesundheitsschutz<br />
(Drogen, Aids), Technikfolgen<br />
(Kernenergie, Biotechnologie). Lokale NRO bilden<br />
sich häufig mit dem Ziel, große Bauprojekte (Straßen,Flughäfen)inderNachbarschaftzuverhindern.<br />
NRO sind weltweit ein wichtiger, z. T. sogar konstitutiver<br />
Teil der �Zivilgesellschaft. Ihre Anzahl ist<br />
nur schätzungsweise zu erfassen. Der Wirtschaftsund<br />
Sozialrat der UN (�ECOSOC) nannte 1996 eine<br />
Zahl von 29 000 registrierten Organisationen. Der<br />
Begriff „non-governmental organisation“ stammt<br />
Nichttarifäre Handelshemmnisse<br />
aus der Charta der Vereinten Nationen (Art. 71). In<br />
der EU spielen NRO eine Rolle als partizipative oder<br />
kritischeBegleiterderIntegration.NROkönnensich<br />
an zahlreichen EU-Programmen und Gemeinschaftsinitiativen<br />
beteiligen. Viele NRO sind in<br />
Brüssel mit Interessenvertretern präsent (�Verbände/Lobbyismus).<br />
Nichttarifäre Handelshemmnisse. Maßnahmen,<br />
die unmittelbar oder mittelbar den Handel insgesamt<br />
oder speziell die Einfuhr beschränken und bei denen<br />
es sich nicht um Zölle (engl.: tariffs) handelt. Während<br />
Zölle auf Grund ihres begrenzten Anwendungsbereichs<br />
und der begrifflichen Klarheit einer effektiven<br />
Regelung zugänglich sind (�GATT), wird der<br />
Begriff der nichttarifären Handelshemmnisse negativ<br />
definiert und ist deshalb nur mit Schwierigkeiten<br />
inhaltlich bestimmbar.<br />
Handelshemmnisse werden aus ökonomischer Perspektive<br />
generell als negative Faktoren betrachtet,<br />
die einer optimalen Verteilung der Ressourcen und<br />
Entscheidungen der Marktteilnehmer im Wege stehen.<br />
Sie stehen jedoch in einem Spannungsfeld zwischen<br />
dem legitimen nationalen Regelungsinteresse<br />
auf der einen Seite und dem Interesse an Marktzugang<br />
und Nichtdiskriminierung auf der anderen Seite.<br />
Ein Rechtsregime muss deshalb einen Maßstab<br />
entwickeln, der eine Maßnahme danach unterscheiden<br />
kann, ob sie ein legitimes Mittel zum Schutz der<br />
öffentlichen Sicherheit und Ordnung oder aber eine<br />
versteckte Form des Schutzes der nationalen Wirtschaft<br />
vor Wettbewerb ist.<br />
Nichttarifäre Handelshemmnisse lassen sich nach<br />
ihrer Funktion in zwei Gruppen klassifizieren:<br />
a) Maßnahmen mit dem primären Ziel der Handelsbeschränkung,<br />
die an die Herkunft oder das Ziel der<br />
Ware anknüpfen, wie mengenmäßige Beschränkungen<br />
(Kontingente), Einfuhrverbote, Lizenzierungen<br />
sowie Steuervorteile und finanzielle Förderung von<br />
inländischen Unternehmen (trade policy measures);<br />
b) Maßnahmen mit handelsbeschränkender Wirkung<br />
als Begleiterscheinung des primären Regelungsziels<br />
wie staatliche Monopole, Struktur- und<br />
Regionalförderung, nationale Unterschiede bei<br />
Maß- und Gewichtseinheiten, Veterinärkontrollen,<br />
Kennzeichnungspflichten, beschränkte berufliche<br />
Anerkennungen und die Regulierung bestimmter<br />
Märkte (internal measures).<br />
Eine besondere praktische Bedeutung haben techni-<br />
559
Nichtverbreitungs- und Abrüstungspolitik<br />
sche Handelshemmnisse, d. h. staatliche Maßnahmen,<br />
die Anforderungen an die Einfuhr, Vermarktung<br />
oder – sehr umstritten – die Herstellung einer<br />
Ware stellen. Als technische Handelshemmnisse<br />
kommen Maßnahmen im Einzelfall oder, in der Praxis<br />
weit überwiegend, abstrakte technische StandardsundderenAnwendunginBetracht.Technische<br />
StandardsdominierendieEntwicklung,Herstellung,<br />
den Handel und die Vermarktung von Waren und<br />
Dienstleistungen. Sie dienen der Vereinheitlichung<br />
und Orientierung für Industrie, Handel und Verbraucher<br />
und in unterschiedlichem Ausmaß auch dem<br />
Verbraucher-, Arbeits- und Umweltschutz.<br />
Technische Standards können den Handel beschränken,<br />
indem sie uneinheitlich sind und damit Hersteller,<br />
Im- und Exporteure zwingen, die für die einzelnen<br />
Märkte geltenden Standards zu ermitteln, entsprechende<br />
Konformitäts- oder Anerkennungsverfahren<br />
zu betreiben und ihre Waren an verschiedene<br />
Anforderungen anzupassen. Fehlt eine entsprechende<br />
Zertifizierung, mit der die Übereinstimmung des<br />
Produkts mit den technischen Standards im Einfuhrland<br />
nachgewiesen wird, ist es in den meisten Fällen<br />
auf diesem Markt nicht verkehrsfähig. Auf regionalerunduniversellerEbenegibtesdeshalbBestrebungen,<br />
technische Handelshemmnisse im Wege der<br />
�HarmonisierungderStandardsoderdurcheine �gegenseitige<br />
Anerkennung zu überwinden.<br />
In der EG sind mengenmäßige Ein- und Ausfuhrbeschränkungen<br />
sowie Maßnahmen gleicher Wirkung<br />
verboten (Art. 28, 29 EGV). Nach der Rechtsprechung<br />
des EuGH sind Maßnahmen mit gleicher Wirkung<br />
alle staatlichen Maßnahmen, die geeignet sind,<br />
unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentielldenHandelsverkehrzwischendenMitgliedstaaten<br />
zu behindern (sog. �Dassonville-Formel, EuGH,<br />
Rs. 7/74, Slg. 1974, S. 837, 852); diese Grundformel<br />
ist durch zahlreiche Entscheidungen ausdifferenziert<br />
worden. Die Regelungen des Gemeinschaftsrechts<br />
zu den nichttarifären Handelshemmnissen<br />
sind ein tragender Baustein des Binnenmarktes.<br />
Das �GATTsprichteingrundsätzlichesVerbotmengenmäßiger<br />
Beschränkungen aus (Art. XI GATT<br />
1994) und untersagt unilaterale Handelsmaßnahmen<br />
(Art. VI, XIX GATT 1994), lässt jedoch auch Ausnahmen<br />
von diesen Grundsätzen zu (Art. XX, XXI<br />
GATT 1994). Die allgemeinen Regeln werden ergänzt<br />
durch die speziellen, weiterführenden Übereinkommen<br />
über technische Handelshemmnisse<br />
560<br />
(AgreementonTechnicalBarrierstoTrade)undüber<br />
gesundheitspolizeiliche und pflanzenschutz-rechtliche<br />
Maßnahmen (Agreement on Sanitary and Phytosanitary<br />
Measures, SPS).<br />
Die Bedeutung der nichttarifären Handelshemmnisse<br />
als Instrument zur Steuerung oder zumindest Beeinflussung<br />
der Handelsströme nimmt mit dem fortschreitendenAbbauderZölleweiterzu.<br />
F. Sch.<br />
Literatur:<br />
Leible, S.: Art. 28–31 EGV. In: Grabitz/Hilf (Hg.), Recht der<br />
Europäischen Union. (Loseblatt) München<br />
Tietje, C.: Normative Grundstrukturen der Behandlung nichttarifärer<br />
Handelshemmnisse in der WTO-GATT-Rechtsordnung.<br />
Heidelberg 2001<br />
OECD: Indicators of Tariff and Non-tariff Trade Distortions.<br />
Paris 1996<br />
Nichtverbreitungs- und Abrüstungspolitik<br />
1. Problemaufriss. Die Nichtverbreitungs- und Abrüstungspolitik<br />
(Non-proliferation and disarmament<br />
policy, NPP) der EU stellt ein komplexes Puzzle dar:<br />
SiebeziehtsichprimäraufkonventionelleRüstungsgüter<br />
und atomare/biologische/chemische (ABC)<br />
Waffen(WeaponsofMassDestruction,WMD,Massenvernichtungswaffen).<br />
Jedes dieser Güter weist<br />
bestimmte besondere Merkmale auf und bedarf zum<br />
Teil eigener Strategien in der NPP. Zusätzlich<br />
kommt den sog. Dual-use-Gütern (Güter mit ziviler<br />
Anwendung, die jedoch auch zum Bau von Waffen<br />
genutzt werden können) besondere Bedeutung zu.<br />
Das Puzzle wird weiter kompliziert, wenn man Angebots-<br />
und Nachfrageseite betrachtet: Die EU Staaten<br />
unterscheiden sich erheblich in der Größe ihres<br />
Rüstungssektors, weiterhin sind Frankreich und<br />
Großbritannien Atommächte. Auf der Nachfrageseite<br />
hat man es zunehmend auch mit nichtstaatlichen<br />
Akteuren (Terrorismus) zu tun.<br />
Die Zuständigkeit in der EU bezüglich der NPP verteilt<br />
sich vor allem auf die erste Säule (Außenhandel)<br />
und zweite Säule (GASP bzw. ESVP), zunehmend<br />
spielt auch die dritte Säule (Justiz und Inneres) eine<br />
Rolle – Kompetenzstreitigkeiten und Kohärenzprobleme<br />
sind so vorprogrammiert. Neben der Ebene<br />
der EU-Mitgliedstaaten und der EU-Ebene mit drei<br />
betroffenen Säulen spielt auch die internationale<br />
Ebene eine entscheidende Rolle, da die meisten bestehenden<br />
Nichtverbreitungs- bzw. Abrüstungsverträge<br />
hier angesiedelt sind. Einen weiteren Baustein<br />
im NPP-Puzzle bilden die enormen Auswirkungen<br />
des Endes des Kalten Krieges auf das Politikfeld.
Schließlich ist die NPP der EU noch von internen<br />
Zielkonflikten beeinträchtigt: Der Aufbau effektiver<br />
militärischer Kapazitäten der EU im Rahmen der<br />
�Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik<br />
und entsprechende wirtschaftliche Interessen stehen<br />
zumindest teilweise im Widerspruch zur NPP<br />
der EU.<br />
2. Gegenstand, Akteure und Maßnahmen.<br />
2.1. Gegenstände der NPP-Bemühungen. Die verschiedenen<br />
Waffenarten (konventionell, ABC) unterschieden<br />
sich v. a. bzgl. Beschaffbarkeit, Verbreitung,<br />
Einsatzaufwand und Risiko (Produkt aus Eintrittswahrscheinlichkeit<br />
der Benutzung und angerichtetem<br />
Schaden), das von ihnen ausgeht. Der Bereich<br />
konventioneller Waffen kann in Klein- bzw.<br />
leichte Waffen (z. B. Handfeuerwaffen, Maschinengewehre,<br />
Flugabwehr/Mörser unter 100 mm etc. für<br />
Einzelpersonen und Gruppen) und Großgerät (Waffen<br />
mit Kaliber über 100 mm) unterschieden werden.<br />
Die Verbreitung von Kleinwaffen stellt vor allem bei<br />
innerstaatlichen Konflikten (die bei weitem die Masse<br />
der weltweiten Konflikte darstellen) ein enormes<br />
Problem dar, da sie leicht zu beschaffen, einfach zu<br />
benutzen und meist massenhaft verbreitet sind und<br />
damit häufig dauerhaften Frieden verhindern. Für<br />
die EU sind die Folgen gewaltsamer innerstaatlicher<br />
Konflikte an sich problematisch, durch zunehmende<br />
EU-EinsätzeimRahmenderESVP(z.B.ehemaliges<br />
Jugoslawien, Kongo) werden aber auch entsendete<br />
Truppen durch verbreitete Kleinwaffen direkt bedroht.<br />
Folglich gab es z. B. eine �Gemeinsame Aktion<br />
der EU im Rahmen der GASP gegen die Verbreitung<br />
von Kleinwaffen in Albanien.<br />
Während die EU und ihre Bürger durch konventionelle<br />
Waffen in der Regel nur mittelbar betroffen<br />
sind, rückte die Bedrohung durch ABC-Waffen in<br />
den letzten Jahren ins Zentrum der EU-NPP-Bemühungen.<br />
Grundlage bildet die vom �Hohen Vertreter<br />
Javier Solana vorgelegte Sicherheitsstrategie<br />
(2003) der EU, die eine Verminderung der Bedrohung<br />
von ABC-Waffen durch Terroristen und unterstützende<br />
Regime in den Mittelpunkt rückt. Insbesondere<br />
der Einsatz von B- und C-Waffen durch Terroristen<br />
stellt eine erhebliche Bedrohung dar, wie die<br />
Sarin-Anschläge von Tokio (1995) und die Anthrax-Anschläge<br />
in den USA (2001) zeigten. Der erhebliche<br />
Aufwand zum Einsatz von A-Waffen ist dagegen<br />
zur Zeit wohl nur von Staaten zu leisten. Besonderes<br />
Augenmerk der NPP liegt auch auf den not-<br />
Nichtverbreitungs- und Abrüstungspolitik<br />
wendigen Trägerraketen mit ausreichender Reichweite<br />
und Transportkapazität für A-Waffen.<br />
2.2RollederinternationalenEbenebeiderNPP.Die<br />
EU bzw. ihre Mitgliedstaaten wirken im Bereich<br />
NPPbisherzueinemsubstantiellenTeilindirekt,und<br />
zwar als Vertragsparteien in der Vielzahl internationaler<br />
Abkommen, die zu einem großen Teil noch aus<br />
der Zeit des Kalten Krieges stammen. Die Europäische<br />
Kommission spielt neben den EU-Staaten eine<br />
wichtige Rolle in internationalen Regimen zur Überwachung<br />
des Nichtverbreitungsvertrags wie Australia<br />
Group (Exportkontrolle für Chemikalien, die für<br />
C-Waffen verwendet werden können), Zangger<br />
Committee (Exportkontrolle für spaltbares Material),<br />
Nuclear Suppliers‘ group (Exportkontrolle der<br />
Staaten, die Nuklearausrüstungen liefern), Waassenaar<br />
Arrangement (Exportkontrolle für konventionelle<br />
Waffen und Dual-use-Güter sowie Technologien)<br />
und dem Missile Technology Control Regime<br />
(Kontrollregime für Trägertechnologie). Die direkten<br />
Auswirkungen der EU-NPP sind geringer einzuschätzen,<br />
wobei in den letzten Jahren eine deutliche<br />
Zunahme an Bedeutung festzustellen ist bei einer<br />
zeitgleichen Erosion von Teilen der internationalen<br />
Verträge (z. B. durch die Absicht der USA, strategische<br />
Mini-Nuklearwaffen zu entwickeln und zu testen,<br />
aber auch durch Bemühungen Nordkoreas um<br />
ein eigenes Atomwaffenprogramm).<br />
2.3 Entwicklung des rechtlichen Rahmens auf<br />
EU-Ebene. Die Besonderheit der EU-NPP mit ihrer<br />
Aufteilung der Kompetenzen auf zwei Säulen (EG<br />
und GASP) wurde bereits angesprochen. Wie kam es<br />
dazu? Konkreter Handlungsbedarf der EU bzgl. der<br />
NPP ergab sich aus der Gründung des Binnenmarkts<br />
1992. Artikel 296 EGV gibt den Mitgliedstaaten die<br />
Möglichkeit, die Rüstungsproduktion aus dem Gemeinsamen<br />
Markt auszuschließen. Problematisch<br />
war die Regelung bzgl. „Dual-use-Goods“, also Gütern,<br />
die sowohl für zivile als auch militärische Zwecke<br />
einsetzbar sind, da sie als zivile Güter prinzipiell<br />
frei handelbar (und auch exportierbar) wären. Bereits<br />
1989 entschied jedoch der Ministerrat auf Vorschlag<br />
der Kommission, den Export bestimmter chemischerGüterzureglementieren,diefürmilitärische<br />
Zwecke eingesetzt werden können. Es bildete sich<br />
eine charakteristische Arbeitsteilung: Die Kommission<br />
erarbeitete auf Basis des Gemeinschaftsrechts<br />
(es handelt sich ja primär um den Bereich Außenhandel)<br />
einen Vorschlag, der Ministerrat entschied nach<br />
561
Nichtverbreitungs- und Abrüstungspolitik<br />
zwischenstaatlicher Methode einstimmig im Rahmen<br />
der �Europäischen Politischen Zusammenarbeit<br />
(ab Maastricht im Rahmen der zweiten Säule,<br />
d. h. GASP) über eine Liste mit Gütern, auf die sich<br />
die Regulierung bezog. Ab 1995 wurde das „Dualuse-Regime“<br />
der EU in Kraft gesetzt, das der neuen<br />
Säulenarchitektur Rechnung trug. Es blieb bei der<br />
oben beschrieben Mischung aus Kommissionsvorschlag<br />
(EG 1994/3381) nach GemeinschaftsmethodeundzwischenstaatlicherAbstimmungimRahmenderGASP(1994/942/GASP)bzgl.derListeregulierter<br />
Güter.<br />
ZueinergrundsätzlichenÄnderungkamesdurchUrteile<br />
des Europäischen Gerichtshofs, der entschied,<br />
dass „Dual-use-Güter“ in die alleinige (!) Kompetenz<br />
der EG (Initiative und Exekutive bei der Kommission,<br />
Entscheidung beim Ministerrat mit qualifizierter<br />
Mehrheit) fallen. Ab 2000 trat dann die<br />
Verordnung 1334/2000 (ABl. L 159/2000) in Kraft,<br />
die den Handel mit Dual-use-Gütern regelt. Sie hat<br />
vier Anhänge, wobei der erste die Liste der nicht exportierbaren<br />
Güter für EU-Staaten enthält, die Güter<br />
dürfen jedoch frei innerhalb des Binnenmarkts gehandelt<br />
werden mit Ausnahme der unter Anhang IV<br />
genannten Güter. Die Anhänge werden jährlich aktualisiert<br />
(aktuell 1504/2004); es fällt in die Zuständigkeit<br />
der Nationalstaaten (!), die Ausfuhrkontrolle<br />
zu überwachen (Verordnungen, Anhänge, deutsche<br />
Ausfuhrbestimmungen, Liste der EU-Sanktionen im<br />
Internet unter www.ausfuhrkontrolle.info). In diesem<br />
Zusammenhang ist wichtig in Erinnerung zu rufen,<br />
dass die Kompetenzen des EuGH in der ersten<br />
Säule greifen, nicht jedoch in der zweiten (GASP),<br />
d. h., Beschlüsse sind in der GASP gerichtlich nicht<br />
durchsetzbar.<br />
2.4 Inhaltliche Dimension / Maßnahmen der EU im<br />
Bereich konventioneller Waffen. Im Bereich konventioneller<br />
Rüstungsgüter (also Endprodukten im<br />
GegensatzzuDual-Use-Gütern)undderenExportist<br />
der Einfluss der EU auf ihre Mitgliedstaaten relativ<br />
gering, was sich v. a. aus Art. 296 EGV ergibt.<br />
Im Rahmen der GASP wirken in Bezug auf konventionelle<br />
Waffenexporte vor allem der sog. „Code of<br />
Conduct (CoC)“, Waffenembargos und eine Anzahl<br />
weitererInitiativen.DerCoCwurdevomMinisterrat<br />
am 8. 6. 1998 angenommen und beinhaltet Kriterien,<br />
unter denen Nationalstaaten den Export von Gütern<br />
verbieten müssen, zusammen mit Fällen, in denen<br />
die Nationalstaaten im Rahmen eigener Regelungen<br />
562<br />
von Fall zu Fall entscheiden können. Der CoC wird<br />
begleitet von Informationsaustausch und jährlicher<br />
Berichterstattung. Der CoC ist eher politisch als<br />
rechtlich bindend.<br />
Über Waffenembargos für bestimmte Staaten im<br />
Rahmen der GASP entscheidet die EU. Zur Zeit sind<br />
davon etwa zehn Staaten bzw. terroristische Gruppen<br />
betroffen. Zu Kontroversen führten die Äußerungen<br />
des deutschen Bundeskanzlers Schröder<br />
(2005), das EU-Waffenembargo gegen China aufzuheben,<br />
was die Probleme der zwischenstaatlichen<br />
Koordinierung im Rahmen der GASP unterstreicht.<br />
Seit 2003 werden die EU-Bemühungen bzgl. Embargos<br />
von einem gemeinsamen Standpunkt (2003/468<br />
GASP) im Rahmen der GASP flankiert, der das Umgehen<br />
(arms brokering) von UN-, OSZE- und<br />
EU-WaffenembargosdurchAkteureausEU-Staaten<br />
zu verhindern sucht.<br />
Weitere Aktivitäten im Rahmen der GASP betreffen<br />
v. a. die engere Abstimmung der Mitgliedstaaten auf<br />
EU- und internationaler Ebene bzgl. verschiedener<br />
Aspekte der Nichtverbreitung konventioneller Waffen,<br />
die Bekämpfung von arms trafficking (Waffenhandel<br />
durch organisierte Kriminelle zumeist in<br />
Konfliktregionen, z. B. im ehemaligen Jugoslawien)<br />
und diverse Programme bzgl. Verbreitung von<br />
Kleinwaffen (generell: Gemeinsame Aktion (2002/<br />
589/GASP), bzgl. bestimmter Länder wie Albanien<br />
(1999/846/GASP) oder Kambodscha (1999/730/<br />
GASP), bzgl. Land- bzw. Antipersonenminen (generell:<br />
Gemeinsame Aktionen (1997/817 – 819/ GASP)<br />
bzgl. bestimmter Aktionen wie Minenräumung in<br />
Kroatien (2000/231/GASP) und bzgl. Laserwaffen<br />
(95/379/GASP).<br />
Die institutionellen Foren für den Bereich der konventionellen<br />
Waffenkontrolle sind neben Kommission,<br />
Außenministerrat und z. T. dem �Politischen<br />
und sicherheitspolitischen Komitee die dem Ministerrat<br />
unterstehenden Arbeitsgruppen COARM<br />
(Working group on conventional arms, beschäftigt<br />
sichu.a.mitderUmsetzungdesCoC)undPOLARM<br />
(Working group on armaments policy, beschäftigt<br />
sich v. a. mit innereuropäischem Waffenhandel). Bedingt<br />
durch die zwischenstaatliche Arbeitsweise ist<br />
derEinflussvonCOARMundPOLARMbegrenzt.<br />
2.5 Inhaltliche Dimension/Maßnahmen der EU im<br />
Bereich Massenvernichtungswaffen. Ähnlich wie<br />
bei den konventionellen Waffen wird ein Großteil<br />
derRegelungenindiverseninternationalenRegimen
getroffen. Die EU und deren Mitgliedstaaten sind in<br />
fast allen wichtigen Regimen vollständig vertreten.<br />
Ausnahmen betreffen die neuen EU-Mitgliedstaaten,<br />
die in einer Anzahl von Regimen noch nicht<br />
Mitglieder sind.<br />
Die Masse der Maßnahmen auf EU-Ebene im Rahmen<br />
der GASP bezüglich ABC-Waffen bezieht sich<br />
auf Umsetzung und Weiterentwicklung bestehender<br />
internationalerRegime(z.B.1999/346/GASPinBezugaufdieBiologicalandToxinWeaponsConvention,<br />
1998/623/GASP in Bezug auf mehr Transparenz<br />
bei nuklearrelevanten Exportkontrollen oder 2000/<br />
297/GASP in Bezug auf die Haltung der EU zur Konferenz<br />
im Rahmen des Treaty on Non-proliferation<br />
of Nuclear Weapons und zum Haager Verhaltenskodex<br />
der Nichtverbreitung ballistischer Raketen<br />
2002). Die EU engagierte sich neben der Nichtverbreitung<br />
von ABC-Waffen auch in der Abrüstung<br />
von ABC-Beständen in Russland und der Ukraine in<br />
Rahmen der �Gemeinsamen Strategien bzgl. Russland<br />
und Ukraine. Seit 1996 beteiligt sich die EU in<br />
Rahmen von KEDO (Korean Peninsula Energy Development<br />
Organization) am Ausbau der zivil genutzten<br />
Atomenergie in Nordkorea (1996/195/<br />
GASP).<br />
Neue Dynamik der EU-NPP im Bereich ABC-<br />
Waffen. Vor allem die Weigerung des Iraks, mit<br />
UN-Waffenkontrolleuren zusammenzuarbeiten und<br />
die damals bestehende Annahme eines umfassenden<br />
ABC-Waffenprogramms zusammen mit diversen<br />
terroristischen Anschlägen lösten eine neue Dynamik<br />
der EU im Bereich ABC-Waffen ab 2003 aus.<br />
Die Initiative ergriff die damalige schwedische Außenministerin<br />
Anna Lindh, die das Thema Anfang<br />
2003 auf die Agenda des Außenministerrats setzte.<br />
2003 wurden eine Reihe von Schlüsseldokumenten<br />
veröffentlicht, allen voran die vom Hohen Vertreter<br />
Javier Solana vorgelegte EU-Sicherheitsstrategie,<br />
die Terrorismus, Proliferation von Massenvernichtungswaffen,<br />
regionale Konflikte, zusammengebrochene<br />
Staaten und organisierte Kriminalität als<br />
Hauptbedrohung für die EU und ihre Bürger sieht.<br />
Gerade der Bekämpfung von ABC-Waffen und Raketenproliferation<br />
wurde vom Ministerrat höchste<br />
Priorität eingeräumt. Weitere wichtige Dokumente<br />
sind die „Basic principles for an EU strategy against<br />
proliferation of weapons of mass destruction“ und<br />
der „Action Plan for the Implementation of the Basic<br />
Principles for an EU strategy against proliferation of<br />
Nichtverbreitungs- und Abrüstungspolitik<br />
mass destruction“ (beide 2003). Aus den genannten<br />
drei Dokumenten und einer Reihe weiterer ergeben<br />
sich die kurz- und langfristigen Maßnahmen, die die<br />
EU zur Bekämpfung der Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen<br />
eingeleitet hat bzw. einleiten<br />
wird.<br />
Die Kernelemente der EU-Strategie gegen WMD<br />
sind:<br />
– Stärkung multilateraler Übereinkünfte, also der<br />
bereits angesprochenen internationalen Übereinkünfte,<br />
– Stärkung der Exportkontrollregime (u. a. Dualuse),<br />
– Verstärkung internationaler Zusammenarbeit,<br />
z. B. im Zusammenhang mit den Gemeinsamen Strategien<br />
Russland und Ukraine,<br />
– Intensivierung des politischen Dialogs mit Drittstaaten,<br />
z. B. Korea, Iran.<br />
Zu den Softortmaßnahmen im Rahmen des Action<br />
Plans zählten: verstärkte diplomatische Bemühungen,<br />
Stärkung multilateraler Abkommen, Verlängerung<br />
der Zusammenarbeit mit der russischen Föderation<br />
bzgl. Abrüstung/ Non-Proliferation, finanzielle<br />
Unterstützung der internationalen Atomenergiebehörde<br />
und schneller Beitritt v. a. der neuen Mitgliedstaaten<br />
zu den entsprechenden Verträgen, Stärkung<br />
der Chemiewaffenkonvention (CWC), Stärkung der<br />
EU-Rolle bei Exportkontrollregimen.<br />
Die langfristigen Maßnahmen sollen u. a. das Thema<br />
WMDzumQuerschnittsthemaderEU-Politikenmachen,<br />
einen geographischen Fokus auf den Mittelmeerraum<br />
bzw. Nahen Osten bzgl. WMD Proliferation<br />
legen und beinhalten engere Zusammenarbeit<br />
mit den UN, Aufbau institutioneller Kapazitäten im<br />
Bereich Überwachung von WMD-Abrüstung/-Proliferation,<br />
stärkere Kontrolle im Bereich von ABC-<br />
Waffen bzw. relevanten Gütern.<br />
Das Risiko von Massenvernichtungswaffen für die<br />
EU und ihre Bürger und die Effizienz der EU-<br />
Bemühungen zur Senkung des Risikos sind schwer<br />
einzuschätzen. Zum Risiko: Flapsig formuliert ist es<br />
wohl sicher nicht so, dass sich unter jedem Stein ein<br />
bevorzugt islamistischer Terrorist mit Massenvernichtungswaffen<br />
versteckt. Die Beispiele USA, Madrid<br />
und Tokio zeigen jedoch, dass es entsprechend<br />
motivierte Akteure gibt. Weiterhin wären die Konsequenzen<br />
eines effektiv (!) durchgeführten BC-Anschlags<br />
verheerend und die rasche Reaktion seitens<br />
der EU auf die potentielle Bedrohung daher begrü-<br />
563
Niederlassungsfreiheit<br />
ßenswert.Dabeiistnichtauszuschließen,dassQuantität<br />
und Geschwindigkeit der oben beschriebenen<br />
Maßnahmen teilweise zu Lasten ihrer Qualität gehen.<br />
3. Bewertung/Aussichten: Die NPP der EU wurde<br />
eingangs als komplexes Puzzle beschrieben. Die EU<br />
kannnurbegrenzt–seiesdirektoderindirektüberdiverse<br />
Abkommen – auf die internationalen Entwicklungen<br />
Einfluss nehmen. Voranschreitende technische<br />
Entwicklung in ehemaligen Dritte-Welt-<br />
Staaten, Globalisierung und einfach verfügbares<br />
Wissen konterkarieren die Bemühungen der EU im<br />
Bereich Dual-use-Kontrolle zusehends. Intern<br />
kämpftdieEUebenfallsmitWidersprüchen,seienes<br />
Bestrebungen, selbst aufzurüsten und die daraus erwachsenden<br />
ökonomischen Interessen, sei es der Besitz<br />
von Atomwaffen seitens Frankreichs und Großbritanniens.<br />
Die Kompetenzaufteilung auf verschiedene<br />
Säulen zeigt ihre Defizite im Rahmen der NPP<br />
vor allem, wenn z. B. Entwicklungshilfe (der EG)<br />
und Sanktionen (der GASP) nicht ausreichend koordiniert<br />
werden.<br />
Schließlich wird eine effiziente NPP vor allem in Bezug<br />
auf Massenvernichtungswaffen nicht an den<br />
USA vorbeikommen, und zum jetzigen Zeitpunkt<br />
scheint es eher sinnvoll, die EU konzentrierte sich im<br />
Bereich NPP auf den Ausbau diplomatischer Mittel<br />
und einen konsequent multilateralen Ansatz und<br />
überließe den USA die „letzten Mittel“. Da mittelfristig<br />
ein vollkommener Schutz der EU gegen<br />
WMD unrealistisch ist, scheint es angezeigt, sich<br />
parallel zu den oben angesprochenen Maßnahmen<br />
mit aller Kraft an die Ursachenforschung und -bekämpfungzumachen.<br />
Ch. R.<br />
Literatur:<br />
Bundesregierung: Jahresabrüstungsbericht 2003. Im Anhang:<br />
„EU strategy against proliferation of weapons of mass<br />
destruction“<br />
Institute for Security Studies (ISS): div. Chaillot Papers (63,<br />
66, 69, 77), Sammlung von Primärquellen (59, 67, 75),<br />
im Internet: www.iss-eu.org/<br />
Mawdsley, J./Martinelli, M./Remacle, E. (Hg.): Europe and the<br />
Global Arms Agenda: Security, Trade and Accountability.<br />
Baden-Baden 2004<br />
SIPRI: SIPRI Yearbooks<br />
Niederlassungsfreiheit bezeichnet das Recht jedes<br />
EU-Bürgers, an einem beliebigen Ort innerhalb<br />
der EU nach den dort geltenden Bestimmungen selbständig<br />
eine gewerbliche, landwirtschaftliche oder<br />
freiberufliche Erwerbstätigkeit auszuüben oder ein<br />
564<br />
Unternehmen zu gründen bzw. zu leiten (Art. 43 ff.<br />
EGV). Die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates<br />
gegründeten Gesellschaften haben<br />
ebenfalls Niederlassungsrecht innerhalb der EU und<br />
können Agenturen, Zweigniederlassungen oder<br />
Tochtergesellschaften gründen. Das Niederlassungsrecht<br />
gilt auch für Arbeitnehmer aus einem<br />
Mitgliedstaat, die in einem anderen Mitgliedstaat beschäftigt<br />
sind und sich selbständig machen möchten.<br />
Die für eine Niederlassung nötige Nutzung von<br />
Grundstücken oder der Erwerb von Grundstücken<br />
müssen ermöglicht werden. Einschränkungen der<br />
Niederlassungsfreiheit aufgrund unterschiedlicher<br />
nationaler Berufsregelungen oder Zulassungsvoraussetzungen<br />
sind im �Binnenmarkt bereits weitgehend<br />
durch �gegenseitige Anerkennung von Diplomen<br />
und Zeugnissen (nach Art. 47 EGV) aufgehoben.<br />
Die Niederlassungsfreiheit gilt seit 1991 für alle<br />
akademischen Berufe, sofern die betreffenden Personen<br />
ein mindestens dreijähriges wissenschaftliches<br />
Hochschulstudium und eine entsprechende Praxis<br />
vorweisen können sowie den nationalen Vorschriften<br />
des Aufenthaltslandes entsprechen (z. B.<br />
Sprachkenntnisse, Kenntnis der Rechtsordnung, der<br />
Standesvorschriften u. dgl.). Auch Befähigungsnachweise<br />
unterhalb des Hochschulniveaus (z. B.<br />
Meisterprüfungen) werden EU-weit anerkannt.<br />
�Freizügigkeit W. M.<br />
Nomenklaturen. Systematische Klassifizierung<br />
von Begriffen, insbes. für statistische Zwecke oder<br />
zur Normung von Verfahren.<br />
In der EU werden Nomenklaturen im Amtsblatt der<br />
Europäischen Union veröffentlicht. Beispiele: Classification<br />
of Products According to Activities (CPA;<br />
Güterklassifikation in Zusammenhang mit den Wirtschaftszweigen),<br />
veröffentlicht in Abl. L 342 vom<br />
31. 12. 1993; Common Procurement Vocabulary<br />
(CPV; Gemeinsames Vokabular für öffentliche Aufträge).<br />
Nomenklaturen der EU sind in der Regel konform<br />
mit internationalen Nomenklaturen, z. B. der WTO<br />
oder den UN.<br />
Nordischer Rat, seit 1952 ein Forum für regionale<br />
interparlamentarische Zusammenarbeit zwischen<br />
Dänemark, Finnland, Island, Norwegen und Schweden<br />
sowie den drei autonomen Territorien Grönland,<br />
Färöer und Åland. Mitglieder sind 87 aus den natio-
nalen Parlamenten entsandte Abgeordnete: 7 aus Island<br />
und je 20 aus den übrigen vier Staaten, wobei die<br />
dänische Delegation 2 Abgeordnete aus Grönland<br />
und 2 aus Färöer enthält, die finnische 2 aus Åland.<br />
Der Nordische Rat tagt seit 1996 einmal jährlich und<br />
kann sich außerdem zu Sondersitzungen treffen. Die<br />
Arbeit erfolgt im Plenum sowie in 4 Fraktionen und 5<br />
Ständigen Ausschüssen: Kultur/Bildung/Ausbildung/Forschung,<br />
Soziales/Gesundheit, Bürger-/<br />
Verbraucherrechte, Umwelt/natürliche Ressourcen,<br />
Arbeit/Industrie.<br />
Der Nordische Rat kann Empfehlungen an den Nordischen<br />
Ministerrat geben, seit 1971 das Forum für<br />
Zusammenarbeit der Regierungen. Der Ministerrat<br />
tagt auf Ebene der Premierminister und der Fachminister.<br />
Die Premierminister treffen sich stets vor Tagungen<br />
des Europäischen Rats der EU.<br />
Der Nordische Rat hat 1954 einen einheitlichen<br />
skandinavischenArbeitsmarktgeschaffen. W. M.<br />
Anschrift des Sekretariats: Nordic Council, P.O. Box 3043,<br />
Store Strandstræde 18, DK-1021 Kopenhagen.<br />
NORMAPME, Europäisches Büro des Handwerks<br />
und der Klein- und Mittelbetriebe für die Normung.<br />
1996 mit Unterstützung der Europäischen Kommission<br />
gegründet, Sitz in Brüssel. �CEN<br />
Normenhierarchie. Mit dem Begriff der Normenhierarchie<br />
wird die Frage nach der Rangfolge von<br />
Vorschriften beschrieben. Regelmäßig stellt sich bei<br />
zwei oder mehreren sich widersprechenden Vorschriften<br />
die Frage, welcher von ihnen Folge zu leisten<br />
ist.<br />
Für den Bereich des europäischen Gemeinschaftsrechts<br />
lässt sich feststellen, dass das sog. primäre Gemeinschaftsrecht<br />
(Gründungsverträge, Protokolle<br />
zu den Verträgen und allgemeine Rechtsgrundsätze<br />
des Gemeinschaftsrechts) dem sekundären Gemeinschaftsrecht,<br />
also den Verordnungen, Richtlinien<br />
undEntscheidungen(�RechtsaktederEU)vorgeht.<br />
Ungleich bedeutsamer als die Hierarchie gemeinschaftsrechtlicher<br />
Normen untereinander ist jedoch<br />
die Frage der Normenhierarchie des Gemeinschaftsrechts<br />
zum Recht eines Mitgliedstaates. Der EuGH<br />
hat diese Frage in der sog. �Costa/ENEL-Entscheidung<br />
aus dem Jahre 1964 bereits sehr früh dahingehend<br />
entschieden, dass Gemeinschaftsrecht, welches<br />
den Befugnissen der Verträge entsprechend gesetzt<br />
wurde, jedem entgegenstehenden nationalen<br />
Normung<br />
Recht vorgeht. Auch eine Richtlinie oder Entscheidung<br />
auf Gemeinschaftsebene kann deshalb die Anwendbarkeit<br />
nationalen Verfassungsrechts hindern.<br />
Gemeinschaftsrechtlich wird dies mit Art. 10 Abs. 2<br />
EGV begründet, wonach die Mitgliedstaaten alle<br />
Maßnahmen unterlassen, welche die Verwirklichung<br />
der Ziele des Vertrages gefährden können.<br />
Rechtsfolge dieser Vorrangregel im Kollisionsfall<br />
ist, dass dem Gemeinschaftsrecht widersprechendes<br />
nationales Recht zwar nicht nichtig, wohl aber – im<br />
konkretenFall–unanwendbarist. Ch. S.<br />
Normung, technische Normen<br />
1. Begriff und Grundlagen: Normen sind technische<br />
Dokumente, die öffentlich zugänglich sind, deren<br />
Anwendung jedermann freisteht und die auf gesicherten<br />
Ergebnissen von Wissenschaft, Technik und<br />
Erfahrung aufbauen. Sie werden von den interessierten<br />
Kreisen nach konsensorientierten Verfahren unter<br />
der Schirmherrschaft anerkannter Normungsorganisationen<br />
erarbeitet und von Letzteren unter deren<br />
Namen herausgegeben (DIN-Normen, Normes<br />
NF, BS Standards, usw.).<br />
Normen enthalten Festlegungen über technische Erzeugnisse,<br />
Verfahren und Dienstleistungen, über<br />
Verständigung, Produkteigenschaften, Prüfungen,<br />
Lieferbedingungen,Schnittstellenu.a.m.Dabeiwerden<br />
die Verbesserung der Eignung von Erzeugnissen,<br />
Verfahren und Dienstleistungen für ihren geplanten<br />
Zweck, die Vermeidung von HandelshemmnissenunddieErleichterungdertechnischenZusammenarbeit<br />
angestrebt.<br />
Normen sind keine technischen Vorschriften. Letztere<br />
enthalten vielmehr verbindliche rechtliche Festlegungen<br />
und werden von Behörden erstellt. Technische<br />
Vorschriften können aber auf verschiedene<br />
Weisen auf Normen Bezug nehmen und sich so den<br />
darin enthaltenen Sachverstand zu eigen machen.<br />
AufvielenGebietenhatsicheineArbeitsteilungzwischenStaatundprivaterNormungentwickelt,häufig<br />
in dem Sinne, dass durch Gesetz rechtliche Rahmenbedingungen<br />
in Fragen Sicherheit und Gesundheitsschutzvorgegebenwerden.TechnischeEinzelheiten<br />
können dann durch Verweis auf die „Anerkannten<br />
Regeln der Technik“ ausgefüllt werden.<br />
2. Entwicklung der europäischen Normung: Viele<br />
der heute bestehenden Normungsorganisationen<br />
wurdenbereitszuBeginndesvorigenJhs.gegründet.<br />
1917 entstand der Normenausschuss der Deutschen<br />
565
Normung<br />
Industrie (später DIN Deutsches Institut für Normung).<br />
1926 wurde ein internationaler Verband der<br />
nationalen Normungsorganisationen (ISA) gebildet<br />
und 1946 dessen Nachfolgeorganisation, die Internationale<br />
Organisation für Normung (ISO). Besonders<br />
alt sind das Britische Normungsinstitut (BSI,<br />
1901) und die Internationale Elektrotechnische<br />
Kommission (IEC, 1906).<br />
Die Europäischen Komitees für Normung (�CEN)<br />
und Elektrotechnische Normung (�CENELEC) entstanden<br />
Anfang der 1960er Jahre, nachdem 1957<br />
durch die Römischen Verträge die EWG und die<br />
EURATOMgegründetwordenwaren.1987gingdas<br />
Europäische Institut für Telekommunikationsnormen<br />
(ETSI) aus der Normungstätigkeit der Europäischen<br />
Konferenz der Post- und Fernmeldeverwaltungen<br />
hervor.<br />
Ab Mitte der 1980er Jahre entwickelte sich eine<br />
förmliche Zusammenarbeit zwischen den europäischen<br />
Normungsorganisationen und der Europäischen<br />
Kommission, insbes. im Zusammenhang mit<br />
dem europäischen Informationsverfahren für Normen<br />
und Technische Vorschriften (siehe Ziff. 4).<br />
3. Internationale und Europäische Normung: Die Internationale<br />
Organisation für Normung (ISO), die<br />
Internationale Elektrotechnische Kommission<br />
(IEC), die Europäischen Komitees für Normung und<br />
Elektrotechnische Normung (CEN/CENELEC) sowie<br />
das Europäische Institut für Telekommunikationsnormen<br />
(ETSI) sind privatrechtliche Vereinigungen<br />
nach schweizerischem, belgischem bzw.<br />
französischem Recht. Sie haben – ausgenommen<br />
ETSI – je Land nur ein Mitglied (gewöhnlich das nationale<br />
Normeninstitut), das die gesamten Normungsinteressen<br />
dieses Landes zu vertreten hat. Abgesehen<br />
von der „gewichteten Abstimmung“ bei der<br />
Annahme Europäischer Normen hat jedes Mitglied<br />
jeweils eine Stimme.<br />
DerzeitsindinCEN/CENELEC28Ländervertreten,<br />
insbes. die Mitgliedsländer der EU und der EFTA.<br />
International sind es 64 Länder bei der IEC und 148<br />
Länder bei der ISO (die als einzige der genannten OrganisationeneinenhohenAnteilvonMitgliedernaus<br />
der Dritten Welt aufweist). Zwischen ISO und CEN<br />
sowie zwischen IEC und CENELEC gibt es Kooperationsabkommen,<br />
im Rahmen derer die wechselseitige<br />
Übernahme oder Anerkennung von Arbeitsergebnissen<br />
möglich ist. Hauptergebnisse der internationalenundeuropäischenNormungsorganisationen<br />
566<br />
sind Internationale und Europäische Normen. Zu<br />
Einzelthemen, die für eine Normenveröffentlichung<br />
(noch) nicht geeignet sind (z. B. wegen einer noch<br />
nicht in der Praxis erprobten Technologie oder auf<br />
Gebieten mit hohem Innovationsgrad), können vorbereitende<br />
oder vorläufige Dokumente (Technische<br />
Spezifikationen, Fachvereinbarungen [Workshop<br />
Agreements]oderFachberichte[TechnicalReports])<br />
veröffentlicht werden.<br />
Die Internationalen Normen der ISO und IEC werden<br />
als eigenständige Publikationen veröffentlicht<br />
und können direkt (etwa in internationalen Geschäftsverträgen)<br />
angewendet werden. Sie stellen<br />
gleichzeitig Empfehlungen an die ISO- und IEC-<br />
Mitglieder dar, entsprechende nationale Normen herauszugeben;<br />
eine konkrete Verpflichtung hierzu<br />
(etwa durch Satzung) besteht jedoch nicht.<br />
Europäische Normen werden nicht als eigenständige<br />
Dokumente, sondern nur als nationale Fassungen<br />
veröffentlicht. Bis auf wenige Ausnahmefälle sind<br />
alle CEN/CENELEC-Mitglieder verpflichtet, angenommenen<br />
Europäischen Normen – auch mehrheitlich<br />
angenommenen – innerhalb einer bestimmten<br />
Frist den Status einer nationalen Norm zu geben und<br />
abweichende nationale Normen zurückzuziehen.<br />
4. Die Rolle der Normung im Europäischen Binnenmarkt:<br />
Der Europäische Binnenmarkt mit seinem<br />
Ziel des freien Warenverkehrs erfordert die Angleichung<br />
der einzelstaatlichen Vorschriften, nationalen<br />
Normen und Prüf-, Zertifizierungs- und Zulassungsverfahren.<br />
Nationale Normen können zwar keine<br />
förmlichen Handelshemmnisse verursachen, denn<br />
sie sind freiwillig angewandte Empfehlungen und<br />
entstehen hauptsächlich dort, wo der Markt und die<br />
Wirtschaft sie zur Beschreibung des Standes der<br />
Technik als notwendig erachten. Durch Verweisungen<br />
in Rechtsvorschriften und das Kaufverhalten der<br />
Verbraucher können sie sich aber indirekt auf den<br />
Warenverkehr auswirken. Dies gilt um so mehr,<br />
wenn von maßgeblichen Stellen (Kunden, Aufsichtsbehörden)<br />
Konformitätsnachweise verlangt<br />
werden.<br />
Angewandte Mittel zur Beseitigung der durch technische<br />
Vorschriften verursachten Handelsschranken<br />
sind die �gegenseitige Anerkennung von Vorschriften<br />
und Prüfergebnissen einerseits oder die �Harmonisierung<br />
von Vorschriften und Prüfverfahren andererseits.<br />
Die vollständige Harmonisierung der technischen<br />
Vorschriften durch EG-Richtlinien in den
1960er und 1970er Jahren nahm von der Normung<br />
zunächst keine Notiz, vielmehr wurden in „Technischen<br />
Anhängen“ zu den Richtlinien alle erforderlichen<br />
Einzelheiten gesetzlich festgelegt, was sich<br />
bald als schwerfällig und ineffektiv erwies.<br />
Zu einer Änderung dieser Politik kam es durch die<br />
EG-Richtlinie über das Informationsverfahren für<br />
NormenundTechnischeVorschriften(98/34,ABl.L<br />
204/1998, geändert durch RL 98/48, ABl. L 217/<br />
1998). Diese Richtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten<br />
zur Meldung ihrer geplanten nationalen technischen<br />
Rechtsakte sowie die nationalen Normungsorganisationen<br />
zur Offenlegung ihrer Arbeitsprogramme.<br />
In der Praxis hat dies zu einem regen Kommunikationsprozess<br />
zwischen den Beteiligten und<br />
zu einer intensiven Zusammenarbeit geführt. So<br />
werden inzwischen Europäische Normen regelmäßig<br />
im Rahmen des „Neuen Konzepts“ (siehe Ziff. 5)<br />
zur Ausfüllung von Sicherheitsanforderungen in<br />
EG-Richtlinien herangezogen.<br />
5. Neues Konzept der technischen Harmonisierung<br />
und Normung: Dieses 1985 begründete Prinzip ermöglicht<br />
es, durch die Veröffentlichung relativ weniger<br />
Richtlinien eine große Zahl von Produkten zu<br />
erfassen. Die jeweilige Richtlinie enthält die grundlegenden<br />
Anforderungen und gemeinsamen Schutzziele<br />
für einen bestimmten Sektor (z. B. Maschinen,<br />
Bauprodukte, medizinische Geräte). Sie muss von<br />
den Mitgliedstaaten inhaltlich in nationales Recht<br />
umgesetzt werden. Durch Konformitätsbewertungsverfahren<br />
wird die Übereinstimmung mit den grundlegenden<br />
Anforderungen der Richtlinie festgestellt<br />
und bestätigt. Art und Strenge der Bewertungsverfahren<br />
richten sich nach den Risiken der Produkte<br />
undwerdeninderjeweiligenRichtliniefestgelegt.<br />
„Harmonisierte“ Europäische Normen füllen die<br />
grundlegenden Anforderungen aus und geben beispielhafte<br />
technische Lösungen an. Sie müssen von<br />
den europäischen Normungsorganisationen im Rahmen<br />
von Normungsaufträgen der EU („unter Mandat“)<br />
erarbeitet werden und technische Einzelheiten<br />
zur Erfüllung der in der Richtlinie aufgestellten<br />
grundlegenden Anforderungen bieten. Ferner müssen<br />
sie im Amtsblatt angekündigt werden. Ihre Anwendung<br />
bei der Herstellung eines Produktes führt<br />
zur Vermutung der Konformität des Produktes mit<br />
der Richtlinie. Die Normen bleiben jedoch freiwillige<br />
Empfehlungen; die Hersteller behalten die Freiheit,<br />
abweichend von der Norm zu produzieren und<br />
die Konformität mit der Richtlinie mit anderen Mitteln<br />
nachzuweisen.<br />
Im Verlauf der vergangenen Dekade haben die Europäische<br />
Kommission, der Rat der Europäischen<br />
Union und auch das Europäische Parlament wiederholt<br />
die erfolgreiche Rolle der europäischen Normung<br />
im Zusammenhang mit der Vollendung des<br />
Binnenmarktes gewürdigt und Vorschläge zur breiteren<br />
Anwendung der Normung in der Gemeinschaftspolitik<br />
unterbreitet. Hierbei werden neuerdings<br />
auch wesentliche Gesichtspunkte im Zusammenhang<br />
der EU-Erweiterung angesprochen. So<br />
nennt die Kommission in einer aktuellen Mitteilung<br />
an Rat und Parlament über eine verbesserte Umsetzung<br />
der Richtlinien des neuen Konzepts das Letztere<br />
„eine solide Grundlage für Verhandlungen mit<br />
Drittländern über vielfältige Maßnahmen zum Abbau<br />
technischer Handelshemmnisse“. In der Praxis<br />
führt dies dazu, dass Kandidatenländer für einen<br />
EU-Beitritt bei CEN/CENELEC mit einer Art Gaststatus<br />
(als Affiliates) bereits vor einer Vollmitgliedschaft<br />
an der europäischen Normung teilhaben und<br />
geeigneteVorbereitungenfürdieTeilnahmeamBinnenmarkttreffenkönnen.<br />
K. P. Sch.<br />
Dokumente:<br />
Entschließung des Rates vom 7. 5. 1985 über eine neue<br />
Konzeption auf dem Gebiet der technischen Harmonisierung<br />
und der Normung. ABl. C 136/1985<br />
Entschließung des Rates vom 28. 10. 1999 über die Funktion<br />
der Normung in <strong>Europa</strong>; ABl. C 141/2000<br />
Entschließung des Rates vom 10. 11. 2003 zur Mitteilung der<br />
Europäischen Kommission „Verbesserte Umsetzung der<br />
Richtlinien des neuen Konzepts“; ABl. C 282/2003<br />
Nothaushalt �Haushaltsverfahren<br />
Notstandsverfahren<br />
Notruf 112giltinallenStaatenderEUundderEFTA<br />
für Feuerwehr, Polizei und Rettungsdienste neben<br />
evtl. bestehenden anderen nationalen Notrufnummern.<br />
Die Einführung der einheitlichen europäischenNotrufnummergehtaufeineEntscheidungdes<br />
Rates vom 29. 7. 1991 zurück (91/396, ABl. L 217/<br />
1991) sowie auf eine folgende Richtlinie des Europäischen<br />
Parlaments und des Rates vom 7. 3. 2002<br />
(2002/21, ABl. L 208/2002). Um die Kenntnis und<br />
Nutzung der europäischen Notrufnummer zu fördern,<br />
wurde die European Emergency Number Association<br />
(EENA) mit Sitz in Belgien gegründet.<br />
Notstandsverfahren. In den Europäischen VerträgenwarbislangwederdieMöglichkeitdesAustrittes<br />
567
Novel-Food-Verordnung<br />
noch des Ausschlusses eines Mitgliedstaats aus der<br />
EU vorgesehen. Mit Inkrafttreten des Amsterdamer<br />
Vertrags am 1. 5. 1999 wurde jedoch in den Artikeln<br />
7 EUV und 309 EGV / 96 EGKSV / 204 EAGV – aus<br />
Sorge vor großen politischen Veränderungen bzw.<br />
fundamentalen Umstürzen in den noch wenig gefestigten<br />
„jungen Ost-Demokratien“ – ein neuartiges<br />
Notstandsverfahren in die Vertragswerke eingefügt.<br />
Hiernachhätteseitherbei„schwerwiegenderundanhaltender<br />
Verletzung“ der freiheitlich-demokratischen<br />
EU-Grundordnung beschlossen werden können,<br />
für den betreffenden Mitgliedstaat bestimmte<br />
Rechte, die sich aus der Vertragsanwendung herleiten,<br />
einschl. der Stimmrechte des Regierungsvertreters<br />
im Rat, auszusetzen.<br />
Als Reaktion auf die Aktion gegen �Österreich<br />
(2000) weitete der Vertrag von Nizza das Notstandsverfahren<br />
aus. Dessen Einleitung setzt künftig nicht<br />
mehr die schwerwiegende und anhaltende Verletzung<br />
der freiheitlich-demokratischen EU-Grundordnung<br />
voraus. Vielmehr genügt hierfür schon die<br />
„eindeutige Gefahr“. Artikel 7 EUV wurde mithin<br />
umeineArtWarnvorstufeergänzt,dienunmehrauch<br />
vom Parlament mit herbeigeführt und in der das – im<br />
Fall Österreich erprobte – Instrument des „Berichts<br />
der Weisen“ eingesetzt werden kann. Bei allen Sanktionen<br />
sollen immer die möglichen Auswirkungen<br />
auf die Rechte und Pflichten natürlicher und juristischer<br />
Personen Berücksichtigung finden.<br />
Inwieweit das Instrument des EU-Notstandsverfahrens<br />
tatsächlich praktikabel ist, wird die Zukunft<br />
zeigen. Sicher würde schon die Einleitung eines<br />
solchen Verfahrens disziplinierende Wirkung<br />
zeigen.Klarist,dassdieUnioninletzterKonsequenz<br />
nichtübereinschneidendeZwangsmittelverfügt,um<br />
ein dauerhaft gemeinschaftsfeindliches Verhalten –<br />
wie etwa einen faktischen Austritt bzw. eine wiederkehrende<br />
Politik des „leeren Stuhls“ – sicher zu unterbinden.<br />
J. M. B.<br />
Novel-Food-Verordnung. Am 15. 5. 1997 trat die<br />
Verordnung 258/97 des Europäischen Parlaments<br />
und des Rates vom 27. 1. 1997 über neuartige Lebensmittel<br />
und neuartige Lebensmittelzutaten (ABl.<br />
L 43/1997) nach einem langwierigen und sehr kontrovers<br />
verlaufenden Rechtsetzungsverfahren als<br />
unmittelbar geltendes Recht in Kraft.<br />
Die Novel-Food-Verordnung (NF-VO) führt insbes.<br />
ein präventives Kontroll- und Zulassungsverfahren<br />
568<br />
sowie ein Kennzeichnungssystem für „Genprodukte“<br />
ein. Zwar wurde bewusst keine abschließende<br />
Definition der erfassten Produkte vorgenommen,<br />
dennoch lassen sich insoweit drei Kategorien benennen<br />
(Art. 1 Abs. 2 NF-VO): Die erste Kategorie betrifft<br />
alle Lebensmittel und Lebensmittelzutaten, die<br />
genetisch veränderte Organismen (sog. GVO) im<br />
Endprodukt enthalten oder die aus solchen bestehen.<br />
Als bekanntes Beispiel hierfür kann die „Flavr-<br />
Savr“-Tomate genannt werden. Erfasst werden aber<br />
auch Verarbeitungsprodukte wie bspw. Tomatenmark<br />
oder -saft. Die zweite Kategorie betrifft Erzeugnisse,<br />
die aus genetisch veränderten Organismen<br />
hergestellt wurden, solche aber im Endprodukt<br />
selbstnichtmehrenthalten.AlsBeispielhierfürkann<br />
etwa Käse genannt werden, bei dessen Herstellung<br />
das aus GVO gewonnene Enzym Chymosin verwendet<br />
wurde. Bei der dritten Kategorie bildet nicht die<br />
Gentechnik, sondern die Verwendung sonstiger neuartiger<br />
Verfahren den Anknüpfungspunkt. Grundgedanke<br />
hierbei ist, dass ein nicht übliches Herstellungsverfahren<br />
eine bedeutende Veränderung der<br />
Lebensmittelstruktur oder -zusammensetzung (im<br />
Hinblick auf die Menge unerwünschter Stoffe, den<br />
Nährwert oder die Folgen für den menschlichen<br />
Stoffwechsel) herbeiführen kann. Auch die in nicht<br />
üblichen Verfahren produzierten Lebensmittel gelten<br />
als Novel-Food.<br />
Sinn und Zweck der NF-VO ist die Herbeiführung<br />
von Rechtssicherheit sowie insbes. der �Verbraucherschutz.<br />
Nach Art. 3 Abs.1 der Verordnung dürfen<br />
„Novel Food“ für den Verbraucher keine Gefahr<br />
darstellen, keine Irreführung bewirken und sich von<br />
vergleichbaren Lebensmitteln oder Lebensmittelzutaten,<br />
die sie ersetzen sollen, nicht so unterscheiden,<br />
dass ihr normaler Konsum Ernährungsmängel mit<br />
sich brächte.<br />
Der Verbraucherschutz soll durch folgendes – vereinfachtdargestelltes–Genehmigungsprozederegewährleistet<br />
werden: Die Einleitung des Verfahrens<br />
geschieht durch die Stellung eines qualifizierten Antrags<br />
bei der nationalen Zulassungsbehörde. Qualifiziert<br />
bedeutet, dass dem Antrag eine Kopie der<br />
durchgeführten Gefahrstudien, vorangegangene<br />
Entscheidungen nach dem Gentechnikrecht sowie<br />
einangemessenerVorschlagfürdieLebensmitteletikettierung<br />
beigefügt werden muss. Sodann veranlasst<br />
die nationale Lebensmittelprüfstelle eine Erstprüfung.GelangtsiehierbeizueinempositivenPrüf-
ericht, hat dennoch jeder Mitgliedstaat und auch die<br />
Kommission die Möglichkeit, einen begründeten<br />
Einwand gegen die Marktzulassung zu erheben. Nur<br />
wenn kein Einwand erhoben wird, erteilt die zuständige<br />
Behörde eine sog. mitgliedstaatliche Genehmigung<br />
zum Inverkehrbringen des Produkts, die gemeinschaftsweite<br />
Wirkung hat. Das Zulassungsverfahren<br />
ist dann abgeschlossen. Gelangt die nationale<br />
Lebensmittelprüfstelle dagegen zu einem negativen<br />
Prüfbericht oder werden Einwände erhoben, so geht<br />
die Verfahrensherrschaft automatisch auf die EG-<br />
Ebene über. Entscheidungsbefugt ist nunmehr die<br />
Kommission, die vom sog. Ständigen sowie vom<br />
Wissenschaftlichen Lebensmittelausschuss bei der<br />
Prüfung möglicher Gefahren für die öffentliche Gesundheit<br />
unterstützt wird. Die Kommission kann den<br />
Antrag schließlich ablehnen oder eine sog. Gemeinschaftsgenehmigung<br />
erteilen. Es sei noch erwähnt,<br />
dass für die einzelnen Verfahrensabschnitte detaillierte<br />
Fristen gelten. Bei Erteilung einer GenehmigungkönnendemAntragstellerzudemAuflagenund<br />
insbes. rechtsverbindliche Kennzeichnungs- bzw.<br />
Etikettierungsvorgaben gemacht werden. Die Kennzeichnung<br />
ist Pflicht, wenn ein Produkt nicht mehr<br />
den (vergleichbaren) bestehenden Lebensmitteln<br />
„gleichwertig“ ist, wenn vorhandene Stoffe, die in<br />
vergleichbaren Lebensmitteln nicht enthalten sind,<br />
die Gesundheit bestimmter Bevölkerungsgruppen<br />
beeinflussen können, wenn vorhandene Lebensmittelzutaten<br />
„ethische Vorbehalte“ auslösen bzw.<br />
wenn ein Produkt gentechnisch veränderte Organismen<br />
enthält (Art. 8 Abs. 1 NF-VO).<br />
Die NF-VO hat zu kontroversen Diskussionen geführt.<br />
Moniert werden die unter rechtsstaatlichen<br />
Kriterien vielfach als höchst unbestimmt zu bezeichnenden<br />
Rechtsbegriffe der Verordnung. Was bspw.<br />
ist unter „Gefahr“ für den Verbraucher, was unter<br />
„ethischen Vorbehalten“ zu verstehen? Beanstandet<br />
wirdweiterdasFehlendynamischerGrundpflichten,<br />
die den Hersteller auch nach der Zulassung zur Produktbeobachtung,<br />
Aufzeichnung und rechtzeitigen<br />
Nachinformation der Verbraucher verpflichten. Aus<br />
Kreisen der Gentechnik-Gegner wird die Verordnung<br />
meist pauschal als unzureichend abgelehnt.<br />
Nur das Verbot der neuartigen Nahrungsmittel könne<br />
als sinnvolle Lösung akzeptiert werden. Aus Kreisen<br />
der Hersteller, Industrie und Forschung dagegen<br />
wird die NF-VO als unverhältnismäßig bzw. zumindest<br />
in Teilbereichen als überflüssig eingestuft. In<br />
keinem Fall hätten sich bisher die beim Einsatz von<br />
Gentechnik vermuteten Risiken realisiert. Angezweifelt<br />
wird zudem, ob die vorgesehene Einzelfallprüfung<br />
auf Dauer sinnvoll ist (vgl. zur NF-VO umfassend<br />
Wahl/Groß, DVBl. 1998, 2).<br />
Die Amerikaner sind recht großzügig bei der Zulassung<br />
von Gen-Nahrung. Sie sind überzeugt, dass<br />
Gen-Pflanzen ebenso sicher sind wie auf klassische<br />
Weise gekreuzte Gewächse. Deshalb gibt es in den<br />
USA keine Kennzeichnungspflicht und wenig Verständnis<br />
für Vorbehalte besonders der Deutschen gegenüber<br />
der Gen-Technik. Die Zukunft wird zeigen,<br />
ob dem Gemeinschaftsgesetzgeber mit der NF-VO<br />
und den noch erforderlichen konkretisierenden Ausführungsbestimmungen<br />
ein angemessener Ausgleich<br />
der widerstreitenden Interessen gelungen ist.<br />
Auch der EuGH, der sich bisher im Novel-Food-<br />
Bereich nur sehr zurückhaltend geäußert hat (vgl.<br />
Öko-Landbau-Urteil vom 13. 7. 1995, C 156/93,<br />
DVBl. 1995, 1285), wird sicherlich zur Klärung offenerFragenbeitragen.<br />
J. M. B.<br />
NRO �Nichtregierungsorganisation<br />
NTA �Neue Transatlantische Agenda<br />
NRO<br />
NUTS (nomenclature commune des unités territoriales<br />
statistique) ist die Klassifikation der Gebietseinheiten<br />
in der EU für die Statistik. Zu Beginn der<br />
1970er Jahre vom Statistischen Amt der Europäischen<br />
Gemeinschaften (eurostat) geschaffen, durch<br />
Verordnung (EG) Nr. 1059/2003 ersetzt durch die<br />
von der EU geschaffene Klassifikation NUTS (seit<br />
11. 7. 2003 in Kraft). Die NUTS-Klassifikation unterteilt<br />
das Wirtschaftsgebiet der Mitgliedstaaten<br />
hierarchischindreiEbenen,denenbestimmteBevölkerungsgrenzen<br />
entsprechen: NUTS 1 hat eine Untergrenze<br />
von 3 und eine Obergrenze von 7 Mio. Einwohnern,<br />
für NUTS II sind die Werte 800 000 und<br />
3 Mio. bestimmend, für NUTS III 150 000 und<br />
800000.WenndieBevölkerungeinesMitgliedstaats<br />
unter einer der genannten Obergrenzen bleibt, ist der<br />
gesamte Staat eine NUTS-Einheit der entsprechenden<br />
Ebene. �Regionen.<br />
569
Obligatorische Ausgaben<br />
Obligatorische Ausgaben (OA) und nichtobligatorische<br />
Ausgaben (NOA) waren vor 1993 nicht eindeutigvoneinanderzutrennen.DerUnterschiedzwischen<br />
beiden ist politisch definiert, nicht vertraglich.<br />
Das EP kann derzeit nach Art. 272 Abs. 4 EGV bei<br />
den Beratungen der Haushaltsbehörde über den Entwurf<br />
des Haushaltsplans Änderungen in Bezug auf<br />
Ausgaben, die sich zwingend aus dem Vertrag oder<br />
dem daraus abgeleiteten Sekundarrecht ergeben, nur<br />
vorschlagen. Für diese OA hat der Rat das letzte<br />
Wort, während das EP bei den NOA Änderungen<br />
vornehmen kann. Um Konflikte bei der Einstufung<br />
der Ausgaben zu vermeiden, haben EP, Rat und<br />
Kommission in einer Gemeinsamen Erklärung vom<br />
30. 6. 1982 (ABl. C 194 vom 28. 7. 1982) eine (nicht<br />
sehr konkrete) Definition zu geben versucht und in<br />
einer Liste alle damals bestehenden Haushaltslinien<br />
nach OA und NOA eingestuft. Die Kommission sollte<br />
im Vorentwurf des Haushaltsplans bereits eine<br />
Einstufung vornehmen, die anschließend von den<br />
Präsidenten der drei Organe in einem Trilog endgültig<br />
festgelegt wurde. In einer Institutionellen Vereinbarung<br />
vom 29. 10. 1993 (ABl. C 331 vom 7. 12.<br />
1993) kamen die Organe überein, alle Ausgaben für<br />
strukturpolitische Maßnahmen sowie für interne Politikbereiche<br />
als NOA einzustufen. OA sind danach<br />
nur die Ausgaben für den �EAGFL, Abteilung Garantie,<br />
bestimmte externe Ausgaben (z. B. im Rahmen<br />
von Fischereiabkommen) sowie Altersversorgungsausgaben<br />
für Beamte und Bedienstete der<br />
EU-Organe.<br />
Der Vertrag über eine Verfassung für <strong>Europa</strong> will die<br />
Einteilung in OA und NOA aufheben und damit die<br />
Haushaltsrechte des EP weiter stärken.<br />
OBNOVA. Die EU-Kommission hat zur WiederaufbauhilfefürdievomBürgerkriegschwerbetroffenen<br />
Teile des ehemaligen Jugoslawiens (faktisch: Bosnien<br />
und Herzegowina) spezielle Mittel bereitgestellt,dienichtdenherkömmlichenStrukturenbestehender<br />
EU-Programme entsprechen. Für sie wurden<br />
spezifische Haushaltslinien (im Bundeshaushalt wären<br />
diese in etwa Haushaltstiteln vergleichbar), die<br />
mit dem südslawischen Begriff „obnova“ (= Wieder-<br />
570<br />
O<br />
aufbau) bezeichnet wurden, eingerichtet. Rechtsgrundlage<br />
bildet die Verordnung 1628/96 des Rates<br />
(ABl. L 204/1996), die Anfang 1998 überarbeitet<br />
wurde, um eine effizientere, unbürokratischere Verwendung<br />
der Mittel zu gewährleisten.<br />
Auf Basis der OBNOVA-Verordnung leistete die<br />
EUvon1996bis2000HilfenandieLänderdesWestbalkans<br />
(Albanien, Mazedonien, Bosnien und Herzegowina,<br />
Kroatien sowie Serbien und Montenegro).<br />
Über OBNOVA-Programme wurde ein erheblicher<br />
Teil der EU-Hilfen an die Region, die sich im<br />
zurückliegenden Jahrzehnt auf rund 4,5 Mrd. Euro<br />
beliefen, in Projekte umgesetzt. Die für den Wiederaufbau<br />
im Kosovo bestimmten OBNOVA-Mittel<br />
wurden nach Ende der militärischen Auseinandersetzung<br />
über die eigens geschaffene TAFKO/Task<br />
Force Kosovo geleitet. Seit Frühjahr 2000 wird diese<br />
Arbeit von der EU-�Wiederaufbauagentur Kosovo<br />
geleistet. OBNOVA wurde 2001 abgelöst durch das<br />
�CARDS-Programm.<br />
OCIPE (Office Catholique d’Information et<br />
d’Initiative Pour l’Europe) �KASEF<br />
Odysseus-ProgrammwareineGemeinsameMaßnahme<br />
vom 19. 3. 1998 aufgrund Art. K.3 des Maastrichter<br />
Vertrags (98/244/JI) mit dem Ziel, die Zusammenarbeit<br />
der Verwaltungen der EU-Staaten in<br />
der Asylpolitik, der Einwanderungspolitik und der<br />
Überwachung der Außengrenzen zu verbessern.<br />
Laufzeit 1998 bis 2002. Nachfolger ist das Programm<br />
�Argo.<br />
OECD �Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit<br />
und Entwicklung<br />
Offene Koordinierungsmethode,<br />
offene Methode der Koordinierung. Die sog. „offeneKoordinierungsmethode“isteinSteuerungsinstrument<br />
für die Zusammenarbeit der Europäischen<br />
Union mit den Mitgliedstaaten, die Bürgernähe und<br />
Subsidiaritätermöglichensoll.Siewirdauch„offene<br />
Methode der Koordinierung“ oder „offenes Koordinierungsverfahren“<br />
genannt.
1.FestlegungderMethode.DerEuropäischeRatlegte<br />
bei seiner Sondersitzung in Lissabon am 23./24. 3.<br />
2000 das Ziel fest, „die Europäische Union bis zum<br />
Jahr 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten<br />
wissensbasierten Wirtschaftsraum der<br />
Welt zu machen“ (�Lissabonstrategie). Um dieses<br />
Ziel zu erreichen, wurde eine besondere Methode der<br />
Koordinierung eingeführt. Diese Methode war bereits<br />
seit dem Vertrag von Amsterdam in der europäischen<br />
Beschäftigungspolitik festgelegt (Art. 128<br />
EGV) und ist Teil der europäischen Beschäftigungsstrategie<br />
im sog. �„Luxemburg-Prozess“. Der Europäische<br />
Rat legte in Lissabon fest, dass diese Methode<br />
nunmehr für alle Ebenen offen sein sollte – gekoppelt<br />
an eine stärkere Leitungs- und Koordinierungsfunktion<br />
des Europäischen Rates. Damit soll eine kohärentere<br />
strategische Leitung und eine effektive<br />
Überwachung der Fortschritte in den einzelnen Mitgliedstaaten<br />
gewährleistet sein.<br />
2. Inhalt der Methode. Bei der „offenen Koordinierungsmethode“<br />
werden in Leitlinien die kurz-, mittel-<br />
und langfristigen Ziele festgesetzt, die es unionsweit<br />
– unter Berücksichtigung der nationalen Vielfalt<br />
– zu erreichen gilt. Dann wird ein genauer ZeitplanzuderenUmsetzungerstellt.FürdieUmsetzung<br />
werden ggf. quantitative und qualitative Indikatoren<br />
und �Benchmarks festgelegt. Hier soll im Vergleich<br />
mit den Besten in der Union und in Kenntnis bewährterPraktikeninanderenMitgliedstaateneinAnsporn<br />
für die Umsetzung der Leitlinien durch die Mitgliedstaaten<br />
geschaffen werden. Denn die festgelegten<br />
europäischen Leitlinien müssen in die nationale und<br />
regionale Politik umgesetzt werden. Hierzu müssen<br />
unter Berücksichtigung der nationalen und regionalen<br />
Unterschiede in den einzelnen Mitgliedstaaten<br />
jeweils konkrete Ziele entwickelt und entsprechende<br />
Maßnahmen durchgeführt werden. Dieser Prozess<br />
der nationalen Umsetzung wird dann von der Europäischen<br />
Union überwacht und bewertet, wobei alle<br />
Seiten voneinander lernen sollen. Zur Überwachung<br />
wird häufig auf das sog. „peer review“ Verfahren,<br />
d. h. auf externe Expertenberichte gesetzt.<br />
3. Anwendungsbereiche der Methode. Die „offene<br />
Koordinierungsmethode“ anhand von verbindlichen<br />
Leitlinien kann in Bereichen angewandt werden, in<br />
denen die Union auch eine entsprechende Gestaltungskompetenz<br />
nach dem Vertrag hat – sei es, dass<br />
sie die Zuständigkeit hat, Recht zu setzen oder dass<br />
ihr im Vertrag eine Koordinierungskompetenz ein-<br />
Offene Koordinierungsmethode<br />
geräumt ist. Hierzu zählt z. B. die Wirtschaftspolitik<br />
(Art. 99 EGV). Die Aufstellung der Konvergenzkriterien<br />
bei der Schaffung der Wirtschafts- und Währungsunion<br />
war geradezu Vorbild für die Einführung<br />
des „offenen Koordinierungsverfahrens“. Außerdem<br />
kennt der EG- Vertrag die Selbstkoordinierung<br />
der Politiken der einzelnen Mitgliedstaaten, wobei<br />
die Europäische Kommission alle Initiativen ergreifen<br />
kann, die dieser Politik förderlich sind wie z. B.<br />
bei der Gesundheitspolitik (Art. 152 EGV) und der<br />
Industriepolitik (Art. 157 EGV).<br />
In einer Reihe von Bereichen wird die „offene Methode<br />
der Koordinierung“ allerdings angewandt,<br />
ohne dass die entsprechenden Handlungsbefugnisse<br />
der Union im Vertrag gegeben sind. Leitlinien und<br />
Zielvorgaben sowie die regelmäßige Überwachung,<br />
Bewertung und Prüfung des Erreichten und unter<br />
Umständen sogar Sanktionen würden jedoch den<br />
Kompetenzrahmen der Europäischen Union überschreiten.<br />
Aber gleichwohl werden Ziele gesetzt,<br />
Vergleichsindikatoren aufgestellt und Berichte eingefordert.<br />
Angesichts des Drucks der Überwachung<br />
und der Evaluierung entwickelt sich hier eine starke<br />
politische Bindung der Mitgliedstaaten und eine indirekte<br />
„gegenseitige Verantwortlichkeit“ für das<br />
Erreichen der Ziele. Ein großer Anwendungsbereich<br />
ist für die Kommission die digitale Entwicklung der<br />
Europäischen Union in der Initiative �„eEurope“.<br />
Entsprechend wurde diese offene KoordinierungsmethodevonderEuropäischenKommissionauchals<br />
ein Quantensprung in der Zusammenarbeit in den<br />
Politikbereichen, in denen keine Gemeinschaftsvorgaben<br />
möglich sind, wie vor allem der Bildungspolitik,<br />
gewertet.<br />
4. Zur Problematik der „offenen Koordinierung“ im<br />
Bildungsbereich.BeispielhaftfürdieseEntwicklung<br />
der „offenen Koordinierungsmethode“ in einem Bereich<br />
nur gering ausgeprägter Unions- bzw. Gemeinschaftszuständigkeiten<br />
ist der Bereich von Bildung<br />
und Kultur, wo jegliche Harmonisierung der Rechtsund<br />
Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten<br />
durch europäische Vorgaben ausdrücklich untersagt<br />
sind (Artikel 149, 150, 151 EGV). Gerade hier aber<br />
hat der Europäische Rat in Lissabon konkrete und ins<br />
Einzelne gehende Ziele gesetzt (�Lissabon-Strategie<br />
im Bildungsbereich).<br />
Dabei wurde der Bildungsministerrat aufgefordert,<br />
allgemeine Überlegungen über die konkreten künftigen<br />
Ziele der Bildungssysteme anzustellen und sich<br />
571
Offene Koordinierungsmethode<br />
dabei auf gemeinsame Anliegen und Prioritäten zu<br />
konzentrieren,zugleichaberdienationaleVielfaltzu<br />
achten. Auf Grund dieser Vorgabe beschlossen die<br />
Bildungsminister der Mitgliedstaaten im Bildungsministerrat<br />
anhand einer Vorlage der Europäischen<br />
Kommission vom 12. 2. 2001 einen Bericht über die<br />
„strategischen Ziele der Bildungssysteme für die<br />
nächsten 10 Jahre“ und darauf aufbauend am 14. 2.<br />
2002 ein Arbeitsprogramm zur Umsetzung der Ziele<br />
der Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung<br />
(ABl. C 142/2002). Auch hier funktionierte somit<br />
die Europäische Kommission als Initiator und<br />
Katalysator.<br />
Die Anwendung der „offenen Methode der Koordinierung“<br />
für den Bildungsbereich erfuhr im Rat eine<br />
Abschwächung, die der eingeschränkten Zuständigkeit<br />
der Union in diesem Politikfeld entsprach. Im<br />
Mittelpunkt sollen die eigenen Entscheidungen der<br />
Mitgliedstaaten stehen, die im Rahmen eines völlig<br />
dezentralen Ansatzes sowie unterschiedlicher Formen<br />
von Partnerschaften die europäischen Durchschnittswerte<br />
und Beispiele von „best practice“ als<br />
eine Hilfe bei der schrittweisen Entwicklung ihrer eigenen<br />
Politiken betrachten sollen. Die Vorgaben der<br />
europäischenEbenesollenkeineverbindlicheLeitlinienfunktion<br />
haben, sondern nur unterstützend und<br />
ergänzend die mitgliedstaatlichen Politiken begleiten.<br />
Gemeinsame Referenzwerte als �Benchmarks,<br />
die in der Europäischen Union im Ganzen erreicht<br />
werden sollen, werden in der Form von europäischen<br />
Durchschnittsbezugswerten aufgeführt, die keine<br />
sanktionsbewährte Festlegung einzelstaatlicher Ziele<br />
enthalten und keine Entscheidungen vorgeben, die<br />
von den jeweiligen Regierungen getroffen werden<br />
müssen (Ratsschlussfolgerungen vom 5. 5. 2003 in<br />
ABl. C 134/2003). Die der Methode inhärente regelmäßige<br />
Beobachtung, Evaluierung und gegenseitigen<br />
Bewertungen sollen als Lernprozesse aller Beteiligten<br />
gestaltet werden (Beschluss des Rates zum<br />
Arbeitsprogramm „Ziele“ (seit 2004 Arbeitsprogramm<br />
„Bildung und Ausbildung 2010“ vom 14. 2.<br />
2002). Die Frage, ob die eingeschränkten Unions-,<br />
bzw. Gemeinschaftszuständigkeiten eine Verpflichtung<br />
der Mitgliedstaaten zur Berichterstattung über<br />
die Einhaltung und den Fortschritt zur Erreichung<br />
dieser Ziele erlauben, führte im Rat der Bildungsminister<br />
am 26. 2. 2004 zur Zusage einer freiwilligen<br />
Berichtslegung ohne allzu großen bürokratischen<br />
Aufwand (ABl. C 104/2004). Aber auch hier wird<br />
572<br />
das Ausloten weitergehen, wieweit konkrete Vorgaben<br />
der Kommission zu einer Koordinierung der Berichte<br />
an Hand gemeinschaftlicher Durchschnittswerte<br />
akzeptiert werden.<br />
5. Die Koordinierungstätigkeit der Union nach dem<br />
�Verfassungsvertrag 2004. Die Koordinierung der<br />
Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik ist im Verfassungsvertrag<br />
als ausdrücklicher Zuständigkeitsbereich<br />
in Artikel I-15 festgelegt. Darüber hinaus<br />
sieht der Verfassungsvertrag 2004 nunmehr ausdrücklich<br />
eine Koordinierungszuständigkeit der Europäischen<br />
Union auch in anderen Beereichen vor.<br />
Dies gilt für folgende Tätigkeitsfelder mit europäischer<br />
Zielsetzung (Artikel I-17 VVE 2004):<br />
a) Schutz und Verbesserung der menschlichen Gesundheit,<br />
b) Industrie,<br />
c) Kultur,<br />
d) Tourismus,<br />
e) allgemeine Bildung, Jugend, Sport und berufliche<br />
Bildung,<br />
f) Katastrophenschutz,<br />
g) Verwaltungszusammenarbeit.<br />
Das wird dann in den Bestimmungen zu den einzelnen<br />
Politikbereichen näher dargelegt, wie z. B. bei<br />
der Gesundheitspolitik (Art. 152 EGV, Art. III-278<br />
VVE 2004) und der Industriepolitik (Art. III-279<br />
VVE 2004). Die Einzelbestimmungen zu Kultur, allgemeiner<br />
Bildung, Jugend und beruflicher Bildung –<br />
jetzt auch den Sport einschließend – und zur beruflichen<br />
Bildung dagegen enthalten keinen Handlungsrahmen,<br />
der über das bereits Bestehende hinausgeht:<br />
So darf die europäische Ebene nur Fördermaßnahmen<br />
festlegen – die Koordinierung ist gerade nicht<br />
erwähnt. (Art. III-281, 282; Art. III-283 VVE 2004).<br />
EineähnlicheBestimmungbestehtnachdemVerfassungsvertrag<br />
2004 zum Tourismus (Art. III-281<br />
VVE 2004). Da die Beschreibungen der einzelnen<br />
Politikbereiche Spezialnormen gegenüber der allgemeinen<br />
Kompetenzbeschreibung zum Katalog der<br />
Unterstützungs-, Koordinierungs- und Ergänzungsmaßnahmen<br />
des Art. I-17 VVE 2004 darstellen,<br />
muss daraus geschlossen werden, dass die „offene<br />
Methode der Koordinierung“ in Zukunft in den Bereichen<br />
Tourismus, Kultur und Bildung nicht möglich<br />
sein sollte. Dies aber wird der Realität nicht gerecht.DieArbeitenandenZielenzurBildungspolitik<br />
und die entsprechende Berichterstattung werden<br />
weitergehen,dieMitgliedstaatenwerdenauchindie-
sen Bereichen an den Zielen von Lissabon gemessen<br />
werden.<br />
6. Bewertung. Die „offene Koordinierungsmethode“<br />
ist ein flexibles Mittel, um die Politik auf europäischer<br />
Ebene unterhalb der rechtlichen Verbindlichkeiten<br />
gestalten und mit dem Ziel der Konvergenz<br />
handelnzukönnen.DieseMethodegibteineschnelle<br />
Handlungsfähigkeit in den Bereichen, in denen die<br />
Gemeinschaft sogar die Möglichkeit hätte, mit<br />
Rechtsakten verbindliche Vorgaben zu setzen. Sie<br />
stellt somit ein milderes und der Subsidiarität angemesseneres<br />
Handlungsinstrument dar. Insofern wird<br />
die „offene Methode der Koordinierung“ als ein milderes<br />
Mittel gegenüber der Rechtsetzung zu begrüßen<br />
sein.<br />
Auf der anderen Seite ist die Ausweitung der Methode<br />
über die vertraglich festgelegten Bereiche hinaus<br />
auch bedenklich. Denn sie kann dazu führen, dass die<br />
Mitwirkungsrechte des Parlaments umgangen werden,<br />
wenn statt einer Rechtsetzung und der dabei<br />
vom Vertrag vorgesehenen Mitwirkung des Europäischen<br />
Parlaments eine Zielvorgabe durch den Europäischen<br />
Rat oder Rat und Kommission erfolgt.<br />
Damit werden die Vorgaben von den Regierungschefs<br />
der Mitgliedstaaten oder den Fachministern in<br />
Zusammenwirken mit den Beamten der Kommission<br />
festgelegt. Sie werden dann in der Regel von den<br />
Exekutiven der Mitgliedstaaten umgesetzt. Sowohl<br />
das Europäische Parlament als auch die nationalen<br />
ParlamentesindhierinderRegelnichteingeschaltet.<br />
Sie können allenfalls bei der Umsetzung, sofern dies<br />
nachinnerstaatlichemRechtnotwendigundmöglich<br />
ist, mitwirken. Die Zielvorgaben und damit die Ausrichtung<br />
der Politik bleiben ihrem Einfluss und ihrer<br />
Gestaltungvorenthalten.WennineinerStellungnahme<br />
aus dem �Wirtschafts- und Sozialausschuss erklärt<br />
wird, dass mit dieser Methode die Mitwirkung<br />
der gesamten organisierten �Zivilgesellschaft an der<br />
Umsetzung der Strategie von Lissabon impliziert sei<br />
(Stellungnahme zum Weißbuch der Kommission<br />
„Europäisches Regieren“ – ABl. C 287/2001 – CES<br />
535 /2001 Unterausschuss „Governance“), so ändert<br />
dies nichts an der Ausschaltung des Europäischen<br />
Parlaments. Die Stellungnahmen des Wirtschaftsund<br />
Sozialausschusses, der seit den Verträgen von<br />
Amsterdam und von Nizza als institutionelle Vertretung<br />
der Zivilgesellschaft auf Gemeinschaftsebene<br />
auftritt, haben nur beratenden Charakter. Die Mitglieder<br />
dieses Ausschusses vertreten zwar die gesell-<br />
Öffentliches Auftragswesen<br />
schaftlichen Kräfte in der Union, sind aber mit den<br />
frei gewählten Vertretern des Volkes nicht vergleichbarundkönnendieseinkeinerWeiseersetzen.<br />
Außerdem vermischen sich durch diese „offene Methode<br />
der Koordinierung“ die Kompetenzen der Europäischen<br />
Union einerseits und die der Mitgliedstaaten<br />
andererseits. Das beeinträchtigt in der BundesrepublikDeutschlandauchdiedeutschenLänder,<br />
welchegem.Art.23Abs.2GGMitwirkungsrechtein<br />
Angelegenheiten der Europäischen Union besitzen<br />
und diese nicht voll einbringen können. Der Bundesrat,<br />
über den die deutschen Länder an der Meinungsbildung<br />
in europäischen Angelegenheiten mitwirken,<br />
befürwortet in der Festsetzung quantitativer Politikziele<br />
eine neue Qualität der wirtschaftspolitischen<br />
Koordinierung für die Union. Er verweist aber<br />
andererseits auf die Gefahr, dass diese Methode der<br />
Union den Weg für ein Verfahren öffnet, an der vertraglichen<br />
Kompetenzordnung vorbei konkrete Vorgaben<br />
festzulegen, die von den Mitgliedstaaten und<br />
in Deutschland von den Ländern umgesetzt werden<br />
sollen. Der Bundesrat betont, dass aus den Wandlungsprozessen<br />
in Technik, Wirtschaft und Gesellschaft<br />
und den daraus resultierenden Anpassungsnotwendigkeiten<br />
im Bildungsbereich keine KompetenzerweiterungderGemeinschaftbzw.Unionabgeleitet<br />
werden kann. Er lehnt es ab, dass die Union den<br />
Mitgliedstaaten konkrete Maßnahmen bzw. Inhalte<br />
und Formen der Zusammenarbeit vorschreibt. Zentrale<br />
Vorgaben der Europäischen Union in inhaltlichen,<br />
strukturellen und finanziellen Angelegenheiten<br />
gerade des Bildungs- und des Forschungsbereiches<br />
hält der Bundesrat weder zielführend im Sinne<br />
der Sicherung und Steigerung der Qualität noch vereinbar<br />
mit dem EG-Vertrag. (BR.Drs. 274/00 Beschluss<br />
vom 29. 9. 2000, 870/02 Beschluss vom 20.<br />
12. 2002, 856/03 Beschluss vom 19. 12. 2003). Derartige<br />
kritische Stimmen zur „offenen Koordinierungsmethode“<br />
bedeuten nicht, dass die Mitgliedstaaten<br />
nicht zu einer freiwilligen Zusammenarbeit<br />
bereit wären. Diese Zusammenarbeit muss sich auf<br />
den vertieften Informations- und Erfahrungsaustausch(„bestpractice“)beziehen.<br />
I. B.-M.<br />
Öffentliches Auftragswesen.Unter �öffentlichen<br />
Aufträgen ist der Einkauf von Gütern, DienstleistungenundBauleistungendurchdieöffentlicheHandzu<br />
verstehen.<br />
1.WirtschaftlicherundpolitischerHintergrund.Das<br />
573
OISIN<br />
Gesamtvolumen öffentlicher Aufträge in der EU beläuft<br />
sich auf 16 % des Bruttoinlandsprodukts der<br />
Union. Dies entspricht etwa der Hälfte des Bruttoinlandsprodukts<br />
der Bundesrepublik Deutschland.<br />
Vor einem Tätigwerden der Gemeinschaft in diesem<br />
Bereich gingen ca. 2 % der in der Gemeinschaft vergebenen<br />
öffentlichen Aufträge an Unternehmen in<br />
einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem der<br />
Auftrag ausgeschrieben wurde. Vor diesem Hintergrund<br />
eines fehlenden Binnenmarkts (der ehemals<br />
für den Binnenmarkt zuständige Kommissar Mario<br />
Monti sprach von einem „Schattendasein") wurde<br />
die Notwendigkeit eines gemeinschaftlichen Handelns<br />
erkannt. Das öffentliche Auftragswesen stellt<br />
nicht zuletzt deshalb einen sensiblen Bereich dar,<br />
weil öffentliche Gelder im Spiel sind. Damit besteht<br />
über das gemeinschaftliche Interesse an einem funktionierenden<br />
Binnenmarkt hinaus das in jedem Mitgliedstaat<br />
vorhandene Interesse an einer sparsamen<br />
Haushaltsführung. Letzteres wird allerdings seitens<br />
einiger Mitgliedstaaten wieder durch das Anliegen<br />
der indirekten (nationalen) Wirtschaftsförderung<br />
beschränkt, weshalb sich das öffentliche Auftragswesen<br />
sachgegenständlich auch in der Nähe der<br />
staatlichen Beihilfen verorten lässt.<br />
2. Rechtlicher Rahmen. Derzeit gelten sechs Richtlinien.<br />
Sie betreffen die Koordinierung der Verfahren<br />
zur Vergabe öffentlicher Lieferaufträge, die Koordinierung<br />
der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge,<br />
die Koordinierung der Auftragsvergabe<br />
durch Auftraggeber im Bereich der Wasser-, Energie-<br />
und Verkehrsversorgung sowie im Telekommunikationssektor<br />
und die die Koordinierung der Verfahren<br />
zur Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge.<br />
Im Rahmen eines neuen Gesetzgebungspakets<br />
wurden die Richtlinien in jüngster Zeit konsolidiert<br />
und weiterentwickelt. Nach ihrer Umsetzung gelten<br />
nur noch zwei Richtlinien: RL 2004/18 über die Koordinierung<br />
der Verfahren zur Vergabe öffentlicher<br />
Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge<br />
(ABl. L 134/2004) sowie RL 2004/17 zur<br />
Koordinierung der Zuschlagserteilung durch Auftraggeber<br />
im Bereich der Wasser-, Energie- und Verkehrsversorgung<br />
sowie der Postdienste (ABl. L 134/<br />
2004). Die Umsetzungsfrist für die Mitgliedstaaten<br />
läuft am 31. 1. 2006 aus. Die Richtlinien konkretisieren<br />
die primärrechtlichen Marktfreiheiten (�Freier<br />
Warenverkehr Art. 28 EGV, freier �Dienstleistungsverkehr<br />
Art. 49 EGV, �Niederlassungsfreiheit Art.<br />
574<br />
43 EGV), das allgemeine �Diskriminierungsverbot<br />
aus Gründen der Staatsangehörigkeit (Artikel 12<br />
EGV) sowie die gemeinschaftsverfassungsrechtlichen<br />
Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, der gegenseitigen<br />
Anerkennung und der Transparenz. Inhaltlich<br />
stellen die neuen Richtlinien eine Konsolidierung<br />
und Simplifizierung der bestehenden Richtlinien<br />
dar. Ferner erfolgt die Anpassung an den technologischen<br />
Fortschritt durch das Aufführen moderner<br />
Techniken. Die Richtlinien gleichen die nationalen<br />
Verfahren bei der Vergabe öffentlicher Aufträge<br />
an. Sie gelten erst ab bestimmten Schwellenwerten,<br />
die je vom jeweiligen Sachbereich abhängig sind.<br />
Allerdings hat der �Gerichtshof der Europäischen<br />
Gemeinschaftensignalisiert,dassauchunterhalbder<br />
Schwellenwerte das Primärrecht weiterhin Anwendung<br />
findet. Explizit geschah dies in Bezug auf das<br />
Transparenzgebot im Fall „Telaustria“ vom 7. 12.<br />
2000 (C-324/98). Die Kommission ihrerseits plant<br />
für November 2005 eine Mitteilung über Verträge<br />
unterhalb der Schwellenwerte. Von den Bestimmungen<br />
der einschlägigen Richtlinien sind bestimmte<br />
Einkäufe (z. B. Waffen, Munition, Kriegsmaterial)<br />
ausgeschlossen.<br />
Neben den Mitgliedstaaten, die gehalten sind, den<br />
Verpflichtungen aus dem Vertrag und den Richtlinien<br />
nachzukommen, nimmt die Kommission eine<br />
Schlüsselstellung im Politikbereich des öffentlichen<br />
Auftragswesens wahr. Zum einen geht sie repressiv<br />
im Wege des �Vertragsverletzungsverfahrens nach<br />
Art. 226 EGV gegen Mitgliedstaaten, die den gemeinschaftsrechtlichen<br />
Verpflichtungen nicht nachkommen,<br />
vor und kommt damit ihrer Rolle als Hüterin<br />
der Verträge bei der Anwendung des Gemeinschaftsrecht<br />
nach. Dies kann bis zu einem Gerichtsverfahren<br />
vor dem Gerichtshof der Europäischen<br />
Gemeinschaften führen. Zum anderen leistet sie, da<br />
sie im das öffentliche Auftragswesen betreffenden<br />
Gesetzgebungsbereich über ein Initiativmonopol<br />
verfügt, wichtige Vorarbeit. Dies muss nicht zwingend,<br />
wie im Falle der Richtlinien, in ein Gesetz<br />
münden,sondernkannauchandereFormendes �„soft<br />
law“ darstellen (vgl. z. B. Mitteilung der Kommission<br />
zu Auslegungsfragen im Bereich Konzessionen<br />
imGemeinschaftsrecht,ABl.C121/2000). R K.<br />
OISIN wurde eine Gemeinsame Maßnahme der EU<br />
vom 20. 12. 1996 (97/12/JI, ABl. L 7/1997) genannt.<br />
SiedientederVerbesserungderZusammenarbeitder
Strafverfolgungsbehörden bei der Prävention, Aufdeckung<br />
und Bekämpfung von Straftaten und Terrorismus.<br />
Das Programm lief Ende 2000 aus und wurde<br />
erneuert durch OISIN II (Beschluss des Rates vom<br />
28. 6. 2001, ABl. L 186/2001) mit einer Laufzeit bis<br />
Ende 2002.<br />
Öko-Audit �EMAS (Eco-Management and Audit<br />
Scheme)<br />
Ökumenische Begegnungen und Ökumenische<br />
Versammlungen in <strong>Europa</strong> werden organisiert vom<br />
CCEE und KEK.<br />
CCEE (Consilium Conferentiarum Episcoporum<br />
<strong>Europa</strong>e) ist der Rat der Europäischen Bischofskonferenzen,<br />
gegründet 1971, mit 34 Bischofskonferenzen<br />
als Mitgliedern.<br />
KEK ist die Konferenz Europäischer Kirchen, die regionale<br />
ökumenische Organisation von 123 orthodoxen,<br />
anglikanischen, altkatholischen und protestantischen<br />
Kirchen <strong>Europa</strong>s, Mitglied im Ökumenischen<br />
Rat der Kirchen.<br />
CCEE und KEK haben bisher fünf Europäische Ökumenische<br />
Begegnungen (1978, 1981, 1984, 1988,<br />
1991) organisiert und zwei Europäische ÖkumenischeVersammlungen(1989inBasel,1997inGraz).CCEEundKEKtreteneinfüreinsozialverantwortliches,<br />
menschliches <strong>Europa</strong>, für Menschenrechte und<br />
Frieden, für soziale Gerechtigkeit, für angemessene<br />
Arbeits- und Lebensbedingungen; für die Umwelt,<br />
die Familie, die Dritte Welt, für Solidarität, für eine<br />
gerechteWirtschafts-undSozialordnung. W. M.<br />
Anschriften:<br />
CCEE, Gallusstraße 24, CH–9000 St. Gallen<br />
KEK, 150, route de Ferney, CH-1211 Genf 2<br />
Literatur:<br />
Robbers, G. (Hg.): Staat und Kirche in der EU.<br />
Baden-Baden 1995<br />
OLAF – Europäisches Amt für Betrugsbekämpfung.<br />
Aufgabe des Europäischen Amts für Betrugsbekämpfung<br />
(OLAF – Office de lutte anti-fraude) ist<br />
die Verhinderung und Verfolgung von Betrug, Korruption<br />
und anderen illegalen Aktivitäten zum Schaden<br />
der finanziellen Interessen der Europäischen<br />
Union. Das Amt führt alle dazu erforderlichen administrativen<br />
Untersuchungen zur �Betrugsbekämpfung<br />
durch. Strafverfahrensrechtliche Kompetenzen<br />
hat es dabei nicht, sondern muss die Sache bei Anhaltspunkten<br />
für Straftaten an die zuständige natio-<br />
OLAF<br />
nale Justiz weiterleiten (�Europäischer Staatsanwalt).<br />
OLAF untersucht Fälle wie Subventionsbetrug,<br />
Betrügereien im Zollbereich oder bei Ausschreibungen,<br />
aber auch Steuerhinterziehung, soweit<br />
diese sich – wie bei der Mehrwertsteuer – auf<br />
den EU-Haushalt auswirken kann. Über den Schutz<br />
der finanziellen Interessen hinaus ist OLAF allgemein<br />
zuständig für alle Maßnahmen gegen rechtswidrige<br />
Handlungen zu Lasten der EU, die verwaltungs-<br />
oder strafrechtlich geahndet werden können.<br />
Hierzu gehören vor allem Verfehlungen von EU-<br />
Bediensteten bei der Ausübung ihrer Tätigkeit, insbes.<br />
Fälle von Korruption.<br />
OLAFisteingerichtetalsGeneraldirektionderKommission,beiseinenUntersuchungengenießtdasAmt<br />
jedoch volle Unabhängigkeit. Dabei beschränken<br />
sich die Untersuchungskompetenzen des OLAF<br />
nichtaufdieKommission,sondernerfassenalle�Organe,<br />
Einrichtungen, Ämter und �Agenturen der Europäischen<br />
Union. Nach außen kann sich OLAF auf<br />
alle Kompetenzen zur Durchführung von Untersuchungen<br />
stützen, die der Kommission durch das Gemeinschaftsrecht<br />
oder völkerrechtliche Abkommen<br />
mit Drittstaaten eingeräumt sind. Die VO 1073/1999<br />
(ABl. L 136/1999) legt dabei das Verfahren für die<br />
Untersuchungen fest. Rechtsgrundlage für interne<br />
Untersuchungen innerhalb der EU-Einrichtungen ist<br />
eine Interinstitutionelle Vereinbarung vom 25. Mai<br />
1999 (ABl. L 136/1999), hinzu kommen drei Entscheidungen<br />
des EuGH, die klar machen, dass auch<br />
gegen Abgeordnete des Europäischen Parlaments<br />
(Rs. C-167/02 P) sowie in der Europäischen Zentralbank<br />
(Rs. C-11/00) und der Europäischen Investitionsbank<br />
(Rs. C-15/00) ermittelt werden darf. Bei<br />
externen Untersuchungen, Kontrollen und Überprüfungen<br />
vor Ort kann sich OLAF in erster Linie auf<br />
VO 2988/95 (Abl. L 312/1995) und VO 2185/96<br />
(ABl. L 292/1996) stützen. In der Praxis werden Unregelmäßigkeiten<br />
außerhalb der EU-Einrichtungen<br />
fast immer in enger Zusammenarbeit mit den nationalen<br />
Ermittlungsbehörden aufgedeckt und untersucht.<br />
Dabei wird OLAF aber auch im Vorfeld konkreter<br />
Untersuchungen tätig, z. B. mit Risikoanalysen,<br />
die spezielle Gefahren für die finanziellen Interessen<br />
der Union identifizieren sollen.<br />
Abgesehen von seinen unabhängigen Untersuchungsaufgaben<br />
obliegt OLAF insgesamt die Koordinierung<br />
der Aktivitäten der Union und der Mitgliedstaaten<br />
bei der Bekämpfung von Betrug zu Las-<br />
575
Opt-out-Klausel<br />
ten der EU, z. B. durch Betreuung des Betrugsbekämpfungs-Informationssystems(Anti-Fraud-Information<br />
System – AFIS) und des Zollinformationssystems<br />
(CIS). Das Amt ist damit in Fragen der<br />
Amts- und Rechtshilfe direkter Ansprechpartner nationaler<br />
Behörden wie Zoll, Polizei und Justiz sowie<br />
von �Europol und �Eurojust. OLAF ist zudem innerhalb<br />
der Kommission die Generaldirektion, die für<br />
die Ausarbeitung neuer Rechtssetzungsvorschläge<br />
im Bereich Betrugs- und Korruptionsbekämpfung<br />
zuständig ist. In diesem Zusammenhang überprüft<br />
OLAF auch andere sensitive Legislativvorhaben auf<br />
ihre „Betrugsfestigkeit“ („fraud-proofing“). In seinen<br />
nicht unabhängigen Aufgabenbereichen untersteht<br />
das Amt seit 2004 dem Kommissar für Verwaltung,<br />
Audit und Betrugsbekämpfung.<br />
Die Entstehung des OLAF ist eng mit dem Rücktritt<br />
der Kommission Santer 1999 verknüpft. Im Zusammenhang<br />
mit der vorausgegangenen öffentlichen<br />
Debatte über Vorwürfe von Nepotismus und Misswirtschaft<br />
waren die rechtlichen und tatsächlichen<br />
Schwierigkeiten der OLAF-Vorgängereinheit<br />
UCLAF (Unité de Coordination de Lutte Anti-<br />
Fraude, gegründet 1988) zu Tage getreten, die dem<br />
Generalsekretariat der Kommission zugeordnet und<br />
bei ihren Untersuchungen nicht unabhängig war. Ein<br />
Sonderbericht des Europäischen Rechnungshofs<br />
machte 1998 auch alle übrigen Unzulänglichkeiten<br />
von UCLAF deutlich. Unter dem Druck der Öffentlichkeit<br />
und des Europäischen Parlaments (Haushaltskontrollausschuss),<br />
das auf eine effizientere<br />
Korruptionsbekämpfung innerhalb der EU-Behörden<br />
drängte, wurde daher die Gründung von OLAF<br />
zum 1. 6. 1999 betrieben.<br />
In den ersten fünf Jahren seiner Tätigkeit hat das Amt<br />
Fälle mit einer geschätzten Schadenssumme von insgesamt<br />
5,3 Mrd. Euro behandelt. OLAF hat rund 380<br />
Mitarbeiter und einen Jahresetat von 48 Millionen<br />
Euro (2005). Das Amt wird von einem Generaldirektor<br />
geleitet, der insgesamt zwei Mal für jeweils fünf<br />
Jahre amtieren kann. Er wird von der Kommission in<br />
Abstimmung mit dem Europäischen Parlament und<br />
dem Rat nach Konsultation des OLAF-Überwachungsausschusses<br />
ernannt. Dieses fünfköpfige, mit<br />
externen Experten besetzte Gremium soll, zusätzlich<br />
zum Klagerecht des OLAF-Generaldirektors gegen<br />
die Kommission beim Europäischen Gerichtshof,<br />
eine weitere Garantie für die Unabhängigkeit des<br />
OLAF sein. Der Überwachungsausschuss erhält al-<br />
576<br />
lerdings auch Einblick in die laufenden OLAF-Untersuchungen,<br />
wenn diese länger als neun Monate<br />
dauern, sowie bei Befassung der nationalen Justizbehörden.<br />
Im Februar 2004 präsentierte die Kommission<br />
einen Änderungsvorschlag für die OLAF-Verordnung<br />
1073/99. Notwendig dürfte eine Neuordnung<br />
von OLAF in jedem Falle werden, sobald die<br />
�Europäische Staatsanwaltschaft tatsächlich eingerichtetwird.<br />
J. W.<br />
Internet: http://europa.eu.int/olaf<br />
Literatur:<br />
Hallmann-Häber, U./Stiegel, U.: Das Europäische Amt für<br />
Betrugsbekämpfung (OLAF). DRiZ 2003, S. 241 – 245<br />
European Anti-Fraud Office: Fifth Activity Report for the Year<br />
ending June 2004. Brüssel 2004<br />
Opt-out-Klausel (opt out = sich gegen etwas entscheiden,<br />
„aussteigen“ im Sinne von Nichtbeteiligung).<br />
Im Bereich der EU-Politiken hat opt-out unterschiedliche<br />
Bedeutungen.<br />
1. Die Ausnahmeregelung (opting-out-Klausel) erlaubt<br />
es einem Mitgliedstaat, sich in einem bestimmten<br />
Bereich nicht an gemeinschaftlich vereinbarter<br />
Zusammenarbeit zu beteiligen. So nimmt bspw.<br />
Großbritannien nicht an der dritten Stufe der Währungsunion<br />
teil, Dänemark ebenfalls nicht und beteiligt<br />
sich zudem nicht an der Zusammenarbeit in den<br />
Bereichen Justiz und Inneres und an der Verteidigungspolitik<br />
im Rahmen der ESVP.<br />
2. Die Arbeitszeitrichtlinie 2003/88 (ABl. L 299/<br />
2003) erlaubt in Art. 22 Abs. 1 den Mitgliedstaaten<br />
ein opting-out für den Art. 6 der Richtlinie (wöchentliche<br />
Höchstarbeitszeit) unter bestimmten Voraussetzungen,<br />
z. B. wenn Tarifpartner eine entsprechende<br />
Vereinbarung getroffen haben und der einzelne<br />
Arbeitnehmer zugestimmt hat, dass er auf Rechte<br />
verzichtet, die ihm nach der Arbeitszeitrichtlinie zustehen.<br />
Entsprechende Rechtsvorschriften sind inzwischeninmehrerenMitgliedstaatenverabschiedet<br />
worden, auch in Deutschland.<br />
3. Opt-out und opt-in sind zwei Modelle für die Abwehr<br />
von unerwünschten elektronischen Nachrichten(Spam).BeimOpt-out-ModellmussderEmpfänger<br />
sich durch Abmeldung vor weiterer Spam schützen,<br />
beim Opt-in-Modell muss der Empfänger vorherseinEinverständniserteilen.DieRichtlinie2002/<br />
58 (ABl. L 201/2002) zum Datenschutz im Bereich<br />
der elektronischen Kommunikation verfolgt den Ansatz<br />
der Opt-in-Regelung. In Deutschland ist die<br />
Richtlinie im Jahr 2004 durch Novellierung des Ge-
setzes gegen unlauteren Wettbewerb umgesetzt worden.<br />
Organe der EU (allgemein). Juristische Personen<br />
sind künstliche Geschöpfe. Sie haben weder Mund<br />
noch Hände, können also ihren Willen nur durch Organe<br />
bilden und bekunden. Sie brauchen natürliche<br />
Personen als Sprachrohre und Vollstrecker. Das gilt<br />
füreineAktiengesellschaftdesnationalenRechtsgenauso<br />
wie für die EU und die EG als supranationale<br />
Staatenverbünde. Organe im Rechtssinne sind alle<br />
Einheiten, die (1) von einer oder mehreren natürlichen<br />
Personen geführt werden, (2) durch Rechtsnorm<br />
oder Vertrag genau umgrenzte Befugnisse zur<br />
Leitung,AußenvertretungoderKontrolleeinerjuristischen<br />
Person verliehen bekamen und (3) an den außenwirksamen<br />
Entscheidungen dieser Person prägend<br />
mitwirken. Sie sind wie die Organe eines lebenden<br />
Körpers aus der „Organisation“ der juristischen<br />
Personnichthinwegzudenken.FürdieOrganqualität<br />
wesentlich ist – kürzer gefasst – die Befugnis, im Namen<br />
der juristischen Person nach außen rechtsverbindlich<br />
zu handeln. Einheiten oder Gremien hingegen,<br />
die an der Willensbildung der juristischen Person<br />
nur unterstützend – d. h. vorbereitend, beratend<br />
oderempfehlend–undohneGestaltungs-oderSanktionsrechte<br />
mitwirken, entbehren der Organqualität;<br />
sie sind bloße Einrichtungen oder Institutionen, zuweilen<br />
auch als Hilfsorgane bezeichnet.<br />
Die beiden Europäischen Gemeinschaften EG und<br />
EAG sind rechtsfähige Staatenverbünde (Art. 281 f.<br />
EGV und Art. 184 f. EAGV). Um ihren politischen<br />
und rechtlichen Willen bilden, äußern und vollziehen<br />
zu können, müssen sie auf Organe zurückgreifen.<br />
Die fünf in Art. 7 Abs. 1 EGV und Art. 3 Abs. 1<br />
EAGVaufgelisteten,derEGundEAGgemeinsamen<br />
Hauptorgane heißen:<br />
– Europäisches Parlament,<br />
– Rat oder – klarer, aber informell – Ministerrat<br />
(die Bezeichnung Ministerrat verwendet auch<br />
Art. I-19 Abs. 1 VVE 2004),<br />
– Kommission der Europäischen Gemeinschaften,<br />
kurz: Europäische Kommission,<br />
– Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften,<br />
kurz: Europäischer Gerichtshof und<br />
– Rechnungshof der Europäischen Gemeinschaften,<br />
kurz: Europäischer Rechnungshof.<br />
DieAufzählungderfünfvomEG-Vertraggekorenen<br />
Hauptorgane ist abschließend. Diese Organe im en-<br />
Organe der EU<br />
geren Sinne unterliegen einem Numerus clausus.<br />
Neue Hauptorgane – etwa ein EG-Präsident oder<br />
eine zweite Parlamentskammer – können nur durch<br />
eine Vertragsänderung entstehen (Art. 48 EUV).<br />
Die drei Europäischen Gemeinschaften – EGKS,<br />
EWG und EAG – verfügten zunächst über getrennte<br />
Organe. Das Parlament (bis 1962 als Versammlung<br />
bezeichnet) und der Gerichtshof der jeweiligen Gemeinschaft<br />
verschmolzen bereits durch das Fusionsabkommen<br />
vom 25. 3. 1957 zu zwei einheitlichen<br />
Organen aller Gemeinschaften. Auch die drei Kommissionen<br />
(im Rahmen der EGKS Hohe Behörde genannt)<br />
und Räte verbanden sich durch den Fusionsvertrag<br />
vom 8. 4. 1965 zu zwei gemeinsamen Organen<br />
der drei Gemeinschaften. Der Rechnungshof als<br />
fünftes Organ erhielt diese Stellung erst mit Inkrafttreten<br />
des Vertrags von Maastricht am 1. 11. 1993.<br />
Die 1952 gegründete EGKS ging 2002 in der EG auf,<br />
da der auf 50 Jahre befristete EGKS-Vertrag am 23.<br />
7. 2002 auslief.<br />
Der Rat nennt sich selbst seit 8. 11. 1993 „Rat der Europäischen<br />
Union“, was in die Irre führt, weil der Rat<br />
hauptsächlichalsOrganderEG,alsodererstenSäule<br />
der EU fungiert und in der zweiten wie dritten Säule<br />
der EU (GASP und PJZS) als Gremium einer zwar<br />
engen, gleichwohl nur intergouvernementalen Abstimmung<br />
zwischen den Mitgliedstaaten auftritt. Offenbar<br />
meinten die Ratsmitglieder, sich mit Gründung<br />
der EU am 1. 11. 1993 ein vermeintlich aktuelleres<br />
und schickeres Label geben zu müssen. Der Rat<br />
tagt, wenn vom Vertrag so angeordnet, in der Zusammensetzung<br />
der Staats- und Regierungschefs, z. B.<br />
beiderBenennungdeskünftigenPräsidentenderEuropäischen<br />
Kommission, Art. 214 Abs. 2 EGV; er<br />
bleibt auch in dieser Formation Organ der EG und<br />
darf nicht mit dem Europäischen Rat nach Art. 4<br />
EUV, einem Organ der EU, verwechselt werden<br />
(s. u.).<br />
Das Europäische Gericht erster Instanz (EuG) hat<br />
sich durch den Vertrag von Nizza vom EuGH institutionell<br />
abgenabelt; Art. 225 Abs. 1 EGV spricht nicht<br />
mehr von einem dem Gerichtshof „beigeordneten“<br />
Gericht. Dennoch bleibt das EuG im Gerichtsaufbau<br />
derGemeinschaftdemEuGHnachgeordnet,daseine<br />
Entscheidungen durch Rechtsmittel vor dem EuGH<br />
angegriffen werden können (Art. 225 Abs. 1 UAbs. 2<br />
EGV). Zudem erwähnt Art. 7 Abs. 1 EGV nur den<br />
GerichtshofalsOrganderEG.DasEuGbekleidetdaher<br />
die Stellung eines selbständigen Spruchkörpers<br />
577
Organe der EU<br />
im judikativen System der Gemeinschaft, nicht aber<br />
den Rang eines Organs.<br />
Zu den Organen der EG im weiteren Sinne gehören<br />
diejenigen Einrichtungen, die in Art. 7 Abs. 1 EGV<br />
zwarunerwähntbleiben,wegenihrerKompetenzfülle<br />
im Außenverhältnis der Gemeinschaft gleichwohl<br />
unter den Organbegriff zu fassen sind. Dazu zählen<br />
die �Europäische Zentralbank (EZB, Art. 8, 105 –<br />
115 EGV, Art. 3 EZB-Satzung) und die �Europäische<br />
Investitionsbank (EIB, Art. 9, 266 f. EGV). Für<br />
die Zuordnung von EZB und EIB zum Organbegriff<br />
sprechen ihre hervorgehobene Erwähnung in den<br />
ersten Artikeln des EG-Vertrags unmittelbar im Anschluss<br />
an Art. 7 EGV sowie die detaillierte primärrechtliche<br />
Ausformung ihrer Kompetenzen. Beide<br />
haben selbst Rechtspersönlichkeit. EZB und EIB besitzen<br />
jedoch im Gegensatz zu den Hauptorganen<br />
nach Art. 7 Abs. 1 EGV nur sektorielle Kompetenzen<br />
für die Bereiche der Geldpolitik (Art. 105 EGV) und<br />
der Kapitalmobilisierung (Art. 267 EGV); sie sind<br />
daher nur als Neben-(Finanz)Organe der EG zu qualifizieren.<br />
Artikel I-30 Abs. 3 des �Verfassungsvertrags2004tituliertdieEZBausdrücklichalsOrgan.<br />
Keine Organe, sondern bloße Einrichtungen oder Institutionen<br />
(vgl. die begriffliche Gegenüberstellung<br />
in Art. 21 Abs. 3 oder Art. 195 Abs. 1 EGV) sind alle<br />
anderen organisatorisch verselbständigten Einheiten<br />
im institutionellen Gefüge von EG und EAG:<br />
– der �Wirtschafts- und Sozialausschuss (Art. 257<br />
EGV) sowie der Ausschuss der Regionen (Art. 263<br />
EGV), weil sie nur eine beratende Funktion im<br />
Rechtsetzungsprozess der beiden Gemeinschaften<br />
innehaben; diese Einordnung bestätigt Art. 7 Abs. 2<br />
EGV, der die beiden Gremien wegen ihrer bloß unterstützenden<br />
Aufgabe von den fünf Hauptorganen<br />
nach Art. 7 Abs. 1 EGV abstuft;<br />
– der Petitionsausschuss des Europäischen Parlaments<br />
(Art. 21 Abs. 1, 194 EGV), da er nur dem Plenum<br />
des Parlaments zuarbeitet;<br />
– der vom Europäischen Parlament ernannte �Bürgerbeauftragte<br />
(Art. 21 Abs. 2, 195 EGV), weil er<br />
(selbst wenn er Missstände feststellt) gegenüber den<br />
gerügten Organen oder Einrichtungen keine<br />
Zwangsmaßnahmen ergreifen darf (Art. 195 Abs. 1<br />
UAbs. 2 EGV);<br />
– die Euratom-Versorgungsagentur (Art. 52, 54<br />
EAG), die zwar Rechtspersönlichkeit besitzt, aber<br />
einen begrenzten Auftrag hat: Versorgung der Gemeinschaft<br />
mit spaltbaren Stoffen;<br />
578<br />
– sämtliche durch Sekundärrecht, meist auf der<br />
Grundlage des Art. 308 EGV errichteten gemeinschaftseigenen<br />
Behörden, die sich Ämter, �Agenturen,<br />
Zentren oder Stiftungen nennen (z. B. die Europäische<br />
Agentur für Flugsicherheit in Köln), da sie<br />
exekutive Befugnisse nur auf einem sehr engen<br />
Fachgebiet der Gemeinschaftstätigkeit ausüben und<br />
jederzeit von der zuständigen Generaldirektion der<br />
Kommission wieder aufgesaugt werden könnten,<br />
ohne dass dies die innere Struktur der EG wesentlich<br />
verändern würde.<br />
DerEG-VertragselbstverwendetdenTerminus„Organ“<br />
nicht konsequent. Er verweist an zahlreichen<br />
Stellen auf diesen Begriff, z. B. in Art. 21 Abs. 3<br />
EGV: Auskunftsrecht der Unionsbürger gegenüber<br />
jedem Organ in seiner Muttersprache; Art. 288 Abs.<br />
2 EGV: Haftung der Gemeinschaft für deliktisches<br />
Verhalten ihrer Organe; Art. 289 EGV: Sitz der Organe;<br />
Art. 290 EGV: Sprachenfrage. Die Organqualität<br />
berechtigt dazu, vor dem EuGH die Nichtigkeits-<br />
und die Untätigkeitsklage zu erheben (Art.<br />
230, 232 EGV).<br />
Mit der Nennung des Begriffes „Organ“ erfasst der<br />
EG-Vertrag mindestens die fünf Hauptorgane (institutionelle<br />
Sicht); ob er darüber hinaus auch Nebenorgane<br />
und Einrichtungen erfasst, hängt von Sinn und<br />
Zweck der verweisenden Norm ab (funktionelle<br />
Sicht). Während Art. 21 EGV die auskunftspflichtigen<br />
Organe und Einrichtungen einzeln aufzählt,<br />
meint Art. 288 EGV wegen seiner haftungsrechtlichen<br />
Schutzfunktion einen weiten Organbegriff<br />
(EuGH, Rs. C-370/89, Etroy, Slg. 1992, I-6211).<br />
Artikel 288 EGV umfasst auch nachgeordnete Behörden,<br />
z. B. die Europäische Arzneimittelagentur in<br />
London, wenn sie verspätet vor einem gesundheitsschädlichen<br />
Medikament warnt.<br />
Der Sitz der Haupt- und Nebenorgane der Gemeinschaften<br />
folgt aus einem Protokoll im Anhang zum<br />
Vertrag von Amsterdam. Hauptsitze der fünf Kernorgane<br />
sind die Städte Brüssel, Luxemburg und<br />
Straßburg. Während Gerichtshof und Rechnungshof<br />
ihren Sitz unilokal in Luxemburg haben, tagt der Rat<br />
vornehmlich in Brüssel, in drei Monaten des Jahres<br />
jedoch in Luxemburg. Die meisten Dienststellen der<br />
Kommission befinden sich in Brüssel, einige (rund<br />
ein Fünftel) in Luxemburg. Das Parlament schließlich<br />
arbeitet trilokal: das Plenum tagt regelmäßig in<br />
Straßburg, die Ausschüsse in Brüssel, während das<br />
Generalsekretariat in Luxemburg beheimatet ist –
Spötter sprechen vom „europäischen Wanderzirkus“.<br />
Die Europäische Zentralbank hat ihren Sitz in<br />
Frankfurt am Main. Bei der Entscheidung von Sitzfragen<br />
kommen die Eitelkeiten und die Prestigesucht<br />
der Mitgliedstaaten besonders deutlich zum Vorschein<br />
– zum Amüsement der Kenner, zum Kopfschütteln<br />
vieler Laien.<br />
Innerhalb der Gemeinschaftsorgane sind alle 20<br />
�Amtssprachen gleichberechtigt (Art. 21, 314 EGV).<br />
Die Einzelheiten des Sprachregimes sind in der Verordnung<br />
(EWG) Nr. 1 von 1958 aufgrund Art. 290<br />
EGV geregelt. In Praxis der Organe haben sich Englisch,<br />
Französisch und Deutsch (in dieser Reihenfolge)<br />
als informelle interne Arbeitssprachen herausgebildet.<br />
Der Gerichtshof verwendet intern fast ausschließlich<br />
das Französische, die EZB ganz überwiegend<br />
das Englische.<br />
Im institutionellen Gefüge der Europäischen Union<br />
hat nur der Europäische Rat Organstellung. Die<br />
Union ist trotz anders lautender Stimmen rechtsfähig;<br />
ihre Beschlüsse und Maßnahmen zur Strafverfolgung<br />
(Europäischer Haftbefehl, Projekt einer Europäischen<br />
Staatsanwaltschaft) und zur Verteidigungspolitik(FriedensmissioninMazedonien,europäische<br />
Kampfeinheiten zur Krisenprävention) haben<br />
eine solche Dichte erreicht, dass der Union kraft<br />
Faktizität und Übung die Rechtsfähigkeit zuerkannt<br />
werden muss. Nach Art. 4 EUV gibt ihr der Europäische<br />
Rat die erforderlichen Impulse und bestimmt<br />
die allgemeinen politischen Ziele. Zwar trifft er keine<br />
rechtlich nach außen verbindlichen Entscheidungen<br />
und erfüllt deshalb streng genommen nicht die<br />
Definition des Organbegriffes, jedoch erzeugen seine<br />
politischen Schlussfolgerungen – etwa zum Beitritt<br />
neuer Mitgliedstaaten oder zur Finanzierung der<br />
Union – eine derart starke faktische Bindung der umsetzenden<br />
Organe der EG (vor allem des Rates), dass<br />
die Transformation seines Willens in formale Akte<br />
des EG-Rechts einem Automatismus gleicht. Soweit<br />
ersichtlich sind keine Fälle bekannt, in denen die<br />
EG-Organe dem Europäischen Rat die Umsetzungs-Gefolgschaft<br />
verweigert hätten; für das Verhältnis<br />
des EG-Ministerrates zum Europäischen Rat<br />
mag dies kaum verwundern, stehen doch die nationalen<br />
Fachminister politisch im Range unter ihren jeweiligen<br />
Staats- und Regierungschefs.<br />
Das Europäische Polizeiamt (�Europol, Arbeitsaufnahme<br />
am 1. 7. 1999) und die Europäische Stelle für<br />
Justitielle Zusammenarbeit (�Eurojust, Errichtung<br />
Organe der EU<br />
am 28. 2. 2002), beide rechtsfähig, haben innerhalb<br />
derUnion(noch)keineOrganqualität.DieArt.30bis<br />
32 EUV erkennen zwar ihre Existenz an und beschreibenihreKernaufgaben,dochbeschränkensich<br />
die Befugnisse der beiden „Behörden“ (so Art. 32<br />
EUV) auf die wirksamere Koordination der Arbeit<br />
der nationalen Polizeidienststellen und Strafverfolgungsbehörden<br />
durch grenzüberschreitenden automatisierten<br />
Informationsaustausch und Datenabgleich.<br />
Die beiden Stellen verkörpern einen (gewiss<br />
wichtigen) unionseigenen Datenpool mit Abgleichfunktion,<br />
jedoch ohne Vollstreckungskompetenzen.<br />
Das Europol-Übereinkommen von 1995 ermächtigt<br />
den Rat, die Zuständigkeiten von Europol näher festzulegen;<br />
auch diese „Anbindung“ an den Rat spricht<br />
gegen eine Organeigenschaft des Europäischen Polizeiamtes.<br />
Die fünf Hauptorgane der EG sind keine Organe der<br />
EU; soweit sie im Rahmen der zweiten und dritten<br />
Säule der Union agieren, werden sie von der EG lediglich<br />
der sonst handlungsunfähigen Union ausgeliehen(Organleihe).NimmtetwaderRatnachAnhörung<br />
des Parlaments einen Rahmenbeschluss zum<br />
Europäischen Haftbefehl an (Art. 34 II UAbs. 1 S. 2<br />
lit.bundArt.39EUV),bleibenRatundParlamentinstitutionell<br />
Organe der EG, werden funktionell aber<br />
in Organhilfe für die EU tätig. Artikel 5 EUV bestätigt,<br />
ja fordert die Zulässigkeit einer solchen „Organspende“<br />
der EG an die EU im Interesse einer beschlussfähigen<br />
Union.<br />
Die Doppelfunktion der EG-Organe als Repräsentanten<br />
der EG und als Leihorgane der EU veranschaulicht<br />
nachdrücklich den „einheitlichen institutionellen<br />
Rahmen“ (Art. 3 EUV), der die drei Säulen<br />
zu einer Tempelstruktur der Union verbindet. Obwohl<br />
EU und EG als völkerrechtlich getrennte Staatenverbünde<br />
durch zwei separate Gründungsverträge<br />
konzipiert sind, handeln in ihnen und für sie einheitlich<br />
die Organe der EG. Mit Inkrafttreten des<br />
Verfassungsvertrages 2004 würde die EG in der<br />
Union aufgehen, wodurch die bisherigen Tempelund<br />
Säulenmodelle hinfällig werden.<br />
Nach welchen Grundsätzen arbeiten die Organe von<br />
EG und EU zusammen? Ein Rückgriff auf das Verfassungsrecht<br />
der Mitgliedstaaten legte es nahe, die<br />
seit Montesquieu und der US-Bundesverfassung<br />
anerkannte Dreiteilung der Staatsgewalten in Legislative,<br />
Exekutive und Judikative auch auf Gemeinschaft<br />
und Union zu übertragen. Eine solche Extra-<br />
579
Organe der EU<br />
polation vom nationalen auf das supranationale<br />
Recht missachtete aber die fehlende Staatsqualität<br />
und den völkerrechtlichen Ursprung der Staatenverbünde<br />
EG und EU. Das institutionelle Gefüge der EG<br />
beruht nicht auf der klassischen Gewaltenteilung,<br />
sondern auf einer Gewaltenbalance eigener Art, einer<br />
supranationalen Spielart der „checks and balances“.<br />
Die legislative Gewalt etwa liegt in den Händen<br />
von Parlament, Rat und Kommission, die exekutive<br />
Macht verteilt sich auf Rat und Kommission. Da die<br />
EG-Organe keine Staatsgewalt ausüben, erscheint es<br />
treffender, von einer „Funktionsteilung“ oder einem<br />
„Funktionenkonzert“ zu sprechen (vgl. v. Borries<br />
2002).<br />
Der Gerichtshof hat das Zusammenwirken der Organe<br />
bereits in einem Urteil von 1958 als „institutionellesGleichgewicht“bezeichnet(EuGH,Rs.9/56,Meroni<br />
I, Slg. 1958, 1/36 ff.) und dieses Prinzip horizontalerMachtbalanceinspäterenEntscheidungenbetätigt<br />
(EuGH, Rs. 138/79, Roquette Frères/Rat – Isoglucose,<br />
Slg. 1980, 3333 Rn. 33; Rs. C-21/94, Europäisches<br />
Parlament/Rat, Slg. 1995, I-1827 Rn. 17).<br />
In einem Urteil von 1990 (EuGH, Rs. C-70/88, Parlament/Rat<br />
– Tschernobyl, Slg. 1990, I-2041 Rn. 21<br />
ff.) betonte er, dass die Verträge ein institutionelles<br />
Gleichgewicht der Organe wollten, d. h. ein System<br />
der Zuständigkeitsverteilung, das jedem Organ seinen<br />
eigenen Auftrag innerhalb des institutionellen<br />
Gefüges der Gemeinschaft zuweise. Zur Wahrung<br />
dieses Gleichgewichts habe jedes Organ seine Befugnisse<br />
unter Beachtung der Rechte der anderen Organe<br />
auszuüben. Das Rechtsprinzip des Interorgan-<br />
Gleichgewichts legt jedem Organ vier interinstitutionelle<br />
Rechte und Pflichten auf (vgl. Geiger 2000):<br />
(1) es hat seine eigenen Kompetenzen auszuschöpfen,<br />
darf jedoch nicht deren Grenzen übertreten; (2)<br />
es ist gehalten, die Befugnisse der anderen Organe zu<br />
achten; (3) mit den übrigen Organen muss es loyal<br />
und redlich zusammenarbeiten (Organtreue), dazu<br />
falls nötig die wechselseitigen Informations- und<br />
Konsultationspflichten in interinstitutionellen Vereinbarungen<br />
festlegen; (4) eine Verletzung seiner<br />
Kompetenzen oder Mitwirkungsrechte darf es gerichtlich<br />
überprüfen lassen. Das Protokoll über die<br />
Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und<br />
der Verhältnismäßigkeit im Anhang zum Vertrag<br />
vonAmsterdam,dasdurchArt.311EGVBestandteil<br />
desPrimärrechtsist,erwähntinZiffer2ausdrücklich<br />
das Prinzip des institutionellen Gleichgewichts.<br />
580<br />
Auch Art. I-19 Abs. 2 S. 2 VVE ermahnt die Organe<br />
zu loyaler Zusammenarbeit.<br />
Gibt es innerhalb der fünf Hauptorgane der EG eine<br />
Rangfolge, ein „Ranking“? Der Rechnungshof<br />
nimmt die schwächste Position ein, da er nur reaktiv-kontrollierend<br />
die Haushaltsführung der Gemeinschaften<br />
überwacht, ohne rechtsetzend oder politisch<br />
gestaltend tätig zu werden. Unter den drei politischen<br />
Organen, die an der Rechtsetzung beteiligt<br />
sind, – Parlament, Rat und Kommission – besitzt der<br />
Rat das größte Gewicht: er ist Sprachrohr der Mitgliedstaaten<br />
als der „Herren der Verträge“, Ko-<br />
Rechtsetzungsorgan (Art. 251 EGV) und Ko-Haushaltsbehörde<br />
(Art. 272 EGV), jeweils zusammen mit<br />
dem Parlament. Die Kommission rangierte aufgrund<br />
ihres legislativen Initiativmonopols seit Gründung<br />
der Gemeinschaften und der Union auf Platz zwei,<br />
doch dürfte das von Vertragsänderung zu Vertragsänderung<br />
gestärkte und zunehmend mit hochrangigen<br />
nationalen Politikern besetzte Parlament der<br />
Kommission diesen Rang zunehmend streitig machen;<br />
die Krise um die Ernennung der (zweiten) Barroso-Kommissionarsgilde<br />
im November 2004 (Art.<br />
214 Abs. 2 EGV) belegte deutlich das wachsende<br />
SelbstbewusstseindesParlaments.DemGerichtshof<br />
verbleibt trotz seiner mutigen, oft rechtsschöpferischen<br />
Jurisdiktion und seines unverzichtbaren Beitrags<br />
zum �acquis communautaire Rang vier, da er<br />
keinepolitischenInitiativenergreifen,Rechtsetzung<br />
allenfalls mittelbar anstoßen und seine – die Mitgliedstaaten<br />
und deren Gerichte zwar bindenden –<br />
Entscheidungen nur von sachverhaltlich begrenzten<br />
Einzelfällen aus (case law) fällen kann.<br />
Für die konstruktive Atmosphäre zwischen den nun<br />
erwachsenen Organen sprechen die �interinstitutionellen<br />
Vereinbarungen, eine Spezies von Rechtsakten,<br />
die der EG-Vertrag zwar nicht erwähnt, die im<br />
Interesse einer effektiven Funktionsteilung zwischen<br />
den Organen vom EuGH jedoch als zulässig<br />
anerkanntwerden(EuGH,Rs.34/86,Rat/Parlament,<br />
Slg. 1986, 2155 Rn. 50; Rs. 204/86, Griechenland/Rat,<br />
Slg. 1988, 5323 Rn. 16). Diese Vereinbarungen<br />
regeln z. B. die Transparenz der Haushaltsführung<br />
oder die Anwendung des �Subsidiaritätsprinzips<br />
(Art. 5 UAbs. 2 EGV) in der Rechtsetzungspraxis.<br />
Die Erklärung zu Art. 10 EGV im Anhang des<br />
Vertrags von Nizza bestätigt politisch die Zulässigkeit<br />
interinstitutioneller Vereinbarungen, wenn diese<br />
im Rahmen der Verpflichtung zur loyalen Zusam-
menarbeit der Organe die Anwendung des EG-Vertrags<br />
erleichtern.<br />
Vereinbarungen zwischen den Organen sind zudem<br />
Ausfluss ihrer Organisationsgewalt. In den Grenzen<br />
ihren Kompetenzen dürfen die Organe ihre innere<br />
Struktur (Intra-Organisation, z. B. in Gestalt von<br />
Ausschüssen, Arbeitgruppen oder Beauftragten)<br />
und ihre äußere Zusammenarbeit (Inter-Organisation)<br />
eigenverantwortlich regeln. Dies folgt aus ihrer<br />
herausgehobenen Stellung in der institutionellen Architektur<br />
der Gemeinschaften, Art. 7 EGV und Art. 3<br />
EAG.<br />
Die Organisationsgewalt endet – sowohl horizontal<br />
gegenüber den anderen Organen wie vertikal gegenüber<br />
den Mitgliedstaaten – an den Kompetenzgrenzen,<br />
welche die Verträge ziehen. Die Gemeinschaften<br />
und deren Organe besitzen keine „Kompetenz-Kompetenz“,<br />
dürfen sich selbst also keine neuenBefugnisseverschaffen.DasfolgtausdemGrundsatz<br />
der enumerativ begrenzten Einzelkompetenzen,<br />
den die Verträge mehrfach erwähnen oder unterstellen:<br />
Art. 5 EUV, Art. 3 Abs. 1, Art. 5UAbs. 1 und Art.<br />
7 Abs. 1 UAbs. 2 EGV. Dieser Grundsatz ist nur gewahrt,wenndieGemeinschaften(1)eineRegelungsbefugnis<br />
besitzen, die (2) vom richtigen Organ (3) im<br />
notwendigen Umfang ausgeübt wird.<br />
Die Erweiterung der Union um zehn auf 25 Mitgliedstaaten<br />
am 1. 5. 2004 hat die Organe personell erheblich<br />
anschwellen lassen. Seit der letzten Direktwahl<br />
im Juni 2004 umfasst das Parlament 732 Abgeordnete<br />
(Art. 189 EGV). Am Ratstisch sitzen, wenn jede<br />
Delegation einen Minister und zwei Begleiter zählt,<br />
schon 75 Personen. Der Gerichtshof rettete sich in<br />
neue Strukturen (vor allem Kammern). Selbst bei gutem<br />
Willen erscheint die Grenze der Handlungsfähigkeit<br />
der Organe erreicht zu sein. Die zahlenmäßigen<br />
Obergrenzen der Parlaments- (750 Abgeordnete)<br />
und der Kommissionsmitglieder (zwei Drittel der<br />
AnzahlderMitgliedstaatenab2014)inArt.I-20Abs.<br />
2 und Art. I-26 Abs. 6 VVE 2004 sind daher im Interesse<br />
einer überschaubaren, schlagkräftigen Organisation<br />
der künftigen Union zu begrüßen.<br />
Der Verfassungsvertrag 2004 wird nach den ablehnenden<br />
Referenden in Frankreich und den Niederlandenfrühestens2007/08inKrafttretenkönnen.Ob<br />
er das interinstitutionelle Gleichgewicht in der Praxis<br />
verändert, wird erst der künftige Verfassungsalltag<br />
einer auf fast 30 Mitgliedstaaten angewachsenen<br />
Union zeigen. Der Europäische Rat wird zum Haupt-<br />
Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE)<br />
organ aufrücken, Art. I-19 Abs. 1 VVE 2004, der<br />
Rechnungshof zum Nebenorgan absinken, Art. I-31<br />
VVE 2004. Nach dem Willen des Europäischen Rates<br />
vom Juni 2005 sollen auch die Organe der EG ihren<br />
Beitrag zu einem intensivierten öffentlichen Dialog<br />
über den Verfassungsvertrag 2004 leisten.<br />
Dennoch ist schon jetzt abzusehen, dass der einmal<br />
ratifizierte Verfassungsvertrag (1) die Rechte des<br />
Parlaments weiter stärken (Ausdehnung des Mitentscheidungsverfahrens,<br />
Wahl des Präsidenten der<br />
Kommission), (2) die Bedeutung des Europäischen<br />
Rates durch die Einsetzung eines hauptamtlichen<br />
Präsidenten erhöhen und (3) dem Europäischen Außenminister<br />
mit dem Doppelhut des Kommissions-Vizepräsidenten<br />
und des Vorsitzenden des Rates<br />
für Auswärtige Angelegenheiten eine erhebliche<br />
Machtfülleverleihenwird.DiesergewaltigeIntegrationsfortschritt<br />
sollte aber eine mehrjährige „Vertiefungsschnaufpause“<br />
nach sich ziehen, zumal die<br />
mögliche Erweiterung der Union um sieben Balkanstaaten<br />
und die Türkei bis 2015 ein Verweilen und<br />
„Verdauen“ anrät. Klimaveränderungen, Naturkatastrophen<br />
und Flüchtlingsströme werden in unserer<br />
„einen Welt“ die Ressourcen der Union derart zugunsten<br />
von Krisenprävention und �humanitärer<br />
Hilfe beanspruchen, dass für die Betrachtung des<br />
unionseigenen Nabels weniger Zeit und Kraft verbleibendürfte.<br />
P. Sch.<br />
Internet: http://europa.eu.int/institutions/index_de.htm<br />
Literatur:<br />
Bieber, R./Epiney, A./Haag, M.: Die Europäische Union.<br />
<strong>Europa</strong>recht und Politik. Baden-Baden 2005 6 ,S.115–166<br />
Borries, R. v./Zacker, Chr. (Hg.): <strong>Europa</strong>recht von A–Z.<br />
München 2002 3 , S. 292: Stichwort „Gemeinschaftsorgane“<br />
Geiger, R.: Kommentar zum EUV/EGV. München 2000 3 ,<br />
Art. 7 EGV Rn. 18 – 21<br />
Hilf, M.: Die Organisationsstruktur der Europäischen<br />
Gemeinschaften. Berlin/New York 1982<br />
Organisation für Sicherheit und<br />
Zusammenarbeit in <strong>Europa</strong> (OSZE)<br />
1. Begriffserklärung: Die OSZE entwickelte sich<br />
nach dem Ende des Ost-West-Konflikts aus der Konferenz<br />
über Sicherheit und Zusammenarbeit in <strong>Europa</strong><br />
(KSZE, seit 1975) zu einer internationalen Organisation<br />
(Umbenennung zum 1. 1. 1995). Der OSZE<br />
gehören alle Staaten in <strong>Europa</strong>, die Folgestaaten der<br />
Sowjetunion, die USA und Kanada an. Die Mitgliedschaft<br />
der Bundesrepublik Jugoslawien war seit Mai<br />
1992 suspendiert, im November 2000 traten Serbien<br />
und Montenegro der OSZE neu bei. Mit 55 Mitglie-<br />
581
Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE)<br />
dern ist die OSZE die größte Sicherheitsorganisation<br />
in <strong>Europa</strong>, die operative Aufgaben im Bereich von<br />
Krisenfrühwarnung und -prävention, Konfliktregulierung<br />
und -nachsorge erfüllt.<br />
2. Historische Entwicklung: Die KSZE, eine Folge<br />
unregelmäßiger Konferenzen von 35 Staaten (alle<br />
europäischen Staaten außer Albanien sowie die USA<br />
und Kanada), diente in der Zeit der Ost-West-<br />
Konfrontation als wichtiges Forum für den Dialog<br />
zwischen Ost und West und damit als wesentliches<br />
politisches Instrument zur Einhegung und Risikominderung<br />
dieses strategischen Konflikts. Die am<br />
1. 8. 1975 in Helsinki unterzeichnete „Schlussakte“<br />
hat, obgleich kein völkerrechtlicher Vertrag, mit ihrem<br />
Regelwerk politisch verbindlicher Verpflichtungen<br />
normativ-politische Maßstäbe für den weiteren<br />
Prozess der Entspannung, Annäherung und Zusammenarbeit<br />
in <strong>Europa</strong> gesetzt.<br />
Die zehn Prinzipien der Schlussakte von Helsinki<br />
lauten:souveräneGleichheitderStaaten,Enthaltung<br />
der Androhung oder Anwendung von Gewalt, UnverletzlichkeitderGrenzen,territorialeIntegritätder<br />
Staaten, friedliche Regelung von Streitfällen, Nichteinmischung<br />
in innere Angelegenheiten, Achtung<br />
der Menschenrechte und Grundfreiheiten, Gleichberechtigung<br />
und Selbstbestimmungsrecht der Völker,<br />
Zusammenarbeit zwischen den Staaten, Erfüllung<br />
völkerrechtlicher Verpflichtungen nach Treu und<br />
Glauben.<br />
Von diesen Prinzipien erlangten diejenigen, die aus<br />
westlicher Sicht auf die Transformation des Ost-<br />
West-Konflikts zielten, größere Bedeutung als die,<br />
welche aus östlicher Perspektive den politischen und<br />
territorialen Status quo sichern sollten. Insbesondere<br />
das Prinzip der Menschenrechte und Grundfreiheiten<br />
diente Bürgerrechtlern und Dissidenten in den<br />
Ostblockstaaten als Berufungsgrundlage und führte<br />
dazu, dass die Einforderung der Menschenrechte im<br />
KSZE-Rahmen nicht mehr als bloße Einmischung in<br />
innere Angelegenheiten abgewehrt werden konnte.<br />
Das Ende des Sowjetsystems Ende der 1980er, Anfangder1990erJahreführtezueinemgrundlegenden<br />
FunktionswandelderKSZE.Inder„ChartavonParis<br />
für ein Neues <strong>Europa</strong>“ von 1990 bekannten sich alle<br />
Teilnehmerstaaten zu westlichen Werten und Zielvorstellungen<br />
wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit,<br />
Marktwirtschaft und sozialer Gerechtigkeit.<br />
Auf der Grundlage dieser Wertegemeinschaft konnte<br />
die KSZE, ab 1995 die OSZE zu einem regionalen<br />
582<br />
Instrument der Krisenfrühwarnung und -prävention,<br />
Konfliktregulierung und -nachsorge ausgebaut werden.<br />
Seit Helsinki 1992 versteht sich die OSZE als<br />
„regionale Abmachung“ im Sinne von Kapitel VIII<br />
der VN-Charta. Der Sicherheitsbegriff der OSZE<br />
schließt die politisch-militärische, die menschliche<br />
sowie die wirtschaftliche und Umweltdimension ein<br />
und entspricht damit einem modernen multidimensionalen<br />
Sicherheitsverständnis, das die flexible BearbeitungderKonfliktpotentialein<strong>Europa</strong>erlaubt.<br />
3. Aktueller Stand: Die derzeitige Lage der OSZE<br />
wird durch drei grundlegende, teils widersprüchliche<br />
Trends geprägt: Erstens hat sie sich zu einer hoch<br />
operativen Organisation für Krisenprävention und<br />
-regulierung sowie für die Einhaltung von Demokratie-<br />
und Menschenrechtsstandards entwickelt. Zweitens<br />
hat die OSZE durch die Erweiterung der EU auf<br />
25 Mitgliedstaaten und die Entwicklung eigener Instrumente<br />
ziviler Krisenbearbeitung durch die Europäische<br />
Union ihr vormaliges Monopol in diesem<br />
Bereich verloren. Drittens stoßen die Aktivitäten der<br />
OSZE auf wachsende Kritik durch Russland und andere<br />
GUS-Staaten.<br />
3.1 Krisenfrühwarnung und -prävention, Konfliktregulierung<br />
und -nachsorge: Wichtigstes operatives<br />
InstrumentderOSZEsindseit1992ihregegenwärtig<br />
17Feldoperationen,diezuZweckenvonKrisenfrühwarnung<br />
und -prävention, Konfliktlösung und<br />
-nachsorge mit Zustimmung der betreffenden Staaten<br />
eingerichtet wurden. Alle Feldaktivitäten der<br />
OSZE sind in Folgestaaten der Sowjetunion (Armenien,<br />
Aserbaidschan, Belarus, Georgien, Kasachstan,Kirgisistan,Moldau,Tadschikistan,Turkmenistan,<br />
Ukraine, Usbekistan), in Albanien sowie in Folgestaaten<br />
Jugoslawiens bzw. Teilgliederungen desselben<br />
(Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Kroatien,<br />
Mazedonien, Serbien und Montenegro) tätig. Dabei<br />
variieren die Bezeichnungen dieser Feldoperationen<br />
(Mission, Büro, Zentrum etc.) ebenso wie ihr Personalumfang<br />
(von vier bis zu mehreren hundert internationalen<br />
Mitarbeitern). Die Mandate sind der jeweiligen<br />
politischen Situation angepasst und schließen<br />
u. a. Menschenrechtsfragen, Vermittlung zwischen<br />
Konfliktparteien, Integration von Minderheiten,<br />
Aufbau demokratischer Organisationen, Polizeireformen<br />
und Grenzüberwachung ein. Die derzeit<br />
größte OSZE-Mission ist diejenige im Kosovo<br />
(OMIK), die einen der drei Pfeiler der übergreifenden<br />
UN Interim Administration Mission in Kosovo
(UNMIK) darstellt und für Demokratisierung und<br />
Institutionenentwicklung zuständig ist. Mit der Konfliktlösung<br />
befassen sich auch Verhandlungsforen<br />
wie die sog. Minsk-Gruppe (Berg-Karabach-Konflikt).<br />
Besondere Dialoglinien werden durch Persönliche<br />
Vertreter des Amtierenden Vorsitzenden gepflegt.<br />
Seit einigen Jahren sind die Feldoperationen<br />
der OSZE Gegenstand wachsender Kritik seitens<br />
Russlands und anderer GUS-Staaten (vgl. 5. Wertung).<br />
Der Hohe Kommissar für nationale Minderheiten<br />
(HKNM) der OSZE befasst sich präventiv mit Konfliktpotentialen<br />
in Bezug auf nationale Minderheiten<br />
und unterstützt dabei die Umsetzung derer Rechte<br />
und ihre Integration in die jeweiligen Gesellschaften<br />
undStaaten.DerHKNMarbeitetunabhängig,unparteiisch,<br />
vertraulich und kooperativ. Obwohl seine<br />
Empfehlungen an die Regierungen nicht verbindlich<br />
sind, gilt er als effektives Instrument der Krisenprävention<br />
und Konfliktlösung. Der HKNM war/ist in<br />
Albanien, Estland, Georgien, Kasachstan, Kirgisistan,<br />
Kroatien, Lettland, Mazedonien, Moldau, Rumänien,<br />
Russland, der Slowakei, der Türkei, der<br />
Ukraine und Ungarn tätig. Dem ersten Amtsinhaber,<br />
dem früheren niederländischen Außenminister Max<br />
van der Stoel, der das Amt seit 1993 innehatte, folgte<br />
imJuli2001derschwedischeDiplomatRolfEkéus.<br />
Nach Inkrafttreten des Übereinkommens über Vergleichs-<br />
und Schiedsverfahren innerhalb der OSZE<br />
am 5. 12. 1994 wurde am 29. 5. 1995 der OSZE-<br />
Vergleichs- und Schiedsgerichtshof in Genf konstituiert<br />
(Präsident: Robert Badinter, Vizepräsident:<br />
Helmut Steinberger). Bisher wurden dem Gerichtshof<br />
noch keine Fälle vorgelegt.<br />
3.2 Die militärisch-politische Dimension:<br />
Das OSZE-Forum für Sicherheitskooperation (FSK)<br />
wurde durch den Helsinki-Gipfel 1992 eingesetzt.<br />
Sein Mandat sieht drei Aufgabenfelder vor: (a) Maßnahmen<br />
der Rüstungskontrolle, (b) institutionalisierter<br />
Sicherheitsdialog und Zusammenarbeit sowie<br />
(c) Beiträge zur Konfliktverhütung. In den<br />
1990er Jahren stand die Erarbeitung des Verhaltenskodex<br />
zu politisch-militärischen Aspekten der Sicherheit<br />
(1994) und die Weiterentwicklung von vertrauens-<br />
und sicherheitsbildenden Instrumenten<br />
(Wiener Dokument 1999) im Vordergrund. Letzteres<br />
sieht einen umfangreichen Informationsaustausch<br />
vor und ist Gegenstand jährlicher Überprüfungstreffen.<br />
Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE)<br />
Ab 2000 standen praktische Maßnahmen zur Unterstützung<br />
von Teilnehmerstaaten bei der Beseitigung<br />
bzw. sicheren Lagerung überschüssiger Waffen und<br />
Munition im Vordergrund der Tätigkeit des FSK.<br />
Dem dienten das Dokument über Kleinwaffen und<br />
leichte Waffen (2000) und das Dokument über Lagerbestände<br />
konventioneller Munition (2003). Entsprechende<br />
Hilfsersuchen wurden 2003/2004 von<br />
Belarus, Russland, Tadschikistan und der Ukraine<br />
gestellt. Auf der Grundlage u. a. eines Beschlusses<br />
über tragbare Luftabwehrsysteme (Maastricht 2003)<br />
trägt das FSK zu den Anstrengungen der OSZE zur<br />
Terrorismusbekämpfung bei. Das FSK beteiligt sich<br />
ebenfalls an der Durchführung der seit 2003 stattfindenden<br />
Jährlichen Sicherheitsüberprüfungskonferenzen<br />
der OSZE.<br />
3.3 Die menschliche Dimension: In dem für die gesamte<br />
Organisation zentralen Bereich Menschenrechte,<br />
Demokratie und Rechtsstaatlichkeit – genannt<br />
die „menschliche“ Dimension – schuf die<br />
KSZE vor allem auf ihren Treffen in Kopenhagen<br />
1990 und Moskau 1991 weitreichende politisch verbindliche<br />
Verpflichtungen über hohe, die Regelungsniveaus<br />
der UN und des �<strong>Europa</strong>rats teils übersteigende<br />
Standards in den Bereichen Menschenund<br />
Minderheitenrechte, Demokratie, demokratische<br />
Mitwirkungsrechte und Rechtsstaatlichkeit.<br />
Grundlage der Tätigkeit der OSZE in der menschlichen<br />
Dimension ist die im Moskauer Dokument<br />
1991enthalteneFeststellung,dassdieimBereichder<br />
menschlichen Dimension eingegangenen Verpflichtungen<br />
ein unmittelbares und berechtigtes Anliegen<br />
aller Teilnehmerstaaten und eine nicht ausschließlich<br />
innere Angelegenheit des betroffenen Staates<br />
darstellen. Seit einigen Jahren kritisieren Russland<br />
und andere GUS-Staaten ungeachtet der Festlegung<br />
des Moskauer Dokuments die Aktivitäten der OSZE<br />
im Bereich der menschlichen Dimension als EinmischungindieinnerenAngelegenheitenvonStaaten.<br />
Zur Überprüfung der Einhaltung der OSZE-Standards<br />
der menschlichen Dimension finden jährliche<br />
Implementierungstreffen statt, auf denen die Menschenrechtslage<br />
öffentlich kritisch erörtert wird. Die<br />
AktivitätenimBereichdermenschlichenDimension<br />
werden vom OSZE-Büro für Demokratische Institutionen<br />
und Menschenrechte in Warschau koordiniert.<br />
Direktor des Büros ist seit 2003 der österreichische<br />
Botschafter Christian Strohal, der dem Schweizer<br />
Botschafter Gérard Stoudman folgte.<br />
583
Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD)<br />
Das Amt des OSZE-Beauftragten für Medienfreiheit<br />
wurde zum 1. 1. 1998 geschaffen. Gegenstand ist die<br />
Einhaltung der einschlägigen OSZE-Verpflichtungen<br />
im Bereich unabhängiger, pluralistischer Medien<br />
als Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie.<br />
Erster Amtsinhaber war der deutsche Politiker<br />
und Publizist Freimut Duve, ihm folgte 2004<br />
der ungarische Schriftsteller und Journalist Miklos<br />
Haraszti.<br />
3.4 Die wirtschaftliche und Umweltdimension ist das<br />
am schwächsten ausgeprägte Arbeitsfeld der OSZE.<br />
Ein Austausch über Wirtschaftsthemen erfolgt auf<br />
dem jährlichen Wirtschaftsforum in Prag, das Tätigkeitsfeld<br />
wird von einem Koordinator für Wirtschafts-<br />
und Umweltaktivitäten betreut.<br />
4. Organisatorische Struktur<br />
Politische Organe: Höchstes Beschlussgremium,<br />
das politische Leitlinien für die Arbeit der Organisation<br />
formuliert, ist das Gipfeltreffen der Staats- und<br />
Regierungschefs. Es sollte eigentlich alle zwei Jahre<br />
stattfinden, de facto fand seit Istanbul 1999 kein Gipfeltreffen<br />
mehr statt. Jährlich tagt der OSZE-<br />
Ministerrat auf der Ebene der Außenminister. Der<br />
Hohe Rat aus den Politischen Direktoren der Außenministerien<br />
hat mittlerweile jede Bedeutung verloren.<br />
Stattdessen ist der Ständige Rat der Botschafter<br />
in Wien zum regelmäßig tagenden operativen Gremium<br />
für politische Konsultation und Beschlussfassunggeworden.OSZE-OrganefassenihreBeschlüsse<br />
im Konsens, wobei Konsens das Fehlen von Einspruch<br />
bedeutet.<br />
Die Arbeit der OSZE-Organe wird von dem jährlich<br />
wechselnden Amtierenden Vorsitzenden geleitet,<br />
dem Außenminister desjenigen Staates, der den Vorsitz<br />
übernommen hat (2005: Slowenien, 2004: Bulgarien,<br />
2003: Niederlande). Mit seinem Vorgänger<br />
und seinem Nachfolger bildet er die „Troika“. Im<br />
operativen Bereich verfügt der Amtierende Vorsitzende<br />
über weitgehende Initiativrechte und erhebliche<br />
exekutive Befugnisse.<br />
Verwaltungsorgan: Das OSZE-Sekretariat in Wien<br />
unter der Leitung des Generalsekretärs (seit 2005<br />
Marc Perrin de Brichambaut, Frankreich, zuvor Ján<br />
Kubi�, Slowakei) unterstützt den Amtierenden Vorsitzenden<br />
bei der Erfüllung seiner Aufgaben und<br />
übernimmt Managementaufgaben für die OSZE-Institutionen<br />
und -Feldoperationen, u. a. durch ein dem<br />
Sekretariat eingegliedertes Konfliktverhütungszentrum.<br />
584<br />
5. Wertung: Die OSZE hat in den 1990er Jahren im<br />
Konsens hohe normative Standards gesetzt und einen<br />
Handlungsrahmen sowie operative Instrumente<br />
geschaffen, um die Teilnehmerstaaten bei der Umsetzung<br />
dieses normativen Acquis hinsichtlich von<br />
Konfliktlösung, Demokratisierung und Transformation<br />
zu unterstützen. Seit etwa 2000 wird dieser Konsens<br />
von Russland, von Fall zu Fall unterstützt durch<br />
andere GUS-Staaten, zunehmend in Frage gestellt.<br />
Seit2000gelangesmiteinerAusnahme(Porto2002)<br />
nicht mehr, auf OSZE-Ministerratstreffen zu gemeinsamen<br />
Abschlusserklärungen zu kommen. Dabei<br />
unterstützt Russland nach wie vor den am Status<br />
quo orientierten sicherheitspolitischen Acquis der<br />
OSZE, wendet sich aber in wachsendem Maße gegen<br />
die auf Demokratisierung und Transformation und<br />
damit auf Veränderung gerichteten Aktivitäten der<br />
Organisationen im Bereich der menschlichen Dimension<br />
und bei den Feldoperationen. Dies umso<br />
mehr, als OSZE-Wahlbeobachtungen in einigen Fällen<br />
(Georgien 2003, Ukraine 2004) zu Regimewechseln<br />
beigetragen haben, die von Russland als westliche<br />
Einmischung in seine Interessensphäre verstanden<br />
werden. Diese Haltung Russlands und anderer<br />
GUS-Staaten reflektiert den Umstand, dass die Demokratisierungs-<br />
und Transformationsprozesse in<br />
den meisten postsowjetischen Staaten auf mehr oder<br />
minder autoritäre und traditionale Gesellschaftsstrukturen<br />
trafen. Während die weitere Existenz der<br />
OSZE nicht in Frage steht, ist derzeit noch nicht zu<br />
beurteilen, inwieweit die OSZE auch in Zukunft als<br />
Handlungsrahmen für die Unterstützung demokratischerTransformationsprozessedienenkann.<br />
W. Z.<br />
Literatur:<br />
Auswärtiges Amt: Von der KSZE zur OSZE. Grundlagen,<br />
Dokumente und Texte zum deutschen Beitrag. Bonn 1998<br />
Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der<br />
Universität Hamburg/IFSH (Hg.): OSZE-Jahrbuch, Bd. 1<br />
(1995) bis Bd. 10 (2004). Baden-Baden 1995 bis 2005<br />
Schlotter, P.: Die KSZE im Ost-West-Konflikt. Wirkung einer<br />
internationalen Institution. Frankfurt/M./New York 1999<br />
Tudyka, K. P.: Das OSZE-Handbuch. Die Organisation für<br />
Sicherheit und Zusammenarbeit von Vancouver bis<br />
Wladiwostok. Opladen 2002 2<br />
Internet:<br />
www.osce.org (offizielle Website der OSZE);<br />
www.isn.ethz.ch/osce (OSCE Networking Website)<br />
Organisation für wirtschaftliche<br />
Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD)<br />
1.GeneseundZiele:DieOrganisationfürwirtschaftliche<br />
Zusammenarbeit und Entwicklung – Organiza-
tion for Economic Cooperation and Development<br />
(OECD), Organisation de Coopération et de Développement<br />
Economiques (OCDE) – mit Sitz in Paris<br />
ist 1961 hervorgegangen aus der mit der Unterstützung<br />
des Marshallplanes betrauten Organisation für<br />
Europäische Wirtschaftliche Zusammenarbeit<br />
(OEEC). Die ursprünglichen Aufgaben der am 16. 4.<br />
1948 gegründeten OEEC (Organization for EuropeanEconomicCooperation)bestandenimWiederaufbau<br />
der kriegszerstörten Volkswirtschaften <strong>Europa</strong>s<br />
und in der Koordinierung der nationalen Aufbaupläne.<br />
Darüber hinaus strebten die damals 18 westeuropäischen<br />
OEEC-Länder eine weitgehende Liberalisierung<br />
des Handels- und Zahlungsverkehrs an.<br />
Ende der 1950er Jahre hatte die OEEC ihre Ziele im<br />
Wesentlichen erreicht. Da vor allem durch die Gründung<br />
der EWG die Integration in <strong>Europa</strong> noch wirksamer<br />
vorangetrieben werden konnte, wurde 1961<br />
auf Initiative der USA die OEEC durch die OECD,<br />
als ein im Prinzip weltweites Kooperationsgremium<br />
der industrialisierten Staaten, abgelöst.<br />
Die OECD trat am 1. 10. 1961 die Nachfolge der<br />
OEEC an. Ziel der OECD ist es, durch wirtschaftlicheZusammenarbeitihrer30Mitgliedstaaten(Stand<br />
2005) und Dialog mit anderen Ländern einen Beitrag<br />
zur Entwicklung der Weltwirtschaft zu leisten.<br />
Hauptinstrumente der OECD bilden Prüfungen<br />
durch gleichrangige Partner und gegenseitiger Austausch<br />
zur Konzipierung von Wirtschafts- und Sozialpolitiken,<br />
die darauf gerichtet sind, unter Wahrung<br />
der finanziellen Stabilität ein möglichst hohes<br />
und nachhaltiges Wachstum und Beschäftigungsniveau<br />
sowie einen steigenden Lebensstandard zu erreichen.<br />
Damit hat sich die OECD für die Mitgliedstaaten<br />
zwei Ziele gesetzt (Koordinierungsfunktion):<br />
– Förderung einer optimalen Wirtschafts- und Beschäftigungsentwicklung,<br />
steigender Lebensstandard<br />
und Wahrung der finanziellen Stabilität;<br />
– weit gehende Befreiung des Dienstleistungs- und<br />
Kapitalverkehrs von Beschränkungen.<br />
Darüber hinaus fördert sie das Wirtschaftswachstum<br />
der Entwicklungsländer und arbeitet auf eine Ausweitung<br />
des Welthandels hin. Im Zuge der fortschreitenden<br />
weltwirtschaftlichen Vernetzung erhält<br />
auch die OECD eine zunehmend globale Ausrichtung<br />
durch Intensivierung des Dialoges und der<br />
Zusammenarbeit mit Nicht-Mitgliedstaaten in der<br />
ganzen Welt (outreach).<br />
Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD)<br />
2. Struktur der OECD: Oberstes Organ der OECD ist<br />
der regelmäßig tagende Rat der Ständigen Vertreter<br />
der Mitglieder; einmal im Jahr tagt er auf Ministerebene.<br />
Der Exekutivausschuss aus 14 jährlich neu<br />
gewählten Mitgliedern (davon mit ständigem Sitz<br />
dieG-7-StaatenDeutschland,Frankreich,Italien,Japan,<br />
Kanada, USA und Vereinigtes Königreich) bereitet<br />
die Ratssitzungen vor und koordiniert die Aktivitäten.<br />
Über 150 Ausschüsse, Arbeitsgruppen und<br />
Expertengremien befassen sich mit einem breiten<br />
wirtschaftspolitischen und sozialen Themenbereich.<br />
2.1 OECD-Rat: Im Rat sind alle Mitgliedsländer mit<br />
einer Stimme vertreten. Um ihre Ziele zu verwirklichen,<br />
kann die OECD Beschlüsse fassen (grundsätzlich<br />
einstimmig), die für alle Mitglieder verbindlich<br />
sind, und Empfehlungen an die Mitglieder richten.<br />
Mit seinem Veto kann ein Staat nur verhindern, dass<br />
der Beschluss auf ihn angewendet wird. Der Rat setzt<br />
einen Exekutivausschuss und den Generalsekretär<br />
ein, der das Sekretariat (Sitz ist Paris) leitet.<br />
2.2 Ausschüsse: Zur Bewältigung der umfassenden<br />
Arbeiten wurden Ausschüsse gebildet, die sich aus<br />
Vertretern der Mitgliedstaaten zusammensetzen.<br />
Schwerpunkte der Arbeit sind: wirtschaftliche Zusammenarbeit,<br />
Energiepolitik, Handels-, Finanzund<br />
Steuerpolitik, Entwicklungszusammenarbeit,<br />
Währungspolitik, soziale Fragen, Arbeitsmarktprobleme,<br />
Umweltschutz, Städteplanung, Technologie<br />
und Industrie, Wissenschaft, Agrarpolitik und Fischerei.<br />
Im Wirtschaftspolitischen Ausschuss werden<br />
Stellungnahmen, Empfehlungen und Prognosen<br />
zur Konjunktur-, Struktur- und Währungspolitik der<br />
Mitgliedsländer ausgearbeitet. Einzeluntersuchungen<br />
über besondere wirtschaftliche Probleme und<br />
Jahresberichte über die Wirtschaftslage der OECD-<br />
Länder sind Aufgabe des Prüfungsausschusses für<br />
Wirtschafts- und Entwicklungsfragen. Eine wichtige<br />
Bedeutung hat der 1961 eingerichtete Entwicklungshilfeausschuss<br />
(Development Assistance<br />
Committee, DAC) mit 22 Mitgliedern (einschl. der<br />
EU-Kommission). Er koordiniert deren Entwicklungshilfe,<br />
die 95 % der öffentlichen Entwicklungshilfeleistungen<br />
der Industrieländer umfasst.<br />
2.3DasInternationaleSekretariatmitExpertenaller<br />
Sachgebiete untersteht einem Generalsekretär (seit<br />
1996 Donald Johnston, Kanada). Dieser ist RatsvorsitzenderundvertrittdieOECDnachaußen.DemSekretariat<br />
angegliedert ist das Zentrum für die Zusammenarbeit<br />
mit Nichtmitgliedstaaten. Die Finanzie-<br />
585
Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD)<br />
rung der OECD erfolgt durch Mitgliedsbeiträge und<br />
den Verkauf von Publikationen.<br />
2.4 Mitglieder der OECD sind Australien, Belgien,<br />
Deutschland, Dänemark, Finnland, Frankreich,<br />
Griechenland, Irland, Island, Italien, Japan, Kanada,<br />
Republik Korea, Luxemburg, Mexiko, Neuseeland,<br />
Niederlande, Norwegen, Österreich, Polen, Portugal,<br />
Schweden, Schweiz, Spanien, Slowakei, Tschechische<br />
Republik, Türkei, Ungarn, USA und Vereinigtes<br />
Königreich. Die EU-Kommission nimmt an<br />
der Arbeit der OECD teil. Eine Erweiterung ist absehbar.GrundsätzlichwerdennurLänderaufgenommen,<br />
die marktwirtschaftlich organisiert sind, einen<br />
fortgeschrittenen Entwicklungsstand erreicht haben<br />
unddieMenschenrechtesowiedieGrundsätzepluralistischer<br />
Demokratien respektieren. Dadurch kann<br />
die OECD ihrem Anspruch als Kooperationsforum<br />
gerecht werden.<br />
2.5 Institutionen: Mit der OECD sind drei Institutionen<br />
verbunden:<br />
– die Internationale Energie-Agentur (IEA) zur<br />
Koordinierung der Energiepolitik,<br />
– die Kernenergie-Agentur (NEA) zur Förderung<br />
der internationalen Zusammenarbeit der friedlichen<br />
Kernenergienutzung,<br />
– das Zentrum für Forschung und Innovation im<br />
Bildungswesen (CERI).<br />
3. Schwerpunkte der OECD: Zu den gegenwärtigen<br />
Schwerpunkten der OECD-Aktivitäten zählen u. a.<br />
folgende Themen und Politikbereiche: Finanz- und<br />
Geldpolitik, Beschäftigung, Welthandel, Armutsbekämpfung,<br />
Bekämpfung von Bestechung und Korruption,<br />
die Zusammenarbeit mit den Nichtmitgliedstaaten,<br />
Unternehmensführung, Erziehung und Bildung,<br />
alternde Gesellschaften, elektronischer Handel,<br />
Regulierungsreform, multilaterales Investitionsschutzabkommen,<br />
nachhaltige Entwicklung,<br />
Besteuerung.<br />
4. Die OECD und ihre Bedeutung für die EU: Die EU<br />
besitzt in der OECD einen Sonderstatus. Sie ist nicht<br />
Mitglied der Organisation, doch gibt die Europäische<br />
Kommission regelmäßig im Namen der Gemeinschaft<br />
zu Themen Stellungnahmen ab, die in<br />
ihre Zuständigkeit fallen oder zu denen ihre Mitgliedstaaten<br />
zuvor einen �Gemeinsamen Standpunkt<br />
festgelegt haben. Die OECD ist mit ihren makroökonomischen,<br />
handelspolitischen und strukturpolitischen<br />
Empfehlungen sowohl für die nationale<br />
als auch für die internationale wirtschaftspolitische<br />
586<br />
Diskussion für die Union eine der bedeutendsten und<br />
anerkanntesten wirtschaftspolitischen Beratungsorganisationen<br />
im internationalen Bereich. Die OECD<br />
ist auch in Zukunft in der Lage, wichtige, von anderen<br />
internationalen Organisationen nicht zu erbringende<br />
Beiträge bei Analyse und Politikgestaltung im<br />
Rahmen wirtschaftlichen Handelns im globalisierten<br />
Umfeld zu leisten. Für die Union ist wichtig, dass<br />
bei aller Betonung der globalen Ansätze in der<br />
OECD-Arbeit die Wertegemeinschaft der Mitgliedstaaten<br />
und die Verpflichtung zur Aufrechterhaltung<br />
hoher Standards nicht aus den Augen verloren werden.<br />
Die Aktivitäten der OECD in Richtung Nichtmitglieder<br />
(outreach) müssen sich an den gemeinsamen<br />
Interessen der Mitgliedstaaten orientieren. Die<br />
besondere Betonung der Kontakte mit den „Major<br />
Players“ (Russland, China, Brasilien, Indien und Indonesien)<br />
ist ebenso von hoher Bedeutung.<br />
Die OECD befasst sich mit einer breiten Palette makro-<br />
und mikroökonomischer Themen sowie mit<br />
Währungs- und Finanzfragen und seit den 1970er<br />
Jahren zunehmend auch mit energiewirtschaftlichen<br />
Problemstellungen. An diesen Diskussionen nimmt<br />
die Europäische Kommission vollberechtigt teil.<br />
Zentralen wirtschaftspolitischen Aspekt bilden in<br />
den1990erJahrendieStrategienzurFörderungeines<br />
nachhaltigen Wachstums und des sozialen Zusammenhalts<br />
im Kontext der Globalisierung der Wirtschaft,<br />
wobei die durch die hohe Arbeitslosigkeit<br />
ausgelösten und fortbestehenden Probleme in der<br />
OECD besonders im Mittelpunkt stehen.<br />
Die OECD hat zudem ihr Engagement im Handelsbereich<br />
dadurch erhöht, dass sie in der Frage der Exportkredite<br />
ein entscheidendes Wort mitredet. Alle<br />
Mitgliedstaaten der EU akzeptieren den sog. OECD-<br />
Konsens zu öffentlich unterstützten Exportkrediten,<br />
der seit 1978 dazu eingesetzt wird, diese öffentliche<br />
Unterstützung unter Kontrolle zu halten, und der entscheidend<br />
dazu beigetragen hat, dass es gelungen ist,<br />
bei den Kreditzinsen eine größere Marktnähe herzustellen.<br />
Die OECD kann ferner für sich verbuchen,<br />
dass sie in den Reihen ihrer Mitglieder die Diskussion<br />
über Themen wie Dienstleistungsverkehr und<br />
Handel mit Erzeugnissen der Hochtechnologie gefördert<br />
hat, und zwar häufig im Vorgriff auf die formellen<br />
und verbindlichen Verhandlungen im größerenRahmender�WTO.<br />
L. U.<br />
Literatur:<br />
Czempiel, E.: Weltpolitik im Umbruch. Das internationale Sys-
tem nach dem Ende des Ost-West-Konflikts. München 1991<br />
Deutsche Bundesbank (Hg.): Weltweite Organisationen und<br />
Gremien im Bereich von Währung und Wirtschaft.<br />
Frankfurt/M. 1997<br />
OECD (Hg.): Activities of OECD. Paris (jährlich)<br />
Ostasienpolitik der EU<br />
1. Die Ostasienpolitik der EU wird hier als die Beziehungen<br />
der EU mit den Staaten des Asiatisch-<br />
Pazifischen Raums, der sich zunehmend als regionale<br />
Einheit versteht, definiert. Dieser Politikbereich<br />
umfasst vier Komponenten:<br />
– bilaterale Beziehungen, wie insbes. EU – Japan sowie<br />
EU – Volksrepublik China,<br />
– biregionale Beziehungen, wie in erster Linie zwischen<br />
EU und ASEAN,<br />
– Mitarbeit in gemeinsamen Organisationen der Region,<br />
wie z. B. ASEM<br />
– Mitarbeit in multilateralen Initiativen, wie z. B. in<br />
Bezug auf die Kontrolle des Nuklearpotentials von<br />
Nordkorea.<br />
Die EU-Ostasien-Beziehungen gehören neben den<br />
EU-USA- und den EU-Lateinamerika-Beziehungen<br />
zu den politisch wichtigsten und ökonomisch attraktivsten<br />
„far-abroad“-Politiken der EU und haben für<br />
den Ausbau einer globalen Machtposition der EU<br />
zentrale Bedeutung. Wie in allen derartigen Beziehungen<br />
bzw. im Grundmuster von �GASP und<br />
�ESVP angelegt, ist auch die Ostasienpolitik der EU<br />
durch eine doppelte kooperative Konkurrenz, institutionelle<br />
Widersprüche und Interessen- wie Machtkonflikte<br />
zwischen EU und Mitgliedstaaten auf der<br />
einen Seite und Europäischer Kommission und außenpolitischen<br />
Repräsentanten des Ministerrates<br />
bzw. des zukünftigen Außenministers der EU gekennzeichnet.<br />
Wie auch in der EU-�Lateinamerikapolitik<br />
handelt es sich bei der EU-Ostasienpolitik in<br />
erster Linie um eine von politisch und ökonomischen<br />
Interessen geprägte „weiche“ Machtpolitik unter<br />
Verzicht auf militärische Mittel (mit Ausnahme einer<br />
sehr begrenzten Beteiligung der EU-Mitgliedstaaten<br />
bei peace-keeping-Aktionen im Asiatisch-<br />
Pazifischen Raum), die sowohl aufgrund der Interessenlage<br />
als auch der globalen Positionierung der EU<br />
mit der Politik der USA kooperiert, konkurriert und<br />
konfligiert. Und ähnlich wie bei der Lateinamerikapolitik<br />
der EU sind die Ostasienbeziehungen der Europäischen<br />
Union nicht nur eine Frage gemeinsamer<br />
oder kompatibler Interessen, sondern auch von globalen<br />
Strukturen und der inneren institutionellen wie<br />
Ostasienpolitik<br />
politisch-inhaltlichen Entwicklung der Europäischen<br />
Union.<br />
Die Wahrnehmung Ostasiens in den politischen Eliten<br />
und der Öffentlichkeit <strong>Europa</strong>s und damit auch<br />
die Akzeptanz und Legitimation der EU-Ostasienpolitik<br />
ist wie bei vielen „exotischen“ Themen sowohl<br />
durch positive Mythenbildung als auch durch<br />
Projektion von Ängsten gekennzeichnet. Dies gilt<br />
insbes. für China, das aus kulturellen, ökonomischen<br />
und politischen Gründen häufig im Mittelpunkt des<br />
europäischen Ostasienbildes steht. Die Mythologisierung<br />
Chinas hat eine lange Tradition. Sie reicht<br />
von Marco Polos Bericht über China als fernes wundersames<br />
Land, die Chinoiserie- und Porzellansammelmoden<br />
an den europäischen Höfen bis zur<br />
Mao-Tse-Tung-Begeisterung und Bewunderung der<br />
chinesischen Kulturrevolution unter europäischen<br />
Linksintellektuellen in den 1970er und 1980er Jahren.<br />
Zu den durch negative Projektionen geprägten Vorstellungen<br />
gehören z. B. der Rassismus der Kolonialzeit,<br />
die Beschwörung einer „gelben Gefahr“, die<br />
auch in der heutigen Debatte über die Entwicklung<br />
des chinesischen Militär- und Wirtschaftspotentials<br />
mitschwingt, sowie die in Politik und Publizistik<br />
nach wie vor gepflegten Prognosen eines bevorstehenden<br />
Untergangs des chinesischen Regimes. Die<br />
Wiedervereinigung Hongkongs mit dem chinesischen<br />
Mutterland stellte einen klassischen Fall solcher<br />
Untergangsprognosen dar; der Vergleich der<br />
westlichen Wahrnehmung der inneren Reformpolitik<br />
Gorbatschows und Deng Xiao Pings in der europäischen<br />
Öffentlichkeit ist ein weiteres Beispiel.<br />
Diese Gemengelage aus mangelnder Sachkenntnis,<br />
Projektionen und Eurozentrismus erschweren die<br />
Weiterentwicklung der der EU-Ostasienpolitik zugrundeliegenden<br />
Strategie des konstruktiven Engagements,<br />
eine sinnvolle Verbindung von EU-Interessen<br />
und Wertvorstellungen bei ihrer Umsetzung<br />
sowiedemZieleinerlangfristigenbiregionalenKoalitionsbildung<br />
(ein Ansatz, europäische und chinesische<br />
Menschenrechts- und good-governance-TraditionenmiteinanderinBezugzusetzen,findetsichbei<br />
Roetz, 1992).<br />
2. In der Geschichte der Beziehungen zwischen <strong>Europa</strong><br />
und Ostasien finden sich völlig unterschiedlicheMuster,StrukturenundDynamiken,diesichteils<br />
überlagern und teils miteinander konkurrieren. Der<br />
europäische Kolonialismus vor allem zwischen dem<br />
587
Ostasienpolitik<br />
18. und 20. Jh. in der klassischen Form von Handelsund<br />
später Siedlungskolonialismus bestimmt die politische<br />
wie ökonomische Entwicklung Ostasiens.<br />
Dabei spielen Kooperation, Machtteilung und<br />
MachtkonfliktzwischendeneuropäischenKolonialmächten<br />
eine wichtige Rolle. Hier ist, neben der kooperativ<br />
angelegten portugiesischen Handelsstützpunktpolitik<br />
(z. B. Macao), insbes. die Verbindung<br />
von Handels- und Siedlungspolitik der holländischen<br />
Kolonialpolitik in Indonesien, die mit repressivem<br />
Militäreinsatz abgesichert wird, und der ähnlich<br />
angelegten französischen Politik in Indochina<br />
sowie vor allem der britische Kolonialismus zu nennen.<br />
Dieser verbindet seine Stützpunktpolitik (z. B.<br />
Singapur und Hongkong) mit einer politisch-strategischwieökonomischglobalangelegtenMachtpolitik<br />
von China über das heutige Malaysia und Burma<br />
(Myanmar) bis über Indien, den Nahen Osten und<br />
Malta. Neben diesen kolonialen Beziehungsmustern<br />
bilden sich aber insbes. im Verlaufe des 19. Jhs. Beziehungen<br />
zwischen europäischen und unabhängigen<br />
asiatischen Staaten wie z. B. dem Königreich<br />
Thailand und den Kaiserreichen China und Japan heraus,<br />
die von formaler Unabhängigkeit der Partner<br />
geprägt sind. Diese reichen von einer weitgehenden<br />
Abhängigkeit (wie im Falle Thailands) über eine<br />
durch militärischen Interventionismus geprägte Beziehung<br />
(wie im Falle Chinas) bis zu einem quasigleichberechtigten<br />
Muster (wie im Falle Japans)<br />
nach seiner erzwungenen Öffnung gegenüber dem<br />
Westen. Insgesamt spielen also in dieser Periode europäische<br />
Mächte – und insbes. Großbritannien –<br />
eine zentrale Rolle für die politische und ökonomische<br />
Entwicklung der Region.<br />
Der Zweite Weltkrieg stellt einen dreifachen historischenEinschnittinderGeschichteOstasiensdar.Für<br />
die Region bedeutet die japanische militärische Expansion<br />
und die spätere Befreiung eine doppelte Erfahrung:<br />
erstens mit einer japanischen Besetzung<br />
und zweitens mit der Tatsache, dass die Region von<br />
außen, d. h. im Wesentlichen von den USA befreit<br />
wurde. Dabei etablieren sich die USA nicht nur als<br />
Garant regionaler Sicherheit (dies wurde insbes. im<br />
Korea-Krieg deutlich), sondern gegenüber Ländern<br />
wie Japan und den Philippinen auch als politischökonomische<br />
Seniormacht. Mit dem Ende des Weltkrieges<br />
bzw. mit dem amerikanischen Engagement<br />
in der asiatisch-pazifischen Region beginnt aber<br />
auch das Ende des europäischen Kolonialismus in<br />
588<br />
Ostasien, das in Fällen wie in Indonesien und Indochina<br />
durch Befreiungskriege erreicht wird. Sieht<br />
man von Ausnahmen wie z. B. Hongkong ab, marginalisiert<br />
das amerikanische Engagement und der<br />
Entkolonialisierungsprozess die Rolle europäischer<br />
Staaten in Ostasien auf ein Minimum. Es sind vor allemdieUSA,dieindieserPeriodeeinezentraleRolle<br />
in Ostasien spielen.<br />
Die Rückkehr <strong>Europa</strong>s nach Ostasien in den 1980er<br />
und 1990er Jahren geht auf die beiderseitige politisch-ökonomische<br />
Interessenlage und auf den europäischen<br />
Integrationsprozess und die GlobalisierungsstrategiederEUzurück.Fürdieexportgeleitete<br />
wirtschaftliche Erstarkung zunächst Japans, später<br />
der sog. Tigerstaaten und zuletzt Chinas spielen der<br />
Handel mit der EG/EU bzw. der sich immer mehr<br />
vereinheitlichende und vergrößernde europäische<br />
Markt wie auch die europäische Investitionstätigkeit<br />
in Ostasien eine immer größere Rolle. Die Entstehung<br />
der Währungsunion verstärkt dies noch. Sie<br />
wird schon sehr früh als doppelt bedeutsam angesehen:<br />
erstens in Bezug auf ihre währungspolitische<br />
Qualität und zweitens in Bezug auf die von ihr ausgehende<br />
Relativierung des japanischen Yen und des<br />
amerikanischen Dollars bzw. das dabei entstehende<br />
währungspolitische amerikanisch-europäische Duopol.<br />
Die damit zusammenhängende zunehmende politische<br />
Präsenz der EG/EU bzw. ihrer Mitgliedstaaten<br />
bedeutetet zwar keine Alternative zu den politisch<br />
und militärisch dominanten und ökonomisch wichtigen<br />
USA, eröffnete aber nach dem lateinamerikanischen<br />
Modell die Möglichkeit, die einseitige Abhängigkeit<br />
der Region von den USA durch eine Strategie<br />
der bipolaren Kooperation zu verringern und in der<br />
EU einen Koalitionspartner bei der Neupositionierung<br />
Ostasiens im internationalen Wirtschafts-, Finanz-<br />
und Handelssystem zu finden (dies wird z. B.<br />
durch das Engagement der EU für den Beitritt Chinas<br />
zur WTO illustriert; angesichts der Rolle der WTO in<br />
den vielen Handelskonflikten zwischen EU und<br />
USA haben Allianz- bzw. Koalitionsbildungen innerhalb<br />
der WTO eine wichtige politische Bedeutung).<br />
Dass die EU dabei einen politischen Preis – z. B. stärkeren<br />
Umweltschutz, humane Arbeitsbedingungen,<br />
Fortschritte in der Menschenrechtspolitik – fordert,<br />
erscheint den ostasiatischen Ländern wie auch<br />
ASEAN prinzipiell akzeptabel bzw. für ihre eigene
innere Reformagenda nützlich (die chinesische Führung<br />
bediente sich z. B. der Mitgliedschaft in der<br />
WTO, um die Fortsetzung ökonomischer Reformen<br />
nach innen besser zu legitimieren). Für die EG/EU-<br />
Mitgliedsländer ist dabei der ostasiatische Markt –<br />
oder besser die ostasiatischen Märkte – nicht nur als<br />
high-absorber-Märkte mit Wachstumsraten bis über<br />
10 % besonders interessant, sondern auch wegen der<br />
geringeren Produktionskosten für Investitionen wie<br />
für Produktionsauslagerungen attraktiv. Dieses doppelte<br />
Interesse der Europäer führt dann dazu, dass sie<br />
nicht nur an der Fortsetzung hoher Wachstumsraten,<br />
sonderndanebenauchanökonomischenReformprozessen<br />
wie z. B. in China, an der Verrechtlichung der<br />
ostasiatischen Volkswirtschaften nach westlichem<br />
Modell und an der allgemeinen Durchsetzung des<br />
Freihandelsprinzips – so z. B. auch im Falle protektionistischer<br />
Politiken wie in Japan – interessiert<br />
sind. Die Realisierung eines solchen gemeinsamen<br />
Interesses ist aber nur unter Bedingungen allgemeinpolitischerundinsbes.sicherheitspolitischerStabilität<br />
möglich. Dauerhafte politische Stabilisierung<br />
durch schrittweisen Ausbau von Reformen bzw. von<br />
Demokratisierungsprozessen wie z. B. in China,<br />
Thailand, Indonesien usw. plus ein möglichst geringes<br />
militärisches Konfliktrisiko bzw. ein hohes Maß<br />
an friedlichem Konfliktmanagement und -lösung<br />
sind aber nicht nur notwendige Bedingungen für den<br />
Ausbau der europäisch-asiatischen Wirtschaftsbeziehungen,<br />
sondern auch sinnvoll, um die Abhängigkeit<br />
von dem militärischen Sicherheitsgarantien der<br />
USA zu verringern.<br />
Die EG/EU-Ostasienbeziehungen und die entsprechenden<br />
Maßnahmen von EG/EU sind nicht nur für<br />
dieEU-Mitgliedstaaten,sondernauchfürdieEUvon<br />
doppeltem strategischen Interesse. Erstens komplementiert<br />
das ökonomisch-politische Engagement<br />
der EU in Ostasien die EG/EU-Lateinamerika-Politik.<br />
Ähnlich wie Lateinamerika ist Ostasien für die<br />
EU von dreifacher Bedeutung: als Wirtschaftsraum,<br />
als Region mit einsetzenden Regionalisierungsprozessen<br />
und damit als ein möglicher Partner für eine<br />
regionalistische Globalstrategie, und schließlich als<br />
Region, in die die EG/EU ihr politisches Modell in<br />
Konkurrenz zu den USA projiziert. Für eine in erster<br />
Linie auf politisch-wirtschaftlichen Interessen basierende<br />
Globalstrategie kann und will die EU auf<br />
diese Region nicht verzichten; eine strategisch angelegte<br />
Kooperation gerade mit Ostasien ist – unabhän-<br />
Ostasienpolitik<br />
gig von allen inneren Problemen dieser Region – für<br />
eine stärkere globale Rolle der EU unverzichtbar;<br />
zweitens kann dabei gerade in der Verbindung der<br />
vier Komponenten der EU-Ostasienpolitik die Rolle<br />
von Europäischer Kommission bzw. EU gegenüber<br />
den Mitgliedstaaten gestärkt werden. Eine erfolgreiche<br />
Bündelung der Interessen und Machtpotentiale<br />
der Mitgliedstaaten gerade in einer politisch wie<br />
wirtschaftlich so attraktiven Region bringt dabei die<br />
EU nicht nur dem Ziel einer Gemeinsamen AußenundSicherheitspolitiknäher,sondernziehtaucheine<br />
außen- wie wirtschaftspolitische GewichtsverlagerungvondenMitgliedstaatenzurEUnachsich.<br />
Wenn man davon ausgeht, dass die EU-Ostasienpolitik<br />
nicht nur Ostasien betrifft, sondern auch ein<br />
wichtiger Teil der EU-Global- und insbes. EU-<br />
USA-Politik ist, müssen auch ihre aktuellen und<br />
strukturellen Grenzen bestimmt werden. Diese werden<br />
insbes. im Krisenfall deutlich und finden sich in<br />
allen Handlungsbereichen. In der ökonomischen ZusammenarbeitzwischenEUundOstasienmachtedie<br />
asiatische Finanzkrise Ende der 1990er Jahre den<br />
komparativen Machtnachteil der EU gegenüber den<br />
USA deutlich. So konnte und wollte die EU weder direkt<br />
beim Management oder der Lösung der Finanzkrise<br />
eingreifen bzw. helfen noch ihren Einfluss gegenüber<br />
ASEAN nutzen, um statt einer nationalen<br />
eine regionale Lösung zu propagieren; es waren die<br />
USA, die die Lösungsstrategien definierten und die<br />
entscheidenden Finanzhilfen vergaben bzw. organisierten.<br />
Im politischen agenda-setting der Region ist<br />
die EU sowohl aufgrund ihres Machtprofils als auch<br />
ihrer inneren Entscheidungsprobleme zwar präsent<br />
und aufgrund ihres politischen Modells wie ihrer<br />
„weichen“ Machtpolitik durchaus attraktiv; es sind<br />
aber die USA, die die politischen Prioritäten von<br />
Nordkorea bis Indonesien setzen und durchsetzen.<br />
Besitzt die EU im wirtschaftlichen und – in begrenzterem<br />
Maße – im politischen Bereich noch Einfluss,<br />
so ist sie in Bezug auf militärische Sicherheit irrelevant.<br />
Regionale Krisen mit militärischem Eskalationsrisiko<br />
wie die Drohungen Chinas gegenüber<br />
Taiwan oder die nordkoreanische Nuklearpolitik<br />
einschl. ihrer Raketentests revitalisierten das amerikanische<br />
Monopol für die regionale Sicherheit ebenso<br />
wie die Sorgen vor einem chinesisch-japanischen<br />
Rüstungswettlauf. Trotz ihres Engagements für<br />
friedliche Lösungen spielt die EU in Bezug auf die<br />
Militärproblematik in Ostasien keine nennenswerte<br />
589
Ostasienpolitik<br />
Rolle (dies gilt auch für die Waffenexportpolitik der<br />
EU bzw. ihrer Mitgliedstaaten. Waffenimporte aus<br />
den USA bzw. Russland wie die Entwicklung eigener<br />
Waffensysteme spielen für die Modernisierung<br />
von Militärpotentialen in Ostasien eine sehr viel größere<br />
Rolle als die Importe aus der EU).<br />
3. Unter den vier Komponenten der EU-Ostasienpolitik<br />
sind die bilateralen Beziehungen mit Japan<br />
sowie der Volksrepublik China und die biregionale<br />
Kooperation mit ASEAN von besonderer Bedeutung.<br />
Die schon früh einsetzende Zusammenarbeit<br />
mit Japan geht dabei nicht nur auf die dominante<br />
wirtschaftliche Rolle Japans in Ostasien, sondern<br />
auch auf die Bedeutung des EU-japanischen Handelsverkehrs<br />
zurück. Der schrittweise Ausbau der<br />
Außenhandelskompetenzen der EU wie auch bündnispolitischeRücksichtengegenüberdenUSAerforderten<br />
Maßnahmen zum Abbau des japanischen Protektionismus<br />
wie zur besseren Steuerung der Handels-<br />
und Investitionsströme. Die Aufnahme der offiziellen<br />
diplomatischen Beziehungen zu China<br />
1975 wurde durch Initiativen von Mitgliedstaaten<br />
vorbereitet und induziert.<br />
Die nach Einsetzen der Wachstumseffekte der Reformen<br />
Deng Xiao Pings Ende der 1980er Jahre erweiterte<br />
und vertiefte Zusammenarbeit mit China<br />
hatte bzw. hat dagegen nicht nur eine ökonomische,<br />
sondernaucheinepolitischeKomponente.Dieswurde<br />
insbes. durch die in der Madrider Ratssitzung von<br />
1995 verabschiedete Grundsatzerklärung „A long<br />
term policy for Europe-Chinese relations“ deutlich.<br />
Nach den ersten Schritten in Richtung auf eine<br />
�GASP wurde diese 1998 mit der Leitlinie „Building<br />
a comprehensive partnership with China“ insbes. im<br />
politischen Bereich erweitert und vertieft. Die heutige<br />
enge und weitgehend konfliktfreie Kooperation –<br />
und vor allem der bündnisstrategische Aspekt dieser<br />
Zusammenarbeit – zwischen der EU und China wird<br />
insbes. in den fast zeitgleichen Dokumenten der Europäischen<br />
Kommission „A maturing partnership.<br />
Shared interest and challenges in EU-China relations“<br />
(September 2003, KOM 2003/535 endg.) und<br />
der chinesischen Regierung „China‘s EU policy paper“<br />
(13. 10. 2003) deutlich gemacht.<br />
Die politische Komponente der Zusammenarbeit lag<br />
zwar auch im Bereich der Stabilisierung der ökonomisch-politischen<br />
Reformen, der Entwicklung von<br />
Menschenrechten, Rechtsstaatsprinzipien und von<br />
Produktionsstandards (dazu gehören heute insbes.<br />
590<br />
Umweltstandards und – wie in anderen ostasiatischen<br />
Ländern auch – der Schutz geistigen Eigentums);<br />
sie war aber mehr durch die politisch-wirtschaftliche<br />
Konkurrenz zu den USA bzw. durch globale<br />
Koalitionsbildungsinteressen bestimmt. So unterscheiden<br />
sich die EU-japanischen von den EUchinesischen<br />
Beziehungen nicht nur in der wirtschaftspolitischen,<br />
sondern auch der bündnispolitischen<br />
Zielsetzung. Während ein europäisch-japanisch-amerikanischer<br />
Trilateralismus wie auch ein<br />
amerikanisch-japanisches Senior-Junior-Modell<br />
nicht den heutigen Weltordnungsvorstellungen der<br />
EU entsprechen, lässt sich Chinas auf regionale Assoziation<br />
und globale Multipolarität gerichtete Politik<br />
viel eher mit der auf Biregionalismus, kompetitiver<br />
Partnerschaft mit den USA und weicher Machtpolitik<br />
beruhenden Globalpolitik der EU harmonisieren.<br />
Bereits 1977 wurde in Brüssel das EU-ASEAN-Dialogforum<br />
gegründet und 1980 mit einem Kooperationsvertrag<br />
abgesichert. Diese Beziehungen knüpfen<br />
zunächst an den allgemeinen friedenspolitischen<br />
und ökonomischen Zielen der ASEAN-Gründung<br />
von 1967 an und verdeutlichen das Interesse der EU,<br />
nicht nur Beziehungen mit dem wichtigsten Regionalisierungs-<br />
bzw. „pluralen Gemeinschaftsbildungs“-prozess(Pareira,2003,S.45)inAsienaufzunehmen<br />
sondern auch über ASEAN einen leichteren<br />
Zugriff in die weitgehend US-amerikanisch dominierte<br />
asiatisch-pazifische Region zu erhalten. Nach<br />
einer Krise zu Anfang der 1990er Jahre aufgrund von<br />
Differenzen in Bezug auf Menschenrechte und Demokratie<br />
und im Zusammenhang mit den infrastrukturellen<br />
und inhaltlichen Veränderungen der EU-<br />
Außenpolitik werden diese Beziehungen mit dem<br />
1994 eingerichteten Asia(ASEAN)-Europe-Meeting<br />
(�ASEM) institutionell wie inhaltlich revitalisiert<br />
und erhalten auch eine neue Dynamik. Diese<br />
geht zunächst wie bei der EU-Politik gegenüber China<br />
auf die wachsenden Handels- und Investitionsinteressen<br />
in der ASEAN-Region und im gesamten<br />
asiatisch-pazifischen Raum sowie auf Demokratisierungs-,<br />
Stabilisierungs- und umweltpolitische<br />
Fortschritte in den ASEAN-Ländern zurück. Darüber<br />
hinaus wird aber ASEAN trotz seines Versagens<br />
bei der asiatischen Finanz- und Währungskrise in<br />
den 1990er Jahren politisch doppelt interessant. Erstens<br />
verleihen die Gründung des ASEAN Regional<br />
Forums (ARF) von 1994 mit seiner explizit sicher-
heits- und militärpolitischen Zusammenarbeit, die<br />
ASEAN-Erweiterung und die in der ASEAN-plus-<br />
Drei quasi-institutionalisierten Zusammenarbeit mit<br />
China, Südkorea und Japan dieser Regionalorganisation<br />
trotz ihrer inneren Widersprüche neues Gewicht.<br />
Zweitens verstärken sich mit der Gründung<br />
(1989) und den nachfolgenden Aktivitäten des<br />
Asia-Pacific Economic Cooperation (APEC), dem<br />
neuen militärischen Beistandsabkommen zwischen<br />
USA und Japan und den politischen Aktivitäten der<br />
USA in Südostasien, gegenüber China und in Bezug<br />
auf die Nordkoreaproblematik die Bemühungen der<br />
USA, ihre traditionelle Rolle im asiatisch-pazifischen<br />
Raum gegenüber dem Konkurrenten EU –<br />
und EWU – zu verteidigen bzw. dies auch institutionell<br />
abzusichern. Wie in den EU-China-Beziehungen<br />
verbinden sich wirtschafts-, ordnungs- und<br />
bündnispolitische Interessen; im Gegensatz zu den<br />
EU-China- bzw. EU-Japan-Beziehungen handelt es<br />
sich trotz des nur multilateralen Charakters von<br />
ASEAN und ASEAN+3 hierbei aber um einen Biregionalismus,<br />
der sowohl dem grundsätzlichen Charakter<br />
der EU entgegenkommt als auch durch die Zusammenarbeit<br />
vor allem mit China und Japan als regionalen<br />
„Groß“-Mächten ein zusätzliches strategisches<br />
Gewicht für die Globalstrategie der EU erhält.<br />
Ob und wie diese Zusammenarbeit zwischen<br />
ASEAN auf der einen Seite und China und Japan auf<br />
der anderen Seite sich weiter gestalten wird, bleibt<br />
offen. China und Japan sind in der Anlage ihrer Regionalpolitik<br />
noch weniger zu einem fortgeschrittenen<br />
Multilateralismus als die ASEAN-Mitgliedsländer<br />
bereit und fähig. Dem Einbezug von China<br />
und Japan in einen ausgeweiteten und sich vertiefenden<br />
Regionalisierungsprozess stehen sowohl die<br />
Konkurrenzkonflikte zwischen China und Japan als<br />
auch die Befürchtungen der ASEAN-Länder vor einer<br />
chinesischen oder japanischen Dominanz entgegen.<br />
ASEANs Erfahrungen mit der Finanz- und<br />
Währungskrise, dem Nordkorea-Problem und den<br />
Schwierigkeiten zwischen China und Taiwan machen<br />
darüber hinaus auch eine Vertiefung bzw. eine<br />
qualitative Verbesserung der Handlungsfähigkeit<br />
von ASEAN für die absehbare Zukunft nur wenig<br />
wahrscheinlich.<br />
4. Die EU-Ostasienpolitik weist allerdings eine Reihe<br />
von Defiziten bzw. Widersprüchen auf, die auch<br />
noch auf absehbare Zeit sowohl den politischen<br />
Handlungswillen der EU als auch ihre Handlungsfä-<br />
Ostasienpolitik<br />
higkeit in bzw. gegenüber der Region begrenzen<br />
wird. Dabei sind es weniger das Fehlen einer konsistenten<br />
globalen „grand strategy“, die Widersprüche<br />
zwischen interregionalistischem und bilateralistischem<br />
Ansatz oder die mangelnde Harmonisierung<br />
der verschiedenen Sach- und Regionalpolitiken. Es<br />
sind vielmehr die strukturellen Probleme der EU, die<br />
eine gleichberechtigte Partnerschaft oder eine erfolgreiche<br />
Konkurrenz mit Ländern wie den USA<br />
bzw. Japan und China als den „Großmächten“ der<br />
Region erschweren.<br />
Erstens muss hier der klassische Macht- und Interessenkonflikt<br />
zwischen der EU auf der einen Seite und<br />
ihren Mitgliedstaaten auf der anderen Seite genannt<br />
werden, der sich auch im Widerspruch zwischen integrativem<br />
und intergouvernementalem Verständnis<br />
von GASP niederschlägt. Dieser wird auch dann gerade<br />
wegen der involvierten ökonomischen Interessen<br />
an und in Ostasien weiterbestehen, wenn die zur<br />
Zeit noch bestehende institutionelle Konkurrenz<br />
zwischen Europäischer Kommission und ihren<br />
Kompetenzen im Bereich der AußenwirtschaftspolitikunddemHohenRepräsentantendesMinisterrates<br />
und seinen Kompetenzen im außen- und sicherheitspolitischen<br />
Bereich im Rahmen des neuen EU-Verfassungsvertrags<br />
2004 relativiert wird.<br />
Zweitens ist es der unausgewogene Instrumentenkatalog<br />
der EU, der ihrem Einfluss gerade in Ostasien<br />
Grenzen setzt. Im Zusammenhang mit der asiatischen<br />
Finanz- und Währungskrise wurde bereits darauf<br />
hingewiesen, dass der Einfluss der EU als Akteur<br />
im Weltwirtschafts-, Weltwährungs- und Weltfinanzsystem<br />
dort endet, wenn Finanzkrisen gerade<br />
eine aktive Hilfe bzw. einen Steuerungseingriff erfordern.<br />
Darüber hinaus wird gerade im Vergleich<br />
mit den Fähigkeiten der USA zur globalen militärischen<br />
Machtprojektion und ihrer traditionellen Dominanz<br />
im politischen agenda-setting deutlich, dass<br />
die militärischen Machtpotentiale der EU wie auch<br />
ihr außen- bzw. diplomatiepolitisches Gewicht zur<br />
Zeit und gerade gegenüber Ostasien nur als marginal<br />
zu bewerten sind. Worst-case-Szenarien, wie ein<br />
eskalierender Nuklearkonflikt in Nordostasien oder<br />
eine Wiederholung der asiatischen Finanzkrise unter<br />
anderen Vorzeichen und unter Einschluss von Ländern<br />
wie China, machen die Grenzen des Einflusses<br />
der EU in Ostasien und auch ihres Bündniswertes sowohl<br />
gegenüber den ostasiatischen Ländern wie<br />
ASEAN deutlich.<br />
591
Österreich<br />
Drittens muss auf die strukturellen Schwierigkeiten<br />
der EU bei ihrer global- und ostasienpolitischen Willensbildung<br />
hingewiesen werden. Diese liegen nicht<br />
nur im Verhältnis zwischen Mitgliedstaaten und EU<br />
bzw. in der Organisation des Entscheidungsprozesses<br />
im engeren Sinne. Sie liegen ebenso in der durch<br />
Erweiterungen hervorgerufenen bzw. verstärkten<br />
Beschäftigung mit inneren Problemen, in der Unterschiedlichkeit<br />
des Interesses an Ostasien und an den<br />
Schwierigkeiten, auf Dauer eine breite Akzeptanz<br />
für eine substantielle Kooperation mit Ostasien aufzubauen<br />
und zu erhalten und schließlich an der nach<br />
wie vor bestehenden Attraktivität einer amerikanisch-europäischen<br />
Arbeitsteilung, in der die USA<br />
die globale Steuerung und Problemlösung dominieren<br />
und wie bisher eine dominante Rolle in Ostasien<br />
spielen.<br />
Die Rückkehr <strong>Europa</strong>s in Ostasien in Gestalt einer<br />
EU-Ostasienpolitik basiert nicht nur auf gemeinsamen<br />
wirtschaftlichen Interessen und bündnis- oder<br />
konkurrenzorientierten Überlegungen. Auch eine<br />
weiche Machtpolitik gegenüber und mit ostasiatischen<br />
nationalen wie regionalen Akteuren erfordert<br />
– neben einer angemessenen Handlungsfähigkeit<br />
einschl. der nötigen Entscheidungsinfrastrukturen<br />
und Instrumente – einen politischen Handlungswillen,<br />
der mit sachkompetenter Verantwortung eine<br />
langfristig angelegte substantielle und nach innen<br />
wie außen überzeugende Politik betreibt. Insoweit<br />
stehtdieEU-OstasienpolitikerstinihrenAnfängen.<br />
Literatur:<br />
R. S.<br />
Grabendorff, W./Seidelmann, R. (eds.): Relations between the<br />
European Union and Latin America: Biregionalism in a<br />
changing global system. Baden-Baden 2005<br />
Gu, X.: Europe and Asia. Mutual perceptions and expectations<br />
on the way to a new partnership in the twenty-first century.<br />
Baden-Baden 2002<br />
Güssgen, A. et al. (Hrsg.): Hongkong nach 1997. Köln 2002<br />
Pareira, A.: ASEM (Asia-Europe Meeting). Frankfurt 2003<br />
Roetz, H.: Die chinesische Ethik der Achsenzeit.<br />
Frankfurt 1992<br />
Sales Marques, J.: China-EU Relations. Perceptions and<br />
realities. Dissertation University of Macau 2004<br />
Österreich, Sanktionen gegen Österreich<br />
(wegen der Koalition ÖVP-Schüssel/FPÖ-Haider<br />
2000). Nach dem österreichischen Regierungswechsel<br />
im Jahr 2000 wurden rund 8 Monate lang – erstmals<br />
seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs – praktisch<br />
sämtliche bilateralen Beziehungen der (damals)<br />
übrigen 14 EU-Staaten zu Österreich eingefro-<br />
592<br />
ren, Kontakte mit österreichischen Botschaftern<br />
wurden auf ein (technisches) Minimum reduziert,<br />
österreichische Kandidaten wurden für internationale<br />
Ämter nicht mehr unterstützt. Das durch den Amsterdamer<br />
Vertrag eingeführte �Notstandsverfahren<br />
konnte für diese EU-Aktion gegen Haider/Österreich,<br />
die durch einen gemeinsamen Entschluss der<br />
14 europäischen Staats- und Regierungschefs am 31.<br />
1. 2000 begonnen und nach dem „Bericht der drei<br />
Weisen“ Frowein, Ahtisaari und Oreja vom 12. 9.<br />
2000 abgebrochen wurde, nicht herangezogen werden.<br />
Denn die Voraussetzungen der vor Inkrafttreten<br />
desVertragsvonNizzageltendenRegelungenwaren<br />
sichernichterfüllt:Wedervoneiner„schwerwiegenden“<br />
noch von einer „anhaltenden“ Verletzung der<br />
freiheitlich-demokratischen Grundordnung durch<br />
die neue österreichische Regierung konnte die Rede<br />
sein. Haider konnte kaum mit Österreich gleichgesetzt<br />
werden. Trotz der üblen Rhetorik hatten weder<br />
HaidernochseineAnhängerGesetzegebrochen.Das<br />
Programm der österreichischen Regierung war nicht<br />
besonders radikal. Die österreichische Regierung<br />
sollte durch die EU-Isolationsmaßnahmen mithin<br />
nicht für das bestraft werden, was sie getan hat oder<br />
möglicherweise tun könnte; sie wurde vielmehr für<br />
die Rhetorik einer ihrer Regierungsparteien bestraft.<br />
Da <strong>Europa</strong>recht nicht einschlägig war, deuteten die<br />
14 EU-Staaten folgerichtig ihre kollektiven Strafund<br />
Quarantänemaßnahmen als „bilaterale Maßnahmen<br />
von souveränem Staat zu souveränem Staat“ im<br />
Sinne einer „außerjuristischen Einheitsfront zur<br />
Verteidigung der Europäischen Werteordnung“. Ob<br />
diese moralische Ächtung der österreichischen Regierung<br />
Schüssel als „FPÖ-Steigbügelhalter zur<br />
bundespolitischen Macht“ im Sinne von Max Weber<br />
gesinnungsethisch zu rechtfertigen war, kann dahinstehen.<br />
Verantwortungsethisch jedenfalls dürfte<br />
sie kaum legitimiert gewesen sein, stellt man insbes.<br />
in Rechnung, dass sich faktisch ganz Österreich und<br />
alle Österreicher von der „europäischen Keule“ getroffen<br />
fühlten und zudem die meisten EU-Politiker<br />
zwar auf Haider zielten, primär aber wohl die eigenen<br />
Leute zu Hause meinten. Ganz zu schweigen von<br />
der gesteigerten Medienpopularität, die die EU-<br />
AktiondemPolitikerHaiderbescherte. J. M. B.<br />
Osterweiterung der EU<br />
1. Ziel der Osterweiterung. In der Folge des Zusammenbruchs<br />
der kommunistischen Herrschaftssyste-
me richteten die Staaten Mittel-, Ost- und Südosteuropas<br />
ihre Politik verstärkt auf die Europäische<br />
Union aus. Die EU wird von ihnen, wie auch von den<br />
meisten Nachfolgestaaten der UdSSR, zu Recht als<br />
das Gravitationszentrum <strong>Europa</strong>s eingeschätzt.<br />
Nach der Unterzeichnung eines ersten Handels- und<br />
Kooperationsabkommen zwischen Ungarn und der<br />
EG im Jahr 1988 wurden seit 1989 eine Vielzahl von<br />
inhaltlich unterschiedlich weitreichenden bilateralen<br />
Partnerschafts-, Handels- und Kooperationssowie<br />
Assoziierungsabkommen über eine politische<br />
und wirtschaftliche Annäherung dieser Staaten an<br />
die EU vereinbart. In den zwischen 1991 und 1996<br />
geschlossenen �Assoziierungsabkommen (�„<strong>Europa</strong>abkommen“)<br />
wurde von den Vertragsparteien zudem<br />
festgehalten, dass langfristiges Ziel der Assoziierung<br />
„letztlich die (EU-)Mitgliedschaft“ sei.<br />
Zwischen 1994 und 1996 haben die zehn Staaten<br />
Mittel-, Ost- und Südosteuropas, mit denen <strong>Europa</strong>abkommen<br />
bestehen (�„MOE-Staaten“: Polen,<br />
Ungarn, Tschechien, Slowakei, Estland, Lettland,<br />
Litauen, Slowenien, Rumänien, Bulgarien), Beitrittsanträge<br />
bei der EU eingereicht und in der Folge<br />
mit steigendem Nachdruck auf die Aufnahme konkreter<br />
Beitrittsverhandlungen gedrängt. Erst nach<br />
Abschluss der Regierungskonferenz 1996/97, bei<br />
der wichtige EU-interne Reformen beschlossen wurden<br />
(�Vertrag von Amsterdam), setzte die EU das<br />
Thema Osterweiterung zusammen mit der �Agenda<br />
2000 oben auf die EU-Tagesordnung und leitete in<br />
der Folge einen umfassenden Erweiterungsprozess<br />
ein. Ausdrücklich wurde dabei als Ziel die „Ausweitung<br />
des europäischen Integrationsmodells auf den<br />
europäischen Kontinent“ genannt, verbunden mit<br />
der Erwartung von „Stabilität und Wohlstand“<br />
(Schlussfolgerungen Europäischer Rat Luxemburg,<br />
Dezember 1997).<br />
Nach komplizierten Verhandlungen konnten zunächst<br />
acht der zehn Beitrittsbewerber zusammen<br />
mit Malta und Zypern zum 1. 5. 2004 als Vollmitglieder<br />
in die EU aufgenommen werden. Bulgarien und<br />
Rumänien sollen 2007 folgen, Kroatien, das 2003 einen<br />
Antrag auf EU-Mitgliedschaft stellte, ist seit<br />
Ende 2004 Beitrittskandidat.<br />
2. Rahmenbedingungen. Anders als frühere Erweiterungsrunden<br />
stellte und stellt die Erweiterung um zunächst<br />
acht Staaten aus dem ehemals kommunistischen<br />
Herrschaftsbereich allein schon durch die<br />
Zahl, aber auch durch die dabei zu bewältigenden<br />
Osterweiterung<br />
Probleme eine große Herausforderung für die EU<br />
dar. Schon die „stille Erweiterung der EG“ um die<br />
ehemalige DDR (durch deren Beitritt zur Bundesrepublik<br />
Deutschland im Jahre 1990 wurde das frühere<br />
DDR-Territorium zugleich Teil der EG und bis Ende<br />
1992, von wenigen Ausnahmen abgesehen, voll in<br />
den Rechts- und Wirtschaftsraum der Gemeinschaft<br />
eingegliedert) zeigt die Schwierigkeiten bei der Integration<br />
einer kollabierten Planwirtschaft in die weitgehend<br />
marktwirtschaftlichen Strukturen des Binnenmarktes,<br />
wobei die damit verbundene finanzielle<br />
Aufgabe für die EG noch gemildert wurde durch das<br />
primäre Engagement Deutschlands für seine neuen<br />
Bundesländer.<br />
ImFallderMOE-Staatengibteskeinen„großenBruder“,<br />
doch haben die beitrittswilligen Staaten aus eigener<br />
Kraft und mit technischer und finanzieller Hilfe<br />
des Westens (�PHARE-Programm) bereits vor<br />
dem Beitritt erhebliche Transformationsmaßnahmen<br />
eingeleitet.<br />
3. Kopenhagener Beitrittskriterien. Erst nachdem<br />
bereits mit den beitrittswilligen EFTA-Staaten Verhandlungen<br />
über deren EU-Beitritt aufgenommen<br />
worden waren und nachdem auch das Inkrafttreten<br />
des �Maastrichter Vertrages gesichert schien (erfolgreiches<br />
zweites Referendum in Dänemark im<br />
Mai 1993), erklärte der Europäische Rat bei seiner<br />
nachfolgendenTagunginKopenhagenimJuni1993,<br />
dass auch die (MOE-)Staaten mit <strong>Europa</strong>abkommen<br />
EU-Mitgliederwerdenkönnten,sofernsiediesbeantragen<br />
und von ihnen bestimmte politische, wirtschaftliche<br />
und „sonstige“ Kriterien erfüllt würden.<br />
In der Folgezeit wurde aber wiederholt und durchaus<br />
zuRechtkritisiert,dassdieKopenhagener�Beitrittskriterien<br />
noch keine präzisen Kriterien zur Beurteilung<br />
der Beitrittsfähigkeit sind. Zudem ergibt sich<br />
für Beitrittskandidaten die generelle Schwierigkeit,<br />
dassder �acquiscommunautairegegenüberfrüheren<br />
Erweiterungen heute weit umfangreicher ist und sich<br />
zudem bis zu einem Beitritt ständig fortentwickelt<br />
(„moving target“).<br />
4. Heranführungsstrategie 1994. Nach Inkrafttreten<br />
des Maastrichter Vertrages und parallel mit dem Abschluss<br />
der EFTA-Erweiterung (�Beitritt Ziff. 2.4)<br />
entwickelte die EU eine „Heranführungsstrategie“<br />
(„Pre-accession strategy“), die vom Europäischen<br />
Rat in Essen (Dezember 1994) verabschiedet wurde.<br />
Zu ihren Kernpunkten zählen neben der Umsetzung<br />
der <strong>Europa</strong>abkommen der Strukturierte Dialog (vgl.<br />
593
Osterweiterung<br />
Ziff. 4.1), das Weißbuch zur Integration der MOE-<br />
Staaten in den Binnenmarkt (vgl. Ziff. 4.2) und die<br />
Überarbeitung und Ausweitung des PHARE-Programms.<br />
4.1 Strukturierter Dialog. Mit dem „Strukturierten<br />
Dialog“ bot die EU den durch <strong>Europa</strong>abkommen assoziierten<br />
Drittstaaten ein zusätzliches, multilaterales<br />
Forum an. Grundüberlegung der EU war dabei,<br />
die Vielzahl der inhaltlich oft ähnlichen bilateralen<br />
Zusammenkünfte mit den MOE-Staaten besser zu<br />
bündeln. Von 1994 bis 1997 wurde ihnen damit –<br />
wenn auch ohne Beteiligung am EU-internen Entscheidungsprozess<br />
– eine Mitsprache bei nahezu allen<br />
Politikfeldern der EU eröffnet. Da die gemeinsamen<br />
Treffen des Strukturierten Dialogs aber, je nach<br />
Thema, nur ein- oder zweimal jährlich stattfanden,<br />
zudem oftmals unter Zeitdruck und nur unzureichend<br />
vor- und nachbereitet, wurde dieses Instrument<br />
immer mehr als wenig zielführend eingeschätzt.<br />
Im Rahmen ihrer Mitteilung �„Agenda<br />
2000“ schlug die Kommission daher vor, statt des<br />
Strukturierten Dialogs ab 1998 eine multilaterale<br />
„<strong>Europa</strong>-Konferenz“ (vgl. Ziff. 6) durchzuführen.<br />
4.2 Weißbuch 1995. Mit dem Weißbuch zur Integration<br />
der MOE-Staaten in den Binnenmarkt, das die<br />
Kommission im Mai 1995 vorlegte (KOM 1995/163<br />
endg.), wurde den an einem EU-Beitritt interessierten<br />
MOE-Staaten ein thematischer Leitfaden für die<br />
wirtschaftliche Umstrukturierung und die Rechtsangleichung<br />
gegeben. Die konkrete Umsetzung in den<br />
MOE-Staaten erfolgte anschließend durch national<br />
erstellte Programme. Auf dieser Basis wurde die nationale<br />
Rechtsetzung, deren Vollzug und ggf. die<br />
Schaffung bzw. Umstrukturierung von Institutionen<br />
für die Umsetzung der politisch beschlossenen Maßnahmen<br />
vorgenommen.<br />
5. Agenda 2000 und EU-Erweiterung. Nachdem bereits<br />
der Europäische Rat in Madrid (Dezember<br />
1995) die Erweiterung der EU als „politische Notwendigkeit“ausdrücklichbegrüßthatte,wurdenparallel<br />
zur Regierungskonferenz 1996/97 die Vorbereitungen<br />
für die geplante Osterweiterung der EU intensiviert:<br />
Auf der Basis von umfangreichem Datenmaterial,<br />
das die Beitrittsbewerber der Kommission<br />
auf Anfrage kurzfristig zur Verfügung stellten, und<br />
aufgrund von Bewertungen der EU-Mitgliedstaaten,<br />
des Europäischen Parlaments und anderer Einrichtungen<br />
hat die Kommission im Juli 1997 als Anlage<br />
zur Agenda 2000 ihre Stellungnahmen (� Avis) über<br />
594<br />
die Beitrittsanträge vorgelegt. Um eine EU-Mitgliedschaft<br />
der MOE-Staaten zu befördern, sollte deren<br />
Beitrittsfähigkeit mit Unterstützung der EU weiter<br />
vorangetrieben werden; sämtlichen zehn Beitrittsbewerbern<br />
wurde daher seitens der EU (in Fortführung<br />
der Essener Beschlüsse von 1994) eine „intensivierte<br />
Heranführungsstrategie“ angeboten.<br />
Neben der Beitrittsfähigkeit der MOE-Staaten ist ein<br />
weiteres entscheidendes Element für den Erfolg der<br />
Osterweiterung die Sicherstellung der Erweiterungsfähigkeit<br />
der EU. Daher unterstrich die Kommission<br />
bereits 1997, mit der Umsetzung der Agenda<br />
2000 auch die notwendigen EU-internen Voraussetzungen<br />
für die vorgesehene Erweiterung zu schaffen.<br />
Der �Vertrag von Nizza hat hier allerdings nur<br />
sehrbedingtAbhilfegeschaffen,sodassnochvorder<br />
Erweiterung 2004 mit den Verhandlungen zum<br />
�Verfassungsvertrag der EU begonnen wurde. Hieran<br />
konnten die Beitrittsländer als Beobachter teilnehmen.<br />
6. Der Luxemburger Gipfel 1997. Der Vorschlag der<br />
Kommission vom Juli 1997, zunächst nur mit fünf<br />
MOE-Staaten (sowie Zypern) Beitrittsverhandlungen<br />
aufzunehmen, wurde speziell von den dabei<br />
nicht berücksichtigten Staaten mit Skepsis aufgenommen,<br />
fürchtete man doch, dadurch auf ein Abstellgleis<br />
zu geraten.<br />
Wegen dieser Bedenken wurden die Kommissionsvorschläge<br />
zur EU-Erweiterung nach intensiver Diskussion<br />
in der Öffentlichkeit, im Europäischen Parlament<br />
und im Rat während des zweiten Halbjahres<br />
1997 nochmals modifiziert. Um aus der Falle „Startlinienszenario“<br />
vs. „Gruppenmodell“ herauszukommen<br />
(und damit keine allzu harte Trennung entstand<br />
zwischen den Staaten, mit denen bereits über eine<br />
Mitgliedschaft verhandelt werden konnte, und denen,<br />
die dafür noch nicht hinreichend qualifiziert<br />
waren), beschloss der Europäische Rat in Luxemburg<br />
(Dezember 1997), einen umfassenden „Erweiterungsprozess“<br />
zu beginnen, der alle Bewerberstaaten<br />
(u. a. auch die Türkei) (�Türkeipolitik der EU)<br />
einschließt und evolutiven Charakter hat: Je nach<br />
Stand der Qualifikation der Bewerberstaaten können<br />
diese Staaten dann in den „Beitrittsprozess“ überführt<br />
werden, und es kann, darauf weiter aufbauend,<br />
in einer nächsten Stufe mit ihnen auch ein konkreter<br />
„Verhandlungsprozess“beginnen(s.GrafikS.595).<br />
6.1 Der Erweiterungsprozess umfasst alle Bewerberstaaten<br />
und hat evolutiven Charakter. Die EU
ichtete dazu (erstmals im März 1998) eine „<strong>Europa</strong>-Konferenz“<br />
ein, bei der die Staats- und Regierungschefs<br />
der EU bzw. die Außenminister mit ihren<br />
Kollegen aus den assoziierten und an einem Beitritt<br />
interessierten Staaten einen institutionalisierten<br />
multilateralen Dialog führten. Die <strong>Europa</strong>-Konferenz<br />
sollte so den Beitritts- und Verhandlungsprozess<br />
ergänzen und zugleich den wiederholt kritisierten<br />
Strukturierten Dialog ersetzen. Da die �Türkei<br />
sich allerdings nachdrücklich weigerte daran teilzunehmen,<br />
war dem Projekt „<strong>Europa</strong>-Konferenz“ kein<br />
Erfolg beschieden.<br />
6.2 Beitrittsprozess. Zugleich beschloss der Europäische<br />
Rat in Luxemburg, für sämtliche zehn<br />
MOE-Staaten sowie Zypern gem. Art. O EUV (jetzt<br />
Art. 49 EUV) einen Beitrittsprozess einzuleiten (Eröffnung<br />
bei einer gemeinsamen Außenministertagung<br />
am 30. 3. 1998). Da bei jedem der Beitrittsbewerber<br />
noch (unterschiedlich gravierende) Mängel<br />
in der Beitrittsreife festgestellt wurden, wurde den<br />
Bewerberstaaten auf der Grundlage eines einheitlichen<br />
Rahmens eine „intensivierte Heranführungsstrategie“<br />
angeboten: Neben den �<strong>Europa</strong>abkommen<br />
besteht diese gegenüber 1994 veränderte Strategie<br />
(vgl. Ziff. 4.) aus dem neuen Instrument der Beitrittspartnerschaften<br />
sowie einer Intensivierung der<br />
bisherigen finanziellen Heranführungshilfe.<br />
In den Beitrittspartnerschaften zwischen der EU und<br />
Osterweiterung<br />
jedem einzelnen der zehn MOE-Staaten wurden,<br />
nach kurz- und mittelfristigen Prioritäten geordnet,<br />
konkrete politische, wirtschaftliche und sonstige<br />
Maßnahmen genannt, die, beginnend 1998, umzusetzen<br />
bzw. einzuleiten waren. Jeder Beitrittskandidat<br />
stellte dazu ein „Nationales Programm für die<br />
Übernahme des gemeinschaftlichen Besitzstandes“<br />
auf. Von der Erfüllung dieser Vereinbarungen wurde<br />
die Finanzhilfe der EU abhängig gemacht.<br />
Zur intensivierten Heranführungshilfe gehört a) die<br />
Neuausrichtung des PHARE-Programms auf den<br />
künftigen Beitritt (jährl. 1,5 Mrd. Euro; 30 % des FinanzrahmenszurVerstärkungderKapazitäteninden<br />
Bereichen Verwaltung und Justiz; 70 % für Investitionen<br />
zur Übernahme und Umsetzung des �acquis<br />
communautaire) und b) die Teilnahmemöglichkeit<br />
derBewerberstaatenandenGemeinschaftsprogrammen<br />
�ISPA (1 Mrd. Euro jährl. für Investitionshilfen<br />
im Verkehrs- und Umweltbereich) und �SAPARD<br />
(0,5 Mrd. Euro jährl. für die Entwicklung der Landwirtschaft<br />
und des ländlichen Raums). In speziellen<br />
�„Twinning-Partnerschaften“ versuchte die EU zudem,<br />
die osteuropäischen Beitrittsländer für die<br />
Übernahme und Anwendung des gemeinschaftlichen<br />
Besitzstandes fit zu machen. Dazu wurden Experten<br />
aus Ministerien der EU-Mitgliedstaaten, regionalen<br />
Körperschaften oder öffentlichen AgenturenindieInstitutionenderBeitrittsländerentsandt.<br />
595
Ostseerat<br />
Für das wirtschaftlich bereits besser qualifizierte Zypern<br />
wurde eine besondere Heranführungsstrategie<br />
vorgeschlagen.<br />
Ab 1998 erstellte die Europäische Kommission für<br />
jeden der MOE-Staaten einen jährlichen Fortschrittsbericht,<br />
in dem sie bei Vorliegen der Voraussetzungen<br />
auch die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen<br />
empfehlen konnte.<br />
6.3 Verhandlungsprozess. Mit den fünf bereits besser<br />
vorbereiteten MOE-Staaten (Polen, Tschechien,<br />
Ungarn, Estland, Slowenien) sowie mit Zypern wurden<br />
im März 1998 die Beitrittsverhandlungen eröffnet.<br />
Inhaltlich begannen die bilateralen Verhandlungen<br />
mit einer vergleichenden Überprüfung (�„screening“)des�acquiscommunautairemitderGesetzgebung<br />
der Beitrittsanwärter. Der Rechtsbestand wurde<br />
dabei in 31 Kapitel von Agrarpolitik bis Umweltschutz<br />
aufgegliedert.<br />
Mit den übrigen fünf MOE-Beitrittsanwärtern (Lettland,<br />
Litauen, Slowakei, Rumänien und Bulgarien)<br />
sowie mit Malta wurden auf der Grundlage des Beschlusses<br />
des Europäischen Rates von Helsinki (Dezember<br />
1999) Anfang des Jahres 2000 Beitrittsverhandlungen<br />
aufgenommen.<br />
Ausdrücklich offen gelassen wurde, inwieweit die<br />
Verhandlungen mit allen Verhandlungspartnern<br />
gleichzeitig abgeschlossen werden müssten. Die Erweiterung<br />
hing ausdrücklich von der Einhaltung der<br />
Kopenhagener Kriterien ab sowie von der Fähigkeit<br />
der EU, neue Mitgliedstaaten zu assimilieren<br />
(�Agenda 2000).<br />
Ziel beider Seiten war es, die Beitrittsverhandlungen<br />
bis Ende 2002 abzuschließen, damit die Bürger der<br />
neuen Mitglieder bereits an der <strong>Europa</strong>wahl 2004<br />
teilnehmen konnten. Der Kompromiss der EU 15 zur<br />
künftigen EU-Agrarpolitik ebnete im Jahr 2002 den<br />
Weg zum Abschluss der Verhandlungen. Im Rahmen<br />
eines erneuten Kopenhagener Gipfels wurden<br />
im Dezember 2002 die Verhandlungen mit acht<br />
MOE-Beitrittstaaten plus Malta und Zypern abgeschlossen,<br />
wobei bis zuletzt hart um finanzielle Unterstützungen<br />
und Übergangsfristen gestritten wurde.<br />
Um die Folgen des Beitritts bzw. der Erweiterung<br />
abzufedern, wurden verschiedene Schutzklauseln<br />
(bei „unvorhergesehener Entwicklung“) und langjährige,<br />
abgestufte Übergangsfristen vereinbart.<br />
Die Unterzeichnung der Beitrittsverträge fand am<br />
16. 4. 2003 in Athen statt. Nach Referenden in den<br />
Beitrittstaaten und dem Abschluss der Ratifikation<br />
596<br />
in allen beteiligten 25 Staaten konnte die Erweiterungzum1.<br />
5. 2004inKrafttreten. B. K. S.<br />
Literatur:<br />
Europäische Kommission: Agenda 2000. Eine stärkere und<br />
erweiterte Union. In: Bulletin der Europäischen Union,<br />
Beilage 5/97. Luxemburg 1997, S. 43 – 66<br />
Dies.: Stellungnahme der Kommission zum Antrag Ungarns<br />
(Polens, Rumäniens etc.) auf Beitritt zur Europäischen Union.<br />
Dok. KOM (97) 2001 – 2010 endg. In: Bulletin der<br />
Europäischen Union, Beilagen 6–15<br />
Europäischer Rat: Tagung am 12./13. 12. 1997 in Luxemburg,<br />
Schlussfolgerungen des Vorsitzes. In: EU-Nachrichten,<br />
Dokumentation Nr. 7/1997<br />
Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg<br />
(Hg.): Der Bürger im Staat. Themenheft „Die Osterweiterung<br />
der EU“, Jg. 54 (1). Stuttgart 2004<br />
Lippert, B. (Hg.): Bilanz und Folgeprobleme der<br />
EU-Erweiterung. Baden-Baden 2004<br />
Steppacher, B.: Die Erweiterung der Europäischen Union.<br />
Chancen – Bedingungen – Vorgehensweise. Arbeitspapier,<br />
Konrad-Adenauer-Stiftung. Sankt Augustin 1998<br />
Ostseerat (Council of the Baltic Sea States, CBSS),<br />
im März 1992 auf deutsch-dänische Initiative ins Leben<br />
gerufenes Gremium zur Zusammenarbeit und<br />
zum Meinungsaustausch der Anrainerstaaten der<br />
Ostsee nach Ende des Ost-West-Konflikts und Jahrzehnten<br />
der Trennung. Mitglieder sind Dänemark,<br />
Deutschland, Estland, Finnland, Island (seit 1995),<br />
Lettland, Litauen, Norwegen, Polen, Russland,<br />
Schweden sowie die EU, die an den Treffen durch<br />
ihrePräsidentschaftsowieeinMitgliedderKommission<br />
vertreten ist. Seit Mai 2004 sind 8 der 11 Staaten<br />
Mitglieder der EU. Arbeitssprachen sind Deutsch,<br />
Englisch und Russisch. Entscheidungen werden im<br />
Konsens getroffen.<br />
DerOstseeratsolldieZusammenarbeitderStaatenin<br />
allen Bereichen der Politik mit Ausnahme der militärischen<br />
Verteidigung fördern, insbes. in den Bereichen<br />
Wirtschaft und Technologie, Gesundheit, Umweltschutz,<br />
Energie, Transport und Kommunikation<br />
sowie auf den Gebieten der Kultur, der Bildung, des<br />
Tourismus und der Information; er soll außerdem<br />
den Aufbau demokratischer Institutionen unterstützen.DieAußenministertreffensichjährlich(ab2003<br />
zweijährlich) unter rotierendem Vorsitz, außerdem<br />
finden Treffen auf Ebene der Fachminister statt.<br />
Zwischen den Treffen erledigt ein Ausschuss hoher<br />
Beamter der Außenministerien (Committee of Senior<br />
Officials) die laufende Arbeit. Es wurden mehrere<br />
Arbeitsgruppen gebildet.<br />
Seit 1996 finden zweijährliche Treffen der Staatsund<br />
Regierungschefs gemeinsam mit den Präsiden-
ten der Europäischen Kommission und des Rates der<br />
EU statt. Diese Gipfeltreffen haben verschiedene Initiativen<br />
angestoßen: die Agenda 21 für den Ostseeraum(Baltic21)zumUmweltschutz,dieTaskForces<br />
gegenorganisierteKriminalität(seit1998)sowie gegenInfektionskrankheiten(2000–2004).<br />
W. M.<br />
Internet: www.cbss.st<br />
Ostseeregion. Sie umfasst 11 Staaten mit 300 Mio.<br />
Einwohnern. Am 5./6. März 1992 wurde auf einer<br />
Konferenz der Außenminister in Kopenhagen der<br />
Rat der (zunächst 10) Ostseestaaten (Council of the<br />
Baltic Sea States, CBSS) gegründet, Island trat 1995<br />
bei. Der Rat koordiniert die Zusammenarbeit der<br />
OSZE<br />
Staaten auf allen Gebieten mit Ausnahme der Verteidigung.<br />
Ihm gehören die Außenminister der Ostseestaaten<br />
und ein Mitglied der Kommission an. Der<br />
CBSS hat mehrere Arbeitsgruppen gebildet, u. a. für<br />
wirtschaftliche Zusammenarbeit, für Strahlenschutz<br />
nukleare Sicherheit, für demokratische Institutionen,<br />
für Jugend. Seit 1996 finden alle zwei Jahre Gipfeltreffen<br />
der Staats- und Regierungschefs statt unter<br />
Teilnahme des Präsidenten der Kommission und des<br />
Ratsvorsitzenden. Das Ständige Sekretariat hat seinen<br />
Sitz in Stockholm.<br />
Anschrift: Strömsborg, P. O. Box 2010, 103 11 Stockholm.<br />
OSZE �Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit<br />
in <strong>Europa</strong><br />
597
Package deal<br />
Package deal.MethodederEntscheidungsfindung,<br />
speziell in politischen Gremien durch „Paketlösungen“<br />
verschiedene, ursprünglich getrennte Fragen<br />
miteinander zu verknüpfen und durch gegenseitige<br />
Konzessionen – ggf. auch durch Überwälzung des<br />
Problems auf Dritte – einen Kompromiss zu erreichen.<br />
Durch dieses Schnüren von Verhandlungspaketen<br />
(„Gesamteinigungen“) konnte in der EU wiederholt<br />
eine drohende Stagnation überwunden werden.<br />
Langfristig können sich aber die im Rahmen des<br />
„package deals“ gegenseitig in Kauf genommenen<br />
Nachteile auch als Sprengsätze der Integration erweisen.<br />
B. K. S.<br />
Padoa-Schioppa-Bericht. 1986 beauftragte die<br />
Kommission eine Arbeitsgruppe unabhängiger<br />
Wirtschaftswissenschaftler unter der Leitung des<br />
Italieners Tommaso Padoa-Schioppa, einen Bericht<br />
zu erstellen, der die wirtschaftlichen Perspektiven<br />
der europäischen Integration im Hinblick auf die<br />
1986 vollzogene Süderweiterung um Spanien und<br />
Portugal sowie auf den angestrebten �Binnenmarkt<br />
1992 untersucht.<br />
Die 1987 erschienene „Entwicklungsstrategie“ steht<br />
unter dem Motto „Effizienz, Stabilität und Verteilungsgerechtigkeit“.<br />
Effizienz und Stabilität werden<br />
laut Padoa-Schioppa-Bericht durch die stärkere Koordinierung<br />
der makroökonomischen Politik der einzelnen<br />
Mitgliedstaaten, konkret durch die unbedingteRealisierungdesBinnenmarktsunddieSteigerung<br />
der Produktion mittels einer kooperativen Wachstumsstrategie<br />
sowie durch die Weiterentwicklung<br />
des �Europäischen Währungssystems erreicht. Auf<br />
Verteilungsgerechtigkeit zielt die Forderung nach<br />
dem Ausbau der EG-�Strukturfonds und anderer<br />
Darlehensinstrumente ab.<br />
Der Bericht hat Bedeutung erfahren durch seine Entwicklungsprognosen,<br />
voran die Einschätzung eines<br />
jährlichen realen Wirtschaftswachstums von 0,5 %<br />
über einige Jahre hinweg. Die enthaltenen Reformanstöße<br />
wurden in dieser Form allerdings nicht<br />
verwirklicht, da die Kommission ihrerseits 1987 ein<br />
Reformprogramm vorlegte, das als �„Delors-Paket“<br />
1988inBrüsselverabschiedetwurde. B. K. S.<br />
598<br />
P<br />
Dokumente:<br />
Padoa-Schioppa, T. et al.: Effizienz, Stabilität und<br />
Verteilungsgerechtigkeit. Eine Entwicklungsstrategie für das<br />
Wirtschaftssystem der Europäischen Gemeinschaft.<br />
Wiesbaden 1988.<br />
Literatur:<br />
Ziltener, P.: Hat der EU-Binnenmarkt Wachstum und Beschäftigung<br />
gebracht? In: WSI Mitteilungen, 4/2003, S. 221–227<br />
Paneuropa-Union. Nach den leidvollen Erfahrungen<br />
des Ersten Weltkrieges, des Kampfes der europäischen<br />
Nationalstaaten gegeneinander und des<br />
Versäumnisses der Siegermächte, eine europäische<br />
Versöhnung zu schaffen, publizierte der Österreicher<br />
Richard N. Graf �Coudenhove-Kalergi (1894 –<br />
1972) erstmals 1922 aufsehenerregende Zeitungsartikel<br />
(„Paneuropa – ein Vorschlag“, als Alternative<br />
zum Völkerbund ohne die USA, am 17. 11. 1922 in<br />
der Neuen Freien Presse, Wien) über seine Vorstellungen<br />
einer Paneuropäischen (Völker-)Gemeinschaft<br />
„von Portugal bis Polen“. Ihnen folgte 1923<br />
das Buch „Pan-<strong>Europa</strong>“ (Grundgedanke: ein politisch<br />
geeintes <strong>Europa</strong> auf der Grundlage einer<br />
deutsch-französischen Aussöhnung; sonst drohe ein<br />
ZweiterWeltkriegalsgrausamer„Zukunftskrieg“).<br />
Die Paneuropa-Union wurde in demselben Jahr als<br />
erste europäische Einigungsbewegung gegründet.<br />
Ihr traten führende Politiker, Wirtschaftsführer,<br />
(Links-)Intellektuelle aus ganz <strong>Europa</strong> bei. Allerdings<br />
wurde sie nicht zur Massenbewegung. Am ersten<br />
Paneuropa-Kongress 1926 in Wien nahmen ca.<br />
2 000 Teilnehmer aus 24 Nationen teil. Der französische<br />
Außenminister Aristide Briand übernahm das<br />
Ehrenpräsidium (vgl. sein föderal-europapolitisches<br />
Plädoyer auf der Völkerbundstagung 1929, zusammen<br />
mit dem deutschen Außenminister Gustav Stresemann).<br />
Die nach Stresemanns frühem Tod erfolgte<br />
Briand-Initiative zur Schaffung von „einer Art föderativem<br />
Band“ zwischen den europäischen Nationen<br />
scheiterte u. a. an England und den wirtschaftlichen<br />
Verhältnissen (1929: Börsenkrach).<br />
Die deutsche Paneuropa-Union wurde 1933 von Hitler<br />
aufgelöst (der in demselben Jahr aus dem Völkerbundaustrat),dessen–ebensowieStalins–aggressives<br />
Großmachtstreben von Coudenhove frühzeitig
erkannt und öffentlich bekämpft wurde. Die Tätigkeit<br />
der Paneuropa-Union konzentrierte sich von<br />
1933 bis 1938 vor allem auf Frankreich, die Tschechoslowakische<br />
Republik und Österreich.<br />
Nach dem 2. Weltkrieg gründete Coudenhove, aus<br />
amerikanischem Exil zurückgekehrt, die Europäische<br />
Parlamentarier-Union, die auf ihrem Gstaader<br />
Kongress 1947 die Einberufung einer Europäischen<br />
Parlamentarischen Versammlung forderte. Diese<br />
Forderung wurde von der Europäischen Bewegung<br />
auf ihrem Haager Kongress 1948 übernommen und<br />
ein Jahr danach im Rahmen des neugegründeten<br />
�<strong>Europa</strong>rats realisiert. Die 1952 begonnene Neugründung<br />
der Paneuropa-Union wurde auf dem 6.<br />
Paneuropa-Kongress in Baden-Baden vollzogen.<br />
Die Paneuropa-Union war in den 1950er Jahren nicht<br />
innationaleSektionengegliedert.IhrwichtigstesGremium<br />
war der international zusammengesetzte Zentralrat<br />
aus Staatsmännern, Intellektuellen und Wirtschaftsführern.<br />
Die deutsch-französische Freundschaft<br />
wurde von Coudenhove als eine Kernfrage angesehen,<br />
die öffentliche Versöhnung von de �Gaulle<br />
und �Adenauer (1962 in Reims) von ihm begrüßt.<br />
Nicht zuletzt infolge der antigaullistischen und transatlantischen<br />
deutschen Außenpolitik nach Adenauer<br />
zog Coudenhove sich aus dem politischen Tagesgeschehen<br />
zurück. Otto von Habsburg, seit 1973 Nachfolger<br />
im Vorsitz, verfocht Coudenhoves Gedanken<br />
von einem von den Supermächten (UdSSR und USA)<br />
unabhängigen „europäischen <strong>Europa</strong>“, zusätzlich der<br />
Befreiung Mittel- und Osteuropas von der kommunistischen<br />
Unterdrückung als Vorbedingung einer wirklichen<br />
gesamteuropäischen Einigung und zur Verteidigung<br />
der christlichen Werte (vgl. Straßburger<br />
Grundsatzerklärung der Paneuropa-Union 1973, ergänzt<br />
1975) mit dem Ziel einer geistigen Erneuerung<br />
<strong>Europa</strong>s.<br />
Organisatorisch erreichte die Paneuropa-Bewegung<br />
in den Folgejahren eine gewisse Breitenwirkung,<br />
und neben der französischen, italienischen, belgischen,<br />
luxemburgischen oder österreichischen SektionspieltediedeutscheSektionbesondersinBayern<br />
(wo von Habsburg Ende der 1970er Jahre von Ministerpräsident<br />
F. J. Strauß, einem Paneuropäer, eingebürgert<br />
und zum Kandidaten für die erste Direktwahl<br />
zum Europäischen Parlament gemacht wurde) eine<br />
zunehmende Rolle. Bundeskanzler Adenauer hatte<br />
sich schon in den 1920er Jahren angeschlossen, sein<br />
Bundesminister H.-J. von Merkatz, aus dem Osten<br />
Paneuropa-Union<br />
stammend, war Vorsitzender der deutschen Sektion<br />
und unterstützte die Adenauersche Westpolitik. Der<br />
Bund der Vertriebenen und die meisten Landsmannschaften<br />
wurden korporative Mitglieder; Interesse<br />
zeigten die kirchlichen Kreise, Verbände des Mittelstandes<br />
und der Bauern; Paneuropa-Jugendorganisationen<br />
entstanden in mehreren Ländern. Die Paneuropa-Jugend<br />
Deutschland (gegründet 1975) entwickelte<br />
sich zum Motor der Paneuropa-Bewegung<br />
und setzte sich z. B. für Menschenrechte in der DDR<br />
öffentlichein.DemSozialismuswurdedieIdeeeines<br />
christlichen <strong>Europa</strong>s entgegengesetzt; die unterdrückten<br />
ost(mittel)europäischen Völker sollten das<br />
Selbstbestimmungsrecht ausüben dürfen. Die Paneuropa-Union<br />
bemühte sich in jenen Ländern noch<br />
vor dem Systemzusammenbruch um politischen<br />
Einfluss zur Überwindung der Regime.<br />
Im Zusammenhang mit der ersten Direktwahl zum<br />
Europäischen Parlament (1979) stellte sich für die<br />
Paneuropa-Bewegung die Frage nach der inneren<br />
Ausgestaltung <strong>Europa</strong>s: ein rein wirtschaftliches<br />
oder politisches, sozialistisches oder christlich-freiheitliches<br />
<strong>Europa</strong>? Kleineuropa oder Gesamteuropa?ImStraßburgerParlamentkonntesicheinestarke<br />
Paneuropa-Parlamentariergruppe mit über 60 Abgeordneten<br />
bilden. Sie trat für eine europäische AußenundSicherheitspolitikund–nochz.Zt.desbestehenden<br />
Ostblocks (bis 1989) – für die Befreiung der<br />
ost(mittel)europäischen Staaten, ferner für eine Stärkung<br />
des Westens (z. B. NATO-Doppelbeschluss),<br />
fürdiePolitischeUnion,füreinstarkesEuropäisches<br />
Parlament ein. Die Paneuropa-Bewegung hat(te)<br />
sich der Gegnerschaft von links und rechts zu erwehren.<br />
Rechtsradikale beschimpf(t)en sie als antinational<br />
und wenig rassebewusst, Linke bezeichne(te)n<br />
sie als „kalte Krieger“, die die Nachkriegsordnung<br />
nicht anerkennen woll(t)en. Zu den oben genannten<br />
Sektionen sind Organisationen in Schweden, Spanien,<br />
Portugal, Großbritannien, in Slowenien, Kroatien,<br />
Ungarn, Rumänien, der Tschechischen und der<br />
Slowakischen Republik, in Polen und den baltischen<br />
Staaten hinzugekommen. Sie werden über einen eigenen<br />
Verlag in Augsburg mit Schriften versorgt.<br />
DiePaneuropa-UnionDeutschlandveranstaltetjährlich<br />
Paneuropa-Tage, die sich mit Modellen zur gesamteuropäischen<br />
Einigung <strong>Europa</strong>s befassen. FernergehtesumdieBewahrungdereuropäisch-abendländischen<br />
Werte sowie um die Respektierung von<br />
VolksgruppenrechtenimOsten. W. M.<br />
599
Pariser Vertrag<br />
Anschrift: Paneuropa-Union Deutschland, Dachauer Straße 17,<br />
80335 München<br />
Zeitschrift: „Paneuropa Deutschland“, vierteljährlich<br />
Pariser Vertrag �Europäische Gemeinschaft für<br />
Kohle und Stahl (EGKS)<br />
Pariser Verträge. Die Außenminister Belgiens, der<br />
Bundesrepublik Deutschland, Frankreichs, Großbritanniens,<br />
Italiens, Kanadas, Luxemburgs, der Niederlande<br />
und der USA kamen vom 18. bis 24. 10.<br />
1954inPariszusammenundunterzeichnetendievon<br />
der Londoner Neun-Mächte-Konferenz vorbereiteten<br />
Abkommen:<br />
1. das Protokoll über die Beendigung des Besatzungsregimes<br />
in der Bundesrepublik Deutschland;<br />
2. den Vertrag über den Beitritt der Bundesrepublik<br />
Deutschland und Italiens zum Brüsseler Pakt<br />
(�Westeuropäische Union);<br />
3. dieAufnahmederBundesrepublikDeutschlandin<br />
die �NATO;<br />
4. das Saarabkommen (zwischen Frankreich und der<br />
Bundesrepublik Deutschland).<br />
DieVerträgetratenam5.bzw.6.5.1955inKraft.<br />
Paritätische Versammlung ist das beratende gemeinsame<br />
Organ der 78 �AKP- und 25 EU-Staaten.<br />
Sie besteht aus Mitgliedern der AKP-Staaten (meistens<br />
Parlamentarier) und der EU (Mitglieder des EuropäischenParlaments)undtrittzweimaljährlichzusammen.<br />
Jedes Jahr werden sog. Generalberichte zur<br />
Abstimmung gestellt. Als vordringliche Maßnahmen<br />
gelten: Bekämpfung des Analphabetentums,<br />
Förderung der beruflichen Bildung, Unterstützung<br />
des privaten Sektors, Förderung kleinerer landwirtschaftlicher<br />
Projekte, Stärkung der regionalen Gebietskörperschaften<br />
(sie sollen eine größere Rolle<br />
übernehmen für Industrie, Energie, Verkehr, Kommunikation,<br />
Handel usw.).<br />
Parteienstatut �Regelungen für die politischen<br />
Parteien auf europäischer Ebene<br />
Parteienzusammenschlüsse in <strong>Europa</strong> �Europäische<br />
Parteien(föderationen)<br />
Partizipation bezeichnet in gesellschaftspolitischem<br />
Zusammenhang die aktive Teilnahme einzelner<br />
oder organisierter Bürgerinnen und Bürger mit<br />
demZiel,EntscheidungsprozesseundHandlungsab-<br />
600<br />
läufe vor allem staatlicher Organe kennen zu lernen,<br />
zu beeinflussen oder daran mitzuwirken. Die Möglichkeiten<br />
des Einzelnen zur Partizipation reichen<br />
von der passiven Information (u. a. aus Medien) und<br />
der Petition über die Teilnahme an Versammlungen<br />
von Parteien und an Wahlen bis zur Bildung einer organisierten<br />
Interessenvertretung oder zur Mitgliedschaft<br />
in politischen Parteien. Den vielfältigen Möglichkeiten<br />
zur Partizipation steht freilich das Desinteresse<br />
eines großen Teils der Bevölkerung entgegen.<br />
Übergeordnete gesellschaftliche und politische<br />
Organisationen müssen deshalb immer wieder versuchen,<br />
Interesse an Partizipation zu wecken.<br />
Die EU hat gem. Art. 1 EUV die Aufgabe, ihre Entscheidungen<br />
möglichst offen und möglichst bürgernahzutreffen.DieseAufgabeerfülltsiezumindestin<br />
der Wahrnehmung der Mehrzahl der Bürgerinnen<br />
und Bürger nicht oder nur unzureichend. Dagegen<br />
sind die Möglichkeiten der Partizipation in der EU<br />
seit den Verträgen von Maastricht, Amsterdam und<br />
Nizzaständigerweitertwordenundentsprechendem<br />
Standard in Demokratiesystemen.<br />
Artikel 19 EGV bietet jedem Unionsbürger das aktive<br />
und passive Wahlrecht zum Europäischen Parlament,<br />
Art. 21 EGV das Petitionsrecht beim Europäischen<br />
Parlament gem. Art. 194 EGV. Jeder Unionsbürger<br />
kann sich an den nach Art. 195 EGV eingesetzten<br />
Bürgerbeauftragten wenden, jeder kann sich<br />
in seiner Sprache an die europäischen Organe und InstitutionenwendenunderhälteineAntwortinderselben<br />
Sprache. Artikel 255 EGV eröffnet jedem<br />
Unionsbürger den Zugang zu Dokumenten des EP,<br />
des Rats und der Kommission. Nach Art. 230 EGV<br />
kann jeder vor dem Europäischen Gerichtshof klagen<br />
bezüglich Rechtsakten, die ihn unmittelbar und<br />
individuell betreffen.<br />
Der Verfassungsvertrag 2004, dessen Inkrafttreten<br />
noch offen ist, fasst in Art. I-47 den Grundsatz der<br />
partizipativen Demokratie zusammen:<br />
„(1)DieOrganegebendenBürgerinnenundBürgern<br />
und den repräsentativen Verbänden in geeigneter<br />
Weise die Möglichkeit, ihre Ansichten in allen Bereichen<br />
des Handelns der Union öffentlich bekannt<br />
zu geben und auszutauschen.<br />
(2) Die Organe pflegen einen offenen, transparenten<br />
und regelmäßigen Dialog mit den repräsentativen<br />
Verbänden und der Zivilgesellschaft.<br />
(3) Um die Kohärenz und die Transparenz des Handelns<br />
der Union zu gewährleisten, führt die Kommis-
sion umfangreiche Anhörungen der Betroffenen<br />
durch.<br />
(4)UnionsbürgerinnenundUnionsbürger,derenAnzahl<br />
mindestens eine Million betragen und bei denen<br />
es sich um Staatsangehörige einer erheblichen Anzahl<br />
von Mitgliedstaaten handeln muss, können die<br />
Initiative ergreifen und die Kommission auffordern,<br />
im Rahmen ihrer Befugnisse geeignete Vorschläge<br />
zu Themen zu unterbreiten, zu denen es nach Ansicht<br />
jener Bürgerinnen und Bürger eines Rechtsakts der<br />
Union bedarf, um die Verfassung umzusetzen. Die<br />
Bestimmungen über die Verfahren und Bedingungen,<br />
die für eine solche Bürgerinitiative gelten, einschließlichderMindestzahlvonMitgliedstaaten,aus<br />
denen diese Bürgerinnen und Bürger kommen müssen,werdendurchEuropäischesGesetzfestgelegt.“<br />
Partnerschaftsabkommen �Osterweiterung<br />
Passerelle. Die Passerelle-Klausel ist eine Form<br />
der �Evolutivklausel, mit der im Rahmen eines Vertragswerkes<br />
im vereinfachten Verfahren eine Vertragsänderung<br />
herbeigeführt werden kann (frz. passerelle:<br />
Steg, Überweg). Im Bereich der Europäischen<br />
Union wird sich bisweilen solcher Klauseln<br />
bedient, um künftige Integrationsschritte vorzubereiten,<br />
zu denen die Mitgliedstaaten bei Vertragsschluss<br />
noch nicht bereit sind. So sieht bspw.<br />
Art. IV-444 des Verfassungsvertrags 2004 ein vereinfachtes<br />
Vertragsänderungsverfahren vor, um<br />
ohne erneutes langwieriges Vertragsratifikationsverfahren<br />
in bestimmten Politikfeldern von der Einstimmigkeit<br />
zu einer Mehrheitsentscheidung zu gelangen.<br />
J. M. B.<br />
Passunion, Nordische Passunion.Zwischenden<br />
Staaten Dänemark, Finnland, Norwegen, Island und<br />
Schweden 1954 eingerichtete Zone der Freizügigkeit<br />
zwischen den skandinavischen Ländern (zusammen<br />
mit der Schaffung eines gemeinsamen Arbeitsmarkts<br />
1954 und einem Übereinkommen über die<br />
Sozialversicherung 1955).<br />
Der Beitritt der EU-Staaten Dänemark, Finnland und<br />
Norwegen zum �Schengen-Abkommen erforderte<br />
1996 den Abschluss von Kooperationsabkommen<br />
aller Schengenstaaten mit den zwei restlichen Staaten<br />
der Nordischen Passunion Norwegen und Island<br />
zum Erhalt der Passunion. Alle nordischen Staaten<br />
wenden das Schengen-Regelwerk seit 25. 3. 2001 an.<br />
FreierPersonenverkehristauchzuGrönlandundden<br />
Färöer möglich, die diese Bestimmungen der Nordischen<br />
Passunion anwenden.<br />
Patent, europäisches Patent, Gemeinschaftspatent<br />
�Markenrecht, �Europäisches Patentamt<br />
Pauschalreiserichtlinien �Tourismuspolitik<br />
PESCA<br />
PEACE heißt ein 1995 von der EU ins Leben gerufenes<br />
Sonderprogramm für Frieden und Aussöhnung<br />
in Nordirland und angrenzenden nordirischen Grafschaften.<br />
PEACE I (1995–1999) war mit 300 Mio.<br />
ECU ausgestattet. PEACE II (2000–2004) hat ein<br />
Gesamtvolumen von 740 Mi. Euro, wovon 531 Mio.<br />
Euro aus den EU-Strukturfonds bereit gestellt<br />
werden. Die EU unterstützt darüber hinaus den 1989<br />
gegründeten Internationalen Fonds für Irland mit<br />
jährlich 15 Mio. Euro.<br />
Der Europäische Rat vom 18. 6. 2004 in Brüssel hat<br />
eine Ausdehnung des PEACE-Programms bis zum<br />
Auslaufen der Strukturfondsprogramme 2006 empfohlen.<br />
Die Haushaltsorgane der EU haben dem zugestimmt.<br />
Für 2005 stehen 60 Mio. Euro zur Verfügung,<br />
für 2006 sind 48 Mio. Euro eingeplant.<br />
Das operationelle Programm von PEACE II ist eingebettet<br />
in das Community Support Framework<br />
(CFS) für Nordirland (Zeitraum 2000 – 2006).<br />
Perikles-Programm zum Schutz des Euro gegen<br />
�Geldfälschung, vom Rat am 17. 12. 2001 beschlossen<br />
(2001/923, ABl. L 339/2001). Das Programm<br />
förderte die Zusammenarbeit der Euro-Staaten im<br />
Informationsaustausch und in der Ausbildung. Mit<br />
Beschluss 2001/924 vom selben Tag wurde das Programm<br />
auf die EU-Staaten ausgedehnt, die den Euro<br />
nicht als einheitliche Währung eingeführt haben.<br />
PESCA heißt eine am 15. 6. 1994 gestartete Gemeinschaftsinitiative<br />
im Rahmen der �Strukturfonds zur<br />
Unterstützung der von der Fischerei abhängigen Regionen,<br />
z. B. zur Schaffung anderer Arbeitsplätze<br />
oder zur Sanierung von Häfen. Finanzrahmen 1994 –<br />
1999 250 Mio. ECU. PESCA wurde 2000 nicht weitergeführt.<br />
Strukturinvestitionen im Bereich Fischerei<br />
und Aquakultur werden jetzt aus dem Finanzinstrument<br />
für die Ausrichtung der Fischerei (FIAF)<br />
gefördert. Finanzvolumen 2000 – 2006 3,7 Mrd.<br />
Euro. �Fischereipolitik<br />
601
Petersberg-Aufgaben<br />
Petersberg-Aufgaben<br />
a) Begriff: Ursprünglich in der sog. „Petersberg-<br />
Erklärung“ vom 19. 6. 1992 bestimmtes Einsatzspektrumder<br />
�WesteuropäischenUnion(WEU),das<br />
von humanitären Aufgaben und Rettungseinsätzen,<br />
über friedensschaffender Aufgaben bis hin zu<br />
Kampfeinsätzen bei der Krisenbewältigung einschl.<br />
friedenserhaltender Maßnahmen reicht. Diese sog.<br />
„Petersberg-Aufgaben“ wurden mit der vom Europäischen<br />
Rat in Köln 1999 beschlossenen schrittweisen<br />
Übernahme der Rolle und Aufgaben der WEU<br />
durch die EU ohne jede Modifizierung in den<br />
EU-Vertrag (Nizza) aufgenommen (Art. 17 Abs. 2).<br />
Damit steht der EU das gesamte Spektrum militärischer<br />
Einsätze offen. Einsätze zur Verteidigung des<br />
nationalen Hoheitsgebiets der Mitgliedstaaten sind<br />
in Ermangelung einer gemeinsamen europäischen<br />
Verteidigungspolitik allerdings nicht erfasst (vgl.<br />
Art. 17 Abs. 1 EUV). Wichtige Auslegungskriterien<br />
für die inhaltliche Ausrichtung konkreter Operationen<br />
liefern die programmatischen Ziele der �GASP,<br />
wiesieinArt.11EUVfestgeschriebensind(darunter<br />
„die Wahrung des Friedens und die Stärkung der internationalen<br />
Sicherheit“ und „die Entwicklung und<br />
Stärkung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit<br />
sowie die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten“),<br />
sowie die �Europäische Sicherheitsstrategie.<br />
Die „Feierliche Erklärung“ des �Europäischen<br />
Rats (ER) von Sevilla (2002) weist die Richtung<br />
für die erweiterte Interpretation der „Petersberg<br />
Aufgaben“imKampfgegendeninternationalenTerrorismus<br />
(Bsp. Zivilschutz).<br />
b) Ausblick: Der Europäische �Verfassungsvertrag<br />
2004präzisiertdasgeltendeEinsatzspektrumunderweitert<br />
es um gemeinsame Abrüstungsmaßnahmen,<br />
Aufgaben der militärischen Beratung und Unterstützung<br />
sowie Stabilisierungsoperationen in Nach-<br />
Konflikt Situationen (Art. III-309 Abs. 1 VVE). Alle<br />
EinsatzartenkommenausdrücklichauchdafürinBetracht,<br />
im gegebenen Fall einen Beitrag im Kampf<br />
gegen den internationalen Terrorismus zu leisten,<br />
auch durch entsprechende Unterstützungsleistungen<br />
an Drittstaaten. Welche Auswirkungen die im Verfassungsvertrag<br />
2004 enthaltene Beistandsklausel,<br />
die die Mitgliedstaaten zu gegenseitiger Unterstützung<br />
im Falle eines bewaffneten Angriffs gegen einen<br />
Mitgliedstaat der EU verpflichtet, auf das Einsatzspektrum<br />
haben wird, bleibt (sofern der VVE in<br />
Krafttritt) abzuwarten. U. S.<br />
602<br />
Petitionen können in der EU von jedem Unionsbürger<br />
sowie von natürlichen oder juristischen Personen<br />
mit Wohnort oder Sitz in einem EU-Staat an das Europäische<br />
Parlament gerichtet werden (Art. 194<br />
EGV, ggf. künftig Art. II-104 VVE). Jeder UnionsbürgerkannsichüberdiesinjederAmtsspracheanjedesOrganundandieberatendenAusschüsse(�WSA<br />
und �AdR) wenden und erhält Antwort in derselben<br />
Sprache (Art. 21 EGV). Petitionen an das EP sind<br />
schriftlich einzureichen (formlos als Brief oder als<br />
Online-Formular per E-Mail).<br />
Petitionsausschuss des Europäischen Parlaments<br />
(EP): Der Petitionsausschuss des EP – zunächst ohne<br />
Rechtsgrundlage auf Initiative der Abgeordneten<br />
eingerichtet, vom �Maastrichter Vertrag über die<br />
Europäische Union (Art. 21 und 194 EGV) bestätigt<br />
– unterscheidet zwischen Bürgeranfragen (Ersuchen<br />
um Auskunft oder Information) und Petitionen. Beider<br />
Anzahl nimmt ständig zu. In der Sitzungsperiode<br />
2003/2004(11.3.2003–12.3.2004)erhieltderAusschuss<br />
1 313 Petitionen (davon 299 aus Deutschland;<br />
eingroßerTeildavonbetrafdasMonopolderKaminkehrer).<br />
15 Petitionen waren von jeweils mehr als<br />
1 000 Personen unterschrieben, die größte Petition<br />
zur Patentierung von Software trug über 130 000 Unterschriften.<br />
Die Petitionen betreffen vor allem die<br />
Bereiche soziale Sicherheit, Umwelt, Steuerrecht,<br />
Freizügigkeit und Anerkennung von Diplomen. Der<br />
Ausschuss beschäftigt sich nicht mit Klagen gegen<br />
dasHandelnoderUnterlasseneinerdereuropäischen<br />
Institutionen oder eines Mitgliedstaates bei der Vollziehung<br />
des EU-Rechts (dafür ist der �Europäische<br />
Bürgerbeauftragte zuständig), sondern vor allem mit<br />
Anregungen zu neuer europäischer Gesetzgebung<br />
undAufgabeninterpretationderGemeinschaftsinstitutionen<br />
und Organe. Damit wird dem Bürger eine<br />
Partizipationsmöglichkeit an den Aktivitäten der<br />
Gemeinschaft geboten.<br />
Bezüglich der Bitten und der allgemein politischen<br />
Anregungen kann das Parlament über einen Bericht<br />
desPetitionsausschusseseineStellungnahmeannehmen,<br />
in der es zum jeweiligen Gesuch Stellung<br />
nimmt. In diesem Zusammenhang kann es gegenüber<br />
dem Rat, der Kommission oder einem Mitgliedstaat<br />
darauf dringen, geeignete Maßnahmen zu treffen.<br />
Beschwerden werden an den Europäischen Bürgerbeauftragten<br />
weitergeleitet.<br />
Von Petitionen zu unterscheiden sind �Bürgerinitia-
tiven, wie sie nach Inkrafttreten des �Verfassungsvertrags<br />
möglich sein werden (Art. I-47 Abs. 4 VVE<br />
2004). W. M.<br />
Anschriften für Petitionen per Brief: Europäisches Parlament,<br />
Abtlg. Tätigkeit der Mitglieder, B–1047 Brüssel<br />
Per Internet: www.europarl.eu.int/petition/petition_de.htm<br />
Petitionsrecht<br />
1. Begriff der Petition: Das Wort geht auf den lateinischen<br />
Begriff petitio zurück, der mit Bitte, Begehren<br />
oder Anliegen übersetzt werden kann. Auf der Ebene<br />
der EU werden – wie auch auf mitgliedstaatlicher<br />
Ebene – unter Petitionen Bitten und Beschwerden an<br />
bestimmte Stellen verstanden. Nach Art. 194 EGV<br />
könnenjederBürgersowiejedenatürlicheoderjuristische<br />
Person „allein oder zusammen mit anderen<br />
Bürgern oder Personen in Angelegenheiten, die in<br />
die Tätigkeitsbereiche der Gemeinschaft fallen und<br />
dieihnunmittelbarbetreffen,einePetitionandasEuropäische<br />
Parlament richten“. Von den Petitionen,<br />
die den Petenten unmittelbar betreffen, sind Beschwerden<br />
über Missstände bei der Tätigkeit der Organe<br />
oder Institutionen der Gemeinschaft zu unterscheiden,<br />
für die nach Art. 195 Abs. 1 EGV der �Bürgerbeauftragte<br />
zuständig ist.<br />
2.SinnundZweckdesPetitionsrechts:DasPetitionsrecht<br />
wurde wie die Institution des Europäischen<br />
Bürgerbeauftragten mit der Einführung der<br />
�Unionsbürgerschaft durch den Vertrag von Maastricht<br />
rechtlich verankert. Die diesbezüglichen Regelungen<br />
finden sich im Kapitel zur Unionsbürgerschaft<br />
in Art. 21 Abs. 1 EGV und im Abschnitt zum<br />
Europäischen Parlament in Art. 194 EGV. Das Petitionsrecht<br />
soll – wie auch der Zugang zum Bürgerbeauftragten<br />
– es dem Bürger ermöglichen, seine gemeinschaftsrechtlichen<br />
Rechte und Interessen wahrzunehmen<br />
und durchzusetzen. Häufig wenden sich<br />
Personen mit Petitionen an das Europäische Parlament,<br />
weil sie infolge eines Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht<br />
ihre subjektiven Rechte oder Interessen<br />
verletzt sehen. Indem das Parlament dann die<br />
Einhaltung des Gemeinschaftsrechts überprüft,<br />
nimmt es eine außergerichtliche Rechtsschutzfunktion<br />
wahr. Zugleich tragen das Petitionsrecht wie<br />
auch das Beschwerderecht zum Bürgerbeauftragten<br />
dazu bei, dass die Bürger stärker in den europäischen<br />
Integrationsprozess einbezogen sind. Beide mit der<br />
Unionsbürgerschaft verbundenen Rechte tragen zur<br />
Entwicklung eines �„<strong>Europa</strong>s der Bürger“ bei, in<br />
welchemderEinzelnealseinmitRechtenundPflich-<br />
ten ausgestatteter Bürger verstanden wird. Die Bürger<br />
können über das Petitionsrecht auch außerhalb<br />
der Wahlen mit dem EU-Organ in Kontakt treten, das<br />
ihnen am nächsten steht. Sie können nicht nur auf<br />
Missstände oder Unzulänglichkeiten hinweisen,<br />
sondern auch Vorschläge zur weiteren Entwicklung<br />
der Union machen, indem sie neue Problemlösungen<br />
anregen.DemdirektenDialogdesEuropäischenParlamentsmitder�„Zivilgesellschaft“unddem„Mann<br />
auf der Straße“ darüber, „was <strong>Europa</strong> ‚ist‘ und was<br />
<strong>Europa</strong> für jeden Bürger ‚macht‘“ ist eine hohe Bedeutung<br />
zuzumessen (Bericht des Petitionsausschusses<br />
vom 27. 11. 2001, A 5-088/2001 endg.).<br />
Über die eingegangenen Petitionen wird das Parlament<br />
auf bestimmte Entwicklungen aufmerksam gemacht.<br />
Insofern ist das Petitionsrecht auch ein wirksames<br />
Instrument zur Stärkung der parlamentarischen<br />
Kontrolle, zumindest aber liefern die Petitionen<br />
in Form von Beschwerden Anhaltspunkte für die<br />
Wahrnehmung der parlamentarischen Kontrolle.<br />
U. M.<br />
Literatur:<br />
Barth, E.: Bürgerbeauftragter und Petitionsrecht im Prozess<br />
der europäischen Verfassungsgebung.<br />
Diss. Uni Tübingen 2004<br />
Guckelberger, A.: Der Europäische Bürgerbeauftragte und die<br />
Petitionen zum Europäischen Parlament. Schriftenreihe der<br />
Hochschule Speyer, Bd. 162. Berlin 2004<br />
Meese, J. M.: Das Petitionsrecht beim Europäischen<br />
Parlament, das Beschwerderecht beim Bürgerbeauftragten der<br />
Europäischen Union. Frankfurt/Main 2000<br />
Pfeiler �Tempelstruktur<br />
Pflanzenschutz �Naturschutz<br />
Pflimlin, Pierre (geb. 1907 – 2000), französischer<br />
Politiker, Minister in verschiedenen Ressorts. Als<br />
Landwirtschaftsminister (1947 – 1951) ergänzte er<br />
den Schuman-Plan um den Bereich Agrarmarkt<br />
(Pflimlin-Plan). Aus Opposition zur <strong>Europa</strong>politik<br />
de �Gaulleswechselteer1959indieKommunalpolitik<br />
und war von 1959 bis 1983 Oberbürgermeister<br />
von Straßburg, von 1963 bis 1966 Präsident der Parlamentarischen<br />
Versammlung des <strong>Europa</strong>rats. Von<br />
1984 bis 1986 war Pflimlin Präsident des Europäischen<br />
Parlaments.<br />
PHARE �Osterweiterung<br />
Philoxenia �Tourismuspolitik<br />
Philoxenia<br />
603
PJZS<br />
PJZS (Polizeiliche und justitielle Zusammenarbeit<br />
in Strafsachen). Durch den �Maastrichter Vertrag<br />
wurde die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz<br />
und Inneres (ZBJI) als „dritte Säule“ der Politiken<br />
der EU eingefügt (�Tempelstruktur). Sie sieht die<br />
Schaffung eines �Raums der Freiheit, der Sicherheit<br />
und des Rechts vor. Sein Ziel ist die Verhütung und<br />
Bekämpfung der organisierten und nichtorganisierten<br />
Kriminalität, insbes. auf den Gebieten des Terrorismus,<br />
des Menschenhandels und der Straftaten gegenüber<br />
Kindern, des illegalen Drogen- und Waffenhandels,<br />
der Bestechung und Bestechlichkeit sowie<br />
des Betruges. Durch den �Vertrag von Amsterdam<br />
wurde ein Teil der ZBJI in den EG-Vertrag übernommen<br />
(Dritter Teil, Titel IV: Visa, Asyl, Einwanderung...),<br />
so dass die 3. Säule auf die PJZS begrenzt ist<br />
(Art. 29 bis 42 EUV). Im Vordergrund steht der<br />
Schutz der inneren Sicherheit in den EU-Mitgliedstaaten.<br />
Die PJZS umfasst<br />
(1) die Zusammenarbeit der Polizei-, Zoll- und anderer<br />
spezialisierter Strafverfolgungsbehörden, auch<br />
unter Einschaltung des Europäischen Polizeiamtes<br />
(�Europol);<br />
(2) die Zusammenarbeit der Justizbehörden, insbes.<br />
bei gerichtlichen Verfahren, der Vollstreckung von<br />
Entscheidungen, der Vermeidung von Kompetenzkonflikten<br />
zwischen den Mitgliedstaaten sowie der<br />
Auslieferung zwischen ihnen;<br />
(3) gemeinsame Maßnahmen zur Festlegung von<br />
Mindestvorschriften über die Tatbestandsmerkmale<br />
strafbarerHandlungenundüberStrafenindenBereichen<br />
organisierte Kriminalität, Terrorismus und illegaler<br />
Drogenhandel.<br />
Als Institutionen wurde ein Europäisches Polizeiamt<br />
(�Europol) geschaffen, das der Koordination und Informationssammlung<br />
dient. Die �Europäische Polizeiakademie<br />
(EPA) dient der Zusammenarbeit der<br />
Ausbildungsstellen. Die polizeiliche Zusammenarbeit<br />
ist zweigleisig konzipiert: Zum einen beruht sie<br />
auf einer weiteren Verstärkung der Kooperation der<br />
nationalen Polizeibehörden; zum anderen auf einem<br />
AusbauvonEuropol.InbeidenFällengehtessowohl<br />
um die operative Zusammenarbeit als auch um Datenaustausch<br />
und -speicherung sowie um Ausbildung<br />
und Forschung. Auch im justitiellen Bereich<br />
soll die Zusammenarbeit – insbes. mit Hilfe von<br />
�Eurojust bzw. einer Europäischen Staatsanwaltschaft<br />
– sowohl bezüglich der mitgliedstaatlichen<br />
Strafjustiz verbessert werden, als auch im Hinblick<br />
604<br />
auf das materielle Strafrecht, das zumindest bezüglich<br />
grenzüberschreitender bzw. organisierter Kriminalität<br />
vereinheitlicht werden könnte.<br />
Wichtiger Erfolg im Rahmen der PJZS ist die Schaffung<br />
eines �„Europäischen Haftbefehls“ anstelle der<br />
sonst im internationalen Rechtsverkehr üblichen<br />
Auslieferungsverfahren.<br />
Die Maßnahmen der PJZS finden im Rahmen der Regierungszusammenarbeit<br />
statt. Die Entscheidungen<br />
zur PJZS werden vom Rat getroffen. Als Instrumente<br />
stehen ihm neben den gemeinsamen Standpunkten<br />
und völkerrechtlichen Übereinkommen Beschlüsse<br />
und Rahmenbeschlüsse zur Verfügung. Die Rahmenbeschlüsse<br />
sind wie die Richtlinien für die Mitgliedstaaten<br />
hinsichtlich des zu erreichenden Ziels<br />
verbindlich, überlassen diesen jedoch die Wahl der<br />
Form und der Mittel.<br />
Durch Art. I-42, Art. III-257 ff. des �Verfassungsvertrags<br />
2004 soll die PJZS weitgehend „vergemeinschaftet“werden.<br />
J. M. B./M. K.<br />
Pleven, René (1901–1993), französischer Premierminister<br />
(1950 – 1952) und Minister in mehreren<br />
Ressorts. Als Verteidigungsminister schlug er im<br />
Oktober 1950 die Aufstellung einer vereinigten europäischen<br />
Armee vor (�Pleven-Plan) – Grundlage<br />
für eine �Europäische Verteidigungsgemeinschaft.<br />
Pleven-Plan (1950), benannt nach dem damaligen<br />
französischen Ministerpräsidenten René Pleven.<br />
Plan zur Aufstellung einer <strong>Europa</strong>-Armee unter einem<br />
europäischen Verteidigungsminister. Anlass:<br />
Der Koreakrieg, der im Juni 1950 ausgebrochen war,<br />
veranlasste die Westmächte (USA, Großbritannien,<br />
Frankreich), einen Verteidigungsbeitrag der im Mai<br />
1949 gegründeten Bundesrepublik Deutschland zu<br />
fordern. Am 11. 8. 1950 plädierte Winston Churchill<br />
im �<strong>Europa</strong>rat für den Aufbau einer europäischen<br />
Armee, in die auch deutsche Verbände einbezogen<br />
werden sollten. Am 24. 10. 1950 legte Pleven der<br />
französischen Nationalversammlung seinen Plan<br />
vor. Die <strong>Europa</strong>-Armee sollte aus Kontingenten der<br />
Teilnehmerstaaten bestehen, die weitgehend – bis in<br />
kleine Einheiten – integriert waren. Die Verteidigungsminister<br />
der NATO billigten am 19. 12. 1950<br />
die Teilnahme deutscher Kontingente.<br />
Als Konsequenz des Pleven-Plans wurden im Februar<br />
Verhandlungen zwischen den sechs späteren<br />
EWG-Staaten Frankreich, Italien, Beneluxländer
und Bundesrepublik Deutschland eröffnet, die am<br />
27. 5. 1952 zum Abschluss des Vertrags über die<br />
�Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG)<br />
führten, der am 30. 8. 1954 in der französischen Nationalversammlung<br />
scheiterte.<br />
PLOTEUS ist eine Datenbank für Lernangebote in<br />
ganz <strong>Europa</strong> und soll Schülern, Studierenden, Arbeitsuchenden,<br />
Eltern, Berufsberatern und Lehrern<br />
bei der Suche nach Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten<br />
helfen. Das Portal wird von der Generaldirektion<br />
Bildung und Kultur der Europäischen Kommission<br />
in Zusammenarbeit mit dem Nationalen<br />
Ressourcen Zentrum für Bildungs- und Berufsinformation<br />
und -beratung (Euroguidance) verwaltet.<br />
Internet: http://europa.eu.int/ploteus<br />
Point of no return. Stadium, dessen Erreichen einen<br />
Prozess unumkehrbar macht. In Bezug auf die<br />
EU wird der Begriff gebraucht, um Integrationsschritte<br />
oder Ereignisse zu bezeichnen, die den gesamten<br />
Prozess der Einigung oder Schritte zu Teilen<br />
davon (wie die Währungsunion) tatsächlich (rechtlich)<br />
oder nach menschlichem Ermessen (politisch)<br />
unumkehrbar werden ließen. Für Teile der Integration,<br />
z. B. Erweiterungen oder Reformen, setzten häufig<br />
Beschlüsse des Europäischen Rats den point of no<br />
return. Die Frage, ob der mit dem �Verfassungsvertrag<br />
von 2004 erreichbare Stand der Europäischen<br />
UniondenProzessderpolitischenIntegrationbereits<br />
aneinenpointofnoreturnbringenwürde,wirdunterschiedlich<br />
beantwortet, je nachdem, ob eine weitere<br />
Integration der Union zu einer staatsähnlichen Form<br />
gewünscht wird oder eher ihre Rückführung auf eine<br />
reine Wirtschafts- oder Zollunion. Rechtlich gesehen<br />
wäre die Schwelle der Unumkehrbarkeit auch<br />
nach Inkrafttreten des Verfassungsvertrags noch<br />
nicht überschritten.<br />
Politikbereiche der Europäischen Union<br />
1. Die Struktur der EU: Die Europäische Union ist<br />
durch eine differenzierte Ausstattung mit Kompetenzen<br />
gekennzeichnet (Grad der Kompetenzzuordnung),<br />
die von der schwachen Form der Koordination<br />
und �Kooperation bis hin zur Durchführung einer<br />
ausschließlichen Gemeinschaftspolitik reichen.<br />
Ausgangspunkt ist die Drei-Säulen-Theorie (�Tempelstruktur),<br />
die sich in Art. 1 EUV begründet:<br />
Grundlage der Union bilden die Europäischen Ge-<br />
Politikbereiche der EU<br />
meinschaften, ergänzt durch die mit dem EU-<br />
Vertrag eingeführten Politiken und Formen der Zusammenarbeit.<br />
Die erste Säule wird somit von den<br />
drei (seit Ende der �EGKS zwei) Gemeinschaften<br />
gebildet, deren wichtigste wiederum die Europäische<br />
Gemeinschaft darstellt. Der EG-Vertrag benennt<br />
in den Artikeln 3 und 4 die Politikbereiche, in<br />
denen die Gemeinschaft tätig wird. Die zweite Säule<br />
umfasst die �Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik<br />
auf Basis der Zusammenarbeit. Die dritte<br />
Säule beinhaltet die polizeiliche und justitielle Zusammenarbeit<br />
in Strafsachen (�PJZS). Aus der Beschreibung<br />
der Ziele und Tätigkeiten der EU wird die<br />
Bandbreite deutlich, die in einem �einheitlichen institutionellen<br />
Rahmen behandelt werden soll. Obwohl<br />
sich die Union mit allen Themen öffentlicher<br />
Politik befassen kann, verfügt sie nicht über die Allzuständigkeit<br />
(�Einzelermächtigung), wenngleich<br />
die Generalermächtigung des Art. 308 EGV ein Handeln<br />
ohne vertragliche Grundlage im Einzelfall ermöglicht.<br />
2. Gemeinschaftskompetenzsystem: Die Kompetenzabgrenzungen<br />
präsentieren sich differenziert und<br />
ständig im Fluss, da die Union ein komplexes Gebilde<br />
zwischen internationalem Vertrag und supranationalerOrganisation(mitderTendenzzumFöderalstaat)<br />
darstellt. Die Kompetenzabstufung erfolgt<br />
durch Kompetenztransfer der Mitgliedstaaten, die<br />
Souveränitätsrechte(�Souveränität)andieEUabgeben.<br />
Der Grad der Kompetenzzuordnung ist – geknüpft<br />
an die Politikbereiche – unterschiedlich geregelt<br />
(�Integrationsformen). Danach lassen sich unterscheiden:<br />
a) Die Koordinierung (gegenseitige Abstimmung):<br />
EU-Staatenverpflichtensichvertraglich,einanderin<br />
Teilbereichen der Politik zu unterrichten (Konsultation)<br />
und Handlungen aufeinander abzustimmen. Im<br />
Bereich der Koordinierung bleiben die EU-Staaten<br />
Träger der Zuständigkeit und Verantwortung. Die<br />
Kompetenz der EU beschränkt sich<br />
– auf die Koordinierung der Politik der EU-Staaten<br />
(etwas erweiterte Möglichkeiten der Politikgestaltung<br />
bietet die �offene Koordinierungsmethode);<br />
– auf ergänzende Maßnahmen der EU und<br />
– auf die Finanzierung entsprechender Programme<br />
für die EU-Staaten.<br />
b)DieKooperation(zwischenstaatlicheRegierungszusammenarbeit):<br />
EU-Staaten verpflichten sich, in<br />
vertraglich genau benannten Teilbereichen der Poli-<br />
605
Politikbereiche der EU<br />
tik Beschlüsse gemeinsam zu fassen und einzelstaatlich<br />
umzusetzen. Die Kompetenzen werden nicht an<br />
die europäische Ebene bzw. an supranationale Organe<br />
abgetreten, d. h., die EU-Staaten stimmen ihre InteressengemeinsamabundarbeitenaufderGrundlage<br />
von Regierungsübereinkünften zusammenarbeiten<br />
(Vereinbarung gemeinsamer Politik ohne Übertragung<br />
von �Hoheitsrechten an die EU). In der Praxis<br />
findet die Kooperationsform ihre Ausprägung in<br />
einer institutionalisierten Kooperation zwischen der<br />
EU und den Mitgliedstaaten.<br />
c) Die Integration: EU-Staaten übertragen legislative<br />
und exekutive Kompetenzen in vertraglich vereinbarten<br />
Teilbereichen der Politik auf die europäische<br />
Ebene und damit auf die EU-�Organe. Die<br />
EU-Staaten geben ihre Souveränität bzw. Hoheitsrechte<br />
auf diesen Gebieten ab und können einzelstaatlich<br />
nur noch flankierend zur europäischen Ebene<br />
wirken. Die Zuständigkeitsbereiche der EU sind<br />
im primären �Gemeinschaftsrecht fixiert.<br />
3. Politikbereiche in Gemeinschaftskompetenz: Mit<br />
dem �Vertrag von Amsterdam (und durch den �Vertrag<br />
von Nizza nicht grundlegend verändert) stellt<br />
sich die Kompetenzzuordnung der politischen Teilbereiche<br />
wie folgt dar:<br />
3.1 Bei den Gemeinschaftspolitiken ist die volle Zuständigkeit<br />
der EU von den Bereichen zu trennen, bei<br />
denen sie nach dem Prinzip der �Subsidiarität nur<br />
eineergänzendeZuständigkeitbesitzt(Art.5EGV).<br />
a)EinevolleZuständigkeithatdieEUnachdenArt.3<br />
und 4 EGV bei folgenden gemeinsamen Politiken:<br />
gemeinsame Handelspolitik als Folge der Zollunion;<br />
Binnenmarktrealisierung; gemeinsame Politik auf<br />
dem Gebiet der Landwirtschaft und der Fischerei;<br />
gemeinsame Politik auf dem Gebiet des Verkehrs;<br />
Wettbewerbspolitik zum Schutz des �Binnenmarktes;<br />
Festlegung und Durchführung einer einheitlichen<br />
Geld- sowie Wechselkurspolitik, die Angleichung<br />
der innerstaatlichen Rechtsvorschriften (soweit<br />
für das Funktionieren des Gemeinsamen Markteserforderlich);dieAssoziierungderüberseeischen<br />
Länder und Hoheitsgebiete; Kohle- und Stahlpolitik<br />
und Kernenergiepolitik (gem. EAG-Vertrag).<br />
b) Gemeinschaftspolitiken in Form einer<br />
– Sozialpolitik mit einem Europäischen Sozialfonds;<br />
– Politik auf dem Gebiet der Umwelt;<br />
– Politik auf dem Gebiet der Entwicklungszusammenarbeit;<br />
606<br />
– koordinierten Wirtschaftspolitik.<br />
c) Gemeinschaftspolitiken zur Förderung<br />
– der Koordinierung der �Beschäftigungspolitik<br />
der Mitgliedstaaten mitsamt einer koordinierten<br />
Beschäftigungsstrategie;<br />
– derForschungundtechnologischenEntwicklung;<br />
– desAuf-undAusbaus�TranseuropäischerNetze.<br />
d) Gemeinschaftspolitiken als Beitrag<br />
– zur Erreichung eines hohen Gesundheitsschutzniveaus;<br />
– zur Verbesserung des Verbraucherschutzes;<br />
– zu einer qualitativ hochstehenden allgemeinen<br />
und beruflichen Bildung sowie zur Kulturpolitik.<br />
e) Gemeinschaftspolitiken in Form von Maßnahmen<br />
als Tätigwerden der Gemeinschaft<br />
– hinsichtlich der Einreise und des Personenverkehrs<br />
(Visa, Asyl, Einwanderung und andere Politiken<br />
betreffend den �freien Personenverkehr);<br />
– in den Bereichen Energie, Katastrophenschutz<br />
und Fremdenverkehr.<br />
f) Gemeinschaftspolitiken zur Stärkung<br />
– des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts<br />
(Regional- und Strukturpolitik);<br />
– der Wettbewerbsfähigkeit der Industrie.<br />
3.2 Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik<br />
(zweiteSäule)istalsRegierungszusammenarbeitorganisiert.<br />
3.3 Die polizeiliche und justitielle Zusammenarbeit<br />
in Strafsachen (dritte Säule) erstreckt sich auf die<br />
Verhütung und Bekämpfung der (nicht) organisierten<br />
Kriminalität (insbes. Terrorismus, Menschenhandel,<br />
Straftaten gegenüber Kindern, illegaler Drogen-<br />
und Waffenhandel, Korruption und Betrug) sowie<br />
auf die Verhütung und Bekämpfung von Rassismus<br />
und Fremdenfeindlichkeit. Die justitielle Zusammenarbeit<br />
konzentriert sich auf die Festlegung<br />
unionsweit geltender Mindestvorschriften über die<br />
Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und<br />
das Strafmaß in den Bereichen organisierter Kriminalität,<br />
Terrorismus und illegaler Drogenhandel.<br />
3.4 Mit der Währungsunion ist ein veränderter<br />
Wechselkursmechanismus (WKM II) zwischen dem<br />
Euro und den Währungen der EU-Staaten entstanden,<br />
die nicht dem Euro angehören. Die damit verbundenenWährungspolitikerfolgtübereineKoordinierung<br />
zwischen den Nicht-Euro-Ländern und der<br />
�Europäischen Zentralbank.<br />
4.Verfassungsvertrag2004:Mitdem �Verfassungsvertrag<br />
(unterzeichnet am 29. 11. 2004) würde, wenn
er in Kraft tritt, die Aufteilung des Vertragsgefüges<br />
in die drei Säulen durch einen einheitlichen rechtlichen<br />
Rahmen ersetzt. Grundsätzlich hat der Verfassungsvertrag<br />
eine durchgängige Rechtsbasis, die<br />
durch die Verleihung der Rechtspersönlichkeit (Art.<br />
I-7 VVE) dokumentiert wird.<br />
Der Verfassungsvertrag unterscheidet ausschließliche<br />
Zuständigkeiten der Union von Bereichen mit<br />
geteilter Zuständigkeit und spezielle Zuständigkeitsregelungen<br />
für einzelne Politikbereiche. Im<br />
EinzelnenwerdendiePolitikbereichewiefolgtzugeordnet:<br />
a) Ausschließliche Zuständigkeiten (Art. I-13) hat<br />
die Union für<br />
– die Wettbewerbspolitik des Binnenmarktes;<br />
– die Währungspolitik der Mitgliedstaaten, die den<br />
Euro eingeführt haben;<br />
– die Zollunion;<br />
– die Erhaltung der biologischen Meeresschätze im<br />
Rahmen der Fischereipolitik;<br />
– ausgewählte Abschlüsse internationaler Übereinkommen.<br />
b) Hauptbereiche für die geteilte Zuständigkeiten<br />
sind (Art. I-14):<br />
– Binnenmarkt;<br />
– RaumderFreiheit,derSicherheitunddesRechts;<br />
– Landwirtschaft und Fischerei;<br />
– Verkehr und transeuropäische Netze;<br />
– Energie;<br />
– Aspekte der Sozialpolitik;<br />
– wirtschaftlicher, sozialer und territorialer Zusammenhalt;<br />
– Umwelt;<br />
– Verbraucherschutz;<br />
– gemeinsame Sicherheitsanliegen im Bereich des<br />
Gesundheitswesens;<br />
– Forschung, technologische Entwicklung und<br />
Raumfahrt;<br />
– Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre<br />
Hilfe.<br />
c) Maßnahmen der Union zur Koordinierung der<br />
Wirtschafts-undBeschäftigungspolitik(Art.I-15).<br />
d) Zuständigkeiten der Union im Bereich der Gemeinsamen<br />
Außen- und Sicherheitspolitik (Art.<br />
I-16).<br />
e) Bereiche in den die Union Unterstützungs-, Koordinierungs-<br />
und Ergänzungsmaßnahmen<br />
treffen kann (Art. I-17):<br />
– Industrie;<br />
Politik des „leeren Stuhls“<br />
– Schutz und Verbesserung der menschlichen Gesundheit;<br />
– allgemeine und berufliche Bildung, Jugend und<br />
Sport;<br />
– Katastrophen;<br />
– Kultur;<br />
– Tourismus;<br />
– Verwaltungszusammenarbeit.<br />
Nach Art. I-11 VVE gilt für die Abgrenzung der Zuständigkeiten<br />
der Union der Grundsatz der begrenzten<br />
Einzelermächtigung. Für die Ausübung der Zuständigkeiten<br />
der Union gelten die Grundsätze der<br />
Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit.<br />
Mit der Flexibilitätsklausel (Art. I-18) kann der Ministerrat<br />
jedoch einstimmig auf Vorschlag der<br />
Kommission und nach Zustimmung des EP sowie einer<br />
Vorabinformation der nationalen Parlamente<br />
bisher nicht vorgesehene Befugnisse zur Erreichung<br />
von Verfassungszielen beschließen. Damit kann die<br />
Union über die Einzelermächtigungen hinaus handeln,<br />
um auf gegenwärtig nicht gesehene Herausforderungen<br />
reagieren (Ergänzungskompetenz). Die<br />
Flexibilitätsklausel ist die Fortentwicklung der „Generalermächtigung“<br />
des Art. 308 EG-Vertrag.<br />
L. U.<br />
Literatur:<br />
Bogdandy, A. u.a.: Die vertikale Kompetenzzuordnung im<br />
Entwurf des Verfassungsvertrages. In: Integration 4/2003.<br />
S. 414 – 423<br />
Götz, V. u.a. (Hg.): Kompetenzverteilung zwischen der Europäischen<br />
Union und der Mitgliedsstaaten. Baden-Baden 2002<br />
Läufer, Th. (Hg.): Vertrag von Amsterdam. Bonn 1998<br />
Ohr, R. (Hg.): Europäische Integration. Stuttgart 1996<br />
Scheuning, D.-H. (Hg.): Europäische Verfassungsordnung.<br />
Baden-Baden 2003<br />
Vedder, C. (Hg.): EU-Verfassung. Baden-Baden 2005<br />
Politik des „leeren Stuhls“. Frankreich brach am<br />
1. 7. 1965 (Beginn seiner Präsidentschaft im Rat) die<br />
Verhandlungen des Agrarministerrats in Brüssel ab,<br />
dem ein Vorschlag der EWG-Kommission zugrunde<br />
lag, die Finanzierung der Gemeinsamen Agrarpolitik<br />
teilweise aus EWG-Mitteln zu bestreiten, die aus<br />
den Abschöpfungen stammten (Abschöpfungsgelder<br />
flossen bis dahin in die Kassen der Mitgliedsländer<br />
und sollten nun in eine Gemeinschaftskasse umgelenktwerden).ZudiesemZweckehättendieHaushaltsbefugnisse<br />
des Europäischen Parlaments (EP)<br />
erweitert werden müssen. Damit hätte das EP Etatrechteerhalten.DanachdemEWG-VertragbeiRatsbeschlüssen<br />
in der Agrar- und der Handelspolitik<br />
607
Politisches und Sicherheitspolitisches Komitee<br />
nach Ablauf des 2. Drittels der Übergangsfrist (von 3<br />
mal 4 Jahren) ab 1. 1. 1966 die Einstimmigkeit in bestimmten<br />
Fällen aufgehoben werden musste, forderten<br />
am 1. 7. 1965 einige Ratsmitglieder, die anstehende<br />
Frage bereits jetzt mit qualifizierter Mehrheit<br />
zu entscheiden.<br />
Frankreich lehnte dies ab und erklärte überdies, die<br />
Kommission habe ihre Befugnisse überschritten.<br />
DasLand,dasim2.Halbjahr1965denVorsitzimRat<br />
innehatte, nahm an Ratssitzungen nicht mehr teil,<br />
wodurch Beschlüsse nicht mehr möglich waren. Auf<br />
einer Ratssitzung am 29. 1. 1966 in Luxemburg einigte<br />
man sich mit Frankreich: Wenn bei einer anstehenden<br />
Entscheidung des Ministerrats nach dem<br />
EWG-Vertrag ein Mehrheitsbeschluss möglich ist,<br />
kann ein Land, das dem Beschluss nicht zustimmen<br />
möchte, unter Hinweis auf wichtige nationale Interessen<br />
weitere Beratungen verlangen, bis ein Kompromiss<br />
gefunden ist, dem alle zustimmen können<br />
(�Luxemburger Vereinbarung).<br />
Diese Regelung wurde jahrlang praktiziert und in<br />
leicht abgeänderter Form durch den Amsterdamer<br />
Vertrag in das Primärrecht (�GASP, �verstärkte Zusammenarbeit)<br />
übernommen (Art. 23 Abs. 2 und Art.<br />
40 Abs. 2 EUV 1992, Art. 11 EGV 1992), im Vertrag<br />
von Nizza wieder auf den Bereich der GASP beschränkt<br />
(Art. 23 Abs. 2 EUV). Eine entsprechende<br />
Regelung enthält auch der Verfassungsvertrag (Art.<br />
III-300Abs.2VVE). W. M.<br />
Politisches und Sicherheitspolitisches<br />
Komitee (PSK)<br />
1. Rechtsgrundlage: Auf der Grundlage der Beschlüsse<br />
des Europäischen Rats von Köln und Helsinki(1999)am1.3.2000zunächstalsInterimsorgan<br />
aufgestelltes,dannmitBeschlussdesRatsvom22.1.<br />
2001dauerhafteingerichtetes,zentralesBeratungs-,<br />
Vorbereitungs- und in Ausnahmefällen auch Entscheidungsgremium<br />
des Rats im Bereich der �Gemeinsamen<br />
Außen- und Sicherheitspolitik (GASP),<br />
einschl. der �Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik<br />
(ESVP). Das Politische und Sicherheitspolitische<br />
Komitee (PSK) bezeichnet nach inzwischen<br />
herrschendem Sprachgebrauch die in<br />
Brüssel tagende ständige Konfiguration des Komitees<br />
nach Art. 25 EUV (Nizza). Regelmäßig zu Beginn<br />
einer Präsidentschaft sowie in ausgesuchten<br />
Fällen tritt das PSK – dann meist mit perspektivisch-strategischer<br />
Themenstellung – in der an die<br />
608<br />
Zeit der �Europäischen Politischen Zusammenarbeit<br />
(EPZ) erinnernden „klassischen“ Zusammensetzung<br />
der Politischen Direktoren zusammen.<br />
2. Aufgaben: Die wesentliche Aufgabe des PSK besteht<br />
darin, die internationale Lage in allen Bereichen<br />
der �GASP einschließl. der �ESVP zu verfolgen,<br />
den Rat bei der Festlegung geeigneter Politiken<br />
entsprechend zu beraten und ggf. konkrete Beschlüsse<br />
vorzubereiten sowie die Durchführung dieser Politiken<br />
zu überwachen. In diesem Zusammenhang ist<br />
das PSK ausweislich seines Mandats der bevorzugte<br />
Ansprechpartner des �Hohen Vertreters für die<br />
GASP (HR). Das PSK ist das „Scharnier“ zwischen<br />
der „Expertenebene“ in den Ratsarbeitsgruppen, die<br />
es in GASP-Fragen koordiniert, und der politischen<br />
Ebene des Rats. Der �Ausschuss der Ständigen Vertreter<br />
(AStV), der gem. Art. 207 den Rat vorzubereiten<br />
hat, nimmt sich in der Praxis der im PSK behandelten<br />
Fragen regelmäßig nur noch insoweit an, als<br />
sog. „horizontale“ Aspekte betroffen sind. Eine besondere<br />
Rolle kommt dem PSK im Rahmen des Krisenmanagements<br />
und der Fähigkeitsentwicklung in<br />
der �ESVP zu. So nimmt das PSK unter der Verantwortung<br />
des Rats die politische Kontrolle und strategische<br />
Leitung von Operationen zur Krisenbewältigung<br />
wahr und kann vom Rat ermächtigt werden, in<br />
diesem Zusammenhang die geeigneten Beschlüsse<br />
zu fassen. Das PSK ist ausweislich seines Mandats<br />
ermächtigt, nicht nur den Arbeitsgruppen, sondern<br />
auch dem �Militärausschuss der EU (EUMA) und<br />
dem �Ausschuss für die nichtmilitärischen Aspekte<br />
der Krisenbewältigung (CivCom) politische Leitlinien<br />
vorzugeben. Dies gilt ausdrücklich auch für den<br />
Bereich der Entwicklung der Fähigkeitsziele, wodurch<br />
dem PSK auch gegenüber der �Europäischen<br />
Verteidigungsagentur (EVA) eine besondere Rolle<br />
zukommt. Das PSK führt darüber hinaus – regelmäßig<br />
im Format der �Troika – auf seiner Ebene den Politischen<br />
Dialog mit Drittstaaten durch. Durch die regelmäßigen<br />
Treffen mit dem Nordatlantikrat<br />
(NATO) kommt dem PSK darüber hinaus eine herausragende<br />
Bedeutung im Rahmen der strategischen<br />
Partnerschaft zwischen der EU und der NATO<br />
zu(s.�EU-NATODauervereinbarungen). U. S.<br />
Politische Union<br />
1. Begriff. Mit „Politischer Union“ verbanden und<br />
verbinden sich recht unterschiedliche Vorstellungen<br />
einer politischen Einigung <strong>Europa</strong>s oder von Teilen
davon. Gemeinsam ist allen Entwürfen und Plänen,<br />
dass die angestrebte �Integration über wirtschaftliche<br />
Kooperationen oder eine Wirtschaftsgemeinschaft<br />
in Richtung auf eine supranationale europäische<br />
politische Gemeinschaft hinausgehen sollte.<br />
Politische Union ist ein dynamischer Prozess, in dem<br />
auf verschiedenen Stufen Integrationselemente jeweils<br />
zusammengeführt und weiterentwickelt werden<br />
sollen bis hin zu einem voll ausgeprägten<br />
(End-)Stadium. Der Begriff wird auch synonym mit<br />
Europäischer Union verwandt.<br />
2. Pläne und Integrationsstufen<br />
2.1 Vorstufen und Teilintegrationen. Die Gründung<br />
des �<strong>Europa</strong>rates und der �EGKS (Montanunion<br />
oder �Schumanplan) waren erste konkrete Schritte,<br />
um nach dem Zweiten Weltkrieg die Nationalstaaten<br />
zusammenzuschließen. Der <strong>Europa</strong>rat verfolgt seine<br />
Ziele durch Zusammenarbeit der Regierungen der<br />
Mitgliedstaaten; er ist also eine inter-, jedoch keine<br />
supranationale Institution (�Supranationalität), also<br />
keine überstaatliche Organisation, die ihr von den<br />
Mitgliedstaaten übertragene �Hoheitsrechte ausüben<br />
und durch ihre Entscheidungen die Mitgliedstaaten<br />
binden kann.<br />
Die EGKS hingegen war eine erste supranationale<br />
Organisation, die eine partielle wirtschaftliche Integration<br />
der Mitgliedsländer beinhaltet. Darüber hinaus<br />
war mit ihrer Gründung auch die Absicht verbunden,zurIntegrationweitererBereichederWirtschaft<br />
und der Politik hinzuführen. Diese Ziele konnten mit<br />
der Gründung von EWG und EURATOM teilweise<br />
realisiert werden; denn nunmehr wurden weite Bereiche<br />
der Wirtschaft integriert und mit verschiedenen<br />
mit ihr in Zusammenhang stehenden Politiken<br />
verknüpft. Darüber hinausgehende Schritte in Richtung<br />
auf eine voll ausgestaltete Politische Union<br />
konnten zunächst noch nicht realisiert werden; d. h.<br />
eine �Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik,<br />
Innenpolitik und �Sozialpolitik – wie sie im �MaastrichterVertragvorgesehensind–bleibennochweitgehend<br />
in den Anfängen stecken.<br />
2.2 Europäische Politische Gemeinschaft (EPG).<br />
Das Projekt wurde im März 1953 nach der Gründung<br />
der Montanunion entworfen und sollte die geplante<br />
�Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG)<br />
und die EGKS zusammenbinden. Die EPG sollte die<br />
militärische Sicherheit in <strong>Europa</strong> garantieren, die<br />
Außenpolitik der sechs Mitgliedstaaten (identisch<br />
mit denjenigen der Montanunion) koordinieren und<br />
Politische Union<br />
deren Wirtschaft über den Ausbau eines �Gemeinsamen<br />
Marktes weiter entwickeln. Vorgesehen waren<br />
fünf Organe: das Parlament (zusammengesetzt aus<br />
einem von den nationalen Parlamenten gewählten<br />
Senat und einer vom Volk direkt gewählten Volkskammer)<br />
als Gesetzgebungsorgan, der Exekutivrat<br />
als Regierung, der Ministerrat (der die Tätigkeit des<br />
Exekutivrats mit den Regierungstätigkeiten in den<br />
Mitgliedstaaten in Einklang bringen sollte), der Gerichtshof<br />
und der Wirtschafts- und Sozialrat (mit beratender<br />
Funktion). Die EPG sollte sich aus Steuern,<br />
Anleihen und verschiedenen Erlösen der Gemeinschaft<br />
sowie aus Beiträgen der Mitgliedstaaten finanzieren.<br />
Die Arbeiten an der Gründung dieser zwischenstaatlichen<br />
Gemeinschaft wurden nach dem<br />
Scheitern der EVG (1954) eingestellt. Die EPG stellt<br />
ein Modell für alle späteren Bemühungen dar, eine<br />
Politische bzw. Europäische Union zu bilden.<br />
2.3 Fouchet-Pläne. Die nach dem französischen MinisterChristianFouchetbenanntenEntwürfefüreine<br />
Europäische Politische Union wurden 1961/62 vorgelegt,<br />
um im Rahmen der EWG auch die politische<br />
Integration voran zu bringen. Die Impulse gingen<br />
von der französischen Regierung aus. Eine Kommission<br />
sollte ein Statut für eine Europäische Politische<br />
Union ausarbeiten. Fouchet unterbreitete als erste<br />
Arbeitsgrundlage den Entwurf einer Staatenunion.<br />
Dieser baute auf der Intensivierung der �intergouvernementalenZusammenarbeitaufundunterschied<br />
sich insofern von dem mit den Verträgen zu den Europäischen<br />
Gemeinschaften (EWG, EURATOM,<br />
EGKS) eingeschlagenen Weg einer Stärkung der supranationalen<br />
Kräfte. Der Entwurf wurde auf der<br />
Konferenz der Staats- und Regierungschefs in Bonn<br />
im Juli 1961 grundsätzlich angenommen.<br />
Der erste Fouchet-Plan sah eine politische Union mit<br />
regelmäßigen Treffen der Staats- und Regierungschefs<br />
bzw. der Außenminister vor. Entscheidungen<br />
sollten einstimmig gefällt werden. Dem gemeinschaftlichenParlamentwurdennurberatendeBefugnisse<br />
zugewiesen.<br />
Im Januar 1962 legte die französische Regierung einen<br />
zweiten (Fouchet-)Plan vor, der stärker die nationalen<br />
Hoheitsrechte betonte und der angestrebten<br />
Union zu Lasten der EWG wirtschaftspolitische<br />
Kompetenzen übertrug. Die Fouchet-Pläne scheitertenletztlichandenMeinungsverschiedenheitenüber<br />
den Beitritt Großbritanniens.<br />
2.4 Europäische Politische Zusammenarbeit (EPZ).<br />
609
Politische Union<br />
Auf der Konferenz der Staats- und Regierungschefs<br />
in Den Haag im Dezember 1969 (�Gipfeltreffen)<br />
wurden im Abschlusskommuniqué die Außenminister<br />
mit der Prüfung der Frage beauftragt, „wie, in der<br />
Perspektive der Erweiterung, am besten Fortschritte<br />
auf dem Gebiet der politischen Einigung erzielt werden<br />
können“. Hiermit war in erster Linie eine Fortentwicklung<br />
der Gemeinschaft in der Außen- und<br />
Verteidigungspolitik gemeint. Das im �Luxemburger<br />
Bericht veröffentlichte Verfahren wurde dann<br />
unter dem Titel �„Europäische Politische Zusammenarbeit“<br />
eingerichtet. Das Verfahren war im Unterschied<br />
zu den vorherigen Versuchen einer Politischen<br />
Union pragmatisch angelegt. Konstitutionelle<br />
Grundsatzfragen wurden weitgehend vermieden.<br />
Die Entscheidungskompetenz lag bei den Vertretern<br />
der nationalen Regierungen. Alle Entscheidungen<br />
wurden einstimmig getroffen. Die EPZ entwickelte<br />
sich zum wichtigsten Instrument der Außenpolitik<br />
imRahmenderGemeinschaft.1986wurdesieimZusammenhang<br />
mit der �Einheitlichen Europäischen<br />
Akte auch vertraglich institutionalisiert und im Maastrichter<br />
Vertrag (1992) über die Europäische Union<br />
zur �Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik<br />
(GASP) weiterentwickelt.<br />
2.5 Tindemans-Bericht. Der Beschluss auf dem Pariser<br />
Gipfel 1972, „vor dem Ende dieses Jahrzehnts in<br />
absoluter Einhaltung der bereits beschlossenen Verträge<br />
die Gesamtheit der Beziehungen der Mitgliedstaaten<br />
in eine Europäische Union umzuwandeln“,<br />
konnte nicht umgesetzt werden. 1975 legte der belgische<br />
Ministerpräsident Leo Tindemans einen Bericht<br />
über die Verwirklichung der Europäischen<br />
Unionvor,dereineReihekonkreterSchritteaufzeigte.<br />
Der Bericht definierte die Europäische Union<br />
nicht als Endphase der europäischen Entwicklung,<br />
sondern als eine neue Stufe der Integration: Überführung<br />
der intergouvernementalen Zusammenarbeit in<br />
verbindlichereFormengemeinsamerAußen-undSicherheitspolitik,<br />
höherer Integrationsgrad in der<br />
Wirtschaftspolitik, Stärkung des Europäischen Parlaments<br />
durch Direktwahl, Mehrheitsbeschlüsse im<br />
Rat. Die Außenminister bekräftigten in ihrer Stellungnahme<br />
erneut das Ziel der Politischen Union.<br />
Weitere Schritte in diese Richtung waren der �Genscher-Colombo-Plan<br />
1981, die �Feierliche Deklaration<br />
zur Europäischen Union 1983 und die �Einheitliche<br />
Europäische Akte 1986.<br />
2.6 Realisierung der EU. Der Vertrag über die Euro-<br />
610<br />
päische Union (1992) und dessen Weiterführung in<br />
den Vertragsrevisionen von Amsterdam und Nizza<br />
sind die vorläufig letzten Schritte in Richtung auf<br />
eine Politische Union. Der Maastrichter Vertrag enthielt<br />
im Unterschied zum zeitlich und inhaltlich präzisen<br />
Stufenplan zur Schaffung einer Währungsunion<br />
nur Ansätze in Richtung einer Politischen<br />
Union, vor allem durch die Stärkung des EP im Mitentscheidungsverfahren,<br />
den Ausbau der früheren<br />
EPZ zu einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik<br />
(GASP) und die �Zusammenarbeit in den Bereichen<br />
Justiz und Inneres (ZBJI). Deshalb vereinbarten<br />
einige Mitgliedstaaten im Vorfeld der Konferenz<br />
von Amsterdam, dass vor der Realisierung der<br />
Währungsunion ein neuerlicher Anlauf zur Erzielung<br />
von Fortschritten auf dem Weg zur Politischen<br />
Union unternommen werden sollte. Abgesehen von<br />
der Weiterentwicklung der GASP im Amsterdamer<br />
Vertrag blieben diese Bemühungen jedoch bislang<br />
weitgehend erfolglos. Der Vertrag von Nizza hat<br />
vielmehr gezeigt, dass die sog. �Jean-Monnet-<br />
Methode der europäischer Integration, wonach ein<br />
wirtschaftlicher Integrationsschritt immer einen<br />
weiteren Schritt in Richtung auf eine politische Integration<br />
generiert, nicht zielführend ist. Eine durchgreifende<br />
Änderung des politischen Systems ist auf<br />
dem Wege der Regierungskonferenzen nicht zustande<br />
gekommen.<br />
3. Zukunft der EU<br />
3.1 Vom „Kerneuropa“ zur europäischen Föderation?<br />
Nach Maastricht wurde die Diskussion über die<br />
Politische Union wieder aufgenommen. Die Befürworter<br />
eines „Kern-<strong>Europa</strong>s“ (Schäuble/Lamers-<br />
Papier) streben eine vertiefte Integration vor allem<br />
im Bereich der zweiten und dritten Säule an. Sie erhoffen<br />
sich von einer Neuauflage der ersten Kerneuropa-Initiative,<br />
die zur Gründung der EGKS geführt<br />
hatte, neue Impulse für eine europäische Föderation.<br />
Nach den Vorstellungen von Jürgen Habermas sollen<br />
die EU in einen Bundesstaat umgeformt und die<br />
europäischen Verträge in eine politische Verfassung<br />
umgewandelt werden. Nach Jacques Delors soll eine<br />
„Föderation der Nationalstaaten“, bestehend aus den<br />
sechs Gründungsstaaten der EG, einen „Vertrag im<br />
Vertrag“ schließen mit dem Ziel einer tiefgreifenden<br />
Reform der europäischen Institutionen. In die gleiche<br />
Richtung geht der Vorschlag von Helmut<br />
Schmidt mit einem Kerneuropa der 11-Euro-Staaten.JoschkaFischerhatinseinerRedeam12.5.2000
inderHumboldt-UniversitätzuBerlindieVerwirklichung<br />
der Politischen Union über den „Übergang<br />
vomStaatenbundhinzurvollenParlamentarisierung<br />
in einer Europäischen Föderation“ „auf der Grundlage<br />
einer Souveränitätsteilung von <strong>Europa</strong> und Nationalstaat“<br />
vorgeschlagen. <strong>Europa</strong> müsse eine Union<br />
der Nationalstaaten und eine Union der Union verkörpern.HierzuseiendieDemokratisierung<strong>Europa</strong>s<br />
durch eine Repräsentation der Bürger in einer Abgeordnetenkammer<br />
und die Einrichtung einer Staatenkammer<br />
(aus direkten gewählten Senatoren der Mitgliedstaaten<br />
oder aus nationalen Regierungsvertretern)<br />
ebenso erforderlich wie die Schaffung einer europäischen<br />
Regierung als Schritt in Richtung einer<br />
gleichgewichtigen horizontalen Gewaltenteilung<br />
auf EU-Ebene und eine grundlegende Neuordnung<br />
der Kompetenzen zwischen <strong>Europa</strong>, Nationalstaat<br />
und Regionen. Statt des Ansatzes schrittweiser Vergemeinschaftung<br />
nach der Jean-Monnet-Methode<br />
plädiert Fischer für eine Weiterentwicklung im mehreren<br />
Stufen. Zunächst sollte das Instrument der verstärkten<br />
Zusammenarbeit von den Mitgliedstaaten<br />
stärker genutzt werden können, die enger kooperieren<br />
wollen. In der zweiten Stufe sollten diese Staaten<br />
nach dem Vorschlag von Delors einen Vertrag im<br />
Vertrag bilden, um ein offenes „Gravitationszentrum“<br />
zu bilden, das bereits alle Elemente einer späteren<br />
Föderation umfasst.<br />
3.2 Der europäische Verfassungsvertrag 2004. Der<br />
Verfassungsvertrag eröffnet Chancen für eine mögliche,<br />
spätere Realisierung einer Politischen Union.<br />
Der mehrheitlich aus Parlamentariern zusammengesetzte<br />
Konvent, der den Vertragstext entworfen hat,<br />
ist ein deutliches Zeichen für ein demokratisch stärker<br />
legitimiertes Verfahren als es in der VergangenheitbeiVertragsrevisionendieRegierungskonferenzen<br />
waren. Das neue Verfahren breiter Repräsentanz<br />
hat die Möglichkeit eröffnet, weiter gehende Reformvorschläge<br />
zumindest zu erörtern, wenn diese<br />
auch nur in begrenztem Rahmen Niederschlag im<br />
Verfassungsvertrag gefunden haben.<br />
Mit der Entscheidung, die bestehenden Verträge zu<br />
einem Vertrag zusammenzufassen und diesem einen<br />
verfassungsähnlichen Charakter zu geben, knüpft<br />
der Konvent an traditionelle Formen staatlicher, politischer<br />
Ordnungen an. Die Union wird als ein hoch<br />
differenziertes politisches System verstanden, das<br />
faktischStaatsaufgabenerfüllt,ohnejedocheinStaat<br />
zu sein. Der Verfassungsvertrag nennt in seiner Prä-<br />
Polizeimission<br />
ambel ausdrücklich die „Wahrung der Kontinuität<br />
desgemeinschaftlichenBesitzstandes“(Abs.5).Das<br />
„Drei-Säulen-Modell“ mit seinen unterschiedlichen<br />
Stufen der Integration soll faktisch weitgehend weiter<br />
bestehen bleiben, obwohl durch die Verleihung<br />
der „Rechtspersönlichkeit“ (Art. I-7 VVE 2004) im<br />
Unterschied zur jetzigen Struktur eine einheitliche<br />
Rechtsgrundlagevorgesehenist.DieBestimmungen<br />
über die „verstärkte Zusammenarbeit“ führen im<br />
Vergleich zu Nizza prozedurale Erleichterungen ein.<br />
DieHandlungsfähigkeitderUnionsolldurchdieverstärkteZusammenarbeitauchimRahmenderGASP,<br />
das Prinzip der doppelten Mehrheiten bei Entscheidungen<br />
im Rat (Widerspiegelung der EU als Union<br />
der Staaten und der Bürger) und die Ausweitung des<br />
Mehrheitsprinzips bei Entscheidungen erhöht werden.<br />
Es bleibt jedoch abzuwarten, in welche Richtung<br />
sich die EU ggf. nach der Ratifizierung des Verfassungsvertrags<br />
weiter entwickeln wird und ob damit<br />
eine neue Stufe in Richtung auf eine Politische<br />
Union erreicht wird.<br />
In der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion wird<br />
dasVertragswerkkontroverssowohlalsStärkungeiner<br />
intergouvernementalen als auch einer supranationalen<br />
oder föderalen Ausrichtung der Union bewertet.<br />
U. M.<br />
Literatur:<br />
Bieber, R.: Föderalismus in <strong>Europa</strong>. In: Weidenfeld, W. (Hg.),<br />
<strong>Europa</strong>-Handbuch. Gütersloh 2004, S. 125 – 140<br />
Fischer, J.: Vom Staatenverbund zur Föderation – Gedanken<br />
über die Finalität der europäischen Integration. In: integration<br />
3/2000, S. 149 – 156<br />
Ders.: Europäische Identität und universalistisches Handeln –<br />
Nachfragen an Jürgen Habermas. In: Blätter für deutsche und<br />
internationale Politik, 2003, S. 801 – 806<br />
Schneider, H.: Die Zukunft der differenzierten Integration in<br />
der Perspektive des Verfassungsvertrags und der Erweiterung,<br />
in: integration 4/2004, S. 259 – 273<br />
Schäuble, W.: Fusion oder Spaltung? Die Kerneuropa-Initiative<br />
in der Debatte. In: Blätter für deutsche und internationale<br />
Politik, 2003, S. 935 – 945.<br />
Wessels, W.: Die institutionelle Architektur der EU nach der<br />
Europäischen Verfassung: Höhere Entscheidungsdynamik –<br />
neue Koalitionen?. In: integration 3/2004, S.161 – 175<br />
Polizeiliche und justitielle Zusammenarbeit in<br />
Strafsachen �PJZS<br />
Polizeimission. Bezeichnung für den Einsatz von<br />
Polizeikräften, v. a. zur Beratung und Ausbildung,<br />
im Rahmen des zivilen Krisenmanagements der EU.<br />
Der Bereich Polizei ist einer der Schwerpunktberei-<br />
611
Pompidou-Gruppe<br />
che in der nichtmilitärischen �Europäischen Sicherheits-<br />
und Verteidigungspolitik (ESVP). Eine sog.<br />
Polizeieinheit im Generalsekretariat des Rats ist mit<br />
der operativen Durchführung von Polizeimissionen<br />
betraut. Die EU hat bisher drei Polizeimissionen<br />
durchgeführt (2003 – 2005: EUPM in Bosnien und<br />
Herzegowina;2004:PROXIMAinMazedonien;seit<br />
2005: EUJUST LEX für den Irak). Der ursprünglich<br />
französische Vorschlag, im Rahmen der �EuropäischenSicherheits-undVerteidigungspolitik(ESVP)<br />
eine auf Krisenmanagement spezialisierte Polizei<br />
mit militärischem Status für friedensunterstützende<br />
Einsätze der EU zu schaffen, ist in der EU bisher<br />
nicht abschließend beraten worden. Vorwiegend<br />
südeuropäische Länder haben 2003 ihre unter gemeinsamesKommandogestelltennationalenKräfte,<br />
die bis 2005 auf 900 Personen aufwachsen sollen, in<br />
einemerstenSchrittderEUaufAbruffürEinsätzeinnerhalbderESVPzurVerfügunggestellt.<br />
U. S.<br />
Pompidou-Gruppe des �<strong>Europa</strong>rats. 1971 auf Initiative<br />
des damaligen französischen Staatspräsidenten<br />
Georges Pompidou von den 6 EG-Staaten und<br />
Großbritannien als informelles Forum gegründet zur<br />
Zusammenarbeit bei der Bekämpfung des Drogenhandels<br />
und -missbrauchs. 1980 in den institutionellen<br />
Rahmen des <strong>Europa</strong>rats eingebunden. Die Gruppe<br />
umfasst 34 Mitgliedstaaten des <strong>Europa</strong>rats. Die<br />
für Drogenpolitik zuständigen Minister stellen in<br />
Konferenzen alle 3 Jahre Leitlinien zur Drogenpolitik<br />
auf. Die Experten der Gruppe beteiligen sich an<br />
Aus- und Fortbildungsprogrammen zum Thema<br />
Suchtbehandlung, an Studien über die verschiedenen<br />
Justiz-Systeme, an interdisziplinären MaßnahmenzurbesserenZusammenarbeitderFlughäfenbei<br />
der Abwehr des Drogenschmuggels, zur Kenntnis<br />
von Tendenzen und Strukturen des Drogenmissbrauchs,<br />
zur Erstellung von Leitfäden für Gemeinden.<br />
Post-Nizza-Prozess. Beim Europäischen Rat in<br />
Nizza (Dezember 2000) verabschiedeten die Staatsund<br />
Regierungschefs nicht nur Änderungen zum<br />
Vertrag von Amsterdam, um die EU für die bevorstehende<br />
Erweiterung handlungsfähig zu machen. Zugleich<br />
wurden in einer Erklärung zur Zukunft der<br />
Union konkrete Vorgaben für den weiteren sog.<br />
„Post-Nizza-Prozess“ hinsichtlich Inhalt, Methode<br />
und Verfahren gemacht. Darin wurden bereits die<br />
612<br />
grundlegenden Fragen bezeichnet, mit denen sich<br />
später – aufgrund der entsprechenden Erklärung von<br />
Laeken im Dezember 2001 – der Konvent zur Zukunft<br />
<strong>Europa</strong>s befasste:<br />
– Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen EU<br />
und Mitgliedstaaten entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip,<br />
– Status der in Nizza verkündeten Charta der Grundrechte,<br />
– Vereinfachung der Verträge und<br />
– Rolle der nationalen Parlamente in der Architektur<br />
<strong>Europa</strong>s. H. D.-K.<br />
Präferenzabkommen �Allgemeines Präferenzabkommen<br />
(APS)<br />
Präferenzsystem �Allgemeines Präferenzsystem<br />
(APS)<br />
Prager Erklärung (Prager Kommuniqué)<br />
Begriff: Von Bildungsministern und -ministerinnen<br />
aus 33 Ländern (29 Länder der �Bologna-Erklärung<br />
sowie Liechtenstein, Kroatien, Türkei, Zypern) anlässlich<br />
der ersten Bologna-Folgekonferenz unterzeichneteGemeinsameErklärung(„PragerKommuniqué“)vom29.5.2001mitdemTitel„AufdemWeg<br />
zum europäischen Hochschulraum“ (�Bologna-Prozess).<br />
Hintergrund und Beweggründe: Die Prager Konferenz<br />
wurde vom tschechischen Bildungsminister<br />
und der EU-Präsidentschaft (Großbritannien) organisiertundvonderEuropäischenKommissiongefördert.<br />
Zur Vorbereitung der Konferenz wurde der von<br />
der Follow-up-group vorgelegte zweite Fortschrittsbericht<br />
„Förderung des Bologna-Prozesses“ („Lourtie-Bericht“)<br />
und der von der Association of European<br />
Universities (CRE) geförderte Trends II Report<br />
(„Trends in Learning Structures in Higher Education<br />
II“) vorgelegt. Die Unterzeichnerstaaten lieferten<br />
Berichte über die Durchführung des Bolognaprozesses.<br />
Für Deutschland hat die KMK in Zusammenarbeit<br />
mit der Hochschulrektorenkonferenz und dem<br />
Bundesbildungsministerium einen Bericht „Realisierung<br />
der Ziele der ,Bologna-Erklärung in<br />
Deutschland“ vorgelegt (Beschluss der KMK vom<br />
9./10. 11. 2000, Folgeberichte vom 25. 4. 2002 und<br />
30. 1. 2003) und darin den Themen<br />
– Einführung eines international kompatiblen Systems<br />
von Abschlüssen (Bachelor / Master),
– Abbau von Mobilitätshemmnissen,<br />
– Förderung der europäischen Qualitätssicherung in<br />
einem„NetzwerkeuropäischerQualitätssicherungsagenturen“<br />
(ENQA),<br />
besondere Bedeutung innerhalb des Bologna-Prozesses<br />
beigemessen.<br />
Zielsetzung und Inhalt: In dem Prager Kommuniqué<br />
wurdendiesechsZieledesBologna-Prozessesbestätigt<br />
und durch drei weitere ergänzt:<br />
– Ausbau der lebenslangen Weiterbildung als Bestandteil<br />
des europäischen Hochschulraums;<br />
– enge Einbeziehung der Hochschulen und der Studierenden<br />
in den Prozess zur Entwicklung des europäischen<br />
Hochschulraumes;<br />
– Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit<br />
und Attraktivität des europäischen Hochschulraumes.<br />
Zur Vorbereitung der weiteren Konferenzen (Berlin<br />
2003, Bergen 2005) wurden praktische organisatorische<br />
Vorkehrungen getroffen. Der institutionelle<br />
Rahmen besteht nun in einer „follow up group“ und<br />
einer „preparatory group“. In der follow up group<br />
sind alle 32 Mitglieder und die Europäische Kommission<br />
vertreten; den Vorsitz führt das jeweilige<br />
Präsidialland der EU (33 Teilnehmer). Die Vorbereitungsgruppe<br />
sollte aus Vertretern der Gastgeberländer<br />
der vorangegangenen Ministertreffen und des<br />
nächsten Ministertreffens (Italien, Tschechien,<br />
Deutschland), von zwei alten EU-Mitgliedstaaten<br />
und zwei neuen (Polen, Ungarn) bestehen, wobei<br />
diese vier Vertreter von der Follow-up-Gruppe gewählt<br />
werden. Die jeweilige EU-Präsidentschaft und<br />
die Kommission nehmen ebenfalls an der Vorbereitungsgruppe<br />
teil. Den Vorsitz übernimmt der Vertreter<br />
des Gastgeberlandes für das nächste Ministertreffen<br />
(Deutschland). Daneben gibt es 4 Beobachter:<br />
die European University Association (EUA), die European<br />
Association of Institutions in Higher Education(EURASHE),dieNationalUnionsofStudentsin<br />
Europe (ESIB) und der �<strong>Europa</strong>rat.<br />
Es wurde ferner beschlossen, dass die follow-upgroup<br />
für die Nachfolgearbeiten Seminare organisiert,umfolgendeBereicheauszuloten:Kooperation<br />
bezüglich der Akkreditierung und Qualitätssicherung,AnerkennungsfragenunddieNutzungvonLeistungspunktesystemen<br />
im Bologna-Prozess, Entwicklung<br />
gemeinsamer Abschlüsse, soziale Dimension<br />
mit besonderem Schwerpunkt auf Mobilitätshindernissen,<br />
Erweiterung des Bologna-Prozesses,<br />
Präsidentschaft des Rates<br />
lebensbegleitendes Lernen und Beteiligung der Studierenden.<br />
RechtlicheWürdigung:�Bologna-Erklärung. I. H.<br />
Internet:<br />
www.esib.org/prag; www.kmk.org; www.bologna-berlin2003.de<br />
Präsidentschaft des Rates der EU<br />
1. Begriff: Mit dem Begriff „Ratspräsidentschaft“ ist<br />
der Vorsitz im Rat der Europäischen Union gemeint.<br />
Die Ratspräsidentschaft erstreckt sich über einen<br />
Zeitraum von sechs Monaten und beginnt jeweils<br />
zum 1. Januar bzw. 1. Juli eines Jahres. Seit Inkrafttreten<br />
des Nizza-Vertrages (Art. 203 EGV) folgt die<br />
Reihenfolge des Ratsvorsitzes nicht mehr dem Alphabet,<br />
sondern wird einstimmig vom Rat beschlossen.<br />
Bis 2006 sind folgende Ratspräsidentschaften<br />
festgelegt: Luxemburg/Großbritannien für das Jahr<br />
2005 sowie Österreich/Finnland für 2006.<br />
Der �Verfassungsvertrag 2004 sieht für die Ratspräsidentschaft<br />
eine Reihe grundlegender Änderungen<br />
vor. So soll der Europäische Rat für eine Amtszeit<br />
von zweieinhalb Jahren einen Präsidenten wählen,<br />
der den Vorsitz im ER führt und gemeinsam mit dem<br />
Kommissionspräsidenten auf der Grundlage der Arbeiten<br />
des Allgemeinen Rates für die Koordination<br />
und Kontinuität der Arbeiten sorgt. Der ER-Präsident<br />
nimmt auf Ebene der Staats- und Regierungschefs,<br />
unbeschadet der Zuständigkeiten des EU-<br />
Außenministers, die Außenvertretung der EU wahr.<br />
Der Präsident des ER darf kein einzelstaatliches Amt<br />
ausüben. Daneben sieht die Verfassung zusätzlich<br />
die Bildung von sog. „Teampräsidentschaften“ vor.<br />
Diese lösen die bisherige halbjährliche Präsidentschaft<br />
und die �Troika durch ein System gleichberechtigter<br />
Rotation ab. Die Rotationsfolge wird vom<br />
ER mit qualifizierter Mehrheit beschlossen. Zugleich<br />
wird die Arbeit des Rates neu organisiert. Der<br />
Rat „Allgemeine Angelegenheiten“ nimmt für die<br />
Arbeit der verschiedenen Fachräte – mit Ausnahme<br />
des Rates für „Auswärtige Angelegenheiten“ – koordinierende<br />
Aufgaben wahr. Dabei stimmt er sich mit<br />
dem ER-Präsidenten sowie der Kommission ab. Den<br />
Vorsitz im Allgemeinen Rat führt der Mitgliedstaat,<br />
der entsprechend dem ER- Beschluss zur gleichberechtigten<br />
Rotation festgelegt wurde.<br />
Als erstes Team sollen für jeweils eineinhalb Jahre<br />
2007 und 2008 Deutschland, Portugal und Slowenien<br />
die EU führen. Es folgen weiter:<br />
Frankreich, Tschechien, Schweden (2008 – 2009),<br />
613
Präsidentschaft des Rates<br />
Spanien, Belgien, Ungarn (2010 – 2011),<br />
Polen, Dänemark, Zypern (2011 – 2012),<br />
Irland, Litauen, Griechenland (2013 – 2014),<br />
Italien, Lettland, Luxemburg (2013 – 2015)<br />
Niederlande, Slowakei, Malta (2016 – 2017),<br />
Großbritannien,Estland, Bulgarien(2017 – 2018),<br />
Österreich, Rumänien, Finnland (2019 – 2020).<br />
2. Arbeitsweise: Bis zum Inkrafttreten des Verfassungsvertrags<br />
wird das bisherige System beibehalten.<br />
Demzufolge ist während der Ratspräsidentschaft<br />
das Vorsitzland für Einberufung, Vorbereitung<br />
und Leitung aller Sitzungen der EU zuständig.<br />
EsunterzeichnetindieserZeitdieRechtsaktedesRates,<br />
vertritt diesen vor dem Europäischen Parlament<br />
(EP) und nach außen. Höhepunkt und zumeist auch<br />
Abschluss der Ratspräsidentschaft ist die Einberufung<br />
des �Europäischen Rates (ER). Dabei treten die<br />
Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten<br />
zusammen und beraten in der Regel besonders<br />
wichtige EU-Vorlagen bzw. Themen von allgemeiner<br />
politischer Bedeutung für die EU. Der Mitgliedstaat,<br />
der den Vorsitz im Rat innehat, ist gehalten,<br />
während der Zeit der Ratspräsidentschaft bei der<br />
Verfolgung eigener Interessen Zurückhaltung zu<br />
üben und sich statt dessen unparteiisch für Fortschritte<br />
der Gemeinschaftspolitik einzusetzen.<br />
Der Ratsvorsitz bietet die Chance, europapolitische<br />
Akzente zu setzen und für wichtig erachtete Vorhaben<br />
voranzutreiben. Aus diesem Grund ist jedem<br />
Mitgliedstaat daran gelegen, die Zeit seiner Ratspräsidentschaft<br />
zur Durchsetzung bestimmter Prioritäten<br />
zu nutzen. So ist es üblich geworden, dass der<br />
RatsvorsitzseinepolitischenSchwerpunkteineinem<br />
Arbeitsprogramm zusammenfasst, das Ziele und oftmals<br />
auch Termine vorgibt. In den letzten Jahren hat<br />
es sich eingespielt, dass zwei aufeinander folgende<br />
Präsidentschaften jeweils ihr Arbeitsprogramm abstimmen.<br />
Die Ratspräsidentschaft wird von den jeweiligen Regierungen<br />
gezielt genutzt, eine größere Sichtbarkeit<br />
der europäischen Politik im eigenen Land zu erzeugen<br />
und umgekehrt den Bekanntheitsgrad bei den<br />
EU-Partnern zu steigern. So finden zahlreiche Fachministerräte,<br />
Konferenzen und Ausschusssitzungen<br />
im jeweiligen Vorsitzland statt. Die Praxis, die halbjährlichen<br />
Gipfeltreffen der europäischen Staatsund<br />
Regierungschefs im Vorsitzland abzuhalten, ist<br />
eingestellt worden. In einer Erklärung zum Nizza-<br />
Vertrag wurde festgelegt, dass ab dem Jahr 2002 pro<br />
614<br />
Ratspräsidentschaft jeweils eine Tagung des Europäischen<br />
Rates in Brüssel abzuhalten ist. Sobald die<br />
Union achtzehn Mitglieder zählt, sollen alle Tagungen<br />
des Europäischen Rates in Brüssel stattfinden.<br />
Dies ist seit der Erweiterung vom 1. 5. 2004 der Fall,<br />
ausschlaggebend für diese Neuregelungen waren<br />
praktisch-organisatorische Erwägungen sowie Sicherheitskriterien.<br />
Von der guten Vorbereitung der Beratungsvorlagen,<br />
vom Geschick der Verhandlungsführung und der Fähigkeit,<br />
für alle Mitgliedstaaten akzeptable Kompromisslinien<br />
zu entwickeln, hängt in hohem Maße der<br />
Erfolg einer Ratspräsidentschaft ab. Die Arbeitsbelastung<br />
während der Präsidentschaft ist erheblich, da<br />
das Vorsitzland nicht nur auf Ratsebene, sondern<br />
auch im Ausschuss der Ständigen Vertreter und in<br />
den Ratsarbeitsgruppen sowie in der �Gemeinsamen<br />
Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) den Vorsitz<br />
führt.DieserleichtertzwardieVorbereitungundKoordination<br />
der Ratstagungen, da die Verhandlungsführung<br />
bei den Beratungsvorlagen auf allen Arbeitsebenen<br />
in einer Hand liegt, bindet auf der anderen<br />
Seite aber in hohem Maße personelle Kapazitäten.<br />
Aus diesem Grunde erhält das jeweilige Vorsitzland<br />
nicht nur technische Unterstützung vom GeneralsekretariatdesRates,sondernauchinhaltlicheBeratung<br />
durch die sog. �Troika. Sie hat sich zu einer<br />
wichtigen funktionellen Klammer entwickelt, da sie<br />
über die wechselnden Ratsvorsitze hinweg für die<br />
Kontinuität der Arbeit und die optimale Vorbereitung<br />
des Ratsvorsitzes sorgt. Dies gilt in besondere<br />
Weise für die Beratungsvorlagen, die unter den Mitgliedstaaten<br />
kontrovers sind und auf den Tagesordnungen<br />
mehrerer Ratspräsidentschaften stehen, bevor<br />
sie abgeschlossen werden.<br />
3. Perspektiven. Die im Verfassungsvertrag 2004<br />
vorgesehenen Neuerungen für die Ratspräsidentschaft<br />
stehen für den Versuch, die Arbeitsweise der<br />
EU-Institutionen an geänderte Rahmenbedingungen<br />
anzupassen.DieErweiterunghatdieNotwendigkeit,<br />
effiziente und handlungsfähige Strukturen und Verfahren<br />
zu entwickeln, weiter erhöht. Die stetig gewachsenen<br />
Zuständigkeiten in der Außen- und Sicherheitspolitik<br />
haben den Bedarf nach Sichtbarkeit<br />
und personeller Kontinuität steigen lassen.<br />
Der Verfassungsvertrag 2004 sieht eine neue Arbeitsteilung<br />
zwischen dem auf zweieinhalb Jahre gewähltenEU-Präsidentenunddenanderthalbjährigen<br />
Teampräsidentenschaften vor. Während der Präsi-
dent v. a. nach außen wirken soll, ist es Aufgabe der<br />
Teampräsidentschaft, für die Kohärenz der laufenden<br />
Arbeiten zu sorgen.<br />
Die Teampräsidentschaften werden das Prinzip der<br />
Troikafortführen,allerdingsinflexibilisierterForm.<br />
Es steht den Teampräsidentschaften jeweils frei, wie<br />
sie sich in der Zeit ihrer Präsidentschaft abstimmen<br />
und organisieren. Ob sich dieses neue Modell bewährt,wirddiePraxiserweisen.<br />
Ch. H.<br />
Präsidium �Europäisches Parlament<br />
Preisauszeichnung.UmVerbraucherbesserzuinformieren<br />
und ihnen einen Preisvergleich zu erleichtern,<br />
müssen Händler bei sämtlichen Erzeugnissen,<br />
die sie zum Verkauf anbieten, den Verkaufspreis und<br />
den Preis je Maßeinheit (sofern er nicht mit dem Verkaufspreis<br />
identisch ist) unmissverständlich, klar erkennbar<br />
und gut leserlich anbringen. Der Preis je<br />
Maßeinheit ist auch in der Werbung (Anzeigen, Prospekte)<br />
anzugeben.<br />
Werden Erzeugnisse in losem Zustand angeboten<br />
und erst beim Verkauf abgewogen, muss der Preis je<br />
Maßeinheit angegeben sein. Die Pflicht zur Preisangabe<br />
gilt nicht für Erzeugnisse, die in Verbindung<br />
mit einer Dienstleistung geliefert werden, auch nicht<br />
bei Versteigerungen und bei Verkäufen von Kunstgegenständen<br />
und Antiquitäten. Die Mitgliedstaaten<br />
können zusätzlich Erzeugnisse von der Auszeichnungspflicht<br />
ausnehmen, bei denen eine solche Angabenichtsinnvollwäre.GrundlagefürdiePreisauszeichnung<br />
ist die Richtlinie 98/6 (ABl. L 80/1998);<br />
sie hebt die früheren Richtlinien 79/581 und 88/314<br />
zur Preisauszeichnung auf.<br />
Preisstabilität �Geldpolitik, europäische<br />
Pre-Lex ist eine Datenbank der Kommission, die<br />
Auskunft gibt über die einzelnen Etappen aller gemeinschaftlichen<br />
Gesetze vom Vorschlag der KommissionbiszurUnterzeichnungdurchParlamentund<br />
Rat, über den aktuellen Stand laufender Gesetzgebungsprozesse,<br />
über Entscheidungen der Institutionen,<br />
die Namen der beteiligten Personen und der verantwortlichen<br />
Dienste. Pre-Lex enthält Informationen<br />
ab 1976 und wird täglich aktualisiert.<br />
Internet: http://europa.eu.int/prelex/apcnet.cfm?CL=de<br />
Primärrecht �Gemeinschaftsrecht<br />
Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung<br />
PRINCE. Ein Informationsprogramm der Kommission<br />
zur Information der Bürgerinnen und Bürger<br />
über die Erweiterung der EU 2004, mit einem Budget<br />
von 14 Mio. Euro. Gefördert wurden Informationsund<br />
Kommunikationsaktionen (auch der �Zivilgesellschaft)fürbestimmteBevölkerungsgruppen.Die<br />
Ausschreibungumfassteerstmalsalle10Staaten,die<br />
am 1. 5. 2004 der EU beigetreten sind. Die Antragsfrist<br />
lief am 30. 9. 2004 ab, die geförderten Projekte<br />
müssen bis Ende Mai 2006 abgeschlossen sein.<br />
Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung.Da<br />
die EU mit den Gemeinschaften keinen souveränen<br />
Staat bildet, sondern einen (bloßen) Integrationsverbund,<br />
besitzt sie keine Allzuständigkeit und auch<br />
keine „Kompetenz-Kompetenz“, d. h. sie kann nicht<br />
verbindlich über die eigene Zuständigkeit entscheiden.<br />
Zum Erlass des sekundären �Gemeinschaftsrechts<br />
bedürfen die europäischen Rechtsetzungsorgane<br />
so immer einer ausdrücklichen Kompetenzzuweisung<br />
in den Verträgen. Diese beschränkte Verbandskompetenz,<br />
die als Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung<br />
bezeichnet wird, findet sich an verschiedenen<br />
Stellen in den Verträgen (vgl. Art. 5 EUV<br />
oder 5 EGV; vgl. auch �Subsidiarität, �Politikbereiche).<br />
Der EuGH legt die beschränkten Kompetenznormen<br />
oftmals jedoch nach dem Grundsatz des �effet<br />
utile, d. h. der praktischen Wirksamkeit teleologisch<br />
mit dem Ziel aus, alle denkbaren Gemeinschaftsbefugnisse<br />
voll auszuschöpfen. Um einem<br />
auf diese Weise durch die Hintertür eingeführten<br />
Prinzip der „unbegrenzten“ Einzelermächtigung<br />
vorzubeugen, hatte sich das Bundesverfassungsgericht<br />
in seinem �Maastricht-Urteil ein (allerdings<br />
bislang recht theoretisches) Prüfungsrecht vorbehalten,<br />
„ob Rechtsakte der europäischen (...) Organe<br />
sichindenGrenzenderihneneingeräumtenHoheitsrechte<br />
halten oder aus ihnen ausbrechen“. Zudem<br />
prüft auch der EuGH diesen Umstand, wie etwa sein<br />
Tabakwerbung-Urteil (Rs. C-376/98) zeigt.<br />
Das Gemeinschaftsrecht kennt allerdings auch Generalermächtigungen<br />
(wie derzeit insbes. die Kompetenzergänzungs-<br />
bzw. Rechtsangleichungsnormen<br />
der Art. 308, 94 und 95 EG und künftig möglicherweise<br />
in Art. I-18 VVE 2004). Die Nutzung dieser„catch-all-clauses“darfjedochnichtzurAushöhlung<br />
des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung,sondernlediglichzur„Kompetenzabrundung“<br />
genutzt werden und ist immer nur im Rahmen der<br />
615
Prinzip der gegenseitigen Anerkennung<br />
Vertragsziele zulässig. Abgerundet werden die geschriebenen<br />
Ermächtigungsnormen schließlich<br />
noch durch die �„implied powers“, d. h. durch ungeschriebene<br />
Zuständigkeiten kraft Sachzusammenhangs.<br />
Als Beispiel kann die �VertragsschlusskompetenzderEuropäischenGemeinschaftgenanntwerden.<br />
Besteht für den Integrationsverbund weder eine geschriebene<br />
noch eine ungeschriebene Zuständigkeit,<br />
liegt die Kompetenz bei den Mitgliedstaaten. Der<br />
Verfassungsvertrag 2004 bekräftigt im Zusammenhang<br />
mit seinem neuen Kompetenzkatalog noch einmal<br />
das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung<br />
(Art.I-11Abs.1u.2). J. M. B.<br />
Prinzip der gegenseitigen Anerkennung. Das<br />
Prinzip der gegenseitigen Anerkennung wurde im<br />
Bereich des freien Warenverkehrs aufgrund der berühmten<br />
�Cassis de Dijon-Rechtsprechung des Europäischen<br />
Gerichtshofes (Urteil vom 20. 2. 1979 –<br />
Rs.C-120/78)entwickelt.Trotzzahlreichereuropäischer<br />
Richtlinien zur Angleichung der nationalen<br />
Rechte (�Harmonisierung) bezüglich der Zusammensetzung,<br />
Qualität, der Abmessungen und der<br />
Kennzeichnung von Waren, die den freien Verkehr<br />
einer bestimmten Warenart gewährleisten, bestehen<br />
und entstehen immer wieder neu Lücken, in denen<br />
die Mitgliedstaaten für die betreffenden Waren eigene<br />
Regeln aufstellen. Wie einzelstaatliche Vorschriften<br />
anzuwenden sind, richtet sich u. a. nach<br />
dem Grundsatz des �freien Warenverkehrs, der in<br />
den Art. 28 und 30 EGV (Art. III-153 und III-155<br />
VVE 2004) verankert ist. Gegenseitige Anerkennung<br />
bedeutet, dass der Bestimmungsmitgliedstaat<br />
die Vermarktung einer Ware, die in einem anderen<br />
Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellt und/oder auf<br />
den Markt gebracht wurde, zulassen muss, es sei<br />
denn, zum Schutz des Verbrauchers, der Umwelt<br />
oder anderer öffentlicher Interessen wären strengere<br />
innerstaatliche Regelungen erforderlich. Insbesondere<br />
bei technisch komplizierten Waren oder in gesundheitlich<br />
sensiblen Bereichen bestehen die Mitgliedstaaten<br />
darauf, dass ihre – oft ausführlichen und<br />
meist auf nationalen Traditionen beruhenden – Vorschriften<br />
eingehalten werden, auch wenn die eingeführte<br />
Ware vollkommen sicher ist und die erforderliche<br />
Qualität aufweist. Oft gibt es hierfür allerdings<br />
keine anerkennenswerten Gründe, wie der EuGH in<br />
Hunderten von Rechtsfällen herausgearbeitet hat.<br />
616<br />
Herausragende Beispiele sind hier das Reinheitsgebot<br />
für Bier, der Alkoholgehalt von Likören und Genever,<br />
die Verpackungsform von Margarine.<br />
Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung besagt<br />
nun,dassinallenBereichen,dienichtGegenstandeinerHarmonisierungsmaßnahmeaufGemeinschaftsebene<br />
waren oder durch Maßnahmen der Mindestharmonisierung<br />
abgedeckt sind, jeder Mitgliedstaat<br />
verpflichtet ist, Produkte in seinem Hoheitsgebiet zu<br />
akzeptieren,dielegalineinemanderenMitgliedstaat<br />
der Gemeinschaft hergestellt und vermarktet werden.<br />
Er kann von dieser Regel nur unter genau festgelegten<br />
Bedingungen abweichen, wenn zwingende<br />
Erfordernisse des Allgemeininteresses wie Gesundheit,<br />
Verbraucherschutz oder Schutz der Umwelt bestehen.<br />
In jedem Fall müssen die getroffenen Maßnahmen<br />
den Grundsätzen der Notwendigkeit und<br />
Verhältnismäßigkeit entsprechen.<br />
In den vergangenen Jahren hat es eine Reihe von<br />
Maßnahmen gegeben, die insbes. die Durchsetzung<br />
des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung im freien<br />
Warenverkehr zum Inhalt hatte. In ihrem am 1997<br />
angenommenen „Aktionsplan für den Binnenmarkt“<br />
erkannte die Kommission, dass die Anwendung des<br />
Prinzips der gegenseitigen Anerkennung eine der für<br />
das Funktionieren des Binnenmarktes notwendige<br />
Maßnahme ist.<br />
1999 erließ die Kommission eine Mitteilung über die<br />
Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung,<br />
in der sie eine detaillierte Analyse der von<br />
ihr in den zurückliegenden Jahren behandelten Fälle<br />
zugrunde legte, in denen das Prinzip der gegenseitigen<br />
Anerkennung inkorrekt angewendet wurde. Auf<br />
der Grundlage dieser Mitteilung hat der Rat eine Entschließung<br />
zur gegenseitigen Anerkennung angenommen<br />
(ABl. C 141/2000).<br />
Alle zwei Jahre erstattet die Kommission Zweijahresberichte<br />
über die Anwendung des Prinzips der gegenseitigen<br />
Anerkennung, die sich auf Studien zu<br />
einzelnen Sektoren wie Bauprodukte, Nahrungsmittelkonserven,<br />
Autobusse, Babyartikel usw. stützen.<br />
Auch sektorielle Gespräche am Runden Tisch bezüglich<br />
des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung<br />
dienen dazu, Hindernisse des freien Warenverkehrs<br />
in Bereichen, in denen noch keine Harmonisierung<br />
erfolgt ist, besser zu erkennen, die damit verbundenen<br />
Schwierigkeiten herauszustellen und Lösungsansätze<br />
aufzuzeigen.<br />
Als Resümee der Erfahrungen hat die Europäische
Kommission im November 2003 eine Mitteilung zur<br />
Erläuterung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung<br />
veröffentlicht (ABl. C 265/2003). Die<br />
Mitteilung ist ein praktischer Leitfaden für die Bereiche,<br />
in denen keine „harmonisierten“ Bestimmungen<br />
existieren, die den freien Warenverkehr innerhalb<br />
der EU sicherstellen. Neben der Betonung der<br />
EuGH-Rechtsprechungsgrundsätze enthält sie erläuternde<br />
Ausführungen zur Beweislast und fasst die<br />
Möglichkeiten zusammen, wann und wie der freie<br />
Warenverkehr gemeinschaftsrechtskonform beschränkt<br />
werden kann. Diese Mitteilung ist eine Folgemaßnahme<br />
zum Zweiten Zweijahresbericht über<br />
die Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung<br />
im Binnenmarkt, der zu der Schlussfolgerung<br />
gelangt war, dass dessen Anwendung noch sehr<br />
lückenhaft sei.<br />
Auch im Bereich der �Freizügigkeit setzte sich im<br />
Rahmen des Binnenmarkt-Programms die Erkenntnis<br />
durch, dass durch eine europaweite Harmonisierung<br />
der reglementierten Berufe, insbes. der akademischen<br />
Abschlüsse, ein einheitlicher Wirtschaftsraum<br />
nicht zu schaffen ist: Während in Jahrzehnten<br />
die Voraussetzungen für einige Berufe im Gesundheitsbereich<br />
harmonisiert wurden, waren bereits<br />
eine Vielzahl neuer Berufsfelder entstanden. So erließ<br />
der Rat im Jahre 1988 die Richtlinie 89/48 über<br />
eine allgemeine Regelung zur Anerkennung der<br />
Hochschuldiplome (ABl. L 19/1989). Diese stellt<br />
den Grundsatz auf, dass ein Mitgliedstaat, der einen<br />
Beruf reglementiert, die in einem anderen Mitgliedstaat<br />
erworbenen Qualifikationen anerkennen und<br />
dem Diplominhaber erlauben muss, seine Tätigkeit(en)<br />
auf seinem Hoheitsgebiet unter denselben<br />
Voraussetzungen wie die Inländer auszuüben. GenerellgiltdabeiderGrundsatzderautomatischenAnerkennung<br />
durch den Aufnahmestaat. Nur in Ausnahmefällen<br />
kann der Aufnahmestaat einen Anpassungslehrgang<br />
oder eine Eignungsprüfung zur Voraussetzung<br />
für die Anerkennung machen, wenn er<br />
wesentliche Unterschiede zwischen der geforderten<br />
und der tatsächlichen Ausbildung nachweist. Der<br />
Antragsteller hat die Wahl zwischen den beiden<br />
Möglichkeiten des Ausgleichs. Bei RechtspflegeberufenistdieWahldemAufnahmestaatvorbehalten.<br />
Diese Richtlinie wurde geändert durch die Richtlinie<br />
2001/19 (ABl. L 206/2001), die weitere Erleichterungen<br />
für den Antragsteller wie die Anerkennung<br />
praktischer Tätigkeiten oder von Ausbildungsab-<br />
Prinzip der gegenseitigen Anerkennung<br />
schnitten, die in einem Drittland abgeleistet wurden,<br />
vorsieht.<br />
Ergänzt wurde die Regelung durch die Richtlinie<br />
92/51 zur Anerkennung beruflicher Befähigungsnachweise<br />
durch ein Kurzstudium (ABl. L 209/<br />
1992). Diese dehnt die Regelungen der o. a. Richtlinie<br />
auch auf Abschlüsse von Fachhochschulen und<br />
ähnlichen Einrichtungen aus.<br />
Eine weitere Richtlinie 1999/42 (ABl. L 201/1999)<br />
regelt die Anerkennung von Berufsabschlüssen in<br />
bestimmten Bereichen wie der Textil-, der Bekleidungs-,<br />
der Leder-, der Holzindustrie. Sie gilt also<br />
nur für bestimmte, eigens aufgeführte Tätigkeiten,<br />
sieht hierfür allerdings auch den Grundsatz der gegenseitigen<br />
Anerkennung vor. Wegen der enormen<br />
Unterschiede in den Ausbildungsordnungen dieser<br />
Berufe gibt es keine generelle Anerkennung, wohl<br />
aber eine Pflicht des Aufnahmestaats, die Vergleichbarkeit<br />
der im Ausland abgelegten Ausbildung zu<br />
überprüfen. Werden Unterschiede festgestellt, kann<br />
der Antragsteller ebenfalls durch Anpassungslehrgang<br />
oder Eignungsprüfung seine Fähigkeiten nachweisen.<br />
Derzeit wird in den europäischen Institutionen über<br />
einenRichtlinienvorschlagderKommissionüberdie<br />
Anerkennung von Berufsqualifikationen debattiert<br />
(KOM 2002/119 endg., ABl. C 181E/2002, geändert<br />
durch KOM 2004/317 endg.), durch die die bisher<br />
bestehenden Richtlinien zusammengefasst und ein<br />
einheitlicher Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung<br />
für alle Berufsabschlüsse eingeführt werden<br />
soll,umsoeinenoffenen,flexiblenunddynamischen<br />
Arbeitsmarkt in der EU zu schaffen. Dabei wird eine<br />
abgestufte Anerkennung eingeführt: Wer nur vorübergehend<br />
eine Dienstleistung erbringen will, dessen<br />
Qualifikation wird dann automatisch anerkannt,<br />
wennerzweiJahrelangdenBerufimjeweiligenHeimatland<br />
ausgeübt hat. Für Arbeitnehmer, die dauerhaft<br />
in einem anderen EU-Land tätig werden wollen,<br />
gelten höhere Hürden: Hier unterscheidet das neue<br />
Gesetz fünf Qualifikationsniveaus – vom Angelernten<br />
bis zum Hochschulabsolventen. Bei den neuen<br />
Regeln gelten etliche Ausnahmen: Für Notare, Anwälte<br />
oder auch Ärzte sollen Mindeststandards gelten,<br />
die zum Schutz des Verbrauchers notwendig<br />
sind, auch Dienstleistungen in Behörden bleiben<br />
ausgenommen.<br />
Bei Redaktionsschluss war die Richtlinie noch nicht<br />
verabschiedet; das Europäische Parlament hat ihr in<br />
617
Privatrecht<br />
seiner Sitzung vom 11. 5. 2005 grundsätzlich zugestimmt.<br />
M. K.<br />
Privatrecht, Europäisches. Lange Zeit wurde der<br />
Begriff <strong>Europa</strong>recht nahezu ausschließlich dem öffentlichen<br />
Recht zugeordnet. Spätestens seit Beginn<br />
der 1980er Jahre erfährt jedoch auch das Privatrecht<br />
der EU-Mitgliedstaaten ein zunehmende Durchdringung<br />
durch das europäische �Gemeinschaftsrecht.<br />
Die Zersplitterung der EG in – mittlerweile – 25 unterschiedliche<br />
Privatrechtsordnungen hat sich in der<br />
Praxis als ein erhebliches Hindernis für die Verwirklichung<br />
des �Binnenmarkts erwiesen, die damit verbundenen<br />
Rechtsberatungskosten sind gerade für<br />
kleine und mittlere Unternehmen (�KMU) unverhältnismäßig.<br />
Die Kommission strebt daher die<br />
Schaffung eines Gemeinsamen Referenzrahmens<br />
(GRR) für das �Europäische Vertragsrecht an.<br />
Eine einheitliche Definition für den Begriff des „Europäischen<br />
Privatrechts“ hat sich noch nicht herausgebildet.<br />
In der Vergangenheit wurde mit dem Begriff<br />
des Europäischen Privatrechts zumeist noch die<br />
Gesamtheit der Privatrechtsordnungen der Mitgliedstaaten<br />
der Europäischen Gemeinschaften, teilweise<br />
auch diejenige der Mitgliedstaaten des �<strong>Europa</strong>rates<br />
bezeichnet. Seitdem jedoch das innerstaatliche PrivatrechtimmerstärkervondereuropäischenIntegration<br />
erfasst wird, wird der Begriff des Europäischen<br />
Privatrechts – im Gegensatz zu den originär mitgliedstaatlichen<br />
Normen – auf die Gesamtheit derjenigen<br />
Regelungen bezogen, die ihren Ursprung in<br />
völkerrechtlichen Abkommen der europäischen<br />
Staaten haben bzw. auf Initiativen der Europäischen<br />
Gemeinschaften beruhen und darauf abzielen, die<br />
nationalen Privatrechtsordnungen einander anzugleichen,<br />
zumindest aber deren gegenseitige Kompatibilität<br />
zu verbessern. Der Begriff des Europäischen<br />
Privatrechts erstreckt sich dabei sowohl auf<br />
Vorschriften des materiellen Privatrechts als auch<br />
auf das – internationale – Prozessrecht.<br />
Bereits der <strong>Europa</strong>rat hatte sich zugunsten einer Harmonisierung<br />
privatrechtlicher Regelungen eingesetzt.<br />
Seine Bemühungen blieben aber punktuell. Zu<br />
den bekanntesten Beispielen zählen<br />
– das Übereinkommen über die Haftung der Gastwirte<br />
für die von ihren Gästen eingebrachten Sachen<br />
vom 17.12.1962 oder<br />
– das Abkommen über Berechnung von Fristen vom<br />
6. 5. 1974.<br />
618<br />
Daneben hat sich der <strong>Europa</strong>rat vor allem im Bereich<br />
des Familienrechts engagiert (vgl. die umfassenden<br />
Übersichten unter http://conventions.coe.int/Treaty).<br />
Der größte europäische Einfluss auf das nationale<br />
Privatrecht der EU-Mitgliedstaaten geht jedoch von<br />
den Europäischen Gemeinschaften aus. Die wirtschaftliche<br />
Integration erforderte und erfordert als<br />
zwingende Begleiterscheinung eine Anpassung der<br />
verschiedensten zivilrechtlichen und prozessualen<br />
Bestimmungen auch in solchen Bereichen, in denen<br />
zunächstnochkeineKompetenzenderEuropäischen<br />
Gemeinschaft bestanden. Daher erfolgte diese Abstimmung<br />
zunächst überwiegend im Rahmen völkerrechtlicher<br />
Abkommen der EU-Mitgliedstaaten<br />
untereinander und ggf. mit Drittstaaten. Selbst wenn<br />
diese Abkommen zum überwiegenden Teil nicht<br />
dem Gemeinschaftsrecht im eigentlichen Sinne zuzuordnen<br />
sind, stehen sie jedoch in unmittelbarem<br />
Zusammenhang mit dem Europäischem Gemeinschaftsrecht<br />
und räumen teilweise dem �EuGH<br />
Kompetenzen zur vertragsautonomen Auslegung ihrer<br />
Bestimmungen ein wie z. B.<br />
– das Römische EWG-Übereinkommen über das auf<br />
vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende<br />
Recht vom 19. 6. 1980 mit Zusatzprotokollen,<br />
– das Brüsseler EWG-Übereinkommen über die gerichtliche<br />
Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher<br />
Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen<br />
vom 27. 9. 1968 i. d. F. vom 25. 10. 1982 (EuZ-<br />
VÜ), jetzt ersetzt durch die Verordnung 44/2001<br />
überdiegerichtlicheZuständigkeitunddieAnerkennung<br />
und Vollstreckung von gerichtlichen Entscheidungen<br />
in Zivil- und Handelssachen, ABl. L 12/<br />
2001),<br />
– das Luxemburger Protokoll vom 3. 6. 1971 betreffend<br />
die Auslegung des Brüsseler EWG-Übereinkommens<br />
vom 27. 9. 1968 durch den Europäischen<br />
Gerichtshof,<br />
– das Luganer Abkommen über die gerichtliche Zuständigkeit<br />
und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen<br />
in Zivil- und Handelssachen vom 16. 9.<br />
1988,<br />
– das Pariser Abkommen über die Haftung gegenüberDrittenaufdemGebietderKernenergievom29.<br />
7. 1960.<br />
Den eigentlichen Kern des „Europäischen Privatrechts“<br />
machen jedoch �Verordnungen, vor allem<br />
die �Richtlinien des Europäischen Gemeinschafts-
echts zum Privatrecht aus. Diese greifen teilweise<br />
tief in die heterogenen Zivilrechtstraditionen der<br />
Mitgliedstaaten ein. Mitunter beruhen sie auf nationalen<br />
Regelungen, die mit der dogmatischen Struktur<br />
des Zivilrechts anderer EU-Mitgliedstaaten nur<br />
schwer zu vereinen sind (z. B. im Rahmen des Verbraucherschutzrechts),<br />
was z. B. im deutschen BGB<br />
zu Systembrüchen geführt hat und mitursächlich für<br />
die deutsche Schuldrechtsreform war. De facto hat<br />
dies zu einer dualen Struktur geführt, in der das früher<br />
allein nationale Privatrecht der EU-Mitgliedstaaten<br />
durch abgeleitetes Gemeinschaftsrecht immer<br />
stärker überlagert und durchdrungen wird. Für<br />
den Rechtsanwender bedeutet dies insbes., dass Normen<br />
nicht nur in ihrem nationalen Kontext, sondern<br />
auch im europäischen Zusammenhang auszulegen<br />
sind (richtlinienkonforme �Auslegung des Gemeinschaftsrechts):<br />
Unter den möglichen Interpretationen<br />
einer Norm des mitgliedstaatlichen Rechts ist<br />
also derjenigen der Vorzug zu geben, die zugleich<br />
dem Inhalt und den Zielsetzungen der Richtlinie –<br />
unter der Berücksichtigung der hierzu im Wege des<br />
�Vorabentscheidungsverfahrens gem. Art. 234 EG<br />
ergangenen Rechtsprechung des EuGH – am besten<br />
entspricht. Als wichtige Beispiele für die europäische<br />
Privatrechtsintegration durch Richtlinien im<br />
BereichdesallgemeinenZivilrechtsseiengenannt:<br />
– die RL vom 25. 7. 1985 zur Angleichung der<br />
Rechts- und Verwaltungvorschriften der Mitgliedstaaten<br />
über die Haftung für fehlerhafte Produkte<br />
(ProdukthaftungsRL), ABl. L 210/1985,<br />
– die RL vom 20. 12. 1985 betreffend den Verbraucherschutz<br />
im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen<br />
geschlossenen Verträgen (HaustürwiderrufsRL),<br />
ABl. L 372/1985,<br />
– die RL vom 22. 12. 1986 zur Koordinierung der<br />
Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den<br />
Verbraucherkredit (VerbraucherkreditRL), ABl. L<br />
42/1987,<br />
– die RL vom 13. 6. 1990 über Pauschalreisen (PauschalreiseRL),<br />
ABl. L 158/1990,<br />
– die RL vom 5. 4. 1993 über missbräuchliche Klauseln<br />
in Verbraucherverträgen (AGB-Richtlinie),<br />
ABl. L 95/1993,<br />
– die RL vom 26. 10. 1994 zum Schutz der Erwerber<br />
von Teilzeitnutzungsrechten an Immobilien (Teilzeitwohnrechte-Richtlinie),<br />
ABl. L 280/1994,<br />
– die RL vom 27. 1. 1997 über grenzüberschreitende<br />
Überweisungen, ABl. L 43/1997,<br />
Privatrecht<br />
– die RL vom 20. 5. 1997 über den VerbraucherschutzbeiVertragsabschlüssenimFernabsatz(FernabsatzRL),<br />
ABl. L 144/1997,<br />
– die RL vom 25. 5. 1999 zum Verbrauchsgüterkauf<br />
(VerbrauchsgüterkaufRL), ABl. L 171/1999,<br />
– die RL über den elektronischen Geschäftsverkehr<br />
vom8.6.2000(E-Commerce-RL),ABl.L178/2000,<br />
– die RL vom 29. 6. 2000 zur Bekämpfung des Zahlungsverzug,<br />
ABl. L 200/2000.<br />
Als Beispiele im Bereich des Arbeitsrechts seien genannt:<br />
– die RL vom 9. 12. 1976 zur Verwirklichung des<br />
Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern<br />
und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung,<br />
zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg<br />
sowie in bezug auf die Arbeitsbedingungen<br />
(GleichbehandlungsRL), ABl. L 39/1976,<br />
– die RL vom 14. 2. 1977 zur Angleichung der<br />
Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die<br />
Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim<br />
Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen,(BetriebsübergangRL)Abl.L61/1977.<br />
Daneben hat die Europäische Gemeinschaft zahlreiche<br />
weitere dem Privatrechtsbereich zuzuordnende<br />
Richtlinien in Bereichen wie z. B. dem �Gesellschaftsrecht<br />
oder dem Kapitalmarktrecht erlassen<br />
(Europäisches �Wirtschaftsrecht).<br />
Das Europäische Parlament hat sich darüber hinaus<br />
bereits für ein „Europäisches Zivilgesetzbuch“ ausgesprochen<br />
(Entschließung vom 26. 5. 1989, ABl. C<br />
158/1989 und vom 6. 5. 1994, ABl. C 205/1994).<br />
Dieses Vorhaben dürfte jedoch auf absehbare Zeit<br />
kaum realisiert werden. Denn bislang beinhaltet der<br />
EGV keine hinreichende Kompetenznorm für ein<br />
solches Vorhaben – und der EuGH zeigt überdies<br />
eine Tendenz, die Frage, ob eine Gemeinschaftskompetenz<br />
gegeben ist, an einem strengeren<br />
Maßstab zu prüfen (Europäisches �Vertragsrecht).<br />
Bisherige Gemeinschaftsnormen auf dem Gebiet des<br />
Europäischen Privatrechts konnten überwiegend auf<br />
den Binnenmarktartikel Art. 95 EGV und die<br />
„Rechtsangleichungs-Grundnorm“ Art. 94 EGV gestützt<br />
werden, daneben ist hinsichtlich der justitiellen<br />
Zusammenarbeit in Zivilsachen insbes. der mit<br />
demVertragvonAmsterdamneugeschaffeneArt.65<br />
EGV zu nennen. Einschränkend wirken demgegenüber<br />
das in Art. 5 EGV normierte �Subsidiaritätsprinzip<br />
und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.<br />
Letzteres bedeutet, dass der Gemeinschaftsgesetz-<br />
619
Privilegierte Partnerschaft<br />
geber auch im Bereich des Europäischen Privatrechts<br />
stets zu prüfen gehalten ist, ob anstatt einer<br />
Harmonisierung zivilrechtlicher Normen z. B. lediglich<br />
eine Richtlinie über deren gegenseitige Anerkennung<br />
als eine ebenso wirksame, aber weniger in<br />
die Rechte der Mitgliedstaaten einschneidende Lösung<br />
vorzuziehen ist.<br />
Europäische Richtlinien auf dem Gebiet des Privatrechts<br />
unterscheiden sich in ihren Rechtsfolgen von<br />
anderen Gemeinschaftsrichtlinien insofern, als ihnen<br />
auch dann, wenn sie inhaltlich unbedingt und<br />
hinreichend genau sind, bei verspäteter oder fehlerhafter<br />
Umsetzung durch einen Mitgliedstaat keine<br />
�unmittelbare Wirkung im Verhältnis Bürger – Bürger<br />
entfalten. Das heißt, ohne Tätigwerden des nationalen<br />
Gesetzgebers können EG-Richtlinien grundsätzlich<br />
keine unmittelbaren Verpflichtungen zu<br />
Lasten Privater herbeiführen (EuGH, Urteil vom 26.<br />
2. 1986, Marshall I, Slg. 1986, S. 723; Urteil vom 14.<br />
7. 1994, Faccini Dori, Slg. 1994, I-3325). Allerdings<br />
kann die verspätete oder unvollständige Umsetzung<br />
von Richtlinien Haftungsansprüche des Bürgers gegen<br />
den Mitgliedstaat auslösen, der seine Umsetzungspflichten<br />
verletzt hat (EuGH, Urteil vom 19.<br />
11. 1991, Francovich, Slg. 1991, I-5357; Urteil vom<br />
8. 10. 1996, Dillenkofer, Slg. 1996, I-4848 zur Pauschalreiserichtlinie;<br />
als Folge musste der Bund an<br />
zahlreiche Betroffene Ersatz in Höhe von insgesamt<br />
rund10Mio.Euroleisten). S. W.<br />
Literatur:<br />
Europäische Kommission: Mitteilung an das Europäische<br />
Parlament und den Rat, Europäisches Vertragsrecht und<br />
Überarbeitung des gemeinschaftlichen Besitzstands – weiteres<br />
Vorgehen vom 11. 10. 2004 ( KOM(2004) 651 endg.)<br />
Schulze, R./Zimmermann, R. (Hg.): Basistexte zum<br />
Europäischen Privatrecht. Baden-Baden 2002 2<br />
Möllers, Th. M. J.: Europäische Richtlinien zum Europäischen<br />
Recht. JZ 2002, 121<br />
Privilegierte Partnerschaft. Im Zusammenhang<br />
mit den Vorbereitungen von Verhandlungen der EU<br />
mit der Türkei über deren Beitritt wurde statt einer<br />
Vollmitgliedschaft auch eine Privilegierte Partnerschaft<br />
als mögliches Ergebnis ins Gespräch gebracht.<br />
Politiker und Abgeordnete europäischer Parteien,dieineinemBeitrittderTürkeieineÜberforderung<br />
der EU mit der Gefahr einer Rückentwicklung<br />
zur Freihandelszone sehen oder die den Beitritt eines<br />
Staats, dessen Territorium überwiegend nicht in <strong>Europa</strong><br />
liegt und deren Bevölkerung zu mehr als 90 %<br />
islamischen Glaubens ist, grundsätzlich ablehnen,<br />
620<br />
sehen eine Privilegierte Partnerschaft als wünschenswerte<br />
Alternative zur EU-Mitgliedschaft.<br />
Was unter Privilegierter Partnerschaft zu verstehen<br />
ist, hat u. a. das Präsidium der CDU in einem Beschluss<br />
vom 7. 3. 2004 näher ausgeführt:<br />
„Die ‚Privilegierte Partnerschaft‘ geht weit über die<br />
zwischen der EU und der Türkei eingegangene Zollunion<br />
hinaus: So könnte eine alle Gütergruppen umfassende<br />
Freihandelszone geschaffen werden. Weiterhin<br />
könnte die Zusammenarbeit vertieft werden –<br />
insbes. zur Stärkung der Zivilgesellschaft, des Umweltschutzes,zurFörderungvonKleinenundMittleren<br />
Unternehmen, im Gesundheits- sowie im Bildungsbereich.<br />
Zudem könnte die Türkei verstärkt in<br />
die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und<br />
in die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik<br />
einbezogen werden. Schließlich könnte zur<br />
Bekämpfung von Terrorismus, Extremismus und<br />
Organisiertem Verbrechen die Zusammenarbeit der<br />
Behörden und Institutionen im Innen- und Justizbereich<br />
sowie der Geheimdienste deutlich intensiviert<br />
werden.“<br />
Die türkische Regierung hat eine Privilegierte Partnerschaft<br />
statt einer Vollmitgliedschaft bisher strikt<br />
abgelehnt.<br />
Privilegierte Partnerschaft wird von Politikern der<br />
EU auch als Möglichkeit einer Zusammenarbeit mit<br />
anderen Staaten angesehen, u. a. mit der Ukraine und<br />
mit Russland.<br />
PROMISE-Arbeitsprogramm �eEurope<br />
Protektionismus<br />
1. Begriff: Für die internationalen Wirtschaftsbeziehungen<br />
sind von jeher zwei einander entgegengesetzte<br />
Ordnungsprinzipien wirksam: Freihandel und<br />
Protektionismus. Die gegenwärtigen Auseinandersetzungen<br />
um die Neuordnung der Weltwirtschaft<br />
(�GATT, �WTO) sind durch das Spannungsfeld<br />
zwischen diesen beiden Prinzipien gekennzeichnet.<br />
Freihandel strebt von staatlichen Eingriffen freie<br />
zwischenstaatliche Austauschbeziehungen an. Der<br />
Handels- und Zahlungsverkehr wird ausschließlich<br />
vondenMechanismendesMarktes(vorallem:Preisbildung<br />
durch Angebot und Nachfrage) bestimmt.<br />
ProtektionismusistdieBezeichnungfüreineAußenhandelspolitik,<br />
bei der der Staat die inländischen<br />
Produzenten vor ausländischen Konkurrenten<br />
schützt, indem er Ausfuhren begünstigt (z. B. durch
Subventionen, Steuerbegünstigungen, Beihilfen<br />
usw.) und Einfuhren erschwert (z. B. durch Zölle,<br />
Verbote,Kontingentebzw.Mengenbeschränkungen<br />
usw.).<br />
In der Vergangenheit wurden Einfuhrbeschränkungen<br />
zum Schutz der eigenen Wirtschaft durch Zölle<br />
(engl.: tariffs) getroffen. Mit dem allgemeinen Zollabbau<br />
nach dem Zweiten Weltkrieg (�GATT) haben<br />
sie jedoch an Bedeutung verloren. An ihre Stelle sind<br />
mehr und mehr sog. nichttarifäre Handelshemmnisse<br />
getreten. Nichttarifäre (d. h. außerhalb des Zolltarifs<br />
liegende) Handelshemmnisse sind z. B. Kontingente,<br />
Subventionen, Selbstbeschränkungen, besondere<br />
Normen oder Sicherheitsbestimmungen, Verwaltungsvorschriften,<br />
Vorschriften des Lebensmittelrechts<br />
usw. Die Ausweitung nichttarifärer Handelshemmnisse<br />
erklärt sich aus den Interessen betroffener<br />
Wirtschaftssubjekte: Inländische Unternehmen,<br />
die darin beschäftigten Arbeitnehmer, nationale<br />
Zulieferbetriebe und auch die Gemeinden, in<br />
denen die Unternehmen ansässig sind, haben ein<br />
starkes Interesse an einem besonderen Schutz vor<br />
ausländischerKonkurrenz.DagegenhabenVerbraucher<br />
und Unternehmen, die entsprechende Vorprodukte<br />
aus dem Ausland beziehen, ein gegengerichtetes<br />
Interesse. Auch Exporteure und die bei ihnen BeschäftigtenhabeneinInteresseanoffenenMärkten.<br />
2. Zum Spannungsverhältnis von Freihandel und<br />
Protektionismus: Dem Streben eines Staates nach<br />
wirtschaftlicher Unabhängigkeit (Autarkie) steht<br />
der Verzicht auf die Vorteile der internationalen Arbeitsteilung<br />
(Nutzung absoluter und komparativer<br />
Kostenvorteile) gegenüber. Es müssen aber auch die<br />
Risiken des Freihandels gesehen werden: Gefährdung<br />
der Sicherheit der Arbeitsplätze, denn internationale<br />
Arbeitsteilung führt zu Veränderungen der<br />
Produktionsstruktur; die Sicherheit der Einnahmen<br />
ausExportenkannbeieinseitigerSpezialisierunggefährdet<br />
werden, weil damit eine starke Abhängigkeit<br />
von der Preisentwicklung auf internationalen Märktenverbundenist;GefährdungderVersorgungdurch<br />
den Verzicht auf einheimische Produktion lebenswichtiger<br />
Güter (z. B. landwirtschaftlicher Produkte).<br />
Deshalb besteht die Neigung, aus Sicherheitsgründen<br />
ein gewisses Maß an Autarkie durch Beschränkung<br />
oder Verbot von Einfuhren anzustreben.<br />
Wenn sich aber die heimische Wirtschaft gegen ausländische<br />
Konkurrenz durch protektionistische<br />
Maßnahmen abschirmt, sind auch damit Risiken ver-<br />
Protektionismus<br />
bunden: Andere Länder können zu Vergeltungsmaßnahmen<br />
(Handelskrieg, Strafzölle) schreiten; der<br />
Verbraucher muss die Unterstützung der heimischen<br />
WirtschaftmithöherenSteuernoderhöherenPreisen<br />
bezahlen; die Einnahmen der ausländischen Handelspartner<br />
aus ihren Exporten werden geschmälert<br />
und damit ebenso die Finanzmittel für Importe aus<br />
dem sich abschirmenden Land. Daraus ergibt sich<br />
ein latentes Spannungsverhältnis zwischen Liberalisierung<br />
und Protektionismus, dem auch die E(W)G<br />
seit ihrer Gründung ausgesetzt ist. Aufgabe der Außenhandelspolitik<br />
ist es daher, zwischen Sicherheit<br />
undUnabhängigkeiteinerseitsundNutzungderVorteile<br />
der internationalen Arbeitsteilung andererseits<br />
einen Kompromiss zu finden.<br />
3. Europäische Union und Protektionismus: Die EU<br />
hat mit der Errichtung des Binnenmarktes (Anfang<br />
1993) nach innen das Freihandelsprinzip (beinahe)<br />
uneingeschränkt verwirklicht. Einer der Wegbereiter<br />
war der berühmte Fall �„Cassis de Dijon“.<br />
Die Situation auf der Außenhandelsebene ist zwiespältig.<br />
Sowohl die Gemeinschaft als auch die Mitgliedstaaten<br />
haben im Rahmen der verschiedenen<br />
Abkommen des GATT wesentlich zum Abbau der<br />
Zölle beigetragen, so dass im Bereich der Industrieländer<br />
zollmäßig eine weitgehende Liberalisierung<br />
erreicht wurde. Jedoch hat sich in gleichem Zuge der<br />
Protektionismus sowohl bei der Abwehr von Importen<br />
als auch bei der Begünstigung von Exporten in<br />
Form nichttarifärer Handelshemmnisse ausgebreitet.<br />
Bei der Abwehr von Industriegüter-Importen<br />
sind vor allem freiwillige Mengenbeschränkungen<br />
üblich, in erster Linie mit Japan (Autos bis 1999), das<br />
seinen heimischen Markt gegen Einfuhren aus<br />
EU-Ländern abschottet. Bei der Begünstigung des<br />
Exports verschaffen EU-Staaten ihren Unternehmen<br />
z. T. erhebliche Wettbewerbsvorteile durch günstige<br />
Exportfinanzierungen (Zinserleichterungen, günstige<br />
Tilgungen, Exportversicherungen usw.) und Subventionen<br />
für strukturschwache Branchen (Kohlebergbau,<br />
Eisen- und Stahl-, Schiffbau- und Textilindustrie).<br />
Am ausgeprägtesten ist jedoch der Agrarprotektionismus<br />
der EU (�Gemeinsame Agrarpolitik), der<br />
insbes. den Entwicklungsländern schadet, indem er<br />
deren Exportchancen stark einengt. Ursprünglich<br />
zurStärkungderErnährungssicherheitundzurstrukturellen<br />
Anpassung der EWG-Landwirtschaft an die<br />
Wettbewerbsbedingungen des Weltmarktes ge-<br />
621
Protokolle<br />
dacht,hatderAgrarhaushaltderEG/EUsichzeitweiligfinanziellsoaufgebläht,dassnotwendigestrukturelle<br />
Veränderungen und Entwicklungen in anderen<br />
Bereichen (�Strukturpolitik, �Regionalpolitik) aus<br />
Mangel an Finanzmitteln nicht im erforderlichen<br />
Maßeangegangenwerdenkonnten.DieUrsachedieser<br />
Fehlentwicklung liegt darin, dass Erhaltungsund<br />
Umstrukturierungssubventionen (�Subventionen)wederzeitlichbefristetnochinzeitlicherStaffelung<br />
abgebaut worden sind. Protektionistische MaßnahmendieserArtsindnurzurechtfertigen,wennsie<br />
dazu beitragen, Strukturwandlungen zu unterstützen<br />
und zu beschleunigen bzw. als zeitlich begrenzte<br />
Schutzmaßnahmen (z. B. in Form von Schutzzöllen,<br />
Erziehungszöllen) neue Branchen bei ihrem Entwicklungsprozess<br />
abzuschirmen.<br />
Aus den negativen Erfahrungen hat die Gemeinschaft<br />
inzwischen Konsequenzen gezogen, indem<br />
sie im Rahmen der 1992 und in der �Agenda 2000<br />
verabschiedeten Agrarreformen ein neues Agrarpreissystem<br />
beschloss, das mit den Bestimmungen<br />
der WTO konform ist. Außerdem legen die<br />
Fonds-Verordnungen vom August 1993 (�Fonds der<br />
EU) fest, dass Subventionsbeschlüsse auf einer zeitlichen<br />
Befristung basieren müssen. Die schwierigen<br />
Verhandlungen zum Abbau des Protektionismus in<br />
der Uruguay-Runde des GATT, die insbes. den Abbau<br />
nichttarifärer Handelshemmnisse und die Liberalisierung<br />
des Agrarhandels zum Ziel hatte, haben<br />
zwar zu einem positiven Ergebnis geführt, dennoch<br />
bleiben gravierende Probleme ungelöst, insbes. für<br />
Entwicklungsländer. Sie fordern im Rahmen der Doha-Runde<br />
den Abbau von Handelsschranken, d. h.<br />
die Senkung hoher Zolltarife für verarbeitete Produkte<br />
aus ihren Ländern (Zolleskalation) und vor allem<br />
die endgültige Abschaffung aller Agrarsubventionen<br />
in den Industrieländern. Ein wichtiger Stein<br />
des Anstoßes für das Scheitern der Ministerkonferenz<br />
der WTO 2003 in Cancún war die Baumwollinitiative<br />
der west- und zentralafrikanischen Staaten<br />
Benin, Burkina Faso, Mali und Tschad. Sie forderten<br />
dieIndustrieländer,insbes.dieUSAauf,dieSubventionierung<br />
ihrer Baumwollfarmer abzubauen und bis<br />
zu ihrem endgültigen Auslaufen die afrikanischen<br />
Baumwollbauern zu „entschädigen“. Darüber hinaus<br />
fordern die Entwicklungsländer das Zugeständnis,<br />
einheimische Unternehmen befristet zu subventionieren<br />
(Erziehungszölle), um neue Industrien aufbauen<br />
zu können.<br />
622<br />
Ein versteckter, dennoch aber wichtiger Protektionsbefund<br />
ist u. a. auch der enorme EntwicklungsabstandzwischenIndustrie-undEntwicklungsländern,<br />
der aufgrund fehlender oder unzureichender VerhandlungskapazitätenunddamitfehlenderVerhandlungsmacht<br />
die Entwicklungsländer in eine Abseitsposition<br />
drängt. Die Realisierung freien internationalen<br />
Handels und freier Handelschancen setzt<br />
gleichwertige Partner voraus. Wenn die Industrieländer<br />
den Anspruch, die Doha-Runde zu einer Entwicklungsrunde<br />
werden zu lassen ernst nehmen,<br />
werdensienichtumhinkommen,denarmenLändern<br />
ein faires Angebot zur Stärkung ihrer Kapazitäten zu<br />
unterbreiten, das es ihnen erlaubt, messbare Entwicklungsfortschritte<br />
zu machen. Dazu zählen finanzielle,<br />
technische und personelle Unterstützung<br />
bei der Entwicklung handelnsfördernder Kapazitäten,<br />
schrittweiser Abbau von Agrarsubventionen sowie<br />
von Zöllen für weiterverarbeitete Industrie- und<br />
Agrargüter in den OECD-Ländern, Einräumung<br />
zeitlich befristeter Handelspräferenzen usw. Der<br />
Anfang 2001 von der EU gefasste Beschluss, den<br />
ärmsten Entwicklungsländern im Rahmen der<br />
„Everything but arms“-Initiative (�Außenhandelspolitik)<br />
für deren (Agrar-)Produkte quoten- und zollfreien<br />
Marktzugang zu gewähren, könnte wegweisendfüralleEntwicklungsländersein.<br />
K. E.<br />
Literatur:<br />
Großmann, H.: Einseitige Schutzmaßnahmen der EG<br />
gegenüber unfairen Handelspraktiken.<br />
In: Wirtschaftsdienst IX / 1993, S. 487–492<br />
E+Z (Entwicklung und Zusammenarbeit), Heft 8/9 2003, mit<br />
Beiträgen von H. Wieczorek-Zeul, R. Engels, K. Liebig u. a.<br />
Protokolle / Erklärungen (als Anhänge zu Verträgen)<br />
Protokolle, die dem EG-Vertrag im gegenseitigen<br />
Einvernehmen der Mitgliedstaaten beigefügt werden,<br />
sind nach Art. 311 EGV Bestandteil des Vertrags.<br />
Protokolle sind Nebenurkunden zum Vertrag<br />
und werden regelmäßig in den Schlussakten von Regierungskonferenzen<br />
aufgenommen. Da sie zum primären<br />
�Gemeinschaftsrecht gehören, gelten für sie<br />
grundsätzlichdieselbenAuslegungs-,AnwendungsundAbänderungsregelnwiefürdenVertragselbst.<br />
Die Protokolle zum EU-Vertrag sind ebenfalls Vertragsbestandteile,<br />
auch wenn der EUV keine dem<br />
Art. 311 EGV entsprechende Norm enthält. Denn<br />
nach Art. 2 Abs. 1 lit. a der �Wiener Vertragsrechtskonvention<br />
(WVRK) wird vermutet, dass Protokolle
zu einem internationalen Vertrag selbst Vertragsbestandteil<br />
sind.<br />
Die Aufspaltung in Vertragstext und Protokolltext<br />
kann sinnvoll sein, um den Vertrag von institutionellen<br />
Regelungen zu entlasten (Beispiele: Protokoll<br />
über die Satzung des Gerichtshofes, Protokoll über<br />
die Satzung der Europäischen Zentralbank, Protokoll<br />
Nr. 7 über die Erweiterung der Europäischen<br />
Union).DieRegelungineinemProtokollistdesWeiteren<br />
zweckmäßig, wenn ein Mitgliedstaat hinsichtlich<br />
bestimmter Vertragsregelungen Sonderpositionen<br />
bezieht (Beispiel: Protokolle Nr. 3 bis 5 zum<br />
Amsterdamer Vertrag über die Einbeziehung des<br />
Schengen-Besitzstandes und die Positionen des Vereinigten<br />
Königreichs, Irlands und Dänemarks).<br />
SchließlichkönnenProtokolledenWortlautdesVertrages<br />
ergänzen (Beispiele: Protokoll Nr. 20 über das<br />
Verfahren bei übermäßigem Defizit, Protokoll Nr.<br />
21 über die Konvergenzkriterien nach Art. 121 des<br />
Protokoll über Vorrechte<br />
EGV) oder die Rechtsprechung des EuGH kodifizieren<br />
(Beispiel: Protokoll Nr. 17 zu Art. 141 EGV).<br />
Die angehängten Erklärungen sind dagegen keine<br />
Vertragsbestandteile,dasiewedervonArt.311EGV<br />
nochvonArt.2WVRKinBezuggenommenwerden.<br />
Sie gehören aber zum Zusammenhang des Vertrages<br />
und sind daher gem. Art. 31 Abs. 2 WVRK für dessen<br />
Auslegung heranzuziehen. Dies gilt sowohl für gemeinsame<br />
Erklärungen aller Mitgliedstaaten als<br />
auch für die Erklärungen einzelner Mitgliedstaaten,<br />
die anlässlich des Vertragsschlusses abgegeben werden.<br />
J. I.<br />
Protokoll über die Sozialpolitik �Sozialpolitik<br />
Protokoll über Vorrechte und Befreiungen der<br />
Europäischen Gemeinschaften (Anlage zum<br />
�Fusionsvertrag vom 8. 4. 1965) �Statut der Abgeordneten<br />
des EP<br />
623
Qualifizierte Mehrheit<br />
Qualifikationsrahmen >Europäischer Qualifikationsrahmen.<br />
Qualifizierte Mehrheit. Ist für einen Beschluss des<br />
Rates nach dem EG-Vertrag oder dem EU-Vertrag<br />
(gemeinsame Aktion im Rahmen der �Gemeinsamen<br />
Außen- und Sicherheitspolitik) qualifizierte<br />
Mehrheit vorgeschrieben, so werden die Stimmen<br />
der Mitgliedstaaten gewichtet bzw. (nach inzwischen<br />
gängiger Übersetzung ins Deutsche) gewogen.<br />
Das Stimmengewicht der Staaten hat sich im<br />
Laufe der Erweiterungen der EG/EU verändert (sie-<br />
624<br />
12<br />
Q<br />
he Tabelle). Um eine bessere Feinabstimmung zwischen<br />
der Größe eines Mitgliedstaates (Einwohnerzahl)<br />
und der Anzahl seiner Stimmen zu ermöglichen,wurdendurchdas3.ProtokollzumVertragvon<br />
Nizza (Protokoll über die Erweiterung der Europäischen<br />
Union) die Gesamtstimmen der 15 Mitgliedstaaten<br />
von 87 auf 237 erhöht (EU-25: 321). Somit<br />
kann zwischen Kleinstaaten wie Malta (397 000 Einwohner)<br />
und großen Staaten wie Deutschland (82,5<br />
Mio. Einwohner) eine genauere Gewichtung der<br />
Stimmen vorgenommen werden. Dennoch entsprechen<br />
die Stimmen nicht dem tatsächlichen Gewicht<br />
3
der Staaten, gemessen an den Einwohnerzahlen. So<br />
entspricht eine Stimme für Deutschland 2,85 Mio.<br />
Einwohnern, eine Stimme für Österreich 800 000<br />
Einwohnern, eine Stimme für Malta 135 000 Einwohnern.<br />
Die Verteilung der Stimmenanteile folgt<br />
also nicht bevölkerungsmathematischen, sondern<br />
primär politischen Prinzipien. Das ist pragmatisch<br />
gesehen sinnvoll, im Hinblick auf die �Legitimation<br />
von Ratsentscheidungen aber nicht unproblematisch.<br />
Eine qualifizierte Mehrheit kommt mit 232 der 321<br />
Stimmen zustande, die von der Mehrheit der Ratsmitglieder<br />
(also mindestens 13) stammen müssen.<br />
FürBeschlüsseimRahmenderGASP/ESVPmüssen<br />
bei gleicher Stimmenzahl mindestens zwei Drittel<br />
der Staaten (also 17 oder mehr) zustimmen.<br />
Auf Antrag eines Ratsmitglieds muss geprüft werden,obdieMitgliedstaaten,derenStimmeneinequalifizierte<br />
Mehrheit gebildet haben, mindestens 62 %<br />
der Unionsbevölkerung repräsentieren. Ist das nicht<br />
der Fall, kommt der Beschluss nicht zustande.<br />
Doppelte Mehrheit: Wenn der Verfassungsvertrag<br />
für <strong>Europa</strong> in Kraft treten kann, wird das System der<br />
Stimmengewichtung abgeschafft. Jeder Mitgliedstaat<br />
verfügt dann über eine Stimme. Die qualifizierte<br />
Mehrheit ist erreicht, wenn mindestens 55 % der<br />
Mitglieder des Rates (mindestens 15) zustimmen,<br />
sofern die von diesen vertretenen Mitgliedstaaten<br />
mindestens 65 % der Bevölkerung der Union ausmachen<br />
(„doppelte Mehrheit“, Art. I-25 Abs. 1 VVE<br />
2004). Wenn ein Beschluss im Rahmen der GASP/<br />
ESVP ansteht, müssen mindestens 72 % der Ratsmitglieder<br />
zustimmen, um eine qualifizierte Mehrheit<br />
zu bilden. Das Bevölkerungsquorum von 65 % bleibt<br />
gleich. Auch der Europäische Rat wird dann mit qualifizierter<br />
Mehrheit beschließen können, wobei die<br />
selben Quoren gelten.<br />
Quasi-Richtlinie �Rahmenbeschlüsse<br />
Quästoren. Dem Präsidium des Europäischen Parlaments<br />
gehören neben dem Präsidenten und 14 Vizepräsidenten<br />
auch fünf Quästoren an. Nach Art. 25<br />
der Geschäftsordnung des EP sind sie „gemäß vom<br />
Präsidium erlassenen Leitlinien mit Verwaltungsund<br />
Finanzaufgaben betraut, die die Mitglieder [des<br />
EP, Red.] direkt betreffen“. Sie haben im Präsidium<br />
nur beratende Stimme (Art. 21 der GO des EP). Sie<br />
werden in der Eröffnungssitzung des EP nach der<br />
Wahl des Präsidenten und der Vizepräsidenten für<br />
eine Amtszeit von zweieinhalb Jahren gewählt.<br />
Quellensteuer �Steuerrecht<br />
Quoten<br />
Querschnittsaufgaben sind im EG-Vertrag genannte<br />
Verpflichtungen, bestimmte Ziele (wie<br />
Gleichstellung von Frau und Mann Art. 3 Abs. 2,<br />
Kultur Art. 151 Abs. 4, Verbraucherschutz Art. 153<br />
Abs. 2, Kohäsion Art. 159 Abs. 1) bei allen Tätigkeiten<br />
aufgrund anderer Bestimmungen des Vertrages<br />
und bei der Festlegung und Durchführung aller anderen<br />
Gemeinschaftspolitiken mit zu verfolgen.<br />
Quorum. Zur Beschlussfähigkeit von Gremien<br />
(z. B. einer Körperschaft, eines gesetzgebenden Organs)<br />
kann laut Statut, Satzung, Gesetz oder (in der<br />
Europäischen Union) Vertrag bzw. Geschäftsordnung<br />
eine erforderliche Anzahl anwesender Mitglieder<br />
zwingend vorgeschrieben sein. Ein Quorum ist<br />
bspw. vorgeschrieben, wenn für einen Beschluss die<br />
absolute Mehrheit (Stimmen der Mehrheit der Mitglieder)<br />
erforderlich ist (Beispiele: Ablehnung oder<br />
Abänderung von Gesetzentwürfen im Europäischen<br />
Parlament nach Art. 251 EGV; Beschlussfassung der<br />
Europäischen Kommission nach Art. 219 EGV, qualifizierte<br />
Mehrheit im Rat).<br />
Quoten. Mengenbegrenzungen bestimmter Agrarprodukte<br />
mit dem Ziel, Überschüsse einzudämmen<br />
und die daraus entstehenden Belastungen des Gemeinschaftshaushalts<br />
zu verringern, werden als<br />
Quotierung bezeichnet. Eine erste Quotierung erfolgte<br />
mit der Garantiemengenregelung für Milch ab<br />
2. 4. 1984: Für jedes Mitgliedsland wurden Höchstmengen<br />
festgesetzt, die in der Bundesrepublik<br />
Deutschland in Quoten für den einzelnen Hof aufgeteilt<br />
wurden. Wer seine Quote überschritt, musste für<br />
jeden überschüssigen Liter eine Mitverantwortungsabgabe<br />
zahlen. Das Quotensystem war zunächst bis<br />
1992 befristet, wurde aber bei der Agrarreform 1992<br />
ebenso beibehalten wie bei den durch die Agenda<br />
2000 eingeleiteten Maßnahmen und sollte bis 2008<br />
gelten. Durch Beschluss der Landwirtschaftsminister<br />
vom 26. 6. 2003 wurde es bis 31. 3 2015 verlängert.EineimRahmenderAgenda2000beschlossene<br />
Aufstockung der Quoten um 1,5 % in den Wirtschaftsjahren<br />
2006/07, 2007/08 und 2008/09 wurde<br />
verschoben. �Gemeinsame Agrarpolitik<br />
625
Rahmenbeschlüsse<br />
Rahmenbeschlüsse („Quasi-Richtlinien“) kann<br />
der Rat im Bereich der �PJZS zur Angleichung von<br />
Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten<br />
annehmen (Art. 34 Abs. 2 lit. b); sie sind nicht<br />
unmittelbar wirksam, aber (wie Richtlinien) hinsichtlich<br />
des im Beschluss genannten Ziels für die<br />
Mitgliedstaaten verbindlich.<br />
Rahmenprogramme für die Forschung �Forschungspolitik<br />
Rahmenrichtlinien werden im Sprachgebrauch der<br />
EU Richtlinien genannt, deren detaillierte Regelungen<br />
früheren oder nachfolgenden Richtlinien vorbehalten<br />
sind oder den Rechtsetzungsorganen der Mitgliedstaaten<br />
überlassen bleiben. Nach einen Beschluss<br />
des Rates aus dem Jahr 1985 ersetzen Rahmenrichtlinien<br />
die Verabschiedung detaillierter<br />
technischer Einzelregelungen. Sie erleichterten so<br />
die gesetzgeberischen Vorbereitungen zur VerwirklichungdesBinnenmarkteszum1.1.1993erheblich.<br />
Eine Voraussetzung dafür war die Ablösung des<br />
Prinzips der Rechtsangleichung (�Harmonisierung)<br />
durch das �Prinzip der gegenseitigen Anerkennung<br />
in der �Einheitlichen Europäischen Akte (Art. 100 b<br />
EWGV).<br />
So setzt bspw. die sog. „Luftqualitäts-Rahmenrichtlinie“<br />
von 1996 (96/62, ABl. L 296/1996) keine bestimmten<br />
Ziele, kündigt aber die spätere Festlegung<br />
von Grenzwerten für Schadstoffe an. Diese wurden<br />
in nachfolgenden Richtlinien („Tochterrichtlinien“)<br />
präzisiert, z. B. in der „Richtlinie über die Grenzwerte<br />
für Benzol und Kohlenmonoxid“ (2000/69). Als<br />
„Rahmenrichtlinie Wasserpolitik“ oder „Wasser-<br />
Rahmenrichtlinie“ wird eine RL aus dem Jahr 2000<br />
bezeichnet (2000/60, ABl. L 327/2000), die frühere<br />
Richtlinien mit detaillierten Regelungen wie die<br />
TrinkwasserRL von 1996 oder die NitratRL von<br />
1991 an sich bindet, andererseits andere Richtlinien<br />
wie die GrundwasserRL von 1980 oder die OberflächenwasserRL<br />
von 1975 ersetzt.<br />
RAMON ist der Klassifikationsserver von Eurostat.<br />
Er enthält alle verfügbaren Informationen über inter-<br />
626<br />
R<br />
nationale statistische Systematiken, u. a. methodische<br />
Grundsätze für Aufbau, Struktur, Verbindungen<br />
zu anderen internationalen Systematiken.<br />
Internet: http://europa.eu.int/comm/eurostat/ramon<br />
RAPEX(RapidExchangeofInformationSystem)ist<br />
ein von der Kommission verwaltetes Produktsicherheits-Notfallsystem.<br />
Rechtsgrundlage ist Art. 11 der<br />
Richtlinie über die allgemeine Produktsicherheit<br />
(2001/95). Über RAPEX können zwischen den Mitgliedstaaten<br />
und der Kommission rasch Informationen<br />
ausgetauscht werden über Maßnahmen (z. B.<br />
Rückrufe) und Aktionen gegen Stoffe in Verbraucherprodukten<br />
(Non-Food-Artikeln), die eine ernste<br />
Gefahr für die Gesundheit oder Sicherheit darstellen<br />
(Ausnahme: medizinische oder pharmazeutische<br />
Produkte).<br />
RAPHAEL.Einesvon3EU-ProgrammenzurFörderung<br />
eines gemeinsamen Kulturraums mit dem<br />
Schwerpunkt Kulturerbe, neben Ariane (Literatur)<br />
und Kaleidoskop (künstlerische Tätigkeit). Budget<br />
im Zeitraum 1997 bis 2000: 30 Mio. ECU. Die ProgrammewurdenabgelöstdurchdasProgramm�Kultur<br />
2000.<br />
Rassismus �Europäische Stelle zur Beobachtung<br />
von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit<br />
Rat, Rat der Europäischen Union (Ministerrat).<br />
Der Ministerrat – in den Verträgen nur als Rat bezeichnet<br />
– ist seit 1967 (�Fusionsvertrag) eines der<br />
GemeinschaftsorganederEG.SeitGründungderEU<br />
nennt er sich selbst Rat der Europäischen Union. Er<br />
unterscheidet sich vom Deutschen Bundesrat oder<br />
ähnlichen Gremien föderaler Staaten dadurch, dass<br />
er einerseits ein wichtiges Entscheidungsorgan für<br />
Rechtsakte der EU ist, andererseits die Interessen der<br />
Mitgliedstaaten einbringt (Art. 202 – 210 EGV). Der<br />
Rat stellt eine direkte Verbindung zwischen der<br />
EU-Ebene und den Mitgliedstaaten her.<br />
1. Entwicklung.<br />
1.1Ausgangslage.BereitsdieMontanunion(EGKS)<br />
führte die Institution eines Rats aus je einem Regie-
ungsmitglied der sechs Mitgliedstaaten ein. Dieser<br />
vertrittdieMitgliedstaatenundstimmt„dieTätigkeit<br />
der Hohen Behörde und der ... Regierungen aufeinander“<br />
ab (Art. 26 EGKSV). Im Rahmen der EGKS<br />
besaß der Rat im Wesentlichen Anhörungs- und Mitwirkungsrechte.<br />
Für die Europäischen Gemeinschaften<br />
Euratom und EWG hingegen trägt er nach<br />
den jeweiligen Gründungsverträgen die Verantwortung<br />
für die „Verwirklichung der Ziele nach Maßgabe<br />
dieses Vertrages“. Diese Verträge weisen jeweils<br />
dem Rat Funktionen eines „Legislativorgans“ und<br />
zusätzliche exekutive Befugnisse zu.<br />
Vor allem der Rat der E(W)G tritt als das Organ, in<br />
demdieMitgliedstaatendurchihreRegierungenvertreten<br />
sind, von Anfang an im Rahmen der vielfältigen<br />
Rechtsetzungsbefugnisse der Gemeinschaft dominierend<br />
in Erscheinung; denn der Rat, mithin die<br />
nationalen Regierungen, besitzt die Legitimation<br />
zum Erlass von Rechtsvorschriften. Ein Gegengewicht<br />
innerhalb des Institutionengefüges bildete zunächst<br />
nur die Kommission, deren Vorschläge nur<br />
einstimmig vom Rat geändert werden konnten. Die<br />
rasch wachsenden Aktivitäten der EWG führten zur<br />
hohen Arbeitsbelastung des Rates, der in unterschiedlichen<br />
Zusammensetzungen tagt. Bereits seit<br />
1958 unterstützt der �Ausschuss der Ständigen Vertreter<br />
(Coreper) mit seinen Arbeitsgruppen den Ministerrat.<br />
Der Gründungsvertrag der EWG (1957) sah in vielen<br />
Politikbereichen zunächst die Einstimmigkeit bei<br />
Entscheidungen des Rates vor, die nach einer Übergangszeit<br />
von dreimal vier Jahren allmählich durch<br />
Mehrheitsentscheidungenabgelöstwerdensollten.<br />
1.2 Entscheidungskrise. Das Verfahren (GesetzesinitiativederKommissionundEntscheidungsbefugnis<br />
sowie Abstimmungsmodi des Rates) führte 1965/66<br />
zur ersten größeren Krise der Europäischen Gemeinschaften,<br />
als Frankreich gegen einen Vorschlag der<br />
Kommission durch die �Politik des „leeren Stuhls“<br />
protestierte und durch seine Nichtteilnahme an den<br />
Sitzungen des Rates die Entscheidungen auf Gemeinschaftsebene<br />
lähmte. Hintergründig ging es<br />
Frankreich um die weitere Entwicklung der Institutionen<br />
(Eindämmung der Rolle der Kommission und<br />
Verhinderung der Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen<br />
im Rat). Die �Luxemburger Vereinbarung<br />
behob diese Krise durch ein rechtlich nicht verbindliches<br />
Übereinkommen, das einen Vertrauenstatbestand<br />
schuf, von dem nicht einseitig abgewi-<br />
Rat<br />
chen werden durfte – und auch in der Praxis bis 1982<br />
nicht abgewichen wurde: „Stehen bei Beschlüssen,<br />
die mit der Mehrheit auf Vorschlag der Kommission<br />
gefasst werden können, sehr wichtige Interessen eines<br />
oder mehrerer Partner auf dem Spiel, so werden<br />
sich die Mitglieder des Rates innerhalb eines angemessenen<br />
Zeitpunktes bemühen, zu Lösungen zu gelangen.“Dieser„LuxemburgerKompromiss“verzögerte<br />
oder verhinderte Fortschritte im Integrationsprozess,<br />
da jeder Mitgliedstaat selbst entschied,<br />
wann wichtige nationale Interessen vorliegen bzw.<br />
durch Gemeinschaftserlasse tangiert werden.<br />
1.3 Der gemeinsame Rat. Mit dem Inkrafttreten des<br />
Vertrages über die Fusion der Exekutivorgane der<br />
drei Gemeinschaften am 1. 7. 1967 wurde ein gemeinsamer<br />
Rat eingesetzt. In der Folgezeit bis etwa<br />
1985 ist die Tätigkeit des Rates durch mangelnde<br />
Entscheidungsfähigkeit geprägt, zumal in wichtigen<br />
Fragen die Möglichkeit der Abstimmung mit qualifizierter<br />
Mehrheit nicht angewandt wurde. Die Einrichtung<br />
der �Gipfelkonferenz führte dazu, dass wesentliche<br />
Beschlüsse von den Staats- und Regierungschefs<br />
gefasst wurden. Erst die �Einheitliche<br />
Europäische Akte (1986) beschleunigte die EntscheidungsfindungimRat.DerAnwendungsbereich<br />
qualifizierter Mehrheitsentscheidungen wurde seitdem<br />
stark ausgeweitet und auch in der Regel praktiziert.<br />
Der �Europäische Rat zog sich seit 1988 aus der konkretenEntscheidungsfindungzurück,sodassderRat<br />
seine Funktion als oberstes Entscheidungsgremium<br />
der Gemeinschaft ausfüllt. In der EU hat der Rat im<br />
Bereich der ersten �Säule eine dominante Rolle. Zusammen<br />
mit dem EP nimmt er die Entscheidungsbefugnis<br />
wahr. Mit dem Vertrag von Maastricht wurde<br />
die noch in der Einheitlichen Europäischen Akte<br />
festgeschriebene Trennung von EG-Ministerrat und<br />
den Ministertagungen im Rahmen der Außenbeziehungen<br />
aufgehoben. Seitdem ist der Rat auch in der<br />
�Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik als<br />
ausschließliche Entscheidungsinstanz für die allgemeinen<br />
Leitlinien der Weiterentwicklung und in der<br />
intergouvernementalen polizeilichen und justitiellen<br />
Zusammenarbeit in Strafsachen (�PJZS) für die<br />
Koordinierung zuständig (Art. 3 EUV). In den Verträgen<br />
von Amsterdam und Nizza wurden die Aufgabengebiete<br />
weiter ausgedehnt und die Entscheidungsstrukturen<br />
und Entscheidungsmodalitäten revidiert.<br />
627
Rat<br />
2. Arbeitsweise und Befugnisse<br />
2.1 Rechtsgrundlagen. Rechtsgrundlagen sind die<br />
Gründungsverträge der Europäischen Gemeinschaften,<br />
der 1965 unterzeichnete Vertrag zur Einsetzung<br />
eines gemeinsamen Rates, die Änderungsverträge<br />
von 1970 (gemeinsames �Haushaltsverfahren) und<br />
1975(FinanzvorschriftenundErrichtungdes�Rechnungshofs),<br />
die �Einheitliche Europäische Akte von<br />
1986 (Zusammenarbeit der Organe und Beschlussfassungsverfahren),<br />
der Vertrag über die Europäische<br />
Union von 1992 (�Maastrichter Vertrag) und<br />
die Vertragsrevisionen von Amsterdam und Nizza.<br />
2.2 Aufgaben. Nach Art. 2 des Fusionsvertrags dient<br />
der Rat zur formalisierten Mitwirkung der Regierungen<br />
der Mitgliedstaaten der EG. Er erfüllt eine Vermittlungsfunktion<br />
von der Gemeinschaft in die Exekutiven<br />
der Mitgliedstaaten und in die innerstaatlichen<br />
Bürokratien. Der Rat trägt maßgeblich zum Ineinandergreifen<br />
von gemeinschaftlicher und staatlicher<br />
Willensbildung und damit zur Durchsetzbarkeit<br />
gemeinschaftlicherRechtsaktebei.Artikel202EGV<br />
legt die allgemeinen Aufgaben fest: „Zur VerwirklichungderZieleundnachMaßgabediesesVertrags<br />
– sorgt der Rat für die Abstimmung der Wirtschaftspolitik<br />
der Mitgliedstaaten;<br />
– besitzt der Rat eine Entscheidungsbefugnis;<br />
– überträgt der Rat der Kommission in den von ihm<br />
angenommenen Rechtsakten die Befugnisse zur<br />
Durchführung der Vorschriften, die er erlässt. Der<br />
Rat kann bestimmte Modalitäten für die Ausübung<br />
dieser Befugnisse festlegen. Er kann sich in spezifischen<br />
Fällen außerdem vorbehalten, Durchführungsbefugnisseselbstauszuüben.Dieobengenannten<br />
Modalitäten müssen den Grundsätzen und Regeln<br />
entsprechen, die der Rat auf Vorschlag der<br />
Kommission und nach Stellungnahme des EuropäischenParlamentsvorhereinstimmigfestgelegthat.“<br />
2.3 Stellung des Rates gegenüber anderen Organen<br />
der Gemeinschaft. Mit dem Maastrichter Vertrag ist<br />
in Art. 189b EGV (jetzt Art. 251 EGV) die Zusammenarbeit<br />
der Gemeinschaftsorgane neu geregelt<br />
worden. Dieser Artikel räumt dem Europäischen<br />
Parlament (EP) ein Mitentscheidungsrecht ein, das<br />
ein gleichberechtigtes Zusammenwirken von Rat<br />
und Parlament beinhaltet. Zusammen mit dem Parlament<br />
bildet der Rat die �Haushaltsbehörde der Gemeinschaft.<br />
Nach Art. 272 EGV stellt der Rat den<br />
Entwurf des Haushaltsplans mit qualifizierter Mehrheit<br />
auf, den das Parlament ändern bzw. ablehnen<br />
628<br />
kann (�Haushaltsverfahren). Alle bisher im Verfahren<br />
der Zusammenarbeit von Rat und EP angesiedelten<br />
Materien wurden im Vertrag von Amsterdam in<br />
dasMitentscheidungsverfahren(Ausnahme:WWU)<br />
überführt. Das Verhältnis des Rates zur Kommission<br />
ist weiterhin durch das Initiativrecht der Kommissionbestimmt.JedochkannderRatnachArt.208EGV<br />
„die Kommission auffordern, die nach seiner Ansicht<br />
zur Verwirklichung der gemeinsamen Ziele geeigneten<br />
Untersuchungen vorzunehmen und ihm<br />
entsprechende Vorschläge zu unterbreiten“. Der Rat<br />
ist grundsätzlich gehalten, die Befugnis zur Durchführung<br />
der von ihm erlassenen Vorschriften der<br />
Kommission zu übertragen (Art. 202 EGV). Rat und<br />
Kommission sind in vielen Fällen verpflichtet, den<br />
�Wirtschafts- und Sozialausschuss anzuhören. Im<br />
Bereich der zweiten und dritten Säule teilen sich<br />
Kommission und Mitgliedstaaten und mithin auch<br />
der Rat das Initiativrecht (Art. 22, 34 EUV).<br />
Der Rat übt gegenüber der Kommission und dem Europäischen<br />
�Gerichtshof (EuGH) Kontrollbefugnisse<br />
aus. Er beschließt außerdem über die personelle<br />
Zusammensetzung von Gemeinschaftsorganen und<br />
-institutionen (Beratender Ausschuss der EGKS,<br />
Wirtschafts- und Sozialausschuss, Ausschuss der<br />
Regionen) nach Anhörung des EP.<br />
2.4 Organisation. „Der Rat besteht aus je einem Vertreter<br />
jedes Mitgliedstaats auf Ministerebene, der befugt<br />
ist, für die Regierung des Mitgliedstaats verbindlich<br />
zu handeln“ (Art. 203 EGV). Damit können<br />
auch Vertreter subnationaler Körperschaften, also<br />
eines deutschen Bundeslandes, den Mitgliedstaat im<br />
Rat vertreten. Gemäß dem Prinzip der doppelten Legitimation<br />
sind die stimmberechtigten Mitglieder<br />
des Rates indirekt dadurch legitimiert, dass sie der<br />
nationalen Regierung bzw. einer subnationalen Ebene<br />
in föderalen Staaten der Mitgliedstaaten angehören<br />
und dadurch in ihrem politischen System direkt<br />
legitimiert und politisch verantwortlich sind.<br />
Je nach dem zu behandelnden Gegenstand wird der<br />
Rat durch die zuständigen Ressortminister gebildet.<br />
Bei übergreifenden Fragen können auch die Minister<br />
verschiedenerBereichezusammenkommen.DerRat<br />
ist zwar als einheitliches Organ definiert, er tritt aber<br />
in 9 (früher 16) verschiedenen Formationen zusammen.<br />
Am häufigsten tagen die Räte der Außenminister<br />
(„Allgemeine Angelegenheiten“), der Landwirtschafts-<br />
sowie der Wirtschafts- und Finanzminister<br />
(�Ecofin); sie kommen im Durchschnitt einmal pro
Monat zusammen. An Bedeutung hat seit dem MaastrichterVertragauchderRatderInnen-undJustizminister<br />
gewonnen, zu dem seit Einrichtung der �Europäischen<br />
Sicherheits- und Verteidigungspolitik<br />
Ende der 1990er Jahre auch bei Bedarf die Verteidigungsminister<br />
hinzugezogen werden. Eine besondere<br />
Stellung nimmt die �„Eurogruppe“ ein, der die<br />
Vertreter der zwölf Staaten der Euro-Zone angehören<br />
und der jeweils vor dem Ecofin-Rat tagt.<br />
Der Vorsitz im Ministerrat (�Präsidentschaft des Rates<br />
der EU) wechselt – gleichzeitig mit demjenigen<br />
im Europäischen Rat und in der Gemeinsamen Außen-<br />
und Sicherheitspolitik (GASP) – halbjährlich<br />
nach einem festgelegten Turnus. Der Rat hat seinen<br />
Sitz in Brüssel und tagt nach einer Entscheidung des<br />
Europäischen Rates vom Dezember 1992 während<br />
der Monate April, Juni und Oktober in Luxemburg.<br />
Der Vorsitzende des Rates bereitet die Sitzungen vor<br />
und leitet sie. Er wird dabei von einem Generalsekretär<br />
unterstützt. Die Sitzungen sind „nicht öffentlich,<br />
es sei denn, dass der Rat einstimmig anders beschließt“<br />
(Geschäftsordnung von 1987). Das Generalsekretariatmitetwa2500Bedienstetenunterstützt<br />
die Tätigkeit der etwa 300 Arbeitsgruppen (zusammengesetzt<br />
aus nationalen Beamten der Mitgliedstaaten),<br />
des �Ausschusses der Ständigen Vertreter<br />
und des Rates. Auf der Ebene der Arbeitsgruppen,<br />
der ersten Stufe der Willensbildung im Rat, werden<br />
technischeAspektedervonderKommissionerarbeiteten<br />
Vorschläge diskutiert und bereits wesentliche<br />
Elemente des späteren Ratsbeschlusses erarbeitet.<br />
Der Ausschuss der Ständigen Vertreter (AStV) – in<br />
der französischen Terminologie COREPER – bildet<br />
die zweite Ebene des Willensbildungsprozesses im<br />
Rat. Er hat die Aufgabe, „die Arbeiten des Rates vorzubereiten<br />
und die ihm vom Rat übertragenen Aufträge<br />
auszuführen“ (Art. 4 Fusionsvertrag). Er klärt<br />
noch offene Fragen und Differenzen zwischen den<br />
Mitgliedstaaten und versucht eine einvernehmliche<br />
Beschlusslage herzustellen, die dann von dem Rat<br />
verabschiedet wird. Der Ausschuss hat durch den<br />
Maastrichter Vertrag dadurch an Bedeutung gewonnen,<br />
dass er in verstärktem Maße die Aufgabe wahrnehmen<br />
soll, zur Kohärenz und Kontinuität der verschiedenen<br />
Politikbereiche in den 3 Säulen beizutragen.<br />
Mit dem Amsterdamer Vertrag hat der AStV das<br />
Recht erhalten, in bestimmten Fällen, die in der Geschäftsordnung<br />
des Rates festgelegt sind, Verfahrensbeschlüsse<br />
zu fassen.<br />
Rat<br />
An den Sitzungen des Rates und seiner nachgeordneten<br />
Gremien nehmen Vertreter der Kommission teil,<br />
die das Recht haben, den Vorschlag der Kommission<br />
zu ändern oder zurückzuziehen. Im Bereich der Gemeinschaftspolitiken<br />
unterliegt der Rat nach Art.<br />
230 und 232 EGV der Rechtsprechung der Europäischen<br />
Gerichtshofes, der Ratsentscheidungen für<br />
nichtig erklären oder den Rat wegen Untätigkeit verurteilen<br />
kann.<br />
2.5 Beschlussfassungsverfahren. Die Beschlussfassung<br />
erfolgt, soweit nichts anderes bestimmt ist, mit<br />
einfacher Stimmenmehrheit (Art. 205 Abs. 1 EGV).<br />
Jedoch sind diese Fälle selten und beschränken sich<br />
auf Verfahrensfragen. Die Regel sind Abstimmungen<br />
mit �qualifizierter Mehrheit und Einstimmigkeit<br />
in den Bereichen, die für einzelne Mitgliedstaaten<br />
besonders wichtig sind. Der Rat entscheidet einstimmig<br />
nach Anhörung der Kommission und Zustimmung<br />
des EP über den �Beitritt neuer Mitglieder<br />
(Art. 49 EUV) und Vertragsänderungen. In diesen<br />
Fällen ist auch eine Ratifizierung durch die Mitgliedstaaten<br />
erforderlich. Einstimmig entscheidet der Rat<br />
über steuerliche Vorschriften (Art. 93 EGV) und in<br />
Bereichen der GASP (Art. 23 EUV).<br />
Mit dem Amsterdamer Vertrag wurden 25 neue Fälle<br />
(einschl. der Mitentscheidungsverfahren in Zusammenarbeit<br />
mit dem EP) aufgenommen, in denen der<br />
Rat mehrheitlich entscheidet. Insgesamt entscheidet<br />
der Rat in 105 Fällen mit qualifizierter Mehrheit<br />
gem. Art. 205 EGV.<br />
Bei Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit werden<br />
die Stimmen der Mitgliedstaaten gewichtet.<br />
Nach dem Vertrag von Nizza ist ab 2004 eine Mehrheit<br />
der Mitgliedstaaten (13 von 25 Staaten) notwendig.<br />
Ein zweites Kriterium besteht in einem bestimmten<br />
Prozentsatz von gewichteten Stimmen;<br />
hier haben die bevölkerungsreichsten Mitgliedstaaten<br />
seit Nizza erheblich an Gewicht gewonnen. Für<br />
die Verabschiedung eines Rechtsaktes sind über 70<br />
Prozent der gewichteten Stimmen notwendig. Außerdem<br />
kann ein Mitglied des Rates beantragen, dass<br />
bei Beschlussfassung des Rates mit qualifizierter<br />
Mehrheit überprüft wird, ob diese Mehrheit mindestens<br />
62 Prozent der Gesamtbevölkerung der Union<br />
umfasst. In der EU mit 25 Mitgliedstaaten ist angesichts<br />
dieser drei Schwellen bei qualifizierten Mehrheitsentscheidungen<br />
eine zunehmende Handlungsunfähigkeit<br />
des Rates zu erwarten.<br />
Der �Verfassungsvertrag 2004 sieht deshalb andere<br />
629
Rat der Gemeinden und Regionen<br />
Schwellen vor. Nach Art. I-25 VVE gilt als qualifizierte<br />
Mehrheit „eine Mehrheit von mindestens 55 %<br />
der Mitglieder des Rates, gebildet aus mindestens 15<br />
Mitgliedern, sofern die von diesen vertretenen Mitgliedstaaten<br />
zusammen mindestens 65 % der Bevölkerung<br />
der Union ausmachen. Für eine Sperrminorität<br />
sind mindestens vier Mitglieder des Rates erforderlich,<br />
andernfalls gilt die qualifizierte Mehrheit als<br />
erreicht“. U. M.<br />
Literatur:<br />
Wessels, W.: Das politische System der EU. In: Weidenfeld, W.<br />
(Hg.), <strong>Europa</strong>handbuch, Bd. 1. Gütersloh 2004 3 ,S.83–108<br />
Hayes-Renshaw, F./Wallace, H.: The Council of Ministers.<br />
London 1997<br />
Sabsoud, J. P.: Der Rat der EG – Einführung in seine Struktur<br />
und seine Arbeitsweise. Luxemburg 1992<br />
Westlake, M.: The Coucil of the European Union,<br />
London 1995<br />
Internet: http://ue.eu.int<br />
www.europa.eu.int/institutions/council/index_de.htm<br />
Rat der Gemeinden und Regionen <strong>Europa</strong>s<br />
(RGRE, Conseil des Communes et Regions d’Europe,<br />
CCRE, Council of European Municipalities<br />
and Regions, CEMR). 1951 von Bürgermeistern aus<br />
Deutschland und Frankreich als „Rat der Gemeinden<br />
<strong>Europa</strong>s“ in Genf gegründet, seit 15. 10. 1984 unter<br />
heutigem Namen, Sitz in Paris, seit 1995 Büro in<br />
Brüssel. In der deutschen Sektion (seit 1955) sind rd.<br />
800 deutsche Städte, Gemeinden und Landkreise zusammengeschlossen.<br />
Die kommunalen Spitzenverbände<br />
auf Bundesebene (Deutscher Städtetag, Deutscher<br />
Städte- und Gemeindebund und Deutscher<br />
Landkreistag) sind ebenfalls Mitglied der deutschen<br />
Sektion, deren Geschäftsstelle sich beim Deutschen<br />
Städtetag in Köln befindet.<br />
Der RGRE ist eine Organisation von kommunalen<br />
und regionalen Gebietskörperschaften in <strong>Europa</strong>; in<br />
ihm sind 44 nationale Kommunalverbände aus 31<br />
Ländern zusammengeschlossen, die rd. 100 000 Gemeinden<br />
vertreten. Organe: Politisches Komitee,<br />
Exekutivbüro und Delegiertenversammlung. Der<br />
RGRE ist die europäische Sektion der UCLG (United<br />
Cities and Local Governments), vormals IULA<br />
(International Union of Local Authorities).<br />
Auftrag des RGRE ist die Vertretung kommunaler<br />
Interessen in <strong>Europa</strong> (z. B. im Umweltschutz, Finanzwesen,<br />
Verkehr) als beratendes Gremium bei<br />
der EU, die aktive Teilnahme der kommunalen und<br />
regionalen Gebietskörperschaften an der europäi-<br />
630<br />
schen Integration, das Eintreten für die kommunale<br />
SelbstverwaltungundfürdenErhaltdezentralerVerwaltungsstrukturen,<br />
die Förderung des interregionalen<br />
Erfahrungsaustausches zwischen lokalen und regionalen<br />
Gebietskörperschaften in <strong>Europa</strong> (kommunalrelevante<br />
europäische Probleme), die Vermittlung<br />
von Gemeindepartnerschaften (26 000 Partnerschaften<br />
in <strong>Europa</strong>), die Organisation internationaler<br />
Tagungen und Kongresse (z. B. Europäischer Gemeindetag<br />
alle 3 Jahre, Europäischer Partnerschaftskongress).<br />
Der 22. Europäische Gemeindetag (<strong>Europa</strong>tagdesRGRE)fand2003inPosenstatt,der23.Europäische<br />
Gemeindetag wird 2006 in Innsbruck veranstaltet.<br />
Auf dem ersten Europäischen Gemeindetag 1953 in<br />
Versailles verabschiedete der Rat die „Europäische<br />
ChartaderGemeindefreiheiten“. W. M.<br />
Anschrift der Deutschen Sektion:<br />
Lindenallee 13 – 17, 50968 Köln<br />
Internet: www.rgre.de; www.ccre.org<br />
Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RgW oder<br />
COMECON = Council for Mutual Economic Assistance),<br />
wurde als Gegenstück zur OEEC (Vorläuferin<br />
der �Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit<br />
und Entwicklung, OECD) am 25. 1. 1949<br />
in Moskau gegründet. Gründungsmitglieder: die<br />
UdSSR, Polen, Tschechoslowakei, Ungarn, Bulgarien,<br />
Rumänien. Albanien trat 1949 bei (bis 1961),<br />
die DDR 1950 (bis 1990), die Mongolische Volksrepublik<br />
1962, Kuba 1972, Vietnam 1978. 1991 löste<br />
sich der RgW auf.<br />
Der RgW sollte sich auch als Gegenmodell zur EWG<br />
entwickeln. Er wurde von der Sowjetunion dominiert;<br />
den Mitgliedstaaten waren einzelne Produktionsbereiche<br />
schwerpunktmäßig zugewiesen (was<br />
ihre Abhängigkeit untereinander verstärkte). Eine<br />
Zusammenarbeit zwischen RgW und EWG wurde<br />
vonöstlicherSeiteausideologischenGründen(kommunistische<br />
Zentralverwaltungswirtschaft versus<br />
kapitalistische Marktwirtschaft) Jahrzehnte hindurch<br />
verhindert, bis am 25. 6. 1988 eine „Gemeinsame<br />
Erklärung“ zwischen den beiden europäischen<br />
Wirtschaftsorganisationen in Luxemburg unterzeichnet<br />
werden konnte. In ihr wurde die Grundlage<br />
für die Zusammenarbeit auf den Gebieten Wissenschaft,<br />
Technologie und Umwelt geregelt und der<br />
Rahmen für den Ausbau bilateraler Beziehungen der<br />
EG-StaatenzudenRgW-Ländernabgesteckt. W M.
Ratifizierung (Ratifikation) ist das in den Verfassungen<br />
der Staaten festgelegte Verfahren, um völkerrechtliche<br />
Verträge nach ihrer Unterzeichnung<br />
durch die Regierungen wirksam werden zu lassen.<br />
Die Ratifikation besteht in der Regel aus der Zustimmung<br />
des Gesetzgebers (Parlaments) in Form eines<br />
Gesetzes und der Unterschrift des Staatsoberhaupts<br />
(eigentlicheRatifikation).VerfassungenkönnenRatifikationen<br />
in bestimmten Fällen auch von einem<br />
Referendum des Volkes abhängig machen.<br />
Völkerrechtliche Verträge enthalten Klauseln, die<br />
besagen, dass der Vertrag der Ratifikation bedarf,<br />
und wann er nach der Ratifikation in Kraft tritt. Die<br />
ratifizierten Urkunden werden bei bilateralen Verträgenausgetauscht,beimultilateralenVerträgenbei<br />
einem der Vertragspartner oder beim Generalsekretär<br />
der UN hinterlegt.<br />
Die Gründungsverträge der EU und ihre Änderungsverträge<br />
bedürfen als völkerrechtliche Verträge der<br />
Ratifikation in allen Mitgliedstaaten. Die ratifizierten<br />
Urkunden werden bei der Regierung in Rom hinterlegt.<br />
Ratifizierung des Verfassungsvertrags. Der<br />
Vertrag über eine Verfassung für <strong>Europa</strong> (�Verfassungsvertrag<br />
2004) muss als Änderung des EU-<br />
Vertrags gem. Art. 48 EUV von allen Mitgliedstaaten<br />
nach deren verfassungsrechtlichen Vorschriften<br />
ratifiziert werden, um in Kraft zu treten. Artikel<br />
IV-447 Abs. 2 VVE legt fest, dass der Verfassungsvertragam1.11.2006inKrafttritt,sofernalleRatifikationsurkunden<br />
hinterlegt worden sind, andernfalls<br />
am ersten Tag des zweiten auf die Hinterlegung der<br />
letzten Ratifikationsurkunde folgenden Monats.<br />
Die verfassungsrechtlichen Vorschriften der EU-<br />
Staaten sehen für die Ratifizierung unterschiedliche<br />
Verfahren vor. In 15 Staaten beschließt das Parlament<br />
ohne weiteres über die Annahme des Verfassungsvertrags,<br />
in 10 Staaten geht dem ParlamentsbeschlusseinReferendumvoraus.EskannvonderVerfassung<br />
zwingend vorgeschrieben und bindend sein<br />
(Dänemark, Irland), es kann fakultativ und bindend<br />
sein (Polen, Tschechische Republik), fakultativ und<br />
nur unter bestimmten Bedingungen (hohe Wahlbeteiligung)<br />
bindend sein (Portugal) oder nur konsultativ<br />
sein, wobei die Regierung erklären kann, ob sie<br />
sich an das Votum halten werde oder nicht (Frankreich,<br />
Großbritannien, Luxemburg, Niederlande,<br />
Spanien).<br />
Ratifizierung<br />
Stand der Ratifizierung am 6. 6. 2005: Insgesamt 11<br />
Staaten haben den europäischen Verfassungsvertrag<br />
ratifiziert, in zwei Staaten ist die Gesetzgebung weitgehend<br />
abgeschlossen (Belgien, Deutschland), in<br />
zwei Staaten ist die Ratifizierung vorläufig gescheitert(Frankreich,Niederlande),in10Staatenstehtein<br />
Beschluss noch aus. Im Einzelnen:<br />
Belgien: Die Abgeordnetenkammer hat am 19. 5.<br />
2005 (118 : 18 : 1) und der Senat am 28. 4. 2005 (54 :<br />
9 : 1) für die europäische Verfassung gestimmt. Die<br />
zur Ratifizierung notwendige Zustimmung der Regionalparlamente<br />
(Brüssel, Flandern, Wallonien)<br />
und der Parlamente der Sprachgemeinschaften<br />
(Deutsch, Französisch) ist zum Teil erfolgt (Brüssel<br />
17. 6. 2005, Wallonien 29. 6. 2005, deutsche Sprachgemeinschaft20.6.2005).FüreinvonderRegierung<br />
vorgesehenes (rechtlich nicht bindendes) Referendum<br />
kam die für eine Verfassungsänderung nötige<br />
Zweidrittelmehrheit im Parlament nicht zustande.<br />
Dänemark:ZurRatifizierungistgem.Landesverfassung<br />
ein bindendes Referendum vorgeschrieben.<br />
Die ursprünglich für den 27. 9. 2005 vorgesehene<br />
Volksabstimmung wurde nach den negativen Referenden<br />
in Frankreich (29. 5. 2005) und den Niederlanden<br />
(1. 6. 2005) auf unbestimmte Zeit verschoben.<br />
Deutschland: Der Deutsche Bundestag hat am 12. 5.<br />
2005(569:23:2)undderDeutscheBundesratam27.<br />
5. 2005 (66:0:3)fürdieVerfassung gestimmt. Die<br />
Ratifizierung (Unterschrift des Bundespräsidenten)<br />
steht noch aus, weil ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts<br />
über eine Verfassungsbeschwerde eines<br />
CSU-Bundestagsabgeordneten abgewartet werden<br />
soll.<br />
Estland: Ratifizierung durch Parlamentsbeschluss.<br />
Termin für Sommer oder Herbst 2005 vorgesehen,<br />
auf unbestimmte Zeit verschoben.<br />
Finnland:RatifizierungdurchParlamentsbeschluss,<br />
vorgesehen für Frühjahr 2006, auf unbestimmte Zeit<br />
verschoben.<br />
Frankreich: Nach einer Verfassungsänderung konnte<br />
ein (fakultatives) Referendum abgehalten werden,<br />
bei dem am 29. Mai 2005 54,9 % der abgegebenen<br />
Stimmen mit Nein votierten. Da das Referendum<br />
nicht bindend ist, könnte der Ratifizierungsprozess<br />
fortgesetzt werden. Die Regierung will sich aber an<br />
das Votum der Wähler halten.<br />
Griechenland: Das Parlament hat den Verfassungsvertrag<br />
am 19. 4. 2005 gebilligt (268 : 17 : 15).<br />
631
Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts<br />
Großbritannien:DasUnterhaushatam9.2.2005der<br />
Verfassung zugestimmt (345 : 130 : 0), das Oberhaus<br />
hat noch nicht abgestimmt. Die britische Regierung<br />
hat zusätzlich ein Referendum angekündigt, das in<br />
der ersten Jahreshälfte 2006 abgehalten werden sollte.<br />
Nach den Referenden in Frankreich und den Niederlanden<br />
wurde der Termin auf unbestimmte Zeit<br />
verschoben.<br />
Irland: Für die Ratifizierung schreibt die Landesverfassung<br />
ein bindendes Referendum vor, das für Ende<br />
2005/Anfang 2006 vorgesehen ist. Zusätzlich ist die<br />
Entscheidung des Parlaments geplant.<br />
Italien: Die Landesverfassung sieht für internationale<br />
Verträge keine Volksabstimmung vor. Das Abgeordnetenhaus<br />
hat dem Verfassungsvertrag am 25. 1.<br />
2005 zugestimmt (436 : 28 : 5), der Senat am 6. 4.<br />
2005 (214 : 16 : 0).<br />
Lettland:DieeuropäischeVerfassungwurdeam2.6.<br />
2005 vom Parlament gebilligt (71 :5:6).<br />
Litauen: Das nach der Landesverfassung mögliche<br />
Referendum wurde nicht angesetzt. Das Parlament<br />
hat dem Verfassungsvertrag am 11. 11. 2004 zugestimmt<br />
(84 :4:3).Litauen war damit das erste<br />
EU-Land, das die europäische Verfassung ratifiziert<br />
hat.<br />
Luxemburg: Fakultative Referenden sind möglich.<br />
Ein Referendum über den Verfassungsvertrag wurde<br />
am 10. Juli 2005 abgehalten und fiel mit 56,5 %<br />
Ja-Stimmen positiv aus. Das Parlament hat in einer<br />
ersten Abstimmung am 28. 6. 2005 zugestimmt, es<br />
wirdetwa3MonatenachdemReferenduminzweiter<br />
Abstimmung endgültig die Ratifizierung beschließen.<br />
Malta: Das Parlament hat am 6. Juli 2005 die europäische<br />
Verfassung einstimmig gebilligt.<br />
Niederlande: In einem konsultativen Referendum<br />
am 1. Juni 2005 stimmten 61,6 % mit Nein. Die<br />
Wahlbeteiligung lag bei mehr als 60 %. Die Regierung<br />
hatte angekündigt, sich bei einer Wahlbeteiligung<br />
von mindestens 30 % an das Votum zu halten,<br />
zog ihren Gesetzentwurf zur Ratifizierung zurück<br />
und hat den Parlamentsbeschluss auf unbestimmte<br />
Zeit verschoben.<br />
Österreich: Der Nationalrat stimmte am 11. 5. 2005<br />
für den Verfassungsvertrag (182:1:0),derBundesrat<br />
am 25. 5. 2005 ebenfalls (59 :3:0).<br />
Polen:ZurRatifizierungderEU-Verfassungistnach<br />
Landesverfassung ein Referendum möglich, das<br />
dann aber bindend ist. Das Referendum wird stattfin-<br />
632<br />
den, war auf 25. 9. 2005 vorgesehen und ist auf unbestimmte<br />
Zeit verschoben worden.<br />
Portugal: Ein fakultatives Referendum ist bei einer<br />
Wahlbeteiligung von mehr als 50 % bindend. Es war<br />
ursprünglich für April 2005 vorgesehen, wurde dann<br />
auf Oktober 2005 und schließlich auf unbestimmte<br />
Zeit verschoben.<br />
Schweden: Ein fakultatives und nicht bindendes Referendum<br />
ist möglich, wenn das Parlament es beschließt.<br />
Die Regierung lehnt eine Volksabstimmung<br />
ab. Die Ratifizierung erfolgt durch Parlamentsbeschluss<br />
und war für Dezember 2005 vorgesehen,<br />
ist aber auf unbestimmte Zeit verschoben<br />
worden.<br />
Slowakei: Das Parlament hat dem Verfassungsvertrag<br />
am 11. 5. 2005 zugestimmt (116 : 27 : 4). Das<br />
Verfassungsgericht in Ko�ice hat die Ratifizierung<br />
am 15. 7. 2005 vorläufig ausgesetzt, um zu klären, ob<br />
zur Annahme des Verfassungsvertrags eine Volksabstimmung<br />
durchgeführt werden muss.<br />
Slowenien: Das Parlament hat dem Verfassungsvertrag<br />
am 1. 2. 2005 zugestimmt (90 :4:7).<br />
Spanien: Die Spanier stimmten am 20. 2. 2005 in einem<br />
nicht bindenden Referendum mit 77,3 % für den<br />
Verfassungsvertrag. Das Abgeordnetenhaus hat dem<br />
Gesetz zur Ratifizierung am 28. 4. 2005 zugestimmt<br />
(311:19:0),derSenatam18.5.2005(225:6:1).<br />
Tschechische Republik: Durch Gesetz kann ein bindendes<br />
Referendum abgehalten werden, eine entsprechende<br />
Initiative liegt noch nicht vor. Ein Referendum<br />
wird aber sehr wahrscheinlich stattfinden,<br />
voraussichtlich im Juni 2006, möglicherweise aber<br />
erst Ende 2006.<br />
Ungarn: Als zweites EU-Land nach Lettland hat Ungarn<br />
die europäische Verfassung ratifiziert. Das Parlament<br />
stimmte dem Gesetz am 20. 12. 2004 mit 322 :<br />
12 Stimmen bei 8 Enthaltungen zu.<br />
Zypern: Das Parlament hat den Verfassungsvertrag<br />
am 30. Juni 2005 zugestimmt (30 : 19 : 7).<br />
Raum der Freiheit, der Sicherheit und des<br />
Rechts<br />
1. Begriff und Genese. Artikel 61 EGV umreißt das<br />
Programm für den „Aufbau eines Raums der Freiheit,<br />
der Sicherheit und des Rechts.“ Die Vorschrift<br />
geht auf den �Vertrag von Amsterdam zurück. Sie<br />
proklamiert als Ziele der Gemeinschaft: die Vollendung<br />
des Binnenmarktes durch freien Personenverkehr<br />
(lit. a), gemeinsame Standards in der Asyl-, Ein-
wanderungs- und Ausländerpolitik (lit. b), die Erleichterung<br />
des grenzüberschreitenden Rechtsschutzes<br />
(lit. c), die Zusammenarbeit der nationalen Verwaltungen<br />
(lit. d), schließlich ein hohes Maß an Sicherheit<br />
für die Bürger in der Union (lit. e). Das Programm<br />
des Art. 61 EGV weist über die GemeinschaftspolitikhinausaufdenGesamtzusammenhang<br />
der europäischen Rechts- und Innenpolitik. Diese<br />
umfasst zusätzlich die Verhütung und Bekämpfung<br />
der organisierten Kriminalität, des Terrorismus und<br />
des illegalen Drogenhandels nach Art. 31 lit. e EUV.<br />
Schließlich gehört dazu, dass die Mitgliedstaaten bei<br />
der Strafverfolgung zusammenarbeiten sowie ihre<br />
Straf- und Strafverfahrensvorschriften aufeinander<br />
abstellen (Art. 61 lit. e EGV).<br />
Mit dem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des<br />
Rechts (RFSR) fasste der Vertrag von Amsterdam<br />
nach der Wirtschafts- und Währungsunion eine weitere<br />
spektakuläre Vertiefung der europäischen Integration<br />
ins Auge. Er löste damit ein Versprechen des<br />
Binnenmarktesein:denfreienPersonenverkehr.Auf<br />
Personenkontrollen an den Binnengrenzen konnten<br />
die Mitgliedstaaten solange nicht vollständig verzichten,<br />
als Ausgleich geschaffen wurde durch eine<br />
gemeinsame Visum-, Asyl- und Einwanderungspolitik<br />
sowie durch eine verbesserte Zusammenarbeit<br />
der Strafverfolgungsbehörden. In besonderer Weise<br />
hob die Einführung der �Unionsbürgerschaft das<br />
Recht hervor, sich innerhalb der Union frei zu bewegen<br />
und aufzuhalten. Zur Verwirklichung dieses<br />
Rechts bedurfte es indes weiterer Schritte. Insbesondere<br />
erschien es notwendig, durch zivilrechtliche<br />
und zivilprozessuale Maßnahmen die Voraussetzungen<br />
zu schaffen, damit die Bürger Vertrauen in den<br />
grenzüberschreitenden Rechtsverkehr fassen.<br />
2. Aufgaben und Probleme. Nachdem die frühere<br />
„Zusammenarbeit in den Bereichen �Justiz und Inneres“<br />
(ZBJI) nach den Verfahren des EU-Vertrags<br />
nur dürftige Ergebnisse hervorgebracht hatte, übertrug<br />
der Vertrag von Amsterdam ihre Gegenstände<br />
zum großen Teil der Europäischen Gemeinschaft.<br />
Diese sollte mit ihren bewährten Rechtsetzungsinstrumenten<br />
binnen fünf Jahren das anspruchsvolle<br />
rechtspolitische Programm verwirklichen. Allein<br />
die „polizeiliche und justitielle Zusammenarbeit in<br />
Strafsachen“ (PJZS) ist in Titel VI EUV verblieben,<br />
in der sog. dritten �Säule der Union, und vollzieht<br />
sich weiterhin im Wege intergouvernementaler Vereinbarungen<br />
nach den dortigen Maßgaben.<br />
Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts<br />
Der Aufbau eines europäischen Raumes der Freiheit,<br />
der Sicherheit und des Rechts zeitigte insbes. auf<br />
dem Gebiet des Zivilverfahrensrechts erfreuliche<br />
Fortschritte. In anderen Bereichen, wie etwa der<br />
Asyl- und Einwanderungspolitik, gerieten die VorhabendagegenerheblichinVerzug.Nichtnursoweit<br />
die Rechtsetzung noch intergouvernementalen Prozeduren<br />
unterliegt, sondern auch in den meisten<br />
„vergemeinschafteten“ Bereichen regiert vorläufig<br />
noch das Einstimmigkeitsprinzip (Art. 67 EGV). Initiative<br />
und Elan der Kommission wie einiger Mitgliedstaaten<br />
kommen dadurch nicht selten zum Erliegen.<br />
Außerdem unterwirft der Vertrag von Amsterdam<br />
die rechtspolitischen Maßnahmen der Gemeinschaft<br />
ungewöhnlich vielfältigen Kautelen, Bedingungen<br />
und Ausnahmeregelungen. Einige Mitgliedstaaten<br />
nimmt er von einer Beteiligung daran<br />
ausdrücklich aus: Dänemark bleibt von Vertrags wegen<br />
außerhalb des Raums der Freiheit, der Sicherheit<br />
und des Rechts. Die britische und die irische Regierung<br />
können jeweils von Fall zu Fall entscheiden, ob<br />
sie sich an einer Maßnahme nach den Art. 61 ff. EGV<br />
beteiligen oder nicht.<br />
Die Europäisierung sensibler rechts- und innenpolitischer<br />
Fragen stößt in einigen Mitgliedstaaten auf<br />
entschiedenen Widerspruch. Nicht zuletzt das<br />
rechtspolitische Integrationsprogramm, welches der<br />
�Verfassungsvertrag 2004 aufnahm und weiterentwickelte,<br />
bringt die öffentliche Meinung in einigen<br />
Mitgliedstaaten gegen die Europäische Verfassung<br />
auf und gefährdet ihre Ratifizierung. Die hier vorgezeichneten<br />
Schritte verstehen sich nicht mehr von<br />
selbst, folgen nicht mehr ausschließlich der Logik<br />
des Binnenmarktes. Sie bedürfen im Gegenteil besonderer<br />
Rechtfertigung, und aus Sicht einiger Mitgliedstaaten<br />
muss sich erst noch zeigen, ob die zu erwartenden<br />
Vorteile den Verlust an nationaler Souveränität<br />
aufwiegen.<br />
3. Das Tampere-Programm. Der Europäische Rat<br />
hat der Einrichtung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit<br />
und des Rechts von Anfang an große Bedeutung<br />
beigemessen. Im Oktober 1999, ein halbes Jahr<br />
nachdem der Vertrag von Amsterdam der Gemeinschaft<br />
die neuen Zuständigkeiten übertragen hat, traf<br />
er sich zu einer Sondertagung in Tampere (Finnland).<br />
Die Staats- und Regierungschefs verständigten<br />
sich auf das sog. Tampere-Programm mit politischen<br />
Leitlinien und konkreten Zielen, an denen sich<br />
der Aufbau des Raums der Freiheit, der Sicherheit<br />
633
Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts<br />
und des Rechts zu orientieren habe. Zur Verwirklichung<br />
des Programms stellten sie Zeitpläne auf und<br />
verpflichteten die Kommission, halbjährlich über<br />
die Fortschritte zu berichten. Fünf Jahre danach zog<br />
der Europäische Rat Bilanz. Dabei trat zu Tage, dass<br />
trotz Fortschritten auf allen Gebieten die EuropäischeUnionweithinterdengestecktenZielenzurückblieb.<br />
Zwar fehlte es nicht an Initiativen der Kommission<br />
und einiger Mitgliedstaaten. Doch ließ sich<br />
bei der Umsetzung der Tampere-Leitlinien durch<br />
VerordnungenundRichtlinienhäufignichtdieerforderliche<br />
Einstimmigkeit im Rat erzielen. Zahlreiche<br />
Rechtsetzungsverfahren gerieten dadurch ins Stocken.<br />
Indes stiegen die Erwartungen an die europäische Sicherheitspolitik<br />
nach den Terroranschlägen vom 11.<br />
9. 2001 in den Vereinigten Staaten und vom 11. 3.<br />
2004 in Madrid. Außerdem verlangten illegale Einwanderung<br />
sowie grenzüberschreitende Verbrecherbanden<br />
immer dringender europäische Reaktionen.<br />
4. Das Haager Programm. Der Europäische Rat traf<br />
sich darum im November 2004 erneut zu einer Sondertagung<br />
in Den Haag. Er nahm ein neues Mehrjahresprogramm<br />
an: das Haager Programm zur Stärkung<br />
von Freiheit, Sicherheit und Recht in der Europäischen<br />
Union. Dabei gehen die Staats- und RegierungschefsbereitsvondemKompetenzzuwachsaus,<br />
den die künftige Europäische Verfassung vorsieht.<br />
Wieder legten sie Leitlinien fest, erteilten Arbeitsaufträge<br />
an Rat und Kommission, setzten Fristen und<br />
verlangten regelmäßige Fortschrittsberichte.<br />
5. Gegenwärtiger Stand. Der Raum der Freiheit, der<br />
Sicherheit und des Rechts gleicht derzeit einer Baustelle.<br />
Wenige abgeschlossene Projekte ragen hervor<br />
unter einer Vielzahl von begonnenen Vorhaben, die<br />
sich in ganz unterschiedlichen Entwicklungsstadien<br />
befinden, und Brachflächen, für die der Bauherr gerade<br />
erst Planungsaufträge erteilt hat. Im Folgenden<br />
soll ein kurzer Überblick über die wichtigsten Arbeiten<br />
und Planungen erfolgen.<br />
5.1 Visum und Grenzkontrollen. Über den Abbau der<br />
Kontrollen an den Binnengrenzen und eine gemeinsame<br />
Visumpolitik haben sich die meisten Mitgliedstaaten<br />
bereits in den �Schengener Übereinkommen<br />
verständigt. Die Regierungskonferenz von Amsterdam<br />
integrierte den Normenbestand dieser Übereinkommen<br />
in das EU-Recht. Er bildet die Grundlage,<br />
auf der die Europäische Gemeinschaft ihre Visums-<br />
634<br />
und Grenzpolitik fortentwickeln kann. Indes ist die<br />
Gemeinschaft bislang kaum über den Schengener<br />
Normenbestand hinausgekommen. Eine Verordnung<br />
des Rates hat die einheitliche Schengener Visamarke<br />
an neuere Sicherheitsanforderungen angepasst.<br />
Im Mai 2005 hat die Europäische Agentur für<br />
dieoperativeZusammenarbeitandenAußengrenzen<br />
in Warschau ihre Arbeit aufgenommen. Sie wird die<br />
nationalen Grenzbehörden mit Risikoanalysen unterstützen<br />
(�Außengrenzen). Darüber hinaus zieht<br />
das Haager Programm eine Europäische Grenzschutztruppe<br />
in Erwägung. Schließlich ist geplant,<br />
ab 2007, wenn das neue Schengener Informationssystem(SISII)zumEinsatzkommtundauchdieneuen<br />
Mitgliedstaaten erfasst, die Kontrollen an allen<br />
Binnengrenzen der EU abzuschaffen.<br />
5.2AsylundEinwanderung.NachlangwierigenVerhandlungen<br />
nahm der Rat am 27. 1. 2003 eine Richtlinie<br />
an, die Mindestnormen für die Aufnahme von<br />
Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten festlegte (RL<br />
2003/9, ABl. L 31/2003). Die Richtlinie zielt darauf,<br />
europaweit einen menschenwürdigen Lebensstandard<br />
für Asylbewerber sicherzustellen. Am 18. 2.<br />
2003 verabschiedete der Rat eine Verordnung, die<br />
festlegt, welcher Mitgliedstaat für die Prüfung eines<br />
Asylantrags zuständig ist (VO 343/2003, ABl. L<br />
50/2003). Seit 15. 1. 2003 ist EURODAC im Einsatz,<br />
ein unionsweites elektronisches System zur Identifizierung<br />
der Fingerabdrücke von Asylbewerbern.<br />
Andere Projekte hingegen kommen nicht voran.<br />
Schon seit September 2000 erörtert der Rat ohne Ergebnis<br />
etwa einen Richtlinienvorschlag der Kommission<br />
über Mindestnormen für die Verfahren zur<br />
Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Nur wenige<br />
Erfolge sind bislang in der �Einwanderungspolitikzuverzeichnen.UnterEinwanderungverstehtdasGemeinschaftsrechtdieEinreiseindieUnionfürlänger<br />
als drei Monate.<br />
5.3 Justitielle Zusammenarbeit in Zivilsachen. Der<br />
Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts<br />
zielt insbes. auf zivilprozessuale Regelungen: Am 1.<br />
3. 2002 trat die Europäische �Gerichtsstands- und<br />
Vollstreckungsverordnung in Kraft (VO 44/ 2001).<br />
Sie regelt bei Streitfällen mit Auslandsberührung,<br />
welche nationale Gerichtsbarkeit zuständig ist und<br />
unter welchen Bedingungen eine Entscheidung aus<br />
einem anderen Mitgliedstaat zu vollstrecken ist. Die<br />
Europäische Gerichtsstands- und Vollstreckungsverordnung<br />
in Ehesachen und Verfahren betreffend
die elterliche Verantwortung (VO 1347/ 2000, ABl.<br />
L 160/2000) trifft seit 1. 3. 2005 vergleichbare Reglungen<br />
für Ehe- und Familiensachen. Schon seit 29.<br />
5. 2001 in Kraft ist die Europäische Zustellungsverordnung<br />
(VO 1348/2000, ABl. L 160/ 2000), die die<br />
grenzüberschreitende Zustellung gerichtlicher<br />
Schriftstücke gegenüber früheren völkerrechtlichen<br />
Abkommen beschleunigen und vereinfachen soll.<br />
Die Europäische Beweisaufnahmeverordnung (VO<br />
1206/2001, ABl. L 174/2001) vom 28. 5. 2001 bietet<br />
Erleichterungen für die Vernehmung von Zeugen<br />
und für andere Beweisaufnahmen im europäischen<br />
Ausland. Schließlich regelt die Europäische Insolvenzverordnung(1346/2000,ABl.L160/2000)vom<br />
29. 5. 2000 die internationale Zuständigkeit, die Anerkennung<br />
von Entscheidungen und das anwendbare<br />
Recht bei Insolvenzverfahren mit Auslandsberührung.<br />
Schwerpunkte des Haager Programms bilden<br />
Regelungen über die gegenseitige Anerkennung und<br />
Vollstreckung von Unterhaltsentscheidungen sowie<br />
kollisionsrechtliche Regelungen im Erbrecht und in<br />
Scheidungssachen.<br />
Zivilrechtlich bedeutsame Maßnahmen ergriff die<br />
Gemeinschaft im Übrigen im Rahmen ihrer ProgrammezurErrichtungeinesGemeinsamenMarktes<br />
und schließlich des Binnenmarktes. Zu ihnen zählen<br />
die Richtlinien über Produkthaftung, Haustürgeschäfte,<br />
Verbraucherkredit, Pauschalreisen, missbräuchliche<br />
Klauseln, Time-Sharing, Fernabsatzverträge,<br />
Unterlassungsklagen und Verbrauchsgüterkauf.<br />
Seit 2001 strebt die Kommission Maßnahmen<br />
auf dem Gebiet des Europäischen �Vertragsrechts<br />
an. Als gesetzliche Maßnahme erwägt sie ein<br />
sog. optionales Instrument: einheitliche Vertragsregelungen,<br />
die – je nach Ausgestaltung – von den Vertragsparteien<br />
gewählt oder abbedungen werden können.<br />
Schließlich arbeitet die Kommission an einem<br />
sog. Gemeinsamen Referenzrahmen, dem Versuch<br />
einer dogmatischen Aufarbeitung und Durchdringung<br />
des europäischen Privatrechts.<br />
5.4 Justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Im<br />
Rahmen der dritten Säule der Union trafen die Mitgliedstaaten<br />
verschiedene Übereinkommen, um die<br />
Zusammenarbeit der nationalen Strafverfolgungsbehörden<br />
zu erleichtern. Außerdem verständigten<br />
sie sich darauf, organisierte und terroristische Straftaten<br />
einheitlich zu definieren und sie unionsweit mit<br />
vergleichbaren Strafen zu ahnden. Etwas in Vergessenheit<br />
geriet das Projekt eines „Corpus Juris straf-<br />
Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts<br />
rechtlicher Regelungen zum Schutz der finanziellen<br />
Interessen der Europäischen Union“. Das Haager<br />
Programm führt den Vorschlag zur Vereinheitlichung<br />
bestimmter Straf- und Strafverfahrensvorschriften<br />
nicht in seiner Prioritätenliste auf. Im Strafrecht<br />
stoßen die Angleichung und Vereinheitlichung<br />
von Rechtsvorschriften auf größeren Widerstand als<br />
auf jedem anderen Rechtsgebiet. Darum konzentrieren<br />
sich die Bemühungen vor allem auf die gegenseitige<br />
Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen.<br />
Das prominenteste Beispiel ist der sog. �Europäische<br />
Haftbefehl. Darunter versteht man einen nationalen<br />
Haftbefehl, der, weil er aufgrund einer bestimmten<br />
schweren Straftat erlassen worden ist, von<br />
allen anderen Mitgliedstaaten ohne weitere Prüfung<br />
anerkannt und vollstreckt wird und zur Auslieferung<br />
des Gesuchten führt. Gegenseitig anerkannt werden<br />
sollen künftig auch Anordnungen der Strafverfolgungsbehörden<br />
zur Beschlagnahme von Beweismitteln<br />
in anderen Mitgliedstaaten mit der Folge, dass<br />
diese Anordnungen ohne weiteres von den Polizeibehörden<br />
der betreffenden Mitgliedstaaten vollzogen<br />
werden. Um die Zusammenarbeit der Strafverfolgungsbehörden<br />
zu verbessern, fordert das Haager<br />
ProgrammdieMitgliedstaatenauf, �Eurojuststärker<br />
als bislang zu unterstützen. Die Einheit mit Sitz in<br />
Den Haag geht auf einen Ratsbeschluss aus dem Jahr<br />
2000 zurück. Sie soll insbes. in Fällen organisierter<br />
Kriminalität grenzüberschreitende Ermittlungen koordinieren.DerVerfassungsvertrag2004siehtsieals<br />
Keimzelle einer künftigen Europäischen Staatsanwaltschaft<br />
(Art. III-274 VVE).<br />
5.5 Polizeiliche Zusammenarbeit. Zur besseren Bekämpfung<br />
von Terrorismus, Menschenhandel, Fälschung<br />
von Zahlungsmitteln und Geldwäsche kamen<br />
die Mitgliedstaaten 1995 überein, �Europol zu<br />
errichten.DieinDenHaagansässigeBehördehatzur<br />
Aufgabe, den Informationsaustausch unter den nationalen<br />
Polizeibehörden zu fördern. Wie Eurojust<br />
leidet indes auch Europol unter der zögerlichen Unterstützung<br />
durch die mitgliedstaatlichen Behörden.<br />
Die Stärkung der europäischen Polizeieinheit im<br />
Kampf gegen den Terrorismus bildet einen Schwerpunkt<br />
des Haager Programms. Zu seiner Umsetzung<br />
willdieKommissiondieMitgliedstaatenzwingen,in<br />
größerem Umfang als bisher Erkenntnisse ihrer Sicherheitsbehörden<br />
Europol zur Verfügung zu stellen.<br />
Die operativen Polizeiaufgaben bleiben indes<br />
nach wie vor den nationalen Behörden überlassen.<br />
635
REACH<br />
Diese sollen noch stärker als bislang miteinander kooperieren.<br />
Das Haager Programm zielt auf den gegenseitigen<br />
Austausch bewährter Ermittlungstechniken.<br />
Außerdem sieht es vor, dass künftig häufiger<br />
gemeinsame Ermittlungsgruppen zum Einsatz kommen.<br />
Th. W.<br />
Literatur:<br />
Degenhart, Ch.: Europol und Strafprozess – Die<br />
Europäisierung des Ermittlungsverfahrens. Heidelberg 2003<br />
Gebauer, M./Wiedmann, Th. (Hg.): Zivilrecht unter europäischem<br />
Einfluss. Die richtlinienkonforme Auslegung des BGB<br />
und anderer Gesetze – Erläuterung der wichtigsten<br />
EG-Verordnungen. Stuttgart 2005<br />
Kraus-Vonjahr, M.: Der Aufbau eines Raums der Freiheit, der<br />
Sicherheit und des Rechts in <strong>Europa</strong>. Frankfurt a. M., Berlin,<br />
Bern, Wien 2002<br />
Schomburg, W.: Die justizielle Zusammenarbeit im Bereich<br />
des Strafrechts in <strong>Europa</strong>: EURO-JUST neben Europol.<br />
ZRP 1999, 237<br />
Wollenschläger, M.: Das Asyl- und Einwanderungsrecht der<br />
EU. EuGRZ 2001, 354.<br />
REACH (Registration, Evaluation and Authorisation<br />
of Chemicals). Das REACH-System über Registrierung,<br />
Bewertung und Zulassung chemischer<br />
Stoffe soll das Kernstück einer EU-Verordnung werden,<br />
deren Entwurf die Kommission am 29. 10. 2003<br />
verabschiedet hat (KOM 2003/644) und die sich<br />
derzeit noch im Gesetzgebungsverfahren befindet<br />
(�Gemeinsamer Standpunkt des Rats voraussichtlich<br />
Herbst 2005, danach Lesung im EP; mit dem Inkrafttreten<br />
wird 2006 zu rechnen sein). Die Verordnung<br />
soll 42 bestehende Richtlinien und 2 Verordnungen<br />
ersetzen.<br />
Im bisher gelten EU-Recht wird unterschieden zwischen<br />
Stoffen, die vor 1981 auf den Markt gekommen<br />
sind („Altstoffe“) und den danach marktfähig<br />
gewordenen neuen Stoffen. Erst seit 1993 müssen<br />
Altstoffe geprüft werden. Da es sich jedoch um mehr<br />
als 100 000 Stoffe handelt, dauert die aufwändige<br />
Prüfung sehr lange. Neue Stoffe müssen sich seit<br />
1993 einer Prüfung unterziehen, wenn mehr als 10 kg<br />
davon pro Jahr auf den Markt gelangen.<br />
Die REACH-Verordnung würde die Unterscheidung<br />
in Alt- und Neustoffe aufheben. Grundsätzlich<br />
müssen dann sämtliche auf dem Markt befindlichen<br />
chemischen Stoffe registriert und bewertet werden.<br />
Risikoreiche Stoffe bedürfen einer Zulassung.<br />
Die REACH-Verordnung wird die Pflicht zur Gewährleistung<br />
von Sicherheit beim Umgang mit Chemikalien<br />
auf die Wirtschaft übertragen. Mittelpunkt<br />
636<br />
des REACH-Systems ist die Registrierung. Hersteller<br />
oder Importeure müssen alle mit der Verwendung<br />
ihrer Chemikalien verbundenen Risiken prüfen und<br />
bewerten und Maßnahmen treffen, um etwaige Risiken<br />
beherrschen zu können. Sie müssen ihre chemischen<br />
Stoffe mit den sicherheitsrelevanten Daten in<br />
einer Datenbank registrieren lassen, die von einer<br />
neu zu schaffenden europäischen Agentur für chemische<br />
Stoffe verwaltet werden soll. Angaben über Risiken<br />
werden in der Lieferkette weitergegeben, so<br />
dass Weiterverarbeiter und Verbraucher gefahrlos<br />
damit umgehen können, wenn die Sicherheitsvorschriften<br />
eingehalten werden.<br />
Auch die bereits existierenden rd. 100 000 Altstoffe<br />
müssen registriert werden, wobei je nach Jahresmenge<br />
Fristen von 3 Jahren (mehr als 1000 t/a) bis 11 Jahre<br />
(1 – 10 t/a) gesetzt werden. Für Hochrisikostoffe,<br />
die bspw. krebserregend, erbgutverändernd oder<br />
fortpflanzungsschädigend wirken können, soll unabhängig<br />
von der Jahresmenge nur die kurze Frist<br />
von 3 Jahren gelten.<br />
Realignment wurden Neufestsetzungen der Leitkurse<br />
von Währungen der EG-Staaten im �Europäischen<br />
Währungssystem (EWS I) genannt.<br />
RECHAR war eine Gemeinschaftsinitiative der EU<br />
zur Unterstützung des Strukturwandels in Regionen<br />
mit Kohlebergbau. Das mehrmals wiederholte Programm<br />
lief 1999 aus. Gefördert wurden z. B. Haldenrückgewinnung,<br />
Modernisierung ungenutzter Gebäude<br />
für Existenzgründungen kleiner und mittlerer<br />
Unternehmen mit zinsverbilligten EGKS-Darlehen,<br />
Qualifizierung von Arbeitnehmern für andere Berufe.<br />
Ähnliche Programme waren �RESIDER für die<br />
wirtschaftliche Umstellung von Stahlrevieren, �RE-<br />
TEX für Regionen mit Textilindustrie, �KONVER<br />
für Rüstungsfirmen und militärische Standorte.<br />
Rechnungseinheit �Europäische Rechnungseinheit<br />
(ERE)<br />
Rechnungshof der Europäischen Gemeinschaften<br />
(ERH). Der Rechnungshof mit Sitz in Luxemburg ist<br />
das unabhängige Organ der EU, dessen Aufgabe die<br />
Prüfung aller Ausgaben und Einnahmen der Gemeinschaft<br />
ist sowie der von dieser geschaffenen<br />
Einrichtungen, soweit deren Gründungsakt dies<br />
nicht ausschließt (Art. 248 Abs. 1 EGV).
1. Entstehung: In den europäischen Gründungsverträgen<br />
war für die Rechnungsprüfung ein Kontrollausschuss<br />
vorgesehen, der keinen eigenen Organstatus<br />
hatte, sondern eine Behörde der internen Finanzkontrolle<br />
war (Art. 206 EWGV, Art. 180 EAGV und<br />
Art. 78d EGKSV). Dieser Kontrollausschuss war bis<br />
zur Errichtung des Rechnungshofes im Jahre 1977<br />
tätig.<br />
In der Folge der Schaffung von �Eigenmitteln der<br />
EG, verbunden mit der Ausdehnung der kostenwirksamen<br />
Tätigkeiten der Gemeinschaft und damit des<br />
EG-Haushaltsplans, wurde die Errichtung eines unabhängigen<br />
Rechnungshofs erforderlich, der über<br />
größere Kontrollmöglichkeiten verfügt und im Hinblick<br />
auf die Eigenmittel an die Stelle der nationalen<br />
Rechnungshöfe treten kann. Daher wurde in dem<br />
Vertrag vom 22. 7. 1975 zur Änderung bestimmter<br />
Finanzvorschriften der EG-Verträge (in Kraft seit<br />
1.7.1977)dieErrichtungeinesRechnungshofesvorgesehen.<br />
Im Maastrichter Vertrag (1992) wurde der<br />
Rechnungshof in die Gruppe der Hauptorgane der<br />
Gemeinschaft aufgenommen (Art. 7 EGV). Dazu<br />
wurde im Kapitel über die Organe ein neuer Abschnitt<br />
„Der Rechnungshof“ eingefügt; darin sind<br />
die bisherigen Art. 206 – 206a EWGV aufgegangen.<br />
Die Regelungen sind jetzt in den Art. 246 – 248 EGV<br />
(Art. 160a – 160c EAGV) niedergelegt.<br />
Als vollwertiges Gemeinschaftsorgan hat der Rechnungshof<br />
nunmehr auch die Möglichkeit, vor dem<br />
EuGH eine Organklage zu erheben, z. B. gegen einen<br />
Mitgliedstaat, wenn dieser notwendige Prüfungsdaten<br />
nicht herausgibt, oder gegen andere Organe wie<br />
z. B. die Kommission, falls diese dem Rechnungshof<br />
die Einsicht in prüfungserhebliche Unterlagen verweigert.<br />
2. Zusammensetzung: Der Rechnungshof besteht aus<br />
je einem Mitglied pro Mitgliedstaat, also derzeit 25<br />
Mitgliedern, die vom Rat nach Anhörung des Europäischen<br />
Parlaments (EP) mit qualifizierter Mehrheit<br />
(vor dem Vertrag von Nizza einstimmig) auf<br />
sechs Jahre ernannt werden. Zu Mitgliedern des<br />
Rechnungshofs sind Persönlichkeiten auszuwählen,<br />
dieinihrenLändernRechnungsprüfungsorganenangehören<br />
oder angehört haben oder die für dieses Amt<br />
besonders geeignet sind. Abgesehen von den regelmäßigen<br />
Neubesetzungen und von Todesfällen endet<br />
das Amt durch Rücktritt oder durch Amtsenthebung<br />
durch den Gerichtshof. Wiederernennung ist<br />
möglich.<br />
Rechnungshof<br />
3. Aufgaben und Tätigkeit: Der Rechnungshof prüft<br />
die Rechnung über alle Einnahmen und Ausgaben<br />
der Gemeinschaft sowie ggf. einer jeden von der Gemeinschaft<br />
geschaffenen Institution (Haushalt der<br />
EU). Die Prüfung der Mittelverwendung erstreckt<br />
sichaufdieRechtmäßigkeitundOrdnungsmäßigkeit<br />
der Einnahmen und Ausgaben sowie auf die Wirtschaftlichkeit<br />
der Haushaltsführung. Sie wird anhand<br />
der Rechnungsunterlagen und erforderlichenfalls<br />
an Ort und Stelle bei den Organen der Gemeinschaft<br />
und in den Mitgliedstaaten in Verbindung mit<br />
den einzelstaatlichen Rechnungsprüfungsorganen<br />
durchgeführt. Die Organe der Gemeinschaft und die<br />
einzelstaatlichen Organe müssen dem Rechnungshof<br />
auf seinen Antrag hin alle für die Erfüllung seiner<br />
Aufgaben benötigten Unterlagen oder Informationen<br />
übermitteln.<br />
Der Rechnungshof kann Prüfungen vor Abschluss<br />
der Rechnung durchführen. Die Kontrolle besitzt somit<br />
fortlaufenden Charakter und kann in Sonderfällen<br />
in größtmöglicher Nähe zum Eingang der Einnahmen<br />
oder zur Tätigung der Ausgaben vorgenommen<br />
werden. Nach Abschluss eines jeden Haushaltsjahres<br />
legt der Rechnungshof einen Jahresbericht<br />
vor, der den Organen der Gemeinschaft übermittelt<br />
und im Amtsblatt veröffentlicht wird. Die betroffenen<br />
Organe haben die Möglichkeit, zu den einzelnen<br />
BemerkungenStellungzunehmen.DieseAntworten<br />
der Organe werden mit dem Jahresbericht veröffentlicht.<br />
Vor der endgültigen Festlegung der Antworten<br />
der Kommission wird in einem kontradiktorischen<br />
Verfahren versucht, zwischen Kommission und<br />
Rechnungshof etwaige Widersprüche über Tatsachen<br />
auszuräumen und die jeweiligen Standpunkte<br />
zu klären. Der Rechnungshof arbeitet außerdem Jahresberichte<br />
über das Finanzgebaren der Satellitenorgane<br />
der Gemeinschaften (z. B. Kernfusions-Versuchsreaktor<br />
�JET, �<strong>Europa</strong>-Schulen) aus (während<br />
des Bestehens der EGKS auch für diese Gemeinschaft).<br />
Artikel 279 EGV verpflichtet die Organe bei Änderungen<br />
der Haushaltsordnung, in der insbes. die Aufstellung<br />
und Ausführung des Haushaltsplans sowie<br />
die Rechnungslegung und Rechnungsprüfung im<br />
Einzelnen geregelt werden, die Stellungnahme des<br />
Rechnungshofs einzuholen. Gleiches gilt gem. Art.<br />
280 EGV für Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung<br />
von Betrügereien zu Lasten der finanziellen<br />
Interessen der Gemeinschaft. Eine Unterlassung<br />
637
Rechnungsprüfung<br />
der Anhörung würde eine Verletzung des vorgeschriebenen<br />
legislativen Verfahrens bedeuten. Der<br />
Rechnungshof kann ferner jederzeit seine Bemerkungen<br />
zu besonderen Fragen in Form von SonderberichtenvorlegenundaufAntrageinesOrgansStellungnahmen<br />
abgeben.<br />
4. Entlastungsverfahren: Der Rechnungshof übermittelt<br />
den für die Entlastung zuständigen Organen<br />
(EP und Rat) bis spätestens 30. November seinen<br />
Jahresbericht zum vorausgegangenen Haushaltsjahr<br />
mit den Stellungnahmen der Organe zu den einzelnen<br />
Bemerkungen. Der Bericht des Rechnungshofs<br />
wirdvondenpolitischverantwortlichenOrganender<br />
Gemeinschaft,alsodemEPunddemRat,imRahmen<br />
des Entlastungsverfahrens geprüft, mit dem das EP<br />
die Haushaltsführung der Kommission in dem betreffenden<br />
Haushaltsjahr nach Eingang der Stellungnahme<br />
des Rates bewertet. Mit dem Vertrag von<br />
Maastricht wurde eingeführt, dass der Rechnungshof<br />
dem Europäischen Parlament wie dem Rat eine<br />
gesonderte „Erklärung über die Zuverlässigkeit der<br />
Rechnungsprüfung sowie die Rechtmäßigkeit und<br />
Ordnungsmäßigkeit der zugrunde liegenden Vorgänge“<br />
(Art. 248 EGV) vorzulegen hat mit einer<br />
Empfehlung zur Entlastung, vergleichbar dem Testat<br />
der Wirtschaftsprüfer eines Unternehmens. Ein<br />
erstes Testat des Rechnungshofs wurde im Oktober<br />
1995 zum Haushalt 1994 abgegeben.<br />
Das Entlastungsverfahren umfasst eine gründliche<br />
Analyse der Arbeit des Rechnungshofs und bedeutet<br />
für die Kommission, dass sie die Mängel abstellen<br />
muss, auf die der Rechnungshof hingewiesen hat und<br />
die vom Parlament bekräftigt wurden. Der Rechnungshof<br />
ist gehalten, das EP und den Rat bei der<br />
Kontrolle der Ausführung des Haushaltsplans der<br />
Gemeinschaften zu unterstützen. In diesem Rahmen<br />
nehmen die Mitglieder des Rechnungshofes und ihre<br />
Vertreter regelmäßig an den Sitzungen des Ausschusses<br />
für Haushaltskontrolle und des HaushaltsausschussesdesEPteil.<br />
K. H. O.<br />
Anschrift: 12, rue Alcide de Gasperi, L–1615 Luxemburg<br />
Rechnungsprüfung �Rechnungshof der EU<br />
Rechtsakte der EU bilden das sekundäre �Gemeinschaftsrecht,<br />
das nach Art. 249 EGV vom Europäischen<br />
Parlament und vom Rat gemeinsam bzw. vom<br />
Rat oder von der Europäischen Kommission allein<br />
geschaffen wird. Der EGV unterscheidet:<br />
638<br />
Verordnung: Gesetz mit allgemeiner Geltung; sie ist<br />
in allen Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem<br />
Mitgliedstaat; Verordnungen sind überwiegend<br />
Durchführungsbestimmungen.<br />
Richtlinie: Rahmengesetz, das an Mitgliedstaaten<br />
gerichtet ist; sie muss inhaltlich in die nationale Gesetzgebung<br />
umgesetzt werden, wobei das in der<br />
Richtlinie festgelegte Ziel verbindlich ist, die Wahl<br />
von Form und Mitteln aber dem Staat überlassen<br />
bleibt;<br />
Entscheidung: richtet sich nur an einzelne Mitgliedstaaten,<br />
Unternehmen oder Einzelpersonen und ist<br />
für sie in allen Teilen verbindlich.<br />
Empfehlung und Stellungnahme: sind nicht verbindlich.<br />
Im Bereich der EGKS galten z. T. andere Bezeichnungen<br />
bzw. hatten die oben genannten Bezeichnungen<br />
eine andere Bedeutung.<br />
Der �Verfassungsvertrag 2004 würde die Bezeichnungen<br />
der Rechtsakte ändern, wenn er in Kraft treten<br />
kann. Nach Art. I-33 VVE 2004 heißen Verordnungen<br />
dann Europäische Gesetze, Richtlinien werden<br />
Europäische Rahmengesetze genannt. Verordnungen<br />
ohne Gesetzescharakter (Durchführungsbestimmungen)<br />
heißen Europäische Verordnungen;<br />
wenn sie sich auf ein Europäisches Gesetz beziehen,<br />
sind sie in allen Teilen verbindlich und gelten unmittelbar;<br />
beziehen sie sich auf ein Europäisches Rahmengesetz,<br />
sind sie verbindlich hinsichtlich des zu<br />
erreichenden Ziels, die Wahl von Form und Mitteln<br />
bleibt den Staaten überlassen. Entscheidungen heißen<br />
künftig Europäische Beschlüsse. Unverbindlich<br />
bleiben Empfehlungen und Stellungnahmen; ihre<br />
Bezeichnungen ändern sich nicht.<br />
Rechtsangleichung ist nach Art. 3 Abs. 1 lit. h<br />
EGVeinederTätigkeitenderEuropäischenGemeinschaft,<br />
um die in Art. 2 EGV benannten Aufgaben zu<br />
erfüllen. Es handelt sich um Angleichung (�Harmonisierung)<br />
innerstaatlicher Rechtsvorschriften (Gesetze,<br />
Verordnungen, technische Normen usw.) mit<br />
der Einschränkung, „soweit dies für das Funktionieren<br />
des Gemeinsamen Marktes erforderlich ist“.<br />
Zweck der Rechtsangleichung ist es, Wettbewerbsverzerrungen<br />
im Binnenmarkt, die sich aus unterschiedlichen<br />
Rechtsvorschriften ergeben, zu beseitigen<br />
oder zu verringern.<br />
RechtsgrundlagevonRechtsangleichungenistKapitel<br />
3 in Titel VI EGV (Art. 94 – 97).
Rechtsgrundlagen (Rechtsquellen). �Rechtsakte<br />
der Gemeinschaftsorgane müssen auf vertraglich<br />
vereinbarte Bestimmungen (im �Primärrecht) zurückzuführen<br />
sein, die in dem jeweiligen Rechtsakt<br />
zu benennen sind.<br />
Rechtspersönlichkeit ist die mit Rechten und<br />
Pflichten verbundene Eigenschaft, z. B. von juristischen<br />
Personen (Kapitalgesellschaften, Körperschaften),rechts-undgeschäftsfähigzusein.ImVölkerrecht<br />
ist es die Eigenschaft von Völkerrechtssubjekten,<br />
untereinander Verträge schließen zu können.<br />
Völkerrechtssubjekte sind in der Regel Staaten und<br />
internationale Organisationen. Sie sind im Rahmen<br />
ihrer Zuständigkeiten an allgemeine Grundsätze des<br />
Völkerrechts gebunden. Der EG wird in Art. 281<br />
EGV Rechtspersönlichkeit zugesprochen. Eine entsprechende<br />
ausdrückliche Zuweisung der Rechtspersönlichkeit<br />
an die EU fehlt im EUV. Im �Verfassungsvertrag<br />
2004 für <strong>Europa</strong> heißt es dagegen in<br />
Art.I-7:„DieUnionbesitztRechtspersönlichkeit.“<br />
Rechtsstaatlichkeit ist nach Art. 6 Abs. 1 EUV einer<br />
der Grundsätze, auf denen die Europäische<br />
Union beruht und deren Beachtung eine Voraussetzung<br />
für den Beitritt zur EU ist (Art. 49 EUV). Im<br />
Rechtsstaat sind die Legislative an die Verfassung,<br />
die Exekutive und die Judikative an Gesetz und<br />
Rechtgebunden(Legalität).DerformaleRechtsstaat<br />
ist verpflichtet, das von der Legislative gesetzte<br />
Recht zu verwirklichen und es durch seine Tätigkeit<br />
nicht zu beeinträchtigen. Er unterwirft sich dabei der<br />
Kontrolle unabhängiger Richter. Zu den Grundsätzen<br />
des modernen Rechtsstaats gehört darüber hinaus<br />
die Bindung der Staatsgewalt an vorkonstitutionelle<br />
Menschenrechte und die Anerkennung und der<br />
Schutz der Menschenwürde.<br />
REFLEX(RiskEvaluationofPotentialEnvironmental<br />
Hazards from Low Energy Electromagnetic Field<br />
Exposure), Vorhaben im 5. EU-ForschungsrahmenprogrammzurUntersuchungdesGesundheitsrisikos<br />
elektromagnetischer Felder. Beteiligt waren 12 Forschergruppen<br />
aus 7 europäischen Ländern. Laufzeit<br />
von Februar 2000 bis August 2003, Ende der Studie<br />
31. August 2006.<br />
Reflexionsgruppe.SiewurdezurVorbereitungder<br />
�Regierungskonferenz von 1996 vom Europäischen<br />
Regelungen für politische Parteien<br />
Rat von Korfu (24./25. 6. 1994) eingesetzt und setzte<br />
sich aus Vertretern der Außenminister der Mitgliedstaaten,<br />
zwei Vertretern des Europäischen Parlaments<br />
und dem Präsidenten der Kommission zusammen.<br />
Der Europäische Rat von Cannes (26./27. 6.<br />
1995) hat das Mandat der Reflexionsgruppe präzisiert.<br />
Die Reflexionsgruppe hat ihre Arbeit im Juni 1995<br />
aufgenommen. Den Vorsitz führte der Spanier Carlos<br />
Westendorp („Westendorp-Gruppe“). Den Bericht<br />
der Gruppe nahm der Europäische Rat von Madrid<br />
(15./16. 12. 1995) entgegen, der den Beginn der<br />
Regierungskonferenz, deren Arbeit zum AmsterdamerVertragführte,aufden29.März1996festlegte.<br />
Reformen der Agrarpolitik �Gemeinsame Agrarpolitik<br />
(GAP), �Agenda 2000<br />
Reformstaaten sind Staaten Mittel- und Osteuropas<br />
sowie Zentralasiens, die nach dem Zusammenbruch<br />
des Ostblocks 1989 als Nachfolgestaaten der<br />
Sowjetunion bzw. als ehemals kommunistisch regierte<br />
Staaten einen politischen, wirtschaftlichen<br />
und gesellschaftlichen Transformationsprozess eingeleitet<br />
und sich demokratischen, rechtsstaatlichen<br />
und marktwirtschaftlichen Prinzipien genähert haben.AchtLänderausMittel-undOsteuropa(MOEL)<br />
sind am 1. 5. 2004 der EU beigetreten (die baltischen<br />
Staaten Estland, Lettland, Litauen, ferner Polen,<br />
Tschechien, die Slowakei und Ungarn sowie als erster<br />
Balkanstaat Slowenien). Zwei weitere MOEL<br />
werden der EU voraussichtlich 2007 oder 2008 beitreten:<br />
Bulgarien und Rumänien. Kroatien wird ggf.<br />
im gleichen Zeitraum ebenfalls EU-Mitglied.<br />
Von den weiteren Reformstaaten zählen sechs nach<br />
denKriterienderWeltbankzudenStaatenmitniedrigem<br />
Einkommen (BIP pro Kopf bis 735 US-$): Aserbaidschan,<br />
Georgien, Kirgisische Republik, Moldawien,<br />
Tadschikistan, Usbekistan, die übrigen 11 zu<br />
den Staaten mit niedrigem mittleren Einkommen<br />
(BIP pro Kopf 316 – 2 935 US-$): Albanien, Armenien,<br />
Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Kasachstan,<br />
Mazedonien, Russland, Serbien und Montenegro,<br />
Turkmenistan, die Ukraine und Weißrussland.<br />
Regelungen für die politischen Parteien auf europäischer<br />
Ebene und insbes. für ihre Finanzierung<br />
haben Rat und EP in der Verordnung 2004/2003 vom<br />
4. 11. 2003 gem. Art. 191 EGV festgelegt (ABl. L<br />
639
Regelungsausschuss<br />
297/ 2003). Danach muss eine europäische Partei<br />
– Rechtspersönlichkeit besitzen in dem Mitgliedstaat,<br />
in dem sie ihren Sitz hat,<br />
– in mindestens einem Viertel der Mitgliedstaaten<br />
gewählte Mitglieder in Parlamenten (EP, nationale<br />
Parlamente, Regionalparlamente) oder bei der letzten<br />
<strong>Europa</strong>wahl in jedem dieser Staaten einen Stimmenanteilvonmindestens3Prozenterreichthaben,<br />
– in ihrem Programm und in ihrer Tätigkeit die<br />
GrundsätzederEUnachArt.6Abs.1EUVbeachten,<br />
– an <strong>Europa</strong>wahlen teilgenommen haben oder die<br />
Absicht bekunden, dies zu tun.<br />
EuropäischeParteienkönnenaufjährlichneuzustellenden<br />
Antrag beim Europäischen Parlament aus<br />
dem Haushalt der Europäischen Union Finanzmittel<br />
bis zu 75 % ihres Budgets erhalten. Diese Mittel dürfennurfürunmittelbarderParteidienendeAusgaben<br />
verwendet werden, z. B. Verwaltungsausgaben,<br />
Ausgaben für technische Unterstützung, Sitzungen,<br />
Forschung, grenzüberschreitende Veranstaltungen,<br />
Studien, Information und Veröffentlichungen. Mit<br />
diesen Mitteln dürfen keine anderen Parteien unterstützt<br />
werden.<br />
Die Partei muss jährlich ihre Einnahmen und Ausgaben<br />
veröffentlichen sowie ihre Aktiva und Passiva<br />
und muss darin ihre Finanzquellen benennen. Dabei<br />
müssen Spenden über 500 Euro aufgeführt werden.<br />
Verboten sind anonyme Spenden, Spenden aus dem<br />
Budget einer Fraktion des EP, von öffentlichen Unternehmen<br />
sowie in einer Höhe über 12 000 Euro pro<br />
Jahr und Spender. Spenden dürfen 40 % des Jahresbudgets<br />
einer Partei nicht übersteigen.<br />
Regelungsausschuss �Komitologie<br />
Regieren, europäisches �Governance<br />
Regierungskonferenz. Konferenz von Vertretern<br />
der Regierungen der Mitgliedstaaten, die vom Ratspräsidenten<br />
einberufen wird, um Änderungen am<br />
Primärrecht auszuarbeiten und einvernehmlich zu<br />
verabschieden. Der Einberufung einer Regierungskonferenz<br />
geht gem. Art. 48 EUV eine befürwortende<br />
Stellungnahme des Rats voraus, der dazu auch das<br />
Europäische Parlament und ggf. die Kommission anhört.<br />
Regionalfonds �Fonds der EU, �Europäischer<br />
Fonds für regionale Entwicklung (EFRE)<br />
640<br />
Regionalismus/Regionalisierung. Regionalismus<br />
drückt das allgemeine Bestreben einer Region<br />
nach größerer Selbstverantwortung und Autonomie<br />
gegenüber dem Staat oder einer übergeordneten supranationalenEbeneaus.InderEU/EGzielenRegionalisierungsbemühungen<br />
insbes. auf eine stärkere<br />
VerankerungderRegionenindieeuropäischenInstitutionensowieeinegenerelleStärkungundEntwicklung<br />
regionaler Strukturen innerhalb <strong>Europa</strong>s ab.<br />
Innerhalb des Institutionengefüges der EU/EG soll<br />
der durch den Vertrag von Maastricht eingerichtete<br />
�Ausschuss der Regionen (AdR) Zentralisierungstendenzen<br />
entgegenwirken und die Berücksichtigung<br />
regionaler Interessen im Entscheidungsfindungs-undGesetzgebungsprozesssicherstellen.Die<br />
vom EP im Jahr 1988 verabschiedete „Gemeinschaftscharta<br />
der Regionalisierung“ fordert die angemessene<br />
Beteiligung der Regionen an der Erfüllung<br />
staatlicher Aufgaben im Rahmen eines kooperativen<br />
Regionalismus, der an die Stelle traditionell<br />
zentralstaatlicher Konzepte treten soll.<br />
Außerhalb der EU/EG-Institutionen kann die 1985<br />
gegründete �Versammlung der Regionen <strong>Europa</strong>s<br />
(VRE) als wichtigstes Sprachrohr für den Regionalismus<br />
in <strong>Europa</strong> angesehen werden. Die VRE ist<br />
eine jährlich tagende ständige Konferenz, die durch<br />
den �<strong>Europa</strong>rat organisiert wird. Ihr Hauptinteresse<br />
gilt der Stärkung der europäischen Regionen innerhalb<br />
und außerhalb der Europäischen Union, deren<br />
politische Anerkennung und innerstaatliche Mitwirkungsmöglichkeit<br />
noch nicht weit fortgeschritten<br />
sind.InAbgrenzungzumAdRvertrittdieVREdamit<br />
auch Regionen, die über keinerlei Gesetzgebungskompetenzen<br />
und institutionelle Mitwirkungsmöglichkeiten<br />
verfügen. Der VRE kann insofern im Gegensatz<br />
zum AdR als gesamteuropäische Regionalismusbewegung<br />
mit einem sehr weit ausgelegten<br />
Regionenbegriff bezeichnet werden. Als Leitfaden<br />
für die Regionen und zur Stärkung ihrer Befugnisse<br />
dient die „Erklärung zum Regionalismus“, die der<br />
VRE im Jahr 1996 verabschiedet hat. Als Ergänzung<br />
zur „Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung“,<br />
in der die Grundsätze der kommunalen<br />
Selbstverwaltung geregelt werden, begann zudem<br />
der �Kongress der Gemeinden und Regionen <strong>Europa</strong>s<br />
(KGRE), ein beratendes Organ des <strong>Europa</strong>rates,<br />
1993 mit der Ausarbeitung einer „Europäischen<br />
Charta der regionalen Selbstverwaltung“. Kernpunkt<br />
des Entwurfs ist der Grundsatz, die regionale
Selbstverwaltungsoweitwiemöglichindennationalen<br />
Verfassungen anzuerkennen und damit rechtlich<br />
abzusichern.<br />
AntriebdieserRegionalisierungsbemühungenistdie<br />
Überzeugung, dass sich die Bürger aufgrund historischer,<br />
sprachlicher, kultureller, sozialer, wirtschaftlicher<br />
und geographischer Bande in immer größerem<br />
Maß mit ihren Regionen identifizieren. Dem Regionalismusgedanken<br />
liegt zudem die Überzeugung zugrunde,<br />
dass Staaten und Organisationen mit starken<br />
Regionen ihre wirtschaftlichen und sozialen Probleme<br />
besser lösen können. Hieraus wird die Berechtigung<br />
zur Mitentscheidung in staatlichen Organen<br />
und auf internationaler Ebene bzw. eine Komplementarität<br />
supranationaler, nationaler und regionaler<br />
Befugnisse abgeleitet. Zentrale Themen sind insofern<br />
die Formulierung von Mindeststandards bei<br />
der Beteiligung der Regionen am Gesetzgebungsprozess,<br />
die Finanzausstattung der regionalen Ebene,<br />
die Verteilung der Befugnisse im �Mehrebenensystem<br />
sowie die Wahrung des Subsidiaritätsgedankens.<br />
Der europäische Regionalismus wird dabei<br />
abertrotzderBetonungvonDezentralitätundSelbstbestimmung<br />
nicht als Abgrenzung zur nationalen<br />
oder supranationalen Ebene verstanden, sondern als<br />
wesentlicher Bestandteil des europäischen Integrationsprozesses.<br />
Die Erforderlichkeit der Partnerschaft<br />
zwischen den Verwaltungsebenen wird deshalb<br />
genauso betont wie die Notwendigkeit zur politischen,<br />
sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen<br />
Kooperation zwischen den Regionen für den Aufbau<br />
einesgeeinigtenundsolidarischen<strong>Europa</strong>s. S. A.<br />
Literatur:<br />
Döring, D.: Regionalismus in der Europäischen Union.<br />
Berlin 2001<br />
Europäisches Parlament: Gemeinschaftscharta zur<br />
Regionalisierung. Straßburg 1988<br />
Heinemann, T.: Der Regionalismus zwischen innerstaatlicher<br />
Entwicklung und europäischer Beteiligung. Eine<br />
rechtsvergleichende Untersuchung. Berlin 2001<br />
Versammlung der Regionen <strong>Europa</strong>s: Erklärung zum<br />
Regionalismus in <strong>Europa</strong>. Straßburg 1996<br />
Regionalkonzept �Südosteuropapolitik<br />
Regionalpolitik (regionale �Strukturpolitik)<br />
1. Begriff: Die Regionalpolitik der EU umfasst die<br />
Gesamtheit der gemeinsamen Maßnahmen der EU-<br />
Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft zur Verringerung<br />
regionaler wirtschaftlicher und sozialer Unterschiede<br />
im Gebiet der Gemeinschaft. Sie zielt auf die<br />
Regionalpolitik<br />
Stärkung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts<br />
zum Zwecke der „harmonischen Entwicklung<br />
der Gemeinschaft als Ganzes“ (Art. 158 EGV)<br />
durch Verringerung der Unterschiede im Entwicklungsstand<br />
zwischen den verschiedenen Regionen<br />
und des Rückstandes der am stärksten benachteiligten<br />
Gebiete. Die zur Zielerreichung erforderlichen<br />
regional wirksamen wirtschafts- und sozialpolitischen<br />
Maßnahmen umfassen die Zielfindung, die<br />
Mittelauswahl, den Mitteleinsatz und die Wirkungskontrolle.(ZurUnterscheidungvonRegionalpolitik=regionale<br />
Strukturpolitik und Strukturpolitik = sektorale<br />
Strukturpolitik vgl. �Strukturpolitik Ziff. 1).<br />
Die Regionalpolitik kann wachstums- oder/und sozialorientiert<br />
ausgerichtet sein. Sie ist wachstumsorientiert,<br />
wenn sie auf die Verwirklichung einer optimalen<br />
Verteilung der Produktionsfaktoren (Kapital,<br />
Boden, Arbeit, Know-how, Infrastruktur) im<br />
Raum durch Beeinflussung der interregionalen Mobilität<br />
hinwirkt; sie ist sozialorientiert, indem sie<br />
rückständige Regionen mit dem Ziel des regionalen<br />
Ausgleichs der Lebensbedingungen fördert.<br />
2. Rechtliche Grundlagen: Regionale Förderung als<br />
gezielte Wirtschaftspolitik zum Ausgleich regionaler<br />
Entwicklungsunterschiede war im EWG-Vertrag<br />
(1957) ursprünglich nicht ausdrücklich ausgewiesen.<br />
Außer der Präambel wiesen nur einige in anderem<br />
Zusammenhang stehende Vorschriften des<br />
EWG-Vertrages von 1957 regionalpolitische Bezüge<br />
auf (z. B. Art. 39 Abs. 2a; Art. 49 Abs. d; Art. 80<br />
Abs. 2 EWGV); sie reichten aber als Grundlage einer<br />
umfassenden EU-Regionalpolitik nicht aus. Der<br />
Hauptgrund für die relative Bedeutungslosigkeit regionalpolitischer<br />
Gesichtspunkte bei der Abfassung<br />
des Vertrages war die Annahme der vertragschließenden<br />
Parteien, dass bereits die Existenz eines Gemeinsamen<br />
Marktes regionale Unterschiede im Entwicklungsstand<br />
der damals sechs Mitgliedstaaten<br />
beseitigen werde. Erst nach der Erweiterung auf 12<br />
Mitgliedstaaten (Süderweiterung) wurde mit der<br />
EEA (Art. 23; 1986) und dem EGV (Art. 158 – 162)<br />
dieZuständigkeitderGemeinschaftfürregionalpolitische<br />
Maßnahmen ausdrücklich anerkannt und vertraglich<br />
geregelt. Während Art. 158 EGV die Ziele<br />
gemeinschaftlicher Regionalpolitik formuliert (Verringerung<br />
der Unterschiede im Entwicklungsstand<br />
der verschiedenen Regionen und des Rückstands der<br />
am stärksten benachteiligten Gebiete), werden in<br />
641
Regionalpolitik<br />
Art. 159 die Aufgaben der Mitgliedstaaten und der<br />
Gemeinschaft (Ausrichtung und Koordinierung der<br />
nationalen Regionalpolitiken, Festlegung der Zuständigkeiten<br />
der Gemeinschaft) festgelegt. Artikel<br />
160 bis 162 EGV regeln die Aufgaben und Verfahrensweisen<br />
der �Strukturfonds, Art. 161 beschäftigt<br />
sich mit der Einrichtung eines �Kohäsionsfonds. Er<br />
soll zur Finanzierung von Vorhaben in den Bereichen<br />
Umwelt und �Transeuropäische Netze insbes.<br />
in den rückständigen Mitgliedstaaten beitragen.<br />
Dieser Aufgabe, die Wettbewerbspolitik in einer sozial<br />
orientierten Marktwirtschaft allein nicht leisten<br />
kann,stelltsichdieRegionalpolitik(regionaleStrukturpolitik)<br />
seit 1988 in verstärktem Maße. Zwar wird<br />
Regional- bzw. Strukturpolitik in Art. 3 EGV nicht<br />
ausdrücklich als Politikbereich erwähnt, doch lassen<br />
sowohl die Römischen Verträge als auch der Maastrichter<br />
Vertrag über die Europäische Union keinen<br />
Zweifel daran, dass Strukturpolitik als Verklammerung<br />
anderer Politikbereiche ein unverzichtbares<br />
Fundament gemeinschaftlicher Politik ist. Außer<br />
Art. 2 EGV enthalten viele Titel des EG-Vertrags<br />
wichtige strukturpolitische Elemente.<br />
Das Kernstück und die wichtigste rechtliche Grundlage<br />
der EU-Regional- und Strukturpolitik ist der<br />
durch die Einheitliche Europäische Akte (EEA) von<br />
1986 neu in den EG-Vertrag eingefügte Titel „Wirtschaftlicher<br />
und sozialer Zusammenhalt“ (Titel<br />
XVIIEGV).Artikel158EGVverpflichtetdiePolitik<br />
der Gemeinschaft „zur Stärkung ihres wirtschaftlichen<br />
und sozialen Zusammenhalts, um eine harmonische<br />
Entwicklung der Gemeinschaft als Ganzes zu<br />
fördern“. Gemäß dieser Zielsetzung haben die Mitgliedstaaten<br />
ihre Wirtschaftspolitik zu koordinieren;<br />
und die Gemeinschaft berücksichtigt bei der Festlegung<br />
und Durchführung ihrer Politiken und Aktionen<br />
sowie bei der Errichtung des Binnenmarktes die<br />
in Art. 158 EGV formulierten Ziele.<br />
3. Ziele: Artikel 2 EGV formuliert die Ziele gemeinsamer<br />
Politik bzw. gemeinsamer Maßnahmen. Sie<br />
lauten: harmonische und ausgewogene Entwicklung<br />
des Wirtschaftslebens innerhalb der Gemeinschaft,<br />
umweltverträgliches Wachstum, Konvergenz der<br />
Wirtschaftsleistungen, hohes Beschäftigungsniveau,<br />
hohes Maß an sozialem Schutz, Hebung der<br />
Lebenshaltung und der Lebensqualität, wirtschaftlicherundsozialerZusammenhaltundSolidaritätzwischen<br />
den Mitgliedstaaten. Angesichts der erheblichen<br />
Vertiefung des innergemeinschaftlichen Wohl-<br />
642<br />
standsgefälles infolge der �Osterweiterung der EU<br />
und sich verstärkender Globalisierungsprozesse erhalten<br />
die Stärkung der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit,<br />
�nachhaltige Entwicklung (als neue<br />
Zieldimension) und die Überwindung der Kohäsionskluft<br />
erste Priorität. Eine harmonische Entwicklung<br />
sowie wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt<br />
lassen sich nur erreichen, wenn die benachteiligten<br />
Regionen und Bevölkerungsgruppen<br />
vorrangig an einer Verbesserung der Lebensbedingungen<br />
Anteil haben. Ziel der dafür zuständigen regionalen<br />
EU-Strukturpolitik ist es also, bestehende<br />
räumliche Unterschiede abzubauen, das Entstehen<br />
neuer regionaler Ungleichgewichte zu verhindern<br />
und den Problemregionen dafür aus den Strukturfonds<br />
Gemeinschaftsmittel bereitzustellen. Wirtschaftlicher<br />
und sozialer Zusammenhalt sowie solidarisches<br />
Handeln der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft<br />
als Ganzes sind Grundvoraussetzungen<br />
für eine harmonische Entwicklung in der EU. Während<br />
wirtschaftlicher Zusammenhalt auf Verringerung<br />
der regionalen wirtschaftlichen Unterschiede<br />
bei gleichzeitiger Hebung des wirtschaftlichen EntwicklungsniveausindergesamtenEUzielt,erstreckt<br />
sich sozialer Zusammenhalt auf Bereiche wie Arbeitslosigkeit,<br />
angemessene Bildung und Ausbildung,<br />
soziale Absicherung, demographische Entwicklung,<br />
auf Verringerung von Ungleichheiten<br />
zwischen Einzelpersonen usw. Auf wirtschaftlichen<br />
ZusammenhaltgerichteteMaßnahmenundMaßnahmen<br />
des sozialen Zusammenhalts ergänzen einander.<br />
4. Instrumente: Wichtige Instrumente bei der Verwirklichung<br />
dieser Ziele sind die Strukturfonds der<br />
EU sowie der Kohäsionsfonds (�Fonds der EU), die<br />
� Europäische Investitionsbank und sonstige Finanzierungsinstrumente.<br />
Ausdrücklich wird in Art. 161<br />
EGV festgelegt, dass eine „Koordinierung der Fonds<br />
sowohl untereinander als auch mit den anderen vorhandenen<br />
Finanzierungsinstrumenten“ zu erfolgen<br />
hat. Wenn selbst auch in diesem Zusammenhang der<br />
Begriff „Strukturpolitik“ nicht benutzt wird, so liegen<br />
dieser Festlegung doch unverkennbar strukturpolitische<br />
Prinzipien zugrunde, wie es auch die Bezeichnung<br />
„Strukturfonds“ belegt. Weitere strukturpolitische<br />
Elemente und Gesichtspunkte enthalten<br />
fast alle den dritten Teil des EGV bildenden Titel: Titel<br />
II (Landwirtschaft; Art. 33 Abs. 2), Titel V (Verkehr),<br />
Titel VI (Wettbewerb), Titel XI (Sozialpoli-
tik), Titel XV (Transeuropäische Netze), Titel XVI<br />
(Industrie), Titel XVIII (Forschung und technologische<br />
Entwicklung), Titel XIX (Umwelt). Darin<br />
kommt die Klammerfunktion der sektoralen Strukturpolitik<br />
klar zum Ausdruck.<br />
Artikel160 und 162 EGV regeln die Aufgaben und<br />
Verfahrensweisen der Strukturfonds, Art.161 beschäftigt<br />
sich mit der Einrichtung eines Kohäsionsfonds.ErträgtzurFinanzierungvonVorhabeninden<br />
Bereichen Umwelt und �Transeuropäische Netze in<br />
rückständigen Mitgliedstaaten bei.<br />
Der Kohäsionsfonds kann von Mitgliedstaaten in<br />
Anspruch genommen werden, deren BSP pro Kopf<br />
weniger als 90% des EU-Durchschnitts beträgt (bisher<br />
Griechenland, Irland, Spanien, Portugal). Nach<br />
der EU-Erweiterung um 10 neue Mitglieder am 1. 5.<br />
2004 ist eine Umgruppierung unumgänglich geworden.<br />
Der zielangemessene Mitteleinsatz zur Verringerung<br />
regionaler Ungleichgewichte aus den Fonds der<br />
EU erfordert eine Koordinierung der (regionalen)<br />
Strukturpolitik der Mitgliedstaaten untereinander<br />
sowie mit der der Gemeinschaft. Als Koordinierungsinstrumente<br />
dienen:<br />
– der periodische Bericht der Kommission (alle drei<br />
Jahre) „über die Fortschritte bei der Verwirklichung<br />
des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts<br />
und über den Mitteleinsatz“ (Art. 159 EGV);<br />
– die gemeinschaftlichen Förderkonzepte (GFK),<br />
die die Leitlinien für die Gemeinschaftsinterventionen<br />
in Form von Zuschüssen oder Darlehn festlegen<br />
und die in sog. „Operationelle Programme“ umgesetzt<br />
werden. Diese beruhen auf integrierter Planung<br />
und Programmierung, d.h. statt isolierter Probleme<br />
werden Problemzusammenhänge in einer Gesamtstrategie<br />
angegangen (s. u. Ziff. 6);<br />
– die allgemeinen Beihilfesysteme mit regionaler<br />
Zweckbindung.<br />
Eine Präzisierung der Ziele, Aufgaben und Durchführungsmaßnahmen<br />
der Strukturpolitik der Gemeinschaft<br />
nehmen die Verordnungen über die Aufgaben<br />
der verschiedenen Fonds vor. Von besonderer<br />
Bedeutung sind dabei die „Verordnung des Rates<br />
vom 24. 6. 1988 über Aufgaben und Effizienz der<br />
Strukturfonds und über die Koordinierung ihrer Interventionen<br />
untereinander sowie mit denen der Europäischen<br />
Entwicklungsbank und der anderen vorhandenen<br />
Finanzierungsinstrumente“ (2052/88,<br />
ABl. L 185/1988), deren veränderte Fassung von<br />
Regionalpolitik<br />
1994 (3193/94, ABl. L 337/1994) und die im Zusammenhang<br />
mit der Verabschiedung der �Agenda 2000<br />
vollzogenen Reform der Strukturfonds-Verordnungen<br />
von 1999 (1260/1999, ABl. L 161/1999), die zu<br />
einer Straffung ihrer Ziele und Aufgaben geführt hat.<br />
Mit der dadurch erfolgten Konzentration der Mittel<br />
und mit der Vereinfachung der Verfahren wurden<br />
auch die Weichen für die Osterweiterung (2004) gestellt.<br />
Hervorzuheben ist, dass im Rahmen der Reform<br />
von 1999 im � Vertrag von Nizza vereinbart<br />
wurde, dass nunmehr der Rat regionale strukturpolitische<br />
Entscheidungen auf Vorschlag der Kommission<br />
und nach Beteiligung des EP über das Mitentscheidungsverfahren<br />
mit qualifizierter Mehrheit<br />
trifft (Art.162 EGV).<br />
5. Reform der regionalen Strukturpolitik. Einen<br />
wichtigen Anstoß für die Reform der Strukturfonds-<br />
Verordnung von 1999 gab neben dem Streben nach<br />
Steigerung der Effektivität der strukturpolitischen<br />
Maßnahmen die bevorstehende Osterweiterung der<br />
EU, die angesichts des immensen Flächen- und Bevölkerungszuwachses<br />
sowie der starken Zunahme<br />
wirtschaftlicher, sozialer und regionaler Disparitäten<br />
in der erweiterten Gemeinschaft einen effektiveren<br />
Einsatz der zur Verfügung stehenden Strukturfondsmittel<br />
erforderte.<br />
Die strukturellen Disparitäten und Schwächen in der<br />
erweiterten EU-25, die sich vor allem auf die neuen<br />
Beitrittsländer konzentrieren, erstrecken sich auf<br />
folgende Problembereiche:<br />
– unzureichende oder überalterte Infrastrukturen sowohl<br />
im Verkehrswesen, in der Agrarwirtschaft, in<br />
der Wasser- und Energieversorgung als auch im Bereich<br />
der Telekommunikation, vor allem in den<br />
grenznahen Gebieten der Außen- und z. T. auch der<br />
Binnengrenzen;<br />
– schwache oder veraltete Industriestrukturen mit oft<br />
überholten Produktionsverfahren, wenig marktgerechten<br />
Erzeugnissen und ökologischen Belastungen;<br />
– rückständige Wirtschaftsentwicklung, insbes. im<br />
Bereich wissensbasierter Industrien;<br />
– rückständige Agrarregionen mit vielfach überholten<br />
Besitz- und Produktionsstrukturen;<br />
– Verfall der Städte und Entvölkerung vieler ländlicher<br />
Räume mit entsprechenden sozialen, wirtschaftlichen<br />
und ökologischen Folgen;<br />
– hohe Arbeitslosigkeit mit besonders schwerwiegenden<br />
Folgen für Jugendliche, Frauen und Behin-<br />
643
Regionalpolitik<br />
derte sowie für wenig qualifizierte Arbeitskräfte, die<br />
immer länger arbeitslos bleiben.<br />
Vor dem Hintergrund der sich verschärfenden Herausforderungen<br />
war eine grundlegende Reform der<br />
Strukturpolitik der Union unaufschiebbar. Sie konzentriert<br />
sich auf<br />
– die Präzisierung der strukturpolitischen Zielsetzungen<br />
und die Vereinfachung der Verfahren zur<br />
Umsetzung regionalpolitischer Entscheidungen,<br />
– die Vereinfachung und Dezentralisierung der<br />
strukturpolitischen Fördermaßnahmen,<br />
– die Vorbereitung der neuen Beitrittskandidaten für<br />
den EU-Beitritt und<br />
– die Intensivierung der Kohäsionsanstrengungen<br />
für eine gefestigte Union.<br />
6. Neue Ziele nach der Reform: Der entscheidende<br />
Reformschritt bestand in der Neufassung der strukturpolitischen<br />
Grundsätze und Ziele für die Inanspruchnahme<br />
der Strukturfonds und der sonstigen<br />
Förderinstrumente der EU (1999). Mit der Konzentration<br />
auf drei statt bisher sieben strukturpolitische<br />
Ziele (�Fonds der EU) sind die Förderbedingungen<br />
nicht nur übersichtlicher und klarer geworden, sie<br />
haben auch eine Konzentration der Fördermaßnahmen<br />
auf die zentralen regionalen und strukturellen<br />
ProblemederUnionundaucheineStraffungderVergabeverfahren<br />
der angesichts der EU-Erweiterung<br />
um zehn Mitglieder knapper werdenden Fondsmittel<br />
bewirkt. Außerdem wurden die Mittelansätze für die<br />
Strukturfonds auf 0,46 % des EU-Bruttosozialprodukts<br />
eingefroren.<br />
Im Rahmen der Umsetzung der �Agenda 2000 hat<br />
der Rat am 21. 6. 1999 die Verordnung mit allgemeinen<br />
Bestimmungen über die Strukturfonds für den<br />
Programmplanungszeitraum 2000 – 2006 erlassen.<br />
Darin sind die Aufgaben, die vorrangigen Ziele und<br />
die Organisation der Strukturfonds, die für sie geltenden<br />
Regeln sowie die Bestimmungen festgelegt,<br />
die erforderlich sind, um die Wirksamkeit der Fonds<br />
und ihre Koordinierung sowohl untereinander als<br />
auch mit den anderen vorhandenen Finanzinstrumenten<br />
zu gewährleisten. Die drei neuen Ziele:<br />
Ziel 1: Entwicklung und strukturelle Anpassung der<br />
Regionen mit Entwicklungsrückstand, d. h. Regionen,<br />
deren BIP pro Kopf weniger als 75 % des Gemeinschaftsdurchschnitts<br />
beträgt. Die ab 2000 aus<br />
dieser Gruppe herausgefallenen Regionen erhalten<br />
über einen Zeitraum von 6 Jahren eine degressiv gestaffelte<br />
Übergangsunterstützung.<br />
644<br />
Ziel 2: Wirtschaftliche und soziale Umstellung von<br />
Gebieten, die mit Strukturproblemen konfrontiert<br />
sind. Dazu zählen Gebiete mit sozioökonomischem<br />
Strukturwandel in den Bereichen Industrie und<br />
Dienstleistungen,ländlicheGebietemitrückläufiger<br />
Entwicklung, Problemgebiete in Städten sowie von<br />
der Fischerei abhängige Problemräume. Kriterien<br />
für die Bestimmung solcher Gebiete sind hohe Arbeitslosigkeit,<br />
hoher Anteil an Langzeitarbeitslosen<br />
schrumpfende Bevölkerungszahlen, rückläufige Beschäftigung<br />
und zunehmende Armut. Der auf diese<br />
Gebiete insgesamt entfallende Bevölkerungsanteil<br />
darf18%derGesamtbevölkerungnichtübersteigen.<br />
Ziel 3: Anpassung und Modernisierung der Bildungs-,<br />
Ausbildungs- und Beschäftigungspolitiken<br />
und -systeme. Regionen, die unter Ziel 3 gefördert<br />
werden, erfahren keine Förderung unter Ziel 1. Für<br />
den Zeitraum von 2000 – 2006 stehen den Strukturfonds<br />
insgesamt Finanzmittel in Höhe von 195 Mrd.<br />
Euro, dem Kohäsionsfonds18 Mrd. Euro zur Verfügung<br />
(Aufteilung an die einzelnen Fonds vgl.<br />
Tabelle). Aus den Strukturfonds erhalten die unter<br />
Ziel 1 fallenden Regionen 135,9 Mrd. Euro (69,7 %),<br />
die Ziel-2-Gebiete 22,5 Mrd. Euro (11,5 %) und die<br />
unter Ziel 3 geförderten Gebiete 24,03 Mrd. Euro<br />
(12,3 %).<br />
Die strukturpolitischen Maßnahmen der EU werden<br />
in der Regel nach dem �Subsidiaritätsprinzip durchgeführt,<br />
d. h. sie erfolgen immer nur als Ergänzung<br />
zu den nationalen, regionalen oder lokalen Aktivitäten,<br />
jedoch nur dann, wenn die eigenen Mittel dafür<br />
nicht ausreichen. Die EU-Fördermittel werden also<br />
nur zusätzlich eingesetzt. Dementsprechend erfordert<br />
das Verfahren eine enge partnerschaftliche Abstimmung<br />
zwischen allen Beteiligten (EU, nationale<br />
und regionale Institutionen, regionale und lokale Behörden,<br />
Wirtschafts- und Sozialpartner). Die partnerschaftliche<br />
Beteiligung umfasst sowohl Vorbereitung<br />
und Finanzierung als auch Begleitung und<br />
Bewertung der Fördermaßnahmen.<br />
FürdieDurchführungderMaßnahmensindalleindie<br />
beteiligten Institutionen der Mitgliedstaaten verantwortlich.<br />
Mit der Dezentralisierung der Verantwortlichkeiten<br />
ist ein entscheidender kohäsionsfördernder<br />
Schritt erfolgt<br />
StrukturpolitischeFörderkonzeptederEUmüssenin<br />
sog. Gemeinschaftliche Förderkonzepte (GFK) eingebunden<br />
sein. Grundlage dafür sind Entwicklungspläne,<br />
die von den zuständigen Behörden des Mit-
gliedslandes zur Verfolgung der Ziele 1–3 aufgestellt<br />
werden. Die GFK beschreiben Strategien und<br />
Schwerpunkte, benennen (möglichst) quantitative<br />
Ziele und erwartete Auswirkungen und geben Hinweise<br />
über den Einbau der Maßnahmen in die nationale<br />
Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie über die<br />
beabsichtigte Durchführung der Programme. Die<br />
GFK werden von den Mitgliedsländern vorgeschlagenundenthalteneinennachFörderzielengegliederten<br />
Finanzierungsplan, der Höhe und Quelle der Gemeinschaftsmittel<br />
angibt.<br />
Darüber hinaus können auf Anregung der EU-Kommission<br />
sog. ergänzende �Gemeinschaftsinitiativen<br />
ergriffen werden. Im Zuge der Reform der Strukturpolitik<br />
von 1999 wurden die ursprünglich 15 Gemeinschaftsinitiativen<br />
auf 4 reduziert:<br />
INTERREG, die aus dem Europäischen Fonds für regionale<br />
Entwicklung (EFRE) finanzierte Initiative<br />
dient der Entwicklung grenzüberschreitender, interregionaler<br />
und transnationaler Zusammenarbeit<br />
URBAN,ebenfallsausdemEFREfinanziert,zieltauf<br />
wirtschaftliche und soziale Wiederbelebung krisenbetroffenerStädteundVorstädtezurFörderungeiner<br />
dauerhaften Stadtentwicklung.<br />
LEADER, die aus dem Europäischen Ausrichtungsund<br />
Garantiefonds für die Landwirtschaft (EAGFL),<br />
AbteilungLandwirtschaft,finanzierteInitiative,fördert<br />
Maßnahmen zur Entwicklung des ländlichen<br />
Raumes.<br />
EQUAL, aus dem Europäischen Sozialfonds finanziert,<br />
bekämpft Diskriminierungen und Ungleichheiten<br />
jeglicher Art auf dem Arbeitsmarkt.<br />
Regionalpolitik<br />
Auf die Gemeinschaftsinitiativen entfallen 5,35 %<br />
des Haushalts der Strukturfonds. Außerdem werden<br />
Programme für innovative Maßnahmen unterstützt,<br />
die als Ideenlabor für benachteiligte Regionen dienen.<br />
7. Herausforderungen der EU-Osterweiterung. Die<br />
Ost-Erweiterung der EU auf 25 Mitgliedstaaten (am<br />
1. 5. 2004) stellt eine enorme Herausforderung für<br />
die Wettbewerbsfähigkeit und den inneren Zusammenhalt<br />
der Union dar, da die Entwicklungskluft in<br />
derUnionsicherheblichvergrößerthat.DerAbstand<br />
im BIP pro- Kopf zwischen den 10 % der Bevölkerung<br />
in den wohlhabendsten Regionen und dem gleichen<br />
Prozentsatz in den ärmsten Regionen hat sich<br />
im Vergleich zur alten EU verdoppelt. 116 Millionen<br />
Menschen – rd. ein Viertel der Gesamtbevölkerung<br />
derEU–lebeninRegionen,derenPro-Kopf-BIPweniger<br />
als 75 % des EU-Durchschnitts beträgt. Um das<br />
Beschäftigungsniveau der neuen Beitrittsstaaten<br />
dem Niveau der alten EU-Länder anzugleichen,<br />
müssen mindestens 3 Millionen neue Arbeitsplätze<br />
geschaffen werden. Die Anpassung der Infrastruktur<br />
an das Niveau der EU-15 wird erhebliche nationale<br />
und gemeinschaftliche Anstrengungen erfordern.<br />
Nachdem die 10 Beitrittsländer alle Beitrittsbedingungen<br />
erfüllt haben, hat mit dem Beitritt am 1. 5.<br />
2004 die volle Förderung aus Mitteln der Strukturfonds<br />
und des Kohäsionsfonds begonnen. Im Zeitraum2004<br />
– 2006stehenden10neuenMitgliedstaaten<br />
insgesamt über 24 Mrd. Euro gemeinschaftliche<br />
Fördermittel aus diesen Fonds zur Verfügung (s. Tabelle).<br />
645
Regionalpolitik<br />
Ungarn, die 3 baltischen Staaten, Malta, Polen und<br />
Slowenien erfahren eine flächendeckende FörderungnachZiel1,währendZypern,dieRegionenPrag<br />
(Tschechien) und Bratislava (Slowakei) die Förderkriterien<br />
nach Ziel 1 nicht mehr erfüllen; sie werden<br />
nur nach Ziel 2 und 3 gefördert. Alle neuen Mitgliedsländer<br />
nehmen außerdem an den Gemeinschaftsinitiativen<br />
INTERREG und EQUAL teil.<br />
Auf Grund des starken wirtschaftlichen und sozialen<br />
Gefälles zwischen den alten EU-Staaten und den<br />
Beitrittsländern erhalten die Grenzregionen, in denen<br />
dieses Gefälle besonders spürbar wird, eine zusätzliche<br />
Förderung zur Stärkung der grenzüberschreitenden<br />
Zusammenarbeit, z. B. im Rahmen von<br />
INTERREG und PHARE. Im Vordergrund stehen<br />
die Verbesserung der Verkehrssysteme, die Unterstützung<br />
kleiner und mittlerer Unternehmen sowie<br />
Ausbildung und interkulturelle Zusammenarbeit.<br />
8. Bilanz und Perspektive: Mit der Osterweiterung<br />
der EU war die Reform ihrer Strukturpolitik unumgänglich<br />
geworden. Weder die EU-Institutionen<br />
noch deren Instrumentarium wären in der Lage gewesen,<br />
die mit der Erweiterung verbundenen Aufgaben<br />
und Probleme angemessen zu bewältigen. Der<br />
Vertrag von Nizza und die Verabschiedung des Europäischen<br />
�Verfassungsvertrags 2004 haben, das<br />
InkrafttretendesVVEvorausgesetzt,denWegfüreinenQualitätssprunginderEntwicklungderEuropäischen<br />
Union freigemacht. Dieser besteht zum einen<br />
in der Konzentration der bis dahin unübersichtlichen,<br />
sich teilweise überschneidenden Zielbereiche<br />
auf 3 zentrale Zielsetzungen, in der Erweiterung der<br />
Handlungsgrundsätze um die Dimension von Umwelt<br />
und nachhaltiger Entwicklung sowie in der Reduzierung<br />
der Gemeinschaftsinitiativen von 15 auf<br />
4, und zum anderen in umfangreichen institutionellen<br />
und organisationstechnischen Umstrukturierungen<br />
und Vereinfachungen. Hervorzuheben sind insbes.<br />
die Aufwertung des �Subsidiaritätsprinzips, die<br />
Stärkung der regionalen Handlungskomponente, die<br />
Erweiterung der Mitentscheidung des Europäischen<br />
Parlaments und verschiedener anderer Institutionen<br />
(�Vertrag von Nizza, Europäischer �Verfassungsvertrag)<br />
sowie die Ausdehnung von Mehrheitsentscheidungen<br />
im Ministerrat.<br />
Die Lösung der anstehenden Zukunftsaufgaben ist<br />
trotz gründlicher Beitrittsvorbereitung schwieriger<br />
geworden, zumal künftige Entwicklungen mehr und<br />
mehrvonGlobalisierungsprozessenbeeinflusstwer-<br />
646<br />
den und damit komplexer geworden sind. In Anbetracht<br />
der steigenden Heterogenität herrscht Unsicherheit<br />
über die weitere Integrationsentwicklung<br />
im weltweit größten Wirtschaftsraum.<br />
Ob Stillstand oder Fortschritt den künftigen Kurs bestimmen<br />
werden, wird entscheidend davon abhängen,<br />
ob und wie die Ansätze und Weichenstellungen<br />
der Strukturpolitikreform umgesetzt und fortentwickelt<br />
werden. Große Wohlstands- und Entwicklungsunterschiede,<br />
unterschiedliche historisch-politische<br />
Vergangenheiten und politische Kulturen, divergierende<br />
nationale Konzepte zur Modernisierung<br />
der Wirtschafts- und Sozialsysteme, Kapazitätsunterschiede,<br />
uneinheitliche Steuersätze und -systeme,<br />
ein ausgeprägtes Machtgefälle zwischen großen und<br />
kleinen Mitgliedsländern, nationale Egoismen, insbes.<br />
immer stärker in Erscheinung tretende Verteilungskonflikte<br />
bei der Aushandlung des Finanzrahmens<br />
2007–2013 (�Finanzielle Vorausschau) u. v. a.<br />
prägen das Erscheinungsbild der erweiterten EU.<br />
Die derzeitige Konstellation hat sowohl das Potential,<br />
den Integrationsprozess aufzuhalten als auch ihn<br />
zügig voran zu treiben. Für eine fortschrittliche Entwicklung<br />
ist in erster Linie vorrangig, Fehlentwicklungen<br />
der Vergangenheit zu korrigieren und die<br />
zentralen strukturpolitischen Reformaufgaben zügig<br />
anzugehen und neuen Erfordernissen und Erkenntnissen<br />
Rechnung zu tragen, insbes.:<br />
– die Funktionsfähigkeit der Institutionen auf allen<br />
Ebenen zu stärken und ihre Arbeit flexibler zu handhaben;<br />
– das Subsidiaritätsprinzip noch konsequenter und<br />
flexibler anzuwenden und zugleich die Mitbeteiligung<br />
der Bürger einzufordern. Die Stärkung der RegionenistdafüreineunverzichtbareVoraussetzung;<br />
– sektorale und regionale Strukturpolitik noch enger<br />
zu verzahnen und als Einheit zu betrachten. Dabei<br />
gilt es, die verschiedenen Sektorpolitiken konsequenter<br />
in die übergeordneten strukturpolitischen<br />
Zielsetzungen einzubinden. Erst eine StrukturpolitikauseinemGussgewinntanÜberzeugungskraft;<br />
– die auf Integration zielenden strukturpolitischen<br />
Aufgabenfelder noch konsequenter umzusetzen und<br />
zuverzahnen. K. E.<br />
Literatur:<br />
Conzelmann, Th.: Große Räume, kleine Räume. Europäische<br />
Regionalpolitik in Deutschland und in Großbritannien.<br />
Baden-Baden 2002<br />
Conzelmann, Th./Knodt, M. (Hg): Regionales <strong>Europa</strong> –<br />
europäische Regionen. Frankfurt a. M. 2002
Lippert, B.: Erweiterungspolitik der Europäischen Union. In:<br />
Weidenfeld, W./Wessels, W. (Hg), Jahrbuch der Europäischen<br />
Integration 2002/2003. Bonn 2003<br />
Lippert, B. (Hg): Bilanz und Folgeprobleme der EU –<br />
Erweiterung. Berlin 2004<br />
Loth, W. (Hg):Das europäische Projekt zu Beginn des<br />
21. Jahrhunderts. Opladen 2001<br />
Noreisch, B.: Regionalpolitik in der Europäischen<br />
Gemeinschaft. Hamburg 2004<br />
Seidel, B.: Regional-, Struktur- und Kohäsionspolitik. In:<br />
Weidenfeld, W./Wessels, W. (Hg), <strong>Europa</strong> von A–Z.Taschenbuch<br />
der Europäischen Union. Bonn 2002, S. 321– 328<br />
Südekum, J.: Wie sinnvoll ist die Regionalpolitik der Europäischen<br />
Union? In: Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, 51,<br />
2/2002, S.121– 141<br />
Tkaczynski, J. W./Rossmann, G.: Die Fonds der Europäischen<br />
Union. Finanzinstrumente vor dem Hintergrund der Osterweiterung<br />
der Gemeinschaft. Frankfurt/Main 2001<br />
Toepel, K: Regionalpolitik und Infrastruktur. In: Weidenfeld,<br />
W./Wessels, W. (Hg), Jahrbuch der Europäischen Integration<br />
1998/1999–2003/2004. Bonn 1999 ff.<br />
Wiedmann, Th.: Idee und Gestalt der Region in <strong>Europa</strong>.<br />
Baden-Baden 1996<br />
Woyke, W.: Die Agenda der Europäischen Union zu Beginn des<br />
21. Jahrhunderts. In: Loth, W. (Hg), Das europäische Projekt<br />
zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Opladen 2001, S. 9–24<br />
Regionen. Der Begriff der Region wird je nach Themenbezug<br />
nach ökonomischen, räumlichen oder politischen<br />
Gesichtspunkten definiert. So existieren<br />
neben Arbeitsmarktregionen Planungsregionen, administrative<br />
oder kulturell-sprachlich abgrenzbare<br />
Regionen. Der Begriff der Region richtet sich insofern<br />
nach dem Kontext, in dem er eingesetzt wird<br />
oder nach der Funktion, die er erfüllen soll. Eine eindeutige<br />
Definition findet sich deshalb weder in den<br />
Gründungsverträgen noch in den Strukturfondsverordnungen<br />
der EG.<br />
Die einzige offizielle Abgrenzung des Regionenbegriffs<br />
auf europäischer Ebene ist die statistische Einheit<br />
�NUTS (nomenclature des unités territoriales<br />
statistiques), mit der die unterschiedlichen subnationalen<br />
Verwaltungseinheiten grob strukturiert werdensollen.AnhandderNUTSwirdjedesLandindrei<br />
subnationale Ebenen unterteilt, die der Größe nach<br />
abwärts von I bis III beziffert werden und – sofern die<br />
Mitgliedstaaten über einen dreistufigen Verwaltungsaufbau<br />
verfügen – diesen in der Regel widerspiegeln.<br />
Die NUTS-Gebietseinheiten stellen dabei<br />
lediglich ein grobes statistisches Raster dar, das<br />
bspw. bei der Auswahl der Gebiete für die Strukturfondsförderung<br />
eine Rolle spielt. In Deutschland<br />
entspricht die NUTS I-Ebene den Ländern, die<br />
NUTS II-Ebene den Regierungsbezirken (sofern<br />
Regionen<br />
vorhanden) und die Ebene NUTS III den Landkreisen.<br />
Die Gebietsabgrenzungen sind etwa bei der Gegenüberstellung<br />
Deutschlands und Frankreichs, das<br />
mit seinen kleinteiligeren Régions keine den deutschen<br />
Bundesländern entsprechende NUTS I-Ebene<br />
besitzt, nicht wirklich vergleichbar. Weil sich etwa<br />
aufgrund von regionalpolitischen Problemlagen andere<br />
Abgrenzungen als sinnvoller erweisen können,<br />
ist die Kommission bei der Abgrenzung von Fördergebieten<br />
der Strukturfonds flexibel. Auch die Besetzung<br />
des �Ausschusses der Regionen (AdR) zeigt,<br />
wie unterschiedlich die Kompetenzen der Regionen<br />
innerhalb der Mitgliedstaaten verteilt sind: Neben<br />
deutschen Ministerpräsidenten sind hier die deutlich<br />
weniger einflussreichen Präsidenten der französischen<br />
Regionalräte (Conseils Régionaux) oder die<br />
mit noch geringeren Einflussmöglichkeiten ausgestatteten<br />
Repräsentanten der englischen Grafschaften<br />
(Counties) vertreten.<br />
Nach wie vor unterscheiden sich die Regionen in <strong>Europa</strong><br />
hinsichtlich ihrer Gesetzgebungsbefugnisse<br />
und administrativen Aufgaben, ihrer demokratischen<br />
Legitimation, ihrer finanziellen Ausstattung<br />
sowieinihrerGrößeundBevölkerungszahldeutlich.<br />
Die regionale Handlungsfähigkeit wird dabei in erster<br />
Linie von den verfassungsmäßigen Regelungen<br />
und den zugrunde liegenden ordnungspolitischen<br />
KonzeptenderjeweiligenMitgliedstaatenbestimmt,<br />
dieinnerhalb<strong>Europa</strong>snachwiestarkdivergieren.Eigene<br />
Zuständigkeiten besitzen Regionen vielfach im<br />
Bereich der regionalen Wirtschaftspolitik, der<br />
Raumordnung oder der Wohnbaupolitik. Nur in föderalen<br />
Staaten sind die obersten regionalen Ebenen<br />
als fester Bestandteil der Staatsorganisation mit entsprechenden<br />
Gesetzgebungsbefugnissen und finanziellen<br />
Handlungsmöglichkeiten ausgestattet (z. B.<br />
im Fall der deutschen Bundesländer). Auch das<br />
Stichwort des „<strong>Europa</strong>s der Regionen“ bleibt vor<br />
dem Hintergrund der Unterschiedlichkeit europäischer<br />
Staatsorganisationen und regionaler Einflussmöglichkeiten<br />
wenig präzise und dient vor allem als<br />
Leitbild des europäischen �Regionalismus.<br />
In den Stellungnahmen und Beschlüssen zum Regionalismus<br />
wird der Regionenbegriff sehr weit ausgelegt.InderGemeinschaftschartadesEPausdemJahr<br />
1988wirdunterRegionbspw.einGebietverstanden,<br />
„das aus geographischer Sicht eine deutliche Einheit<br />
bildet, oder aber ein gleichartiger Komplex von Gebieten,<br />
die ein in sich geschlossenes Gefüge darstel-<br />
647
RESIDER<br />
len und deren Bevölkerung durch bestimmte gemeinsame<br />
Elemente gekennzeichnet ist, die die daraus<br />
resultierenden Eigenheiten bewahren und weiterentwickeln<br />
möchte, um den kulturellen, sozialen<br />
und wirtschaftlichen Fortschritt voranzutreiben“<br />
(Kap. I, Abs. 1). In der 1996 von der �Versammlung<br />
der Regionen <strong>Europa</strong>s (VRE), einem Kongress im<br />
Rahmen des <strong>Europa</strong>rates, verabschiedeten „Erklärung<br />
zum Regionalismus in <strong>Europa</strong>“ wird die Region<br />
idealtypisch als unmittelbar unter der Ebene des<br />
Staates angeordnete Gebietskörperschaft des öffentlichen<br />
Rechts konzipiert, die durch Verfassung oder<br />
Gesetz anerkannt ist und über eine eigene politische<br />
Identität, eine eigene Verwaltung, eigenes Personal,<br />
eigene Finanzen und eigene Symbole verfügt (Art.<br />
1). Diesen Status haben die meisten Regionen <strong>Europa</strong>sbislangnichterreicht.<br />
S. A.<br />
Literatur:<br />
Ellwein, Th./Mittelstraß, J. (Hg.): Regionen, Regionalismus,<br />
Regionalentwicklung. Oldenburg 1996<br />
Europäisches Parlament: Gemeinschaftscharta zur<br />
Regionalisierung. Straßburg 1988<br />
Versammlung der Regionen <strong>Europa</strong>s: Erklärung zum<br />
Regionalismus in <strong>Europa</strong>. Straßburg 1996<br />
RESIDER war eine mehrfach wiederholte Gemeinschaftsinitiative<br />
zur Unterstützung der Umstellung<br />
der vom Strukturwandel besonders betroffenen ehemaligen<br />
Eisen- und Stahlreviere. Laufzeit bis Ende<br />
1999. Ähnliche Programme �RECHAR, �RETEX,<br />
�KONVER.<br />
RESNET (Research Network). Forschungsnetzwerk,<br />
1997 errichtet zur Beratung des Europäischen<br />
Beschäftigungsobservatoriums (EBO). RESNET ist<br />
derzeit nicht aktiv, es wird künftig die Europäische<br />
Kommission bei der vergleichenden Arbeitsmarktforschung<br />
und -analyse beraten. Weitere Informationsnetze<br />
des EBO sind �MISEP und �SYSDEM.<br />
Ressortabsprache. Vereinbarung zwischen den<br />
Bundesministerien in Bezug auf die Pflicht der Bundesregierung,<br />
vor ihrer gesetzgeberischen Mitwirkung<br />
im Rat der EU Stellungnahmen des Bundestags<br />
und des Bundesrats einzuholen (Art. 23 GG). Das<br />
Nähere regelt u. a. das �„Zusammenarbeitsgesetz<br />
zwischen Bund und Ländern in Angelegenheiten der<br />
Europäischen Union“ (EUZBLG). Um die Unterrichtung<br />
des Bundestags zu organisieren und zu vereinheitlichen,<br />
haben die Bundesministerien in ihrer<br />
648<br />
Vereinbarung vom 26. 1. 1994 (Ressortabsprache<br />
genannt, BGBl. I S. 311) das Verfahren der Unterrichtung<br />
präzisiert.<br />
RETEX. Gemeinschaftsinitiative zur Unterstützung<br />
des Strukturwandels in Regionen mit Textilindustrie,<br />
finanziert aus dem �Fonds für regionale Entwicklung<br />
(EFRE). Ähnliche Förderprogramme waren<br />
�RECHAR (für Regionen mit Kohlebergbau),<br />
�RESIDER (Stahlreviere), �KONVER (Rüstungsbetriebe).<br />
Die Förderprogramme sind 1999 ausgelaufen.<br />
Richtlinien sind �Rechtsakte der Gemeinschaft<br />
nach Art. 249 EGV, die an die Mitgliedstaaten gerichtetsindundsieverpflichten,denInhaltderRichtlinie<br />
innerhalb einer vorgegebenen Zeit so in nationales<br />
Recht umzusetzen, dass das in der Richtlinie<br />
genannte und verbindliche Ziel erreicht wird. Sie<br />
sinddabeifreiinderWahlderFormundderMittel.<br />
Richtlinienkompetenz �Leitlinienkompetenz<br />
Richtpreis. Vor der �Agrarreform der Agenda 2000<br />
aufgrund von Marktordnungen (z. B. für Getreide)<br />
jährlich neu angesetzter Preis, der keine bindende<br />
Wirkung hatte, sondern sozusagen ein erwünschter,<br />
angestrebter Erzeugerpreis war. Er lag höher als der<br />
Schwellenpreis (der Mindesteinfuhrpreis = Richtpreis<br />
abzüglich Transportkosten bis zum Referenzgebiet<br />
Duisburg) und der Interventionspreis, der den<br />
Erzeugern garantiert wurde. Richtpreise gibt es in<br />
der Gemeinsamen Agrarpolitik noch für Milch.<br />
Robert-Schuman-Aktion �Aktion Robert Schuman<br />
Römische Verträge werden die am 25. 3. 1957 von<br />
sechs Staaten in Rom unterzeichneten Verträge zur<br />
Gründung der �Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft<br />
(EWG) und der �Europäischen Atomgemeinschaft<br />
(EAG/EURATOM) genannt. Sie traten am 1.<br />
1. 1958 in Kraft. Der Vertrag zur Gründung der �Europäischen<br />
Gemeinschaft für Kohle und Stahl<br />
(EGKS) wurde 1951 in Paris unterzeichnet und wird<br />
�Pariser Vertrag genannt.<br />
Rougemont, Denis de (1906 – 1985), schweizerischer<br />
Schriftsteller und Philosoph, engagierter Ver-
fechter des Gedankens eines vereinten <strong>Europa</strong>s. Er<br />
gründete 1950 das dem <strong>Europa</strong>rat nahestehende<br />
„Centre européen de la culture“ in Genf, dessen Leiter<br />
er war, und 1954 gemeinsam mit Robert Schuman<br />
die �Europäische Kulturstiftung.<br />
Rücktritt. Primärrechtlich erwähnt ist allein die<br />
Möglichkeit des Rücktritts für Mitglieder der Kommission<br />
(Art. 215 EGV). Der Rat ernennt mit qualifi-<br />
Rüstungspolitik<br />
zierter Mehrheit einen Nachfolger, kann darauf aber<br />
auch verzichten. Für Mitglieder des Europäischen<br />
Parlaments ist der Rücktritt in der Geschäftsordnung<br />
geregelt (Art. 4 GO–EP). Mitglieder des Rats unterliegen<br />
hinsichtlich ihres Rücktritts nationalen Regelungen.<br />
Rüstungspolitik �Nichtverbreitungs- und Abrüstungspolitik<br />
649