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Festung Europa

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Fachgerichte �Gerichtliche Kammern<br />

FADO (False and Authentic Documents) ist das<br />

Bildarchivierungssystem der EU mit einer Datenbank,<br />

in der Abbildungen falscher bzw. gefälschter<br />

sowie echter Dokumente für die Einreise in die EU<br />

gespeichert und zwischen den Mitgliedstaaten ausgetauscht<br />

werden können, ebenso Informationen<br />

über Techniken zur Sicherung und zur Fälschung<br />

von Dokumenten. Rechtsgrundlage ist die Gemeinsame<br />

Maßnahme des Rates vom 3. 12. 1998 (ABl. L<br />

333/ 1998).<br />

FAIR (Agriculture and Fisheries Programme),<br />

EU-Forschungs- und Entwicklungsprogramm im 4.<br />

Forschungsrahmenprogramm (1994 – 1998) in den<br />

Bereichen Landwirtschaft, Gartenwirtschaft, Forstwirtschaft,<br />

Fischerei und Aquakultur. Das Programm<br />

umfasste die Produktion und Nutzung von<br />

biologischen Rohstoffen mit dem Ziel, neue Produkte<br />

und Produktionsprozesse in den Bereichen Lebensmittel<br />

und Non-Food zu entwickeln. Im 5. FRP<br />

(1998 – 2002) abgelöst vom Programm Quality of<br />

Life and Management of Living Resources.<br />

Internet: www.cordis.lu/fair/home.html<br />

Falcone. Ein Programm der EU (benannt nach dem<br />

im Mai 1992 von der Mafia ermordeten italienischen<br />

Richter Falcone) in Zusammenhang mit dem �Aktionsplan<br />

zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität.<br />

Es fördert Projekte zur Ausbildung, zum Informationsaustausch<br />

und zur Zusammenarbeit der<br />

Personen, die für die Bekämpfung der organisierten<br />

Kriminalität zuständig sind (Richter, Staatsanwälte,<br />

Polizei-, Zoll-, Finanzbeamte u. a.). Rechtsgrundlage<br />

ist die Gemeinsame Maßnahme des Rates 98/<br />

245/JI (ABl. L 99/1998).<br />

Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie �FFH-Richtlinie<br />

Feierliche Erklärung/Deklaration zur Europäischen<br />

Union des Europäischen Rates vom Juni<br />

1983 in Stuttgart (auch Stuttgarter Erklärung<br />

genannt). In ihr werden rechtlich unverbindlich all-<br />

F<br />

<strong>Festung</strong> <strong>Europa</strong><br />

gemeine Ziele für eine �Europäische Union aufgeführt,<br />

z. B. die Grundsätze der Demokratie und die<br />

WahrungdesRechtsundderMenschenrechte,ferner<br />

Aufgaben und Befugnisse des Europäischen Rates<br />

und des Europäischen Parlaments definiert, die Notwendigkeit<br />

weiterer wirtschaftlicher Integration und<br />

der kulturellen Zusammenarbeit benannt sowie Verfahrensänderungen<br />

in der Europäischen Politischen<br />

Zusammenarbeitvorgeschlagen. W. M.<br />

�Europäische Union, �Spinelli-Entwurf<br />

Fernsehen ohne Grenzen �Fernsehrichtlinie,<br />

�Medienpolitik<br />

Fernsehrichtlinie wird die Richtlinie 89/552 „zur<br />

Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften<br />

der Mitgliedstaaten über die Ausübung<br />

der Fernsehtätigkeit“ genannt (ABl. L 298/<br />

1989). Sie wurde geändert durch Richtlinie 97/36<br />

(ABl. L 202/1997). Die Richtlinie eröffnete den<br />

Fernsehdiensten in der EU den freien Dienstleistungsverkehr<br />

im Binnenmarkt („Fernsehen ohne<br />

Grenzen“). Sie koordiniert die nationale Gesetzgebung<br />

u. a. in Bezug auf den Zugang der Zuschauer zu<br />

(sportlichen) Großereignissen. Gemäß Art. 3 (a) (2)<br />

der Richtlinie wurde bspw. der deutsche Rundfunkstaatsvertrag<br />

geändert; darin bestimmt Art. 5a nun,<br />

dass die Übertragung von „Ereignissen von erheblicher<br />

gesellschaftlicher Bedeutung“ unverschlüsselt<br />

und zu angemessenen Bedingungen erfolgen muss.<br />

Darunter fallen Großereignisse wie Olympische<br />

Sommer- und Winterspiele, bei Fußball-<strong>Europa</strong>und<br />

Weltmeisterschaften das Eröffnungs- und das<br />

Endspiel sowie die Halbfinalspiele und alle Spiele<br />

mit deutscher Beteiligung, Endspiele der Champions-League<br />

und im UEFA-Cup mit deutscher Beteiligung<br />

sowie alle Spiele der deutschen Fußballnationalmannschaft.<br />

�Medienpolitik<br />

<strong>Festung</strong> <strong>Europa</strong>. Häufig in kritischer oder polemischer<br />

Absicht verwendete Bezeichnung für die tatsächliche<br />

oder behauptete Abschottung des Europäischen<br />

Binnenmarktes in Bezug auf die �Handelspolitik,<br />

insbes. gegenüber Entwicklungsländern, oder<br />

321


FFH-Richtlinie<br />

die �Einwanderungs- bzw. �Asylpolitik im Rahmen<br />

des �Schengen-Prozesses.<br />

FFH-Richtlinie (Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie).<br />

Die Bezeichnung Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie,<br />

kurz FFH-Richtlinie, steht für die im Jahre 1992 beschlossene<br />

Richtlinie 92/43 zur Erhaltung der natürlichen<br />

Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere<br />

undPflanzen(ABl.Nr.L206/1992).Fürdasausführliche<br />

Regelungswerk hat sich jedoch fast ausschließlich<br />

die Bezeichnung FFH-Richtlinie eingebürgert,<br />

die sich von Fauna (= Tierwelt), Flora (= Pflanzenwelt)<br />

und Habitat (= Lebensraum) ableitet. Die<br />

FFH-Richtlinie hat zum Ziel, die biologische Vielfalt<br />

in den Mitgliedstaaten durch Festlegung eines<br />

gemeinsamen Rahmens für die Erhaltung der wildlebendenPflanzenundTiereundderLebensräumevon<br />

gemeinschaftlichem Interesse aufrechtzuerhalten.<br />

Die Schutzgebiete nach der FFH-Richtlinie werden<br />

unter dem Begriff �„Natura 2000“ zusammengefasst.DieRichtliniebeinhaltetauchdieSchutzgebiete<br />

der �Vogelschutz-Richtlinie 79/409 aus dem Jahr<br />

1979. In Anhang I (Natürliche Lebensräume von gemeinschaftlichem<br />

Interesse) und Anhang II (Tierund<br />

Pflanzenarten von gemeinschaftlichem Interesse)<br />

der FFH-Richtlinie sind die Lebensräume und<br />

Arten aufgeführt, für deren Erhaltung besondere<br />

Schutzgebiete ausgewiesen werden müssen. Verschiedene<br />

dieser Gebiete werden als „prioritäre“ natürliche<br />

Lebensraumtypen oder prioritäre (bedrohte)<br />

Arten definiert. Anhang IV enthält eine Aufzählung<br />

der besonders streng zu schützenden Tier- und Pflanzenarten.<br />

Mit der Novellierung des Bundesnaturschutzgesetzes<br />

(BNatSchG) 1998 wurde die<br />

FFH-Richtlinie in nationales Recht umgesetzt (§§ 32<br />

ff. BNatSchG).<br />

Die FFH-Richtlinie gibt ein abgestuftes Verfahren<br />

der Schutzgebietsausweisung vor: Zunächst erstellendieBundesländerListenvonSchutzgebieten.Die<br />

Flächen sollen primär unter dem Kriterium des Arten-<br />

und Habitatschutzes zusammengestellt werden,<br />

dürfen aber (naturgemäß) auch schon bestehende<br />

Schutzgebiete nach dem Bundesnaturschutzgesetz<br />

(Natur- und Landschaftsschutzgebiete, Biosphärenreservate,<br />

National- und Naturparks sowie geschützte<br />

Biotope) umfassen. Bei der Auswahl haben die<br />

Länder einen naturschutzfachlichen Ermessensspielraum.<br />

Die Nichtaufnahme eines Gebietes mit<br />

erheblicher ökologischer Bedeutung stellt jedoch<br />

322<br />

schon eine Verletzung der FFH-Richtlinie dar. In einem<br />

zweiten Schritt melden die Bundesländer die<br />

Listen mit den FFH-Flächen an das Bundesumweltministerium,<br />

welches sie an die EU-Kommission<br />

weiterleitet. Nach einer Prüfung („Konzertierung“)<br />

u. a. durch den EU-Habitatausschuss nimmt die<br />

EU-Kommission die Schutzgebiete in den Natura<br />

2000-Katalog auf.<br />

Die Ausweisung als FFH-Gebiet hat zur Folge, dass<br />

bei – nicht grundsätzlich verbotenen – Eingriffen<br />

durch Pläne und Projekte eine Verträglichkeitsprüfung<br />

durchgeführt werden muss. Diesbezüglich gilt<br />

ein grundsätzliches Verschlechterungs- und Störungsverbot.<br />

Die Verträglichkeitsprüfung wird unabhängig<br />

von einer evtl. zusätzlich erforderlichen<br />

Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) durchgeführt,<br />

auch der Eingriffs-Ausgleich nach dem Bundesnaturschutzgesetz<br />

ist unabhängig davon. Außerdem<br />

muss eine Alternativenprüfung durchgeführt<br />

werden, bei der Projekt- und Standortalternativen<br />

untersucht werden. Eingriffe sind grundsätzlich nur<br />

dann zu verwirklichen, wenn ein öffentliches Interesse<br />

nachgewiesen ist. Sind prioritäre Arten oder<br />

Biotope betroffen, muss die Stellungnahme der<br />

EU-Kommission eingeholt werden. Ist der Eingriff<br />

nach dem Bundesnaturschutzgesetz zulässig, muss<br />

dafür ein Ausgleich geleistet werden.<br />

Eingriffe in nicht gemeldete, aber dennoch schutzwürdige<br />

Gebiete (sog. faktische Vogelschutzgebiete<br />

undpotenzielleFFH-Gebiete)sindebenfallsnurausnahmsweise<br />

zulässig.<br />

Infolge des Beitritts der zehn neuen Mitgliedstaaten<br />

am 1. 5. 2004 wurden die Anhänge dieser Richtlinie<br />

geändert, um die biologische Vielfalt in diesen Ländern<br />

einzubeziehen. Die neuen Mitgliedstaaten<br />

mussten ihre Listen der Schutzgebiete zum 1. 5. 2004<br />

einreichen. Ch. S.<br />

Literatur:<br />

Gellermann, M.: Natura 2000: Europäisches Habitatschutzrecht<br />

und seine Durchführung in der Bundesrepublik<br />

Deutschland. Berlin/Heidelberg 2001 2<br />

Berner, K.: Der Habitatschutz im europäischen und deutschen<br />

Recht. Baden-Baden 2000<br />

Bergmann, J./Kenntner, M.: Deutsches Verwaltungsrecht unter<br />

europäischem Einfluss. Stuttgart u. a. 2002, Kap. 15<br />

FIAF (Finanzinstrument für die Ausrichtung der Fischerei)<br />

�Fischereipolitik, �Fonds der EU<br />

FIEC (Féderation de l’Industrie Européenne de la<br />

Construction). Verband der Europäischen Bauindu-


strie. Gegründet 1957, Sitz in Paris und Brüssel.<br />

>CEN<br />

FIME (Fédération Internationale des Maisons de<br />

l’Europe), Internationale Föderation der <strong>Europa</strong>häuser,<br />

gegründet 1992 unter Schirmherrschaft des <strong>Europa</strong>rates.<br />

Derzeit 128 Bildungs- und Informationseinrichtungen<br />

in 32 europäischen Ländern.<br />

Finalität der europäischen Integration. Seit den<br />

Anfängen der europäischen �Integration, die bis<br />

heute als evolutionärer Prozess verstanden wird<br />

(Präambel EUV, Präambel EGV, Präambel Verfassungsvertrag<br />

2004), wird die Frage nach ihrem Ziel,<br />

ihrer endgültigen Gestalt, ihrer Finalität gestellt. Finalität<br />

als Erreichen eines statischen Endzustandes<br />

setzt eine räumliche und zeitliche Begrenzung des<br />

Integrationsprozesses voraus. Der Prozess kann jedoch<br />

auch als in jeder Beziehung offener Vorgang<br />

ohne Finalität gesehen werden, der in einer sich verändernden<br />

Welt die Möglichkeit laufender Veränderungen<br />

und Anpassungen bietet.<br />

Prognosen über die institutionelle Finalität der Integration<br />

haben sich im Verlauf des Integrationsprozesses<br />

verändert, sind also selbst einem Prozess unterworfen.<br />

Während anfänglich die Alternative Bundesstaat<br />

(Föderation) oder Staatenbund (Konföderation)dieDiskussionbeherrschte,wurdenmitderZeit<br />

weitere mögliche Formen einer finalen Struktur entwickelt,<br />

die sich z. T. von historischen Vorbildern<br />

völkerrechtlicher Zusammenschlüsse von Staaten<br />

entfernt und zu neuen Modellen des institutionellen<br />

Integrationsziels geführt haben. Aber selbst die Versuche,<br />

den bisher erreichten Zustand der Integration<br />

in der EU begrifflich zu fassen (Staatenverbund, Integrationsverbund),<br />

haben noch kein allgemein akzeptiertes<br />

Ergebnis erbracht.<br />

In der aktuellen Diskussion über die Zukunft <strong>Europa</strong>s<br />

stehen eher die Voraussetzungen einer Finalität<br />

(mehr Effizienz, mehr Demokratie, mehr Akzeptanz)<br />

und die Wege dorthin (z. B. über verstärkte Zusammenarbeit)<br />

im Mittelpunkt als das Ziel selbst.<br />

Dabei ist nicht zu übersehen, dass sich auch nach einem<br />

halben Jahrhundert Integration in <strong>Europa</strong> der<br />

Wunsch nach Desintegration und nationaler Souveränität<br />

immer noch zu Wort meldet, nach dem ScheiternderReferendenüberden<br />

�Verfassungsvertragin<br />

Frankreich und den Niederlanden im Mai/Juni 2005<br />

und dem ergebnislosen Europäischen Rat vom<br />

Finanzielle Vorausschau<br />

16./17. 6. 2005 über die �Finanzielle Vorausschau<br />

bis 2013 sogar verstärkt.<br />

Finanzausschuss �Wirtschafts- und Finanzausschuss<br />

Finanzbeiträge. Die Ausgaben von EWG und<br />

EURATOM wurden nach Gründung der Gemeinschaften<br />

zunächst durch Finanzbeiträge der Mitgliedstaaten<br />

finanziert (Art. 200 EWGV). Der Gesamtbetrag<br />

wurde durch einen Aufbringungsschlüssel<br />

auf die Staaten verteilt: Deutschland, Frankreich,<br />

Italienje28%,BelgienundNiederlandeje7,9%,Luxemburg<br />

0,2 %). Die Verteilung konnte vom Rat einstimmig<br />

geändert werden. Diese Art der Finanzierung<br />

wurde durch den Beschluss vom 21. 4. 1979<br />

über die Ersetzung der Finanzbeiträge der Mitgliedstaaten<br />

durch eigene Mittel der Gemeinschaften abgelöst.<br />

�Eigenmittel<br />

Finanzhilfen der EU werden von der Kommission<br />

überwiegend nicht direkt an die Empfänger, sondern<br />

an nationale und regionale Behörden der Mitgliedstaaten<br />

zur Weiterleitung ausgezahlt. Das gilt z. B.<br />

für Zahlungen aus den Fonds der EU (Landwirtschafts-,<br />

Fischerei-, Regional-, Sozialfonds), die den<br />

größten Teil der EU-Finanzhilfen ausmachen.<br />

In Politikbereichen wie Forschung und Entwicklung,<br />

Bildung und Ausbildung, Umweltschutz, VerbraucherschutzoderimBereichderAußenbeziehungen<br />

werden Finanzhilfen auch direkt ausgezahlt,<br />

z. B. an Hochschulen, Unternehmen, Interessenverbände,<br />

�Nichtregierungsorganisationen.<br />

Finanzielle Vorausschau. Die Finanzielle Vorausschau<br />

ist die mittelfristige Finanzplanung der Europäischen<br />

Union. Ihr Planungshorizont beträgt 7<br />

Jahre. Sie hat nicht nur unmittelbare finanzpolitische<br />

BedeutungfürdieEinnahmenundAusgabenderEU,<br />

sondern regelt auch die konkrete Finanzausstattung<br />

einer Reihe wichtiger Sachpolitiken und ihrer Programme.<br />

Die Gemeinsame Agrarpolitik sowie die<br />

Struktur- und Kohäsionspolitik der EU bilden ihre<br />

größten Ausgabenblöcke.<br />

Der Finanziellen Vorausschau liegt eine Interinstitutionelle<br />

Vereinbarung zwischen Europäischer<br />

Kommission, Europäischem Parlament und Rat zu<br />

Grunde. Sie legt jährliche Obergrenzen sowohl für<br />

dengesamtenEU-Haushaltalsauchfürdieeinzelnen<br />

323


Finanzielle Vorausschau<br />

Haushaltsrubriken fest. Diese Obergrenzen haben<br />

verbindlichen Charakter und sind in der jährlichen<br />

Aufstellung des Haushaltes einzuhalten.<br />

Eine wichtige Rolle spielt auch die Regelung der Finanzierungsanteile<br />

der Mitgliedstaaten am EU-<br />

Haushalt (Eigenmittelbeschluss).<br />

In den bisher geltenden Europäischen Verträgen war<br />

die Finanzielle Vorausschau nicht geregelt. In der<br />

Europäischen Verfassung ist sie als mehrjähriger Finanzrahmen<br />

mit einer Laufzeit von mindestens 5<br />

Jahren dagegen verankert.<br />

Die erste Finanzielle Vorausschau, das sog. „Delors-Paket<br />

I", galt von 1988 – 92, gefolgt vom „Delors-Paket<br />

II“ für die Jahre 1993 – 99. Die derzeit geltende<br />

Finanzielle Vorausschau hat eine Laufzeit von<br />

2000 – 2006 (s. tabellarische Übersicht). Die dort<br />

enthaltene Eigenmittelobergrenze begrenzt die Ausgaben<br />

der EU auf maximal 1,24 % des EU-Bruttonationaleinkommens.<br />

Für die einzelnen Rubriken<br />

des Haushalts werden außerdem jährliche Obergrenzen<br />

für Verpflichtungsermächtigungen festgelegt.<br />

Diese begrenzen die Verpflichtungen, die die EU gegenüber<br />

Dritten eingehen darf. Eine Verschiebung<br />

von Verpflichtungsermächtigungen zwischen den<br />

einzelnen Rubriken ist nicht zulässig. Weiter gibt es<br />

eine jährliche Obergrenze für Zahlungsermächtigungen,<br />

welche nicht nach Rubriken aufgeschlüsselt<br />

ist und festlegt, welcher Betrag in einem Haushaltsjahr<br />

tatsächlich ausgegeben werden darf. Diese<br />

ObergrenzeliegtmeistunterderObergrenzefürVerpflichtungsermächtigungen<br />

und muss zwingend unter<br />

der Eigenmittelobergrenze liegen. Die Differenz<br />

zur Eigenmittelobergrenze dient als Sicherheitsmarge<br />

für unvorhergesehene Entwicklungen.<br />

324<br />

Finanzierung der EU bis 2006 (Finanzielle Vorausschau) in Mio. Euro*<br />

Landwirtschaft (EAGFL)<br />

Strukturpolitik**<br />

Interne Politikbereiche<br />

Externe Politikbereiche<br />

Verwaltung<br />

Heranführung<br />

Reserven<br />

Gesamtverpflichtungen<br />

Zahlungen<br />

Finanzielle Vorausschau 2006 – 2013: Zu den wichtigsten<br />

Herausforderungen an die Finanzielle Vorausschau<br />

2007–2013, über die gegenwärtig verhandelt<br />

wird, gehören die Finanzierung der – inkl. Bulgarien<br />

und Rumänien – um 12 neue Mitgliedstaaten<br />

erweiterten EU, die schwierige Lage zahlreicher nationaler<br />

Haushalte und die von der Europäischen<br />

Kommission vorgeschlagene Ablösung des „Britenrabatts“(�Ausgleichsmechanismus)durcheinenallgemeinen<br />

Korrekturmechanismus, der unverhältnismäßige<br />

Belastungen der Nettozahlerstaaten vermeiden<br />

soll.<br />

Deutschland strebt gemeinsam mit Frankreich, dem<br />

Vereinigten Königreich, Schweden, den Niederlanden<br />

und Österreich die Stabilisierung der durchschnittlichen<br />

jährlichen Ausgaben über die Laufzeit<br />

der neuen Finanziellen Vorausschau bei 1 % des<br />

EU-Bruttonationaleinkommens an.<br />

Beim Europäischen Rat am 16./17. Juni 2005 konnte<br />

keine Einigung über die Finanzielle Vorausschau erzielt<br />

werden. Der Kompromissvorschlag der luxemburgischen<br />

Präsidentschaft sah zuletzt ein Ausgabenvolumen<br />

in Verpflichtungsermächtigungen von<br />

etwa 870 Mrd. Euro vor. Das entspricht 1,06 % des<br />

EU-Bruttonationaleinkommens. Für die Höhe der<br />

Zahlungsermächtigungen werden 824 Mrd. Euro<br />

vorgeschlagen, das sind 1,00 % des EU-Bruttonationaleinkommens.<br />

Die Verhandlungen scheiterten vor<br />

allem am Widerstand Großbritanniens und der Niederlande.<br />

Die Niederlande sahen keine ausreichende<br />

Lösung für ihr Problem der besonders hohen Nettozahlungen.<br />

Großbritannien, welches seit 1984 einen<br />

Rabatt auf seinen Beitrag zum EU-Haushalt (sog.<br />

„Briten-Rabatt“) erhält, wollte diesen nicht reduzie-<br />

2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006<br />

37 352<br />

37 064<br />

6 031<br />

4 627<br />

4 638<br />

3 174<br />

906<br />

93 792<br />

91 322<br />

40 035 41 992 42 680 42 769 43 724 43 735<br />

37 215 38 233 38 666 47 571 48 392 49 772<br />

6 271 6 558 6 796 8 722 8 967 9 093<br />

4 735 4 873 4 972 5 082 5 093 5 104<br />

4 776 5 012 5 211 5 983 6 154 6 325<br />

3 240<br />

916<br />

3 328<br />

676<br />

3 386<br />

434<br />

3 455<br />

442<br />

3 455<br />

442<br />

3 455<br />

442<br />

97 189 100 672 102 145 115 434 117 526 118 967<br />

94 730 100 078 102 767 111 380 112 260 114 740<br />

* in Preisen von 2004<br />

** einschl. Ländliche Entwicklung<br />

Quelle: Europäische Kommission, GD Haushalt, Angepasste Tabellen der Finanziellen Vorausschau für EU-25


en und stellte insbesondere die bereits 2002 beschlossenen<br />

hohen Agrarausgaben in Frage. Eine Einigung<br />

wird deshalb frühestens während der britischen<br />

Präsidentschaft im zweiten Halbjahr 2005 erfolgen.<br />

Wertung: Zur Bewertung des Systems der Finanziellen<br />

Vorausschau lässt sich sagen, dass sich dieses in<br />

der Vergangenheit bewährt hat. Es ermöglicht gegenüber<br />

einem jährlichen Haushaltsverfahren eine<br />

Verstetigung und bessere Vorhersehbarkeit der Ausgaben.<br />

Gleichzeitig wird vermieden, dass sich die<br />

EU-Mitgliedstaaten jedes Jahr neu auf Grundsätze<br />

für das jeweils nächste Haushaltsjahr einigen müssen.<br />

Dies hatte bis zur Einführung der mittelfristigen<br />

Finanzplanung im Jahre 1988 oft zu langen Verzögerungen<br />

bei der Verabschiedung der jährlichen Haushaltegeführt.<br />

A. L.<br />

Finanzielle Vorausschau 2007–2013 (Vorschläge<br />

der Kommission). Die Vorschläge für die Finanzielle<br />

Vorausschau 2007 – 2013 hat die Kommission<br />

am 12. 3. 2004 unter dem Titel „Unsere gemeinsame<br />

Zukunft aufbauen – Politische Herausforderungen<br />

und Haushaltsmittel der erweiterten Union –<br />

2007 – 2013“ vorgelegt (KOM 2004/101 endg.). Sie<br />

sehen im Einzelnen vor:<br />

– Die Obergrenze für die Eigenmittel soll wie bisher<br />

auf 1,24 % des Bruttonationaleinkommens der<br />

Unionfestgesetztbleiben.DieEU-Ausgabensteigen<br />

somit von 133 Mrd. Euro im Jahr 2007 auf 158 Mrd.<br />

Euro bis 2013.<br />

– Insgesamt würden die EU-Haushalte für die Jahre<br />

2007 – 2013 1,025 Bio. Euro an Verpflichtungsermächtigungen<br />

umfassen. Am kräftigsten sollen in<br />

diesem Zeitraum die Ausgaben im Bereich Kohäsionspolitik<br />

und Nachhaltiges Wachstum steigen,<br />

auf insgesamt 477,6 Mrd. Euro (46,6 %). An zweiter<br />

Stelle folgen Agrar- und Umweltpolitik mit konstanten<br />

Ausgaben in Höhe von 404,6 Mrd. Euro (39,6 %).<br />

Für die Innen- und Justizpolitik sind 18,5 Mrd. Euro<br />

(1,8%) vorgesehen. Der „globalen Politik der Partnerschaft“<br />

im Rahmen der Außen-, Sicherheits- und<br />

Entwicklungspolitik sollen 95,6 (9,3 %) Mrd. Euro<br />

zur Verfügung stehen. Die Verwaltung darf 28,6<br />

Mrd. Euro (2,7 %) ausgeben.<br />

– Die Kommission entwickelt die strukturellen Reformen<br />

über das EU-Budget weiter. Die Agenda<br />

2000 war stark auf die Bewältigung der Erweiterung<br />

ausgerichtet. Mit der Agenda 2007 entwickelt die<br />

Finanzieller Beistand<br />

Union vier Aktionsbereiche: Nachhaltige Bewirtschaftung<br />

und Schutz der natürlichen Ressourcen<br />

(inkl. Landwirtschaftspolitik), Nachhaltiges Wachstum<br />

(inkl. Struktur- und Wachstumsfonds), die EU<br />

als globaler Partner und der Bereich der Unionsbürgerschaft,<br />

Freiheit, Sicherheit und Recht. Fünfter<br />

Ausgabenbereich ist die Verwaltung.<br />

– Trotz des EU-„Bevölkerungsanstiegs“ um 30 %<br />

(Zahlen für 2004: EU-15 = 380 Mio. Einwohner;<br />

EU-25 = 425 Mio. Einwohner; EU-27 = 455,5 Mio.<br />

Menschen) und neuer Aufgaben sollen die Mittel für<br />

Zahlungen im Durchschnitt 1,14 % des Bruttonationaleinkommens<br />

(BNE) bzw. BIP betragen und damit<br />

konstant bleiben.<br />

– Strukturell entwickelt der Finanzentwurf der<br />

Kommission auch die Finanzreform weiter. Margret<br />

Thatchers legendäres „I want my money back“ im<br />

Jahr 1984 mündete im britischen Beitragsrabatt<br />

(�Ausgleichsmechanismus; 2005 ca. 4 Mrd. Euro).<br />

Der Haushaltszeitraum 2007 – 2013 soll derartige<br />

Sonderkonditionen beenden; der britische Beitragsrabatt<br />

würde von 2008 bis 2012 schrittweise abgebaut.<br />

Neu eingeführt werden soll ein sog. „Gruppenrabatt“<br />

für die Nettozahler, deren Beitrag in den<br />

Haushalt 0,35 % ihres BIP überschreitet.<br />

Die mittelfristige Finanzplanung für 2007 bis 2013<br />

beschließt der Europäische Rat (einstimmig) auf Basis<br />

des Finanzentwurfes der Kommission. Eine erste<br />

Beratung darüber beim Europäischen Rat in Brüssel<br />

am 16./17. 6. 2005 endete ergebnislos (�Finanzielle<br />

Vorausschau).<br />

Bereits bei den Beschlüssen zur Finanziellen Vorausschau<br />

2000–2006 wurde deutlich, dass die von<br />

der Kommission vertretenen europäischen Ziele im<br />

Europäischen Rat massiv den nationalen Interessen<br />

der Mitgliedstaaten unterliegen, d. h. möglichst viel<br />

Kapital für die jeweilige nationale Kasse herauszuschlagen.<br />

Hintergrund ist das große Wohlstandsgefälle<br />

unter den 25 Mitgliedstaaten: Lettland erreicht<br />

nur 42,3 % des EU-Durchschnitts im BIP je Einwohner,<br />

Dänemark dagegen 121,5 % (vgl. Tabelle auf<br />

S.14). L. U.<br />

Finanzieller Beistand kann (nach Art. 100 Abs. 2<br />

EGV) einem Mitgliedstaat gewährt werden, der<br />

durch Naturkatastrophen oder außergewöhnliche<br />

Ereignisse, die sich seiner Kontrolle entziehen, in<br />

Schwierigkeiten geraten ist. Der Rat entscheidet mit<br />

qualifizierter Mehrheit auf Vorschlag der Kommis-<br />

325


Finanzierungsinstrumente<br />

sion. Das EP wird unterrichtet. Nach der Überschwemmungskatastrophe<br />

in mehreren EU-Staaten<br />

im Sommer 2002 wurde ein �Solidaritätsfonds der<br />

EU mit 1 Mrd. Euro eingerichtet, der Staaten finanziell<br />

hilft, wenn die Katastrophenschäden 3 Mrd.<br />

Euro oder 0,6 % des BSP übersteigen.<br />

Finanzierungsinstrumente<br />

1. Die Europäische Kommission hat für alle RegionenderErdefinanzielleundtechnischeHilfenkonzipiert.<br />

Verbunden mit der grundlegenden Umstrukturierung<br />

der Kommission im Herbst 1999 wurden alle<br />

Förderungen einer generellen Prüfung unterzogen.<br />

Die EU-Förderung will dabei wegkommen von der<br />

reinen Bezuschussung von Projekten, hin zu einer<br />

Kofinanzierung von Maßnahmen durch die Empfängerländer<br />

selbst. Die Hilfen unterscheiden sich stärker<br />

als früher von Land zu Land. Der Entwicklungsstand<br />

spielt bei den Projekten eine größere Rolle.<br />

ImZugedesEU-Beitrittssindinsbes.Programmefür<br />

Mittel- und Osteuropa aufgelegt worden, um den<br />

Staaten eine schnelle und reibungslose Heranführung<br />

an die EU zu ermöglichen. Hierbei haben sich in<br />

der Förderung drei Hauptgruppen entwickelt: erstens<br />

die EU-Beitrittsstaaten, zweitens die Staaten,<br />

mitdenenformellevertraglicheBeziehungenzurEU<br />

in Form von Stabilisierungs- und �Assoziierungsabkommen<br />

hergestellt werden sollen, und drittens Länder,<br />

mit denen die Zusammenarbeit weiter ausgebaut<br />

wird, für die aber keine Einbindung in die europäischen<br />

Strukturen vorgesehen ist.<br />

DieProgrammefürMittel-undOsteuropaimEinzelnen:<br />

PHARE gewährt seit 1989 finanzielle und technische<br />

Hilfe. Im Zeitraum von 2000 – 2006 stehen jährlich<br />

ca. 1,5 Mrd. Euro an Mitteln zur Verfügung. Die<br />

Investitionsförderung, für die 70 % der �PHARE-<br />

Mittel bereitstehen, konzentriert sich seit 2000 auf<br />

den Ausbau der ordnungspolitischen Infrastruktur,<br />

auf Direktinvestitionen, die mit der Übernahme des<br />

Gemeinschaftsrechts in Zusammenhang stehen, sowie<br />

auf Investitionen in Maßnahmen zur Umgestaltung<br />

und Modernisierung des Industrie- und Dienstleistungssektors<br />

und zur Erhöhung der nuklearen Sicherheit.<br />

Zum 1. 5. 2004 ist PHARE in den neuen<br />

Mitgliedstaaten der EU ausgelaufen und wird durch<br />

den Sozial- und Kohäsionsfonds der EU ersetzt. Dies<br />

bedeutet eine Verschiebung zu Gunsten der nachrückenden<br />

südosteuropäischen Staaten.<br />

326<br />

ISPA: Im Rahmen des �ISPA-Programmes werden<br />

von 2000 bis 2006 jährlich rund 1 Mrd. Euro für Infrastrukturprojekte<br />

in den Bereichen Umwelt, Trinkwasserversorgung<br />

und Abwasseraufbereitung, Abfallmanagement,<br />

Luftreinhaltung und Verkehr bereitgestellt.<br />

Unter den Bereich Verkehr fallen die Erweiterung<br />

der transeuropäischen Verkehrsnetze<br />

einschl. der Eisenbahnnetze, Häfen, Flughäfen und<br />

Straßen. Pro Jahr sollen damit über 100 Investitionsprojekte<br />

finanziert werden.<br />

�SAPARD stellt Mittel für die Landwirtschaft in<br />

Höhe von jährlich 520 Millionen Euro zur Verfügung.<br />

Die Programme werden von den Ländern selber verwaltet.<br />

TACIS: Die sog. GUS-Staaten (Armenien, Aserbaidschan,<br />

Belarus, Georgien, Kasachstan, Kirgisistan,<br />

Moldova, Russland, Tadschikistan, die Ukraine,<br />

Usbekistan) und die Mongolei werden seit 1991 über<br />

das �TACIS-Programm der EU gefördert. Die<br />

TACIS-Verordnung für 2000 bis 2006 hat einen Finanzrahmen<br />

von 3,1 Mrd. Euro. Ziel des TACIS-<br />

Programms ist es, eingeleitete Reformen in den genannten<br />

Ländern zu stabilisieren, marktwirtschaftliche<br />

Wirtschaftssysteme herauszubilden und Demokratie<br />

und Rechtsstaatlichkeit zu stärken.<br />

Die Finanzierungshilfen für Lateinamerika hat die<br />

EU durch das AL-Invest Programm verwirklicht.<br />

�MEDA ist das Programm für den südlichen Mittelmeerraum.<br />

2. Darüber hinaus hat die Kommission im Mehrjahresprogramm<br />

Maßnahmen für �KMU aufgelegt, die<br />

den Zugang zu Kapital für verschiedene betriebliche<br />

Maßnahmen verbessern sollen. Dabei handelt es sich<br />

um Finanzierungsinstrumente, die von der �EIB<br />

oder dem �EIF verwaltet werden. Unternehmen können<br />

die Finanzierungshilfen nicht direkt beantragen,<br />

sondern haben nur dezentralen Zugang über nationale<br />

und regionale Finanzvermittler wie Banken oder<br />

Risikokapitalvermittler.<br />

ETF: European Technology Facility wird treuhänderisch<br />

vom EIF verwaltet und bietet die Möglichkeit,<br />

KMU-Gründungen in der Anfangsphase zu fördern.<br />

DassolldurchBeteiligungenanverschiedenenWagniskapitalfonds<br />

ermöglicht werden. Hierfür stehen<br />

1,5 Mrd. Euro zur Verfügung.<br />

JEV (Joint European Venture) ist ein Unterstützungsmechanismus<br />

für die Gründung eines transnationalen<br />

Joint Ventures. Damit sollen kleinere und


mittlere Unternehmen bei der Erweiterung ihrer Geschäftsfelder<br />

und ihrer Internationalität gefördert<br />

werden.<br />

Gateway to Japan fördert Unternehmerreisen und<br />

Beteiligungenu.a.indenBereichenUmwelttechnik,<br />

IT & Software, Interior Lifestyle, Medizintechnik<br />

undYoungFashion. D. B.<br />

Finanzvorschriften des EG-Vertrags. Für die<br />

Einnahmen und Ausgaben der Gemeinschaft<br />

einschl. des �ESF sind die Finanzvorschriften im<br />

Fünften Teil des EGV, Teil II in den Artikeln 268 bis<br />

280 festgelegt. �Haushalt der EU, �Haushaltsverfahren,<br />

�Haushaltsordnung<br />

FISCALIS ist ein Aktionsprogramm der EU mit dem<br />

Ziel, die im Binnenmarkt geltenden Rechtsvorschriften<br />

im Steuerbereich zu vereinfachen, sie einheitlich<br />

anzuwenden und die Zusammenarbeit der<br />

Verwaltungen zu verbessern, auch im Hinblick auf<br />

die Bekämpfung von Steuerbetrug. Es ersetzt das<br />

frühere Matthäus-Tax-Programm (1993 – 1997).<br />

Das Programm wurde durch Entscheidung 888/98<br />

des EP und des Rates (ABl. L 126/ 1998) eingerichtet<br />

und begann am 1. 1. 1998 zunächst für den Bereich<br />

der indirekten Steuern. Mit Entscheidung 2235/2002<br />

des EP und des Rates (ABl. L 341/2002) wurde es bis<br />

Ende 2007 verlängert und auf Einkommen-, Vermögens-<br />

und Versicherungssteuern ausgedehnt.<br />

Fischereipolitik, Gemeinsame (GFP)<br />

1. Grundlagen der Gemeinsamen Fischereipolitik:<br />

Obwohl die Gemeinschaft mit einer Jahresproduktion<br />

(Fang 73 %, Aquakultur 17 %, 2002) von rd.<br />

7 Mio. Tonnen (ca. 5 % der Gesamtweltproduktion)<br />

zu den vier bedeutendsten Fischereimächten der<br />

Welt gehört und darüber hinaus den größten Absatzmarkt<br />

der Welt für Fischereiprodukte stellt, liegt die<br />

Bedeutung der Fischwirtschaft nicht so sehr in ihrem<br />

absoluten Anteil an der Gesamtwirtschaft (2002 je<br />

nach Mitgliedstaat zwischen 0,0 und 0,6 % des BIP),<br />

als vielmehr in ihrer Konzentration in meist strukturschwachen<br />

Randregionen.<br />

Die Fischereipolitik gehört zu den Politiken, für welche<br />

die Gemeinschaft z. T. eine ausschließliche Zuständigkeit<br />

besitzt. Rechtsgrundlage ist – ebenso wie<br />

für die �Gemeinsame Agrarpolitik – Art. 3 Abs. e<br />

EGV in Verbindung mit Art. 32 ff. und Anhang II<br />

(Liste zu Art. 32 EGV). Die Gemeinsame Fischerei-<br />

Fischereipolitik<br />

politik umfasst vier große Bereiche: Bewirtschaftung<br />

der Ressourcen, Marktordnung, Strukturpolitik<br />

und Auswärtige Fischereibeziehungen.<br />

2. Entwicklung seit 1970<br />

2.1 Erste Regelungen erfolgten 1970 im Markt- und<br />

Strukturbereich (VO 2141 und 2142/70). Darin war<br />

zunächst der nichtdiskriminatorische Zugang der<br />

Gemeinschaftsfischer zu allen Gewässern der Mitgliedstaaten<br />

vorgesehen. Die Beitrittsakte von 1972,<br />

durch welche die Gemeinschaft um klassische Fischereinationen<br />

(Dänemark, Großbritannien und Irland;<br />

Norwegen trat nicht bei) mit beträchtlichen<br />

Fischressourcen erweitert wurde, sah eine zeitweise<br />

Einschränkung dieses Prinzips für die Küstengewässer<br />

vor, die (abgesehen von einigen historisch begründeten<br />

Fischereirechten) grundsätzlich der regionalen<br />

Küstenfischerei vorbehalten bleiben: Die<br />

Mitgliedstaatenkonntenbis31.12.1982inihrenHoheitsgewässern<br />

innerhalb einer Sechsmeilenzone,<br />

für besonders benannte Gebiete in einer Zwölfmeilenzone<br />

den Zugang auf solche Fischereifahrzeuge<br />

beschränken,dietraditionellvonörtlichenHäfenaus<br />

in diesen Gewässern fischen.<br />

Durch eine konzertierte Aktion (Haager Entschließung)dehntendieMitgliedstaaten1976ihreexklusiven<br />

Wirtschaftszonen (einschl. Fischerei) in Nordsee<br />

und Nordatlantik (also nicht im Mittelmeer) auf<br />

200 Seemeilen aus. Seit August 1997 nimmt Spanien<br />

einseitig eine Fischereizone im Mittelmeer in Anspruch,dieabernichtdieFischereimöglichkeitender<br />

anderen Gemeinschaftsflotten einschränkt.<br />

Erst nach jahrelangen Verhandlungen gelang es<br />

1983, sich mit der VO 170/83 auf ein gemeinsames<br />

Bewirtschaftungsregime zu verständigen. Dieses<br />

Regime sah die Verteilung der verfügbaren Ressourcen<br />

auf die Mitgliedstaaten in Form von Quoten nach<br />

dem Grundsatz der „relativen Stabilität“ vor, wodurch<br />

ein gleichbleibender prozentualer Anteil an<br />

den aufgrund wissenschaftlicher Empfehlung festgesetzten<br />

TACs (Total Allowable Catch, zulässige<br />

Gesamtfangmenge) gewährleistet wird (sog. „Blaues<br />

<strong>Europa</strong>“). Die Mitgliedstaaten gewährten den Fischern<br />

Lizenzen zur Abfischung der Quoten. Nach<br />

Erschöpfung der Quote musste der betreffende Mitgliedstaat<br />

den Fischfang durch seine Flotte einstellen.<br />

Außerdem wurde die Einschränkung des Zugangs<br />

für die auf 12 Seemeilen ausgedehnten Küstengewässer<br />

fortgeschrieben, um lokale Kleinfischer<br />

zu schützen. Eine Reihe von Folgeverordnun-<br />

327


Fischereipolitik<br />

gen regelt technische Beschränkungen der Fangtätigkeit<br />

(z. B. Mindestmaschenweiten der Netze) zum<br />

SchutzderBeständeunddieKontrollederFangtätigkeit.<br />

Die Beitrittsakte von 1985 (Spanien und Portugal)<br />

sah für die Fischerei eine extrem lange Übergangszeit,<br />

teilweise bis in das Jahr 2003 vor. Während dieser<br />

Zeit bestanden nur strikt begrenzte gegenseitige<br />

Zugangsregelungen für die Flotten der neuen Mitglieder<br />

und der damaligen Zehnergemeinschaft.<br />

Im zeitlichen Zusammenhang mit den Verhandlungen<br />

über den Beitritt von Norwegen, Schweden,<br />

Finnland und Österreich sind diese Sonderregelungen<br />

weitgehend in die allgemeinen Vorschriften<br />

übergeleitet worden. Da Norwegen schließlich nicht<br />

beitrat, erforderte die relativ bescheidene Fischereiaktivität<br />

Finnlands und Schwedens nur geringfügige<br />

Anpassungen in der Gemeinsamen Fischereipolitik,<br />

insbes. für die Ostsee.<br />

Die EU-Osterweiterung von 2004 hat nur geringe<br />

Auswirkungen auf die GFP, da die neuen Mitgliedstaaten<br />

mit Ausnahme Polens (Mittelfeld) nur kleine<br />

Fischereisektoren aufweisen.<br />

2.2 Regelungen im Strukturbereich: 1986 und 1989<br />

wurden umfassende Regelungen getroffen (VO<br />

4028/86 und 4042/89), die insbes. finanzielle Hilfen<br />

der Gemeinschaft für die erforderlichen Anpassungen<br />

der Strukturen in der Gemeinschaft vorsehen.<br />

Kernproblem ist dabei die im Verhältnis zu den verfügbaren<br />

Fischressourcen zu große Fangkapazität<br />

der Gemeinschaftsflotten, die eine Begrenzung und<br />

Kontrolle des Fangaufwands in der Gemeinschaft erschwert<br />

und damit die Erhaltung der Fischereibestände<br />

bedroht. Aber auch in den Bereichen Fischereihafenanlagen,<br />

Fischzucht, Vermarktung und Verarbeitung<br />

besteht erheblicher Modernisierungsbedarf.<br />

Die erforderliche Reduzierung der Flottenkapazität<br />

wird insbes. über mehrjährige Ausrichtungsprogramme<br />

(MAP) angestrebt. Die Maßnahmen erzielten<br />

die gewünschte Reduktion nur unzureichend,<br />

und so kam es 2002/3 zur umfassenden Neuordnung<br />

der GFP (s. u.).<br />

2.3 Die Marktorganisation (z. Zt. durch die VO<br />

104/2000 geregelt; Revision vorauss. 2006) beruht<br />

auf sehr eingeschränkten Interventionsmechanismen,<br />

die über die Erzeugerorganisationen abgewickelt<br />

werden und (insbes. im Vergleich zur Landwirtschaft)<br />

nur geringe Ausgaben aus dem Gemeinschaftshaushalt<br />

verursachen. Die Mittel wurden im<br />

328<br />

Vergleich zur vorherigen Ordnung (VO 3759/92)<br />

leichtzurückgefahrenunddieGewichtungimSektor<br />

(Fang, Verarbeitung, Lagerung) leicht verschoben.<br />

Die Ordnung entspricht den Interessen des weitgehend<br />

auf Einfuhren angewiesenen Marktes, setzt<br />

aber gleichzeitig die Fischerei dem internationalen<br />

Konkurrenzdruck aus, was angesichts der kritischen<br />

Lage der Fischbestände in den Gemeinschaftsgewässern<br />

erhebliche Probleme in den von der Fischerei<br />

abhängigen Regionen verursacht. Es besteht<br />

überdies ein traditioneller Interessengegensatz zwischen<br />

den nördlichen Staaten mit stark entwickelter<br />

Fischverarbeitungsindustrie, die praktisch ausschließlich<br />

Drittlandsimporte verarbeitet, und den<br />

südlichen Ländern mit großen Hochseeflotten und<br />

stärkerer Frischfischorientierung.<br />

Auch Umweltaspekte werden im Markt zunehmend<br />

bedeutend, da insbes. von �Nichtregierungsorganisationen<br />

(WWF, Greenpeace) auf die Zertifizierung<br />

von Fisch, der unter Einhaltung der Erhaltungsmaßnahmen<br />

gefangen wurde, gedrängt wird.<br />

2.4 Die Gemeinschaftsflotten waren traditionell in<br />

hohem Maße auf die Fischerei in der hohen See ausgerichtet.<br />

Die ergiebigsten Fischgründe sind seit der<br />

Ausdehnung der nationalen Fischereizonen verschlossen.<br />

Zum teilweisen Ausgleich der dadurch<br />

verlorenenFangmöglichkeitenhatdieGemeinschaft<br />

eine Vielzahl (2004 gut 20) von Fischereiabkommen<br />

geschlossen. Die praktisch größte Bedeutung haben<br />

die Abkommen mit Norwegen sowie mit Grönland<br />

(seit seinem Ausscheiden aus der Gemeinschaft<br />

1985) und Marokko. Der Umbruch im weltweiten<br />

Fischfang (technischer Fortschritt, neue Fischmächte<br />

und Einstieg von Entwicklungsländern in den industriellen<br />

Fischfang) wird die Kompensationsmöglichkeiten<br />

der EU mit Hilfe von Fischereiabkommen<br />

einschränken.<br />

Die Abkommen mit afrikanischen und pazifischen<br />

Staaten enthalten i. d. R. entwicklungspolitische<br />

Aspekte, während die Abkommen mit südamerikanischenStaatenAnsätzezurKooperationentwickeln<br />

(joint ventures).<br />

Die Gemeinschaft ist Mitglied der wichtigsten internationalen<br />

Fischereiorganisationen bzw. -abkommen.<br />

Sie hat außerdem die Seerechtskonvention der<br />

UNO unterzeichnet.<br />

Das Völkerrecht im Fischereibereich ist weiter stark<br />

in Fluss, wobei die Küstenstaaten versuchen, ihren<br />

Einfluss über die mittlerweile als Gewohnheitsrecht


akzeptierte 200-Meilen-Zone auszudehnen („creeping<br />

jurisdiction“). Die Gemeinschaft versucht,<br />

auch im Hinblick auf die divergierenden Interessen<br />

der Mitgliedstaaten, eine mittlere Position zwischen<br />

den Interessen der Küstenstaaten und der Hochseefischereistaaten<br />

einzunehmen.<br />

3. Aktuelle Tendenzen: 1992 wurde eine neue Grundverordnung<br />

erlassen (VO 3760/92), die durch einen<br />

globaleren Ansatz und ein flexibleres Instrumentarium<br />

eine rationellere Bewirtschaftung der Ressourcen<br />

sicherstellen soll. Dabei soll insbes. mehr auf<br />

eine Begrenzung des Fangaufwandes abgestellt werden,<br />

um zusammen mit einer effizienteren Kontrolle<br />

der Fangtätigkeit die Bestände besser vor Überfischung<br />

zu schützen.<br />

Im Zuge der Reform der Strukturfonds (�Fonds der<br />

EU) der Gemeinschaft wurde 1993 (VO 2080/93)<br />

das Finanzinstrument für die Ausrichtung der Fischerei<br />

geschaffen (FIAF). Damit sollen einerseits<br />

die Förderungsmaßnahmen für die erforderlichen<br />

Strukturanpassungen zusammengefasst werden,<br />

und andererseits die Voraussetzung für flankierende<br />

Maßnahmen der anderen Gemeinschaftsfonds, insbes.<br />

des Regionalfonds (�Fonds der EU), für die von<br />

der Fischerei abhängigen und vom Strukturwandel<br />

am schwersten betroffenen Regionen geschaffen<br />

werden. Für den Zeitraum von 2000 bis 2006 wurden<br />

für die 15 EU-Staaten ca. 5,6 Mrd. Euro an gemeinschaftlichen<br />

(3,7 Mrd. Euro) und staatlichen (1,9<br />

Mrd. Euro) Beihilfen für den Fischereisektor veranschlagt.<br />

Im Mittelmeer, das ursprünglich nur in die<br />

Markt- und Strukturpolitik eingegliedert war, sind<br />

erste Regelungen zur Harmonisierung der in den<br />

Mittelmeerländern geltenden fischereirechtlichen<br />

Vorschriften getroffen worden. Im Zusammenhang<br />

mitderEinbeziehungdesMittelmeersindasgemeinschaftliche<br />

Fischereiregime hat die Gemeinschaft<br />

den Staaten, die im Mittelmeer Fischfang betreiben<br />

und nicht der Gemeinschaft angehören, vorgeschlagen,<br />

eine Kooperation zum besseren Schutz der<br />

Fischbestände anzustreben (Regierungskonferenzen<br />

in Kreta 1994 und Venedig 1996).<br />

Neue Gemeinsame Fischereipolitik (GFP) ab 2003.<br />

Zum Jahreswechsel 2002/3 wurde ein neuer Abschnitt<br />

in der Europäischen Fischereipolitik eingeläutet.<br />

Die vorhandenen Instrumente hatten nicht gegriffen:<br />

Der zum Teil artenbedrohenden Überfischung<br />

konnte kein Einhalt geboten werden, die<br />

wirtschaftliche Situation der Fischer verschlechterte<br />

Fischereipolitik<br />

sich, und in Folge konnte keine konstante, kostengünstige<br />

Versorgung der Verbraucher sichergestellt<br />

werden. Die Kommission legte im März 2001 ein<br />

Grünbuch mit Vorschlägen zu einer grundlegenden<br />

ReformdesSektorsvor.NachintensiverDiskussion,<br />

zum Teil Revision, erließ der Ministerrat drei Verordnungen<br />

(2369 – 2371/2002), die den Kern der<br />

neuen EU-Fischereipolitik bilden.<br />

Die Vielzahl der Bestimmungen kann vier Kernbereichen<br />

zugeordnet werden: (1) Langfristigkeit des<br />

Ansatzes, (2) neue Fischflottenpolitik, (3) bessere<br />

Anwendung der Vorschriften und (4) bessere Einbeziehung<br />

der betroffenen Akteure.<br />

(1) Ziel ist die langfristige Sicherung der Bestände.<br />

Probleme ergaben sich zum einen aus den jährlich<br />

stark schwankenden Fangquoten (TAC), die langfristige<br />

Planungen verhinderten, zum anderen aus einer<br />

teilweise unwirksamen Strukturpolitik, die die<br />

Fangkapazitäten der Fischflotte nicht senkte. Die<br />

TAC bleiben bestehen, werden jedoch durch langjährige<br />

Wiederauffüllungs- und Bewirtschaftungspläne<br />

ergänzt. Die Kommission erarbeitet Pläne auf<br />

Grundlage wissenschaftlicher Gutachten und leitet<br />

sie an den Rat zum Beschluss. Diverse Instrumente<br />

stehenzurVerfügung,umNachhaltigkeitzusichern:<br />

Zeitliche Begrenzung der Fangboote auf See neben<br />

der Mengenbegrenzung, diverse technische Maßnahmen<br />

und Anreize, die Fangtechnik zu optimieren<br />

(schonendere Methoden, geringerer Beifang). Unerwünschter<br />

Beifang stellt ein großes Problem dar, da<br />

bei noch nicht erreichter Quote für eine Fischart häufig<br />

auch Fische mit bereits erschöpfter Quote gefangen<br />

werden. Die Kommission ist unter bestimmten<br />

Bedingungen zu Sofortmaßnahmen berechtigt, z. B.<br />

beidrohendemZusammenbruchdesFischbestands.<br />

(2) Die neue Flottenpolitik soll das chronische Problem<br />

der zu hohen europäischen Fangkapazitäten in<br />

den Griff bekommen. Es wurde eine einfachere Regelung<br />

der Fangkapazitäten gefunden, die das bisherige<br />

System mehrjähriger Ausrichtungsprogramme<br />

(MAP) ablöst. Den Mitgliedstaaten kommt dabei höhere<br />

Verantwortung zu. Ziel ist eine Rückführung<br />

der Fangkapazitäten. In Konsequenz wird die kontraproduktive<br />

öffentliche Förderung, die zur Erhöhung<br />

der Kapazitäten geführt hat, eingestellt bzw.<br />

ihre Wirkung aufgehoben (seit Ende 2004). Weiterhin<br />

wurde ein Abwrackfonds aufgelegt. Eine Modernisierung<br />

der Flotte (z. B. auf Sicherheitsmaßnahmen,<br />

schonendere Fangmethoden) kann durch<br />

329


Flagge der EU<br />

Strukturmaßnahmen gefördert werden, darf sich jedoch<br />

nicht auf die Fangkapazität auswirken. Strukturelle<br />

Maßnahmen erleichtern Fischern den Einstieg<br />

in andere Arbeitsmärkte. 2004 unterbreitete die<br />

Kommission Vorschläge, FIAF durch einen Europäischen<br />

Fischereifonds abzulösen, d. h. eine grundlegendeNeuerungderStrukturmaßnahmeneinzuleiten.<br />

Aquakulturen. Weiterhin forciert die GFP den Ausbau<br />

von Aquakulturen, die vorhandene Fischbestände<br />

schonen und höhere Erträge ermöglichen. 2001<br />

machten Aquakulturen 17 % der Fischproduktion<br />

der EU aus, jedoch 33 % des Gesamtwerts. Aquakulturen<br />

stellen in Zeiten schwindender Fischvorkommen<br />

eine große Chance dar. Der Sektor entwickelt<br />

sich aber im Weltvergleich deutlich weniger dynamisch,<br />

und so konzentriert sich die GFP vermehrt auf<br />

die Ausweitung dieses Bereichs.<br />

(3) Die GFP steht und fällt mit der richtigen Anwendung<br />

ihrer Maßnahmen und ist auf effiziente Überwachung<br />

angewiesen, um das Vertrauen der Beteiligten<br />

zu sichern. Hohe Mobilität der Boote und große<br />

Fischgebiete erschweren die Überwachung erheblich.<br />

Ab Januar 2005 wurde die satellitengestützteSchiffsüberwachung(VMS)aufalleBooteüber15<br />

Meter Länge ausgedehnt. Die Kompetenz der Mitgliedstaaten<br />

zur Kontrolle von Booten anderer Mitgliedstaaten<br />

wurde erweitert, ebenso die Kontrollkompetenzen<br />

der Kommission. Weiterhin soll bis<br />

2006 eine gemeinsame europäische Aufsichtsstelle<br />

geschaffen werden.<br />

(4) Ein Grund des Scheiterns der bisherigen GFP war<br />

ihre kurzfristige Orientierung und das mangelhafte<br />

Einbeziehen der betroffenen Akteure. Die Einführung<br />

regionaler Beratungsgremien (Regional AdvisoryCouncils,RAC)solldementgegenwirken.Inihnen<br />

haben Fischer, Wissenschaftler (vor allem bzgl.<br />

TAC)undandereAkteuredieMöglichkeit,sichfrühzeitig<br />

abzustimmen. Der Rat setzte 2004 sieben<br />

RACs ein.<br />

Fazit: Effiziente Kontrollmechanismen sind unabdingbar,flankiertvonvertrauensbildendenundlangfristig<br />

orientierten Maßnahmen. Der Widerspruch<br />

zwischen Gemeinschaftsinteresse und Einzelinteressen<br />

zeigt sich regelmäßig in den Differenzen zwischen<br />

Kommission und Ministerrat (und den darin<br />

vertretenen starken Fischnationen) bezüglich der<br />

Fangquoten. Der Fischsektor leidet weiterhin an Unwägbarkeiten<br />

in den Untersuchungen der Fischbe-<br />

330<br />

stände (die als Basis für die TACs dienen) und der<br />

Beifangproblematik. Schließlich haben die internationale<br />

Entwicklung der Fischbestände, aber auch<br />

derFangquotendirekteAuswirkungenaufdieGFP.<br />

Ch. R.<br />

Literatur:<br />

Churchill, R.: EEC Fisheries Law. Dordrecht 1988<br />

Nordmann, Ch. u. a.: Politique commune de la pêche.<br />

In: Joly Communautaire (Loseblattwerk). Paris 1996<br />

Rijn, T. van: Fischereipolitik. In: v. d. Groeben, H./Thiesing,<br />

J./Ehlermann, C.-D.: Kommentar zum EWG-Vertrag.<br />

Baden-Baden 1997 5<br />

Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union: Fakten<br />

und Zahlen über die GFP – Eckdaten der Fischereipolitik.<br />

Luxemburg 2004<br />

Dies.: Fischereimanagement in der EU. ISBN 92-894-5439-3<br />

Internet:<br />

Tätigkeitsbereich Fischerei: www.europa.eu.int/pol/fish<br />

Kommission, GD Fischerei: www.europa.eu.int/comm/fisheries/policy_de.htm<br />

Flagge der EU �<strong>Europa</strong>flagge<br />

Flexibilität �Abgestufte Integration, �Verstärkte<br />

Zusammenarbeit<br />

Flexibilitätsklausel wird im �Verfassungsvertrag<br />

2004 der Art. I-18 genannt, dessen Abs. 1 sinngemäß<br />

dem Art. 308 EGV (�„Generalermächtigung“) entspricht.<br />

Florenz-Erklärung<br />

Begriff: Von sieben Ministern (Frankreich, Italien,<br />

Österreich, Portugal, Rumänien, Spanien, Tschechien;<br />

Schweden zog seine Unterschrift zurück) auf<br />

EinladungdesitalienischenMinistersBerlingueranlässlich<br />

der Vorstellung des Europäischen Schulnetzes<br />

auf einer Konferenz in Florenz am 30. 9. 1999 unterzeichnete<br />

Erklärung zur Förderung der Grundbildung.<br />

Hintergrund und Beweggründe: Nach der �Magna<br />

Charta Universitatum (Bologna, 18. 9. 1988) beabsichtigte<br />

Italien, parallel zur Förderung eines europäischen<br />

Hochschulraums (�Bologna-Prozess),<br />

auch die Grundbildung zum Gegenstand einer zwischenstaatlichen<br />

Beschlussfassung zu machen.<br />

Zielsetzung: Zur Schaffung eines „europäischen<br />

Raumes verstärkter Zusammenarbeit in der Grundbildung<br />

und im Arbeitsleben“ im Sinne einer<br />

„GleichheitundEffizienzderBildungssysteme“sollen<br />

„bestimmte Leistungsniveaus in den Bereichen<br />

Lesen, Mathematik, Naturwissenschaften, Umgang


mit dem Computer, Kenntnisse über das europäische<br />

Kulturerbe“ mit einheitlichen Standards definiert<br />

und umgesetzt werden, die bei Beendigung der Primar-<br />

und Pflichtschulzeit zu erreichen sind.<br />

Die Kultusministerkonferenz der deutschen Länder<br />

lehnte in einem Positionspapier (Präsidiumsbeschluss<br />

vom 27. 5. 1999) den Vorschlag ab, da er im<br />

Ergebnis auf eine nicht gewünschte Harmonisierung<br />

der Bildungssysteme hinauslaufen würde. „Dies<br />

würde einen Verlust der Traditionen in <strong>Europa</strong> bedeuten“.„ImMittelpunktderInitiativesolltestattder<br />

Vereinbarung europäischer Konvergenz bzw. der<br />

Definition von Mindeststandards die Aufforderung<br />

an die einzelnen Staaten stehen, in autonomer Entscheidung<br />

die Qualität von Bildung und Ausbildung<br />

zu sichern, unter den Bedingungen des Wettbewerbs<br />

zu erproben und den fortschreitenden Entwicklungenanzupassen.“<br />

I. H.<br />

Rechtliche Würdigung: �Bologna-Erklärung.<br />

Flüchtlingsfonds�EuropäischerFlüchtlingsfonds<br />

Flugsicherheit. Seit dem Bombenanschlag auf ein<br />

Passagierflugzeug über dem schottischen Lockerbie<br />

1988, erst recht seit den Terroranschlägen von New<br />

York und Washington am 11. 9. 2001 verschärften<br />

sich massiv die Sicherheitsanforderungen und -kontrollen<br />

im weltweiten Flugverkehr. Das Flugzeug als<br />

objektiv sicheres, aber leicht verwundbares Verkehrsmittel<br />

ist in den Blickpunkt der Medien gerückt.<br />

Viele Reisende bevorzugen deshalb auf europäischen<br />

Mitteldistanzen zunehmend die attraktiven,<br />

ebenfalls sehr sicheren Hochgeschwindigkeitszüge,<br />

zumal im Jahr 2000 jeder fünfte Flug in der EU<br />

um mehr als 15 Minuten verspätet war. Im Anschlagsjahr<br />

2001 war die Flugverkehrsleistung um<br />

5 % zurückgegangen. Statistisch betrachtet ist jedoch<br />

das Flugzeug das sicherste Verkehrsmittel:<br />

Anzahl der Verkehrstoten pro Jahr auf<br />

EU-25-Gebiet<br />

im Durchschnitt der Jahre 2000 – 2003<br />

Verkehrsträger Verkehrstote<br />

Luftverkehr 90<br />

Straße 49 611<br />

Schiff (weltweit) 537<br />

Schiene 115<br />

Quelle: Europäische Kommission: EU Energy and Transport in<br />

Figures – Statistical Pocketbook 2004. Luxemburg 2004, Ziffer 3.7<br />

und 3.3.11<br />

Flugsicherheit<br />

Was meint das Wort „Sicherheit“? Die deutsche<br />

Sprache stellt nur diese eine Bezeichnung für sämtliche<br />

Aspekte gefahrlosen Fliegens bereit. Andere<br />

Sprachen differenzieren: Während die technischbauliche,<br />

passive Ausrüstungssicherheit von Flugzeugen<br />

als „safety“ oder „sûreté“ bezeichnet wird,<br />

meinen „security“ oder „sécurité“ die organisatorische,<br />

gefahrenpräventive, rechtswidrige Eingriffe<br />

abwehrende Sicherheit des Flugbetriebes und seiner<br />

Gäste.<br />

Der Maastrichter Vertrag ergänzte 1993 den Art. 71<br />

Abs. 1 EGV um den Buchstaben c), wonach die Gemeinschaft<br />

im Verfahren der �Mitentscheidung<br />

(Art. 80 Abs. 2 i.V.m. 251 EGV) Maßnahmen zur<br />

Verbesserung der (Flug-)Verkehrssicherheit erlassen<br />

kann. Die EG reagierte damit auf das gestiegene<br />

Sicherheitsbedürfnis der Verkehrsteilnehmer angesichts<br />

einer zunehmenden Verkehrsdichte namentlich<br />

im Straßen- und Flugverkehr. Sämtliche GrundsatzpapierevonRatundKommissionbetonteninden<br />

letzten Jahren den hohen Stellenwert der Sicherheit<br />

als Kernanliegen der �Gemeinsamen Verkehrspolitik.<br />

Artikel I-14 Abs. 2 lit. g) des Verfassungsvertrags<br />

von 2004 unterstellt den Bereich Verkehr der<br />

geteilten Zuständigkeit von Union und Mitgliedstaaten;<br />

dabei wird die Union auf dem Gebiet der Gefahrenabwehr(Verkehrsregeln,Ordnungswidrigkeiten,<br />

Verkehrsstrafrecht) das �Subsidiaritätsprinzip zu<br />

beachten haben. Die �Harmonisierung der technischen<br />

Sicherheitsnormen von Flugzeugen dagegen<br />

hat eine so große Binnenmarkt-Nähe (freier Warenverkehr<br />

mit Flugzeugen, Betriebskosten im Wettbewerb<br />

der Fluggesellschaften), dass hier ein Mehrwert<br />

EG-weit einheitlicher Standards in der Regel<br />

anzunehmen ist.<br />

Zunächst zur technisch-passiven Sicherheit der<br />

Flugzeuge (air safety): Die Sicherheit des Fluggeräts<br />

regelt die Verordnung 3922/91 (ABl. L 373/1991),<br />

die laufend an den neuesten Stand der Technik angepasst<br />

wird, zuletzt durch Verordnung 1592/2002<br />

(ABl. L 240/2002). Diese technischen Anforderungen<br />

berufen sich meist auf die Joint Aviation Requirements<br />

(JAR) der Joint Aviation Authorities<br />

(JAA), eines Zusammenschlusses von 28 europäischen<br />

Luftfahrtbehörden. Damit entsteht ein europaweites<br />

Mindestniveau an baulicher Flugsicherheit.<br />

Auch die Standards der organisatorisch-betrieblichenFlugsicherheit(airsecurity)wurdenindenletzten<br />

Jahren angeglichen. Die Richtlinien 93/65 (ABl.<br />

331


Flugsicherheit<br />

L 187/1993) und 97/15 (ABl. L 95/1997) sowie die<br />

Verordnung 2082/2000 (ABl. L 254/2000) harmonisieren<br />

die technischen Anforderungen an Flugsicherungssysteme.<br />

Sie erhöhen so die Sicherheit und die<br />

KapazitätenamHimmelundwirkenderÜberlastung<br />

des Luftraums entgegen. Die einheitlichen Standards<br />

erleichtern auch die Übergabe eines Flugzeugs<br />

zwischen den verschiedenen Kontrollstellen. Die<br />

EG-Normen beruhen weitgehend auf den Spezifikationen<br />

von �Eurocontrol (European Organisation for<br />

the Safety of Air Navigation), einem Zusammenschluss<br />

von 34 Staaten auf völkerrechtlicher Basis<br />

(Übereinkommen von 1960 über Zusammenarbeit<br />

zur Sicherung der Luftfahrt, revidiert 1997). Eurocontrolverfügtüber2200Mitarbeiterunddamitüber<br />

eine sehr hohe Fachkompetenz. Die Gemeinschaft<br />

und ihre Mitgliedstaaten unterzeichneten am 8. 10.<br />

2002 ein Protokoll über den Beitritt der EG zum geänderten<br />

Eurocontrol-Abkommen von 1997. Dieses<br />

Protokoll ist inzwischen ratifiziert (ABl. L 304/<br />

2004). Es sollte die Abstimmung zwischen EG und<br />

Eurocontrol reibungsloser gestalten.<br />

Der besseren Vernetzung und technischen Kompatibilität<br />

der Flugmanagementsysteme dient die Verordnung<br />

552/2004 (ABl. L 96/2004); sie wird ab 20.<br />

10. 2005 die im vorigen Absatz genannten älteren<br />

EG-Rechtsakte aufheben. Dass die Flugsicherungsdienste<br />

in der Gemeinschaft sicher, effizient und<br />

nach einem einheitlichen Zertifizierungssystem erbracht<br />

werden, gewährleistet die Schwester-Verordnung<br />

550/2004 (ABl. L 96/2004).<br />

DurchdieVerordnung1592/2002(ABl.L240/2002)<br />

errichtete die Gemeinschaft die �Europäische Agentur<br />

für Flugsicherheit (European Aviation Safety<br />

Authority, EASA), die im September 2003 ihre Arbeit<br />

provisorisch in Brüssel aufnahm und im November<br />

2004 an ihren endgültigen Sitz nach Köln zog.<br />

Nach jahrelangen Vorarbeiten verfügt die EG nun<br />

über eine effektive, einheitliche Vollzugsbehörde,<br />

deren Kompetenzen einen Vergleich mit der USamerikanischen<br />

Schwesterbehörde FAA (Federal<br />

Aviation Administration) aushalten. Die Agentur<br />

wird gemeinsame Normen für ein hohes Sicherheitsund<br />

Umweltschutzniveau im europäischen Flugverkehr<br />

erarbeiten. Sie überwacht die einheitliche Anwendung<br />

dieser Standards in allen Mitgliedstaaten.<br />

Gleichzeitig fördert sie die Übernahme der EG-Normen<br />

auf internationaler Ebene. Sie erteilt die EGweit<br />

gültige Musterzulassung für Luftfahrzeuge und<br />

332<br />

erleichtert so den freien Warenverkehr mit Fluggeräten<br />

im Binnenmarkt. Künftig soll die EASA Normen<br />

entwickeln für die Genehmigung des Flugbetriebs,<br />

die Erlaubnisscheine für das Flugpersonal sowie die<br />

Sicherheitsüberprüfung von Flughäfen und Fluglotsen.<br />

Um die politische Unabhängigkeit der Flugsicherheitsmaßnahmen<br />

der EG zu gewährleisten, trifft der<br />

Direktor der Agentur Einzelentscheidungen selbständig.<br />

Privatpersonen können diese Entscheidungen<br />

zunächst vor gesonderten, unabhängigen Beschwerdekammern<br />

angreifen, bevor sie Nichtigkeitsklage<br />

(Art. 230 EGV) zum Gerichtshof erheben<br />

dürfen. Die EASA wird eng mit Eurocontrol zusammenarbeiten.<br />

Hauptziel der Kooperation ist es, die<br />

fragmentierte Luftraumüberwachung in <strong>Europa</strong> zu<br />

überwinden, um so Umwegrouten und Kollisionsgefahren<br />

beim Wechsel der Überwachungszone zu vermeiden.<br />

Als unmittelbare Reaktion auf die Terroranschläge<br />

vom 11. 9. 2001 erließ die Gemeinschaft die Verordnung<br />

2320/2002 (ABl. L 355/2002) zur Festlegung<br />

gemeinsamer Vorschriften für die Sicherheit in der<br />

Zivilluftfahrt, geändert durch die Verordnung 849/<br />

2004 (ABl. L 229/2004). Diese Verordnung gehört<br />

ebenfalls zum Bereich „air security“. Sie stützt sich<br />

auf Empfehlungen der Europäischen Zivilluftfahrtkonferenz<br />

(ECAC), der momentan 41 europäische<br />

Staaten angehören. Durchführungsbestimmungen<br />

enthält die Verordnung 622/2003 (ABl. L 89/2003).<br />

Der Anhang der Grundverordnung ist mit 80 Einzelregelungen<br />

sehr umfangreich und nur für Experten<br />

nachvollziehbar. Im Vordergrund stehen die Verpflichtungen<br />

der Mitgliedstaaten, nationale Sicherheitsprogramme<br />

für Flughäfen aufzustellen, Fluggäste,<br />

Personal und Gepäck strenger zu kontrollieren<br />

und die Flughafenzugänge zu überwachen. Die Europäische<br />

Kommission darf auf den nationalen Flughäfen<br />

eigene, unangekündigte Inspektionen durchführen.<br />

Gerade die Durchsuchung des Personals<br />

nach verbotenen Gegenständen in sensiblen Zonen<br />

kann zu erheblichen Zeitverlusten führen. Um es zuzuspitzen:<br />

Darf ein Flugzeugmechaniker einen<br />

SchraubenzieherindenHangarmitnehmen?Musser<br />

genau diesen Schraubenzieher wieder aus der Wartungszone<br />

ausführen? Eine Liste der verbotenen Gegenstände<br />

enthält jetzt die Verordnung 68/2004<br />

(ABl. L 10/2004); von der Mitnahme an Bord sind<br />

z. B. ausgeschlossen: spitze oder scharfe Gegenstän-


de wie Schlittschuhe, Rasiermesser, Scheren mit einer<br />

Klingenlänge von über 6 cm, Skistöcke, Bohrer<br />

und Schraubendreher.<br />

Die genannten Rechtsakte über eine verbesserte bauliche<br />

und betriebliche Sicherheit des Flugverkehrs<br />

unterstützen auch das große Vorhaben der Gemeinschaft,<br />

bis 31. 12. 2004 einen Einheitlichen Europäischen<br />

Luftraum herzustellen; dazu erging die Rahmenverordnung<br />

549/2004 (ABl. L 96/2004). In diesem<br />

Raum sollen Fluggeräte und Überwachungseinrichtungen<br />

technisch kompatibel und somit frei handelbar<br />

sein, die vorhandenen Kapazitäten am Himmel<br />

optimal genutzt, wachstumsbedingte Verspätungen<br />

vermieden und Sicherheitsrisiken minimiert<br />

werden.DieVerordnung551/2004(ABl.L96/2004)<br />

über die Ordnung und Nutzung des einheitlichen europäischen<br />

Luftraums errichtet ein EG-weites Fluginformationsgebiet<br />

für den oberen Luftraum (über<br />

8 700 m Höhe), das alle bisherigen Flugsicherungsstellen<br />

zu einem einzigen Luftraumabschnitt mit<br />

mehreren funktionalen Luftraumblöcken vereint.<br />

Die Flugsicherungssektoren orientieren sich nicht<br />

mehr an Staatsgrenzen, sondern am Beitrag zu einer<br />

effizienten Luftraumüberwachung und zu optimierten<br />

Flugstraßen. Auch militärischer Luftraum soll<br />

für zivile Flüge geöffnet werden.<br />

Dies alles zeigt, dass das sekundäre EG-FlugsicherheitsrechteinehoheKomplexitäterreichthat,dienur<br />

wenige Spezialisten überschauen werden. Offenbar<br />

erfordert die schwierige Materie Zugeständnisse an<br />

die Rechtsklarheit.<br />

Im Gefolge der Attentate vom 11. 9. 2001 arbeitet die<br />

Gemeinschaft verstärkt mit der Internationalen Zivilluftfahrt-Organisation<br />

in Montreal, Kanada, zusammen<br />

(International Civil Aviation Organisation,<br />

ICAO). Beide beschlossen, die internationalen Standards<br />

für die Sicherheit von Cockpittüren zu erhöhen<br />

und verpflichtende Kontrollverfahren für alle<br />

ICAO-Mitglieder einzuführen.<br />

In der Streitfrage, ob und in welchem Umfang FluggastdatensätzevonFluggesellschaftenmitSitzinder<br />

EU an die US-Sicherheitsbehörden elektronisch<br />

übermittelt werden müssen, gelangten die Europäische<br />

Kommission und die US Customs and Border<br />

Protection am 18. 2. 2003 in Brüssel zu einer vorläufigen<br />

Verständigung. Fluggastdaten werden an US-<br />

Strafverfolgungsbehörden nur weitergegeben, um<br />

Terrorismus und Schwerkriminalität zu bekämpfen.<br />

Eine endgültige Vereinbarung steht noch aus. Die<br />

Föderalismus<br />

Weitergabevorschriften der EG-Datenschutz-Richtlinie<br />

95/46 (ABl. L 281/1995) sind mit dem gesteigerten<br />

Sicherheitsbedürfnis der US-Amerikaner seit<br />

dem 11. 9. 2001 in Einklang zu bringen.<br />

DieFlugsicherheitspolitikderZukunftwirddemGefahrenpotential<br />

aufgrund der höheren Flugdichte<br />

und der teils realen, teils empfundenen Terrorbedrohung<br />

wirksam begegnen müssen, ohne die Attraktivität<br />

des Fliegens durch kostentreibende, wartezeitintensive<br />

Sicherheitsvorkehrungen übermäßig zu<br />

beschneiden. P. Sch.<br />

Internet:<br />

europa.eu.int/comm/transport/air/safety/index_en.htm<br />

www.easa.eu.int/home/index.html<br />

www.eurocontrol.int; www.ecac-ceac.org<br />

Literatur:<br />

Europäische Kommission: Mitteilung „Die Schaffung eines<br />

einheitlichen europäischen Luftraums“. KOM (1999) 614<br />

endg. vom 1. 12. 1999. Luxemburg 1999<br />

Dies.: Mitteilung „Weiterentwicklung der Luftfahrtaußenpolitik<br />

der Gemeinschaft“. KOM (2005) 79 endg. vom 11. 3. 2005<br />

Schwenk, W./Giemulla, E: Handbuch des Luftverkehrsrechts.<br />

Köln 2005 3<br />

Föderalismus verweist auf gleichberechtigte Einzelstaaten<br />

in einem Bund. Er ist ein aus der deutschen<br />

Staatstradition vertrautes Prinzip. Es bedeutet, dass<br />

ursprünglich selbständige Territorien (Kleinstaaten)<br />

durch einen Vertrag (lat. foedus) zu einem Einheitsstaat<br />

(Bundesstaat) mit zentralen Organen (Parlament,<br />

Regierung, Gerichtshof) zusammengeführt<br />

werden. Dabei bleiben bestimmte Kompetenzen bei<br />

den Bundesländern, andere gehen auf die Zentralinstanzenüber(vgl.DeutschesReichvon1871,Weimarer<br />

Republik, Bundesrepublik Deutschland und<br />

Grundgesetz). Die EU wird vom BVerfG nicht als<br />

Bundesstaat oder Staatenbund, sondern als ein Drittes,<br />

als „Staatenverbund“ angesehen, bei dem man<br />

Gemeinschaftspolitiken (z. B. �Regional-, �Sozial-,<br />

�Umwelt-, �Wettbewerbs-, �Verbraucher-, Atom-,<br />

�Agrar-, Außenwirtschafts-, �Entwicklungshilfe-,<br />

Währungs-, �Verkehrspolitik) und intergouvernementale<br />

Politiken (�Justiz- und Innen-, �Außen- und<br />

Sicherheits-Politik) unterscheidet. Treffender erscheint<br />

der Begriff „Integrationsverbund“.<br />

Die eigentliche Zielsetzung des europäischen Föderalismus<br />

beruht im Halten des Gleichgewichts zwischen<br />

Einheit und Vielfalt, Zentralismus und Partikularismus.<br />

Das heißt, der Föderalismus verlangt<br />

nichttotaleIntegration,sonderneinbestimmtes,ausgewogenes<br />

Maß an Integration, das sich in Gestalt<br />

333


Fonds der EU<br />

von vier Prinzipien darstellt: 1. der Grundsatz der<br />

Autonomie (jeder Mitgliedstaat löst seine eigenen<br />

Aufgaben und verfügt über die Mittel dazu), 2. der<br />

Grundsatz der Kooperation (Aufgaben und Probleme<br />

können unter den Mitgliedern in frei vereinbarter<br />

Zusammenarbeit angegangen werden), 3. der Grundsatz<br />

der �Subsidiarität (Inanspruchnahme der nächsthöheren<br />

Entscheidungsinstanz, wenn weder die eigenen<br />

Mittel noch die Zusammenarbeit der Gemeinschaftsmitglieder<br />

ausreichen), 4. der Grundsatz der<br />

�Partizipation (weitgehende Mitbestimmung der<br />

Mitglieder bei Entscheidungen der nächsthöheren<br />

Ebene, auch wenn eine Entscheidungskompetenz<br />

durch das Subsidiaritätsprinzip „nach oben“ abgegeben<br />

wurde).<br />

Am ausgeprägtesten ist die föderalistische Staatsstruktur<br />

in Deutschland (Österreich und Belgien) mit<br />

seinen 16 Bundesländern (die alle eine eigene Staatsqualität<br />

besitzen). Während der Föderalismus im allgemeinen<br />

in Deutschland als positiv und praktikabel<br />

empfunden wird, verbinden die meisten europäischenStaatendamitdieErinnerunganethnischeZersplitterung<br />

und Nationalitätenkämpfe, andererseits<br />

befürchten sie einen „Brüsseler Zentralismus“. Deswegen<br />

hat man im Vertrag über die Europäische<br />

Union den Begriff „Föderalismus“ zugunsten einer<br />

unbestimmten Subsidiarität vermieden.<br />

Die �Europäische Bewegung in Deutschland tritt<br />

nach wie vor für ein föderales <strong>Europa</strong> ein. Am ehesten<br />

finden Pläne für eine europäische Konföderation<br />

die Sympathie der EU-Vertragsstaaten. Konföderation<br />

ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der jede Art<br />

von staatenbündischem Zusammenschluss zulässt.<br />

W. M.<br />

Literatur:<br />

Ammon, G. u. a. (Hg.): Föderalismus und Zentralismus:<br />

<strong>Europa</strong>s Zukunft zwischen dem deutschen und dem<br />

französischen Modell. Baden-Baden 1996<br />

Hesse, J. J./Renzsch, D. (Hg.): Föderalstaatliche Entwicklung<br />

in <strong>Europa</strong>. Baden-Baden 1991<br />

Laufer, H./Fischer, Th.: Föderalismus als Strukturprinzip für<br />

die Europäische Union. Gütersloh 1996<br />

Ossenbühl, F. (Hg.): Föderalismus und Regionalismus in<br />

<strong>Europa</strong>. Baden-Baden 1990<br />

Fonds der Europäischen Union<br />

1. Begriff und Vertragsgrundlagen: Fonds der EU<br />

sind Finanzierungsinstrumente, deren Mittel aus<br />

dem Haushalt der Gemeinschaft stammen und nur<br />

für bestimmte Ausgaben verwendet werden dürfen<br />

(es handelt sich also nicht um Sondervermögen). Die<br />

334<br />

von der EG/EU zu unterschiedlichen Zeitpunkten errichteten<br />

Fonds sind:<br />

– der Europäische Ausrichtungs- und Garantiefonds<br />

für die Landwirtschaft (EAGFL),<br />

– der Europäische Fonds für regionale Entwicklung<br />

(EFRE),<br />

– der Europäische Sozialfonds (ESF),<br />

– der Kohäsionsfonds,<br />

– das Finanzierungsinstrument für die Ausrichtung<br />

der Fischerei (FIAF) und<br />

– der EU-Solidaritätsfonds.<br />

Hinzu kommt der Europäische Entwicklungsfonds<br />

(EEF), dessen Mittel nicht aus dem EU-Haushalt<br />

stammen.<br />

Obwohl einige Fonds die gleiche Bezeichnung tragen<br />

wie die entsprechenden Gemeinschaftspolitiken,<br />

lassen sie sich ihnen nicht eindeutig zuordnen.<br />

Dies entspricht der Bündelung der verschiedenen<br />

Teilpolitiken unter strukturpolitischen Zielsetzungen(�Strukturpolitik,<br />

�Regionalpolitik).AlleFonds<br />

werden von der Europäischen Kommission verwaltet.<br />

Rechtliche Grundlage für die Errichtung der einzelnen<br />

Fonds ist der EWG/EG-Vertrag einschl. seiner<br />

Änderungen durch die �Einheitliche Europäische<br />

Akte (EEA 1986) und den Vertrag über die Europäische<br />

Union (EUV 1992).<br />

Außerdem wurde 1994 ein �Europäischer Investitionsfonds<br />

(EIF) mit einer Kapitalausstattung von 2<br />

Mrd. Euro gegründet. Er hat eigene Rechtspersönlichkeit<br />

und Finanzautonomie und ist mit der �Europäischen<br />

Investitionsbank (EIB) verbunden.<br />

Die Abteilung Ausrichtung des Europäischen Ausrichtungs-<br />

und Garantiefonds für die Landwirtschaft<br />

(EAGFL), der Europäische Fonds für regionale Entwicklung<br />

(EFRE), der Europäische Sozialfonds<br />

(ESF), das Finanzinstrument für die Ausrichtung der<br />

Fischerei (FIAF) und der Kohäsionsfonds sind die<br />

wichtigsten Finanzinstrumente zum Abbau der regionalen<br />

Disparitäten. Sie werden unter dem Begriff<br />

„Strukturfonds“ gebündelt. Mit Ausnahme des Kohäsionsfonds<br />

können alle EU-Staaten beim Vorliegen<br />

bestimmter Voraussetzungen diese Strukturfonds<br />

in Anspruch nehmen.<br />

2. Aufgaben der Fonds und ihre Entwicklung: Zwischen<br />

und innerhalb der einzelnen EU-Staaten besteht<br />

ein großes Einkommens- und Wohlstandsgefälle,<br />

das sich mit der Erweiterung der EU von 15 auf<br />

25Mitglieder(2004)deutlichvergrößerthatundsich


durch weitere Beitritte noch verstärken wird. Aufgabe<br />

der Strukturfonds (und des Kohäsionsfonds) ist<br />

es, durch finanzielle Unterstützung von Programmen<br />

und Projekten zur Reduzierung der Ungleichgewichte<br />

zwischen Regionen und sozialen Gruppen sowie<br />

zur Stärkung des wirtschaftlichen und sozialen<br />

Zusammenhalts in der EU beizutragen. Für die<br />

Strukturfonds stehen von 2000 – 2006 insgesamt 195<br />

Mrd. Euro zur Verfügung (1994 – 1999 = 154,5 Mrd.<br />

Euro; Hauptempfängerländer waren Spanien, Italien,<br />

Deutschland, Griechenland, Portugal, Großbritannien<br />

und Frankreich).<br />

2.1 Reform der Strukturfonds 1999. Sie zielt darauf<br />

ab, die Effizienz und Transparenz der strukturpolitischen<br />

Maßnahmen durch Konzentration der Zuschüsse<br />

mittels Verringerung der vorrangigen Ziele<br />

von 7 auf 3 und der Gemeinschaftsinitiativen von 13<br />

auf 4 zu verbessern und die Handhabung der Fonds<br />

zu vereinfachen. Darüber hinaus ging es um eine genauere<br />

Abgrenzung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten<br />

und der Kommission bei der Programmplanung,<br />

-begleitung, -bewertung und -kontrolle.<br />

Ziel 1 dient der Förderung der Entwicklung und<br />

strukturellen Anpassung der Regionen mit Entwicklungsrückstand,<br />

das sind Regionen mit einem BIP/<br />

Kopfvonwenigerals75%desEU-Durchschnittssowie<br />

Regionen in äußerster Randlage (Azoren, Madeira,<br />

Kanarische Inseln, französische Überseegebiete)<br />

und Gebiete mit sehr geringer Bevölkerungsdichte<br />

in Schweden und Finnland; Ziel 1 umfasst<br />

auch ein Sonderprogramm für die schwedischen<br />

Küstengebiete. Zu den Ziel-1-Gebieten gehörten<br />

bisher die neuen deutschen Bundesländer.<br />

Ziel 2 unterstützt den wirtschaftlichen und sozialen<br />

Wandel der Regionen mit Strukturproblemen außerhalb<br />

der Ziel-1-Regionen. Der Bevölkerungsanteil<br />

dieser Gebiete darf 18 % der EU-Gesamtbevölkerung<br />

nicht übersteigen.<br />

Ziel 3 dient der Anpassung und Modernisierung der<br />

Bildungs-, Ausbildungs- und Beschäftigungspolitiken<br />

und -systeme. Entsprechende Finanzhilfen stehen<br />

für Gebiete zur Verfügung, die nicht unter Ziel 1<br />

fallen. Ziel 3 wird ausschließlich aus dem Europäischen<br />

Sozialfonds (ESF) finanziert.<br />

2.2 Gemeinschaftsinitiativen. Die 4 Gemeinschaftsinitiativen<br />

erstrecken sich auf die Förderung der<br />

grenzübergreifenden transnationalen und interregionalen<br />

Zusammenarbeit (�INTERREG), die wirtschaftliche<br />

und soziale Wiederbelebung von krisen-<br />

Fonds der EU<br />

betroffenen Städten und Vorstädten (�URBAN), die<br />

Entwicklung des ländlichen Raumes (�LEADER)<br />

und die transnationale Zusammenarbeit zur Förderung<br />

neuer Methoden zur Bekämpfung von Diskriminierung<br />

(jeder Art) beim Zugang zum Arbeitsmarkt<br />

(�EQUAL).<br />

2.2 Die Strukturfonds der Europäischen Union<br />

Der Europäische Ausrichtungs- und Garantiefonds<br />

für die Landwirtschaft (EAGFL): Dieser Fonds (Art.<br />

34, Abs. 3 EGV; eingerichtet durch Verordnung<br />

25/1962) dient der Finanzierung der �Gemeinsamen<br />

Agrarpolitik. Seine Abteilung „Ausrichtung“, die zu<br />

den Strukturfonds der EG gehört, finanziert in den<br />

Ziel-1-Regionen<br />

– Maßnahmen zur Förderung der Entwicklung und<br />

strukturellen Anpassung der Regionen mit Entwicklungsrückstand,<br />

– Maßnahmen zur Entwicklung des ländlichen Raumes,<br />

a) durch beschleunigte Anpassung der AgrarstrukturenimRahmenderReformderGemeinsamenAgrarpolitik;<br />

b) durch Erleichterung der Entwicklung und der<br />

Strukturanpassung der ländlichen Gebiete (z. B.<br />

Flurbereinigung, Bewässerungsmaßnahmen).<br />

Die Abteilung „Garantie“ (sie gehört nicht zu den<br />

Strukturfonds) stellt die Mittel für die von �Marktordnungen<br />

der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP)<br />

erfassten Erzeugnisse in Form der Finanzierung von<br />

Preisstützungsmaßnahmen und Ausfuhrerstattungen<br />

zur Verfügung. Daneben übernimmt sie flankierende<br />

Maßnahmen, z. B. Vorruhestandsregelungen<br />

und Maßnahmen zur ländlichen Entwicklung außerhalb<br />

der Ziel-1-Regionen. Trotz merklicher Erhöhung<br />

der Mittel für die Abteilung Ausrichtung (Zahlungen<br />

2004 = 4,80 Mrd. Euro) liegen deren Mittel<br />

deutlich unter denen der Abteilung Garantie (Zahlungen2004=39,86Mrd.Euro).Gemessenandenzu<br />

bewältigenden strukturpolitischen Aufgaben erscheinen<br />

sie immer noch als zu gering; eine Mittelaufstockung<br />

ist wünschenswert, zumal sich bei Beibehaltung<br />

der Diskrepanzen in der Mittelausstattung<br />

derbeidenAbteilungendiestrukturellenUnterschiede<br />

zwischen reichen, produktionsstarken Agrargebieten<br />

und strukturschwachen Agrarräumen angesichts<br />

der EU-Erweiterung verstärken werden.<br />

Der Europäische Fonds für regionale Entwicklung<br />

(EFRE): Der EFRE (Art. 160 EGV) wurde am 18. 3.<br />

1975 im Zuge der EG-Norderweiterung (1973: Dä-<br />

335


Fonds der EU<br />

nemark, Großbritannien, Irland) gegründet. Er dient<br />

als regionalpolitisches Förderinstrument zum Ausgleich<br />

der regionalen Ungleichgewichte in der<br />

EG/EU. Im Rahmen der Aufgabenverteilung der<br />

Strukturfonds der EG/EU, die durch die Strukturfonds-Verordnungen<br />

des Rates von 1988, 1993 und<br />

1999 vorgenommen wurde, beteiligt sich der EFRE<br />

(entsprechend Verordnung EG Nr. 1783/99, ABl. L<br />

213/1999) insbesondere<br />

– anproduktivenInvestitionenzurBeschaffungoder<br />

Erhaltung dauerhafter Arbeitsplätze und zur Förderung<br />

der strukturellen Anpassung der Regionen mit<br />

Entwicklungsrückstand (Ziel 1 der Strukturfonds);<br />

dazu gehört auch Ostdeutschland,<br />

– an Infrastrukturinvestitionen in Regionen, die von<br />

rückläufiger industrieller Entwicklung schwer betroffen<br />

sind (Ziel 2 der Strukturfonds) und in ländlichen<br />

Entwicklungsgebieten bzw. Gebieten mit<br />

Strukturanpassungsproblemen,<br />

– anInvestitionenimGesundheits-undBildungswesen,<br />

im Bereich der Forschung und Entwicklung und<br />

im Bereich des Umweltschutzes, soweit sie zur Regionalentwicklung<br />

beitragen.<br />

Mit der Süderweiterung der EG (Griechenland 1981,<br />

Spanien und Portugal 1986) und der damit verknüpften<br />

Zunahme regionalpolitischer Probleme hat der<br />

EFRE seit 1988 eine kontinuierliche Aufstockung<br />

erfahren.<br />

Der Europäische Sozialfonds (ESF): Der 1960 gegründete<br />

ESF (Art. 146–148 EGV) ist das wichtigste<br />

Förderinstrument der �Sozialpolitik der Gemeinschaft.<br />

Ursprünglich war er dazu bestimmt, „die berufliche<br />

Verwendbarkeit und die örtliche und berufliche<br />

Freizügigkeit der Arbeitskräfte zu fördern“<br />

(Art. 146 EGV) und insbes. die Arbeitslosigkeit in<br />

den am stärksten betroffenen Gebieten zu senken.<br />

Wegen zu geringer Mittelausstattung und erheblicher<br />

Verfahrensmängel konnte der Fonds diese Aufgabe<br />

nicht bewältigen. Die Fondsreform und die<br />

AufstockungderFinanzmittel1971beseitigtendiese<br />

Mängel. Eine erneute Fondsreform 1977 sorgte dafür,<br />

dass die verfügbaren Mittel vorrangig den bedürftigsten<br />

Regionen und Wirtschaftszweigen zur<br />

Verfügung gestellt wurden. Mit der verstärkten Einbindung<br />

in strukturpolitische Aufgaben im Zuge der<br />

Vollendung des Binnenmarkts wurde 1988 eine<br />

nochmalige Reform des ESF durchgeführt, die ihren<br />

Niederschlag in den Fonds-Verordnungen von 1988,<br />

1993 und 1999 fand. Die Fonds-Verordnung 1784/<br />

336<br />

1999 (ABl. L 213/ 1999) weist dem ESF u. a. folgende<br />

Aufgaben im Rahmen des Tätigwerdens der<br />

Strukturfonds der EG/EU zu:<br />

– Bekämpfung und Vermeidung von Arbeitslosigkeit,<br />

insbes. Langzeitarbeitslosigkeit, Wiedereingliederung<br />

in den Arbeitsmarkt<br />

– Förderung der Chancengleichheit beim Zugang<br />

zum Arbeitsmarkt, insbes. für Personen, die vom gesellschaftlichen<br />

Ausschluss bedroht sind<br />

– Förderung der beruflichen und allgemeinen Bildung<br />

– Förderung der Anpassungsfähigkeit von qualifizierten<br />

Arbeitskräften und Entwicklung des Unternehmergeistes<br />

– Verbesserung des Zugangs der Frauen zum Arbeitsmarkt<br />

und ihrer Beteiligung daran.<br />

Nach der Reform der Strukturfonds von 1999 obliegen<br />

dem ESF Aufgaben aus den neuen Ziel-1 und<br />

Ziel-2-Bereichen; für die Finanzierung der Ziel-3-<br />

Aufgaben ist er allein zuständig. Mit der zunehmenden<br />

Erweiterung der Aufgaben des ESF hat sich sein<br />

Ausgabenvolumen erheblich gesteigert. In der Zeit<br />

von 2000 bis 2006 stehen dem ESF rd. 62,5 Mrd.<br />

Euro zur Verfügung.<br />

Das Finanzinstrument für die Ausrichtung der Fischerei<br />

(FIAF) wurde 1994 zur Verbesserung der<br />

Wettbewerbsfähigkeit und Entwicklung wettbewerbsfähiger<br />

Unternehmen in der Fischereiwirtschaft<br />

eingerichtet und 1999 neu geordnet. Es zielt<br />

auf die Bewahrung der Meeresressourcen durch verantwortungsbewusste<br />

Bewirtschaftung. Dabei gilt<br />

es, ein Gleichgewicht zwischen Fangmenge und<br />

Fischbeständen herzustellen. Die Finanzierung von<br />

Strukturmaßnahmen ist innerhalb und außerhalb der<br />

Ziel-1.Gebiete möglich.<br />

Der Kohäsionsfonds: Der Kohäsionsfonds (Art. 161<br />

EGV), durch den Vertrag über die Europäische<br />

Union (Maastrichter Vertrag) geschaffen und 1993<br />

errichtet, soll den Mitgliedstaaten mit einem Pro-<br />

Kopf-BSP von weniger als 90 % des Gemeinschaftsdurchschnitts<br />

– vor der Osterweiterung: Spanien,<br />

Portugal, Griechenland und Irland – zusätzliche Fördermittel<br />

bis 85 % eines Projekts in den Bereichen<br />

Umwelt und �Transeuropäische Netze zur Verfügung<br />

stellen. Im EU-Haushalt standen dafür 1994 –<br />

199916,8Mrd.ECU zurVerfügung,für2000–2005<br />

waren 18 Mrd. Euro verfügbar, davon für Griechenland<br />

16 – 18 %, für Irland 2 – 6 %, für Portugal 16 –<br />

18 % und für Spanien 61 – 63,5 %.


Das Europäische Parlament und der Europäische<br />

�Wirtschafts- und Sozialausschuss fordern, dass bis<br />

zum Jahre 2007 für die regionale Entwicklung ein<br />

einziger Fonds eingerichtet wird.<br />

Der �Europäische Entwicklungsfonds (EEF): Der<br />

EEF hat als Finanzierungsinstrument für die Förderung<br />

der �AKP-Staaten mit der Intensivierung der<br />

EG-AKP-Partnerschaft durch die Lomé-Abkommen<br />

und das Cotonou-Abkommen eine ständige<br />

Aufwertung erfahren. Dennoch hat der EEF, gemessenandenfürdieStrukturfondsverfügbarenMitteln,<br />

eine relativ geringe Bedeutung. Im Durchschnitt<br />

standen aus dem 8. EEF (13 Mrd. ECU) jährlich nur<br />

rund 2,6 Mrd. ECU zur Verfügung (ca. 3,2 % des<br />

Gesamthaushaltes ). Mit 13,5 Mrd. Euro ist der<br />

9. EEF (2000 – 2005) nominal auf dem gleichen<br />

Stand geblieben, erreicht jedoch durch Aufstockung<br />

aus Reserven und durch weitere Investitionsmittel<br />

eine jährliche Ausschüttung von rd. 3,5 Mrd. Euro.<br />

Schwerpunktmäßig konzentrieren sich die Fondsmaßnahmen<br />

auf folgende Bereiche:<br />

– Verknüpfung von Handel und Entwicklung;<br />

– regionale Integration und Zusammenarbeit;<br />

– Förderung effizienter regionaler Politik;<br />

– Verkehrswesen,<br />

– Ernährungssicherheit und nachhaltige Entwicklung;<br />

– Ausbau der institutionellen Kapazitäten.<br />

Der EU- Solidaritätsfonds: Der Fonds wurde im November<br />

2002 eingerichtet. Er gewährt Finanzhilfen<br />

bei Katastrophen größeren Ausmaßes in der EU bzw.<br />

in Ländern der EU-Beitrittskandidaten. Die zur Verfügung<br />

stehenden Mittel belaufen sich maximal auf<br />

eineMrd.Euro/Jahr. K. E.<br />

Literatur:<br />

Arbeitskreis Europäische Union: EU-Finanzen und Strukturfonds<br />

vor der Reform. In: integration 3/97, S. 180 – 188<br />

Ausschuss der Regionen: Prospektivbericht des Ausschusses<br />

der Regionen vom 2. 7. 2003 zum Thema Management und<br />

Vereinfachung der Strukturfonds nach 2006. Brüssel 2003<br />

Europäische Union: Die Strukturfonds nach 1999.<br />

In: inforegio-news Mitteilungsblatt 31. 8. 1996<br />

Dies.: Agenda 2000 – Antworten auf die Fragen der Zukunft.<br />

EU-Nachrichten Nr. 15, April 1998<br />

Europäische Gemeinschaft: Annual Report of the Cohesion<br />

Fund 1996 ff. Luxembourg 1997 ff.<br />

Europäische Kommission: Gesamtbericht über die Tätigkeit<br />

der Europäischen Union. Brüssel 2000 ff.<br />

Dies.: Finanzbericht 2003. Luxemburg 2004<br />

Hartwig, I.: Eine neue Finanzverfassung für die Europäische<br />

Union. In: Integration 4/2003, S. 520 – 526<br />

Forschungs- und Technologiepolitik<br />

Heinemann, F.: Perspektiven einer zukünftigen EU- Finanzverfassung.<br />

In: integration 3/2003, S.228–243<br />

Arnaud, J. L./ Guder, U.: Welche Perspektiven für die<br />

Strukturfonds und die Kohäsionspolitik? Berlin 2002<br />

Forest Focus ist eine Gemeinschaftsmaßnahme,<br />

eingeführt durch Verordnung 2152/2003 (Abl. L<br />

324/2003) mit dem Ziel einer besseren Überwachung<br />

(Monitoring) der Wälder zum Schutz vor<br />

Schäden durch Luftverschmutzung und Brände. Sie<br />

setzt ähnliche Maßnahmen aus den Jahren 1986 und<br />

1992 fort. Über ein Netz von Beobachtungspunkten<br />

und -flächen werden regelmäßig Bestandsaufnahmen<br />

vorgenommen und der Zustand der Waldökosysteme<br />

beobachtet. Die Mitgliedstaaten erstellen<br />

nationale Programme, die von der EU bezuschusst<br />

werden. Sie übermitteln der Kommission Jahresberichte<br />

über die Auswirkungen von Bränden auf ihre<br />

Wälder (ab 2003) und über den Zustand ihrer Waldökosysteme<br />

(ab 2005). Die Kommission erstellt daraus<br />

einen Gesamtbericht und legt ihn dem Rat und<br />

dem EP vor.<br />

Forschungsbeirat �Europäischer Forschungsbeirat<br />

Forschungsrahmenprogramme �Forschungsund<br />

Technologiepolitik Ziff. 3.2<br />

Forschungs- und Technologiepolitik (FTE)<br />

1. Europäische Forschungspolitik: Wozu? Die<br />

Volkswirtschaften der Mitgliedsländer der EU sind<br />

gegenwärtig tiefgreifenden strukturellen ÄnderungenunterworfenundmüssenaufdemWeltmarktihre<br />

z. T. gefährdete internationale Wettbewerbsfähigkeit<br />

verteidigen. Das Technologieniveau ist zu einem<br />

entscheidenden Faktor im internationalen Wettbewerb<br />

geworden; immer kürzere Produktions- und<br />

Innovationszyklen, rapide steigende Forschungsund<br />

Entwicklungskosten und weltweite InterdependenzderHigh-Tech-Sektorenerlaubenesimmerweniger,<br />

die Wettbewerbs- und Exportfähigkeit der europäischen<br />

Volkswirtschaften ausschließlich innerhalb<br />

der traditionellen nationalen Koordinationssysteme<br />

zu sichern. Forschung und technologische Entwicklung<br />

(FTE) sind damit entscheidende Faktoren<br />

für Wohlfahrt, Sicherheit und wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit.<br />

Durch FTE wird nicht nur neues<br />

Wissen generiert, sondern entstehen neue Produkte,<br />

Prozesse und Dienstleistungen.<br />

337


Forschungs- und Technologiepolitik<br />

Die Europäische Forschung bezweckt, durch Grundlagenforschung<br />

sowie angewandte Forschung Lösungen<br />

für Probleme der Bevölkerung und deren Lebensraum<br />

zu finden. Die Wertschöpfung aus FTE ist<br />

eine Voraussetzung für die Schaffung neuer Arbeitsplätze.<br />

Warum braucht es eine europäische Forschungspolitik?<br />

– Im Jahr 2002 investierte die EU lediglich 1,93 %<br />

(EU-25) bzw. 1,99 % (EU-15) des BSP in FTE, die<br />

USA jedoch im gleichen Jahr 2,76 % und Japan sogar<br />

3,12 % (Quelle: Eurostat);<br />

– Abwanderungvongutausgebildeteneuropäischen<br />

Forscherinnen und Forschern in die USA (Brain<br />

drain);<br />

– <strong>Europa</strong> verfügt über eine fragmentierte Forschungslandschaft;<br />

es besteht kein wahrnehmbarer<br />

europäischer Forschungsraum;<br />

– Bessere Nutzbarmachung der Resultate aus FTE:<br />

„Europe is good in turning Euro into science but not<br />

inturningscienceintoEuro“(sog.„EuropäischesParadoxon“);<br />

– Vermeidung von Doppelspurigkeiten;<br />

– Kritische Masse;<br />

– Vereinbarung der Nationalen Forschungsstrategien.<br />

Die FTE-Politik der EU nimmt einen – gemessen an<br />

der finanziellen Ausstattung und der wirtschaftlichen<br />

Bedeutung – von Jahr zu Jahr wachsenden Stellenwertein;sierichtetsichvorallemandiefürdiezukünftige<br />

wirtschaftliche Entwicklung <strong>Europa</strong>s strategisch<br />

wichtigen neuen Technologien; aber auch an<br />

übergreifenden Problemlösungen, Konzepten und<br />

Szenarien (z. B. Gesellschaft, Umwelt, Klima) wird<br />

gearbeitet.<br />

Grundsätzlich soll sich die FTE-Politik der Gemeinschaft<br />

auf den vorwettbewerblichen Prozess beschränken,<br />

also auf das gesamte Stadium, das der eigentlichen<br />

Produkt- oder Dienstleistungsentwicklung<br />

vorgeschaltet ist. Allerdings wird – innerhalb<br />

dieser Grenzen – der angewandten Forschung und<br />

innovationsbezogenen Maßnahmen ein besonderer<br />

Stellenwert eingeräumt.<br />

2. Rechtsgrundlagen und Entwicklungsstadien der<br />

europäischen FTE-Politik. Trotz ordnungspolitischer<br />

Bedenken stellte die FTE-Politik bereits in der<br />

Anfangsphase ein wesentliches Element der EG dar.<br />

Ausgangsbasis und ursprüngliche Rechtsgrundlage<br />

für die gemeinschaftliche FTE-Politik waren Art. 55<br />

338<br />

EGKSV (Forschung auf dem Stahl- und Kohlesektor),<br />

Art. 4 – 11 EAGV (Kernforschung), Art. 41<br />

(Landwirtschaft) und 235 EWGV (andere Bereiche,<br />

vor allem nicht-nukleare Energie) sowie die Entschließung<br />

des Rates vom 14. 1. 1974 über die Koordinierung<br />

der einzelstaatlichen Politiken und die Definition<br />

der Aktionen von gemeinschaftlichem Interesse<br />

im Bereich der Wissenschaft und Technologie<br />

(ABl. C 7/74).<br />

Mit dem Inkrafttreten der �Einheitlichen Europäischen<br />

Akte (EEA) im Jahre 1987 wurde die Politik<br />

auf dem Gebiet von FTE auf eine neue und explizit<br />

genannte vertragliche Grundlage gestellt (Titel VI,<br />

Art. 130f – 130q EWGV).<br />

Der Maastrichter Vertrag fügt den Titel über „Forschung<br />

und technologische Entwicklung“ als Titel<br />

XVIII in den EG-Vertrag ein und stellt die gemeinschaftliche<br />

FTE-Politik auf eine neue vertragliche<br />

Grundlage. Die Forschungsaktivitäten der EU werden<br />

in einem Rahmenprogramm (RP) zusammengefasst<br />

(Art. 166 EGV).<br />

IndemzurRatifizierunganstehenden �Verfassungsvertrag<br />

2004 ist ein eigenes Kapitel über „Forschung<br />

und Technologische Entwicklung und Raumfahrt“<br />

aufgenommen worden (Abschn. 9, Art. III-248 bis<br />

Art. III-255 VVE). Hier werden die Ziele und Maßnahmen<br />

der FTE-Politik festgelegt und die Durchführung<br />

(RP und Durchführung durch spezifische<br />

Programme) geregelt.<br />

3. Zielsetzungen und Stand der Europäischen FTE-<br />

Politik<br />

3.1 Zielsetzungen. Die gemeinschaftliche FTE-Politik<br />

ist vor allem ausgerichtet auf die Bereiche Informations-,<br />

Kommunikations- und Biotechnologie.<br />

Durch Koordinierung der Politiken der einzelnen<br />

Mitgliedstaaten oder Forschungstätigkeit auf Gemeinschaftsebene<br />

selbst soll erreicht werden:<br />

– unnötige Doppelarbeit und eine ungerechtfertigte<br />

Parallelität bei den einzelstaatlichen Programmen zu<br />

vermeiden; hierzu gehört vor allem eine bessere Verbreitung<br />

von Ergebnissen unter den Unternehmen<br />

(insbes. kleinere und mittlere Unternehmen,<br />

�KMU), ein angemessenes Kosten-Nutzen-VerhältnisunddieKoordinierungzwischendennationalen<br />

Programmen;<br />

– durchArbeitsteilungoderggf.durchZusammenlegung<br />

der Mittel die Wirksamkeit der einzelstaatlichen<br />

und gemeinschaftlichen Aktionen zu erhöhen<br />

oder deren Kosten zu senken;


– dieVerfahrenzurAusarbeitungundDurchführung<br />

der Forschungspolitik in der Gemeinschaft schrittweise<br />

zu harmonisieren;<br />

– die Schaffung eines gemeinsamen Binnenmarktes<br />

(z. B. die Erarbeitung einheitlicher Normen und<br />

Standards etc.) zu fördern und zur Überwindung der<br />

wissenschaftlichen und technologischen Grenzen in<br />

<strong>Europa</strong> beizutragen;<br />

– in Bereichen mit grenzüberschreitender Problemstellung<br />

(z. B. Umwelt- und Gesundheitsschutz) entsprechende<br />

Forschungsvorhaben zu fördern;<br />

– die besorgniserregende Diskrepanz zwischen dem<br />

Forschungspotential der Gemeinschaftsländer und<br />

den konkreten Innovationen abzubauen und durch<br />

eine gemeinsame Forschungsstrategie (mit mehr finanziellen<br />

Mitteln) die internationale Wettbewerbsfähigkeit<br />

<strong>Europa</strong>s (�Wettbewerbspolitik) vor allem<br />

gegenüber den USA und Japan zu erhalten bzw. zurückzuerlangen<br />

und damit durch Innovation und<br />

neue Technologien auch das Beschäftigungsproblem<br />

in der Gemeinschaft mindern zu helfen.<br />

Zielsetzungen aller Maßnahmen der EU auf dem Gebiet<br />

der Forschung ist es somit, die Zusammenarbeit<br />

zwischenPartnernverschiedenerLänderimRahmen<br />

ihrer aufeinander folgenden Rahmenprogramme anzuregen.<br />

Seit Anfang der 1980er Jahre trugen diese<br />

Programme zur Entwicklung eines neuen kooperativen<br />

Ansatzes in einer im Wandel begriffenen Gesellschaftbei.In<strong>Europa</strong>begannsicheinechter„europäischer<br />

Forschungsraum“ abzuzeichnen.<br />

In dieser „globalisierten“ Welt schreiten die Forschung<br />

und technologische Entwicklung immer<br />

schneller voran – dank des über Landesgrenzen hinweg<br />

immer freieren und schnelleren Austauschs von<br />

Informationen und wissenschaftlichen Ergebnissen<br />

zwischen den Forschern.<br />

Dennoch kann man gegenwärtig noch nicht wirklich<br />

von einer europäischen Forschungspolitik sprechen.<br />

Anders gesagt: die Forschungspolitik der Mitgliedstaaten<br />

und die der EU laufen noch nebeneinander<br />

her, ohne ein in sich geschlossenes Ganzes zu bilden.<br />

Die EU nimmt in verschiedenen Bereichen (z. B. in<br />

der medizinischen Forschung oder der Chemie)<br />

weltweit eine führende Stellung ein. Dieses Potenzial<br />

muss in Zusammenarbeit mit den Unternehmen,<br />

Forschungsinstituten und den Hochschulen außerhalb<br />

<strong>Europa</strong>s gepflegt, ausgebaut und in vollem Umfang<br />

ausgeschöpft werden.<br />

Die einzelstaatlichen Forschungsprogramme wer-<br />

Forschungs- und Technologiepolitik<br />

den weitgehend getrennt geführt. Um diese Isolation<br />

zu durchbrechen, haben die Verantwortlichen der<br />

nationalen Forschungsbehörden der Mitgliedstaaten<br />

sich bereits für die Empfehlung ausgesprochen, einzelstaatliche<br />

Programme grundsätzlich für andere<br />

Teilnehmer zu öffnen. Die Kommission kann hier als<br />

Initiator fungieren, indem sie den einzelstaatlichen<br />

Stellen die logistischen und rechtlichen Mittel für<br />

eine bessere Koordinierung der in <strong>Europa</strong> durchgeführten<br />

Forschungsmaßnahmen zur Verfügung<br />

stellt.<br />

Vor diesem Hintergrund sind im Rahmen der zwischenstaatlichen<br />

Kooperation eine Reihe europäischer<br />

Organisationen der wissenschaftlichen und<br />

technologischen Zusammenarbeit entstanden: z. B.<br />

�EWS (Europäische Wissenschaftsstiftung), �ESA<br />

(Europäische Weltraumagentur), �COST (Europäische<br />

Zusammenarbeit auf dem Gebiet der wissenschaftlichen<br />

und technischen Forschung), �EURE-<br />

KA (außerhalb der Gemeinschaft geführtes Forschungsprogramm).<br />

Das aktuelle europäische Patentsystem, das sich auf<br />

das �Europäische Patentamt und die entsprechenden<br />

Ämter der Einzelstaaten stützt, beruht auf der Erteilung<br />

von nationalen Patenten, die nur in den Mitgliedstaaten<br />

gelten, für die sie erteilt wurden. Dieses<br />

kostspielige System ist eines der Haupthindernisse<br />

für ein europaweites gemeinsames Patentsystem.<br />

Deshalb beabsichtigt die Kommission, die Schaffung<br />

eines einzigen �Gemeinschaftspatentes vorzuschlagen,<br />

das für den gesamten EU-Raum gilt.<br />

Das europäische Forschungssystem muss so organisiert<br />

werden, dass dabei die in den verschiedenen<br />

Stadien der Umsetzung der öffentlichen Politik zutagetretendenBedürfnissevorausgesehenundberücksichtigt<br />

werden. In diesem Zusammenhang müssen<br />

die verwaltungstechnischen, behördlichen Hindernisse,<br />

die der wissenschaftlichen Forschung entgegenstehen,<br />

aus dem Weg geräumt werden. Die direkt<br />

von der Kommission verwirklichten Forschungsarbeiten<br />

sollten die wichtigsten Anliegen der Bürger<br />

und der Entscheidungsträger widerspiegeln, wie<br />

z. B. Umweltschutz, Sicherheit von Nahrungsmitteln<br />

und chemischen Erzeugnissen oder nukleare Sicherheit.<br />

Vor dem Hintergrund dieser zerklüfteten europäischen<br />

Forschungslandschaft ist als übergeordnete<br />

Zielvorstellung der FTE-Politik der EU im Jahre<br />

2000 die Schaffung eines Europäischen Forschungs-<br />

339


Forschungs- und Technologiepolitik<br />

raums (EFR) entwickelt worden. Der EFR ist eine<br />

politische Zielvorstellung, die durch folgende Maßnahmen<br />

realisiert werden soll:<br />

– Vernetzung nationaler und gemeinsamer Forschungsprogramme<br />

und -organisationen<br />

– Einbindung und Weiterentwicklung bestehender<br />

Initiativen<br />

– Kartierung der Spitzenforschungszentren in <strong>Europa</strong><br />

(„Mapping of Excellence“)<br />

– Verbesserung des Umfeldes für private Forschungsinvestitionen<br />

und -partnerschaften<br />

– Koordinierte Qualitäts- und Wirkungsmessung<br />

der nationalen Politiken im Bereich FTE<br />

– Schaffung eines transeuropäischen Hochleistungs-Datennetzes<br />

für die wissenschaftliche Kommunikation<br />

(�„GRID“)<br />

– Beseitigung von Hindernissen, die die Mobilität<br />

von Forschern in <strong>Europa</strong> hemmen,<br />

– Maßnahmen gegen den „brain drain“ hochqualifizierter<br />

Forscher<br />

– Einführung eines Europäischen Gemeinschaftspatents.<br />

Im selben Jahr wie der Beschluss über den EFR wurde<br />

auf dem Gipfeltreffen der europäischen Staatsund<br />

Regierungschefs in Portugal im März 2000 die<br />

�„Lissabon Strategie“ entwickelt. Mit ihrer Hilfe<br />

soll<strong>Europa</strong>biszumJahr2010der„dynamischsteund<br />

wettbewerbsfähigste wissensbestimmte Wirtschaftsraum<br />

der Welt“ werden. Zwei Jahre später<br />

(2002) wurde diese Strategie in der Erkenntnis, dass<br />

die EU hinter dem Zeitplan zurückblieb, auf dem<br />

Gipfeltreffen von Barcelona um konkrete Ziele erweitert.SowurdendieMitgliedsländerermutigt,den<br />

Anteil ihrer Ausgaben für Forschung und Entwicklung<br />

am Bruttoinlandsprodukt zu steigern (das sog.<br />

„Dreiprozentziel“). Das Dreiprozentziel von Barcelona<br />

ist ein Schwellenwert für die Forschungsausgaben,<br />

den die Mitgliedsländer erreichen sollten, wenn<br />

sie das von der Union gesteckte Ziel, der dynamischste<br />

wissensbestimmte Wirtschaftsraum der Welt zu<br />

werden, erreichen wollen (ausführlich: �Lissabon-<br />

Strategie).<br />

Gestritten wird derzeit auf EU-Ebene (ebenso wie<br />

auf nationaler Ebene, z. B. in Deutschland), ob bei<br />

der Verfolgung der „Lissabon Strategie“ und der erhofften<br />

Schaffung neuer Arbeitsplätze, umweltpolitische<br />

Forderungen hinter ökonomischen Zielsetzungen<br />

zurückstehen sollten.<br />

3.2. Gegenwärtiger Stand der FTE-Politik: Die<br />

340<br />

FTE-Rahmenprogramme (RP) und der Finanzrahmen.<br />

Grundlage und Instrument der europäischen<br />

FTE-Politikistdas„GemeinschaftlicheRahmenprogramm<br />

für Forschung und technologische Entwicklung“.<br />

Dieses RP legt Ziele, Prioritäten und den finanziellen<br />

Umfang der Forschungsförderung für einen<br />

Zeitraum von zumeist vier Jahren fest.<br />

Damit erhält die gemeinschaftliche FTE-Politik verstärkte<br />

Planungssicherheit. Auf das 1. RP (1984 –<br />

1987) folgte im September 1987 das 2. RP (1987 –<br />

1991). Das 3. RP (1990 – 1994) wurde vom Ministerrat<br />

im April 1990 verabschiedet, das vierte (1994 –<br />

1998) im April 1994 mit einem Haushaltsvolumen<br />

(einschl. Nachtrag) von 13,2 Mrd. Euro. Das 5. RP<br />

(1998 – 2002) hatte eine Finanzausstattung von<br />

14,96 Mrd. Euro. Mit der zeitlichen Überschneidung<br />

der Rahmenprogramme führte die Gemeinschaft das<br />

Prinzip der gleitenden Programmplanung ein, um<br />

der Dynamik der technologischen Entwicklung<br />

Rechnung zu tragen.<br />

Das derzeit laufende 6. RP (2002 – 2006) ist Mitte<br />

2002 verabschiedet worden (Beschluss 1513/2002,<br />

ABl. L 232/2002). Das Gesamtbudget für das 6. RP<br />

beläuft sich auf 17,5 Mrd. Euro, was eine Steigerung<br />

umrund17%imVergleichzum5.RPbedeutet(nach<br />

der EU-Erweiterung 2004 Finanzvolumen auf 19,2<br />

Mrd. Euro erhöht).<br />

Folgende Grundprinzipien kennzeichnen das neue<br />

Rahmenprogramm:<br />

– Einführung neuer Instrumente (Exzellenznetze<br />

und Integrierte Projekte), um eine stärker strukturierende<br />

Wirkung auf Forschung und Entwicklung in<br />

<strong>Europa</strong> zu erreichen,<br />

– Konzentration auf eine begrenzte Zahl vorrangiger<br />

Forschungsbereiche mit ausgeprägtem europäischem<br />

Mehrwert,<br />

– Leistung eines bedeutenden Beitrags zur Entwicklung<br />

wissenschaftlicher und technischer Exzellenz<br />

und zur Koordinierung der Forschung in <strong>Europa</strong>,<br />

– Vereinfachung und Straffung der Durchführung<br />

durch neu festzulegende Förderformen und dezentralisierte<br />

Verwaltungsverfahren.<br />

Vordringliches Ziel des 6. RP ist die Implementierung<br />

des Europäischen Forschungsraums. Hier ist<br />

vor allem die Bündelung der europäischen Forschungsanstrengungen<br />

und -kapazitäten vor dem<br />

Hintergrund diverser Fragestellungen wie der Stärkung<br />

der Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft, der<br />

Bewältigung staatenübergreifender Krisen und Pro-


leme (bspw. BSE-Krise) und die Verwirklichung<br />

der nachhaltigen Entwicklung als wichtiges politisches<br />

Ziel der EU zu nennen.<br />

Der Schwerpunkt des 6. RP liegt auf hochwertigen<br />

Forschungsmaßnahmen, in deren Rahmen Wissenschaft<br />

und Forschung in <strong>Europa</strong> fokussiert und integriert<br />

werden; hierbei erfolgt eine Unterteilung in<br />

sieben Themenschwerpunkte:<br />

– Biowissenschaften, Genomik und Biotechnologie<br />

im Dienste der Gesundheit (2,25 Mrd. Euro)<br />

– Technologien für die Informationsgesellschaft<br />

(3,625 Mrd. Euro),<br />

– Nanotechnologien und -wissenschaften, intelligente<br />

Werkstoffe, neue Produktionsverfahren (1,30<br />

Mrd. Euro),<br />

– Luft- und Raumfahrt (1,07 Mrd. Euro),<br />

– Nahrungsmittelqualität und -sicherheit (685 Mio.<br />

Euro),<br />

– Nachhaltige Entwicklung, globale (Klima-)Veränderungen<br />

und Ökosysteme (einschl. der Forschung<br />

im Bereich Energie und Verkehr) (2,12 Mrd.<br />

Euro),<br />

– Bürger und Staat in der Wissensgesellschaft (225<br />

Mio. Euro).<br />

Darüber hinaus ist ein erheblicher Betrag (2,6 Mrd.<br />

Euro aus dem Gesamtetat des 6. RP in Höhe von 17,5<br />

Mrd. Euro) für Maßnahmen zur Strukturierung des<br />

EFR reserviert. Dazu gehören u. a. Programme für<br />

ForschungundInnovationen,Humanressourcenund<br />

Mobilität, Forschungsinfrastruktur, sowie Wissenschaft<br />

und Gesellschaft. Ein Betrag von 320 Mio.<br />

Euro ist für die Stärkung der Grundlagen des Europäischen<br />

Forschungsraums vorgesehen; Ziel dieser<br />

Maßnahme ist eine bessere Abstimmung und kohärente<br />

Entwicklung von FTE-Richtlinien.<br />

4. Durchführung und Träger der FTE-Politik. Die<br />

Durchführung des FTE-Rahmenprogramms erfolgt<br />

mittels spezifischer Programme, die innerhalb einer<br />

jeden Aktion entwickelt werden. Im Hinblick auf<br />

Träger und Finanzierungsquellen ist zwischen folgenden<br />

Formen von FTE-Aktionen zu unterscheiden:<br />

– direkte Aktionen, die von der �Gemeinsamen Forschungsstelle<br />

(GFS) – Anlagen in Ispra (Italien),<br />

Geel (Belgien), Petten (Niederlande), Karlsruhe<br />

(Deutschland) und Sevilla (Spanien) – durchgeführt<br />

und vollständig von der Gemeinschaft finanziert<br />

werden;<br />

– indirekte Aktionen, die von Forschergruppen, La-<br />

Forschungs- und Technologiepolitik<br />

boratorien und Universitäten der Mitgliedstaaten<br />

durchgeführt und teilweise von der Gemeinschaft finanziert<br />

werden;<br />

– konzertierte Aktionen, die ebenfalls von Forschergruppen,<br />

Laboratorien und Universitäten der Mitgliedstaaten<br />

durchgeführt werden, bei denen die Gemeinschaft<br />

jedoch nur die Koordinierung herstellt<br />

und ggf. finanziert.<br />

Die Hauptaktivitäten der gemeinschaftlichen FTE-<br />

PolitikerstreckensichaufdieindirektenAktionen.<br />

5. Perspektiven der Europäischen FTE-Politik. Mit<br />

der Implementierung des 6. RP, der Konzeption des<br />

Europäischen Forschungsraums und der Einleitung<br />

des „Lissabon Prozesses“ ist – wenn auch erst nach<br />

vielen Widerständen und mit recht knapper Finanzausstattung<br />

– ein deutlicher Schritt zur strategischen<br />

Neuorientierung der Forschungspolitik der Gemeinschaft<br />

erfolgt. Während in den Anfangsjahren der<br />

Schwerpunkt der Gemeinschaftsforschung eindeutig<br />

im Energiesektor lag, zielt die neue Stoßrichtung<br />

mehr auf die industrielle Wettbewerbsfähigkeit, um<br />

vor allem gegenüber den USA und Japan besser bestehen<br />

zu können und durch Förderung der Innovation<br />

zur Entlastung auf dem Arbeitsmarkt beizutragen.<br />

Es ist aber, wie insbes. vom Europäischen Parlament<br />

in jüngster Zeit immer wieder unterstrichen<br />

worden ist, unbedingt erforderlich, auf Gemeinschaftsebene<br />

verstärkte Anstrengungen auf dem<br />

FTE-Gebietzuunternehmen;nursokönnendietechnologische<br />

Selbstbehauptung <strong>Europa</strong>s gesichert und<br />

die Voraussetzungen für <strong>Europa</strong>s politische und<br />

wirtschaftliche Unabhängigkeit und seine soziale<br />

und kulturelle Identität geschaffen werden.<br />

Mit dem Maastrichter Vertrag wird eine enge Verzahnung<br />

mit der Industriepolitik (Titel XVI, Art. 157<br />

EGV) angestrebt. Diese Verknüpfung zwischen Industrie-<br />

und FTE-Politik wird insbes. mit dem 6.<br />

Rahmenprogramm angestrebt. Damit wird der Übergang<br />

von einem Bündel von gemeinschaftlichen<br />

FTE- und Demonstrationsmaßnahmen hin zu einer<br />

echten Gemeinschaftspolitik in diesem Bereich eingeleitet.<br />

Das 6. RP soll u. a.:<br />

– das Hauptaugenmerk den grundlegenden Technologien<br />

und inhaltlichen Problemkomplexen widmen<br />

und so der europäischen Industrie und ihren Zulieferern<br />

eine neue Offensive im weltweiten Wettbewerb<br />

ermöglichen;<br />

– für eine wirksame Zusammenarbeit im Hinblick<br />

aufeinebessereIntegrationdereinzelstaatlichenund<br />

341


Forschungs- und Technologiepolitik<br />

der gemeinschaftlichen FTE-Maßnahmen sorgen<br />

und die Synergie zwischen den Strukturfonds<br />

(�Fonds der EU) und den Forschungsmaßnahmen<br />

fördern, welche zum Zusammenhalt der Gemeinschaft<br />

(�Kohäsion) beiträgt;<br />

– die Entwicklung von Synergien zwischen Forschung<br />

und Ausbildung ermöglichen.<br />

Zentrales Anliegen des 6. RP ist – wie bereits dargestellt<br />

– die Entwicklung eines Europäischen Forschungsraums.MitdiesemKonzeptsollenKohärenz<br />

und Einfluss der Europäischen Forschung erhöht<br />

werden. <strong>Europa</strong> steht vor konkreten Herausforderungen,<br />

die mit Hilfe dieses Konzepts gemeistert<br />

werden sollen. Dazu gehören die bessere Nutzung<br />

wissenschaftlicher Ressourcen und Einrichtungen<br />

auf europäischer Ebene, mehr privatwirtschaftliche<br />

Investitionen in FTE, eine höhere Mobilität der Arbeitnehmer<br />

im Allgemeinen und der forschenden<br />

Wissenschaftlicher im Besonderen, sowie die Schaffung<br />

günstiger Voraussetzungen für einen Forschungsraum<br />

mit „gemeinsamen Wertvorstellungen“.<br />

Im Kern wird mit dem EFR das Ziel verfolgt,<br />

die verstreuten Ressourcen so zu bündeln, dass wichtige<br />

und lohnenswerte Vorhaben in Angriff genommen<br />

werden können. Durch einen besseren Informationsaustausch<br />

und eine bessere Abstimmung sollen<br />

der bürokratische Aufwand verringert und damit die<br />

Effizienz gesteigert und das Vertrauen erhöht werden.<br />

Eine wichtige Zielsetzung der Neuausrichtung der<br />

europäischen FTE-Politik ist eine deutliche Steigerung<br />

der für diesen Bereich zur Verfügung stehenden<br />

Finanzmittel.AberebensowiedieErfolgsaussichten<br />

des „Lissabon Prozesses“ im Hinblick auf die „Halbzeitbilanz“<br />

als skeptisch beurteilt werden müssen,<br />

erscheint es auch sehr fraglich, ob angesichts der angespannten<br />

Haushaltslage in den meisten Mitgliedsländern<br />

zumindest eine Annäherung an das „Dreiprozentziel“<br />

erzielt werden kann.<br />

Das 7. Europäische Forschungsrahmenprogramm<br />

(Start 2006):<br />

Am 16. 6. 2004 beschloss die Kommission eine Mitteilung<br />

(KOM 2004/353) mit dem Titel „Wissenschaft<br />

und Technologie: der Schlüssel zur Zukunft<br />

<strong>Europa</strong>s“; Zielsetzung ist die führende Rolle <strong>Europa</strong>s<br />

in Forschung und technologischer Entwicklung<br />

zu festigen. In dieser auf einem Finanzierungsvorschlag<br />

der EU vom Februar 2004 beruhenden Mitteilung<br />

wird empfohlen, den europäischen Forschungs-<br />

342<br />

etat für den Zeitraum 2007 bis 2013, der das 7. Rahmenprogramm<br />

umfasst, auf rund 10 Mrd. Euro jährlich<br />

zu verdoppeln. Mit dieser Erhöhung will man<br />

hauptsächlich erreichen, dass der mit EU-weiten<br />

MaßnahmenverbundeneMehrwertvollundganzgenutztwerdenkann,indemmandienotwendigenVoraussetzungen<br />

bei Sachmitteln und Personal schafft<br />

und sich in hohem Maße private Forschungsinvestitionen<br />

zunutze macht.<br />

In dieser Mitteilung hat die Kommission sechs große<br />

Ziele definiert:<br />

a) Schaffung von europäischen Exzellenzpolen,<br />

b) Start europäischer Technologieinitiativen,<br />

c) Erzeugung größerer Kreativität in der Grundlagenforschung<br />

durch Wettbewerb zwischen Teams<br />

auf europäischer Ebene,<br />

d) <strong>Europa</strong> für die besten Wissenschaftler attraktiver<br />

machen,<br />

e) Ausbau der Forschungsinfrastrukturen von europäischem<br />

Interesse,<br />

f) Stärkere Koordinierung einzelstaatlicher Forschungsprogramme.<br />

Zu den thematischen Prioritäten des 7. RP werden<br />

also auch die neuen Bereiche Raumforschung und<br />

Sicherheits- und Verteidigungsforschung gehören.<br />

Als Schwerpunktbereiche des 7. RP (vgl. Locatelli-<br />

Bericht des Europäischen Parlaments, EP-Dok.<br />

A6-0046/2005) werden zumeist genannt: Biowissenschaften<br />

einschl. Biotechnologie, Neurowissenschaften<br />

und präventive und öffentliche Gesundheitsfürsorge);<br />

alle bestehenden und künftigen<br />

CO2-freien Energieträger (einschl. Atomenergie);<br />

Informations- und Kommunikationstechnologien;<br />

Nanotechnologie, neue Werkstoffe und Produktionsverfahren;<br />

Chemie.<br />

Gefordert wird – insbes. seitens des Europäischen<br />

Parlaments – eine ausreichende Finanzausstattung<br />

(zumindest Verdoppelung der FTE-Mittel!) und<br />

Verknüpfung mit der finanziellen Vorausschau<br />

(2007–2013) der Gemeinschaft.<br />

DieweiterePlanungsiehtvor,dasseinersteroffizieller<br />

Vorschlag der Europäischen Kommission zum<br />

nächstenForschungsrahmenprogrammimLaufedes<br />

Jahres 2005 vorgelegt wird. Das 7. RP soll in der<br />

zweitenJahreshälfte2006offiziellstarten.<br />

P. P./J. Sch.<br />

Dokumente:<br />

Europ. Parlament, Bericht über Wissenschaft und Technologie<br />

– Leitlinien für die Forschungsförderung der EU. Berichterstatterin:<br />

Pia Elda Locatelli; EP-Dok. A6-0046/2005


Internet:<br />

Auf folgenden Internetseiten sind umfassende Informationen<br />

über die FTE-Politik der EU zu finden, darunter alle Referenzdokumente,<br />

der Wortlaut der Aufforderungen zur Einreichung<br />

von Vorschlägen sowie zahlreiche weitere Informationen.<br />

CORDIS (Informationen über das FTE-Rahmenprogramm):<br />

www.cordis.lu/<br />

GD Forschung: http://europa.eu.int/comm/research/<br />

GD Informationsgesellschaft: http://europa.eu.int/information_society/index_en.htm<br />

GD Unternehmen: http://europa.eu.int/comm/dgs/enterprise/<br />

GD Energie und Verkehr der Kommission: http://europa.eu.int/comm/dgs/energy_transport/index.html<br />

Gemeinsamen Forschungsstelle (GFS): www.jrc.cec.eu.int<br />

Eurostat: http://europa.eu.int/comm/eurostat/<br />

http://europa.eu.int/comm/research/index_de.html<br />

www.rp6.de<br />

http//:europa.eu.int/comm/research/era/3pct/index_en.html<br />

http://eu-iriscoreboard.jrc.es/index/htm<br />

http://europa.eu.int/comm/research/fp6/mariecurie-actions/indexhtm_en.html<br />

http://europa.eu.int/comm/space/gmes/index_en.htm<br />

http://europa.eu.int/comm/research/security/index_en.html<br />

http://europa.eu.int/comm/research/fp6/index_en.html<br />

Fouchet, Christian (1911–1974), französischer Politiker<br />

und Diplomat, 1947 Mitbegründer der gaullistischenSammlungsbewegungRPF.Erleiteteeineim<br />

Februar 1961 vom Europäischen Rat eingesetzte<br />

Kommission, die zwei Entwürfe zur Gründung einer<br />

Politischen Union erarbeitete (�Fouchet-Pläne).<br />

Fouchet-Pläne. Unter dem Vorsitz des französischen<br />

Diplomaten Christian Fouchet (seinerzeit<br />

französischer Botschafter in Dänemark) entwarf<br />

eineKommissionPlänefüreineeuropäischeIntegration<br />

(�Politische Union), über die keine Einigung erzielt<br />

werden konnte: Erster Fouchet-Plan November<br />

1961, zweiter Fouchet-Plan Januar 1962).<br />

Der Fouchet-Plan I sah regelmäßige institutionelle<br />

Zusammenarbeit der EWG-Staaten auf politischem<br />

Gebiet vor. Ziel: eine unauflösliche konföderale<br />

Union der europäischen Staaten mit gemeinsamer<br />

Außen- und Sicherheitspolitik sowie kultureller Zusammenarbeit.<br />

Der Fouchet-Plan II reduzierte die Integration auf<br />

�intergouvernementale Zusammenarbeit. Diese<br />

(von der französischen Regierung bevorzugte) Form<br />

geringerIntegrationlehntendieübrigenLänderab.<br />

Grundgedanken der Fouchet-Pläne gingen ein in die<br />

�Europäische Politische Zusammenarbeit (EPZ),<br />

die�GASPundinden�EuropäischenRat. W. M.<br />

Francovich-I-Urteil<br />

Fraktionen im EP. Nach der Geschäftsordnung des<br />

EP (GO-EP) können mindestens 19 Mitglieder eine<br />

Fraktion bilden, sie müssen aus mindestens einem<br />

Fünftel der EU-Staaten kommen. Die Bildung einer<br />

Fraktion muss dem Präsidenten des EP in einer Erklärung<br />

gemeldet werden, die im Amtsblatt der EU<br />

veröffentlicht wird. Eine Bewertung der politischen<br />

Zugehörigkeit eines Abgeordneten zu einer Fraktion<br />

durch das Präsidium des Parlaments findet nicht<br />

statt.<br />

Fraktionen wird im Stellenplan des Generalsekretariats<br />

des EP ein Sekretariat zur Verfügung gestellt,<br />

sie erhalten Mittel aus dem Haushaltsplan des Parlaments.DieSitzordnungderFraktionenimPlenarsaal<br />

wird von der Konferenz der Präsidenten des EP festgelegt.<br />

Fraktionen haben, wie Ausschüsse oder fraktionsübergreifendeGruppenvonmindestens37Abgeordneten,<br />

bestimmte, in der GO-EP festgelegte Rechte<br />

in Bezug auf den Arbeitsplan des Parlaments (z. B.<br />

die Tagesordnung), auf den Ablauf der Sitzungen<br />

(z. B. die Zuteilung an Redezeit), die Zugehörigkeit<br />

zu Ausschüssen.<br />

Die Zusammensetzung der Delegation des EP im<br />

Vermittlungsausschuss wird von der Konferenz der<br />

Präsidenten festgelegt, muss aber der Zusammensetzung<br />

des Plenums nach Fraktionen entsprechen.<br />

Abgeordnete, die sich keiner Fraktion anschließen<br />

möchten, werden als fraktionslos registriert. Sie bilden<br />

also keine weitere Fraktion und verfügen nicht<br />

über die Rechte einer Fraktion, erhalten aber vom EP<br />

ein Sekretariat. Die Bildung einer „Technischen<br />

Fraktion“ ohne politisches Konzept ist grundsätzlich<br />

nicht zulässig (vgl. EuGH, Urt. v. 29. 6. 2004, Rs.<br />

C-486/01 P – TOI –).<br />

Fraktionen des EP von der 1. bis zur 6. Wahlperiode:<br />

�Europäisches Parlament<br />

Francovich-I-Urteil. Mit diesem Grundsatzurteil<br />

vom 19. 11. 1991 (Rs. C–6 u. 9/90; Slg. 1991, I–<br />

5357) begründete der EuGH eine zwischenzeitlich<br />

umfassend ausgebaute Staatshaftung der Mitgliedstaaten,<br />

die dem Bürger Schadensersatz für aus der<br />

Verletzung von Gemeinschaftsrecht resultierenden<br />

Schäden zubilligt. Dem Urteil lag folgende Konstellation<br />

zu Grunde: Mit der Richtlinie 80/987 wurden<br />

die Mitgliedstaaten verpflichtet, bis 23. 10. 1983 Garantiefonds<br />

nach nationalem Recht einzurichten, aus<br />

denen im Fall eines Unternehmenskonkurses rück-<br />

343


Frauenlobby<br />

ständige Arbeitslöhne und Sozialabgaben gezahlt<br />

werden sollten. Italien kam dieser Verpflichtung<br />

nicht fristgerecht nach und wurde insoweit auch vom<br />

EuGH wegen Vertragsverletzung verurteilt. Zwischenzeitlich<br />

waren jedoch bereits einige Unternehmen<br />

in Konkurs gegangen und konnten mangels<br />

Masse rückständige Lohnforderungen nicht mehr<br />

befriedigen. Betroffene Arbeitnehmer (u. a. Herr<br />

Francovich) klagten daraufhin gegen den italienischen<br />

Staat auf Lohnfortzahlung, hilfsweise Schadensersatz.<br />

Im Wege der Vorabentscheidung entschied<br />

der EuGH, dass Italien Schadensersatz leisten<br />

muss. Die eigenständige außervertragliche Staatshaftung<br />

der Mitgliedstaaten kraft Gemeinschaftsrechtwargeboren.<br />

J. M. B.<br />

Frauenlobby �Europäische Frauenlobby<br />

Frauenunion �Europäische Frauenunion (EFU)<br />

Freier Dienstleistungsverkehr �Dienstleistungsfreiheit<br />

Freier Kapitalverkehr<br />

1. Allgemeines. Die Kapitalverkehrsfreiheit ist eine<br />

vollwertige Grundfreiheit zur Verwirklichung des<br />

Binnenmarkts, seitdem der EGV im Zuge des Maastrichter<br />

Vertrags für sie ein allgemeines Beschränkungsverbot<br />

statuiert hat. Vor diesem Zeitpunkt ermächtigte<br />

der EGV lediglich zu Rechtsangleichung<br />

auf Sekundärebene, ohne eine umfassende Liberalisierung<br />

des Kapitalverkehrs anzuordnen. Nunmehr<br />

ist die Freiheit des Kapitalverkehrs unmittelbar geltendes<br />

Gemeinschaftsrecht; dagegen verstoßende<br />

nationale Vorschriften sind unanwendbar.<br />

Die Vorschrift des Art. 56 EGV gewährt neben der<br />

Kapitalverkehrsfreiheit (Abs. 1) – für einseitige FinanzgeschäftezuAnlagezwecken–auchdieFreiheit<br />

des �Zahlungsverkehrs (Abs. 2) – für die Gegenleistung<br />

bei zweiseitigen Austauschgeschäften. Die Art.<br />

57 – 60 EGV regeln zulässige Einschränkungen des<br />

freien Kapital- und Zahlungsverkehrs. Für die Beitrittsländer<br />

gelten teilweise einige Sonderregelungen<br />

im Bezug auf den Erwerb von Immobilien.<br />

2. Anwendungsbereich<br />

2.1 Räumlich. Der freie Kapitalverkehr gilt für<br />

Transaktionen zwischen Mitgliedstaaten, aber auch<br />

für Kapitalbewegungen zwischen Mitgliedstaaten<br />

und Drittstaaten.<br />

344<br />

2.2 Persönlich. Berechtigte der Kapitalverkehrsfreiheit<br />

sind sowohl der Investor als auch der Kapitalempfänger,<br />

die am freien Verkehr des Kapitals interessiertsind–unabhängigvonderenNationalitätoder<br />

Gebietsansässigkeit. Verpflichtete der Kapitalverkehrsfreiheit<br />

sind die Mitgliedstaaten und die Gemeinschaft,<br />

nicht dagegen Private.<br />

2.3 Gegenständlich<br />

2.3.1 Von der Freiheit des Kapitalverkehrs werden<br />

grenzüberschreitende einseitige Wertübertragungen<br />

erfasst, welche primär die Anlage des betreffenden<br />

Sach-oderGeldkapitalsbezwecken.WelcheFinanzgeschäfte<br />

hierzu zählen, regelt der EGV nicht. Zur<br />

Konkretisierung des Gewährleistungsinhalts wird<br />

daher immer noch die Richtlinie 88/361 (ABl. L<br />

178/1998) herangezogen, die in ihrem Anhang I einen<br />

nicht abschließenden Katalog von Transaktionen<br />

auf dem Gebiet des Kapitalverkehrs enthält: Direkt-<br />

und Immobilieninvestitionen; Geschäfte mit<br />

Wertpapieren, Investmentanteilen, Geldmarktpapieren<br />

und Futures; Kontokorrent- und Termingeschäfte<br />

mit Finanzinstitutionen; Handelskredite;<br />

Darlehen und Finanzkredite; Bürgschaften, andere<br />

Garantien und Pfandrechte; Versicherungsleistungen;<br />

persönlicher Kapitalverkehr; Ein- und Ausfuhr<br />

von Vermögenswerten.<br />

Zum Zahlungsverkehr gehört die grenzüberschreitende<br />

Übertragung von Zahlungsmitteln als Gegenleistung<br />

für Waren, Dienstleistungen oder nichtselbständige<br />

Arbeit. Im Wesentlichen unterliegt diese<br />

sog. fünfte Freiheit als Annex zur Hauptleistung der<br />

jeweiligen Grundfreiheit, kann aber nach Art. 56<br />

EGV eine weitergehende Liberalisierung erfahren.<br />

2.3.2 Im Anwendungsbereich der Kapitalverkehrsfreiheit<br />

sind Überschneidungen mit den anderen<br />

Grundfreiheiten vorgezeichnet, so dass gewisse Abgrenzungen<br />

vorzunehmen sind. Dies ist trotz der<br />

weitgehenden Konvergenz der Grundfreiheiten erforderlich,<br />

weil der Anwendungsbereich des Kapitalverkehrs<br />

auch Drittstaatbeziehungen einschließt<br />

unddieAusnahmeregelnleichtabweichendgestaltet<br />

sind.<br />

Geldstücke und -scheine, die nicht mehr als gesetzliches<br />

Zahlungsmittel eingesetzt werden, sind dem<br />

Warenverkehr zuzuschlagen. Der jeweiligen Personen-�Freizügigkeit<br />

unterfällt der Erwerb von Wohnungseigentum<br />

durch Wanderarbeitnehmer oder<br />

Niedergelassene.<br />

Die wichtigsten Überschneidungen ergeben sich mit


der �Niederlassungsfreiheit. Denn eine Direktinvestition<br />

im Ausland ist mit der Beteiligung an einem<br />

Unternehmen durch Erwerb von Aktien oder sonstigen<br />

Gesellschaftsanteilen verbunden. Sofern diese<br />

Beteiligung unternehmerischen Einfluss vermittelt,<br />

ist neben der Kapitalverkehrsfreiheit auch die Niederlassungsfreiheit<br />

einschlägig. In diesem Fall ergibt<br />

sich aus den Querverweisen der Art. 43 Abs. 2<br />

und Art. 58 Abs. 2 EGV, dass eine eventuelle Beschränkung<br />

des freien Verkehrs schon durch den<br />

Rechtfertigungstatbestand einer der zwei Grundfreiheiten<br />

europarechtskonform ist. Handelt es sich dagegenumeinepassivePortfolioinvestition,diekeine<br />

unternehmerische Einflussnahme ermöglicht (z. B.<br />

beim Erwerb von Vorzugsaktien einer AG), ist allein<br />

die Kapitalverkehrsfreiheit maßgeblich.<br />

Im Bereich der Finanzdienstleistungen sind Überschneidungen<br />

mit der �Dienstleistungsfreiheit gegeben;<br />

beide Freiheiten sind in einem solchen Fall parallel<br />

anwendbar.<br />

3. Inhalt und Beschränkungen der Kapitalverkehrsfreiheit.<br />

3.1 Allgemeines Beschränkungsverbot. Alle staatlichen<br />

Beschränkungen des freien Kapitalflusses zwischen<br />

den Mitgliedstaaten und zwischen Mitgliedstaaten<br />

und Drittstaaten sind grundsätzlich verboten.<br />

Dies sind Maßnahmen, welche die Ausübung dieser<br />

Freiheit unterbinden, behindern oder weniger attraktiv<br />

machen. Beispielsweise seien als beschränkende<br />

Maßnahmen aufgezählt: devisenrechtliche Beschränkungen,<br />

besondere Gebühren für grenzüberschreitende<br />

Transaktionen, Verbot der Veräußerung<br />

bestimmter Wertpapiere an Gebietsfremde, Bardepotpflicht,EintragungeinerHypotheknurininländischer<br />

Währung, Ausschluss einer SteuervergünstigungfürAktienübertragungenaufGesellschafteneines<br />

anderen Mitgliedstaates, Genehmigungserfordernis<br />

für Erwerb eines bebauten Grundstücks nur<br />

für Ausländer, Begrenzung der Gesellschaftsanteile<br />

für Ausländer oder Genehmigungserfordernisse für<br />

den Erwerb durch Ausländer, Erwerbsverbot für<br />

Stimmrechtsaktien in einer AG.<br />

3.2 Ausnahmen. Von dem Beschränkungsverbot<br />

sind nach Maßgabe der 57 – 60 EGV Ausnahmen<br />

möglich.Artikel58Abs.1lita)EGVerlaubtnationale<br />

Steuervorschriften, die zwischen Steuerinländern<br />

und -ausländern differenzieren. Diese Diskriminierung<br />

versteht sich vor dem Hintergrund der fehlenden<br />

gemeinschaftsrechtlichen Harmonisierung im<br />

Freier Kapitalverkehr<br />

Bereich der direkten Steuern. Sie ist aber nur für solche<br />

Vorschriften erlaubt, die schon Ende 1993 bestanden.<br />

Artikel 58 Abs. 1 lit b) gestattet des Weiteren<br />

– unerlässliche Maßnahmen gegen Rechtsbrüche<br />

vor allem auf dem Gebiet des Steuerrechts und der<br />

Bankenaufsicht. Die nicht abschließende Aufzählung<br />

eröffnet die Möglichkeit weiterer Ausnahmen<br />

vom Beschränkungsverbot aus ähnlich zwingenden<br />

Gründen des Allgemeinwohls nicht wirtschaftlicher<br />

Art, insbes. zur Bekämpfung von Geldwäsche, Drogenhandel<br />

und Terrorismus (EuGH Slg. 1995, I-361<br />

Bordessa);<br />

– Meldeverfahren für den Kapitalverkehr zwecks<br />

administrativer oder statistischer Information;<br />

– Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung<br />

oder Sicherheit. Letztere sind eng auszulegen<br />

als tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdungen,<br />

die ein nicht-wirtschaftliches Interesse der<br />

Gesellschaft berühren (EuGH Slg. 2000, I-1353).<br />

Voraussetzung ist schließlich, dass keine willkürliche<br />

Diskriminierung oder verschleierte Beschränkung<br />

des freien Kapitalverkehrs vorliegt (Abs. 3).<br />

Der Kapitalverkehr im Verhältnis zu Drittstaaten unterliegt<br />

weitergehenden Einschränkungen: Gemäß<br />

Art. 57 EGV können die zum 31. 12. 93 bestehenden<br />

mitgliedstaatlichen oder gemeinschaftsrechtlichen<br />

Beschränkungen aufrechterhalten und sogar neue<br />

Beschränkungen durch die Gemeinschaft eingeführt<br />

werden. Art. 59 EGV erlaubt ausnahmsweise kurzfristige<br />

Maßnahmen seitens der Gemeinschaft im<br />

Verhältnis zu Drittstaaten zum Schutz der Währungsunion.<br />

Art. 60 EGV regelt die Einschränkungsmöglichkeiten<br />

im Rahmen von �GASP-Aktionen<br />

nach Art. 301 EGV.<br />

4. Ausblick. Der Kapitalverkehr ist weitgehend liberalisiert.<br />

Einen großen Schritt bedeutete die Einführung<br />

des Euro, in Folge derer die devisenrechtlichen<br />

Schranken weitgehend entfielen, aber auch die zunehmende<br />

Verbreitung des elektronischen Zahlungsverkehrs.<br />

Zudem sind weite Bereiche mit Hilfe<br />

von Sekundärrecht harmonisiert, insbes. der Banken-,<br />

Wertpapierfirmen- und Börsenbereich, der<br />

Schutz der Kapitalmarktteilnehmer, die Versicherungen<br />

und zum Teil ist sogar eine Koordinierung im<br />

BereichSteuernzuverzeichnen. J. I.<br />

Literatur:<br />

Sedlaczek, M.: Art. 56–60 EGV. In: Streinz, R. (Hg.),<br />

EUV/EGV. München 2003<br />

Geiger, R.: EUV/EGV, Art. 56–60 EGV. München 2004<br />

345


Freier Personenverkehr<br />

Freier Personenverkehr<br />

1. Begriffsbestimmung und Entwicklung. Die Freiheit<br />

des Personenverkehrs, ursprünglich im EWG-<br />

Vertrag auf Arbeitnehmer und Selbständige beschränkt,istnunindenArt.39–42EGV(�Freizügigkeit<br />

in der EU) und 43–48 EGV (�Niederlassungsfreiheit)<br />

geregelt. Sie gehört zu den �vier Freiheiten<br />

des EG-Vertrags. Inhalt dieser Freiheit ist das Recht<br />

auf Einreise und Aufenthalt, auf Zugang zum Arbeitsmarkt<br />

und auf Gleichbehandlung bezüglich<br />

Einstellung, Entgelt und Arbeitsbedingungen und<br />

sozialerLeistungen.DasRechtaufEinreiseistnuran<br />

Identitätskarte oder Personalausweis gebunden.<br />

Eine Visa-Pflicht besteht nicht. Ein Arbeitnehmer<br />

hat Rechtsanspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis<br />

in einem anderen Staat der EU, und er<br />

braucht keine Arbeitserlaubnis. Diese Vorschriften<br />

sind seit dem Ende der Übergangszeit, also seit Ende<br />

1969, direkt anwendbar. Darüber hinaus gibt es ein<br />

Bleiberecht nach Beendigung der Beschäftigung.<br />

Eingeschränkt werden darf das Freizügigkeits- und<br />

Niederlassungsrecht nur aus Gründen der öffentlichen<br />

Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit. Eine<br />

weitere Einschränkung gilt hinsichtlich des Zugangs<br />

zu hoheitlichen Aufgaben, z. B. im Bereich der inneren<br />

Sicherheit, Justiz.<br />

In den Art. 17 – 22 EGV ist das Freizügigkeitsrecht<br />

durch die Einführung einer �Unionsbürgerschaft auf<br />

alle Bürger der Europäischen Union erweitert worden.<br />

Sie ergänzt die nationalen Staatsbürgerschaften,<br />

ersetzt sie aber nicht. Sie gibt u. a. jedem Unionsbürger<br />

das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten<br />

frei zu bewegen und aufzuhalten, eingeschränkt<br />

nur durch europarechtliche, nicht aber nationalstaatliche<br />

Vorschriften (Art. 18 EGV). Hinzu<br />

kommen das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunal-<br />

und <strong>Europa</strong>wahlen (Art. 19 EGV), diplomatischer<br />

und konsularischer Schutz jeden EU-Mitgliedstaats<br />

(Art. 20 EGV) und das �Petitionsrecht<br />

sowie das Recht, sich an den �Bürgerbeauftragten<br />

oder an jede Einrichtung der EU zu wenden (Art. 21<br />

EGV). Diese Rechte zeigen deutlich auch die politische<br />

Ausrichtung der Unionsbürgerschaft.<br />

2. Soziale Sicherheit. Die soziale Sicherheit der<br />

Wanderarbeitnehmer ist in Art. 42 EGV grundsätzlich<br />

in der Weise geregelt, dass den Wanderarbeitnehmern<br />

und ihren Angehörigen einerseits für Erwerb<br />

und Aufrechterhaltung der Leistungsansprüche<br />

die zu berücksichtigenden Leistungszeiten aus<br />

346<br />

allen Ländern der EU, in denen der Wanderarbeitnehmer<br />

tätig war, zusammengerechnet und andererseits<br />

die Leistungen in jeden Staat der EU gezahlt<br />

werden. Wanderarbeitnehmer dürfen gegenüber eigenen<br />

Staatsangehörigen nicht diskriminiert werden<br />

(�Diskriminierungsverbot).DoppelbelastungensollenebensovermiedenwerdenwieDoppelversorgungen.<br />

Die notwendigen Rechtsvorschriften beschließen<br />

Rat und Parlament im Mitentscheidungsverfahren<br />

gem. Art. 251 EGV.<br />

Aufmerksamkeit findet vor allem die Rechtsprechung<br />

des EuGH zu sozialen Vergünstigungen wie<br />

Ausbildungsbeihilfen und Kindergeld, die der Staat<br />

den Familienangehörigen zu gewähren hat. Hier<br />

wendet er den Grundsatz der Gleichbehandlung konsequent<br />

an.<br />

EinProblem,dasdieFreizügigkeitderArbeitnehmer<br />

und Selbständigen hemmte, war bis zum Anfang der<br />

1990er Jahre die fehlende gegenseitige Anerkennung<br />

von Studien- und Berufsausbildungsabschlüssen<br />

in der EG. In zäher Kleinarbeit gelang es der EG<br />

in den ersten Jahrzehnten, eine Handvoll Harmonisierungsrichtlinien<br />

vor allem im medizinischen Bereich<br />

und bei Architekten zu schaffen. Im Dezember<br />

1988 entstand eine Richtlinie (89/48, ABl. L 19/<br />

1989), die eine allgemeine gegenseitige Anerkennung<br />

von Abschlüssen vorsah, denen eine mindestens<br />

dreijährige Hochschulausbildung zugrunde<br />

lag. Diese Regelung wurde 1989 auch auf kürzere<br />

Studien und berufliche Fortbildung erweitert und<br />

1992 in Kraft gesetzt. Die Freiheit des Personenverkehrs<br />

ist in jüngster Zeit ausgedehnt worden auf Bürger<br />

der EU, die nicht von den Art. 48 ff. und 52 ff.<br />

EWGVerfasstwerden,also„Nicht-Erwerbstätige“.<br />

So wurden Richtlinien erlassen, die ein allgemeines<br />

Aufenthaltsrecht für Studenten, Rentner und andere<br />

schaffen unter der Voraussetzung, dass diese Personen<br />

der öffentlichen Hand nicht zur Last fallen.<br />

Zur Personenverkehrsfreiheit im weiteren Sinn gehört<br />

auch die Abschaffung der Personenkontrollen<br />

an den Grenzen (�Schengener Abkommen).<br />

EinProblemstellendie„Drittstaater“,Ausländeraus<br />

Nicht-EU-Staaten einschl. der Asylbewerber, dar.<br />

Das Europäische Parlament (EP) hat im Januar 1994<br />

u. a. gefordert, dass Ausländer mit Aufenthaltsrecht<br />

in einem Mitgliedstaat weitgehende Freizügigkeit in<br />

dergesamtenEUerhaltensollen.DieskönntederBeginn<br />

einer Gleichbehandlungspolitik sein.


3. Gegenwärtiger Stand. Zwei Bereiche der Gesetzgebung<br />

wollen das Erreichte im Rahmen des freien<br />

Personenverkehrs weiter verstärken:<br />

Die Schaffung eines �<strong>Europa</strong>s der Bürger mit Verbraucherrechten,<br />

allgemeinem Aufenthaltsrecht,<br />

Rechtsschutz und Verstärkung der Anrufungsmöglichkeiten<br />

europäischer Stellen zeigt, dass die EU im<br />

Bereich der Freizügigkeit ihre Konzentration auf die<br />

wirtschaftlich Tätigen verlassen hat.<br />

Zudem hat durch die im �Maastrichter Vertrag eingeführte<br />

Unionsbürgerschaft (Art. 17 ff. EGV) die<br />

Freiheit des Personenverkehrs eine neue Dimension<br />

erreicht. Die Einführung des Wahlrechts zum Europäischen<br />

Parlament sowie des aktiven und passiven<br />

Kommunalwahlrechts für EU-Ausländer belegt<br />

deutlichdiepolitischeAusrichtungderneuenRechte<br />

imRahmenderFreizügigkeit. M. K.<br />

Freier Warenverkehr<br />

1. Allgemeines<br />

1.1DerfreieWarenverkehristnebendemfreienVerkehr<br />

von Personen, Dienstleistungen und Kapital<br />

eine der vier Grundfreiheiten zur Verwirklichung<br />

des Binnenmarktes als Wirtschaftsraum ohne innere<br />

Grenzen gem. Art. 14 Abs. 2 EGV.<br />

Die Warenverkehrsfreiheit vereinigt die nationalen<br />

Märkte der Mitgliedstaaten zu einem einzigen europäischenMarktohneSchranken,inwelchemweitgehend<br />

einheitliche Wettbewerbsbedingungen gelten.<br />

Alle Gemeinschaftswaren, die in ihrem Herkunftsland<br />

rechtmäßig hergestellt und in den Verkehr gebrachtwordensind,sollenauchfreienZugangzuden<br />

Märkten der anderen Mitgliedstaaten haben.<br />

1.2 Instrumente der Warenverkehrsfreiheit sind<br />

nach der Konzeption des EGV eine Zollunion und<br />

das Verbot von mengenmäßigen Ein- und Ausfuhrbeschränkungen<br />

zwischen den Mitgliedstaaten. In<br />

Ergänzung hierzu sind alle diskriminierenden nationalen<br />

Steuer- und Abgabenregelungen abzuschaffen,<br />

die nationalen Rechtsvorschriften zunehmend<br />

anzugleichen und eine gemeinsame Handelspolitik<br />

innerhalb des Binnenmarktes zu betreiben.<br />

2. Anwendungsbereich.<br />

2.1 Sachlicher Anwendungsbereich<br />

2.1.1 Waren sind nach Definition des EuGH körperliche<br />

Gegenstände, die einen Geldwert haben und<br />

deshalb Gegenstand von Handelsgeschäften sein<br />

können. Sie sind von Dienstleistungen abzugrenzen,<br />

was zuweilen insbes. im Software- und Medienbe-<br />

Freier Warenverkehr<br />

reich Schwierigkeiten bereiten kann. Indes ist mittlerweile<br />

geklärt, dass die körperlichen Daten- oder<br />

Tonträger als Waren behandelt werden, während die<br />

bloße körperlose Leistung – wenn sie etwa heruntergeladen<br />

wird – eine Dienstleistung darstellt. Ausgenommen<br />

vom Anwendungsbereich sind Waren aus<br />

dem Bereich der Kernenergie, für welche der �Euratom-Vertrag<br />

gilt, und Waffen, Munition, Kriegsmaterial<br />

und sonstige �Dual-Use-Güter, die in einer<br />

Warenliste des Rates gem. Art. 296 EGV aufgeführt<br />

sind (�Nichtverbreitungs- und Abrüstungspolitik).<br />

Für landwirtschaftliche Erzeugnisse gelten primär<br />

die Art. 32 ff. EGV, aber ergänzend auch die Vorschriften<br />

über die Warenverkehrsfreiheit.<br />

2.1.2 Der freie Verkehr wird gem. Art. 23 Abs. 2<br />

EGV für Gemeinschaftswaren, die aus den Mitgliedstaaten<br />

stammen, gewährleistet. Den Waren aus Mitgliedstaaten<br />

sind solche gleichgestellt, die aus assoziiertenDrittstaaten–etwaausdenimAnhangIIzum<br />

EGV aufgeführten oderaus Staaten des EWR – stammen.<br />

Erfasst sind schließlich diejenigen Waren aus<br />

dritten Ländern, die sich in den Mitgliedstaaten im<br />

freien Verkehr befinden, nachdem sie die Einfuhrformalitäten<br />

erfüllt und die vorgeschriebenen Zölle<br />

und Abgaben ohne Rückvergütung entrichtet haben<br />

(Art. 24 EGV).<br />

2.1.3 Die Warenverkehrsfreiheit gilt nur zwischen<br />

den Mitgliedstaaten, so dass stets ein grenzüberschreitender<br />

Bezug erforderlich ist. Wird lediglich<br />

derinländischeWarenverkehrbeeinträchtigt,giltdie<br />

gemeinschaftsrechtliche Freiheit nicht; eine eventuelle<br />

Schlechterstellung gegenüber eingeführten Waren<br />

ist allein an den nationalen Vorschriften zu messen<br />

und kann gegebenenfalls gegen Art. 3 GG verstoßen.<br />

2.2 Persönlicher Anwendungsbereich<br />

2.2.1 Berechtigte der Warenverkehrsfreiheit sind<br />

alle natürlichen und juristischen Personen, die an ihrer<br />

Durchsetzung ein Interesse haben, etwa weil sie<br />

Warenherstellen,vertreiben,kaufenoderverkaufen.<br />

Ihre Staatsangehörigkeit ist ohne Belang, weil diese<br />

Grundfreiheit nur an die Herkunft der Ware, nicht<br />

aberandiemitderWarebefasstenPersonanknüpft.<br />

2.2.2 Verpflichtete der Warenverkehrsfreiheit sind<br />

in erster Linie die Mitgliedstaaten. Zum einen müssen<br />

sie alle Maßnahmen unterlassen, welche den innergemeinschaftlichen<br />

Handel beschränken könnten.<br />

Dabei ist unerheblich, welcher Handlungsform<br />

sie sich bedienen. Daher sind nicht nur beschränken-<br />

347


Freier Warenverkehr<br />

de Gesetze oder sonstige Rechtsakte, sondern auch<br />

Realhandlungen wie etwa eine staatliche Werbekampagne<br />

zugunsten nationaler Produkte verboten.<br />

Zum anderen trifft die Mitgliedstaaten eine aktive<br />

Handlungspflicht zur Beseitigung bestehender Handelshemmnisse.<br />

Private sind dagegen nicht verpflichtet,<br />

die Warenverkehrsfreiheit zu achten, auch<br />

wenn der EuGH eine mittelbare Drittwirkung für die<br />

Personenverkehrsfreiheiten mittlerweile bejaht hat.<br />

AllerdingskanndasVerhaltenPrivaterdemStaatzuzurechnen<br />

sein – z. B. bei staatlicher Finanzierung<br />

oder Beaufsichtigung privater Projekte –, so dass der<br />

Staatdagegenvorgehenmuss.AuchohneeineHandlungszurechnung<br />

kann ein Mitgliedstaat aus Art. 10<br />

EGV gehalten sein, Beeinträchtigungen von privater<br />

Seite zu unterbinden, um die Warenverkehrsfreiheit<br />

zu schützen. Beispielsweise müssen Blockade- und<br />

Boykottaktionengestopptwerden,wenndieDemonstranten<br />

die Schranken der ihnen eingeräumten<br />

Grundrechte überschreiten.<br />

Der Warenverkehrsfreiheit ist darüber hinaus auch<br />

die Gemeinschaft selbst verpflichtet, insbes. beim<br />

Erlass von Rechtsangleichungsrichtlinien gem. Art.<br />

95 EGV.<br />

3. Inhalt der Warenverkehrsfreiheit<br />

3.1 Die Zollunion ist nach Art. 23 EGV Grundlage<br />

der Gemeinschaft. Sie umfasst das Verbot von Einund<br />

Ausfuhrzöllen zwischen den Mitgliedstaaten sowie<br />

die Einführung eines Gemeinsamen Zolltarifs<br />

gegenüber dritten Ländern.<br />

3.2 Über das Verbot von Binnenzöllen anlässlich des<br />

Grenzübertritts hinaus verbietet die steuerliche VorschriftdesArt.90EGVallediskriminierendeninnerstaatlichen<br />

Abgaben auf Waren aus anderen Mitgliedstaaten,<br />

welche höher sind als diejenigen für<br />

vergleichbare inländische Waren. Waren sind vergleichbar,<br />

wenn sie von den Verbrauchern zu ähnlichen<br />

Zwecken oder zur Befriedigung ähnlicher Bedürfnisse<br />

eingesetzt werden oder in gleicher Weise<br />

produziert werden. Ebenfalls verboten sind inländische<br />

Abgaben auf eingeführte Waren, die mittelbar<br />

protektionistische Wirkungen entfalten.<br />

3.3 Der Gemeinsame Zolltarif macht schließlich die<br />

auf Grundlage der Art. 131–134 EGV einheitlich geführte<br />

�Gemeinsame Handelspolitik nach außen erforderlich.<br />

3.4 Die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes<br />

können durch Rechtsangleichungsrichtlinien<br />

nach Maßgabe des Art. 95 EGV unterstützt<br />

348<br />

werden. So ist es möglich, Handelshemmnisse aufgrund<br />

unterschiedlicher technischer Vorschriften in<br />

dem Mitgliedstaaten nach und nach abzubauen.<br />

3.5 Kernstück der Warenverkehrsfreiheit ist indes<br />

das Verbot mengenmäßiger Beschränkungen und<br />

Maßnahmen gleicher Wirkung zwischen Mitgliedstaaten.<br />

Im nicht harmonisierten Bereich sind die<br />

MitgliedstaatenzwarinderGestaltungihrernationalen<br />

Rechtsordnungen frei, sie müssen aber stets die<br />

Freiheit des Warenverkehrs nach Maßgabe der Art.<br />

28 – 31 EGV gewährleisten.<br />

Diese Vorschriften sind unmittelbar geltendes Gemeinschaftsrecht<br />

und gewähren den Unionsbürgern<br />

subjektive Rechte, die sie sowohl vor nationalen GerichtenalsauchvordenGemeinschaftsgerichtengeltend<br />

machen können. Ein nationales Gesetz, das gegen<br />

diese Vorschriften verstößt, ist unanwendbar.<br />

3.5.1 Einfuhrbeschränkungen nach Art. 28 EGV.<br />

Der EGV verbietet alle mengenmäßigen Einfuhrbeschränkungen<br />

und Maßnahmen gleicher Wirkung<br />

zwischen den Mitgliedstaaten. Der erste Teil des<br />

Verbots ist zwischenzeitlich bedeutungslos geworden,<br />

denn Kontingentierungen sind praktisch abgeschafft.<br />

Umso praxisrelevanter sind beschränkende Maßnahmen<br />

gleicher Wirkung wie Einfuhrformalitäten,<br />

Verkehrsverbote, Zulassungsverfahren, Anforderungen<br />

an die Aufmachung, Verpackung, Etikettierung,<br />

Bezeichnungsregelungen, Preisregelungen,<br />

Werberegelungen, Verkaufsmonopole und Konzessionsregelungen.<br />

3.5.1.1EntwicklungundReichweite.DasVerbotvon<br />

Einfuhrbeschränkungen wurde in den Anfangsjahren<br />

der Gemeinschaft – wie bei den anderen Grundfreiheiten<br />

auch – als schlichtes Diskriminierungsverbot<br />

verstanden. So durften Waren aus anderen<br />

Mitgliedstaaten nicht schlechter als nationale Waren<br />

behandelt werden. Diese Sichtweise war allerdings<br />

zu eng, denn eine nationale Regelung kann der Warenverkehrsfreiheit<br />

jede praktische Wirksamkeit<br />

nehmen, selbst wenn sie auf nationale und ausländische<br />

Waren unterschiedslos angewandt wird. Diese<br />

Einsicht bewegte den EuGH im Jahre 1974 zu einer<br />

revolutionären Entscheidung im Fall �Dassonville<br />

(Slg. 1974, 837). Der belgische Großhändler Dassonville<br />

importierte schottischen Whisky über<br />

Frankreich. Für den Vertrieb unter der Bezeichnung<br />

„Scotch Whisky“ verlangte das belgische Gesetz<br />

eine amtliche Herkunftsbescheinigung, welche den


aus Schottland direkt importierten Whiskys ohne<br />

weiteres erteilt wurde. Für aus Frankreich stammenden<br />

Whisky war die Ausstellung dieses Zertifikats<br />

jedoch mit großem Aufwand verbunden. Der EuGH<br />

stellte in seinem Urteil die Gemeinschaftswidrigkeit<br />

des belgischen Gesetzes fest. Mit der Formel: „Jede<br />

Handelsregelung der Mitgliedstaaten, die geeignet<br />

ist,deninnergemeinschaftlichenHandelunmittelbar<br />

oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern,<br />

ist als Maßnahme mit gleicher Wirkung wie<br />

eine mengenmäßige Handelsbeschränkung anzusehen“<br />

weitete der Gerichtshof das von der Warenverkehrsfreiheit<br />

statuierte Diskriminierungsverbot zu<br />

einem allgemeinen Beschränkungsverbot aus. In der<br />

Folgezeit wurden nicht nur „Handelsregelungen“ in<br />

Gesetzesform, sondern Maßnahmen gleich welcher<br />

Art mit tatsächlich oder nur potentiell handelshemmender<br />

Wirkung an Art. 28 und Art. 30 EGV gemessen.AlsGrundregelgalt,dassalleHandelshemmnissetrotzdiskriminierungsfreierAnwendungzunächst<br />

verboten waren und einer europarechtlichen Rechtfertigung<br />

bedurften.<br />

Eine derart umfassende Definition der „Maßnahme<br />

mit gleicher Wirkung wie mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen“<br />

verleitete die Marktteilnehmer zunehmend,<br />

jegliches unliebsame Wirtschaftsgesetz<br />

klageweise an der Warenverkehrsfreiheit messen zu<br />

wollen. Letzten Endes erließ der EuGH im Jahre<br />

1993 ein weiteres wegweisendes Urteil, in welchem<br />

er den aufgrund der Dassonville-Formel zu weit reichenden<br />

Inhalt des Beschränkungsverbots aus Art.<br />

28 EGV einschränkte und weiter präzisierte. Prüfungsgegenstand<br />

des �Keck und Mithouard-Urteils<br />

(Slg. 1993, I-6097) war das französische Verbot,<br />

Waren unter dem Einkaufspreis zu verkaufen. Der<br />

EuGH bestätigte die Gemeinschaftsrechtskonformität<br />

des Gesetzes und entschied, dass bestimmte Verkaufsmodalitäten,<br />

die unterschiedslos sowohl auf<br />

nationale als auch auf eingeführte Waren angewandt<br />

werden, keine Marktbeeinträchtigung darstellen<br />

können. Seitdem werden beeinträchtigende Maßnahmen<br />

in produktbezogene Regelungen einerseits<br />

und vertriebsbezogene Regelungen andererseits unterteilt.<br />

Produktbezogene Vorschriften regeln die<br />

Beschaffenheit der Ware als solche, indem sie an deren<br />

Herstellung, Zusammensetzung, Bezeichnung,<br />

Abmessung,Form,Gewicht,EtikettierungoderVerpackung<br />

bestimmte Anforderungen stellen. Sie gelten<br />

als Beschränkungen im Sinne des Art. 28 EGV,<br />

Freier Warenverkehr<br />

selbstwennsiediskriminierungsfreiangewandtwerden.<br />

Dagegen betreffen vertriebsbezogene Vorschriften<br />

wie Ladenöffnungszeiten, Verkaufsvorbehalte<br />

für Tabakwarenhändler, Beschränkungen der<br />

Fernsehwerbung für Alkohol und Spielzeug, Wettbewerbsbestimmungen<br />

über Preisvergleiche oder<br />

die Apothekenpflichtigkeit nicht die Ware als solche,<br />

sondern nur deren Absatzmodalitäten. Diese<br />

stellen grundsätzlich keine Beschränkung dar, sofern<br />

sie keine diskriminierende Wirkung entfalten.<br />

Die Abgrenzung kann zuweilen Schwierigkeiten bereiten,<br />

insbes. wenn eine vertriebsbezogene Werberegelung<br />

zugleich produktbezogen ist, weil die Werbung<br />

etwa auf der Verpackung der Ware angebracht<br />

ist.BekanntesBeispielistderMars-Riegel-Fall(Slg.<br />

1995, I-1923). Im Rahmen einer europaweiten Aktion<br />

wurden aus Frankreich stammende Marsverpackungen<br />

mit dem Aufdruck „+10 %“ nach Deutschland<br />

eingebracht. Der Aufdruck war allerdings größer<br />

als 10 % der Verpackung und verstieß daher gegen<br />

das deutsche Verbot irreführender Werbung aus<br />

§ 3 UWG. Dieses deutsche Gesetz wurde vom EuGH<br />

nicht als lediglich vertriebsbezogen, sondern als produktbezogen<br />

und damit als Maßnahme gleicher Wirkung<br />

im Sinne des Art. 28 EGV qualifiziert, weil der<br />

Importeur nur mit einer speziell für den deutschen<br />

Markt gefertigten Verpackung – die mit zusätzlichen<br />

Kosten verbunden wäre – zu diesem Markt Zugang<br />

erhalten hätte.<br />

Allgemein kann festgehalten werden, dass eine nationale<br />

Vorschrift unter Art. 28 EGV fällt, wenn sie<br />

den Marktzugang importierter Waren erschwert.<br />

Dies hat der EuGH zum entscheidenden Kriterium<br />

erwählt, als er das deutsche Verbot des Apothekenversandhandels<br />

als beschränkende Maßnahme qualifizierte.<br />

3.5.1.2 Rechtfertigung von Einfuhrbeschränkungen.<br />

Handelsbeschränkungen zwischen Mitgliedstaaten<br />

sind nicht per se verboten, vielmehr können sie bei<br />

entsprechender Rechtfertigung zulässig sein. Der<br />

EGV hält mit seinem Art. 30 einen Rechtfertigungstatbestand<br />

bereit. Danach sind Handelshemmnisse<br />

„aus Gründen der öffentlichen Sittlichkeit, Ordnung<br />

und Sicherheit, zum Schutze der Gesundheit und des<br />

Lebens von Menschen, Tieren oder Pflanzen, des nationalenKulturgutsvonkünstlerischem,geschichtlichem<br />

oder archäologischem Wert oder des gewerblichen<br />

und kommerziellen Eigentums“ erlaubt, sofern<br />

sie keine willkürliche Diskriminierung oder ver-<br />

349


Freier Warenverkehr<br />

schleierte Beschränkung des innergemeinschaftlichen<br />

Handels darstellen. Der EuGH legt diese Vorschrift<br />

sehr restriktiv aus, um der Warenverkehrsfreiheit<br />

zur größtmöglichen Wirksamkeit zu verhelfen.<br />

In diesem Sinne fasst das Gericht den Grund der<br />

„öffentlichen Ordnung und Sicherheit“ nicht – wie<br />

durchaus denkbar – als Generalklausel auf und versperrt<br />

sich damit die Möglichkeit einer flexiblen<br />

Rechtfertigungsrechtsprechung.<br />

Allerdings schränkt diese Handhabung angesichts<br />

der umfassenden Dassonville-Formel die Gestaltungsspielräume<br />

nationaler Gesetzgeber übermäßig<br />

ein. Daher entwickelte der EuGH in seiner �Cassis-de-Dijon-Entscheidung<br />

(Slg. 1979, 649) einen<br />

neuen ungeschriebenen Rechtfertigungstatbestand:<br />

die zwingenden Erfordernisse des Allgemeinwohls<br />

als immanente Schranken der Warenverkehrsfreiheit.<br />

Soweit der Sachverhalt nicht durch gemeinschaftsrechtlicheVorschriftengeregeltist,kanneine<br />

nationale beschränkende Maßnahme nach der FormeldesEuGHgerechtfertigtsein,wennsiezurErreichung<br />

zwingender Gründe des Allgemeinwohls geeignet<br />

und erforderlich ist und nicht in diskriminierender<br />

Weise angewandt wird (so deutlich in Slg.<br />

1995 I 4165 – Gebhard). Solche zwingende Gründe<br />

sind u. a. der Umwelt- und Verbraucherschutz, die<br />

Lauterkeit des Handelsverkehrs und die Erfordernisse<br />

einer wirksamen steuerlichen Kontrolle.<br />

Eine beschränkende Maßnahme genügt dem Kriterium<br />

der Erforderlichkeit, wenn keine weniger einschneidende<br />

Möglichkeit besteht, den zwingenden<br />

GrunddesAllgemeinwohlszuerreichen.Vordiesem<br />

Hintergrund können staatliche Verkehrsverbote für<br />

bestimmte Produkte nicht aus zwingenden Gründen<br />

des Verbraucherschutzes gerechtfertigt sein, da der<br />

„mündige Verbraucher“ sich anhand ausreichender<br />

Etikettierung der Produkte zu informieren und eine<br />

autonome Entscheidung über den Erwerb des Produkts<br />

zu treffen vermag. Beispielsweise ist das Reinheitsgebot<br />

für Bier kein zwingendes Erfordernis des<br />

Verbraucherschutzes, denn der Verbraucher kann<br />

sich über die Inhaltsstoffe durch Lektüre des Etiketts<br />

informieren (Slg. 1987, 1227).<br />

3.5.2 Ausfuhrbeschränkungen nach Art. 29 EGV.<br />

Ein funktionierender Binnenmarkt setzt nicht nur die<br />

freie Einfuhr von Waren aus anderen Mitgliedstaaten,<br />

sondern in gleicher Weise auch deren freie Ausführbarkeit<br />

voraus. Daher verbietet Art. 29 EGV parallel<br />

zu Art. 28 mengenmäßige Ausfuhrbeschrän-<br />

350<br />

kungen sowie Maßnahmen gleicher Wirkung zwischen<br />

den Mitgliedstaaten.<br />

Eine mengenmäßige Ausfuhrbeschränkung ist möglich<br />

durch Verweigerung einer Ausfuhrgenehmigung<br />

oder durch die gesetzliche Verpflichtung, die<br />

WareaneineninländischenAbnehmerzuverkaufen.<br />

Maßnahmen gleicher Wirkung wie Ausfuhrbeschränkungen<br />

sind in Gestalt von Ausfuhrformalitäten,<br />

Qualitätskontrollen für Exportware, Mitgliedschaftspflichten<br />

in bestimmten berufsständischen<br />

Organisationen oder dem Abfüllgebot im Inland für<br />

Exportwein anzutreffen. Das Beschränkungsverbot<br />

aus Art. 29 EGV ist nach Ansicht des EuGH allerdings<br />

nicht so weit zu fassen wie im Falle von Einfuhrbeschränkungen,<br />

für welche die Dassonville-Formel<br />

gilt. Unzulässig sind nur solche nationale<br />

Maßnahmen, die „spezifische Beschränkungen der<br />

Ausfuhrströme bezwecken oder bewirken und damit<br />

unterschiedliche Bedingungen für den Handel innerhalb<br />

eines Staates und seinen Außenhandel schaffen“<br />

(EuGH Slg. 1979, 3409). Das Ausfuhrverbot<br />

soll lediglich verhindern, dass die nationale Produktion<br />

oder der nationale Markt eines Staates zum<br />

Nachteil der Produktion oder des Handels anderer<br />

Mitgliedstaaten einen besonderen Vorteil erlangt.<br />

Durch die einschränkende Auslegung des Verbots<br />

aus Art. 29 EGV wird vermieden, dass nationale Regelungen<br />

von Produktionsbedingungen, die mit einer<br />

Steigerung der Herstellungskosten verbunden<br />

sind und demzufolge die Wettbewerbsfähigkeit auf<br />

dem Markt eines anderen Mitgliedstaats potentiell<br />

beschränken, gemeinschaftsrechtlich zu rechtfertigen<br />

sind. Dies würde über das Ziel des EGV hinaus<br />

gehen, welcher vor allem die nationalen Märkte für<br />

Waren aus anderen Mitgliedstaaten öffnen will.<br />

Während ein Mitgliedstaat den Zugang zu seinem<br />

Markt nicht verweigern darf, wenn die Importware<br />

die Voraussetzungen für den Marktzugang im Herkunftsland<br />

erfüllt, kann er an die einheimische Produktion<br />

strengere Anforderungen stellen, da hier der<br />

grenzüberschreitende Bezug typischerweise weniger<br />

stark ausgeprägt ist.<br />

Die Rechtfertigung von Ausfuhrbeschränkungen ist<br />

unter den Voraussetzungen des Art. 30 EGV möglich.<br />

Ob auch die zwingenden Gründen des Gemeinwohls<br />

im Sinne der Cassis-de-Dijon-Rechtsprechung<br />

herangezogen werden können, ist vom EuGH<br />

noch nicht entschieden.<br />

4. Stand der Integration. Während die Zollunion


vollständig verwirklicht ist, sind im Bereich der Einund<br />

Ausfuhrbeschränkungen immer noch Defizite<br />

zu verzeichnen, weil die unterschiedlichen nationalen<br />

Rechtsvorschriften über Produktion und Vermarktung<br />

der Waren regelmäßig handelshemmende<br />

Wirkung haben können. In diesem Zusammenhang<br />

sindbeiderUmsetzungvonAngleichungsrichtlinien<br />

nochleichteDefizitezuverzeichnen.Fortschritteder<br />

Integration, insbes. durch die Rechtsprechung des<br />

EuGH, sind noch möglich und durchaus wünschenswert.<br />

So kann diskutiert werden, ob das deutsche<br />

Pfandsystem für Getränkeverpackungen gegen Art.<br />

28 EGV verstößt.<br />

5. Bedeutung der Warenverkehrsfreiheit. Die Warenverkehrsfreiheit<br />

ist ein Grundpfeiler der Europäischen<br />

Integrationsbewegung. Zwar hat sich die ursprüngliche<br />

EWG über eine bloße Wirtschaftsgemeinschaft<br />

hinaus zum Staatenverbund der Europäischen<br />

Union mit Unionsbürgerschaft nach Art. 17<br />

EGV entwickelt, was eine immer stärkere Ausrichtung<br />

der Gemeinschaft auf die Personen zur Folge<br />

hat; die Menschen werden nicht mehr nur über ihre<br />

wirtschaftliche Tätigkeit als Marktbürger definiert,<br />

sondern sind auch als Unionsbürger Subjekt der Gemeinschaftstätigkeit.<br />

Der Warenverkehrsfreiheit kommt aber das Verdienst<br />

zu, Motor der europäischen Integration zu<br />

sein. Dies zeigt sich schon daran, dass die ersten rein<br />

politischen Einigungsversuche der 1950er Jahre<br />

(�Europäische Verteidigungsgemeinschaft und<br />

�Europäische Politische Gemeinschaft) scheiterten<br />

und nur wirtschaftliche Gemeinschaften in Form der<br />

EGKS und der EWG möglich waren. Innerhalb der<br />

Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft wurde dem<br />

freien Warenverkehr die Hauptrolle zugewiesen;<br />

diesem wird im Dritten Teil des EGV (Politiken der<br />

Gemeinschaften) der erste Titel mit detaillierten Regelungen<br />

gewidmet, während die anderen Grundfreiheiten<br />

unter Titel drei zusammengefasst behandelt<br />

werden.<br />

Auch in der Rechtsprechung des EuGH spielt die<br />

Warenverkehrsfreiheit die Vorreiterrolle: Sie wurde<br />

als erste Grundfreiheit von einem schlichten Diskriminierungsverbot<br />

zu einem allgemeinen Beschränkungsverbot<br />

ausgeweitet; in Parallele hierzu konnten<br />

auch die anderen Freiheiten zu umfassenden Beschränkungsverboten<br />

ausgebaut werden.<br />

Im Einklang mit dem funktionalistischen Ansatz,<br />

wonach die wirtschaftliche Integration zu einem be-<br />

Freihandelszone<br />

stimmten Zeitpunkt auch eine politische Integration<br />

nach sich zieht (spill-over-Effekt), sind von der Fortentwicklung<br />

der Warenverkehrsfreiheit weitere Impulse<br />

für die Personenverkehrsfreiheiten zu erwarten,<br />

die eine endgültige politische Integration <strong>Europa</strong>sunterstützenkönnten.<br />

J. I.<br />

Literatur<br />

Becker, U.: Von „Dassonville“ über „Cassis“ zu „Keck“ – Der<br />

Begriff der Maßnahmen gleicher Wirkung in Art. 30 EGV.<br />

EuR 1994, 162 ff.<br />

Geiger, R.: EUV/EGV, Art. 23 - 31 EGV. München 2004<br />

Freihandelszone. Zusammenschluss von mindestens<br />

zwei Staaten oder Teilen des Staatsgebiets zu<br />

einem Raum, in dem Zölle und andere, den Handel<br />

zwischen den Partnern beschränkende Maßnahmen<br />

beseitigt werden. Die Mitglieder einer FreihandelszonebehalteneinesubstantielleAutonomieüberihre<br />

Handelspolitik. Dies äußert sich insbes. in einem<br />

fortbestehenden, eigenständigen Zolltarif jedes<br />

Mitglieds gegenüber Drittländern. Daneben bestehen<br />

die jeweiligen Präferenzregelungen und handelspolitischen<br />

Schutzmaßnahmen fort.<br />

Die in einer Freihandelszone notwendige Differenzierung<br />

zwischen Gütern aus den Mitgliedstaaten<br />

und solchen aus Drittstaaten erfordert ein System zur<br />

Ursprungsbestimmung (�Ursprungslandsprinzip).<br />

AufGrundvonUrsprungsregelnkannbestimmtwerden,<br />

welche Güter dem Regime der Freihandelszone<br />

und welche den autonomen handelspolitischen Regelungen<br />

der Mitglieder unterliegen. Auf Grund der<br />

in einer Freihandelszone notwendigen Kontrollen<br />

durch die Zollbehörden unterliegt der Güterverkehr<br />

an den Binnengrenzen der Freihandelszone weiterhin<br />

spürbaren Beschränkungen.<br />

Eine Freihandelszone wird in der Regel durch einen<br />

völkerrechtlichen Vertrag der beteiligten Staaten im<br />

bilateralen oder multilateralen Verhältnis errichtet.<br />

In der gegenwärtigen Welthandelsordnung, die<br />

durch die nahezu universelle Rechtsordnung der<br />

�WTO geprägt wird, können Freihandelszonen von<br />

WTO-Mitgliedern nur unter bestimmten verfahrensund<br />

materiellrechtlichen Bedingungen geschaffen<br />

werden. Artikel XXIV GATT 1994 (vgl. auch Art. 5<br />

GATS) sieht vor, dass die Binnenliberalisierung in<br />

der Freihandelszone grundsätzlich für „annähernd<br />

den gesamten Handel“ erfolgen muss, und dass die<br />

Zölle und Handelsvorschriften für den Handel mit<br />

Drittstaatennichthöherodereinschränkenderalsvor<br />

deren Errichtung sein dürfen. Mit dieser Regelung<br />

351


Freizügigkeit<br />

soll die Einrichtung von Präferenzzonen für einzelne<br />

Waren oder Warengruppen sowie eine bloße Zollsenkung<br />

zwischen den beteiligten Staaten verhindert<br />

werden, weil dadurch das Meistbegünstigungsgebot<br />

(Art. I:1 GATT 1994) nicht rechtfertigbar verletzt<br />

würde.<br />

Die Freihandelszone steht für ein organisatorisch<br />

verfestigtes Konzept der wirtschaftlichen Integration.<br />

Sie ist von der qualitativ noch weiter reichenden<br />

�Zollunion zu unterscheiden, bei der die kooperierenden<br />

Volkswirtschaften auch gegenüber Drittstaaten<br />

einen gemeinsamen Zolltarif einführen. Mit der<br />

Errichtung einer Freihandelszone werden wirtschaftliche<br />

und politische Ziele verfolgt. Der primäre<br />

Vorteil beruht auf der Erkenntnis, dass der Abbau<br />

von Zöllen und anderen handelsbeschränkenden<br />

Maßnahmenzupositiven,wohlstandsförderndenEffekten<br />

in den beteiligten Volkswirtschaften führt.<br />

Auf der Grundlage regionaler Handelsabkommen<br />

werden Freihandelszonen auch als Instrument der<br />

Entwicklungspolitik eingesetzt.<br />

Bedeutende Freihandelszonen sind die Europäische<br />

Freihandelszone (EFTA), der Europäische Wirtschaftsraum<br />

(EWR) und die Nordamerikanische<br />

Freihandelszone (NAFTA). Regionale Wirtschaftsblöcke,<br />

die ihrerseits Freihandelszonen oder Zollunionen<br />

– wie die EU – sind, bilden mit anderen Staaten<br />

und Staatengruppen Freihandelszonen (Abkommen<br />

von �Cotonou). Daneben existieren Mischformen<br />

wie etwa der lateinamerikanische MER-<br />

COSUR, der bereits Elemente einer Zollunion aufweist.<br />

Zahlreiche Freihandelszonen können die handelspolitischen<br />

Erwartungen in der Praxis nicht erfüllen,<br />

weil die administrative Organisation nicht<br />

funktioniert oder die jeweiligen Interessen der Mitglieder<br />

etwa im Hinblick auf umfangreiche Ausnahmelisten<br />

und eine große Zahl sensibler Waren die<br />

ökonomischen Vorteile des teilliberalisierten Handels<br />

verwässern. Die seit den 1990er Jahren stark ansteigende<br />

Zahl regionaler Handelsabkommen (312<br />

bei der WTO notifizierte Abkommen, von denen 170<br />

in Kraft sind; Stand 1. 1. 2005) hat eine Diskussion<br />

über die Zukunft der institutionalisierten wirtschaftlichenIntegrationinderWelthandelsordnungausgelöst.<br />

F. Sch.<br />

Literatur:<br />

Crawford, J.-A./Fiorentino, R. V.: The Changing Landscape of<br />

Regional Trade Agreements. WTO Discussion Paper Nr. 8.<br />

Genf 2005<br />

352<br />

Pethke, R.: Die Nordamerikanische Freihandelszone im<br />

Vergleich mit dem Europäischen Wirtschaftsraum.<br />

Heidelberg, 2004<br />

Sampson, G. P/Woolcock, S.: Regionalism, multilateralism,<br />

and economic integration. Tokyo 2003<br />

Internet: WTO, Portal zu Regionalabkommen:<br />

www.wto.org/english/tratop_e/region_e/region_e.htm<br />

Freizügigkeit in der EU. Unter Freizügigkeit sind<br />

all jene Rechte und Freiheiten zusammengefasst, die<br />

es EU-Staatsangehörigen – ob als Bürger/in, als Arbeitnehmer/in<br />

oder als Dienstleister/in – ermöglichen,<br />

im Binnenmarkt dort, wo sie wollen, zu wohnen,<br />

sich politisch zu beteiligen, zu arbeiten, zu studieren,sichniederzulassenoderihre/seineDienstleistungen<br />

anzubieten.<br />

Die als Freizügigkeiten oder Freiheiten bezeichneten<br />

Grundsäulen der Gemeinschaft sind:<br />

– Freiheit des Personenverkehrs (Art. 3 Abs. d und<br />

Art. 18 Abs. 1 EGV). Jede EU-Bürgerin und jeder<br />

EU-Bürger darf sich innerhalb der EU-Grenzen frei<br />

bewegen und aufhalten. Davon betroffen sind allerdings<br />

nicht etwaige Grenzkontrollen, die im �Schengener<br />

Abkommen separat geregelt sind.<br />

– Freizügigkeit der Arbeitnehmer/in (Art. 39 – 42<br />

EGV). Jede und jeder EU-Staatsangehörige kann<br />

sich in einem anderen EU-Mitgliedsland aufhalten,<br />

um eine Arbeit zu suchen bzw. um zu arbeiten.<br />

– Niederlassungsfreiheit (Art. 43 – 48 EGV) bedeutet,<br />

dass jede EU-Bürgerin und jeder EU-Bürger in<br />

einem anderen Mitgliedstaat eine dauernde selbständige<br />

Tätigkeit zu den gleichen Bedingungen wie die<br />

Inländer/innen ausüben darf.<br />

– FreiheitderDienstleistung(Art.49–Art.55EGV).<br />

Jeder darf innerhalb der gesamten EU Dienstleistungen<br />

wie im eigenen Land anbieten und durchführen.<br />

Ebenso dürfen EU-Bürger/innen Dienstleistungen<br />

aus einem anderen EU-Land erwerben.<br />

– Unionsbürgerschaft (Art. 17 – Art. 22 EGV). Neben<br />

der Freiheit des Personenverkehrs räumt die<br />

Unionsbürgerschaft allen EU-Staatsangehörigen<br />

das aktive und passive Wahlrecht auf kommunaler<br />

und europäischer Ebene ein sowie den konsularischen<br />

Schutz aller EU-Mitgliedstaaten und das �Petitionsrecht.<br />

Um diese Freiheiten zu realisieren, hat die EU im<br />

Laufe der letzten Jahrzehnte Richtlinien und Verordnungenerlassen,diedieAnspruchs-undSchutzrechte<br />

konkretisieren und bestimmte Bereichsausnahmen<br />

gewähren. Beschränkungen der Rechte sind nur


gestattet, wenn die öffentliche Ordnung, zwingende<br />

Gründe des Allgemeininteresses, die Sicherheit oder<br />

die Gesundheit dies rechtfertigen, dabei sind als<br />

Schranken das �Diskriminierungsverbot aufgrund<br />

der Staatsangehörigkeit und das �Verhältnismäßigkeitsprinzip<br />

zu beachten. Der Europäische �Gerichtshof<br />

stellte fest, dass Beschränkungen nur „in<br />

EinzelfällenundmitausreichenderBegründung“angewendet<br />

werden dürfen. Das heißt, dass die Mitgliedstaaten<br />

in jedem Einzelfall die genauen Gründe<br />

für die Anwendung dieser Beschränkungen angeben<br />

müssen. Weiterhin dürfen die aus Gründen der öffentlichen<br />

Ordnung oder Sicherheit getroffenen<br />

Maßnahmen ausschließlich nach Maßgabe des persönlichen<br />

Verhaltens des Betreffenden erfolgen und<br />

setzen voraus, dass eine gegenwärtige und schwerwiegendeGefahrfüreinedergrundlegendenInteressen<br />

der Gesellschaft besteht. Ein Mitgliedstaat darf<br />

keine Beschränkungen wegen wirtschaftlicher Zwecke<br />

oder ausschließlich aufgrund einer zurückliegenden<br />

strafrechtlichen Verurteilung vornehmen.<br />

Um bestimmte Leitlinien zur richtigen Anwendung<br />

undAuslegungderRechtsvorschriftenindiesemBereich<br />

zur Verfügung zu stellen, nahm die Europäische<br />

Kommission unter Berücksichtigung der Lehren,diesieausdenzahlreichenBeschwerdenvonBetroffenen<br />

zog, im Juli 1999 eine Mitteilung über die<br />

öffentliche Ordnung an.<br />

In den Anfängen der EWG konzentrierten sich die<br />

europäischen Regelungen auf die Abschaffung jeder<br />

auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen<br />

Behandlung in Bezug auf Beschäftigung,<br />

Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen<br />

sowie auf die Rechtsstellung der Familienangehörigen<br />

(VO 1612/68, ABl. L 257/1968). Erst mit den<br />

großen Integrationsschritten und der Verwirklichung<br />

des Binnenmarktes Ende der 1980er und Anfang<br />

der 1990er Jahre rückten auch alle anderen<br />

Bürger/innen und vor allem die nicht erwerbstätigen<br />

EU-Bürgerinnen und EU-Bürger wie Studierende,<br />

Rentenempfänger/innen und deren Interessen in das<br />

Blickfeld der EU-Regelungen (RL 90/364 über Aufenthaltsrecht;<br />

RL 90/365 über Aufenthaltsrecht der<br />

Selbständigen und Rentner; RL 93/96 über Aufenthaltsrecht<br />

der Studenten; alle zusammen mit der RL<br />

73/148 über Niederlassungsfreiheit vereint in der RL<br />

2004/38, ABl. L 158/2004 für alle Unionsbürger und<br />

ihre Familienangehörigen). Neben der gegenseitigen<br />

Anerkennung von vergleichbaren Hochschul-<br />

Freizügigkeit<br />

und Berufsabschlüsse weitete die EU das AufenthaltsrechtaufalleEU-Bürger/innenausunterderBedingung,<br />

dass sie ihren Lebensunterhalt selbst<br />

bestreiten können.<br />

Allein die primär- und sekundärrechtlichen Bestimmungen<br />

hätten jedoch nicht ausgereicht, um dem –<br />

den Rechten impliziten – Anspruch auf ein �<strong>Europa</strong><br />

der Bürger/innen zu genügen.<br />

Die Staaten sind versucht, diese Rechte und Freiheiten<br />

zum Schutz und im Interesse der eigenen Bevölkerung<br />

und Wirtschaft zu unterwandern. Gerade der<br />

Europäische Gerichtshof hat mit seiner RechtsprechungmaßgeblichanderRealisierungeines<strong>Europa</strong>s<br />

ohne Grenzen im Sinne der EU-Bürger/innen gewirkt.<br />

Mit dem �Bosman-Urteil griff er sogar sensible<br />

Bereiche wie den „Fußball“ an. Seitdem gelten<br />

Fußballspieler aus einem anderen EU-Land nicht<br />

mehr als Ausländer. Auch Berufsstände mit traditionellen<br />

Standesordnungen wie Anwälte und Handwerker<br />

müssen ihre Arbeitsfelder nun mit europäischen<br />

Kolleginnen und Kollegen teilen, wenn auch<br />

unterderBedingungvonMindestanforderungenund<br />

Regelungen über Befähigungsnachweise.<br />

Für Beitrittsländer werden meist Übergangsfristen<br />

für die Arbeitnehmerfreizügigkeit vereinbart, die im<br />

Fall von acht der zehn mittel- und osteuropäischen<br />

Staaten (2004) auf max. sieben Jahre festgelegt sind,<br />

danach sind sie vollkommen gleichberechtigte Mitgliedsländer.<br />

Die Übergangsregelung gilt nicht für<br />

Zypern und Malta. Die neuen Mitgliedstaaten dürfen<br />

im Gegenzug ebenfalls Einschränkungen für Arbeitnehmende<br />

aus den anderen Mitgliedstaaten vorsehen,<br />

die derartige Maßnahmen eingeführt haben.<br />

Hintergrund für die Übergangsregelungen ist vor allem<br />

die Sorge, speziell auch Deutschlands, vor Sozialdumping<br />

auf dem Arbeits- und Dienstleistungsmarkt.<br />

Herausforderung: Die unterschiedlichen Lohn- und<br />

Sozialversicherungssysteme sorgen grundsätzlich<br />

im Bereich der Dienstleistungsfreiheit für Konflikte.<br />

Strittig ist hier vor allem das �Herkunftslandprinzip,<br />

wonach Dienstleistungen künftig nur noch Bestimmungen<br />

ihres Herkunftslandes unterliegen statt derjenigen<br />

der Bestimmungsländer. Das HerkunftslandprinzipwürdenachMeinungderKritikerdieArbeitsmarktsituation<br />

verschärfen (Stichwort: Dumpinglöhne)<br />

und den Verbraucherschutz verschlechtern<br />

(mangelnder Rechtsschutz). Wichtig sei es daher,<br />

Sicherungen für unlauteren Wettbewerb (wir-<br />

353


Fremdenverkehr<br />

kungsvolle Berufsaufsicht) und Verbraucherschutz<br />

(Qualitätsstandards) bei den rechtlichen Bestimmungen<br />

einzufügen.<br />

Resümee: Indem die Bürger/innen ihr Recht auf Freizügigkeit<br />

in der Europäischen Union wahrnehmen<br />

und einfordern, sind sie aktiv an der Schaffung eines<br />

europäischen Binnenmarktes beteiligt. Durch die<br />

�Unionsbürgerschaft, die den EU-Bürgerinnen und<br />

-Bürgern bei kommunalen und europäischen Wahlen<br />

das passive und aktive Wahlrecht, den konsularischen<br />

Schutz und das Petitionsrecht einräumt, hat<br />

das „<strong>Europa</strong> des Marktes“ eine qualitative Steigerung<br />

in Richtung „<strong>Europa</strong> des Bürgers/der Bürgerin“<br />

erfahren. Die Menschen werden nicht mehr nur als<br />

produktive Marktteilnehmende wahrgenommen,<br />

sondern als europäische Bürgerinnen und Bürger,<br />

ausgestattet mit besonderen Rechten. Das heißt, die<br />

Realisierung der Freizügigkeit und Unionsbürgerschaft<br />

wirkt positiv auf die vielerorts gewünschte europäische<br />

�Identitätsbildung.<br />

Es gibt jedoch noch immer praktische, administrative<br />

oder rechtliche Hindernisse, die die Menschen daran<br />

hindern, die Vorteile und Möglichkeiten des europäischen<br />

Binnenmarktes und der geographischen<br />

Mobilität voll zu nutzen. Diese gilt es mit Hilfe der<br />

europäischen Rechtsetzung zu überwinden. Auch<br />

die unterschiedlichen Sozialversicherungs- und<br />

Lohnsysteme innerhalb der EU sollten im Blick der<br />

EU-Regierungen stehen, um die Krise auf dem europäischen<br />

Beschäftigungsmarkt zu bewältigen und<br />

Sozialdumpingzuvermeiden. G. C. G.<br />

Internet: http://europa.eu.int/youreurope/index_de.html<br />

Fremdenverkehr. Der Fremdenverkehr hat als<br />

Wirtschaftszweig für die Ziele der Europäischen<br />

Union besondere Bedeutung. Die Bedeutung des<br />

Tourismus für das Volkseinkommen ist gerade in<br />

den wirtschaftlich benachteiligten Gebieten besonders<br />

hoch, da diese zumeist auch die touristisch interessantesten<br />

Gebiete sind (Küstenregionen, Bergregionen).<br />

Eine Rechtsgrundlage für Aktivitäten der EU im Bereich<br />

der Fremdenverkehrspolitik war bisher insbes.<br />

aus der allgemeinen Ermächtigungsklausel (Art. 308<br />

EU-Vertrag) hergeleitet worden. Der �Verfassungsvertrag<br />

2004 erwähnt den Tourismus in Art. I-17 lit.<br />

d) als Bereich, in dem die EU unterstützend, koordinierend<br />

und ergänzend zu den Mitgliedstaaten tätig<br />

werden kann.<br />

354<br />

Trotzdem haben natürlich verschiedene Politiken<br />

der EU Auswirkungen auf den Tourismus. So ist die<br />

Dienstleistungsfreiheit (Art. 49 EG-Vertrag) durch<br />

Beschränkungen bspw. von Reiseführern tangiert,<br />

wie der EuGH in einem Fall festgestellt hat, in dem<br />

ein Staat bestimmte, dass nur einheimische Reiseführer<br />

zugelassen werden.<br />

Nicht zuletzt fördert auch die Verbraucherpolitik der<br />

EU mit etwa 30 Richtlinien, die den Schutz der Verbraucher<br />

vor allem oder auch im Fremdenverkehr<br />

zum Inhalt haben, den Tourismus in der EU. Zu nennen<br />

sind hier vor allem die „Pauschalreise-Richtlinie“<br />

von 1990 (90/314, ABl. L 158/1990), die den<br />

Verbraucherschutz des Reisenden und den Schutz<br />

seines eingezahlten Reisepreises regelt, und die<br />

Richtlinie zum Schutz des Reisenden vor Überbuchung<br />

von Flugzeugen von 1991 (295/91, ABl. L<br />

36/1991), die im Februar 2005 durch eine neue Verordnung<br />

verschärft wurde. Gegen die neue Regelung<br />

läuft ein Verfahren der Flugverkehrsverbände vor<br />

dem EuGH. Auch die Time-sharing-Richtlinie von<br />

1994 (94/47, ABl. L 280/1994), die die vertraglichen<br />

Regelungen beim Kauf von zeitlich begrenztem<br />

Wohnungsteileigentum regelt, kann diesem Bereich<br />

zugerechnet werden. Auch im Rahmen der UmweltpolitikwerdenZieleangestrebt,diesichaufdenTourismusauswirken,sovorallemimGewässerschutz.<br />

Insbesondere im Zusammenhang mit der Vollendung<br />

des Binnenmarkts wurde die wirtschaftliche<br />

und soziale Bedeutung des Fremdenverkehrsgewerbes<br />

im Rahmen der �Kohäsionspolitik und bei der<br />

Schaffung neuer Arbeitsplätze hervorgehoben, so<br />

dass seit 1990 Aktionsprogramme und weitere<br />

Mehrjahresprogramme für den Tourismus aufgelegt<br />

wurden, die der Förderung bestimmter Ziele im Bereich<br />

des Fremdenverkehrs galten.<br />

Schwerpunkte waren u. a. umweltverträglicher Tourismus,<br />

Kulturtourismus und Ausbildung im Bereich<br />

des Tourismus; schließlich standen besonders die<br />

Aspekte Koordination und Kooperation der europäischen<br />

Fremdenverkehrswirtschaft im Mittelpunkt,<br />

um diesen Wirtschaftszweig effektiver und damit attraktiver<br />

auch für Touristen aus Drittländern zu gestalten.<br />

Auch allgemeine Förderprogramme fördern<br />

die Tourismus-Branche. Zwar gibt es derzeit kein<br />

speziellesAktionsprogramm,dochhatdieEU-Kommission<br />

einen Leitfaden veröffentlicht, der Fördermöglichkeiten<br />

für den Tourismussektor in allgemeinen<br />

Förderprogrammen auflistet.


In einer Mitteilung vom November 2003 (KOM<br />

2003/516 endg.) initiierte die Kommission eine<br />

Kampagne zur Förderung der wirtschaftlichen, sozialen<br />

und ökologischen Nachhaltigkeit des europäischen<br />

Tourismus. Sie will erreichen, dass die verschiedenen<br />

politischen Bereiche und Maßnahmen<br />

der Gemeinschaft, die sich auf die �Nachhaltigkeit<br />

des Fremdenverkehrs auswirken, aufeinander abgestimmt<br />

werden.<br />

Unterstützung für die Vermarktung europäischer<br />

Tourismusziele will die Kommission durch den Aufbau<br />

eines gemeinsamen europäischen Internetportals<br />

stärken. Damit soll für den Touristen deutlich gemacht<br />

werden, dass <strong>Europa</strong> ein einheitlicher touristischerRaumist.<br />

M. K.<br />

Frühwarnsystem, politisches Frühwarnsystem<br />

�Subsidiarität<br />

Führerschein, europäischer Führerschein. Die<br />

„Zweite Führerschein-Richtlinie“ vom 29. 7. 1991<br />

(91/439, ABl. L 237/1991) hat den Grundsatz der gegenseitigen<br />

Anerkennung der von den Mitgliedstaaten<br />

ausgestellten Führerscheine eingeführt. Zuvor<br />

galt die von der „Ersten Führerscheinrichtlinie“ aus<br />

dem Jahr 1980 (80/1263, ABl. L 375/1980) eingeführte<br />

Pflicht, beim Umzug in einen anderen Mitgliedstaat<br />

den Führerschein innerhalb eines Jahres<br />

umzutauschen.<br />

Durch die Richtlinie 91/439 wurden abweichende<br />

nationale Bedingungen für die Erteilung der Fahrerlaubnis<br />

harmonisiert, so die Fahrzeugklassen, das<br />

Mindestalter, die Fahrprüfungen, die Anforderungen<br />

an körperliche und geistige Tauglichkeit. Außerdem<br />

wurden die Bestimmungen zum EG-Muster des<br />

Führerscheins (Farbe rosa, Größe 106 mm hoch und<br />

222 mm breit, Seitenzahl 6 usw.) neu gesetzt.<br />

Die neuen EU-Führerscheinklassen, in Deutschland<br />

gültig seit 1. 1. 1999, sind eingeteilt in die Motorradklassen<br />

A, A1 und M (für Mofas ist nur eine Prüfbescheinigung<br />

nötig), die Pkw-Klassen B und BE, die<br />

Lkw-Klassen C, C1, CE und C1E, die Busklassen D,<br />

D1, DE und D1E, die Traktorklassen L und T sowie<br />

seit 1. 2. 2005 die Klasse S (ab 16 Jahren) für dreirädrigeKleinkrafträderundvierrädrigeLeichtkraftfahrzeuge<br />

mit Höchstgeschwindigkeiten bis 45 km/h. Der<br />

Zusatz E bedeutet: mit Anhänger.<br />

Eine neue Führerscheinrichtlinie war Anfang 2005<br />

noch auf dem Gesetzgebungsweg. Während der Rat<br />

Funktionalisten<br />

im Oktober 2004 in 1. Lesung auf den zwangsweisen<br />

Umtausch aller alten Führerscheine in das neue<br />

EU-Plastikmodell im Scheckkartenformat verzichtenwollte,verlangtedasEPin2.LesungEndeFebruar<br />

2005 einen Umtauschzwang binnen zehn Jahren<br />

und eine regelmäßige Erneuerung im Abstand von<br />

zehn Jahren. Das hat der Rat am 27. 6. 2005 abgelehnt.<br />

Eine Lösung muss im Vermittlungsverfahren<br />

gefunden werden. Die neue Führerscheinrichtlinie<br />

soll auch verhindern, dass nach Entzug der Fahrerlaubnis<br />

ein neuer Führerschein in einem anderen<br />

EU-Land erworben werden kann.<br />

Funktionalisten. Als Funktionalisten werden insbes.<br />

diejenigen bezeichnet, die zu Beginn der europäischen<br />

Integration ein schrittweises Vorgehen<br />

empfohlen haben: Ohne ein endgültiges Ziel der Integration<br />

festzulegen, sollten die zum jeweiligen<br />

Zeitpunkt realisierbaren, von allen Mitgliedstaaten<br />

akzeptierten Integrationsschritte vollzogen werden.<br />

Jeder verwirklichte Schritt würde durch die danach<br />

erfahrbarenVorteiledieBereitschaftweckenzuweiterenSchritten,auchaufdasZielderpolitischenIntegration<br />

hin.<br />

Nach den ergebnislosen Versuchen in der Zeit nach<br />

dem Zweiten Weltkrieg, die Idee einer Politischen<br />

Union in Form eines Bundesstaates („Vereinigte<br />

Staaten von <strong>Europa</strong>“) auf einen Schlag zu realisieren<br />

(�<strong>Europa</strong>rat, �Europäische Politische Gemeinschaft),<br />

sollte die sog. �Jean-Monnet-Methode das<br />

„Funktionieren“ der Integration ermöglichen: Erste<br />

Schritte zur Einigung wurden auf dem Gebiet der<br />

Wirtschaft vollzogen (Europäische Gemeinschaft<br />

für Kohle und Stahl, Europäische Atomgemeinschaft,<br />

Europäische Wirtschaftsgemeinschaft), da<br />

hier am ehesten messbare Vorteile für alle Mitgliedstaaten<br />

entstehen konnten.<br />

Die Funktionalisten erwarteten, dass die Erfolge der<br />

ersten Schritte von selbst ein „Ausbreiten der Integration<br />

durch Ansteckung“ (spill over) und somit die<br />

allmähliche „Vergemeinschaftung“ weiterer politischer<br />

Bereiche ermöglichten. Nach raschen und<br />

überzeugendenErfolgen(Verwirklichungder�Zollunion)<br />

konnte die „funktionalistische“ Methode die<br />

Erwartungen, als Schrittmacher zur Politischen<br />

Union wirken zu können, bisher nicht in vollem<br />

Umfang erfüllen. Es mangelt ihr bisweilen an der visionären<br />

Kraft einer Idee, die das Ziel des Vereinten<br />

<strong>Europa</strong>s als wünschenswert erscheinen lässt.<br />

355


Fusionen<br />

Fusionen von Unternehmen. Zu einem funktionierendenWirtschaftssystemmiteinemfunktionsfähigenWettbewerbgehörenauchZusammenschlüsse<br />

von Unternehmen, die so bestimmte Unternehmensziele<br />

überhaupt erst oder zumindest besser erreichen<br />

können. Die EU hat sich bereits in frühen Jahren mit<br />

diesem Bereich befasst und europaweite Rechtsgrundlagen<br />

hierfür geschaffen.<br />

Den Beginn machte die „Fusionsrichtlinie“, die<br />

3. gesellschaftsrechtliche Richtlinie, die den Mitgliedstaaten<br />

zunächst auferlegte, in ihren Rechtsordnungen<br />

den Zusammenschluss von Aktiengesellschaften<br />

und gleichartigen Gesellschaften vorzusehenundbestimmteMindestanforderungenfestlegte.<br />

Den Sonderfall öffentlicher Übernahmeangebote als<br />

Voraussetzung für eine Unternehmensfusion behandelt<br />

die Übernahme-Richtlinie von 2004 mit SchutzvorschriftenfürMinderheitsaktionärenundDritten.<br />

Außerdem liegt (Mitte 2005) ein Vorschlag für eine<br />

RichtlinieaufdemTisch,diedieVerschmelzungvon<br />

Kapitalgesellschaften innerhalb der EU, die durch<br />

die unterschiedlichen innerstaatlichen Regelungen<br />

erschwert wird, erleichtern soll. Die Richtlinie soll<br />

vor allem kleinen und mittleren Kapitalgesellschaften<br />

(�KMU) helfen, die über ihren eigenen Mitgliedstaat<br />

hinaus tätig sein wollen, nicht aber unionsweit,<br />

und die deshalb kaum von der Möglichkeit Gebrauch<br />

machen dürften, eine Europäische Aktiengesellschaft(SE)zugründen.NachdemimRichtlinienvorschlag<br />

geregelten Verfahren sollen für VerschmelzungendieindembetreffendenMitgliedstaatfürsolche<br />

Vorgänge im Inland geltenden Grundsätze und<br />

Vorschriften maßgebend sein. Die Richtlinie<br />

schließt eine wichtige Lücke im Gesellschaftsrecht.<br />

Nachdem der Rat hierüber im November 2004 eine<br />

Einigung erzielt hat, hat das Europäische Parlament<br />

am 10. 5. 2005 seine Zustimmung in den entscheidenden<br />

Punkten erteilt.<br />

Um Fusionen steuerlich gerecht zu gestalten, wurde<br />

1990 eine Richtlinie über das gemeinsame Steuersystem<br />

für Fusionen u. ä., die Gesellschaften verschiedener<br />

Mitgliedstaaten betreffen, erlassen. Sie<br />

stellt den Grundsatz auf, dass die Besteuerung des<br />

Unterschieds zwischen dem tatsächlichen Wert und<br />

dem steuerlichen Wert des übertragenen Aktiv- und<br />

Passivvermögens nicht zum Zeitpunkt der Fusion<br />

ausgelöst werden darf, sondern erst dann, wenn der<br />

Mehrwert tatsächlich realisiert wurde.<br />

Fusionen sind allerdings nicht nur eine Wohltat für<br />

356<br />

dasWirtschaftssystem.SiekönnenauchdenWettbewerb<br />

gefährden, insbes. wenn hierdurch Unternehmen<br />

entstehen, die von ihrer Größe und durch ihren<br />

Marktanteil eine marktbeherrschende Stellung einnehmen.<br />

Durch die �Fusionskontroll-Verordnung<br />

vom 21. 12. 1989 wurde der EU-Kommission als<br />

Kartellbehörde die Möglichkeit gegeben, Fusionen<br />

imVorhineinzuprüfen.Damitsolltevermiedenwerden,<br />

dass auf Zusammenschlüsse bestimmter Größenordnung,<br />

die mehrere Mitgliedstaaten betreffen,<br />

eine Vielzahl unterschiedlicher innerstaatlicher<br />

Rechtsvorschriften Anwendung findet. Diese wurde<br />

am 1. 5. 2004 – zeitgleich mit der Erweiterung –<br />

grundlegend reformiert. Der Grundsatz der „einzigen<br />

Anlaufstelle“ wurde gestärkt. Gleichzeitig vereinfachte<br />

sie die Anmelde- und Nachprüfungsverfahren.<br />

M. K.<br />

Fusionskontrollverordnung (FKVO). Die europäische<br />

Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen<br />

ergänzt das Kartellverbot des Art. 81 Abs.<br />

1 EGV (�Europäisches Kartellrecht). Die Fusionskontrolle<br />

regelt die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen<br />

ein Unternehmen ein anderes erwerben<br />

bzw. mit diesem verschmelzen kann, ohne dass<br />

dies zur Begründung oder Verstärkung einer marktbeherrschenden<br />

Stellung führt.<br />

Die Fusionskontrolle hat keine ausdrückliche und<br />

unmittelbare Grundlage im �EG-Vertrag, im Gegensatz<br />

zu Art. 66 des EGKS-Vertrags, der eine primärrechtlich<br />

verankerte und bußgeldbewehrte Zusammenschlusskontrolle<br />

vorsah. Seitdem der EuGH den<br />

Europäischen Gemeinschaften im Jahre 1973 jedoch<br />

eine umfassende Kompetenz hinsichtlich der Wettbewerbsregelnzugesprochenhatte(Urteilvom21.2.<br />

1973, Rs. 6/72, „Continental-Can“, Slg. 1973, 215<br />

Rn. 25 f.), setzte sich die Kommission für eine sekundärrechtliche<br />

Lösung ein. Bereits 1973 legte sie einen<br />

ersten Verordnungsentwurf vor, um die bestehende<br />

Lücke im EGV zu schließen, konnte sich jedoch<br />

gegen die Mitgliedstaaten nicht durchsetzen.<br />

Streitpunkte waren hierbei vor allem die Auseinandersetzung<br />

über eine eher industriepolitische oder<br />

wettbewerbsrechtlich motivierte Ausrichtung der<br />

Fusionskontrollverordnung, die Frage der Abgrenzung<br />

gegenüber den Kompetenzen der Mitgliedstaaten<br />

und – damit verbunden – die Frage der Aufgreifkriterien<br />

der europäischen Fusionskontrolle. Erst<br />

1988 legte die Kommission schließlich einen zwei-


ten Verordnungsentwurf vor. Auf dessen Grundlage<br />

verabschiedete der Ministerrat im Jahr 1989 nach<br />

insgesamt über sechzehnjähriger Verhandlungszeit<br />

die erste FKVO 4064/89 (ABl. L 395/1989), die zum<br />

1. Mai 2004 durch die zweite, überarbeitete FKVO<br />

139/2004 (ABl. L 24/2004) abgelöst wurde. Gemeinsam<br />

ist beiden FKVO, dass sie primär wettbewerbsrechtlich<br />

ausgerichtet sind.<br />

Die FKVO gilt für Zusammenschlüsse von „gemeinschaftsweiter<br />

Bedeutung“, für deren Kontrolle<br />

grundsätzlich die Kommission zuständig ist (Art. 21<br />

Abs. 2 FKVO 139/2004). Definiert wird der Begriff<br />

der „gemeinschaftsweiten Bedeutung“ für die Zwecke<br />

der Fusionskontrolle durch die sog. Aufgreifschwellen.<br />

Im Wesentlichen setzen diese nach den<br />

Bestimmungen der insoweit unveränderten FKVO<br />

für eine Zuständigkeit der Kommission einen weltweitenGesamtumsatzallerbeteiligtenUnternehmen<br />

von mehr als 5 Mrd. Euro bei einem gemeinschaftsweiten<br />

Gesamtumsatz von mindestens zwei beteiligtenUnternehmenvonjeweilsmehrals250Mio.Euro<br />

voraus (weitere Einzelheiten vgl. Art. 1 FKVO 139/<br />

2004). Mit der neuen FKVO wurden jedoch die Verweisungsmöglichkeiten<br />

an die Kommission gestärkt;<br />

so können Unternehmen, die in drei oder mehr<br />

Mitgliedstaaten eine Anmeldung ihres Zusammenschlussvorhabens<br />

einreichen müssen, eine Verweisung<br />

an die Kommission beantragen (Art. 4 Abs. 5<br />

FKVO 139/2004). Durch die Bündelung bei der<br />

Kommission soll den beteiligten Unternehmen auch<br />

in diesem Falle statt einer Vielzahl nationaler Verfahren<br />

ein „one-stop-shop“ angeboten werden. Daneben<br />

wurde das Fristenregime für die Bearbeitung<br />

geändert, das straffer und zugleich flexibler ausgestaltet<br />

wurde. Bei Verstößen gegen die FKVO drohen<br />

den betroffenen Unternehmen Bußgelder bis zu<br />

einem Höchstbetrag von 1 % ihres Gesamtumsatzes<br />

(Art. 14 FKVO 139/2004).<br />

VorallemaberwurdemitderneuenFKVO139/2004<br />

dasmateriellePrüfungs-undUntersagungskriterium<br />

geändert.WarbislanglediglichdieBegründungoder<br />

Verstärkung einer marktbeherrschenden Stellung<br />

das maßgebende Untersagungskriterium, so sind<br />

jetzt Zusammenschlüsse, durch die wirksamer Wett-<br />

Fusionsvertrag<br />

bewerb(imGemeinsamenMarktodereinemwesentlichen<br />

Teil desselben) erheblich behindert würde, zu<br />

untersagen. Dies gilt selbstverständlich weiterhin<br />

insbes. für die Wettbewerbsbehinderung durch die<br />

Begründung oder Verstärkung einer beherrschenden<br />

Stellung (Art. 2 Abs. 3 FKVO 139/ 2004) als klassischem<br />

Regelfall für eine Untersagungsentscheidung.<br />

Zahlreiche weitere technische Einzelheiten zum<br />

Vollzug der FKVO regelt die Durchführungsverordnung802/2004derKommission(ABl.L133/2004).<br />

Mit Rücksicht auf die kurzen Fristen, in denen die<br />

Kommission die bei ihr angemeldeten Vorhaben<br />

prüfen muss, hat die Kommission bei der Generaldirektion<br />

eine spezialisierte „Merger Task Force“ gebildet,<br />

die ausschließlich Zusammenschlussvorhaben<br />

prüft. Freistellungen sind dabei der Regelfall,<br />

Untersagungen oder nur unter Auflagen freigestellte<br />

Vorhaben die Ausnahmen. Es wird jedoch angenommen,<br />

dass die Regelungen der FKVO bereits im Vorfeld<br />

die Ausgestaltung der Übernahmeentscheidungen<br />

beeinflussen, auch wenn hierzu keine gesicherten<br />

Zahlen vorliegen (sog. Vorfeldwirkung der Fusionskontrolle).<br />

S. W.<br />

Literatur:<br />

Mestmäcker, E.-J./Schweitzer, H.: Europäisches Wettbewerbsrecht.<br />

München 2004 2<br />

Fusionsvertrag. „Vertrag zur Einsetzung eines gemeinsamen<br />

Rates und einer gemeinsamen Kommission<br />

der Europäischen Gemeinschaften“ (Fusionsvertrag),<br />

am 8. 4. 1965 in Brüssel unterzeichnet, am<br />

1. 7. 1967 in Kraft getreten. Die zuvor für jede der<br />

drei damaligen Gemeinschaften EGKS, EWG und<br />

EURATOM getrennt operierenden Organe Rat und<br />

Kommission (bzw. Hohe Behörde der EGKS) wurden<br />

dadurch zusammengefasst und für alle Gemeinschaftenzuständig;dieHoheBehördeistinderKommission<br />

aufgegangen. Parlament (Europäisches Parlament)<br />

und Gerichtshof sind seit Beginn von EWG<br />

undEURATOMfürdiedreiGemeinschaftenzuständig<br />

(„Abkommen über gemeinsame Organe für die<br />

europäischen Gemeinschaften“ vom 25. 3. 1957).<br />

357


G7<br />

G7.Von 1975 bis 1998 Bezeichnung für die Gruppe<br />

der sieben führenden westlichen Industriestaaten.<br />

Seit 1998 um Russland zur Gruppe der �G 8-Staaten<br />

erweitert.<br />

G 8-Staaten. Die Gruppe der Acht (G 8) besteht aus<br />

den Industrienationen Deutschland, Frankreich,<br />

Großbritannien, Italien, Japan, Kanada, Russland<br />

und den USA. Die EU ist als Beobachter durch die<br />

Kommission vertreten. Bei den G 8 handelt es sich<br />

um ein informelles Gremium der zwischenstaatlichen<br />

Zusammenarbeit.<br />

Der auf deutsche und französische Initiative 1975<br />

mit dem ersten Gipfel von Rambouillet in Gang gesetzte<br />

Prozess diente zunächst der Beratung wirtschafts-<br />

und währungspolitischer Fragen auf höchster<br />

politischer Ebene sowie dem persönlichen Meinungsaustausch<br />

der beteiligten Staats- und Regierungschefs<br />

(„Kamingespräche“). Das von ursprünglich<br />

sechs auf acht Vollmitglieder (Kanada 1976<br />

�G7;Russland2002)angewachseneGremiumhatin<br />

der Zwischenzeit weitere Themen mit internationalem<br />

Bezug aufgegriffen (z. B. Reform der internationalen<br />

Finanzarchitektur, Schuldenkrise in den Entwicklungsländern,<br />

Bekämpfung des Terrorismus).<br />

Das zentrale Ereignis des Kooperationsprozesses<br />

sind die jährlichen Tagungen der Staats- und Regierungschefs<br />

(Weltwirtschaftsgipfel). Des Weiteren<br />

finden regelmäßig Treffen der Außen- und Finanzminister<br />

sowie der Zentralbankgouverneure der G 8<br />

statt. Ergänzt werden die politischen Tagungen<br />

durch Treffen auf der Stellvertreter- und Arbeitsebene.<br />

Eine besondere Funktion bei der Vorbereitung<br />

der Tagesordnung der Gipfeltreffen erfüllen die persönlichen<br />

Beauftragten der Staats- und Regierungschefs<br />

(„Sherpas“), die von weiteren Ministerialbeamten<br />

unterstützt werden. Die G 8 setzen teilweise<br />

Expertengruppen ein, die ein Dossier aufbereiten<br />

und Vorschläge für eine gemeinsame Strategie der<br />

G 8 erarbeiten.<br />

Die Verantwortung für die Organisation des Kooperationsprozesses<br />

liegt beim Vorsitz, der jährlich unter<br />

den Mitgliedern wechselt (2005: Großbritannien,<br />

2006: erstmals Russland). Die rechtlich unverbindli-<br />

358<br />

G<br />

chen Entscheidungen, Erklärungen, Aktionspläne<br />

undVerpflichtungenderG8,aufdiesichdieMitglieder<br />

im Konsensverfahren einigen, sind politische<br />

Absichtserklärungen, die auf der internationalen<br />

Ebenedurchdasgemeinsame,abgestimmteHandeln<br />

der beteiligten Staaten wirken.<br />

Nach dem Beispiel der G 8 bestehen weitere Kooperationsgremien<br />

mit einer größeren Zahl an Mitgliedern.DieElfergruppe(G10),zudenennebendenG7<br />

Belgien, die Niederlande und Schweden gehören,<br />

Staaten, die die Liquidität des Internationalen Währungsfonds<br />

(IWF) mit Krediten garantieren und sich<br />

in finanzpolitischen Themen beraten. Die Gruppe<br />

der Einundzwanzig (G 20) ist ein seit 1999 bestehendes<br />

Forum für den Dialog der Finanzminister und<br />

Zentralbankgouverneure aus Industrie- und Schwellenländern<br />

insbes. über die Stabilität des in internationalen<br />

Finanz- und Währungssystems. Zu den G 20<br />

gehören neben den G 8 Argentinien, Australien, Brasilien,<br />

China, Indien, Indonesien, Mexiko, Saudi<br />

Arabien,Südafrika,Südkorea,dieTürkeiunddieEU<br />

sowie, als ex-officio-Mitglieder, der IWF und die<br />

Weltbank. F. Sch.<br />

Literatur:<br />

James, H.: Rambouillet, 15. 11. 1975. Die Globalisierung der<br />

Wirtschaft. München 1997<br />

Hajnal, Peter I.: The G7/G8 System: Evolution, Role, and<br />

Documentation. Aldershot 1999<br />

Internet:<br />

www.g7.utoronto.ca (G 8 Information Centre)<br />

Galileo heißt das von der �ESA entwickelte Satellitennavigationsprogramm<br />

für <strong>Europa</strong>, das sich seit<br />

Ende 2003 in der Entwicklungs- und Testphase befindet.<br />

Vor Ende 2005 soll der erste Experimentalsatellit<br />

ins Weltall gestartet werden. Die Errichtungsphase<br />

soll 2008 abgeschlossen sein. Galileo wird das<br />

europäische Gegenstück zum amerikanischen<br />

GPS-System werden.<br />

InderEndstufewerden27Betriebssatelliten(undzusätzlich<br />

3 Satelliten zur Reserve) in 23.222 km Höhe<br />

auf drei kreisrunden Erdumlaufbahnen und einer<br />

Neigung von 56° zum Äquator die Erde umkreisen.<br />

Ein dichtes Netzwerk von Bodenstationen und weiteren<br />

Servicestellen soll für reibungslosen Betrieb


sorgen. Die EU ist an dem Projekt beteiligt. Der Europäische<br />

Rat hat auf seinem Treffen in Barcelona im<br />

März 2002 grünes Licht für das Projekt gegeben. Am<br />

Rande des Gipfeltreffens in Dublin wurde mit den<br />

USA am 26. 6. 2004 ein Kooperationsabkommen unterzeichnet,<br />

das die Kompatibilität des europäischen<br />

und des amerikanischen Satellitennavigationssystems<br />

gewährleisten soll. Im Verbund mit GPS und<br />

dem russischen System GLONASS soll Galileo zum<br />

weltweiten Standard für satellitengestützte Navigation<br />

werden.<br />

Schon jetzt bietet das Programm EGNOS (European<br />

Geostationary Navigation Overlay Service) Dienste<br />

an, die später GALILEO liefern wird. EGNOS nutzt<br />

die Signale von GPS und GLONASS und optimiert<br />

siefürreinzivileVerwendungin<strong>Europa</strong>.EinSystem<br />

von 34 Ortungsstationen und 4 Kontrollzentren ist<br />

untereinander vernetzt. EGNOS ist die erste Etappe<br />

des globalen Satellitennavigationssystems (GNSS<br />

1) und wird bei Inbetriebnahme von GALILEO in<br />

dieses Programm eingebunden (GNSS 2).<br />

GAP �Gemeinsame Agrarpolitik<br />

Garantiefonds Ausrichtungs- und Garantiefonds<br />

für die Landwirtschaft (EAGFL) �Fonds der EU<br />

GASP � Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik<br />

GASP-Haushalt. Bezeichnung für den Teil des<br />

Haushalts der Europäischen Gemeinschaft, der den<br />

operativen Ausgaben im Rahmen der �GASP vorbehalten<br />

ist. Rechtsgrundlage für Ausgaben aus dieser<br />

Linie ist in der Regel eine �Gemeinsame Aktion.<br />

�Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik<br />

(GASP), �Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik<br />

(ESVP), �Haushalt der Europäischen<br />

Union U. S.<br />

GATS. Kurzbezeichnung für General Agreement on<br />

Trade in Services; völkerrechtlicher Vertrag im institutionellenRahmender�WTO,derdeninternationalen<br />

Handel mit Dienstleistungen regelt (Allgemeines<br />

Übereinkommen über den Handel mit Dienstleistungen).<br />

Das GATS konstituiert eine von den Regelungen für<br />

den Warenhandel eigenständige und gesonderte<br />

OrdnungfürdenHandelmitDienstleistungen.Rege-<br />

GATS<br />

lungstechnisch ist es Bestandteil des Übereinkommens<br />

zur Errichtung der WTO (Anhang 1B). Der Begriff<br />

„Dienstleistung“ wird von dem Übereinkommen<br />

denkbar weit definiert und erfasst jede Art von<br />

Leistungen mit Ausnahme solcher, die in Ausübung<br />

hoheitlicher Gewalt erbracht werden (Art. I:3 lit. b<br />

GATS). Welche Handlungen als Dienstleistungen<br />

im Sinne des GATS einzuordnen sind, ist einer Liste<br />

des WTO-Sekretariats zu entnehmen, die zwölf Kategorien<br />

von Dienstleistungen systematisiert. In<br />

Struktur und Regelungsinhalt ist das GATS mit dem<br />

�GATT vergleichbar, die einzelnen Regelungen<br />

sind jedoch den besonderen Bedingungen des<br />

Dienstleistungshandels angepasst. Der Dienstleistungshandel<br />

betrifft Wirtschaftsvorgänge, die in besonderem<br />

Maße in die jeweilige Wirtschaftsordnung<br />

der WTO-Mitglieder eingebettet sind, wodurch ein<br />

weiterer nationaler Regelungsbedarf entsteht und<br />

letztendlich die Souveränität der WTO-Mitglieder<br />

berührt sein kann.<br />

Das GATS besteht aus einem allgemeinen Teil, den<br />

spezifischen Verpflichtungen der WTO-Mitglieder<br />

und Regelungen für besondere Liberalisierungsbereiche.<br />

Der allgemeine Teil konkretisiert den Anwendungsbereich<br />

des GATS, in dem vier verschiedene<br />

Erbringungsformen unterschieden werden<br />

(Art. I:2 lit. a–dGATS):<br />

– die Erbringung einer Dienstleistung von dem Hoheitsgebiet<br />

eines WTO-Mitglieds aus in das Gebiet<br />

eines anderen WTO-Mitglieds, so dass nur die<br />

Dienstleistung die Grenze passiert (cross-border<br />

supply);<br />

– Dienstleistungen im Hoheitsgebiet eines WTO-<br />

Mitglieds, die gegenüber einer zuvor aus dem Gebiet<br />

eines anderen WTO-Mitglieds eingereisten Person<br />

erbracht werden (consumption abroad),<br />

– die Erbringung einer Dienstleistung durch eine Repräsentanz<br />

in dem Hoheitsgebiet eines anderen<br />

WTO-Mitglieds (commercial presence) sowie<br />

– die Anwesenheit natürlicher Personen als Dienstleistungserbringer<br />

in dem Hoheitsgebiet eines anderenWTO-Mitglieds(presenceofnaturalpersons).DesWeiterengeltenderGrundsatzderMeistbegünstigung,<br />

der jedoch durch ausdrücklich zu nennende<br />

Ausnahmen eingeschränkt werden kann (Art. II<br />

GATS), sowie der Grundsatz der Transparenz in Bezug<br />

auf handelsbeschränkende Gesetze (Art. III<br />

GATS). Das GATS enthält ferner Ansätze einer Regelung<br />

der Anerkennung ausländischer Qualifika-<br />

359


GATT<br />

tionen und der Subventionierung nationaler Dienstleistungen.<br />

Das Recht auf Marktzugang und der<br />

Grundsatz der Inländergleichbehandlung werden<br />

nur im Rahmen der spezifischen Verpflichtung gewährleistet,<br />

die für jedes WTO-Mitglied in einer Liste<br />

aufgeführt werden. Die WTO-Mitglieder können<br />

auf diese Weise festlegen, für welche Dienstleistungen<br />

der nationale Markt in welchem Umfang geöffnet<br />

wird. Der dritte Teil des GATS enthält Sonderregelungen<br />

für Dienstleistungsbereiche, in denen die<br />

WTO-Mitglieder zu einer Liberalisierung zunächst<br />

nicht bereit waren (bspw. Finanz-, Luft- und Seeverkehrs-<br />

sowie Telekommunikationsdienstleistungen).<br />

Das GATS verpflichtet die WTO-Mitglieder zu weiteren<br />

Verhandlungen über die Liberalisierung des<br />

Dienstleistungshandels (Art. XIX:1 GATS), die im<br />

Jahr 2000 aufgenommen wurden und sich auf alle<br />

Dienstleistungssektoren erstrecken. Die Verhandlungen<br />

verdeutlichen jedoch, dass die konkrete Ausgestaltung<br />

des Dienstleistungssektors von der kulturellenIdentitätderStaatenabhängtunddieFolgeneiner<br />

mit der weiteren Liberalisierung verbundenen<br />

Entdifferenzierung nicht eingeschätzt werden können.<br />

F. Sch.<br />

Text: BGBl. 1994 II, S. 1643; ABl. 1994 Nr. L 336, S. 190<br />

Literatur:<br />

Köhler, M.: Das Allgemeine Übereinkommen über den Handel<br />

mit Dienstleistungen (GATS). Berlin 1999<br />

Stoll, P.-T./Schorkopf, F.: WTO – Welthandelsordnung und<br />

Welthandelsrecht. Köln u.a. 2002, Rn. 517 ff.<br />

World Trade Organization: Guide to the GATS.<br />

London et al. 2001<br />

Internet:<br />

www.wto.org/english/tratop_e/serv_e/serv_e.htm (WTO<br />

Dienstleistungsportal)<br />

GATT. Kurzbezeichnung für (1) das Allgemeine<br />

Zoll- und Handelsabkommen (General Agreement<br />

on Tariffs and Trade – GATT) und (2) das gesamte<br />

Regime zur Liberalisierung des Welthandels.<br />

1. Das ursprüngliche General Agreement on Tariffs<br />

and Trade vom 30. 10. 1947 (GATT 1947) wurde als<br />

multilaterale Vereinbarung mit dem Ziel des Abbaus<br />

von Zöllen und anderen Handelshemmnissen von<br />

zunächst 23 Staaten mit Wirkung zum 1. 1. 1948 in<br />

Kraft gesetzt.<br />

Das GATT 1947 ist aus der letztendlich gescheiterten<br />

Havanna-Charta für eine internationale Handelsorganisation<br />

(International Trade Organization –<br />

ITO) hervorgegangen. Die ITO sollte neben dem In-<br />

360<br />

ternationalen Währungsfond (IWF) und der Internationalen<br />

Bank für Wiederaufbau und Entwicklung<br />

(Weltbank) die dritte Institution der neuen internationalen<br />

Wirtschaftsordnung nach dem Zweiten<br />

Weltkrieg werden. Die Handelsorganisation konnte<br />

allerdings nicht errichtet werden, weil das Übereinkommen<br />

vom US-amerikanischen Senat nicht ratifiziert<br />

wurde.<br />

Bei dem GATT handelt es sich um die materiellen<br />

Teilergebnisse der Genfer Konferenz von 1947. NebendemEntwurfeinerChartafürdieITOwurdenauf<br />

jener Konferenz auch Verhandlungen über die gegenseitige<br />

Senkung von Zöllen (engl. tariffs) und<br />

über „generelle Prinzipien“ im Zusammenhang mit<br />

den tarifären Verpflichtungen geführt. Diese beiden<br />

Regelungsbereiche bilden das GATT 1947. Als der<br />

Ratifikationsprozess scheiterte, wurde das GATT<br />

1947 bereits vorläufig angewendet. Diese faktische<br />

Entwicklung wurde durch das „Protokoll über seine<br />

vorläufige Anwendung“ rechtlich nachvollzogen,<br />

was möglich war, weil diese Form der Anwendung<br />

des GATT nicht von den USA ratifiziert werden<br />

musste. Der Rechtszustand der vorläufigen Anwendung<br />

wurde stetig verlängert und die Verwaltung einer<br />

bereits bestehenden Interimskommission übertragen,<br />

aus der sich später das GATT-Sekretariat in<br />

Genf entwickelte. Die Bundesrepublik Deutschland<br />

und die Republik Österreich wurden 1951, die<br />

Schweiz 1966 GATT-Mitglieder; auf Grund der ausschließlichen<br />

Kompetenz der EG für die Handelspolitik<br />

übernahm die Kommission faktisch die Vertretung<br />

der EG-Mitgliedstaaten im GATT. Das Provisorium<br />

„GATT“ wurde über die Jahrzehnte zu einer<br />

ständigen Einrichtung, deren Status sich als de facto--<br />

Organisation beschreiben lässt. Der Begriff<br />

„GATT“ wird deshalb häufig auch zur Bezeichnung<br />

der Organisation verwendet. Ende 1994 waren 128<br />

Staaten Vertragsparteien des GATT 1947.<br />

Das GATT ist die rechtliche Umsetzung der handelspolitischen<br />

Konzeption des Freihandels. Der Freihandelstheorie<br />

liegt die These zugrunde, dass ein<br />

möglichst unbehinderter Handel zwischen den Staaten<br />

allen beteiligten Volkswirtschaften nützt, auch<br />

wenndieseunterschiedlichleistungsfähigundunterschiedlich<br />

entwickelt sind. Das GATT verfolgt das<br />

konkrete Ziel, durch die mit dem Abbau von Zöllen<br />

und �nichttarifären Handelshemmnissen verbundene<br />

Liberalisierung der internationalen Handels- und<br />

Wirtschaftsbeziehungen den Warenaustausch zu


steigern, so dass der Lebensstandard erhöht, Vollbeschäftigung<br />

verwirklicht und insgesamt das Realeinkommen<br />

steigt. Die Ziele des GATT, die in der Präambel<br />

des Übereinkommens enthalten sind, werden<br />

nach dem Inkrafttreten des WTO-Übereinkommens<br />

von weiteren Zielvorgaben wie etwa der nachhaltigenEntwicklungunddesUmweltschutzesergänzt.<br />

Das GATT-Handelsregime wurde in insgesamt acht<br />

mehrjährigen Verhandlungsrunden (GATT-Runden)<br />

fortentwickelt. Während in den ersten GATT-<br />

Runden die weitere Zollsenkung im Vordergrund<br />

stand, wurden die Verhandlungen seit der Kennedy-<br />

Runde (1964 – 67) um neue Themen, u. a. Antidumping,<br />

Subventionen und Ausgleichszölle, technische<br />

Handelshemmnisse, Einfuhrlizenzen und öffentliches<br />

Auftragswesen, ergänzt. Eine Zäsur in der Geschichte<br />

des GATT ist die Uruguay-Runde (1986 –<br />

94). Bereits kurz nach Abschluss der Tokyo-Runde<br />

(1973 – 79) wurde der Bedarf für eine weitere Welthandelsrunde<br />

erkannt, weil der zunehmende Anteil<br />

von Dienstleistungen am Welthandel deren Einbeziehung<br />

in das GATT notwendig machte und insbesondere<br />

die Industriestaaten die Schaffung eines<br />

handelspolitischen Regimes für den Schutz des geistigen<br />

Eigentums forderten. Darüber hinaus zeigten<br />

sich die institutionellen Regelungen des GATT, vor<br />

allem dessen Streitschlichtung, zunehmend als überfordert<br />

und ineffektiv. Der Umstand, dass jedes ergänzende<br />

Übereinkommen seinen eigenen Kreis von<br />

Vertragsparteien hatte, führte zu einer erheblichen<br />

Fragmentierung des GATT („balkanization“).<br />

Die Uruguay-Runde endete mit Unterzeichnung der<br />

Schlussakte am 15. 4. 1994 und führte zur Errichtung<br />

der Welthandelsorganisation (�WTO) zum 1. 1.<br />

1995. Diese institutionelle Neuerung war für das<br />

GATT von Bedeutung, weil das Übereinkommen<br />

über die Errichtung der Welthandelsorganisation<br />

nicht nur eine institutionelle Struktur der WTO begründet<br />

hat, sondern auch einen Rechtsrahmen für<br />

die Verwaltung der materiellen Handelsübereinkommen<br />

bildet, zu denen auch das GATT gehört.<br />

Das GATT von 1947 mit seinen Änderungen und Ergänzungen<br />

(GATT 1947) wurde in der Uruguay-<br />

Runde um eine Reihe von Vereinbarungen erweitert,<br />

in den Anhang 1A des WTO-Übereinkommens aufgenommen<br />

und als reformiertes „GATT 1994“ fortgeführt.<br />

Das GATT 1994 besteht aus mehreren Rechtsakten,<br />

die durch einen Einführenden Text (Introductory<br />

GATT<br />

Note) regelungstechnisch zu einem Übereinkommen<br />

verbunden werden. Die einzelnen Bestandteile<br />

sind das GATT 1947 mit den Protokollen, Listen der<br />

Zugeständnisse (schedules of concessions) und Ausnahmegenehmigungen<br />

(waiver), die im Rahmen der<br />

Uruguay-Runde ausgehandelten neuen Listen der<br />

Zollzugeständnisse (Marakesch-Protokoll) und<br />

sechs Vereinbarungen, die einzelne GATT-Vorschriften<br />

auslegen.<br />

Die Kernvorschriften des GATT 1994 sind das Gebot<br />

der �Meistbegünstigung und die Regelungen zu<br />

den Zöllen und zollgleichen Abgaben auf Waren<br />

(Art. I–II), der Grundsatz der Inländergleichbehandlung<br />

(national treatment, Art. III), die Regelungen zu<br />

den �nichttarifären Handelshemmnissen (Art. III –<br />

XIX) mit ihrem Verbot mengenmäßiger Beschränkungen<br />

(Art. XI), zum Anwendungsbereich und die<br />

Fortentwicklung des Übereinkommens sowie die<br />

Regelungen zur Thematik „Handel und Entwicklung“(Art.XXXVI–XXXVIII),dieGrundsätzeund<br />

Ziele,VerpflichtungenundgemeinsameMaßnahmen<br />

im Hinblick auf die Entwicklungsländer enthalten.<br />

DasGATT1994wirdergänztdurch12weitereÜbereinkommen<br />

über den Warenhandel, die ebenfalls<br />

dem Anhang 1A des WTO-Übereinkommens zugeordnet<br />

sind. Es handelt sich dabei um völkerrechtliche<br />

Verträge, die speziellen Sektoren des Warenhandels<br />

(bspw. Textilien, Landwirtschaft, Investitionsmaßnahmen)<br />

oder problematischen Einzelfragen<br />

(bspw. Ursprungsregeln, Subventionen, Antidumping)<br />

gewidmet sind. Die Vorschriften dieser Übereinkommen<br />

gelten gegenüber dem GATT 1994 im<br />

Fall eines Normkonflikt als vorrangig anzuwendendes<br />

Recht (lex specialis).<br />

2. Der Begriff „GATT“ wurde auch als Synonym für<br />

das internationale Handelsregime verwendet. In dieserFunktionwirderinzunehmendemMaßeabgelöst<br />

durch den Hinweis auf die WTO und die von ihr verkörperteWelthandelsordnung.<br />

F. Sch.<br />

Literatur:<br />

Jackson, J. H.: The World Trading System. Cambridge 1997 2<br />

Senti, R.: GATT – Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen<br />

als System der Welthandelsordnung. Zürich 1986<br />

Stoll, P.-T./Schorkopf, F.: WTO – Welthandelsordnung und<br />

Welthandelsrecht. Köln u. a. 2002<br />

Weiß, W. / Herrmann, C.: Welthandelsrecht. München 2003<br />

Tietje, Ch. (Hg.): Welthandelsorganisation (Textsammlung).<br />

München 2003 2<br />

WTO Sekretariat (Hg.): Guide to GATT Law & Practice:<br />

Analytical Index. 1995<br />

Internet: www.wto.org<br />

361


Gaulle<br />

Gaulle, Charles de (1890 – 1970), französischer General<br />

und Politiker, u. a. Staatspräsident (1958 –<br />

1969); schloss mit Konrad �Adenauer 1963 den<br />

Deutsch-Französischen Freundschaftsvertrag. Er<br />

trat ein für ein �„<strong>Europa</strong> der Vaterländer“ mit selbständigen<br />

Einzelstaaten (Staatenbund); seine �Politik<br />

des „leeren Stuhls“ führte 1965 zur ersten großen<br />

Krise der EG.<br />

Géant (Gigabit European Academic Network) ist<br />

das Kommunikationsnetz, das über 3000 Forschungs-<br />

und Entwicklungseinrichtungen in 32 europäischen<br />

Ländern miteinander verbindet. WährenddasVorgängernetzTEN-155dieATM-Technologie<br />

(Asynchronous Transfer Mode) benutzte und<br />

Leistungskapazitäten von 155 bis 622 Megabit pro<br />

Sekunde besaß, arbeitet Géant mit der neueren und<br />

skalierbaren DWDM-Technologie (Dense Wavelength<br />

Division Multiplexing) mit Kapazitäten von<br />

2,5 bis 10 Gigabit pro Sekunde. Eine 10-GBit-Leitung<br />

zwischen <strong>Europa</strong> und den USA ist geplant.<br />

Auch der asiatische Raum wird mit direkter Verbindung<br />

an Géant angeschlossen werden. �Dante<br />

GebieteinäußersterRandlagesinddieinArt.299<br />

Abs. 2 EGV genannten sieben Regionen Guadeloupe,<br />

Guayana, Martinique, Réunion (französische überseeische<br />

Departements), die Kanarischen Inseln<br />

(Spanien) sowie die Azoren und Madeira (Portugal),<br />

für die der EG-Vertrag uneingeschränkt gilt. Sie sind<br />

gekennzeichnet durch große Entfernung zum europäischen<br />

Festland, geringe Bevölkerung, Insellage<br />

(mit Ausnahme von Guayana) und andere strukturelle<br />

Nachteile. Andererseits sind sie „Vorposten“ der<br />

EU in Nachbarschaft zu Entwicklungsländern und<br />

tragen erheblich dazu bei, dass die Union weltweit<br />

über die größte Meeresfläche mit einer Wirtschaftszone<br />

von 25 Mio. qkm verfügt.<br />

Alle sieben Regionen zählen im Zeitraum 2000 bis<br />

2006 zu den besonders begünstigten Ziel 1-Gebieten<br />

der Regionalpolitik. Außerdem können gem. Art.<br />

299 Abs. 2 vom Rat mit qualifizierter Mehrheit besondere<br />

Maßnahmen beschlossen werden, um die<br />

Einbeziehung dieser Gebiete in den Binnenmarkt<br />

und die gemeinschaftlichen Politikbereiche zu erleichtern.<br />

Gebrauchsmuster �Harmonisierungsamt für den<br />

Binnenmarkt<br />

362<br />

Gefechtsfeldverbandkonzept („battle group concept“).<br />

Bezeichnung für die auf der Grundlage eines<br />

gemeinsamen Vorschlags von Frankreich, Großbritannien<br />

und Deutschland beschlossene Initiative des<br />

Europäischen Rats (ER) vom 17. 6. 2004 zur Schaffung<br />

mobiler Spezialkräfte im Rahmen der �Europäischen<br />

Sicherheits- und Verteidigungspolitik<br />

(ESVP). Die Gefechtsfeldverbände sollen einen hohenBereitschaftsgradaufweisenundinschwierigem<br />

Umfeld eingesetzt werden können. Die Initiative<br />

dient dazu, im Einklang mit gleichgerichteten Anstrengungen<br />

der NATO die Fähigkeit der EU zur raschen<br />

Bewältigung von Krisen zu verstärken und damit<br />

zugleich eine Lücke im angestrebten Fähigkeitsprofil<br />

der ESVP zu schließen. Die GefechtsfeldverbändewerdeninStärkevonjeweilsetwa1500Soldaten<br />

einschl. geeigneter Unterstützungselemente innerhalb<br />

von 15 Tagen verlegbar sein und eigenständig<br />

oder im Rahmen einer umfassenderen Operation<br />

auch in Einsätzen hoher Intensität operieren (oberes<br />

Spektrum der �„Petersberg Aufgaben“). Die Verbände<br />

sind speziell, aber nicht ausschließlich dafür<br />

bestimmt, auf Ersuchen der Vereinten Nationen hin<br />

zu handeln. Ziel ist die Aufstellung in einer Übergangsphase<br />

bis 2005 von zwei bis drei Verbänden<br />

und von sieben bis neun Verbänden bis zur HerstellungdervollenEinsatzfähigkeitab2007.<br />

U. S.<br />

Gegenseitige Amtshilfe zwischen den Zollverwaltungen<br />

soll es ermöglichen, in Zusammenarbeit<br />

mit der Kommission grenzüberschreitende Delikte<br />

effektiver zu verhindern, zu verfolgen oder gegen sie<br />

zu ermitteln. Sie wurde vereinbart durch ein Übereinkommen<br />

der Mitgliedstaaten im Rahmen der<br />

�PJZS (Art. 34 Abs. 2 lit. d EUV) vom 18. 12. 1997,<br />

dem sog. Neapel II-Abkommen (ABl. Nr. C 24 vom<br />

23. 1. 1998). Die Amtshilfe kann auf Antrag oder<br />

ohne vorherigen Antrag erfolgen und nur in schriftlicher<br />

Form. Das Übereinkommen schließt auch die<br />

gegenseitige Amtshilfe der Justizbehörden im Rahmen<br />

von strafrechtlichen Ermittlungen wegen Zuwiderhandlungen<br />

gegen Zollvorschriften ein.<br />

Für Streitigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten<br />

bzw. zwischen Mitgliedstaaten und der Kommission<br />

bezüglich Auslegung oder Anwendung des Übereinkommens,<br />

die vom Rat nicht innerhalb einer Frist<br />

bzw. durch Verhandlungen beigelegt werden, ist der<br />

EuGH zuständig, ebenso für Vorabentscheidungen<br />

über die Auslegung des Übereinkommens.


Gegenseitige Anerkennung �Prinzip der gegenseitigen<br />

Anerkennung<br />

Gegenseitigkeitsgesellschaft �Europäische Gegenseitigkeitsgesellschaft<br />

Geistiges Eigentum �TRIPS<br />

Geldfälschung, Fälschung des Euro. Grundlage<br />

fürMaßnahmenzumSchutzvorFälschungenderEuro-Banknoten<br />

und -münzen ist das internationale<br />

GenferAbkommenvom20.4.1929zurBekämpfung<br />

der Falschmünzerei, dem die meisten Mitgliedstaaten<br />

der EU beigetreten sind. Ein Rahmenbeschluss<br />

des Rates (2000/383/JI, ABl. L 140/2000), geändert<br />

durch Rahmenbeschluss 2001/888/JI (ABl. L 329/<br />

2001), ergänzt das Abkommen von 1929 und sieht<br />

vor, dass die Mitgliedstaaten wirksame, angemessene<br />

und abschreckende Sanktionen – einschl. Freiheitsstrafen,<br />

die zu einer Auslieferung führen können<br />

– für folgende Straftaten einführen:<br />

– betrügerische Fälschung oder Verfälschung von<br />

Geld;<br />

– betrügerisches In-Umlauf-bringen von falschem<br />

oder verfälschtem Geld;<br />

– Einführen, Ausführen, Transportieren, Annehmen<br />

oder Sichverschaffen von falschem oder verfälschtem<br />

Geld in Kenntnis der Fälschung und in der Absicht,<br />

es in Umlauf zu bringen;<br />

– betrügerisches Anfertigen, Annehmen, Sichverschaffen<br />

oder Besitzen von Gegenständen, Computerprogrammen,<br />

Hologrammen und anderen Mitteln,<br />

die zur Fälschung oder Nachahmung von Geld<br />

bestimmt sind.<br />

Die Höchststrafe wegen betrügerischer Fälschung<br />

oderVerfälschungvonGeldmussinjedemMitgliedstaat<br />

mindestens acht Jahre betragen. Die Gerichtsbarkeit<br />

für Straftaten steht jedem Mitgliedstaat zu, in<br />

dessen Hoheitsgebiet sie begangen worden sind. Im<br />

Falle der Fälschung von Euro-Banknoten und -Münzen<br />

können die Staaten, die den Euro als gesetzliches<br />

Zahlungsmittel eingeführt haben, die Strafverfolgung<br />

unabhängig vom Tatort einleiten.<br />

Wenn ein Straftäter bereits rechtskräftig wegen Fälschung<br />

des Euro verurteilt wurde, anerkennen alle<br />

anderen Mitgliedstaaten im Wiederholungsfalle den<br />

Grundsatz der Rückfälligkeit gem. ihren innerstaatlichen<br />

Rechtsvorschriften.<br />

Die Kommission richtet ein Europäisches techni-<br />

Geldpolitik<br />

sches und wissenschaftliches Zentrum (ETSC) zur<br />

Analyse und Klassifizierung von falschen Euro-Münzen<br />

(gem. Verordnung 1338/2001 vom 28. 6.<br />

2001, ABl. L 181/2001) ein. Das ETSC arbeitet mit<br />

den nationalen Münzanalysezentren zusammen.<br />

Dem�HaagerProgrammentsprechendwirdEuropol<br />

als „Zentralstelle“ (im Sinne des Genfer Abkommens<br />

von 1929) zur Bekämpfung der Eurofälschung<br />

eingerichtet.<br />

In der Zeit von der Einführung des Euro als gesetzlichem<br />

Zahlungsmittel (Bargeld) am 1. 1. 2002 bis<br />

zum Ende des Jahres 2003 wurden 709 577 gefälschte<br />

Euro-Banknoten im Gesamtwert von 36 095 780<br />

Euro aus dem Verkehr gezogen. Im Jahr 2004 lag die<br />

Zahl bei 594 000 gefälschten Banknoten innerhalb<br />

und außerhalb des Euro-Raums; der Schaden wird<br />

mit 34,4 Mio. Euro beziffert. Die Mehrzahl der Fälschungen<br />

wird in Bulgarien, Litauen, Polen, Albanien,<br />

in der Türkei und im Kosovo hergestellt.<br />

Geldpolitik, Europäische<br />

1. Ziele – Darstellung: Der EG-Vertrag gibt dem<br />

�Eurosystem ein eindeutiges Ziel vor. In Art. 105<br />

Abs.1heißtes:„DasvorrangigeZieldesESZBistes,<br />

die Preisstabilität zu gewährleisten.“ Gleichzeitig<br />

verpflichtet der EG-Vertrag das Eurosystem freilich<br />

auch, die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Gemeinschaft<br />

zu unterstützen, um zur Verwirklichung<br />

der in Art. 2 EGV festgelegten Ziele der Gemeinschaft<br />

beizutragen. Bei diesen Zielen handelt es sich<br />

vor allem um ein beständiges Wirtschaftswachstum,<br />

einen hohen Beschäftigungsstand und einen hohen<br />

Lebensstandard. Zur Unterstützung der allgemeinen<br />

Wirtschaftspolitik ist das Eurosystem jedoch nur insoweit<br />

verpflichtet, als dies „ohne Beeinträchtigung<br />

des Zieles der Preisstabilität möglich ist“ (Art. 105<br />

Abs. 1 EGV).<br />

2. Ziele – Bewertung: Dass das Eurosystem auf das<br />

vorrangigeZielderPreisstabilitätverpflichtetistund<br />

die allgemeine Wirtschaftspolitik in der EU nur unterstützendarf,soweitdadurchdieErreichungdieses<br />

Ziels nicht gefährdet wird, ist uneingeschränkt positiv<br />

zu bewerten. Eine Vielzahl eingehender theoretischer<br />

und empirischer Studien hat ergeben, dass<br />

Preisniveaustabilität beträchtliche Vorteile mit sich<br />

bringt. Erstens verbessert sie die Signalfunktion der<br />

relativen Preise, die durch Inflation erheblich beeinträchtigt<br />

wird, und erhöht damit die Effizienz der Allokation<br />

der Produktionsfaktoren. Zweitens mini-<br />

363


Geldpolitik<br />

miert ein stabiles Preisniveau die in langfristigen<br />

Zinssätzen enthaltenen Inflationsrisikoprämien und<br />

verbilligt damit die Finanzierung von Investitionen.<br />

Drittens müssen bei Preisniveaustabilität keine Kosten<br />

zur Absicherung gegen unerwünschte Folgen der<br />

Inflation aufgewendet werden (z. B. Neuerstellung<br />

von Preislisten, Neuverhandlung von Kauf-, Kreditund<br />

Tarifverträgen). Drittens entfallen bei Preisniveaustabilität<br />

die Besteuerung inflationsbedingter<br />

Scheingewinne und die „kalte Progression“, bei der<br />

Einkommensbezieher inflationsbedingt in höhere<br />

Progressionsstufen hineinwachsen. Und viertens<br />

wird die bei Inflation auftretende große und willkürliche<br />

Änderung der Einkommens- und Vermögensverteilung<br />

vermieden, die vor allem Kleinsparer,<br />

Rentner und Arbeitnehmer benachteiligt. Aufgrund<br />

dieser Vorteile trägt Preisniveaustabilität auch zu einem<br />

beständigen Wirtschaftswachstum, einem hohen<br />

Beschäftigungsstand und einem hohen Lebensstandard<br />

bei.<br />

3. Instrumente – Darstellung: Das Eurosystem verfügt<br />

über ein umfassendes Instrumentarium, das sich<br />

in drei Gruppen einteilen lässt: Offenmarktgeschäfte,<br />

ständige Fazilitäten und Mindestreserven. Das<br />

Kernstück des Instrumentariums bilden die Offenmarktgeschäfte.<br />

Zu ihnen zählen die Hauptrefinanzierungsgeschäfte,<br />

längerfristige Refinanzierungsgeschäfte,<br />

Feinsteuerungsoperationen und strukturelle<br />

Operationen.<br />

Bei den Hauptrefinanzierungsgeschäften handelt es<br />

sich um wöchentlich stattfindende liquiditätszuführende<br />

Transaktionen mit einer Laufzeit von einer<br />

Woche (bis Februar 2004 Laufzeit zwei Wochen).<br />

An diesen Transaktionen, die bislang knapp drei<br />

VierteldesgesamtenRefinanzierungsvolumensausmachten,<br />

können alle Geschäftsbanken teilnehmen,<br />

die die allgemeinen Zulassungskriterien des Eurosystems<br />

erfüllen. Üblicherweise beteiligen sich jedochnurrund350größereKreditinstitute.DieLiquiditätszuführung<br />

wird mit Hilfe sog. Tenderverfahren<br />

durchgeführt, d. h. durch die Versteigerung von Zentralbankgeld.<br />

Anfangs erfolgte die Zuteilung im<br />

Rahmen von Mengentendern (d. h. zu einem von der<br />

EZB jeweils vorgegebenen Zinssatz), seit Mitte<br />

2000 im Rahmen marktnäherer Zinstender (d. h. zu<br />

Zinssätzen, die die Geschäftsbanken auf der Grundlage<br />

eines von der EZB jeweils vorgegebenen Mindestbietungssatzes<br />

bieten). Der Umfang der Liquiditätszuführung<br />

wird bei beiden Verfahren jeweils auf<br />

364<br />

Basis der betragsmäßigen Geschäftsbankengebote<br />

von der EZB bestimmt. Am Ende der Laufzeit eines<br />

jeden Hauptrefinanzierungsgeschäfts fließt das anfangs<br />

zugeteilte Zentralbankgeld automatisch zum<br />

Eurosystem zurück. Die Funktion der Hauptrefinanzierungsgeschäfte<br />

besteht in der Steuerung der Zinssätze<br />

und der Liquidität am Geldmarkt sowie in der<br />

Signalisierung des geldpolitischen Kurses (über den<br />

vom EZB-Rat festgesetzten Hauptrefinanzierungssatz).<br />

Die längerfristigen Refinanzierungsgeschäfte, auf<br />

die bislang gut ein Viertel des Refinanzierungsvolumens<br />

entfielen, werden monatlich im Tenderverfahren<br />

durchgeführt, bislang ausschließlich als Zinstender<br />

(im Unterschied zu den Hauptrefinanzierungsgeschäften<br />

ohne Mindestbietungssatz). Ihre Laufzeit<br />

beträgt drei Monate. Ansonsten entsprechen sie den<br />

Hauptrefinanzierungsgeschäften. Mit den längerfristigen<br />

Refinanzierungsgeschäften soll verhindert<br />

werden, dass die gesamte Liquidität jede Woche<br />

(bzw. bis Februar 2004 alle zwei Wochen) umgeschlagen<br />

werden muss. Den Kreditinstituten soll<br />

eine längerfristige Basisrefinanzierung ermöglicht<br />

werden. Obwohl mit den längerfristigen Refinanzierungsgeschäften<br />

ursprünglich auch beabsichtigt<br />

war, kleineren, weniger geldmarktaktiven Kreditinstituten<br />

eine Refinanzierung direkt bei der Zentralbank<br />

zu ermöglichen, nehmen an diesen Geschäften<br />

bisher meist nur rund 150 Kreditinstitute teil, darunter<br />

kaum kleinere.<br />

OffenmarktgeschäftekönnenauchfallweiseinForm<br />

sog. Feinsteuerungsoperationen durchgeführt werden.<br />

Damit kann Liquidität abgeschöpft oder auch<br />

zugeführt werden. Möglich sind etwa Käufe oder<br />

Verkäufe von Wertpapieren am Geldmarkt, Devisenswapgeschäfte<br />

oder die Hereinnahme von Termineinlagen.<br />

An Feinsteuerungsoperationen werden<br />

oftnurgroßeGeschäftsbankenbeteiligt;dadurchkönnen<br />

sie besonders schnell abgewickelt werden.<br />

Grundsätzlich sind sie dazu gedacht, die Zinswirkungen<br />

unerwarteter Liquiditätsschwankungen am Geldmarkt<br />

abzufedern. Sie können auch zur Unterstützung<br />

eines reibungslosen Funktionierens des Geldmarkts<br />

und zur Liquiditätsbereitstellung in extremen Ausnahmesituationen<br />

durchgeführt werden, wie dies<br />

nach den Terroranschlägen vom 11. 9. 2001 der Fall<br />

war. Seit Beginn der dritten Stufe der Währungsunion<br />

wurden im Durchschnitt lediglich rund zwei Feinsteuerungsoperationen<br />

pro Jahr durchgeführt.


Strukturelle Operationen können dazu genutzt werden,<br />

die fundamentale Liquiditätsposition des Geschäftsbankensystems<br />

gegenüber dem Eurosystem<br />

auflängereSichtzubeeinflussen.Siekönnensowohl<br />

zur Liquiditätsbereitstellung als auch zur Liquiditätsabschöpfung<br />

eingesetzt werden. Möglich sind<br />

etwa Käufe oder Verkäufe von Wertpapieren und die<br />

Emission eigener Schuldverschreibungen. Bislang<br />

hat das Eurosystem noch keine strukturellen Operationen<br />

durchgeführt.<br />

ImGegensatzzudenOffenmarktgeschäften,dieausschließlich<br />

von der EZB initiiert werden und deren<br />

Umfang von ihr bestimmt wird, können die ständigen<br />

Fazilitäten von den Geschäftsbanken auf eigene<br />

Initiative und grundsätzlich in unbegrenztem Umfanggenutztwerden.ImRahmenderSpitzenrefinanzierungsfazilität,<br />

die zur Deckung eines kurzfristigen<br />

Liquiditätsbedarfs dient, können sich die Geschäftsbanken<br />

jeweils bis zum nächsten Geschäftstag<br />

Zentralbankgeld zu einem von der EZB im<br />

Voraus bekannt gegebenen Zinssatz beschaffen. AbgesehenvoneinerkurzenPhasezuBeginnderdritten<br />

Stufe der Währungsunion lag dieser Zinssatz bislang<br />

stets um einen Prozentpunkt über dem Hauptrefinanzierungssatz<br />

(bei Zinstendern um einen Prozentpunkt<br />

über dem Mindestbietungssatz). Im Rahmen<br />

der Einlagefazilität können die Geschäftsbanken jeweils<br />

bis zum nächsten Geschäftstag Zentralbankgeldüberschüsse<br />

zu einem von der EZB im Voraus<br />

bekannt gegebenen Zinssatz anlegen. Dieser Zinssatzlag(voneinerkurzenPhasezuBeginnderdritten<br />

Stufe abgesehen) bislang stets um einen Prozentpunkt<br />

unter dem Hauptrefinanzierungssatz (bei Zinstendern<br />

um einen Prozentpunkt unter dem Mindestbietungssatz).<br />

Die Zinssätze der ständigen Fazilitäten<br />

bilden damit die Ober- und Untergrenze des Tagesgeldsatzes<br />

am Geldmarkt. Dadurch wird die<br />

Schwankungsbreite des Tagesgeldsatzes begrenzt.<br />

Außerdem kann der EZB-Rat mit den Zinssätzen für<br />

die ständigen Fazilitäten Signale über die generelle<br />

Ausrichtung der Geldpolitik geben.<br />

Im Rahmen der Mindestreservepolitik sind die Geschäftsbanken<br />

verpflichtet, Guthaben in Höhe eines<br />

bestimmten Prozentsatzes ihrer Verbindlichkeiten<br />

gegenüber Nichtbanken beim Eurosystem zu unterhalten.<br />

Mindestreservepflichtig sind Verbindlichkeiten<br />

aus täglich fälligen Einlagen, Einlagen und<br />

SchuldverschreibungenmiteinerLaufzeitoderKündigungsfrist<br />

von bis zu zwei Jahren und Verbindlich-<br />

Geldpolitik<br />

keiten aus Geldmarktpapieren. Der MindestreservesatzbetrugbislangdurchgängigundfüralldieseVerbindlichkeiten<br />

einheitlich 2 %. Mindestreservepflichtig<br />

sind grundsätzlich auch Verbindlichkeiten<br />

aus langfristigen Einlagen und Schuldverschreibungen<br />

sowie aus Repogeschäften; für diese Verbindlichkeiten<br />

galt jedoch bislang ein Reservesatz von<br />

0 %. Die Mindestreserveguthaben werden zum<br />

Hauptrefinanzierungssatz verzinst, so dass der Wettbewerb<br />

durch die Mindestreservepflicht praktisch<br />

nicht zu Lasten der Kreditinstitute in Euroland verzerrt<br />

wird. Die Mindestreservepflicht soll erstens sicherstellen,<br />

dass die Geschäftsbanken auf Zentralbankgeld<br />

angewiesen bleiben. In der Tat war sie bislangfürmehralsdieHälftedesgesamtenLiquiditätsbedarfs<br />

der Banken verantwortlich. Da die Mindestreserven<br />

nur im Durchschnitt jeder rund einmonatigen<br />

Mindestreserve-Erfüllungsperiode gehalten<br />

werden müssen, dienen sie zweitens als Liquiditätspuffer<br />

und damit zur Dämpfung von Zinsschwankungen<br />

am Geldmarkt.<br />

4. Instrumente – Bewertung: Das geldpolitische Instrumentarium<br />

hat sich bewährt. Es erlaubt dem Eurosystem,<br />

das ihm vorgegebene Ziel wirksam zu verfolgen.DasEurosystemistmitseinenInstrumentenin<br />

der Lage, die Liquidität und die Zinssätze am Geldmarkt<br />

reibungslos zu steuern. In der Regel reichten<br />

dazu bislang das Mindestreservesystem und die<br />

Hauptrefinanzierungsgeschäfte aus. Der Rückgriff<br />

auf die ständigen Fazilitäten blieb gering, und Feinsteuerungsoperationen<br />

wurden nur selten durchgeführt.DasInstrumentariumerlaubtdemEZB-Ratdarüber<br />

hinaus, die intendierten geldpolitischen SignaleklarandieKreditinstituteundandieÖffentlichkeit<br />

zu übermitteln.<br />

Die Offenmarktgeschäfte versetzen das Eurosystem<br />

in die Lage, Volumina und Konditionen der Zentralbankgeldversorgung<br />

gezielt zu steuern, erforderlichenfalls<br />

auch kurzfristig massiv zu variieren. Auch<br />

sind sie so differenziert, dass selbst in außergewöhnlichen<br />

Situationen passende Instrumente zur Verfügung<br />

stehen. Zugleich entsprechen Offenmarktgeschäfte<br />

weitgehend marktwirtschaftlichen Prinzipien,<br />

denn das Eurosystem tritt dabei als Teilnehmer<br />

auf dem Geldmarkt auf (allerdings als ein besonderer).<br />

Mit Hilfe der ständigen Fazilitäten kann die EZB insbes.<br />

die Grundausrichtung ihrer Geldpolitik signalisieren,<br />

die kurzfristigen Zinsen stabilisieren und un-<br />

365


Geldpolitik<br />

vorhergesehene Liquiditätsengpässe im Bankensystem<br />

beseitigen.<br />

Das Mindestreservesystem ist weniger marktkonform<br />

als die Offenmarktgeschäfte. Gleichwohl ist es<br />

notwendig, denn es trägt erheblich zur Effektivität<br />

der Geldpolitik bei – vor allem dadurch, dass damit<br />

ein hinreichend großer und nachhaltiger Bedarf an<br />

Zentralbankgeld geschaffen und die Geldschöpfung<br />

der Geschäftsbanken unter Kontrolle gehalten werden<br />

kann.<br />

5. Strategie – Darstellung: Ebenso wenig wie andere<br />

Zentralbanken kann das Eurosystem direkt auf sein<br />

Endziel, die Inflationsrate, einwirken. Zwischen<br />

dem Einsatz seiner Instrumente und der Inflationsentwicklung<br />

liegt ein langwieriger und komplexer<br />

Transmissionsprozess, während dessen sich geldpolitische<br />

Maßnahmen über den Geschäftsbankensektor<br />

und die Finanzmärkte allmählich auf die gesamte<br />

Wirtschaft und das Preisniveau auswirken. Daher<br />

benötigt jede Zentralbank ein von ihr kontrollierbares<br />

Zwischenziel, das in einem engen Zusammenhang<br />

zum Endziel steht, sowie einen Indikator, der<br />

schnell und präzise den Einfluss geldpolitischer<br />

Maßnahmen misst.<br />

Die Strategie der EZB besteht aus einer Konkretisierung<br />

des Ziels der Preisstabilität und aus zwei sog.<br />

Säulen. Sowohl die Konkretisierung des Ziels als<br />

auchdiebeidenSäulenwurdenvomEZB-RatimMai<br />

2003 modifiziert. Bis Mai 2003 definierte der<br />

EZB-Rat Preisstabilität als mittelfristigen Anstieg<br />

des �Harmonisierten Verbraucherpreisindex von<br />

unter 2 % gegenüber dem Vorjahr. Im Mai 2003 verkündeteer,dasservonnunanmittelfristigeinePreissteigerungsrate<br />

von unter, aber nahe der 2 %-Marke<br />

anstrebe.<br />

ImRahmenderZwei-Säulen-Strategieanalysiertdie<br />

EZB die Risiken für die Preisstabilität anhand von<br />

zwei unterschiedlichen Sichtweisen hinsichtlich der<br />

Funktionsweise der Wirtschaft. Die beiden Sichtweisen<br />

oder Säulen werden seit Mai 2003 als „wirtschaftliche<br />

Analyse“ und „monetäre Analyse“ bezeichnet.DiewirtschaftlicheAnalysebestehtausder<br />

Untersuchung einer breiten Palette von Konjunkturund<br />

Finanzmarktindikatoren (z. B. Löhne, Rohstoffpreise,<br />

Wechselkurse, Anleihekurse, Branchen- und<br />

Verbraucherumfragen). Damit will sich die EZB ein<br />

umfassendes Bild von der aktuellen Wirtschaftslage<br />

verschaffen und beobachten, welche Faktoren sich<br />

auf kürzere Sicht auf die Preisniveauentwicklung<br />

366<br />

auswirken könnten. Untersucht werden vor allem<br />

Schocks (bspw. Ölpreisschocks) und ihre Auswirkungen<br />

auf Konjunktur und Preisniveau.<br />

Im Rahmen der monetären Analyse, die bis Mai 2003<br />

dieersteSäule,seitdemabernurnochdiezweiteSäulebildet,untersuchtdieEZBdiemittel-bislangfristige<br />

Geldmengenentwicklung, vor allem die Entwicklung<br />

der weit gefassten Geldmenge M3. Damit<br />

möchtesiederTatsacheRechnungtragen,dassGeldmengenwachstum<br />

und Inflation mittel- bis langfristig<br />

in enger Beziehung zueinander stehen. Zur Beurteilung<br />

der Geldmengenentwicklung hat die EZB einen<br />

Referenzwert für die jährliche Wachstumsrate<br />

von M3 abgeleitet, der ihrer Auffassung nach im EinklangmitderGewährleistungvonPreisstabilität(gemäß<br />

ihrer Definition) steht. Seit Beginn der dritten<br />

Stufe der Währungsunion beläuft er sich auf 4½ %.<br />

Die EZB hat stets betont, dass es sich bei ihrem Referenzwert<br />

lediglich um eine Orientierungsgröße zur<br />

Beurteilung der Risiken für die Preisstabilität handele,<br />

nicht um ein Zwischenziel. Im Mai 2003 beschloss<br />

der EZB-Rat, den Referenzwert für M3 nicht<br />

mehr wie bis dahin auf jährlicher Basis zu überprüfen.<br />

6. Strategie – Bewertung: Die Konkretisierung des<br />

Ziels der Preisstabilität im Sinne einer Obergrenze<br />

der jährlichen Inflationsrate von unter, aber nahe 2 %<br />

ist nicht ehrgeizig genug. Zahlreiche empirische Untersuchungen<br />

sind für verschiedene Länder zu dem<br />

Ergebnis gekommen, dass mit einer Inflationsrate<br />

von 2 % bereits hohe Wohlfahrtsverluste verbunden<br />

sind. Nach einer Untersuchung der Bundesbank belaufen<br />

sie sich in Deutschland auf nicht weniger als<br />

1,4%desBruttoinlandsprodukts.Zwarkommtesbei<br />

der Berechnung von Verbraucherpreisindizes aufgrund<br />

von Messfehlern meist zu einer leichten Überzeichnung<br />

des tatsächlichen Preisniveauanstiegs;<br />

beim Harmonisierten Verbraucherpreisindex sind<br />

diese Messfehler jedoch äußerst gering.<br />

Bezüglich der monetären Analyse ist positiv festzustellen,<br />

dass die Berücksichtigung des Geldmengenwachstums<br />

aus ökonomischer Sicht unerlässlich ist,<br />

denn Inflation ist auf mittlere bis längere Sicht stets<br />

ein monetäres Phänomen: Ohne ein anhaltendes<br />

übermäßiges Geldmengenwachstum kann das Preisniveau<br />

nicht dauerhaft steigen. Auch der Wert von<br />

4½ % ist insofern vertretbar, als er genügend Raum<br />

für reales Wirtschaftswachstum lässt und Preisniveaustabilität<br />

zumindest im Sinne der EZB (Infla-


tionsrate unter, aber doch nahe 2%p.a.)sichern<br />

könnte.<br />

Negativ zu vermerken ist freilich, dass das Geldmengenwachstum<br />

für die EZB lediglich einen Referenzwert<br />

und kein Zwischenziel darstellt. Wie empirische<br />

Studien (auch des Eurosystems selbst) eindeutig<br />

ergeben haben, erfüllt die Geldmenge M3 des Eurogebiets<br />

die Anforderungen, die an ein Zwischenziel<br />

zu stellen sind: Sie ist hinreichend kontrollierbar<br />

und steht in einem stabilen Kausalzusammenhang<br />

zur Preisniveauentwicklung. Die Geldmenge M3 ist<br />

nachweislich auch der beste Indikator: Sie kann<br />

schneller und präziser gemessen werden als andere<br />

Indikatoren und besitzt gute Vorlaufeigenschaften<br />

hinsichtlich der künftigen Inflation.<br />

Der Sinn der wirtschaftlichen Analyse im Rahmen<br />

der geldpolitischen Strategie ist kaum erkennbar.<br />

Zwar muss sich jede Zentralbank laufend ein umfassendes<br />

Bild von der wirtschaftlichen Lage im jeweiligen<br />

Währungsgebiet verschaffen und dazu eine<br />

Vielzahl statistischer Daten auswerten. Diese Daten<br />

liefern jedoch häufig ein widersprüchliches Bild. Da<br />

eine Zentralbank die kurzfristigen Preisniveauwirkungen<br />

von Schocks und ähnlichen Ereignissen (wie<br />

etwa auch Erhöhungen der Mehrwert- oder Verbrauchssteuern)<br />

aufgrund der rund ein- bis zweijährigen<br />

Wirkungsverzögerungen geldpolitischer Maßnahmenohnehinnichtverhindernkann,lässtsichaus<br />

der wirtschaftlichen Analyse der EZB keine Handlungsanweisung<br />

für die Geldpolitik ableiten – zumindest<br />

keine, die in Bezug steht zu ihrem Ziel mittelfristiger<br />

Preisniveaustabilität.<br />

Seit der Modifikation der geldpolitischen Strategie<br />

vom Mai 2003 ist freilich ohnehin mehr als je zuvor<br />

fraglich, wie ernst die EZB dieses Ziel wirklich<br />

nimmt. Die Anhebung des Inflationsziels zum oberen<br />

Rand des vorherigen Zielkorridors von 0%bis<br />

unter 2 %, die Zurücksetzung der Geldmengenanalyse<br />

von der ersten zur zweiten Säule sowie der Verzicht<br />

auf eine jährliche Überprüfung des Referenzwertes<br />

für M3 deuten sämtlich darauf hin, dass die<br />

EZB dabei ist, zu einer kurzfristigeren, aktivistischen<br />

Geldpolitik überzugehen. Dies wird ihr die Erreichung<br />

des im EG-Vertrag vorgegebenen Ziels der<br />

Preisstabilität erschweren – zumal die Regierungen<br />

und Tarifvertragsparteien bei einer solchen Geldpolitik<br />

geradezu ermuntert werden, politischen Druck<br />

auf den EZB-Rat auszuüben, expansive Maßnahmen<br />

zu ergreifen, um etwa die Arbeitslosigkeit oder den<br />

Geldpolitik<br />

Wechselkurs zu senken. Solche kurzfristigen Maßnahmen<br />

haben sich mittel- und langfristig aber immer<br />

als nutzlos und im Hinblick auf die Preisniveaustabilität<br />

sogar als schädlich erwiesen.<br />

Insgesamt ist die Strategie der EZB inkonsistent, intransparent<br />

und wenig ehrgeizig. Sie liefert dem<br />

EZB-Rat keine klaren Handlungsanleitungen, bindet<br />

ihn nicht an ein zweckmäßiges Zwischenziel und<br />

lässt andere wirtschaftspolitische Entscheidungsträger<br />

sowie die Öffentlichkeit im Unklaren darüber,<br />

welchen geldpolitischen Kurs er eigentlich verfolgt.<br />

Die EZB sollte den Zielwert für die Inflationsrate auf<br />

mittelfristig 0 % bis 1 % p. a. reduzieren und ein mittelfristiges<br />

Geldmengenziel für M3 verfolgen, das<br />

mit diesem Zielwert vereinbar ist.<br />

7. Bisherige Ergebnisse: Seit Beginn der dritten Stufe<br />

der Währungsunion hat der EZB-Rat ein Wachstum<br />

der Geldmenge toleriert, das deutlich über seinen<br />

eigenen Referenzwert hinausging. Zwischen<br />

1999 und 2001 nahm M3 um durchschnittlich 5,3 %<br />

p. a. zu. Zwischen 2002 und 2004 beschleunigte sich<br />

das Wachstum von M3 sogar auf 7,1 % p. a. Im Einklang<br />

mit dieser übermäßigen Geldmengenexpansion<br />

stieg auch die Inflationsrate. Während sie sich im<br />

Durchschnitt der Jahre 1999 bis 2001 noch auf 1,8 %<br />

p. a. belief, betrug sie zwischen 2002 und 2004 schon<br />

durchschnittlich 2,2 % p. a. Seit dem Jahr 2000 liegt<br />

sie ununterbrochen über der 2 %-Marke.<br />

Durch die übermäßige Geldmengenexpansion hat<br />

sich ein erheblicher Geldüberhang gebildet, der die<br />

Inflationsrate selbst nach Analysen der EZB auf bis zu<br />

3½ % p. a. erhöhen könnte. Aufgrund der schwachen<br />

Konjunktur in den größten Euroländern Deutschland,<br />

Frankreich, Italien und des intensiven Wettbewerbs<br />

auf den Gütermärkten im Zuge der fortschreitenden<br />

Globalisierung hat sich dieser Geldüberhang bislang<br />

noch nicht in einer deutlich höheren Inflationsrate<br />

niedergeschlagen.StattdessenistdieLiquiditätnach<br />

dem Crash an den Aktienbörsen zu Beginn des Jahrzehnts<br />

in andere Vermögenswerte wie Anleihen und<br />

Immobiliengeflossen.AufeinigendieserMärktehabensichdadurchinzwischenebenfallsSpekulationsblasen<br />

gebildet. Ein Platzen dieser Blasen könnte die<br />

wirtschaftliche Entwicklung in Euroland noch stärkerbeeinträchtigenalsderseinerzeitigeCrashanden<br />

Aktienbörsen. H. F.<br />

Literatur:<br />

Feldmann, H.: Das geldpolitische Instrumentarium des Europäischen<br />

Systems der Zentralbanken – Eine Analyse des<br />

EWI-Vorschlages. In: Kredit und Kapital 2/1998, S. 273 – 302<br />

367


Geldwäsche<br />

Ders.: Stabilitätsanreize für <strong>Europa</strong>s Zentralbanker. In: Wirtschaftsdienst<br />

2/1998, S. 121 – 128<br />

Görgens, E./Ruckriegel, K./Seitz, F.: Europäische Geldpolitik:<br />

Theorie, Empirie, Praxis. Stuttgart 2004 4<br />

von Hagen, J.: Hat die Geldmenge ausgedient? In: Perspektiven<br />

der Wirtschaftspolitik 4/2004, S. 423 – 453<br />

Geldwäsche bezeichnet finanzielle oder wirtschaftliche<br />

Transaktionen zu dem Zweck, illegal erworbene<br />

flüssige Mittel in das legale Finanzsystem<br />

einzuschleusen. Solche Mittel stammen vor allem<br />

aus Drogenhandel, Menschenhandel, illegalem<br />

Waffenhandel, organisierter Kriminalität und Terrorismus.<br />

Um Geldwäsche zu bekämpfen oder zu verhindern,<br />

erließ die Gemeinschaft 1991 eine Richtlinie zur<br />

Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum<br />

Zwecke der Geldwäsche (91/308, ABl. L 166/1991).<br />

Darin werden Finanzinstitute verpflichtet, Maßnahmen<br />

vorzusehen, die verhindern, dass kriminelle Organisationen<br />

Geldgeschäfte mit ihnen abwickeln.<br />

Die Umsetzung der Richtlinie in deutsches Recht<br />

führte dazu, dass Geldwäsche seit 1992 als Straftat in<br />

das deutsche Strafgesetzbuch aufgenommen ist. Zugleich<br />

wurde das „Gesetz über das Aufspüren von<br />

Gewinnen aus schweren Straftaten“ (kurz: Geldwäschegesetz)<br />

verabschiedet.<br />

Im Rahmen der Zusammenarbeit in den Bereichen<br />

Justiz und Inneres (ZBJI) haben die Mitgliedstaaten<br />

1998 eine Gemeinsame Maßnahme betreffend Geldwäsche,<br />

Ermittlung, Einfrieren, Beschlagnahme und<br />

Einziehung von Erträgen aus Straftaten erlassen<br />

(98/699/JI). Ein Beschluss des Rates regelt die Zusammenarbeit<br />

der zentralen Meldestellen der Mitgliedstaaten<br />

beim Austausch von Informationen<br />

(2000/642/JI).<br />

Geltungsbereiche der Verträge<br />

Zeitlich: Ebenso wie der EG-Vertrag nach Art. 313<br />

und der Euratom-Vertrag nach Art. 208 ist auch der<br />

EU-Vertrag nach Art. 51 zeitlich ausdrücklich auf<br />

unbegrenzte Zeit geschlossen worden. Allein die<br />

Montanunion,diezum23.7.2002inweitenTeilenin<br />

die EG integriert wurde, endete gem. Art. 97 EGKSV<br />

nach 50 Jahren. Auch der neue EU-�Verfassungsvertrag<br />

2004 soll wiederum „ewig“ dauern, sofern er<br />

überhaupt in Kraft treten kann.<br />

Räumlich: Der räumliche Geltungsbereich der EU<br />

und der Gemeinschaften umfasst grundsätzlich die<br />

gesamten Hoheitsgebiete aller Mitgliedstaaten. In-<br />

368<br />

soweit gilt das „Prinzip der beweglichen Unionsbzw.<br />

Vertragsgrenzen“. Beispielsweise wurde das<br />

Gebiet der ehemaligen DDR durch die deutschdeutsche<br />

Vereinigung am 3. 10. 1991 automatisch<br />

Teil der EU. Nicht Teil der EU ist dementsprechend<br />

etwa das Gebiet des Vatikanstaates. Nach Art. 299<br />

des EG-Vertrags sind auch die französischen überseeischen<br />

Departements, die Azoren, Madeira und<br />

die Kanarischen Inseln sowie die Ålandinseln räumlich<br />

umfasst. Ausdrücklich nicht umfasst sind etwa<br />

die Färöer und nur teilweise die Kanalinseln sowie<br />

die Insel Man. Aus dem Prinzip der beweglichen<br />

Vertragsgrenzen folgt auch, dass eine Verkleinerung<br />

eines Mitgliedstaats automatisch eine Verkleinerung<br />

der EU mit sich bringt; so etwa geschehen im<br />

Jahre 1962 bei der Sezession Algeriens von Frankreich<br />

oder der Antillen von den Niederlanden. Für<br />

GrönlanddagegenwurdenvonvornhereinnachArtikel<br />

188 EG Sonderregelungen getroffen, weil es immer<br />

Staatsgebiet Dänemarks blieb.<br />

Plastisch gesehen gehört räumlich zur EU und den<br />

Gemeinschaften auch – neben dem Luftraum über<br />

den Mitgliedstaaten – das Festland, der Festlandssockel<br />

sowie die seewärtige Wirtschaftszone von 200<br />

Seemeilen (das „EU-Meer“), was u. a. eine Zuständigkeit<br />

der Union für Fischerei und die Ausbeutung<br />

derMeeresschätzemitsichbringt. J. M. B.<br />

Gemeindepartnerschaften (Jumelages) streben<br />

dauerhafte Verbindungen der verschwisterten Gemeinden<br />

an, werden vom �Rat der Gemeinden und<br />

Regionen <strong>Europa</strong>s gefördert, vom Städtepartnerschaftsfonds<br />

der EU bezuschusst; die Initiative und<br />

Verwaltung liegt in der Regel beim zuständigen Amt<br />

der städtischen Verwaltung oder/und bei (privaten)<br />

bürgerschaftlichen Partnerschaftsvereinen oder -komitees<br />

bzw. beim zuständigen Ausschuss des Rates<br />

der Stadt/Gemeinde (Stadtverordneten-, Gemeindeversammlung).<br />

In Westeuropa gibt es ca. 6 000 kommunale<br />

Partnerschaften.<br />

Ziel: Weckung eines europäischen �Bewusstseins,<br />

AustauschderBürger/innen(Gruppen,Vereine,Parteien)<br />

oder von Verwaltungsbeamten bzw. kommunalen<br />

Parlamentariern (gegenseitige Information<br />

über spezifische städtische Strukturen), Sympathie<br />

und Freundschaft zwischen den Völkern, Schul-,<br />

Schüler/innen-, Lehrlingsaustausch u. dgl.<br />

Inzwischen bestehen Gemeindepartnerschaften in<br />

ganz <strong>Europa</strong> und Übersee, die meisten (ca. 1 700)


zwischen Gemeinden in Frankreich und Deutschland.<br />

W. M.<br />

Anschrift: Institut für europäische Partnerschaften und internationale<br />

Zusammenarbeit, Adenauerallee 176, 53113 Bonn<br />

Literatur:<br />

Generalsekretariat der Europäischen Kommission: Ein <strong>Europa</strong><br />

der Städte und Gemeinden. Handbuch für Städtepartnerschaften.<br />

Luxemburg 1997 (Amt für amtliche Veröffentlichungen<br />

der EG)<br />

Mirek, H.: Deutsch-Französische Gemeindepartnerschaften.<br />

Kehl/Rh. 1984<br />

Rat der Gemeinden und Regionen <strong>Europa</strong>s, Deutsche Sektion:<br />

Leitfaden für die Partnerschaftsarbeit. Düsseldorf 1990<br />

Woester, D. M. (Hg.): Städtepartnerschaften in der Praxis.<br />

Handbuch für Städte- und Schulpartnerschaften. Bonn 1998<br />

Gemeinsame Agrarpolitik (GAP)<br />

1. Begriff: Die Union legt eine gemeinsame Agrarund<br />

Fischereipolitik fest und führt sie durch. Nach<br />

dem Verfassungsvertrag von 2004 sind Landwirtschaft<br />

und Fischerei Bereiche mit geteilter Zuständigkeit<br />

(Art. I-14 VVE). Die Union teilt ihre Zuständigkeit<br />

mit den Mitgliedstaaten.<br />

Entsprechend Art. 32 EGV (Art. III–225 VVE 2004)<br />

sind unter landwirtschaftlichen Erzeugnissen die Erzeugnisse<br />

des Bodens, der Viehzucht und der FischereisowiediemitdieseninunmittelbarenZusammenhang<br />

stehenden Erzeugnisse der ersten Verarbeitungsstufe<br />

zu verstehen. Landwirtschaft und der<br />

Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen werden<br />

auch vom Binnenmarkt umfasst. Die Vorschriften<br />

für die Verwirklichung des Binnenmarktes finden<br />

auf die landwirtschaftlichen Erzeugnisse Anwendung.<br />

Mit seinem Funktionieren und mit seiner<br />

Entwicklung muss die Gestaltung einer gemeinsamen<br />

Agrarpolitik (GAP) Hand in Hand gehen (Art.<br />

32 Abs. 2 und 4 EGV bzw. Art. III-226 VVE).<br />

2.Grundprinzipienund Ziele:MitderErrichtungder<br />

�Zollunion für den landwirtschaftlichen Bereich<br />

wurde 1970 der Gesamtrahmen für die GAP abgeschlossen.<br />

Grundprinzipien der Agrarpolitik und des<br />

Agrarmarktes sind:<br />

– das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung<br />

(Markteinheit):freierWarenverkehrfürProdukteinnerhalb<br />

der Gemeinschaft;<br />

– das Prinzip der Gemeinschaftspräferenz: gemeinsamerAußenschutzgegenüberdemWeltmarktund<br />

– das Prinzip der finanziellen Solidarität: gemeinsameFinanzierungdurchalleMitgliedsländerüberden<br />

�Haushalt der EU.<br />

ZielderGAPistes(Art.33EGV;Art.III–227VVE):<br />

Gemeinsame Agrarpolitik<br />

– die Produktivität der Landwirtschaft durch Förderung<br />

des technischen Fortschritts, Rationalisierung<br />

der landwirtschaftlichen Erzeugung und den bestmöglichen<br />

Einsatz der Produktionsfaktoren, insbes.<br />

der Arbeitskräfte, zu steigern;<br />

– auf diese Weise der landwirtschaftlichen Bevölkerung,<br />

insbes. durch Erhöhung des Pro-Kopf-<br />

Einkommens der in der Landwirtschaft tätigen Personen,<br />

eine angemessene Lebenshaltung zu gewährleisten;<br />

– die Stabilisierung der Märkte (unabhängig von<br />

Schwankungen der Preise und Erntemengen auf den<br />

Weltmärkten);<br />

– die Versorgung sicherzustellen;<br />

– fürdieBelieferungderVerbraucherzuangemessenen<br />

Preisen Sorge zu tragen.<br />

3.Organisation: ZurRealisierungderZielederGAP<br />

wird eine gemeinsame Organisation der Agrarmärkte<br />

geschaffen. Diese besteht je nach Erzeugnis aus einer<br />

der folgenden Organisationsformen:<br />

– gemeinsame Wettbewerbsregeln;<br />

– bindende Koordinierung der verschiedenen einzelstaatlichen<br />

Marktordnungen;<br />

– eine europäische Marktordnung.<br />

Die gemeinsame Organisation beinhaltet alle zur<br />

Durchführung erforderlichen Maßnahmen, insbes.<br />

Preisregelungen, Beihilfen für die Erzeugung und<br />

die Verteilung der verschiedenen Erzeugnisse, Einlagerungs-<br />

und Ausgleichsmaßnahmen, gemeinsame<br />

Einrichtungen zur Stabilisierung der Ein- und<br />

Ausfuhr. Um die Erreichung der Ziele zu ermöglichen,<br />

können ein oder mehrere Ausrichtungs- und<br />

Garantiefonds für die Landwirtschaft geschaffen<br />

werden.<br />

Der Ministerrat erlässt auf Vorschlag der Kommission<br />

die Verordnungen zur Festsetzung der Preise, der<br />

Abschöpfungen,derBeihilfenunddermengenmäßigen<br />

Beschränkungen sowie zur Festsetzung und<br />

Aufteilung der Fangmöglichkeiten in der Fischerei<br />

(�Fischereipolitik).<br />

4. Marktordnungen und Preisgefüge: Marktordnungen<br />

für einzelne Agrarprodukte steuern den Agrarmarkt.<br />

Die Marktordnungen sind staatliche Eingriffe<br />

in den freien Markt. Sie heben insbes. den Mechanismus<br />

der freien Preisbildung auf. Sie regulieren<br />

Agrarerzeugnisse binnenwirtschaftlich durch Richtpreise<br />

und Interventionspreise und außenwirtschaftlich<br />

durch Schwellenpreise.<br />

Kernstück der GAP war die Sicherung der landwirt-<br />

369


Gemeinsame Agrarpolitik<br />

schaftlichenEinkommendurchPreis-undAbsatzgarantien<br />

für wichtige Agrarprodukte. Die dazu erforderlichen<br />

Preisfestsetzungen werden vom Ministerrat<br />

(Landwirtschaftsminister) getroffen.<br />

Das Preisgefüge der GAP ist grundsätzlich durch<br />

verschiedene Preissysteme strukturiert, die jedoch<br />

im Rahmen des GAP-Reformprozesses 2003 zunehmend<br />

verändert werden:<br />

a) Der Richtpreis ist der agrarpolitisch erwünschte<br />

Erzeugerpreis, der die Einkommenssicherung der<br />

LandwirteundeineangemessenePreisgestaltungfür<br />

die Verbraucher zum Ziel hat. Er wird dem Erzeuger<br />

für seine Produkte gewährleistet.<br />

b) Der Interventionspreis ist der Preis, der den Landwirten<br />

für ihre Produkte garantiert wird. Fällt der<br />

Preis für Agrarprodukte unter diese Festsetzung,<br />

müssen die Interventionsstellen der Union die ihnen<br />

angebotenen Erzeugnisse zu dem garantierten Preis<br />

ankaufen. Die Produkte werden gelagert, umgewandelt<br />

und bei Bedarf verkauft (auch vernichtet).<br />

c) Nach dem Prinzip der Gemeinschaftspräferenz<br />

werden mit Maßnahmen gegenüber �Drittländern<br />

die Agrarprodukte aus der Union bevorzugt behandelt.<br />

Richt- und Interventionspreis liegen im Regelfalle<br />

höher als der Weltmarktpreis. Beim Import billigerer<br />

Agrarprodukte wird ein Einschleusungspreis<br />

(Schwellenpreis) festgesetzt, damit der Abgabepreis<br />

eines Produktes aus einem Drittland unter Berücksichtigung<br />

der Transportkosten dem Richtpreis entspricht.<br />

Die Differenz zwischen dem Weltmarktpreis<br />

und dem Einschleusungspreis wird durch eine<br />

�Abschöpfung ausgeglichen. Die Abschöpfung bewirkt<br />

eine Anpassung der Preise für Importgüter an<br />

das hohe Unionsniveau. Bei Exporten werden von<br />

der EU umgekehrt �Ausfuhrerstattungen gewährt<br />

(Differenz zwischen EU-Preis und niedrigerem<br />

Weltmarktpreis). Damit werden per Subvention die<br />

Preise für EU-Produkte auf ein konkurrenzfähiges<br />

Weltmarktniveau abgesenkt.<br />

5. Finanzierung: Die Finanzierung der GAP erfolgt<br />

über den Europäischen Ausrichtungs- und Garantiefonds<br />

für die Landwirtschaft (EAGFL, �Fonds der<br />

EU). Die Abteilung „Garantie“ des Fonds beinhaltet<br />

die Gelder, die für Interventionen auf dem Binnenmarkt<br />

zur Preisregulierung (insbes. Kauf der Überschüsse,<br />

anfallende Lagerkosten, Direktzahlungen)<br />

und für die Erstattungen im Exportgeschäft ausgegeben<br />

werden. Die Abteilung „Ausrichtung“ des Fonds<br />

finanziert Maßnahmen zur Verbesserung der Pro-<br />

370<br />

duktions- und Verarbeitungsbedingungen und der<br />

Qualität von Agrarprodukten sowie Programme zur<br />

Verbesserung der ländlichen Infrastruktur.<br />

Die Ausgaben für die GAP beanspruchen einen<br />

Großteil der Ausgaben des EU-Haushalts (2005:<br />

49,1 Mrd. Euro = 46 % des Haushaltsvolumens der<br />

Zahlungsermächtigungen von 106,3 Mrd. Euro).<br />

6. Krisenindikatoren: Mit der Steigerung der landwirtschaftlichen<br />

Leistungsfähigkeit (zwischen 1973<br />

und 1988 stieg die landwirtschaftliche Produktion in<br />

der Union durchschnittlich um jährlich 2 % an, der<br />

Verbrauch an landwirtschaftlichen Produkten aber<br />

nur um 0,5 %; bei Einzelprodukten wie Getreide,<br />

Milch und Zucker betrug die gesamte Steigerungsrate<br />

der Produktion 50 %), der Sicherung der Nahrungsmittelversorgung<br />

und der Erhöhung der landwirtschaftlichen<br />

Einkommen (trotz großer Einkommensunterschiede)<br />

hat die GAP drei Zielsetzungsvorgaben<br />

erreicht. Doch während die Landwirte<br />

durch den Einsatz von Technik die Erträge ständig<br />

steigerten, führte das sich wandelnde Verbraucherverhalten<br />

zu sinkender Nachfrage. Negative Folgen<br />

sind insbes. die beschleunigte Industrialisierung der<br />

Agrarproduktion und die Vergrößerung landwirtschaftlicher<br />

Betriebe durch Konzentration, die teilweise<br />

überhöhten Verbraucherpreise und die Überschussproduktion.<br />

Als weitere Krisenindikatoren der GAP lassen sich<br />

anführen:<br />

– die Folgen der Überschussproduktion (insbes.<br />

Vernichtung, Lagerung, Umwandlung und subventionierte<br />

Exporte der Agrarprodukte);<br />

– die ausufernde Belastung des EU-Haushaltes, wodurchdieWeiterentwicklungandererPolitiken(z.B.<br />

�Regional-, �Struktur- oder �Sozialpolitik) gefährdet<br />

werden (Anfang der 1980er Jahre umfasste der<br />

Agrarsektor 75 % des gesamten Haushaltes);<br />

– die Belastung des Weltmarktes durch subventionierte<br />

Agrarprodukte aus der EU (z. B. Handelskonflikte<br />

im Rahmen der �WTO);<br />

– die Einkommenslage der Landwirte mit ihren krassen<br />

Einkommensunterschieden (Nutznießer der<br />

GAP sind zu 80 % die Großbetriebe);<br />

– die Subventionspriorität für investierende Wachstumsbetriebe,<br />

die ihre Produktivität erhöhen (Entwicklung<br />

zur Agrarindustrie);<br />

– der Fleischmarkt, der zu Massentierhaltung und<br />

Seuchen (insbes. Schweinepest, �BSE) führte;<br />

– die Umweltschäden durch eine intensivere Nut-


zung der Agrarflächen aufgrund erhöhten Düngemittel-<br />

und Pestizideinsatzes;<br />

– die Lagerbestände der EU;<br />

– das Interventionspreissystem, da sich die Landwirtschaft<br />

kaum um Absatzmöglichkeiten für ihre<br />

Produkte kümmern muss.<br />

7. Entwicklung des GAP-Reformprozesses: Zahlreiche<br />

Reformen wurden begonnen, um vor allem der<br />

Überschussproduktion entgegenzuwirken. Der Reformprozess<br />

begann 1979 mit ersten Maßnahmen<br />

zur Reduzierung der Überschüsse an Molkereiprodukten<br />

(Mitveranwortungsabgabe der Landwirte für<br />

Lagerung und Absatz von Überschüssen). 1984 wurden<br />

Produktionsquoten für Milch eingeführt und<br />

1988 auf die meisten anderen Bereiche übertragen.<br />

EinAnwachsenderÜberschussproduktionenkonnte<br />

mit diesen Reformansätzen nicht entscheidend verhindert<br />

werden. Deshalb beschloss der Rat im Juni<br />

1992 eine grundlegende Reform, die bis 1997 stufenweise<br />

realisiert wurde. Das veränderte System der<br />

Förderung bestraft die Überproduktion und rückt andere<br />

Leistungen stärker in den Vordergrund. Sie bildet<br />

damit auch den Kern einer Strategie zur Entwicklung<br />

des ländlichen Raumes. Grundprinzipien sind<br />

u. a.<br />

– die stärkere Berücksichtigung ökologischer Gesichtspunkte<br />

in der Agrarproduktion;<br />

– derSchutzderUmwelt,derLandwirtschaftundder<br />

natürlichen Ressourcen;<br />

– das Marktgleichgewicht und der Abbau der Exportaktivitäten<br />

durch Produktionsverringerung und<br />

– die Umwandlung der Marktordnungsausgaben in<br />

direkte Beihilfen.<br />

Die Reform betraf vor allem Getreide, Ölsaaten, Eiweißpflanzen<br />

und die Rindfleischerzeugung. Sie beinhaltet<br />

im Wesentlichen Preissenkungen und Flächenstilllegungen.<br />

Als Entschädigungen für ihre<br />

Einkommensverluste erhalten die Landwirte Direktbeihilfen.<br />

Die Reform war für den Welthandelsprozess 1993<br />

erforderlich und veränderte entscheidend die Rahmenbedingungen<br />

für Landwirte in der Union:<br />

– Direkttransfers bestimmen die Einkommenshöhe<br />

der Betriebe; sie sind an die Fläche gekoppelt; damit<br />

bestimmt die Ausstattung mit dem Produktionsfaktor<br />

Boden das Einkommenspotenzial usw.<br />

– Durch die Reform wird für die Landwirte der Anbau<br />

nachwachsender Rohstoffe attraktiver, da auf<br />

stillgelegten Flächen (bei voller Stilllegungsprämie)<br />

Gemeinsame Agrarpolitik<br />

Erzeugnisse angebaut werden können, die nicht in<br />

derNahrungsmittelproduktionVerwendungfinden.<br />

Mit der �Agenda 2000 kam es zu weiteren Reformansätzen.<br />

Ziele des Reformprozesses im Rahmen der<br />

Agenda 2000 (vorgelegt 1997) waren die Erweiterungsfähigkeit<br />

der Union und die Fortentwicklung<br />

der weltweiten Märkte im Rahmen der �WTO-Verhandlungen<br />

(1999).<br />

Die Kommission vertrat die grundlegende Position,<br />

dass die Union den Weg zu einer mehr marktorientierten<br />

Landwirtschaft einschlagen sollte: wettbewerbsfähig,<br />

marktorientiert und umweltfreundlich.<br />

Gleichzeitig gab die Kommission den Mitgliedsländern<br />

Gelegenheit, ihre regionalen Besonderheiten<br />

stärker zu berücksichtigen (Dezentralisierung in einemgemeinschaftlichenRahmen).DieKommission<br />

wollte vor allem weg von den Preisstützungsmaßnahmen<br />

und hin zu direkten Einkommenshilfen.<br />

Gleichzeitig wurden die Stützpreise deutlich gesenkt:fürGetreideum20%,fürRindfleischum30%<br />

und für Milch um 10 %. Die Preissenkungen wurden<br />

durchdirekteAusgleichszahlungenandieLandwirte<br />

abgemildert.<br />

Neben den veränderten Stützpreisen stellte die<br />

Strukturpolitik in der Agenda 2000 den zweiten inhaltlichen<br />

Schwerpunkt dar. Zur Förderung der<br />

nachhaltigen Entwicklung des ländlichen Raumes<br />

wurden insbes. Instrumente zur Förderung des Umweltschutzes<br />

in der Landwirtschaft entwickelt. Von<br />

Bedeutung sind dabei Dienstleistungen, die Landwirten<br />

besondere Anstrengungen abverlangen, z. B.<br />

ökologischer Landbau und die Erhaltung naturnaher<br />

Lebensräume. Die Agenda 2000 war eine wichtige<br />

Vorstufe zur „Agrarwende“, der Reformbemühungen<br />

ab 2003, die mit den Jahren 2005/2006 Kernstück<br />

der GAP ist.<br />

8. Die Reform 2003 („Agrarwende“): Die „Agrarwende“<br />

ist als Eingeständnis der Union zu werten,<br />

dass die GAP des alten Stils versagt hat. Hergebrachte<br />

Instrumente wie Stützungspreise, Exporterstattungen<br />

und produktionsbezogene Prämien führten<br />

weder zu einem Gleichgewicht der Märkte noch zu<br />

einer gerechten Einkommensverteilung.<br />

Nahrungsmittelskandale wie BSE oder hormonverseuchte<br />

Tiernahrung machten deutlich, dass die<br />

Union bei der Lebensmittelherstellung statt auf<br />

Quantität auf Qualität setzen muss. Die Landwirte<br />

erhalten mit der Reform ihre Zahlungen nicht ohne<br />

Gegenleistung. Voraussetzung ist die Erfüllung ho-<br />

371


Gemeinsame Agrarpolitik<br />

her Qualitätsstandards in den Bereichen Umweltschutz,<br />

Bodenbewirtschaftung und Tierschutz.<br />

Die beiden Pfeiler der Reform der Gemeinsamen<br />

AgrarpolitikvomJuni2003gründensichaufdieEntkoppelung<br />

der Direktbeihilfe an die Erzeuger (die<br />

Trennung zwischen Beihilfen und Erzeugung) sowie<br />

die Einführung der Betriebsbeihilferegelung. Mit<br />

der Entkoppelung werden die Beihilfen den Erzeugern<br />

vollkommen unabhängig von der Erzeugungsart<br />

gezahlt (vgl. �Gemeinsame Agrarpolitik – Verordnungen<br />

zur Reform 2003).<br />

Mit Beginn des Jahres 2005 trat die Reform der GAP<br />

in der gesamten Union in Kraft. Im Kern sieht die Reform<br />

vor, dass die meisten Beihilfen für Landwirte<br />

unabhängig vom Produktionsvolumen gewährt werden.<br />

Diese neuen „Betriebsprämien“ sind an die Einhaltung<br />

von Standards in den Bereichen Umwelt, Lebensmittelsicherheit<br />

und Tierschutz gebunden (sog.<br />

Modulation). Statt wie seither Produktionsentscheidungen<br />

von der Höhe der möglichen Subventionen<br />

abhängig zu machen, erhalten die Landwirte jetzt<br />

Zahlungen unabhängig davon, was sie anbauen oder<br />

wie viele Tiere sie halten (produktionsentkoppelte<br />

Zahlungen). Sie haben damit die Freiheit, das zu produzieren,<br />

was die Verbraucher nachfragen, sich neuen<br />

Märkten zu stellen und diese zu erschließen. Um<br />

diese marktwirtschaftliche Rolle wahrnehmen zu<br />

können, bietet die GAP den Landwirten die notwendige<br />

Einkommensstabilität, damit sie ihre wichtige<br />

Funktion im Zentrum der ländlichen Wirtschaft<br />

wahrnehmenkönnen.DamitwerdenauchstrukturelleZieleverfolgt:StoppderLandfluchtundErhaltdes<br />

ländlichen Erbes. Jährlich werden z. B. 1,2 Mrd.<br />

Euro zur Entwicklung des ländlichen Raumes bereitgestellt.<br />

Kernpunkte der neuen GAP sind:<br />

8.1 Einheitliche Betriebsbeihilfe: Jeder Inhaber eines<br />

landwirtschaftlichen Betriebs hat unabhängig<br />

von seiner Erzeugung und als ergänzende Leistung<br />

zu seinem Einkommen Anspruch auf Direktzahlungen.<br />

Besondere Stützungsregelungen bestehen z. B.<br />

für Hartweizen, Eiweißpflanzen, Reis, Schalenfrüchte,<br />

Energiepflanzen, Kartoffelstärke, Milcherzeugnisse,<br />

Saatgut, Schaf- und Ziegenfleisch, Rindfleisch,<br />

Baumwolle, Tabak, Hopfen sowie für Landwirte,<br />

die Olivenhaine erhalten. Die Betriebsbeihilfe<br />

ist eine Einkommensbeihilfe für die Landwirte, eine<br />

jährliche Zahlung. Hauptzweck dieser Zahlung ist<br />

es, den Landwirten ein stabileres Einkommen zu sichern.<br />

Diese können entscheiden, was sie erzeugen<br />

372<br />

wollen, ohne die Beihilfen zu verlieren, wenn sie das<br />

Angebot an die Nachfrage anpassen.<br />

8.2 Gewährung der Direktzahlungen: Der Betriebsinhaber<br />

erhält Direktzahlungen unter der Auflage,<br />

dass er die Böden in gutem landwirtschaftlichem ZustanderhältunddiedieGesundheitvonMensch,Tier<br />

und Pflanzen betreffenden Vorschriften sowie die<br />

Umwelt- und die Tierschutzauflagen einhält.<br />

Zwischen den Jahren 2005 und 2012 werden die Direktzahlungen,<br />

ausgenommen diejenigen für Landwirte<br />

in den Gebieten in äußerster Randlage (französische<br />

überseeische Departements, Azoren und Madeira<br />

und Kanarische Inseln) und den Inseln des<br />

Ägäischen Meeres jährlich gekürzt um 3 % (2005),<br />

4 % (2006), dann 5%indenFolgejahren. Die dadurch<br />

eingesparten Beträge werden auf die Mitgliedstaaten<br />

aufgeteilt und für Maßnahmen zur Entwicklung<br />

des ländlichen Raums eingesetzt.<br />

8.3 Flächenstilllegungen: Die Betriebsinhaber sind<br />

verpflichtet, einen Teil ihrer Flächen – mit Ausnahme<br />

jener Flächen, die für den biologischen Anbau<br />

oder für den Anbau von Erzeugnissen, die nicht für<br />

den menschlichen oder tierischen Verbrauch bestimmt<br />

sind – stillzulegen. In diesem Fall erhalten sie<br />

Direktzahlungen. Die stillgelegten Flächen sind in<br />

gutem landwirtschaftlichem und ökologischem Zustand<br />

zu erhalten und dürfen in den Fruchtwechsel<br />

einbezogen werden. Außerdem sind die Landwirte<br />

berechtigt, hierauf Ölsaaten anzubauen oder Biomasse<br />

zu gewinnen, die vorrangig nicht für Nahrungsmittel<br />

verwendet werden.<br />

8.4 Zusatzprämien: Diese werden für ausgewählte<br />

Agrarprodukte (z. B. Hartweizen, Eiweißpflanzen,<br />

Reis, Schalenfrüchte, Energiepflanzen, Stärkekartoffeln,<br />

Milchprämie) gewährt. Exemplarisch seien<br />

vier Regelungen im Rahmen der gemeinsamen<br />

Marktorganisation (GMO) genannt:<br />

– Hartweizen: Die Beihilfe für Hartweizen, die für<br />

Qualitätsverbesserungen gezahlt wird, beträgt im<br />

Rahmen der nationalen Obergrenzen 40 Euro pro<br />

Hektar.<br />

– Eiweißpflanzen: Die Beihilfe für Erbsen, Ackerbohnen<br />

und Süßlupinen beträgt 55,57 Euro/Hektar<br />

bei einer Anbaufläche von 1,4 Mio. Hektar in der Europäischen<br />

Union.<br />

– Reis: Zur Erhaltung bestimmter traditioneller Anbaugebiete<br />

erhalten die Erzeuger eine ertragsabhängige<br />

Beihilfe für Reis für eine Garantiehöchstfläche<br />

in den einzelnen Mitgliedstaaten.


– Schalenfrüchte: Zum Schutz bestimmter traditioneller<br />

Erzeugnisse kann den Erzeugern eine Beihilfe<br />

in Höhe von 120,75 Euro/Hektar für den Anbau von<br />

Haselnüssen, Walnüssen, Pistazien und Mandeln gezahlt<br />

werden.<br />

8.5 Integriertes Verwaltungs- und Kontrollsystem<br />

(InVeKoS): Jeder Mitgliedstaat richtet ein integriertes<br />

Verwaltungs- und Kontrollsystem ein, das folgende<br />

Bestandteile umfasst: eine elektronische Datenbank,<br />

ein System zur Identifizierung landwirtschaftlicher<br />

Parzellen, ein System zur Identifizierung<br />

und Registrierung von Zahlungsansprüchen,<br />

die Beihilfeanträge, ein integriertes Kontrollsystem,<br />

ein einheitliches System zur Erfassung der Betriebsinhaber,<br />

die einen Beihilfeantrag stellen.<br />

Durch das InVeKoS können die vom Betriebsinhaber<br />

eingereichten Zahlungsanträge kontrolliert werden.<br />

Die Betriebsinhaber stellen jährlich einen Antrag<br />

auf Direktzahlungen. Die Mitgliedstaaten führen<br />

hierauf die erforderlichen Kontrollen durch. Bei<br />

Nichteinhaltung der Vorschriften kann die gewährte<br />

Beihilfe gekürzt oder gestrichen werden.<br />

8.6 Cross Compliance: Nun wurde mit der Reform<br />

derGAPnichtnurdieEntkoppelungbestimmterPrämien<br />

von der Produktion eingeführt (Betriebsprämienregelung),<br />

sondern auch eine obligatorische<br />

Cross Compliance (CC) Regelung. CC heißt, dass<br />

die Landwirte ihr Geld nur dann ungekürzt ausgezahlt<br />

bekommen, wenn sie alle anderweitigen Verpflichtungen<br />

einhalten. Diese beruhen auf zwei Säulen:<br />

Grundanforderungen an die Betriebsführung<br />

(geregelt in 19 EU-Rechtsvorschriften) und der Erhalt<br />

der Flächen in einem guten landwirtschaftlichen<br />

und ökologischen Zustand. Als Qualitätsparameter<br />

sind festgelegt: Erosionsschutz, Fruchtfolgegestaltung,<br />

Humuserhalt, Erhaltung von Landschaftselementen<br />

und Erhaltung von Dauergrünland.<br />

Die darauf aufbauende Betriebsprämienregelung ist<br />

äußert kompliziert. Exemplarisch wird das System<br />

an dem Parameter der Landschaftselemente (LE)<br />

verdeutlicht. So gelten ausgewählte LE unter bestimmten<br />

Voraussetzungen als Teil der genutzten<br />

landwirtschaftlichen und damit beihilfefähigen Fläche<br />

im Rahmen der Betriebsprämienregelung. Die<br />

CC-Verordnung (1782//2003, ABl. L 270/2003) definiert<br />

detailgenau Hecken, Baumreihen, Feldgehölze,<br />

Feuchtgebiete und Einzelbäume als beihilfefähig.<br />

Die Landwirte kommen in der Kategorie LE und<br />

Betriebsprämienregelung dann zu einer „entkoppel-<br />

Gemeinsame Agrarpolitik<br />

ten Prämie“, wenn ein LE alle Eigenschaften des<br />

Schlages aufnimmt, dem es zugeordnet ist. Dementsprechend<br />

erhält ein Landwirt für LE auf Ackerland<br />

den entsprechenden Wert der Ackerland-Prämie, für<br />

ein LE im Grünland den Wert der Grünland-Prämie<br />

und für LE auf stillgelegten Flächen gibt es den Wert<br />

der Stilllegungs-Prämie. Im Antragsverfahren wird<br />

die Fläche des LE zur Nettofläche des Schlages hinzuaddiert.<br />

Bezieht ein Landwirt jedoch Eiweiß- und<br />

Energiepflanzenprämie („gekoppelte Prämie“), gehören<br />

die LE nicht zur beihilfefähigen Fläche.<br />

8.7 Zuckermarkt: Reformiert wird auch die Zuckermarktordnung,<br />

die unverändert seit 1970 bestand.<br />

Sie ist nicht mehr zukunftsfähig, zum einen weil die<br />

KonsumentenzuhohePreisebezahlen.Zumanderen<br />

ist sie im Weltvergleich nicht wettbewerbsfähig und<br />

schafft Umweltprobleme. Schließlich stehen Angebot<br />

und Nachfrage nicht im Gleichgewicht zueinander.<br />

Die Union muss daher erhebliche Mengen Zuckerexportierenundsubventioniertdiesmit1,3Mrd.<br />

Euro jährlich (2004). Die Reform der Zuckermarktordnung<br />

zielt darauf ab, die Produktion auf einem<br />

niedrigeren Niveau nachhaltig zu stabilisieren. Die<br />

wichtigsten mengenbezogenen Änderungen für den<br />

Reformprozess in den Jahren 2005 – 2009 sind: Senkung<br />

des Stützungspreises für Zucker, Senkung der<br />

Mindestpreise für Zuckerrüben, Verringerung der<br />

Exportsubventionen. Zur Kompensation sollen die<br />

Rübenbauern Ausgleichszahlungen erhalten.<br />

9. Fazit: Nun wurde mit der „Agrarwende“ die Art<br />

der Unterstützung der Landwirtschaft grundlegend<br />

verändert. Jahrelange Kritikpunkte an der GAP –<br />

ökologisch verwerflich, ökonomisch falsch und entwicklungspolitisch<br />

ein Desaster – scheinen überwunden.<br />

Die meisten GMO sind in den Jahren 2005 und 2006<br />

zur einheitlichen Betriebsprämienregelung übergegangen.<br />

Die Beihilfen sind von der Erzeugung getrennt.<br />

Unter Berücksichtigung bestimmter KriterienkönnenbestehendeDirektbeihilfenbis2012beibehalten<br />

werden, sie werden jedoch schrittweise gekürzt.<br />

Die GAP-Reform sieht sich auch als Antwort auf die<br />

globalen Herausforderungen. Die Stärke der EU-<br />

Landwirtschaft (gegenüber Massenprodukten aus<br />

Ländern wie Brasilien oder China) ist die Qualitätserzeugung.<br />

Damit erhalten die Verbraucher sichere<br />

Nahrungsmittel, mehr Tierschutz und eine gesunde<br />

Umwelt.DieUnionschraubtihreAusfuhrsubventio-<br />

373


Gemeinsame Agrarpolitik – Agrarreform<br />

nen deutlich zurück und ist bereit, sie ganz auslaufen<br />

zu lassen, wenn dies weltweit erklärt wird. Damit ist<br />

die Reform ein wichtiger Beitrag zu einem stärker<br />

marktorientierten Weltagrarhandel.<br />

ZudenStärkenderAgrarwirtschaftinderUnionzählen<br />

immer mehr technologische Innovationen. Im Informationssektor<br />

steht den Landwirten z. B. online<br />

die MARS-Datenbank zur Verfügung (Monitoring<br />

Agriculture with Remote Sensing). Aus satellitengestützten<br />

gesammelten Daten werden Prognosen über<br />

Ernteerträge erstellt. Eine weitere Aufgabe ist die<br />

Beobachtung von Parzellen. Das MARS-Projekt unterstützt<br />

auch die Verwaltung der GAP. Mit Hilfe der<br />

Messungen sollen der Subventionsmissbrauch weiter<br />

eingedämmt und die Beantragung von Beihilfen<br />

erleichtert werden. Begünstigt wurde der GAP-<br />

Strukturwandel auch durch die erforderliche Erweiterungsfähigkeit<br />

der Union im Vorfeld der 10er-<br />

Erweiterung 2004. Die Integration des landwirtschaftlichen<br />

Sektors der Beitrittsländer in die GAP<br />

war eine der zentralen Herausforderungen.<br />

Mit der Erweiterung am 1. 5. 2004 veränderten sich<br />

auch Zuständigkeiten in der Kommission: Mit 25<br />

Kommissionsbereichen ist die Kommission 2004 –<br />

2009 breit gefächert. Die Zuständigkeiten für die<br />

GAP sind neben dem Kernbereich „Landwirtschaft<br />

und ländliche Entwicklung“ auf weitere vier Kommissionsbereiche<br />

verteilt: Fischerei und maritime<br />

Angelegenheiten, Gesundheits- und Verbraucherschutz,Umwelt,BinnenmarktundDienstleistungen.<br />

Hier wird die Praxis zeigen, inwieweit es gelingt, die<br />

Zuständigkeitsbereiche im Interesse der GAP-Ziele<br />

zu verzahnen. Gleiches gilt für die Mitgliedstaaten<br />

mit ihren Regionen und die damit einhergehende<br />

große landwirtschaftliche Ausdifferenzierung: Peripheriegebiete<br />

(wie die Kanarischen Inseln), Nordregionen<br />

in Finnland und Schweden, alpine Landwirtschaft<br />

in Österreich oder die sehr bäuerliche Landwirtschaft<br />

in Osteuropa konkurrieren untereinander<br />

und miteinander um die nationalen Interessenlagen<br />

großer Mitgliedstaaten wie Frankreich und Deutschland.<br />

L. U.<br />

Literatur:<br />

Angres, V. u. a.: Bananen für Brüssel. München 1999<br />

Ekelmans, J.: Die Neuregelung der Agrarmärkte.<br />

Luxemburg 1993<br />

Kommission der EG (Hg.): Die Zukunft unserer Landwirtschaft.<br />

Brüssel/Luxemburg 1993<br />

Lippert, B. (Hg.): Bilanz und Folgeprobleme der<br />

EU-Erweiterung. Baden-Baden 2004<br />

374<br />

Gemeinsame Agrarpolitik – Verordnungen zur<br />

Agrarreform 2003. Die Vorschläge der Agenda<br />

2000(vomEuropäischenRatinBerlinam26.3.1999<br />

verabschiedet) sind in den folgenden Jahren im Wesentlichen<br />

umgesetzt worden, insbes. nach der Midterm-review<br />

von 2003. Maßgeblich dafür ist die<br />

Ratsverordnung 1782/2003 (ABl. L 270/2003), geändertdurchVerordnung21/2004(ABl.L5/2004).<br />

Durchführungsbestimmungen zur Einhaltung der<br />

anderweitigen Verpflichtungen (Cross-compliance,<br />

�Gemeinsame Agrarpolitik Ziff. 8.6), zur Modulation<br />

(�Gemeinsame Agrarpolitik Ziff. 8) und zum Integrierten<br />

Kontroll- und Verwaltungssystem (�Gemeinsame<br />

Agrarpolitik Ziff. 8.5) enthält die Kommissionsverordnung<br />

796/2004 (ABl. L 141/2004).<br />

Im Interesse einer wirksamen Kontrolle und der Verminderung<br />

des Verwaltungsaufwandes sieht die<br />

Verordnung vor, dass alle Arten der Flächennutzung<br />

und alle betreffenden Beihilferegelungen gleichzeitiganzumeldensindunddahereinSammelantragpro<br />

Betrieb zu stellen ist. Die Verordnung sieht als einheitlichen<br />

Termin zur Antragstellung den 15. Mai<br />

des jeweiligen Betriebsjahres vor, mit Ausnahme für<br />

Schweden und Finnland, die aus Gründen der Witterungsbedingungen<br />

diesen Termin bis zum 15. Juni<br />

hinausschieben können.<br />

Die Kontrolle selbst obliegt nach der VO 1782/2003<br />

im Wesentlichen den Mitgliedstaaten, VO 796/2004<br />

enthältDurchführungsbestimmungenzuderHäufigkeitderKontrollenundzudenAngaben,dieimInteresse<br />

einer wirksamen Überprüfung vorhanden sein<br />

müssen. Ferner enthält sie die Verpflichtung für die<br />

Mitgliedstaaten zur Einrichtung eines Kontrollsystems<br />

zur Einhaltung „anderweitiger Verpflichtungen“<br />

sowie zur Einrichtung von Stichproben und<br />

Methoden zu deren Auswahl.<br />

Ferner gibt die Verordnung die Eckpunkte bzw. die<br />

für einen gültigen Sammelantrag erforderlichen Elemente<br />

vor und zwar im Hinblick auf Prämienanträge<br />

für Grünland, für den Anbau unterschiedlicher<br />

pflanzlicher Kulturen, für Prämienanträge für Tiere<br />

sowie für Anträge auf Milchprämie.<br />

Neben der VO 796/2004 regelt die Kommissionsverordnung<br />

795/2004 (ABl. L 141/2004) die Einzelheiten<br />

der Berechnung der Betriebsprämie und regelt<br />

auch die Fälle des Überganges des landwirtschaftlichen<br />

Betriebes durch Verkauf und Verpachtung sowie<br />

durch Erbfall. Sie regelt ebenfalls die Verwendung<br />

der sog. nationalen Reserve, die aus den Beträ-


gen, um die die Betriebsbeihilfe aus unterschiedlichen<br />

Gründen gekürzt werden kann (vgl. Art. 41 der<br />

VO 1782/2003), gebildet wird. Hierbei handelt es<br />

sich im Wesentlichen um den Ausgleich von Härtefällen,<br />

in denen die Mitgliedstaaten einem Betriebsinhaber,<br />

der sonst keinen Anspruch auf die Prämie<br />

hätte, einen solche Betriebsbeihilfe zahlen können<br />

ohne jedoch den Gleichheitsgrundsatz zu vernachlässigen<br />

und unter Vermeidung von Markt- und<br />

Wettbewerbsverzerrungen.<br />

Ferner regelt die Verordnung die Übertragung von<br />

Zahlungsansprüchen sowie die besonderen Bedingungen<br />

für Futterflächen (Art. 28), Hanferzeugung<br />

(Art. 29), für Milchprämien (Art. 31 sowie für die<br />

Flächenstilllegung (Art. 32).<br />

Die Verordnungen für einzelne Marktordnungen.<br />

a) Tabaksektor. Die Reform hatte im Jahre 1998 die<br />

Prämienzahlungen von der Qualität des Tabaks abhängig<br />

gemacht, verbesserte Kontrollverfahren und<br />

ein vereinfachtes Management des Sektors eingeführt<br />

sowie die Möglichkeit einer Quotenübertragung<br />

zwischen Produzenten zur Verbesserung der<br />

Produktionsstruktur geboten. Außerdem war ein gemeinschaftlicher<br />

Tabakfonds geschaffen worden,<br />

dessen Beiträge in der Folgezeit verdoppelt wurden<br />

(VO 1636/1998, ABl. L 210/1998). Der Tabaksektor<br />

wurdedurchdieAgenda2000einererneutenReform<br />

unterzogen. Seit 2003 dient der Fonds auch dazu, Tabakproduzenten<br />

den Wechsel zur Produktion anderer<br />

landwirtschaftlicher Erzeugnisse zu ermöglichen.<br />

Mit der Verordnung 1782/2003, geändert<br />

durch die VO 864/2004 (ABl. L 161/2004), wurde<br />

der Tabaksektor in die Regelung einer einheitlichen<br />

Betriebsprämie einbezogen. Die vollständige Entkoppelung<br />

der Betriebsprämie von den produzierten<br />

Mengen wird ab dem Jahre 2010 erfolgen. Die Zahlungen<br />

sind auch hier bedingt durch die Einhaltung<br />

der gesetzlichen Umwelt- und Gesundheitsstandards,<br />

der anderweitigen Verpflichtungen, der Modulation<br />

und der Haushaltsdisziplin.<br />

b) Hopfen und Saatgut. Hopfen ist ab 2005 in die einheitliche<br />

Betriebsprämie einbezogen mit einer Übergangsfrist<br />

bis zum 31. 12. 2005. Das gleiche gilt für<br />

Saatgut ab dem Wirtschaftsjahr 2005/2006, nachdem<br />

die Kommissions-VO 709/98 (ABl. L 98/1998)<br />

sowie die Rats-VO 154/2002 (ABl. L 25/2002) hier<br />

bereits Stabilisierungsmaßnahmen eingeführt hatten,dieinsbes.eineMengenbegrenzungderbeihilfeberechtigten<br />

Erzeugnisse vorgenommen hatten.<br />

Gemeinsame Agrarpolitik – Agrarreform<br />

c) Weinmarkt. Die Weinreform auf Grund der Agenda<br />

2000 wurde bereits im Jahre 1999 vorgenommen<br />

(VO 1493/1999, ABl. L 179/1999, anwendbar ab<br />

dem Wirtschaftsjahr 2000/2001) und zielte insbes.<br />

auf eine Vereinfachung der bestehenden Gesetzgebung<br />

durch Zusammenfassung aller 26 Ratsverordnungen<br />

in einer einzigen, auf die Ermöglichung der<br />

Ersetzung nicht marktgerechter Weinsorten durch<br />

besser der Nachfrage angepasste Sorten, auf die Abschaffung<br />

bestimmter künstlicher Verknappungsmaßnahmen<br />

wie der Krisendestillation und der Beibehaltung<br />

nur solcher Destillationsprodukte, die auf<br />

dem Markt absetzbar sind, sowie auf eine generelle<br />

Qualitätsverbesserung durch bessere Vermarktung,<br />

Etikettierung und besseren Schutz der einzelnen Bezeichnungen<br />

(�Weinwirtschaft in der EU).<br />

Eine weitere Ratsverordnung (670/2003, ABl. L<br />

97/2002) hat schließlich nach mehrfachen erfolglosen<br />

Versuchen einen Durchbruch bei der Regelung<br />

für landwirtschaftlichen Alkohol für die unterschiedlichsten<br />

Verwendungen, einschl. der Verwendung<br />

für Bioethanol, erzielt. Die Regelung enthält<br />

keine Interventionsmaßnahmen und ist daher haushaltsneutral.<br />

d) Oliven. Für den Sektor Olivenöl und Tafeloliven<br />

gilt eine Mischregelung: 60 % der Produktionsbeihilfen<br />

aus den Jahren 2000 – 2002 werden in die einheitliche<br />

Betriebsprämie eingebracht (VO 864/<br />

2004, ABl. L 161/2004), die restlichen 40 % werden<br />

als Flächenprämie in Gebieten gezahlt, in denen die<br />

Olivenerzeugung von besonderer wirtschaftlicher<br />

oder sozialer Bedeutung ist. Die VO 865/2004 (ABl.<br />

L 161/2004) enthält die neue Gemeinsame Marktordnung<br />

für Tafeloliven und Olivenöl.<br />

e) Baumwolle ist ebenfalls durch die VO 864/2004 in<br />

die Agrarreform 2003 eingebracht worden, auch hier<br />

in einer Mischform zwischen Betriebsprämie (65 %)<br />

und Flächenprämie (35 %) und einer Übertragung<br />

zugunsten des Budgets zur Entwicklung der ländlichen<br />

Räume.<br />

f) Milch und Milchprodukte. Das �Quotensystem ist<br />

bis 2015 verlängert. Die Preise für Magermilchpulver<br />

und Butter werden seit 2004 um 15 bzw. 25 % pro<br />

Jahr für vier Jahre insgesamt gesenkt. Für diese<br />

PreissenkungenwirdeinAusgleichvon60%gezahlt<br />

bis zur Entkoppelung der Prämie im Jahre 2007 (oder<br />

früher, wenn der Mitgliedstaat es so entscheidet)<br />

(Art. 95 ff. Rats-vo 1782/2003, ABl. L 270/2003).<br />

Der Interventionspreis für Butter wird auf 90 % ge-<br />

375


Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik<br />

senkt und die interventionsfähigen Mengen (70 000<br />

to im Jahre 2004) werden bis 2008 auf 30 000 to gesenkt.<br />

g) Lebendvieh, Rindfleisch und Kalbfleischsektor.<br />

Hier setzen Artikel 122 ff. VO 1782/2003 differenzierte<br />

Regeln fest je nachdem, ob es sich bei dem Tier<br />

um einen Bullen, einen Ochsen, eine Mutter- oder<br />

Milchkuh bzw. eine Färse handelt. Bei den Bullen<br />

dürfen pro Betrieb für höchstens 90 Bullen Prämien<br />

gezahlt werden. Für Mutterkuhprämien werden die<br />

Höchstgrenzen individuell pro Betrieb festgelegt.<br />

Die Grundlagen hierfür finden sich in Art. 7 der Verordnung<br />

1254/1999 (ABl. L 160/1999). Im Einzelnen<br />

regeln die Art. 130 ff. der VO 1782/2003<br />

Schlachtprämien, Besatzdichte und Extensivierungsprämien,<br />

alle darauf ausgelegt, auch den Rindfleisch-<br />

und Kalbfleischsektor aus der Massenproduktion<br />

heraus in die Qualitätsproduktion zu führen.<br />

Als Reaktion auf die BSE-Krise wurden zusätzlich<br />

im Jahre 2000 durch die VO 1760/2000 (ABl. L<br />

204/2000)sehrdetaillierteRegelnfürdieIdentifizierung<br />

und Registrierung von Rindern sowie für die<br />

Etikettierung von Rindfleisch und Rindfleischprodukten<br />

eingeführt.<br />

h) Schafe und Ziegen. Die gemeinsame MarktordnungfürSchafeundZiegenwurdedurchRatsverordnung<br />

2529/2001 (ABl. L 43/2001) reformiert.<br />

i)BienenzuchtundHonigproduktion.DieReformerfolgte<br />

durch Ratsverordnung 797/2004 (ABl. L 125/<br />

2004).DerletztgenannteSektorzeichnetsichinsbes.<br />

dadurch aus, dass seine Hauptfunktionen die Erhaltung<br />

wirtschaftlicher Aktivitäten in ländlichen Gebieten<br />

sind, die zum Erhalt des ökologischen Gleichgewichtesbeitragen.<br />

A. M.-W.<br />

Gemeinsame Aktion. Mit dem �Maastrichter Vertrag<br />

(vgl. Art. 14 EUV) eingeführtes förmliches Instrument<br />

der �GASP (s. a.�Gemeinsamer Standpunkt,<br />

�Gemeinsame Strategie) zur Festlegung des<br />

Vorgehens der EU in spezifischen Situationen, in denen<br />

eine – regelmäßig mit Kosten verbundene – operative<br />

Aktion der Union für notwendig erachtet wird.<br />

In dem Text der Gemeinsamen Aktion sind die mit<br />

ihr verfolgten Ziele, ihr Umfang, die der Union zur<br />

Verfügung stehenden Mittel sowie die Bedingungen<br />

und erforderlichenfalls der Zeitraum für ihre Durchführung<br />

festgelegt. Beispiele betreffen zivile oder<br />

militärische Operationen im Rahmen der internationalen<br />

Krisenbewältigung (�ESVP), die Ernennung<br />

376<br />

von �EU-Sonderbeauftragten (EUSB) und die Entsendung<br />

von Wahlbeobachtern. Gemeinsame Aktionen<br />

sind für die Mitgliedstaaten bei ihren Stellungnahmen<br />

und ihrem Vorgehen völkerrechtlich bindend<br />

(Ausnahme bei Stimmenthaltung und Abgabe<br />

einer Erklärung; vgl. �GASP). Sie werden vom Rat<br />

einstimmig verabschiedet. �Qualifizierte Mehrheit<br />

ist nur für die Fälle vorgesehen, in denen der Rat eine<br />

Gemeinsame Aktion zur Durchführung einer Gemeinsamen<br />

Strategie oder einen Beschluss zur<br />

Durchführung einer Gemeinsamen Aktion fasst.<br />

HiervonhabendieMitgliedstaaten–nichtzuletztaus<br />

Sorge vor einer unkontrollierten Aufweichung des<br />

Konsensprinzips in der GASP – bisher nur in einem<br />

Einzelfall Gebrauch gemacht (Gemeinsame Aktion<br />

im Bereich der Nichtverbreitung in Umsetzung der<br />

GemeinsamenStrategiezuRussland). U. S.<br />

Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik<br />

(GASP)<br />

1. Begriff und historische Entwicklung: Bezeichnung<br />

für die unter Titel V des EUV (Art. 11 ff.) näher<br />

beschriebene Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten<br />

der EU im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik.<br />

Integraler Bestandteil der GASP ist die �Europäische<br />

Sicherheits- und Verteidigungspolitik<br />

(ESVP). Die Kommission ist an den Arbeiten innerhalbderGASP„invollemUmfang“beteiligt(Art.27<br />

EUV). Mitgliedstaaten und Kommission, und damit<br />

de iure nicht der �Hohe Vertreter (HR), können den<br />

Rat mit Fragen der GASP befassen und ihm Vorschläge<br />

unterbreiten (Art. 22 EUV). Die GASP erfasst<br />

– unter Maßgabe des allg. �Subsidiaritätsprinzips(Art.2EUV,Art.5EGV)–alleBereichederAußen-<br />

und Sicherheitspolitik. Die Mitgliedstaaten<br />

sind verpflichtet, die GASP „im Geiste der Loyalität<br />

und gegenseitigen Solidarität“ zu unterstützen. Sie<br />

haben sich jeder Handlung zu enthalten, die den Interessen<br />

der Union zuwiderlaufen oder die Wirksamkeit<br />

der Union als kohärente Kraft in den internationalen<br />

Beziehungen schaden könnte (Art. 11 Abs. 2<br />

EUV). In außen- und sicherheitspolitischen Fragen<br />

von allgemeiner Bedeutung haben sich die Mitgliedstaaten<br />

im Rat gegenseitig zu unterrichten bzw. sich<br />

abzustimmen (Art. 16 EUV). Das gilt bspw. auch für<br />

Reisen und bilaterale Aktivitäten einzelner Mitgliedstaaten<br />

gegenüber Dritten. In internationalen<br />

Organisationen und auf internationalen Konferenzen<br />

müssen die Mitgliedstaaten ihr Handeln koordi-


nieren, wobei die nicht vertretenen Mitgliedstaten<br />

der EU über Unterrichtungsrechte an dieser Koordinierung<br />

beteiligt sind (Art. 19 Abs. 2 EUV). Diejenigen<br />

Mitgliedstaaten der EU, die Mitglieder des Sicherheitsrats<br />

der Vereinten Nationen sind, müssen<br />

sich untereinander abstimmen und die übrigen Mitgliedstaaten<br />

unterrichtet halten. Dabei sind die Mitgliedstaaten,diezugleichpermanenteMitgliederdes<br />

Sicherheitsrats sind, verpflichtet, sich für die StandpunkteundInteressenderUnioneinzusetzen(Art.19<br />

Abs. 2 EUV), wodurch sie in der Ausübung ihres<br />

„Vetorechts“ (vgl. Art. 27 Abs. 3 VN-Charta) gegenüber<br />

den übrigen EU-Mitgliedstaaten in einer eigenständigen<br />

Verantwortung stehen. In der Praxis wird<br />

diese Verpflichtung zur Zusammenarbeit weitgehend<br />

erfolgreich umgesetzt. Gleichwohl ist gerade<br />

bei den Mitgliedstaaten, die permanente Mitglieder<br />

des Sicherheitsrats sind, immer wieder Zurückhaltung<br />

spürbar, wenn es darum geht, ihre Sonderstellung<br />

in den Vereinten Nationen systematisch und in<br />

vollem Umfang dem Abstimmungs- und Kohärenzgebot<br />

der EU zu unterstellen.<br />

2. Historische Entwicklung: Die GASP wurde mit<br />

der Gründung der Europäischen Union (EU) durch<br />

den �Maastrichter Vertrag (1992) in das Europäische<br />

Vertragswerk aufgenommen. Die GASP löste<br />

die �Europäische Politische Zusammenarbeit (EPZ)<br />

ab, unter deren Dach die Mitgliedstaaten der EU seit<br />

1970 die Fortschreibung der politischen Integration<br />

auf dem Gebiet der Außen- und Sicherheitspolitik<br />

suchten.WiedieEPZ,soistauchdieGASPintergouvernemental<br />

organisiert. Die Verträge von Amsterdam<br />

(1997) und Nizza (2001) haben zwar den Aufbau<br />

weitreichender Strukturen ermöglicht. Der entscheidende<br />

Schritt zur Vertiefung in der GASP steht<br />

jedoch noch aus. Insbesondere wurde das erstmals<br />

im �Vertrag von Amsterdam aufgenommene Instrument<br />

der verstärkten Zusammenarbeit, mit der einzelnen<br />

Mitgliedstaaten die Möglichkeit eröffnet<br />

wurde,mitderIntegrationinderGASP(nichtESVP)<br />

unter Inanspruchnahme der Organe, Verfahren und<br />

Mechanismen der EU voranzuschreiten, nicht genutzt.<br />

Die Hoffnungen richten sich darauf, dass der<br />

entscheidende Schritt hin zur Überwindung der bestehenden<br />

Dichotomie der �„Säulen“ in der EU nunmehr<br />

mit dem Vertrag über eine Europäische Verfassung<br />

(�Verfassungsvertrag 2004) getan werden<br />

kann, die die Einführung des Amts des �Europäischen<br />

Außenministers (EU-AM) vorsieht.<br />

Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik<br />

3.Ziele:Art.11EUVdefiniertalsZielederGASP<br />

– die Wahrung der gemeinsamen Werte, der grundlegenden<br />

Interessen, der Unabhängigkeit und der<br />

Unversehrtheit der Union im Einklang mit den<br />

Grundsätzen der VN,<br />

– dieStärkungderSicherheitderUnioninallenihren<br />

Formen,<br />

– die Wahrung des Friedens und die Stärkung der internationalenSicherheitentsprechenddenGrundsätzen<br />

der Charta der Vereinten Nationen sowie den<br />

PrinzipienderSchlussaktevonHelsinkiunddenZielen<br />

der Charta von Paris einschl. derjenigen, welche<br />

die Außengrenzen betreffen,<br />

– die Förderung der internationalen Zusammenarbeit<br />

und<br />

– die Entwicklung und Stärkung von Demokratie<br />

und Rechtsstaatlichkeit sowie der Achtung der Menschenrechte<br />

und Grundfreiheiten.<br />

Die �Europäische Sicherheitsstrategie (ESS) vom<br />

12./13. 12 .2003 konkretisiert diese Ziele und entwickelt<br />

sie im Lichte der terroristischen Anschläge auf<br />

das World Trade Center in New York und das Pentagon<br />

am 11. 9. 2001 als „politische Willenserklärung“<br />

weiter.<br />

4. Handlungsformen: Der EU-Vertrag führt in Art.<br />

12 in einer abschließend wirkenden Aufzählung die<br />

förmlichen Handlungsinstrumente der GASP auf. Es<br />

sind dies Entscheidungen des Europäischen Rats<br />

bzw. des Rats, mit denen die Grundsätze und allgemeinen<br />

Leitlinien für die GASP, �Gemeinsame Strategien,<br />

�Gemeinsame Aktionen, �Gemeinsame<br />

Standpunkte und der Ausbau der regelmäßigen Zusammenarbeit<br />

der Mitgliedstaaten bei der Führung<br />

ihrer Politik beschlossen werden. Darüber hinaus<br />

steht der GASP ein ganzes Spektrum im EU-Vertrag<br />

nicht ausdrücklich aufgeführter Handlungsinstrumente<br />

offen, darunter Schlussfolgerungen, Erklärungen,<br />

Entschließungen sowie Entscheidungen<br />

sonstiger Art. In der Praxis hat sich das abgestufte<br />

System von Rechtsakten und damit auch die vom<br />

Vertrag für die GASP vorgesehene Hierarchisierung<br />

zwischen dem Europäischen Rat (ER) und dem Rat<br />

nicht durchgesetzt. So hat die Gemeinsame Strategie,diealleinderERalsdashöchstepolitischeOrgan<br />

der EU beschließen kann, für die operative GASP<br />

heute keine Bedeutung mehr. Zur Festlegung auch<br />

längerfristiger (konkreter) Ziele in der GASP hat<br />

sichimBereichderförmlichenInstrumentevielmehr<br />

der Gemeinsame Standpunkt durchgesetzt, womit<br />

377


Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik<br />

diegewachseneBedeutungdesRatsauchfürdie„allgemeinen<br />

Leitlinien“ der GASP einschl. der ESVP<br />

unterstrichen wird. Daraus allerdings insgesamt auf<br />

ein weichendes Interesse des ER an der GASP zu<br />

schließen, dürfte – wie bspw. die Verabschiedung<br />

der Europäischen Sicherheitsstrategie (ESS) oder<br />

der Strategie gegen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen<br />

im Dezember 2003 belegt – verfehlt<br />

sein.<br />

5. Beschlussfassung (Art. 23 EUV): Für Beschlüsse<br />

in der GASP gilt der Grundsatz der Einstimmigkeit.<br />

(„Einfache“) Enthaltungen stehen der Annahme eines<br />

Beschlusses nicht entgegen. Verbindet ein Mitgliedstaat<br />

die Enthaltung mit einer förmlichen Erklärung<br />

(„konstruktive“ Enthaltung), ist er nicht verpflichtet,<br />

den Beschluss durchzuführen. Verfügen<br />

die Mitgliedstaaten, die sich auf diese Weise der<br />

Stimme enthalten, über mehr als zwei Drittel der gewogenen<br />

Stimmen, kommt der Beschluss nicht zustande.<br />

Mit den Verträgen von Amsterdam (1997) und Nizza<br />

(2001) wurde das in der GASP geltende Konsensprinzip<br />

erstmals um Entscheidungen mit qualifizierter<br />

Mehrheit ergänzt. Die Ergänzungen bleiben allerdings<br />

auf wenige enumerativ aufgeführte Einzelfälle<br />

beschränkt. Sie betreffen im EU-Vertrag<br />

– Gemeinsame Standpunkte, Gemeinsame Aktionen<br />

und sonstige Beschlüsse, die der Rat auf der<br />

GrundlageeinerGemeinsamenStrategiebeschließt,<br />

– Beschlüsse zur Durchführung eines Gemeinsamen<br />

Standpunkts oder einer Gemeinsamen Aktion<br />

(einschl. der Beschlüsse über Übereinkünfte mit<br />

Drittstaaten oder internationalen Organisationen,<br />

vgl. Art. 24 Abs. 3 EUV), und<br />

– die Ernennungen von Sonderbeauftragten (Art. 18<br />

Abs. 5, 23 Abs. 2 EUV).<br />

Im EG-Vertrag kommt die Ernennung des Generalsekretärs<br />

des Rats hinzu, der zugleich �Hoher Vertreter<br />

(i. d. R. kurz „HR“ genannt) für die GASP ist<br />

(Art. 207 Abs. 2 EGV, Art. 26 EUV). Erklärt ein Mitgliedstaat,<br />

dass er aus Gründen der nationalen Politik,<br />

die er nennen muss, die Absicht hat, einen im Bereich<br />

der GASP mit qualifizierter Mehrheit zu fassenden<br />

Beschluss abzulehnen, so erfolgt keine Abstimmung.<br />

In diesem Fall kann der Rat jedoch mit<br />

qualifizierter Mehrheit den ER um eine einstimmige<br />

Beschlussfassung bitten. Beschlüsse mit militärischen<br />

oder verteidigungspolitischen Bezügen sind<br />

von der Beschlussfassung mit qualifizierter Mehr-<br />

378<br />

heit ausgeschlossen. In der Praxis spielen in der<br />

GASP Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit<br />

eine nur untergeordnete Rolle. Die Mitgliedstaaten<br />

bleiben bemüht, das Konsensprinzip auch dann aufrecht<br />

zu erhalten, wenn „Kampfabstimmungen“ zulässig<br />

– und der Sache förderlich – wären. Das gilt<br />

auch für die mit dem Vertrag von Amsterdam geschaffene<br />

Möglichkeit, Umsetzungsentscheidungen<br />

bei Gemeinsamen Strategien mit qualifizierter<br />

Mehrheit zu verabschieden. Das hierin liegende Potential<br />

zur Erhöhung der Effektivität der GASP ist<br />

von den EU-Mitgliedstaaten bisher noch nicht einmal<br />

ansatzweise genutzt worden. Andererseits lässt<br />

sich durchaus feststellen, dass die in der Anfangsphase<br />

der GASP noch allseits gegenwärtige Bereitschaft,<br />

zur Verhinderung einer Entscheidung das<br />

„Veto“ einzusetzen, auch in der EU „zu 25“ zunehmend<br />

der Sorge weicht, auf dem Wege zum Konsens<br />

„isoliert“ zu werden. Fragen über „Krieg oder Frieden“,<br />

wie sie 2003 im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung<br />

um den Irak auftraten, werden aber<br />

vermutlich auch in Zukunft ausreichend Sprengkraft<br />

besitzen, um das innereuropäische und das transatlantische<br />

Verhältnis nachhaltig zu stören. Bleibt der<br />

Ausblick auf die Europäische Verfassung, die versucht,<br />

die Zurückhaltung gegenüber Mehrheitsentscheidungen<br />

durch sog. Flexibilitätsinstrumente wie<br />

die„verstärkteZusammenarbeit“oderdie �„strukturierteZusammenarbeit“inderESVPauszuhöhlen.<br />

Über Verfahrensfragen entscheidet der Rat mit einfacher<br />

Mehrheit.<br />

6. Außenvertretung: Die Außenvertretung der Union<br />

obliegt dem Vorsitz (auch Präsidentschaft genannt),<br />

der halbjährlich zwischen den Mitgliedstaaten der<br />

Union rotiert (mit Inkrafttreten der Europäischen<br />

Verfassung wird das Rotationsprinzip durch ein System<br />

von „Team-Präsidentschaften“, im Bereich der<br />

GASPdurchdenEuropäischenAußenministerabgelöst<br />

werden). Der Vorsitz wird vom Generalsekretär<br />

des Rats unterstützt, der zugleich die Aufgabe eines<br />

�HohenVertretersfürdieGASPwahrnimmt(Art.18<br />

Abs. 3 EUV). Die Kommission, die an den Arbeiten<br />

in der GASP „in vollem Umfang beteiligt“ wird, ist<br />

auch in die Arbeiten des Vorsitzes uneingeschränkt<br />

eingebunden (Art. 18 Abs. 4 EUV). Die aus Vorsitz,<br />

Hohem Vertreter und Kommission bestehende sog.<br />

�„Troika“, die im Vertrag von Maastricht noch –<br />

schwerfällig – aus der vorangegangenen, der gegenwärtigen<br />

und der zukünftigen Präsidentschaft be-


stand, kann nach Bedarf durch einen Vertreter des<br />

nachfolgenden Vorsitzes ergänzt werden („erweiterte<br />

Troika“). (Sind auch andere Mitgliedstaaten zu<br />

den Beratungen der Troika eingeladen, handelt es<br />

sich um eine sog. „offene Troika“.) Damit sind in der<br />

heutigen Troika im „Dreiklang“ die entscheidenden<br />

Akteure in der GASP zusammengeführt. Der Hohe<br />

Vertreter, dessen Amtszeit fünf Jahre beträgt, ist dabei<br />

der „Anker“ für Kontinuität und Sichtbarkeit der<br />

Union nach außen. Sein Amt soll mit der Einführung<br />

der Europäischen Verfassung durch Zusammenführung<br />

mit dem Amt des Außenkommissars zum Europäischen<br />

Außenminister (EU-AM) ausgebaut werden,<br />

womit sich auch die Troika überlebt haben wird.<br />

Für besondere politische Fragen kann der Rat �Sonderbeauftragte<br />

(EUSB) ernennen (Art. 18 Abs. 5<br />

EUV), die regelmäßig regionale Zuständigkeiten haben<br />

und in der Praxis dem Hohen Vertreter unterstehen<br />

und von ihm gesteuert werden.<br />

7. Strukturen: Ungeachtet der zentralen Zuständigkeit<br />

des Rats für das einheitliche, kohärente und<br />

wirksame Vorgehen der Union (Art. 13 Abs. 3 EUV)<br />

ist zentrales Steuerungsorgan im „Tagesgeschäft“<br />

der GASP das vom Europäischen Rat (ER) in Köln<br />

1999 beschlossene und im Vertrag von Nizza (2001)<br />

aufgenommene �Politische und SicherheitspolitischeKomitee(PSK).DasPSKverfolgtv.a.dieinternationale<br />

Lage und trägt zur Festlegung der Politiken<br />

des Rats bei (Art. 25 EUV). Das PSK kann vom Rat<br />

im Rahmen von ESVP-Operationen mit Sondervollmachten<br />

ausgestattet werden (vgl. Art. 25 EUV). Es<br />

überwachtundsteuertinnerhalbdeseinheitlicheninstitutionellenRahmensderEUdieGASP-relevanten<br />

Arbeiten der zahlreichen regional und sachlich definierten<br />

Arbeitsgruppen des Rats. Diese sind nach ihrer<br />

weitgehenden Zusammenlegung („Fusionierung“)infolgederÜberführungderEPZindieGASP<br />

regelmäßig gleichermaßen mit Materie der Gemeinschaft<br />

(erste „Säule“) und der GASP (zweite „Säule“)<br />

befasst. Das PSK wird im Bereich des Krisenmanagements<br />

von der politisch-militärischen Arbeitsgruppe<br />

(PMG) und dem �Ausschuss für nichtmilitärische<br />

Aspekte des Krisenmanagements (CivCom)<br />

beraten. Der �EU-Militärausschuss (EUMA) berät<br />

das PSK ausschließlich in militärischen Fragen. Die<br />

Prüfung der zahlreichen säulenübergreifenden (sog.<br />

„horizontalen“) Aspekte der GASP, zu denen insbes.<br />

rechtliche, institutionelle und den Haushalt betreffende<br />

Fragen gehören, obliegt der Gruppe der RE-<br />

Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik<br />

LEX-Botschaftsräte. Sie bilden in diesen Fragen das<br />

Bindeglied zwischen dem PSK als Einrichtung der<br />

GASP und dem �Ausschuss der Ständigen Vertreter<br />

(AStV), dessen Aufgabe es ist, als „filtre unique“<br />

säulenübergreifend die Arbeiten des Rats vorzubereiten.<br />

Der Rat wird in seiner politischen Arbeit von<br />

seinem Generalsekretariat unterstützt, das seit der<br />

Einführung der GASP-Strukturen in Brüssel Anfang<br />

2000 und der Erweiterung der Union auf 25 Mitglieder<br />

im Mai 2004 kontinuierlich ausgebaut wurde und<br />

dank der wachsenden Bedeutung des Amts des Hohen<br />

Vertreters (HR) auch deutlich an Einfluss auf die<br />

Arbeit des Rats im Bereich der GASP gewonnen hat,<br />

einschl. der Entwicklung eigener Initiativen. Innerhalb<br />

des Ratssekretariats sind mit Fragen der GASP<br />

neben der Generaldirektion E (Außenbeziehungen)<br />

vor allem, die �Strategieplanungs- und Frühwarneinheit<br />

(kurz „Politikeinheit“ genannt) und das<br />

�EU-Lagezentrum befasst. Eine selbständige GeneraldirektiondesGeneralsekretariatsbildetder�Militärstab<br />

der EU (EUMS), in den auch die im Rahmen<br />

der Führung von Krisenmanagementoperationen der<br />

EU mit Sonderfunktionen ausgestattete sog. �zivil-militärische<br />

Zelle eingegliedert ist.<br />

8. Internationale Übereinkommen: Vor dem Hintergrund<br />

der fehlenden Völkerrechtssubjektivität der<br />

EU kann der Rat den Vorsitz, der ggf. von der Kommission<br />

unterstützt wird, ermächtigen, mit Drittstaaten<br />

oder internationalen Organisationen Verhandlungen<br />

über den Abschluss von völkerrechtlichen<br />

Verträgen zu führen, die zur Durchführung der<br />

GASP notwendig sind (Art. 24 EUV). Ein Beispiel<br />

fürderartigeÜbereinkünftesinddieVerträgezurBeteiligung<br />

von Drittstaaten an Krisenmanagementoperationen<br />

der EU und die für die Stationierung dieser<br />

Truppen notwendigen Vereinbarungen über<br />

Truppenstatute mit dem Gastland. Die Übereinkünfte<br />

binden die Organe der Union. Wird die Übereinkunft<br />

zur Durchführung einer Gemeinsamen Aktion<br />

oder eines Gemeinsamen Standpunkts ins Auge gefasst,<br />

so beschließt der Rat mit qualifizierter Mehrheit<br />

(Art. 24 EUV). Ein Mitgliedstaat, der erklärt,<br />

dass verfassungsrechtliche Vorschriften in seinem<br />

Lande der Umsetzung einer Übereinkunft entgegensteht,<br />

ist durch solche Übereinkünfte nicht gebunden.<br />

Die übrigen Mitgliedstaaten können in diesem<br />

Fall aber für sich die vorläufige Anwendung der<br />

Übereinkunft beschließen.<br />

9. Finanzierung: Finanzierungsquellen der GASP<br />

379


Gemeinsame Ermittlungsteams<br />

sind der Haushalt der EG und die Mittel, die die Mitgliedstaaten<br />

im Rahmen der GASP unmittelbar zur<br />

Verfügung stellen. Der EU-Vertrag unterscheidet im<br />

Bereich der GASP zwischen „Verwaltungsaufgaben“<br />

und „operativen Ausgaben“, wobei unterschiedliche<br />

Folgen für die Kostentragung daran geknüpft<br />

werden, ob es sich um Ausgaben aufgrund<br />

von Maßnahmen mit militärischen oder verteidigungspolitischen<br />

Bezügen oder sonstige Ausgaben<br />

handelt (Art. 28 EUV). Verwaltungsausgaben sind<br />

dem EG-Haushalt zuzurechnen. Operative Ausgaben<br />

ohne militärische oder verteidigungspolitische<br />

Bezüge gehen ebenfalls zu Lasten des EG-Haushalts,<br />

es sei denn, der Rat beschließt einstimmig etwas<br />

anderes. Der Titel des EG-Haushalts, aus dem<br />

die operativen „zivilen“ Ausgaben bestritten werden,<br />

wird dabei (fälschlich) kurz oft „GASP-Haushalt“<br />

genannt. Ausgaben mit militärischen oder verteidigungspolitischen<br />

Bezügen sind von den Mitgliedstaaten<br />

zu tragen, wobei als Regel gilt, dass sie<br />

nach dem Bruttosozialprodukt untereinander aufzuteilen<br />

sind. Der Rat kann allerdings auch hier einstimmig<br />

eine andere Kostenaufteilung beschließen.<br />

Im Bereich des Krisenmanagements hat der Rat zur<br />

Festlegung von Einzelheiten sog. Leitlinien für die<br />

Ausgabenpraxis sowohl im zivilen wie im militärischen<br />

Bereich erlassen. Während im zivilen Bereich<br />

der Grundsatz gilt, dass die Kosten – auch durch Umschichtungen<br />

– so weit wie möglich aus dem Gemeinschaftshaushalt<br />

zu bezahlen sind, gilt für den<br />

militärischen Bereich aufgrund einer Entscheidung<br />

des Rats abweichend vom Leitbild des EU-Vertrags<br />

die Regel, dass die Kosten dort zu tragen sind, wo sie<br />

anfallen. Über einzelne, besonders kostenträchtige<br />

Positionen wie die Kosten des Transports von Truppen<br />

sowie Unterkünfte und Verpflegung muss der<br />

Rat im Einzelfall entscheiden, ob sie gemeinsam<br />

oder nach dem Verursacherprinzip zu zahlen sind.<br />

Die Verwaltung der Mittel, die zur Finanzierung der<br />

gemeinsam zu tragenden Kosten einer militärischen<br />

Operation notwendig sind, regelt ein ATHENA genannter<br />

„Mechanismus“, der auch die notwendigen<br />

VorauszahlungenfürjedeeinzelneOperationregelt.<br />

Die Finanzierung bleibt eine „Schwachstelle“ der<br />

GASP. Die bestehenden Richtlinien und Regeln sind<br />

nicht zuletzt Ausdruck der Not, aus Mangel an Mitteln<br />

im EG-Haushalt bzw. EU-vertraglicher Vorgaben<br />

ergänzend nationale Finanzquellen verfügbar zu<br />

machen bzw. die Gefahr kostentreibender Inrech-<br />

380<br />

nungstellungsog.„gemeinsamerKosten“dadurchin<br />

Grenzen zu halten, dass der Verursacher sie selber<br />

tragen muss („costs lie where they fall“-Prinzip).<br />

Hintergrund der Auseinandersetzung um eine ausreichende<br />

Mittelausstattung des „GASP-Haushalts“<br />

ist im Kern die Auseinandersetzung zwischen Kommission<br />

und Europäischem Parlament (EP) einerseits<br />

sowie dem Rat und den Mitgliedstaaten andererseitsüberdasangemesseneMaßunddenrichtigen<br />

Zeitpunkt einer Beteiligung des EP an den Entscheidungen<br />

und der Durchführung der GASP. Die Interinstitutionellen<br />

Vereinbarungen zwischen Rat, EP<br />

und Kommission, die zuletzt 2004 mit dem Ziel einer<br />

Stärkung der Rechte des EP überarbeitet wurden,<br />

brachten bisher regelmäßig nur für kurze Zeit Entspannung<br />

in diese Streitfrage.<br />

Ein Mitgliedstaat, der im Rat eine förmliche Erklärung<br />

abgibt, mit der er sich einer Entscheidung enthält,<br />

ist nicht verpflichtet, zur Finanzierung von Ausgaben<br />

im militärischen oder verteidigungspolitischen<br />

Bereich beizutragen. In der Praxis macht von<br />

dieser Möglichkeit regelmäßig Dänemark aufgrund<br />

seiner besonderen Haltung in der �Europäischen Sicherheits-<br />

und Verteidigungspolitik (ESVP) Gebrauch.<br />

U. S.<br />

Gemeinsame Ermittlungsteams �Europol<br />

Gemeinsame Fischereipolitik �Fischereipolitik<br />

Gemeinsame Forschungsstelle (GFS). Die GFS<br />

wurde1958imRahmenderEuratomalsgemeinsame<br />

Kernforschungsstelle zur friedlichen Nutzung der<br />

Kernenergie gegründet (Rechtsgrundlage: Art. 8<br />

EAGV). Später wurden die Arbeitsgebiete auf Politikbereiche<br />

der EG wie nicht-nukleare Energie,<br />

Werkstoffe, Umweltforschung, Landwirtschaft, Gesundheit,<br />

Verbraucherschutz erweitert. Die GFS ist<br />

heuteeineGeneraldirektionderKommissionmitsieben<br />

Instituten.<br />

Im Rahmen der �Forschungs- und Technologiepolitik<br />

werden von der GFS und der GFS-Euratom „direkte<br />

Aktionen“ (Forschungsaufträge) durchgeführt,<br />

die vom Rat festgelegt werden. Für das 6. Forschungsrahmenprogramm<br />

im Zeitraum 2002 bis<br />

2006 gelten die Entscheidungen 2002/836 EG bzw.<br />

2002/838 Euratom (beide ABl. L 294/2002). Sie sehen<br />

Mittel in Höhe von 760 Mio. Euro bzw. 290 Mio.<br />

Euro (Euratom) vor. Die GFS übernimmt auch Auf-


tragsarbeiten für Dritte oder nimmt teil an Gemeinschaftsprogrammen<br />

wie Phare oder TACIS.<br />

Die von der GFS betriebenen Institute sind:<br />

– ITU Institute for Transuranian Elements, Karlsruhe<br />

– IRMMInstituteforReferenceMaterialsandMeasurement,<br />

Geel (Belgien)<br />

– IE Institute for Energy, Petten (Niederlande)<br />

– IPTS Institute for Prospective Technological Studies,<br />

Sevilla (Spanien)<br />

– IPSCInstitutefortheProtectionandtheSecurityof<br />

the Citizen, Ispra (Italien)<br />

– IES Institute for Environment and Sustainability,<br />

Ispra (Italien)<br />

– IHCP Institute for Health and Consumer Protection,<br />

Ispra (Italien)<br />

Gemeinsame Marktordnungen �Gemeinsame<br />

Agrarpolitik (GAP)<br />

Gemeinsame Marktorganisation �Gemeinsame<br />

Agrarpolitik (GAP)<br />

Gemeinsame Maßnahmen (nach Titel VI EUV)<br />

�PJZS<br />

Gemeinsame Strategie<br />

1. Rechtsgrundlage: Mit dem Vertrag von Amsterdam<br />

(vgl. Art. 13 Abs. 2 EUV) eingeführtes förmliches<br />

Instrument der �GASP (s. a. �Gemeinsamer<br />

Standpunkt, �Gemeinsame Aktion) zur Erreichung<br />

von Zielen in Bereichen, in denen wichtige gemeinsame<br />

Interessen der Mitgliedstaaten bestehen. Gemeinsame<br />

Strategien binden die Mitgliedstaaten<br />

„politisch“; sie entfalten keine völkerrechtliche Bindungswirkung.GemeinsameStrategienwerdenvom<br />

�Europäischen Rat (ER) einstimmig beschlossen.<br />

Der Ministerrat kann Empfehlungen für Gemeinsame<br />

Strategien unterbreiten. Er ist für die Umsetzung<br />

derGemeinsamenStrategienverantwortlich.Nimmt<br />

der Rat auf der Grundlage einer Gemeinsamen Strategie<br />

einen Gemeinsamen Standpunkt oder eine GemeinsameAktionanoderfasstereinensonstigenBeschluss<br />

zu ihrer Umsetzung, so reicht für den Umsetzungsakt<br />

– mit Ausnahme von Akten mit militärischen<br />

oder verteidigungspolitischen Bezügen – die<br />

�qualifizierte Mehrheit (Art. 23 Abs. 2 EUV).<br />

2. Anwendung: Der ER hat bisher drei Gemeinsame<br />

Strategien verabschiedet. Diejenigen für Russland<br />

Gemeinsamer Markt<br />

und für die Ukraine sind 2004 ausgelaufen. Die Gemeinsame<br />

Strategie für den Mittelmeerraum läuft<br />

(vorerst) bis Anfang 2006.<br />

3. Ausblick: Die Gemeinsame Strategie hat für die<br />

GASP bisher keine ausschlaggebende Bedeutung erlangt.<br />

Sie gilt allgemein als inhaltlich nicht ausreichend<br />

bestimmt und in der Umsetzung als zu schwerfällig.<br />

Sie bindet als nach innen gerichtetes Instrument<br />

die Drittländer nicht, die mit ihr angesprochen<br />

werden. Damit hat die Gemeinsame Strategie weder<br />

zu der mit ihr angestrebten stärkeren Angleichung<br />

nationalerPolitikennochzueinerBeeinflussungvon<br />

Partnerländern geführt. Vor allem aber hat sich die in<br />

die Gemeinsame Strategie gesetzte Hoffnung nicht<br />

erfüllt, gem. den Vorgaben des EU-Vertrags (vgl.<br />

Art. 23 Abs. 2 EUV) durch vermehrte Umsetzungsakte<br />

der qualifizierten Mehrheit in der GASP „die<br />

Tür zu öffnen“ (lediglich die Gemeinsame Strategie<br />

Russland wurde durch eine Gemeinsame Aktion im<br />

Bereich der Nichtverbreitung durch qualifizierte<br />

Mehrheit verabschiedet). Die GASP-Praxis wird<br />

v.a.durchGemeinsameStandpunkteundGemeinsameAktionenbestimmt.SiesindaufspezifischeKonzepte<br />

und gezielte Aktionen ausgerichtet und damit<br />

besser auf die Anforderungen des GASP-„Tagesgeschäfts“<br />

zugeschnitten. Dieses verlangt vor allem im<br />

Bereich der Krisenbewältigung regelmäßig hohe<br />

Flexibilität und schnelle Reaktionsfähigkeit. Die<br />

Gemeinsame Strategie wird in der GASP voraussichtlich<br />

auch in Zukunft keine größere Rolle spielen.<br />

U. S.<br />

Gemeinsamer Besitzstand �Acquis communautaire<br />

Gemeinsamer Markt. Aufgabe und Ziel der wirtschaftlichen<br />

Integration in der EWG/EG ist es, einen<br />

Gemeinsamen Markt und eine Wirtschafts- und<br />

Währungsunion zu errichten (Art. 2 EGV). Der Gemeinsame<br />

Markt entstand schrittweise als Verschmelzung<br />

der nationalen Märkte der Mitgliedstaaten<br />

durch Aufhebung aller Zölle (�Zollunion) und<br />

zusätzlich aller sonstigen Beschränkungen und Hindernisse<br />

bei der Ein- und Ausfuhr von Waren. Nach<br />

Art. 32 Abs. 1 EGV umfasst der Gemeinsame Markt<br />

auch die Landwirtschaft und den Handel mit landwirtschaftlichen<br />

Erzeugnissen.<br />

Der später (�Einheitliche Europäische Akte) entstandene<br />

Begriff �Binnenmarkt ist gem. Art. 14<br />

381


Gemeinsamer Standpunkt<br />

Abs. 2 EGV ein Raum ohne Binnengrenzen, in dem<br />

zusätzlich auch der Verkehr von Dienstleistungen<br />

und Kapital sowie der Personenverkehr (�Freizügigkeit)<br />

von allen Hindernissen befreit ist.<br />

Gemeinsamer Standpunkt. Mit dem Maastrichter<br />

Vertrag (vgl. Art. 15 EUV) eingeführtes förmliches<br />

Instrument der �GASP (s. a.�Gemeinsame Aktion,<br />

�Gemeinsame Strategie) zur Festlegung des politischen<br />

Konzepts der EU für eine bestimmte Frage<br />

geographischer oder thematischer Art. Beispiele betreffen<br />

restriktive Maßnahmen im Rahmen der Terrorismusbekämpfung,<br />

Visa- und Finanzrestriktionen<br />

gegen die Staatsführung instabiler oder gescheiterter<br />

Staaten, die Unterstützung des Internationalen<br />

Strafgerichtshofs und das Konzept zur Konfliktprävention,-bewältigungund-lösunginAfrika.DerGemeinsame<br />

Standpunkt ist nicht als unmittelbare<br />

Handlungsanweisung gedacht und entfaltet daher<br />

keine völkerrechtliche Bindungswirkung. Die Mitgliedstaaten<br />

haben jedoch dafür Sorge zu tragen,<br />

dass ihre einzelstaatliche Politik mit einem Gemeinsamen<br />

Standpunkt in Einklang steht. (Abstimmungsverfahrens.�GemeinsameAktion.)<br />

U. S.<br />

Gemeinsamer Standpunkt (nach Titel VI EUV,<br />

Bestimmungen über die polizeiliche und justitielle<br />

Zusammenarbeit in Strafsachen) �PJZS<br />

GemeinsamesVokabularfüröffentlicheAufträge<br />

�Nomenklatur<br />

Gemeinschaftlicher Besitzstand �Acquis communautaire<br />

GemeinschaftschartadersozialenGrundrechte<br />

1. Vorgeschichte: Der �Europäische Gewerkschaftsbund<br />

(EGB) forderte 1988 in mehreren StellungnahmendieVerabschiedungeiner„EG-Chartafürsoziale<br />

Grundrechte“. Die Grundrechte müssten vor dem<br />

Europäischen Gerichtshof einklagbar sein. Diese<br />

Position des EGB wurde 1989 vom �Wirtschaftsund<br />

Sozialausschuss und vom Europäischen Parlament<br />

weitgehend geteilt. Auf dem Madrider Treffen<br />

des Europäischen Rates im Juni 1989 weigerte sich<br />

Großbritannien,eineChartadersozialenGrundrechte<br />

im EG-Recht zu verankern, weil die meisten darin<br />

aufgeführten Bestimmungen in die ausschließliche<br />

Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen würden.<br />

382<br />

Die Kommission legte dem Europäischen Rat im Dezember<br />

1989 in Straßburg den Entwurf einer (rechtlich<br />

nicht verbindlichen) „feierlichen Erklärung“ für<br />

eine „Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte<br />

der Arbeitnehmer“ (vereinfachend, aber missverständlich<br />

oft „Sozialcharta“ genannt; �Europäische<br />

Sozialcharta des <strong>Europa</strong>rats) vor, die am 9. 12. 1989<br />

gegen die Stimme Großbritanniens angenommen<br />

wurde. (Großbritannien lehnte auch das Sozialprotokoll<br />

des EU-Vertrags bis zum �Vertrag von Amsterdam<br />

ab.)<br />

SiebekräftigtinihrerPräambel,dassdersozialenDimension<br />

bei der Durchführung der �Einheitlichen<br />

Europäischen Akte (EEA) Rechnung getragen werden<br />

muss. Außerdem sollen die bisher erreichten sozialen<br />

Fortschritte durch Maßnahmen der Gemeinschaft,<br />

der Mitgliedstaaten und der Sozialpartner gefestigt<br />

werden.<br />

2. Inhalte: Die „Gemeinschaftscharta der sozialen<br />

Grundrechte“ umfasst zwölf Grundsätze:<br />

a) Recht auf �Freizügigkeit jedes Arbeitnehmers, in<br />

dem Mitgliedstaat seiner Wahl zu arbeiten;<br />

b) Recht auf freie Wahl und Ausübung eines Berufes<br />

sowie auf ein gerechtes Entgelt;<br />

c) Recht auf verbesserte Lebens- und Arbeitsbedingungen<br />

(Ausgestaltung des Arbeitsrechts, bezahlter<br />

Jahresurlaub);<br />

d) Recht auf angemessenen sozialen Schutz entsprechend<br />

den Gegebenheiten der einzelnen Mitgliedstaaten<br />

und – unabhängig von der Größe des Unternehmens<br />

– auf Leistungen der sozialen Sicherheit;<br />

e) Koalitionsfreiheit der Arbeitgeber und Arbeitnehmer<br />

sowie Recht auf Tarifverhandlungen und Tarifabschlüsse;<br />

f) Recht auf eine Berufsausbildung;<br />

g) Recht von Männern und Frauen auf Gleichbehandlung,<br />

weiterer Ausbau der Chancengleichheit;<br />

h) Recht der Arbeitnehmer auf Unterrichtung, Anhörung<br />

und Mitwirkung;<br />

i) Recht auf Gesundheitsschutz und Sicherung in der<br />

Arbeitsumwelt;<br />

j) Kinder- und Jugendschutz (keine Arbeit unter 15<br />

Jahren, angemessenes Arbeitsentgelt usw.);<br />

k) Recht der älteren Menschen auf einen angemessenen<br />

Lebensstandard (Rentenanspruch, Mindesteinkommen,<br />

Sozialfürsorge, Krankenpflege);<br />

l) Förderung der sozialen und beruflichen Eingliederung<br />

von Behinderten.<br />

3. Umsetzung: Die Kommission hat im November


1989 ein Aktionsprogramm vorgelegt, das etwa 70<br />

konkrete Maßnahmen zur Umsetzung dieser Inhalte<br />

der Sozialcharta enthält. Diese Vorschläge müssen<br />

zum Teil in Gesetzgebungsverfahren auf Gemeinschaftsebene<br />

verabschiedet werden. Einige Richtlinien<br />

(Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz,<br />

Mutterschaftsgeld und -urlaub) sind anschließend<br />

verabschiedet worden. Jedoch stieß die Umsetzung<br />

auf Widerstände einzelner Mitgliedstaaten. Weitere<br />

Initiativen galten der Verbesserung des sozialen<br />

SchutzesfürWanderarbeiteroderderGleichbehandlung<br />

von Frauen und Männern im Arbeitsleben. Da<br />

hier Einstimmigkeit nur schwerlich zu erreichen ist,<br />

wollte die Kommission die gesetzlichen Maßnahmen<br />

durch eine umstrittene, breite Auslegung von<br />

Art. 137 EGV (in der Fassung des Amsterdamer Vertrags)<br />

entsprechend dem Verfahren nach Art. 252<br />

EGV mit �qualifizierter Mehrheit im Rat entscheiden<br />

lassen.<br />

4. Bewertung: Die Gemeinschaftscharta schreibt<br />

weitgehend fest, was bereits mit der EEA in Art. 137<br />

und 139 (Verbesserung der Arbeitsumwelt, Schutz<br />

von Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer,<br />

Entwicklung des Dialogs zwischen den Sozialpartnern<br />

auf EG-Ebene) und in anderen Artikeln des<br />

EG-Vertrags ausgedrückt wird. Neu ist z. B. der<br />

Art. 5 (angemessene Bezahlung). Die Charta berücksichtigt<br />

die bestehenden Regelungen und Besonderheiten<br />

in den Mitgliedstaaten. Sie soll, wie es Präsident<br />

Delors auf der Tagung des Europäischen Rates<br />

im Dezember 1989 ausdrückte, „unseren politischen<br />

Willen aufzeigen, ein soziales <strong>Europa</strong> unter Berücksichtigung<br />

der unerlässlichen Subsidiarität und Diversität<br />

zu schaffen“. Die Erklärung für eine Gemeinschaftscharta<br />

orientiert sich am Prinzip der<br />

�Subsidiarität (Präambel und Art. 27), was nach dem<br />

Selbstverständnis der Kommission bedeutet, dass<br />

die Gemeinschaft erst dann tätig wird, wenn ein ProblemaufuntererEbene(Mitgliedstaatoderregionale<br />

Ebene/Land) nicht oder nicht befriedigend gelöst<br />

werden kann und sich ein Konsens bildet, da gemeinschaftliches<br />

Handeln besser zur Problemlösung<br />

führt. Die Gemeinschaft legt Vorschläge für Richtlinien,<br />

Verordnungen, Entscheidungen oder Empfehlungen<br />

vor (�Rechtsakte).<br />

Die Charta normiert keine Grundrechte, und aus ihr<br />

ist kein konkreter Rechtsanspruch ableitbar. Die<br />

Umsetzung der Grundrechte liegt im Entscheidungsbereich<br />

der Mitgliedstaaten; d. h. die Charta ist keine<br />

Gemeinschaftscharta<br />

Grundlage für EU-Vorschriften. Die Gemeinschaft<br />

kann also weiterhin nur nach dem EG-Vertragsrecht<br />

tätig werden. Vielmehr sind die Eigenverantwortlichkeit<br />

der Mitgliedstaaten und der Sozialpartner<br />

gefragt. Der soziale Standard in den Mitgliedstaaten<br />

bleibt ebenfalls bestehen.<br />

Insgesamt betrachtet, suchte die Gemeinschaft einen<br />

Kompromiss vielfältiger Interessen zu finden: Gegensatz<br />

Arbeitgeber und Arbeitnehmer, unterschiedliche<br />

nationale Interessen, unterschiedliche<br />

soziale Standards in den Mitgliedstaaten, Ausgestaltung<br />

der rechtlichen Grundlage.<br />

Der Maastrichter Vertrag enthält ein zusätzliches<br />

Protokoll über die �Sozialpolitik, in dem bekräftigt<br />

wird, dass die Vertragspartner auf dem durch die Sozialcharta<br />

vorgezeichneten Weg weitergehen wollen.<br />

Dieses Protokoll, dem ein „Abkommen zwischen<br />

den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft<br />

mit Ausnahme des Vereinigten Königreichs<br />

Großbritannien und Nordirland über die Sozialpolitik”<br />

beigefügt ist, wurde mit dem �Vertrag<br />

von Amsterdam in die Sozialvorschriften aufgenommen.<br />

Großbritannien tritt den Regelungen nunmehr<br />

bei. Gemäß dem Verfahren des Art. 251 EGV kann<br />

der Rat in einigen Bereichen (Arbeitsbedingungen,<br />

Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz oder Bekämpfung<br />

sozialer Ausgrenzung) nach Art. 137 EGV<br />

„Mindestvorschriften“ erlassen. Einstimmigkeit<br />

bleibt jedoch bei beschäftigungspolitischen Belangen,<br />

bei Fragen der Arbeitnehmervertretung und<br />

beimsozialenSchutzderArbeitnehmererforderlich.<br />

Der Entwurf einer Europäischen Verfassung, den<br />

das EP am 10. 2. 1994 als Diskussionsgrundlage verabschiedete<br />

(sog. Oreja- oder Herman-Bericht;<br />

�Verfassung / Verfassungsentwürfe), hat in seinem<br />

Katalog der verbürgten �Menschenrechte auch wesentliche<br />

soziale Grundrechte verankert: Berufsfreiheit<br />

und Arbeitsbedingungen, kollektive soziale<br />

Rechte (Recht auf Gewerkschaftsgründungen, Tarifverträge<br />

zwischen den Sozialpartnern, Streikrecht,<br />

Unterrichtung der Arbeitnehmer über die<br />

Wirtschafts- und Finanzsituation ihres Unternehmens),<br />

sozialer Schutz (zum Erhalt der Gesundheit,<br />

medizinische und soziale Hilfe, soziale Sicherheit<br />

für alle Bürger, Anspruch auf menschenwürdiges<br />

Wohnen), Recht auf Bildung (einschließlich Lehrund<br />

Lernmittelfreiheit).<br />

Mit dem Amsterdamer Vertrag hat sich substantiell<br />

nichts geändert. Die Gemeinschaftscharta wird zwar<br />

383


Gemeinschaftsinitiativen<br />

inArtikel136EGVerwähnt,abernicht–wievomEP<br />

gefordert–indenVertragaufgenommen. U. M.<br />

Literatur:<br />

Adamy, W.: Soziale Grundrechte in der Europäischen Gemeinschaft<br />

– zwischen leeren Versprechungen und sozialem<br />

Fortschritt. In: WSI Mitteilungen, Nr. 10. Düsseldorf 1989<br />

Amt für amtliche Veröffentlichungen der EG (Hg.): Die soziale<br />

Dimension im Europäischen Binnenmarkt. Luxemburg 1993<br />

Bercusson, B.: The European Community’s Charter of Fundamental<br />

Rights for Workers; in: Modern Law Review 1990,<br />

S. 62 – 642<br />

Europäisches Parlament (Hg.): Die soziale Dimension des<br />

Binnenmarktes, Materialien und Dokumente. Bonn 1991<br />

Walter-Raymond-Stiftung (Hg.): Die Soziale Ordnung des Europäischen<br />

Binnenmarktes – Einheit oder Vielfalt? Köln 1991<br />

Gemeinschaftsinitiativen (GI) sind – im Unterschied<br />

zu Gemeinschaftsprogrammen – zielgerichtete<br />

Fördermaßnahmen der EU zur Kofinanzierung<br />

von nationalen Investitionen. Die Mittel stammen in<br />

der Regel aus den Strukturfonds (�Fonds der EU).<br />

Sie sollen zur Lösung unmittelbarer, schwerwiegender<br />

Probleme, die sich aus strukturellen Veränderungen<br />

ergeben, beitragen. GI werden von der Kommission<br />

vorgeschlagen und vom Rat beschlossen. In der<br />

Förderperiode 2001 bis 2006 gibt es vier Gemeinschaftsinitiativen:<br />

�Interreg III, �Leader+, �Equal<br />

und�UrbanII. W. M.<br />

Gemeinschaftsmarke �Markenrecht<br />

Gemeinschaftsmethode. Als Gemeinschaftsmethode<br />

werden die zu Rechtsakten im Bereich des<br />

EG-Vertrags (erste Säule, �Tempelstruktur) führenden<br />

Verfahren benannt, im Unterschied zur völkerrechtlichen<br />

Regierungszusammenarbeit (der intergouvernementalen<br />

Methode) in der zweiten Säule<br />

(�GASP) und der dritten Säule (�PJZS).<br />

Merkmale der Gemeinschaftsmethode sind das alleinige<br />

Initiativrecht der Kommission, die aktive Mitwirkung<br />

und Mitentscheidung des Europäischen<br />

Parlaments, die Beschlussfassung im Rat durch<br />

�qualifizierte Mehrheit als Regelfall und die einheitliche<br />

Auslegung des �Gemeinschaftsrechts durch<br />

den Europäischen �Gerichtshof. Die Regierungszusammenarbeit<br />

ist dagegen gekennzeichnet durch beschränktesInitiativrechtderKommissionnebendem<br />

Initiativrecht der Mitgliedstaaten, einstimmigen<br />

Ratsbeschluss als Regelfall, auf Beratung beschränkte<br />

Rolle des Parlaments und eingeschränkte<br />

Zuständigkeit des EuGH.<br />

384<br />

Gemeinschaftspräferenz �Gemeinsame Agrarpolitik<br />

(GAP)<br />

Gemeinschaftsprogramme und Rahmenprogramme<br />

der EU sind durch Beschlüsse des Rats und<br />

des EP zustande kommende, zeitlich befristete Maßnahmen<br />

mit festgesetztem Budget zur (finanziellen)<br />

Förderung von Aktivitäten, die bestimmten Zielen in<br />

einzelnenPolitikbereichendienen,z.B.indenBereichen<br />

Bildung, Kultur, Forschung, Beschäftigung,<br />

Umwelt, Gesundheit. An den Programmen können<br />

in der Regel auch die Staaten des �EWR sowie Beitrittskandidaten<br />

teilnehmen.<br />

Eine Übersicht über Programme mit Titeln und<br />

Akronymen sowie den verantwortlichen Generaldirektionen<br />

bietet die „Liste der Gemeinschaftsprogrammeund-initiativen“,herausgegebenvomÜbersetzungsdienst<br />

der EU. Aktuell die 7. Auflage. Kostenlos<br />

in allen Amtssprachen der EU erhältlich bei:<br />

Secretariat Sdt/AGL/3-HDL, Europäische Kommission,JECL2/174,200RuedelaLoi,B-1049Brüssel.<br />

Eine Zusammenstellung im Internet bietet:<br />

http.//php.leader-austria.at/hpold/euifo.htm<br />

Gemeinschaftsrecht (primäres, sekundäres)<br />

1. Primäres Gemeinschaftsrecht: Das primäre Gemeinschaftsrecht<br />

bezeichnet die Gründungsverträge<br />

der drei Europäischen Gemeinschaften einschl. Anlagen<br />

und Protokollen sowie deren spätere Ergänzungen<br />

und Novellierungen (Vertragsrecht). Weil es<br />

das unmittelbar von den EG-Staaten geschaffene<br />

Recht ist, hat sich im juristischen Sprachgebrauch<br />

der Begriff primäres Gemeinschaftsrecht eingebürgert.<br />

Das Vertragsrecht umfasst den Vertrag zur Gründung<br />

der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und<br />

Stahl (unterzeichnet am 18. 4. 1951, in Kraft am 23.<br />

7. 1952 für einen Zeitraum von 50 Jahren); den Vertrag<br />

zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft<br />

(unterzeichnet am 25. 3. 1957, in Kraft<br />

am 1. 1. 1958) und den Vertrag zur Gründung der Europäischen<br />

Atomgemeinschaft (unterzeichnet am<br />

25. 3. 1957, in Kraft am 1. 1. 1958).<br />

Diese Gründungsverträge wurden geändert durch<br />

– den Vertrag von Maastricht (unterzeichnet am 7. 2.<br />

1992, in Kraft am 1. 11. 1993), der die bisherigen<br />

Verträge ändert und um den �Vertrag über die Europäische<br />

Union ergänzt;<br />

– den �Vertrag von Amsterdam zur Änderung des


Vertrages über die Europäische Union; die Verträge<br />

zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften sowie<br />

einiger damit zusammenhängender Rechtsakte<br />

(unterzeichnet am 2. 10. 1997, in Kraft am 1. 5.<br />

1999);<br />

– den Vertrag von Nizza (unterzeichnet am 26. 2.<br />

2001, in Kraft am 1. 2. 2003).<br />

Hinzu kommen andere Verträge und Rechtsakte; erwähnt<br />

seien der Vertrag über die Fusion der Exekutiven<br />

(Ministerrat und Kommission bzw. Hohe Behörde)<br />

von EWG, EAG und EGKS (unterzeichnet am 8.<br />

4. 1965) und die �Einheitliche Europäische Akte<br />

(unterzeichnet am17./28. 2. 1986; in Kraft 1. 7.<br />

1987).<br />

Primäres Gemeinschaftsrecht entsteht aber nicht nur<br />

kraft ausdrücklicher Rechtssetzung, sondern ebenso<br />

„ungeschrieben“, d. h. entweder kraft Gewohnheit<br />

oder „sachlogisch“ durch gemeinschaftlichen Rückgriff<br />

auf den Mitgliedstaaten gemeinsame allgemeine<br />

Rechtsgrundsätze, insbes. auf die Existenz der<br />

�Grund- und Menschenrechte. Im Rahmen des ihr<br />

zugewiesenen Aktionsfeldes ist die Gemeinschaft so<br />

zur Beachtung grundrechtlicher Gewährleistungen<br />

verpflichtet.<br />

Die Verträge von Maastricht und Amsterdam stellen<br />

die Europäische Union auf drei Säulen. Die<br />

„Drei-Säulen-Theorie“ (�Tempelstruktur) der EU<br />

gründetsichaufArt.1Abs.3EUV,dernormiert,dass<br />

Grundlage der Union die Europäischen Gemeinschaften<br />

sind, ergänzt durch die mit dem EU-Vertrag<br />

eingeführten Politiken und Formen der Zusammenarbeit.<br />

Die erste Säule wird somit von den drei (seit<br />

23. 7. 2002 zwei) Gemeinschaften als Grundlage der<br />

Union gebildet, deren wichtigste wiederum die EG<br />

darstellt. Diese Säule ist durch ihren supranationalen<br />

Charakter gekennzeichnet. Die zweite Säule umfasst<br />

die �Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik auf<br />

Basis der Zusammenarbeit der Regierungen. Die<br />

dritte Säule umfasst die polizeiliche und justitielle<br />

Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS). Über diese<br />

Säulen spannt sich als gemeinsames Dach und<br />

gleichzeitig als Überbau die EU als solche, die auch<br />

über ein Organ verfügt, den Europäischen Rat (Art. 4<br />

EUV), der Bestandteil des einheitlichen institutionellen<br />

Rahmens der EU (Art. 3, Art. 4 EUV) ist.<br />

Demzufolge ist die EU durch eine differenzierte<br />

Ausstattung mit Kompetenzen gekennzeichnet<br />

(Grad der Kompetenzzuordnung), die von der<br />

schwachen Form der Koordination und �Kooperati-<br />

Gemeinschaftsrecht<br />

on bis hin zur Durchführung einer ausschließlichen<br />

Gemeinschaftspolitik reichen.<br />

Das Wesen der EU ist schwierig zu deuten. Sie ist<br />

kein (Bundes-)Staat, aber auch kein Staatenbund.<br />

Die Union verfügt – von den Europäischen Gemeinschaften<br />

abgesehen – nach herrschender Ansicht<br />

über keine gesonderte Rechtspersönlichkeit.<br />

Mit dem �Verfassungsvertrag (unterzeichnet am 29.<br />

11. 2004) soll die Aufteilung des Vertragsgefüges in<br />

die drei Säulen durch einen einheitlichen rechtlichen<br />

Rahmen ersetzt werden. Grundsätzlich hat der Verfassungsvertrag<br />

eine durchgängige Rechtsbasis, die<br />

durch die Verleihung der Rechtspersönlichkeit (Art.<br />

I-7 VVE) dokumentiert wird. Der VerfassungsvertragfasstsomitalleVerträgezusammen.DerVertrag<br />

hat drei wesentliche Teile:<br />

– Teil I regelt die Grundlagen der Union (Definition<br />

undZiele,GrundrechteundUnionsbürgerschaft,Zuständigkeiten<br />

und deren Ausübung, Organe, Demokratie,Finanzen,dieNachbarnderUnionunddieZugehörigkeit<br />

zur Union).<br />

– Teil II beinhaltet die Charta der Grundrechte der<br />

Union.<br />

– Teil III regelt die Politikbereiche und die Arbeitsweise<br />

der Union.<br />

– Teil IV enthält Allgemeine Bestimmungen und<br />

Schlussbestimmungen.<br />

2. Sekundäres Gemeinschaftsrecht<br />

2.1 Begriffliches: Der Begriff sekundäres Gemeinschaftsrecht<br />

bezeichnet das von den Organen der EU<br />

nach Maßgabe der Verträge erlassene Recht (= abgeleitetes<br />

Gemeinschaftsrecht). Es geht aus einem System<br />

von gemeinschaftlichen �Rechtsakten hervor,<br />

das bei Gründung der EWG neu zu kreieren war. Die<br />

EU-OrganesollteneinerseitsimStandesein,inwirksamer<br />

Weise die Integrationsziele zu verwirklichen,<br />

andererseits sollte in die nationalen Rechtsordnungen<br />

nicht mehr eingegriffen werden als nötig. Vor<br />

diesem Hintergrund wurde ein Handlungsinstrumentarium<br />

entwickelt, das den Gemeinschaftsorganen<br />

die Einwirkung auf die nationalen Rechtsordnungen<br />

in unterschiedlichem Ausmaß ermöglicht.<br />

Für die Setzung von sekundärem Recht gilt zunächst<br />

das sog. �Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung<br />

in dem Sinne, dass jeder Rechtsakt der EU einer<br />

ausdrücklichen oder sonst wie nachweisbaren<br />

Rechtsgrundlage innerhalb der Verträge, d. h. des<br />

primären Gemeinschaftsrechts, bedarf. Dieser<br />

Grundsatz gilt sowohl hinsichtlich der Frage, ob<br />

385


Gemeinschaftsrecht<br />

überhaupt eine Gemeinschaftskompetenz gegeben<br />

ist, als auch für die Wahl der im jeweiligen Fall nach<br />

den Verträgen zulässigen Handlungsform. Angesichts<br />

der sich im Einzelnen häufig wandelnden Aufgabenfülle<br />

der EU bedarf es seit längerem hinreichendflexiblerMöglichkeitendurchSetzungvonsekundärem<br />

Gemeinschaftsrecht in Randzonen. Auch<br />

hierfürstelltderEG-VertragmitderGeneralermächtigung<br />

(Art. 308 EGV) ein Instrument zur Verfügung:<br />

Erscheint ein Tätigwerden der EU erforderlich,<br />

um im Vertragsrahmen eines ihrer Ziele zu verwirklichen,<br />

und sind im Vertrag die hierfür erforderlichen<br />

Befugnisse nicht vorgesehen, so erlässt der<br />

Rat einstimmig auf Vorschlag der Kommission und<br />

nach Anhörung des EP die geeigneten Rechtsakte.<br />

Auf der anderen Seite besteht die Gefahr der Überdehnung<br />

der der Gemeinschaft zugewiesenen Kompetenzen.<br />

2.2 Handlungsformen: Die Handlungsformen des<br />

sekundären Gemeinschaftsrechts sind für die EG in<br />

Art. 249 EGV niedergelegt. Rechtsakte sind demnach<br />

Verordnungen, Richtlinien, Entscheidungen,<br />

Empfehlungen und Stellungnahmen:<br />

a) „Verordnungen“ haben allgemeine Geltung, sind<br />

in allen Teilen verbindlich und gelten unmittelbar in<br />

jedem EU-Staat. Sie gleichen einem nationalen Gesetz.<br />

b) „Richtlinien“ sind für jeden Mitgliedstaat hinsichtlich<br />

des zu erreichenden Zieles verbindlich. Die<br />

MitgliedstaatenhabenjedochdieWahlderFormund<br />

Mittel. Sie sind verpflichtet, die Richtlinie in ihr nationales<br />

Recht umzusetzen. Hierfür ist ihnen regelmäßig<br />

eine bestimmte Frist eingeräumt. Bei der Umsetzung<br />

haben die EU-Staaten alle erforderlichen<br />

Maßnahmen zu ergreifen, um die vollständige Wirksamkeit<br />

der Richtlinie entsprechend ihrer Zielsetzung<br />

zu gewährleisten.<br />

c) „Entscheidungen“ sind in allen Teilen für diejenigen<br />

verbindlich, die sie bezeichnet. Sie haben damit<br />

individuelle Geltung, d. h. der Adressat (Mitgliedstaat,<br />

natürliche oder juristische Person) wird individuell<br />

bezeichnet und individuell gebunden.<br />

d) „Empfehlungen“ und „Stellungnahmen“ sind<br />

nicht verbindlich.<br />

Mit dem Vertrag von Amsterdam wurden Rahmenbeschlüsse<br />

als neues Instrument vereinbart. Der Rat<br />

kann zur Angleichung von nationalen Vorschriften<br />

(z. B. Unterschiede in den Rechts- und Verwaltungsvorschriften<br />

der EU-Staaten bei der Verbrechens-<br />

386<br />

fahndung) Rahmenbeschlüsse erlassen, die in den<br />

Zielen verbindlich sind, den Behörden der<br />

EU-Staaten die Wahl der Form und der Mittel überlassen<br />

(Art. 34 Abs. 2b EUV).<br />

3. Differenzierung des Gemeinschaftsrechts: Der<br />

Vertrag von Amsterdam ermöglicht eine verstärkte<br />

und damit engere Zusammenarbeit einzelner Mitgliedstaaten<br />

(Flexibilitätsklausel), um schneller und<br />

weiter in der Integration voranzuschreiten (Art. 43<br />

und 44 EUV). Der Vertrag regelt dazu die Bedingungen<br />

und das Verfahren. Die engere Zusammenarbeit<br />

muss die Ziele der EU fördern, die Vertragsgrundsätze<br />

und den einheitlichen institutionellen Rahmen<br />

achten. Es ist zu erwarten, dass Mitgliedstaaten über<br />

die Flexibilitätsklausel eine Vorreiterrolle übernehmen,<br />

um die Integration vertiefend voranzubringen.<br />

Damit differenziert sich das Gemeinschaftsrecht<br />

weiter aus, da diese Regelungen nicht für alle<br />

EU-Staaten wirksam sind, sie aber jederzeit übernommen<br />

werden können.<br />

4. Wesensgehalt des Gemeinschaftsrechts: Der Vorrang<br />

des primären und sekundären Gemeinschaftsrechts<br />

vor entgegenstehendem nationalen Recht ist<br />

nicht zu trennen von dessen ursprünglicher Natur.<br />

Durch die Übertragung von �Hoheitsrechten an die<br />

EUhabendieMitgliedstaatenihreZustimmungdazu<br />

gegeben, dass ihre �Souveränität insoweit beschränkt<br />

wird, als die Gemeinschaft zum Handeln<br />

befugt sein soll. Entsprechend Art. 249 EGV kann<br />

die Gemeinschaft unmittelbar geltendes Recht setzen.<br />

Die EU ist eine Schöpfung des Rechts in Form<br />

des primären Gemeinschaftsrechts als Schöpfungsakte.<br />

Sie verfolgt ihre Ziele allein mit den Mitteln des<br />

Rechts; sie ist eine Gemeinschaft durch das Recht.<br />

Nicht die Stärke der Macht regelt das wirtschaftliche<br />

und das soziale Zusammenleben der Völker der Mitgliedstaaten,<br />

sondern das Recht. Das Gemeinschaftsrecht<br />

konstituiert die Rechtsordnung.<br />

Die EU ist auch Rechtsquelle, d. h. sie ist<br />

– politisch betrachtet der Entstehungsgrund des<br />

Rechts durch das Ziel „Integration der europäischen<br />

Völker“ und sie ist<br />

– juristisch betrachtet Herkunftsort und Verankerung<br />

des Rechts. Eine weitere Rechtsquelle der EU<br />

bilden �völkerrechtliche Abkommen, die sie mit<br />

�Drittländern und anderen internationalen Organisationen<br />

abschließt.<br />

Primäres und sekundäres Gemeinschaftsrecht sowie<br />

die internationalen Verträge der EU sind geschriebe-


nes Gemeinschaftsrecht. Ungeschriebene Quellen<br />

des Gemeinschaftsrechts sind die allgemeinen<br />

Rechtsgrundsätze. Dabei handelt es sich um Normen,<br />

die die elementaren Vorstellungen von Recht<br />

und Gerechtigkeit zum Ausdruck bringen, denen<br />

jede Rechtsordnung verpflichtet ist. Die Verwirklichung<br />

der Rechtsgrundsätze erfolgt durch die<br />

Rechtsanwendung, insbes. durch die Rechtsprechung<br />

des EuGH. Bezugspunkte für die Ermittlung<br />

der Rechtsgrundsätze sind die gemeinsamen Rechtsordnungen<br />

der EU-Staaten. Durch den EuGH wurden<br />

insbes. folgende Rechtsgrundsätze formuliert:<br />

Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, Verhältnismäßigkeit,<br />

Rechtssicherheit, Vertrauensschutz, �Diskriminierungsverbot,<br />

Gleichheit, rechtliches Gehör<br />

und Achtung der �Grund- und Menschenrechte.<br />

5. Verfassungsvertrag 2004: Der Verfassungsvertrag<br />

sieht einen Wechsel der Begrifflichkeiten für die<br />

Rechtsakte der Union vor. Wenn er in Kraft tritt, übt<br />

die Union ihre Zuständigkeiten mittels folgender<br />

Rechtsakte aus: Europäisches Gesetz, Europäisches<br />

Rahmengesetz, Europäische Verordnung, Europäischer<br />

Beschluss, Empfehlung und Stellungnahme<br />

(Art. I-33 VVE).<br />

a) Das Europäische Gesetz (bisher Verordnung) ist<br />

ein Gesetzgebungsakt mit allgemeiner Geltung. Es<br />

ist in allen seinen Teilen verbindlich und gilt unmittelbar<br />

in jedem Mitgliedstaat.<br />

b) Das Europäische Rahmengesetz (bisher Richtlinie)isteinGesetzgebungsakt,derfürjedenMitgliedstaat,<br />

an den es gerichtet ist, hinsichtlich des zu errichtenden<br />

Zieles verbindlich ist, jedoch den innerstaatlichen<br />

Stellen die Wahl der Form und Mittel<br />

überlässt.<br />

c) Die Europäische Verordnung ist ein Rechtsakt mit<br />

allgemeiner Geltung ohne Gesetzescharakter; sie<br />

dient der Durchführung der Gesetzgebungsakte und<br />

bestimmter Einzelvorschriften der Verfassung (bisher<br />

ebenfalls Verordnung genannt).<br />

d)DerEuropäischeBeschluss(bisherEntscheidung)<br />

ist ein Rechtsakt ohne Gesetzgebungscharakter, der<br />

in allen seinen Teilen verbindlich ist. Ist er an bestimmte<br />

Adressaten gerichtet, so ist er nur für diese<br />

verbindlich.<br />

e) Empfehlungen und Stellungnahmen der Organe<br />

sind rechtlich nicht bindend.<br />

Europäische Gesetze, Rahmengesetze, Verordnungen<br />

und Beschlüsse sind mit einer Begründung zu<br />

versehen und nehmen auf die in der Verfassung vor-<br />

Gemeinschaftsrechtsvollzug<br />

gesehenen Vorschläge oder Stellungnahmen Bezug.<br />

Damit wird der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung<br />

respektiert. Danach wird die Union innerhalb<br />

der Grenzen der Zuständigkeiten tätig, die<br />

die Mitgliedstaaten ihr in der Verfassung zur Verwirklichung<br />

der Ziele zugewiesen haben.<br />

Nach der Flexibilitätsklausel (Art. I-18 VVE) kann<br />

der Ministerrat jedoch einstimmig auf Vorschlag der<br />

Kommission und nach Zustimmung des EP sowie einer<br />

Vorabinformation der nationalen Parlamente<br />

bisher nicht vorgesehene Befugnisse zur Erreichung<br />

von Verfassungszielen beschließen. Damit kann die<br />

Union auf gegenwärtig nicht gesehene Herausforderungen<br />

reagieren. Die Flexibilitätsklausel ist die<br />

Fortentwicklung der „Generalermächtigung“ des<br />

Art. 308 EG-Vertrag.<br />

Der Europäische Gerichtshof (Art. III-353 ff. VVE)<br />

überwacht die Rechtmäßigkeit der Europäischen<br />

Gesetze und Rahmengesetze und ist für Klagen zuständig.<br />

L. U.<br />

Literatur:<br />

Bergmann, J.: Recht und Politik der Europäischen Union.<br />

Grevenbroich/Stuttgart 2001<br />

Emmert, F.: <strong>Europa</strong>recht. München 1996<br />

Herdegen, M.: <strong>Europa</strong>recht. München 1997<br />

Hobe, S.: Bedingungen, Verfahren und Chancen europäischer<br />

Verfassungsgebung: Zur Arbeit des Brüsseler Verfassungskonvents.<br />

In: <strong>Europa</strong>recht 1/2003, S.1-16<br />

Jachtenfuchs, M.: Die Konstruktion <strong>Europa</strong>s. Verfassungsideen<br />

und institutionelle Entwicklung. Baden-Baden 2000<br />

Gemeinschaftsrechtsvollzug. Dieser steht entsprechend<br />

den Regelungen des Europäischen Verwaltungsrechts<br />

nach dem �Prinzip der begrenzten<br />

Einzelermächtigung grundsätzlich den Mitgliedstaaten<br />

zu; sie sind hierzu durch Art. 10 EGV (Gemeinschaftstreue)<br />

verpflichtet. Den europäischen<br />

Organen gebührt weder ein Weisungsrecht noch<br />

existiert ein einheitliches europäisches Verwaltungsrecht.<br />

Aus diesem Grund ist im Einzelnen Vieles<br />

ungeklärt und umstritten. Regelt eine unmittelbar<br />

anwendbare Verordnung auch das anzuwendende<br />

Verfahren, geht dieses nationalem Verwaltungsrecht<br />

vor. Fehlen dagegen europäische Vollzugsregelungen<br />

in dem Rechtsakt, greift ergänzend das nationale<br />

Recht ein (z. B. bezüglich Aufrechnung, Verjährung<br />

usw.). Hierdurch wird das Grundprinzip der<br />

gleichmäßigen Anwendung des Gemeinschaftsrechts<br />

in allen Mitgliedstaaten zumindest infrage gestellt.<br />

Der EuGH (Slg. 1983, 2633) hat deshalb ausgeführt,<br />

dass das nationale Verwaltungsrecht die<br />

387


Gemeinschaftssystem<br />

Verwirklichung des Gemeinschaftsrechts nicht<br />

praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren<br />

dürfe (Effizienzgebot). Außerdem müssten<br />

die Interessen der Gemeinschaft gewahrt werden<br />

und es dürften beim Gemeinschaftsrechtsvollzug<br />

keine anderen nationalen Regelungen gelten als bei<br />

vergleichbaren innerstaatlichen Sachverhalten (Diskriminierungsverbot).<br />

Werde hiergegen verstoßen,<br />

seien vorrangig die allgemeinen Rechtsgrundsätze<br />

des Gemeinschaftsrechts anwendbar.<br />

Neben diesem indirekten Gemeinschaftsrechtsvollzug<br />

durch die Mitgliedstaaten besteht für den gemeinschaftsinternen<br />

Bereich (Haushaltsvollzug,<br />

Personalangelegenheiten usw.) und ausnahmsweise<br />

in wenigen gemeinschaftsexternen Bereichen (insbes.<br />

bei der Wettbewerbspolitik) auch der direkte,<br />

gemeinschaftsunmittelbare Vollzug. Hier verwalten<br />

die Gemeinschaftsorgane, insbes. die Kommission,<br />

selbst.SiehabensichdabeinachderRechtsprechung<br />

des EuGH (Slg. 1982, 749; EuZW 1992, 90) an die<br />

allgemeinen Rechtsgrundsätze zu halten (Gesetzmäßigkeit<br />

der Verwaltung, Vertrauensschutz, Grundsatz<br />

der Verhältnismäßigkeit, Akteneinsicht, Rechtssicherheit,<br />

rechtliches Gehör usw.). Andernfalls<br />

kann der EuGH eine Entscheidung für nichtig erklären.<br />

J. M. B.<br />

Gemeinschaftssystem für das Umweltmanagement<br />

und die Umweltbetriebsprüfung �EMAS<br />

Gemeinschaftstreue �Unionstreue<br />

Gemeinschaftsverträge �Gemeinschaftsrecht<br />

Gemeinwohlorientierte Leistungen, auch Leistungen<br />

der Daseinsvorsorge genannt, sind sowohl<br />

marktbezogene als auch nicht gewinnorientierte Tätigkeiten<br />

im Interesse der Allgemeinheit, die mit<br />

Verpflichtungen der öffentlichen Hand zur ErhaltungdesGemeinwohlsverbundensindundinderRegel<br />

von nichtprivaten Unternehmen erbracht werden.<br />

Etwas weiter gefasst ist der Begriff der Dienstleistungen<br />

von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse<br />

nach Art. 16 und Art. 86 EGV. Er bezeichnet<br />

marktbezogene Tätigkeiten, die von der öffentlichen<br />

Hand oder von privaten Unternehmen im Interesse<br />

der Allgemeinheit erbracht werden.<br />

Dazu zählen vor allem Dienstleistungen im Bereich<br />

der Infrastruktur, die in einigen oder in allen Mit-<br />

388<br />

gliedstaaten bisher Aufgabe von staatlichen, regionalen<br />

oder kommunalen Behörden waren oder es<br />

noch sind, u. a. öffentlicher Personenverkehr, Elektrizitäts-<br />

und Wasserversorgung, Post und Telekommunikationsdienste.<br />

Unternehmen, die solche Dienstleistungen anbieten,<br />

sind oder waren durch staatliche Regelungen vor<br />

Wettbewerb in besonderer Weise geschützt (in<br />

Deutschland z. B. öffentlich-rechtliche Institutionen<br />

wiedasSparkassenwesen)oderwerdenbzw.wurden<br />

aus öffentlichen Mitteln insoweit gefördert, als ihre<br />

Leistungen nicht kostendeckend erbracht werden<br />

können.<br />

Wegen der Bedeutung dieser Dienstleistungen für<br />

den sozialen und territorialen Zusammenhalt gelten<br />

die Wettbewerbsregelungen des Binnenmarkts für<br />

solche Unternehmen nur insoweit, als sie die Erfüllung<br />

der ihnen übertragenen besonderen Aufgabe<br />

nicht rechtlich oder tatsächlich verhindern (Art. 86<br />

Abs. 2 EGV). Die Mitgliedstaaten müssen dafür Sorge<br />

tragen, dass diese Dienste ihre Aufgaben erfüllen<br />

können (Art. 16 EGV), wobei die gemeinschaftlichen<br />

Wettbewerbsregeln über staatliche Beihilfen<br />

(Art. 73 und 87 EGV) zu beachten sind.<br />

Gemischte Abkommen sind völkerrechtliche Verträge<br />

der EG (vertreten durch die Kommission) und<br />

der Mitgliedstaaten mit Drittstaaten. Sie müssen von<br />

den Mitgliedstaaten ratifiziert werden. Enthält das<br />

Abkommen auch Vereinbarungen, für die die Kommission<br />

die alleinige Kompetenz besitzt (z. B. im BereichAußenhandel),könnendieseTeilealsInterimsabkommen<br />

schon vor der Ratifizierung in Kraft treten.<br />

Gemischte Formel. Bezeichnung für Beschlüsse<br />

oder dgl., deren Verpflichtungen nur z. T. durch das<br />

Gemeinschaftsrecht abgedeckt sind, deren andere<br />

Teile durch bi- oder multilaterale Abkommen zwischen<br />

den Mitgliedstaaten der EU in Kraft gesetzt<br />

werden oder im Rahmen der intergouvernementalen<br />

Zusammenarbeit zustande kommen.<br />

Gender Mainstreaming<br />

Definition und Geschichte: Gender Mainstreaming<br />

ist eine relativ neue geschlechterpolitische Strategie.<br />

Im Kern geht es darum, dass alle politischen Maßnahmen<br />

von vornherein und regelmäßig die Auswirkungen<br />

auf die Geschlechterverhältnisse berück-


sichtigen und so dem Ziel der Gleichstellung der Geschlechter<br />

dienen sollen. Der <strong>Europa</strong>rat (1998) gibt<br />

folgende Definition: „Gender Mainstreaming besteht<br />

in der (Re-)Organisation, Verbesserung, Entwicklung<br />

und Evaluation von Entscheidungsprozessen<br />

mit dem Ziel, dass die an politischer Gestaltung<br />

beteiligten Akteure und Akteurinnen den Blickwinkel<br />

der Gleichstellung zwischen Frauen und Männern<br />

in allen Bereichen und auf allen Ebenen einnehmen.“<br />

Damit wird anerkannt, dass die Lebensrealitäten<br />

von Frauen und Männern unterschiedlich sind<br />

und die Gleichstellung noch eine politische Aufgabe<br />

ist. Gleichzeitig wird angenommen, dass alle politischen,<br />

ökonomischen, sozialen und kulturellen<br />

Strukturen die Handlungsmöglichkeiten von Männern<br />

und Frauen beeinflussen. Durch den Gebrauch<br />

der Kategorie „Gender“ wird das unterstrichen. Gender<br />

bezeichnet im Gegensatz zu Sex (biologisches<br />

Geschlecht) im Englischen das soziale Geschlecht<br />

einer Person. Soziales Geschlecht bedeutet, dass Geschlecht<br />

als Produkt vielfältiger kultureller, politischer,<br />

ökonomischer und symbolischer Herstellungsprozesse<br />

erfasst wird. Menschen haben danach<br />

nicht einfach nur ein Geschlecht, sie stellen es auch<br />

immer wieder sozial her. Gesellschaftliche Strukturen<br />

können ebenfalls unter der Genderperspektive<br />

analysiert werden. Gender bezeichnet damit den politisch<br />

gestaltbaren Aspekt von Geschlecht. Die biologisch<br />

definierten Geschlechterunterschiede können<br />

nicht als Rechtfertigung für gesellschaftliche<br />

Unterschiede zwischen den Geschlechtern akzeptiert<br />

werden. Diesen politischen Auftrag zur Gestaltung<br />

der Geschlechterverhältnisse betont die Kommission<br />

auch in ihrer Mitteilung zur „Einbindung der<br />

Chancengleichheit in sämtliche politische Konzepte<br />

und Maßnahmen der Gemeinschaft“ (KOM 1996/67<br />

endg.): „Es geht bei der Ausrichtung des Gender<br />

Mainstreaming [...] nicht nur darum, den Frauen den<br />

Zugang zu den Programmen und Finanzmitteln der<br />

Gemeinschaft zu eröffnen, sondern auch und vor allem<br />

darum, das rechtliche Instrumentarium, die Finanzmittel<br />

und die Analyse und Moderationskapazitäten<br />

der Gemeinschaft zu mobilisieren, um auf allen<br />

Gebieten dem Bedürfnis nach Entwicklung ausgewogener<br />

Beziehungen zwischen Frauen und Männern<br />

Eingang zu verschaffen.“<br />

Gender Mainstreaming kommt aus der internationalen<br />

Frauenpolitik und entstand in den Auseinandersetzungen<br />

um die Effektivität und Zielgenauigkeit<br />

Gender Mainstreaming<br />

der Entwicklungshilfe. Schon früh haben nationale<br />

Entwicklungsprogramme, Nicht-Regierungsorganisationen<br />

und die großen entwicklungspolitischen<br />

AkteurewiedieWeltbankunddasEntwicklungsprogrammderVereintenNationengeschlechtersensible<br />

Konzepte in ihrer Arbeit eingesetzt. Mit Beginn der<br />

Weltfrauendekade der Vereinten Nationen 1975<br />

wurde die besondere Situation von Frauen systematisch<br />

von Regierungsvertreterinnen und Aktivistinnenthematisiertundkritisiert.DieWeltfrauenkonferenzen<br />

in Mexiko (1975), Kopenhagen (1980), Nairobi(1985)undPeking(1995)wurdenzuKristallisationspunkten<br />

der Internationalen Frauenbewegung.<br />

Auf der vierten Weltfrauenkonferenz in Peking 1995<br />

konnte das Prinzip Gender Mainstreaming in den<br />

Abschlussdokumenten verankert werden, die Regierungen<br />

verpflichteten sich damit darauf, die Gleichstellungsziele<br />

in dieser Weise umzusetzen.<br />

2. Gender Mainstreaming und die Europäische<br />

�Gleichstellungspolitik. Die Europäische �Frauenlobby<br />

hatte bei der Reform der EU-�Strukturfonds<br />

bereits 1993 eine Zielvorgabe „Chancengleichheit<br />

für Frauen und Männer“ durchsetzen können. Damit<br />

warerstmalsin<strong>Europa</strong>ineinemallgemeinenFörderkonzept<br />

das Ziel der Chancengleichheit verankert.<br />

Im vierten Aktionsprogramm zur Chancengleichheit<br />

1995 wurde dann die Strategie des Gender Mainstreaming<br />

beschrieben. Darin war der Anspruch formuliert,<br />

dass das, was in EU-Strukturfonds gelungen<br />

war, in der gesamten europäischen Politik Realität<br />

werden soll: Die Geschlechterverhältnisse sollten in<br />

jeder politischen Konzeption berücksichtigt werden.<br />

1996 hat die Europäische Kommission in der Mitteilung<br />

„Einbindung der Chancengleichheit in sämtliche<br />

Konzepte und Maßnahmen der Gemeinschaft“<br />

ausgedrückt, dass Gender Mainstreaming eine Politik<br />

ist, bei der es darum geht, zur Verwirklichung der<br />

Gleichstellung ausdrücklich sämtliche allgemeinen<br />

politischen Konzepte und Maßnahmen einzubeziehen.<br />

Systematische Anstrengungen zur Förderung<br />

des Gender Mainstreaming in der gesamten Kommission<br />

wurden Anfang 1997 eingeleitet, als sich<br />

eine interdirektionale Arbeitsgruppe für Chancengleichheit<br />

auf ein Strategiepapier mit konkreten<br />

Schritten zur Umsetzung der Kommissionsmitteilung<br />

von 1996 einigte. Gleichzeitig wurde eine Arbeitsgruppe<br />

aus Vertretern aller Generaldirektionen<br />

gegründet, die „Gender Mainstreaming Beauftragten“.<br />

Eine ihrer ersten Aufgaben war die Ausarbei-<br />

389


Gender Mainstreaming<br />

tung eines „Leitfadens zur Bewertung geschlechtsspezifischer<br />

Auswirkungen von Maßnahmen“. Eine<br />

Bekräftigung erfuhr das Gender Mainstreaming-<br />

Prinzip 1997 im �Vertrag von Amsterdam. Damit<br />

wurde die Gleichberechtigung erstmals ein zentraler<br />

Teil des Europäischen Vertragswerkes, das sich bis<br />

dahin nur im Art. 119 (jetzt Art. 141 EGV), dem Artikel<br />

zur gleichwertigen Bezahlung, Geschlechterfragen<br />

zugewandt hatte. Der Vertrag von Amsterdam<br />

stellt alle Maßnahmen der gemeinsamen Politik unter<br />

die Zielsetzung, die Ungleichheiten der Geschlechter<br />

zu beseitigen. Artikel 2 legt fest: „Aufgabe<br />

der Gemeinschaft ist es, [...] ein hohes Beschäftigungsniveau<br />

und ein hohes Maß an sozialem Schutz,<br />

die Gleichstellung von Männern und Frauen [...] zu<br />

fördern.“ Die Gemeinschaft wirkt in ihren Politiken<br />

darauf hin, „Ungleichheiten zu beseitigen und die<br />

Gleichstellung von Männern und Frauen zu fördern“<br />

(Art.3Abs.2EGV).Dazusindausdrücklichpositive<br />

Maßnahmen, also die besondere Förderung des „unterrepräsentierten<br />

Geschlechts“, wie es neutral im<br />

Art. 141 Abs. 4 heißt, erlaubt. Dieser als „dual“ bezeichnete<br />

Ansatz, einerseits Frauen als Zielgruppe<br />

zu fördern und andererseits alle Maßnahmen auf die<br />

Gleichstellungswirkungen zu überprüfen, ist für die<br />

europäische Gleichstellungspolitik charakteristisch.<br />

Eine weitere wichtige Rolle bei der Einbeziehung<br />

des Gender Mainstreaming in die Aktionen und die<br />

Strategie der Kommission spielte die bereits 1995<br />

eingesetzte Kommissarsgruppe „Chancengleichheit“,<br />

die 1999 erneuert wurde. Ihr gehören vier<br />

Kommissionsmitglieder als ständige Mitglieder an,<br />

aber auch die übrigen Kommissionsmitglieder können<br />

mitarbeiten. Aufgabe der Gruppe ist es seit 1997<br />

vor allem, die Gleichstellung der Geschlechter in allen<br />

relevanten Gemeinschaftspolitiken und AktionenimSinnedesArt.3Abs.2EGVsicherzustellen.<br />

Im Juni 2000 beschloss die Kommission eine Rahmenstrategie<br />

der Gemeinschaft zur Förderung der<br />

Gleichstellung von Frauen und Männern. Dabei handelt<br />

es sich um eine umfassende Strategie, die sämtlicheGemeinschaftspolitikenundsämtlicheKommissionsdienststellen<br />

einbezieht. Sie richtet sich auf<br />

Frauen im Erwerbsleben, auf die politische Partizipation,aufdengleichenZugangzusozialenRechten,<br />

auf die gleichberechtigte Repräsentation und<br />

schließlich auf den Abbau von Geschlechterstereotypen<br />

(KOM 2000/235 endg.). Für jedes Jahr wird<br />

von der Kommission ein gleichstellungspolitisches<br />

390<br />

Jahresarbeitsprogramm verabschiedet. Gleichstellungsfragen<br />

sind zudem neben der Verbesserung der<br />

Beschäftigungsfähigkeit, der Entwicklung des Unternehmergeistes<br />

und der Förderung der Anpassungsfähigkeit<br />

von Unternehmen bereits 1997 zur<br />

vierten Säule in dem Beschäftigungsleitlinien der<br />

EU geworden. Gender Mainstreaming wurde in die<br />

Programme der �Strukturfonds implementiert und<br />

dadurch zur Pflicht der Projektbeteiligten in der EU.<br />

ImMai2001wurdebeimExpertinnentreffenGender<br />

Mainstreaming in Schweden eine informelle hochrangige<br />

Gruppe Gender Mainstreaming gegründet.<br />

Sie trifft sich zweimal pro Jahr und wird von der jeweiligen<br />

Präsidentschaft eingeladen. Neben diesen<br />

strukturellen Verankerungen des Gender Mainstreaming-Prinzips<br />

hat es sich die Kommission auch<br />

gleichzeitig zur Aufgabe gemacht, ihre eigene Organisationskultur<br />

zu verändern und mit konkreten Förderzielen<br />

im Rahmen von positiven Aktionen in der<br />

Personalpolitik der Unterrepräsentation von Frauen<br />

entgegenzutreten sowie durch Genderworkshops die<br />

Genderkompetenz der Beschäftigten zu erhöhen.<br />

3. Ergebnisse: Fragt man nach den konkreten Ergebnissen,<br />

so fällt der Befund kritisch aus: so einfach das<br />

Prinzip Gender Mainstreaming klingt, so schwierig<br />

wird es in der konkreten Anwendung. In dem „Bericht<br />

zur Gleichstellung von Frau und Mann 2004,“<br />

wird zusammengefasst: „Es bedarf verstärkter Anstrengungen<br />

seitens der Mitgliedstaaten, der Kommission<br />

und des Ministerrates, um die Zielvorgaben<br />

und Regelungen in konkrete Maßnahmen umzusetzen.“<br />

Auch nationale Analysen kommen zu ähnlichen<br />

Ergebnissen. Frankenfeld und Mechel (2004)<br />

analysierten 43 europäische Regionalprogramme<br />

ausdem�EFREundresümieren:„DieBilanzunserer<br />

Untersuchung hätte kaum negativer ausfallen können.<br />

28 Programme waren ,unzureichend‘, davon<br />

drei ,sehr unzureichend‘“. Auch der duale Ansatz der<br />

europäischen Gleichstellungspolitik wird nur<br />

schwer eingehalten: Zum einen gab es auf der europäischen<br />

Ebene selbst bereits mehrmals Versuche,<br />

spezielle Frauenprogramme und Schwerpunkte mit<br />

dem Hinweis auf Gender Mainstreaming zu streichen.Dassdiesnichtgelungenist,istdemEinsatzder<br />

Europäischen Parlamentarierinnen zu verdanken.<br />

Die bisherigen Erfahrungen auch gerade aus den<br />

Strukturfonds zeigen, dass faktisch die Gleichstellung<br />

nur auf das Politikfeld E reduziert wird, das aber<br />

eigentlich explizit für positive Aktionen bezüglich


der Diskriminierung von Frauen vorgesehen ist (Politikfeld<br />

E ist eines der 6 Politikfelder des �ESF:<br />

Chancengleichheit von Frauen und Männern). Das<br />

führt zu dem paradoxen Ergebnis, dass nun mit den<br />

für Frauen vorgesehenen Mitteln auch Männer gefördert<br />

werden, die geschlechtersensible Bearbeitung<br />

der übrigen Maßnahmen jedoch ausbleibt.<br />

Während die europäische Gemeinschaftspolitik<br />

noch erhebliche Schwierigkeiten mit der Umsetzung<br />

von Gender Mainstreaming hat, gilt Schweden als<br />

europäisches Musterland bei der nationalen Anwendung<br />

des Gender Mainstreaming Prinzips. Seit 1994<br />

ist dieses Konzept der systematische Ansatz in der<br />

schwedischen Geschlechterpolitik. Die geschlechtsspezifische<br />

Datenerhebung wurde 1994 gesetzlich<br />

festgelegt, Gender Mainstreaming ist auf höchster<br />

politischer Ebene und in allen ministeriellen Ressorts<br />

verpflichtend verankert und es besteht ein breites<br />

Angebot an Fortbildungsmöglichkeiten. Zuständig<br />

sind die jeweiligen Staatssekretäre. Das Gleichstellungsministerium<br />

übernimmt eine wichtige Rolle<br />

für die Evaluation und Fortschreibung von Gender<br />

Mainstreaming.<br />

4. Ausblick. Das schwedische Beispiel zeigt, Gender<br />

Mainstreaming kann weitreichend und effektiv umgesetzt<br />

werden. Die gleichstellungspolitische Geschichte<br />

der EU lässt jedoch vermuten, dass die Konkretisierung<br />

von Gender Mainstreaming in den europäischen<br />

Institutionen und den Nationalstaaten von<br />

Ungleichzeitigkeiten und Widersprüchen geprägt<br />

sein wird. Kritikerinnen der europäischen Geschlechterpolitik<br />

fragen, ob die Union ein ernstzunehmender<br />

Motor frauenrechtlicher Entwicklungen<br />

ist, oder ob all diesen Maßnahmen letztlich doch nur<br />

eine Auffassung von Geschlechtergleichheit als<br />

GleichheitindenChancendesZugangszumgemeinsamen<br />

Markt zugrunde liegt. Immer schon war die<br />

EU-Gleichstellungspolitik stark wettbewerbsorientiert,<br />

indem sie darauf zielte, Wettbewerbsnachteile<br />

für die weniger diskriminierenden Staaten zu verhindern.<br />

Geschlechtergerechtigkeit als normatives Ziel<br />

jenseits ökonomischer Überlegungen ist der EU als<br />

Konzept bisher fremd gewesen. Dennoch sind allein<br />

dadurch emanzipatorische Effekte eingetreten, dass<br />

die europäischen Regelungen progressiver als die<br />

Regelungen der Mitgliedstaaten waren. Angesichts<br />

der in Maastricht vereinbarten Nachrangigkeit von<br />

Beschäftigungs- und Sozialpolitik gegenüber der<br />

Stabilitätspolitik ist zu fragen, ob diese Priorität die<br />

Generalanwalt<br />

Gleichstellung von Frauen nicht eher behindert, sind<br />

es doch gerade die Frauen, die auf einen starken Sozialstaatangewiesensind.ObalsodieEUdurchGender<br />

Mainstreaming zu einer umfassenden Vision und<br />

UmsetzungvonGeschlechtergerechtigkeitgelangen<br />

kann, wird weiterhin von einer Vielzahl unterschiedlicher<br />

Faktoren abhängen, nicht zuletzt von einer<br />

starken frauenpolitischen Bewegung und ihren geschlechterdemokratischenVerbündeten.<br />

B. St.<br />

Internet:<br />

http://europa.eu.int/comm/employment_social/equ_opp/strategy_de.html<br />

Literatur:<br />

Behning, U./Serrano Pascual, A. (Hg.): Gender Mainstreaming<br />

in the European Employment Strategy. Brussels 2001<br />

BMFSFJ (Hg): Leitfaden Gender Mainstreaming im<br />

Europäischen Sozialfonds. Berlin 2004<br />

Council of Europe: Gender Mainstreaming: Conceptual<br />

Framework Methodology and Presentation of Good Practices.<br />

Straßburg 1998<br />

Frankenfeld, P./Mechel, A.: Gender Policy in European<br />

Regional Programmes. Universität Bremen 2004<br />

Harders, C./Stiegler, B.: Gender Mainstreaming: Gleichstellungspolitik<br />

in der EU. In: Frantz, Ch./Schubert, K., Grundkurs<br />

I: Politikwissenschaft. Institutsausgabe. Lit Verlag 2004<br />

Europäische Kommission: Rahmenstrategie der Gemeinschaft<br />

zur Förderung der Gleichstellung von Frauen und Männern<br />

(2001–2005). KOM(2000)235 endg.<br />

Dies.: Bericht zur Gleichstellung von Frau und Mann. 2004<br />

KOM(2004) 115 endg.<br />

Schunter-Kleemann, S.: Gender Mainstreaming, Workfare und<br />

„Dritte Wege“ des Neoliberalismus. In: Nohr, B./Veth, S.<br />

(Hg.), Gender Mainstreaming – kritische Reflexionen einer<br />

neuen Strategie. Berlin 2002, S. 125 – 141<br />

Stiegler, B.: Wie Gender in den Mainstream kommt – Konzepte,<br />

Argumente und Praxisbeispiele zur EU-Strategie des Gender<br />

Mainstreaming. Forschungsinstitut der Friedrich-Ebert-<br />

Stiftung, Abt. Arbeit und Sozialpolitik (Hg.). Bonn 2000<br />

Generalanwalt (EuGH). Am Europäischen Gerichtshof<br />

arbeiten neben den Richterinnen und Richtern<br />

– entsprechend romanischer Rechtstradition –<br />

die sog. Generalanwälte. Sie sind eine Art ausgelagerte<br />

Berichterstatter, d. h. den Richtern gleichgestellte<br />

Persönlichkeiten. Ihre Hauptfunktion ist die<br />

vollkommen unparteiliche und unabhängige Fertigung<br />

der Schlussanträge. Die Schlussanträge sind<br />

den EuGH-Entscheidungen zeitlich vorgelagert. Sie<br />

haben zwar für den Spruchkörper keine rechtliche<br />

Verbindlichkeit. Der Gerichtshof folgt ihnen dennoch<br />

in der Praxis statistisch im Schnitt bis zu 80 %,<br />

was ihre eminente Bedeutung unterstreicht. Hintergrund<br />

hierfür dürfte der Umstand sein, dass der<br />

Schlussantrag des Generalanwalts oftmals der „ein-<br />

391


Generaldirektionen<br />

zige gemeinsame Nenner“ ist, auf den sich die aus<br />

doch sehr verschiedenartigen Rechtssystemen kommenden<br />

und deshalb mit recht unterschiedlichem<br />

Amtsverständnis versehenen Richterinnen und<br />

Richter einigen können. Durch den Vertrag von Nizza<br />

wurde zum 1. 2. 2003 eingeführt, dass – insbes. bei<br />

schon weitgehend geklärter Rechtslage – auf den<br />

Schlussantrag des Generalanwalts auch verzichtet<br />

werdenkann. J. M. B.<br />

Generaldirektionen (GD) sowie Ämter und hochrangige<br />

Dienste im Rang von GD sind 37 organisatorische<br />

Einheiten der Europäischen Kommission mit<br />

bestimmten Aufgabengebieten innerhalb der Politikbereiche<br />

der EU oder der Verwaltung. Sie unterstehenunmittelbardenKommissarenundsinduntereinander<br />

gegliedert in die Bereiche „Politiken der<br />

EU“, „Außenbeziehungen“ sowie „Allgemeine<br />

Dienste“ und „Interne Dienste“. Die folgende Gliederung<br />

gilt für die Kommission 2004 bis 2009.<br />

Generaldirektionen für Politiken der EU:<br />

Beschäftigung, soziale Angelegenheiten und<br />

Chancengleichheit<br />

Bildung und Kultur<br />

Binnenmarkt und Dienstleistungen<br />

Fischerei und maritime Angelegenheiten<br />

Forschung<br />

Gesundheit und Verbraucherschutz<br />

Gemeinsame Forschungsstelle<br />

Informationsgesellschaft und Medien<br />

Justiz, Freiheit und Sicherheit<br />

Landwirtschaft und ländliche Entwicklung<br />

Regionalpolitik<br />

Steuern und Zollunion<br />

Umwelt<br />

Unternehmen und Industrie<br />

Verkehr und Energie<br />

Wettbewerb<br />

Wirtschaft und Finanzen<br />

Generaldirektionen und Ämter für<br />

Außenbeziehungen<br />

Amt für Zusammenarbeit EuropeAid<br />

Außenbeziehungen<br />

Entwicklung<br />

Erweiterung<br />

Handel<br />

Humanitäre Hilfe ECHO<br />

GeneraldirektionenundÄmterfürinterneDienste:<br />

Amt für Gebäude, Anlagen und Logistik<br />

392<br />

Datenverarbeitung / Informatik<br />

Dienst Interner Audit<br />

Dolmetschen<br />

Haushalt<br />

Juristischer Dienst<br />

Personal und Verwaltung<br />

Politischer Beraterstab / Beratergremium für europäische<br />

Politik<br />

Übersetzung<br />

Generaldirektionen für allgemeine Dienste<br />

Amt für amtliche Veröffentlichungen<br />

Europäisches Amt für Betrugsbekämpfung<br />

Eurostat<br />

Generalsekretariat<br />

Presse und Kommunikation<br />

Generalermächtigung (auch: Flexibilitätsklausel).<br />

Nach Art. 308 EGV kann der Rat – auch wenn<br />

ihm keine spezielle Handlungsbefugnis im EGV eingeräumt<br />

wird – einstimmig geeignete Vorschriften<br />

erlassen, wenn ein Tätigwerden der Gemeinschaft<br />

erforderlich erscheint, um im Rahmen des GemeinsamenMarkteseinesihrerZielezuverwirklichen.<br />

Art. 308 EGV enthält eine für die Fortentwicklung<br />

des Gemeinschaftsrechts unabdingbare Kompetenzergänzungsvorschrift,<br />

die im Zusammenhang mit<br />

dem �Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung<br />

betrachtet werden muss: Die Gemeinschaften bedürfen<br />

für jedes rechtsverbindliche Handeln einer konkreten<br />

Handlungsermächtigung, deren Grenzen sie<br />

nicht überschreiten dürfen. Allerdings kann sich herausstellen,<br />

dass die im Vertrag ausdrücklich formulierten<br />

Kompetenzen nicht zur angemessenen Erfüllung<br />

der Gemeinschaftsaufgaben ausreichen. Dieses<br />

Spannungsverhältnis wurde schon zu Anfang der<br />

EWG durch Aufnahme einer Generalermächtigung<br />

in den Gründungsvertrag gelockert, die heute in Art.<br />

308 EGV niedergeschrieben ist.<br />

Im Einzelnen müssen kumulativ vier Voraussetzungen<br />

erfüllt sein:<br />

(1) Im Rahmen des Gemeinsamen Marktes muss (2)<br />

ein Tätigwerden zur Verwirklichung der Ziele der<br />

EG (3) erforderlich sein, (4) ohne dass eine anderweitige<br />

Befugnisnorm zugunsten der Gemeinschaft<br />

bestünde.<br />

DieGeneralermächtigungistlediglicheineAuffangnorm.<br />

Sie gelangt nur dann zur Anwendung, wenn<br />

weder die weite Auslegung der vorhandenen Kompetenznormen<br />

im Sinne des �effet utile noch eine


sich aus dem EGV implizit ergebende Befugnisnorm<br />

(�implied powers) die intendierten Maßnahmen zu<br />

stützenvermag.VerleihteineausdrücklicheKompetenznorm<br />

lediglich unzureichende Befugnisse, ist<br />

der ergänzende Rückgriff auf Art. 308 EGV unter<br />

Umständen möglich, wenn keine im Vertrag ausdrücklich<br />

ausgesprochene Kompetenzeinschränkung<br />

überspielt wird.<br />

Des Weiteren ist zu beachten, dass die Generalermächtigung<br />

nur zur Kompetenzabrundung im Rahmen<br />

der bestehenden Vertragsziele herangezogen<br />

werdenkann;neueGemeinschaftskompetenzensind<br />

allein im Vertragsänderungsverfahren nach Art. 48<br />

EUVeinzuführen.AusdiesemGrundwarderBeitritt<br />

der Europäischen Gemeinschaften zur EMRK auf<br />

Basis des Art. 308 EGV nicht möglich, genauso wie<br />

eine Richtlinie zum Kommunalwahlrecht für EU-<br />

Ausländer nicht auf Art. 308 EGV gestützt werden<br />

konnte. Liegen die Voraussetzungen des Art. 308<br />

EGV vor, erlässt der Rat auf Vorschlag der Kommission<br />

die geeigneten Vorschriften. Die Entscheidung<br />

des Rates muss einstimmig ergehen – als Ausgleich<br />

dafür, dass das Parlament nur angehört wird.<br />

Die Generalermächtigung wurde bis zum Erlass der<br />

�Einheitlichen Europäischen Akte im Jahre 1986 zur<br />

dynamischen Fortentwicklung der „begleitenden<br />

Gemeinschaftspolitiken“ eingesetzt, insbes. zum<br />

Ausbau der Umwelt-, Forschungs-, Regional-, Sozial-<br />

und Währungspolitiken. Ihre Bedeutung ist mit<br />

zunehmender Ausweitung der Gemeinschaftskompetenzen<br />

seit der EEA über den Maastrichter Vertrag<br />

unddenVertragvonAmsterdamabgeschwächt,weil<br />

das Bedürfnis nach einer Befugnisnorm zur Lückenschließung<br />

zurückging und der EuGH zu einer restriktiven<br />

Auslegung der Norm überging. Jedoch ist<br />

die Norm nach wie vor nicht obsolet geworden, so<br />

dass den Rufen nach ihrer Abschaffung nicht Folge<br />

geleistet werden kann. Auch in den letzten Jahren ist<br />

eine Vielzahl von Rechtsakten auf Art. 308 EGV gestützt<br />

worden. Zu nennen sind Maßnahmen im Bereich<br />

der Finanzhilfen für europäische Drittstaaten<br />

oder zum Zwecke der �Heranführung von Drittstaaten<br />

an die EG, ergänzende Maßnahmen zur Wirtschafts-<br />

und Währungsunion oder Maßnahmen zur<br />

Bekämpfung des Terrorismus und zum Katastrophenschutz.<br />

Auch wichtige materielle Vorschriften<br />

wie die �Fusionskontrollverordnung (VO 4064/89),<br />

die Verordnungen über das Geschmacksmuster (VO<br />

6/2002, ABl. L 3/2002) und das Statut der Europäi-<br />

Gericht erster Instanz<br />

schen Gesellschaft – SE (VO 2157/2001, ABl. L<br />

294/2001) fanden ihre Grundlage in Art. 308 EGV.<br />

Schließlich sind wichtige Institutionen in Anwendung<br />

des Art. 308 EGV errichtet worden, etwa das<br />

�Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt in Alicante<br />

(VO 40/94, ABl. L 11/1994), die Europäische<br />

ArzneimittelagenturinLondon(VO2309/93,ABl.L<br />

214/1993) und in jüngerer Zeit die Europäische<br />

AgenturfürdenWiederaufbau(VO2667/2000,ABl.<br />

L 306/2000). Zu nennen ist auch der Solidaritätsfonds<br />

der Europäischen Union (VO 2012/2000, ABl.<br />

L 311/2002).<br />

Der �Verfassungsvertrag 2004 hat dem Ruf nach einem<br />

Kompetenzenkatalog Folge geleistet (Art. I-12<br />

ff. VVE). Gleichwohl hat die Generalermächtigung<br />

wegen des nach wie vor geltenden Prinzips der Einzelermächtigung<br />

(Art. I-11 VVE) ihre Existenzberechtigung<br />

nicht verloren und wurde daher beibehalten.<br />

Die Flexibilitätsklausel gem. Art. I-18 VVE enthält<br />

nicht mehr die Einschränkung auf eine Tätigkeit<br />

„imRahmendesGemeinsamenMarktes“,sodassein<br />

RückgriffaufdieGeneralklauselauchinanderenPolitikbereichen<br />

möglich sein wird, wenn die VerfassunginKrafttritt.<br />

J. I.<br />

Generalsekretariate der Organe �Europäische<br />

Kommission, �Europäisches Parlament, �Rat der<br />

Europäischen Union<br />

Genetisch veränderte Organismen (GVO) �Biound<br />

Gentechnologie<br />

Genossenschaft �Europäische Genossenschaft<br />

Genscher,Hans-Dietrich(geb.1927),deutscherInnenminister<br />

(1969 – 1974) und Außenminister (1974<br />

– 1992). Legte gemeinsam mit seinem italienischen<br />

Kollegen�Colombo1981einenVertragsentwurfzur<br />

Gründung einer Europäischen Union vor („Genscher-Colombo-Plan“,<br />

�Einheitliche Europäische<br />

Akte Ziff. 1.1).<br />

Genscher-Colombo-Plan �Einheitliche Europäische<br />

Akte Ziff. 1.1<br />

Gentechnologie �Bio- und Gentechnologie<br />

Gericht erster Instanz der EG �Gerichtshof der<br />

Europäischen Union<br />

393


Gericht für den öffentlichen Dienst<br />

Gericht für den öffentlichen Dienst der Europäischen<br />

Union. Nach Art. 25a EGV kann der Rat �Gerichtliche<br />

Kammern bilden. Dementsprechend hat<br />

der Rat mit Beschluss 2004/752 (ABl. L 333/2004)<br />

das Gericht für den öffentlichen Dienst der EU gebildet,<br />

das dem Gericht erster Instanz der EG beigeordnet<br />

ist. Es besteht aus 7 Richtern und ist für Streitsachen<br />

gem. Art. 236 EGV zuständig.<br />

Gerichtliche Kammern / Fachgerichte. Der Vertrag<br />

von Nizza ordnete dem 1989 zur Entlastung des<br />

�EuGH geschaffenen Gericht erster Instanz (EuG)<br />

zu dessen Entlastung 2005 sog. „Gerichtliche Kammern“<br />

(EuGK) zu. Diese stellen Spezialspruchkörper<br />

für bestimmte Sektoren dar und sind im ersten<br />

Rechtszug zuständig etwa für das EG-Bedienstetenrecht<br />

oder für Streitigkeiten um Marken, Muster und<br />

Modelle.DieGerichtlichenKammernschufendamit<br />

in Luxemburg ein neues europäisches Drei-Ebenen-<br />

Gerichtssystem:GegenEntscheidungeneinerEuGK<br />

kann das Rechtsmittel zum EuG offen stehen. Gegen<br />

ein Urteil des EuG wiederum kann in Ausnahmefällen<br />

aufgrund der Rechtseinheit und -kohärenz ein<br />

Rechtsmittel zum EuGH gegeben sein, das allerdings<br />

ausschließlich der Erste Generalanwalt einlegen<br />

kann und das sich auf Rechtsfragen beschränkt.<br />

So spezialisiert und differenziert sich die europäische<br />

Gerichtsbarkeit mithin gewissermaßen „nach<br />

unten“ aus. Der �Verfassungsvertrag 2004 will die<br />

Gerichtliche Kammer gem. Art. I-29 VVE in<br />

�„Fachgerichte“umbenennen. J. M. B.<br />

Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften<br />

(EuGH). Der Gerichtshof ist das Rechtsprechungsorgan<br />

der Europäischen Gemeinschaften. Er<br />

sichert die Wahrung des Rechts bei der Auslegung<br />

und Anwendung der Gründungsverträge der Europäischen<br />

Gemeinschaften (Art. 220 – 245 EGV, Art.<br />

136 – 160 EAGV und Art. 31 EGKSV) sowie der von<br />

den Organen der Europäischen Union erlassenen<br />

Rechtsvorschriften.<br />

1. Grundlagen und Organisation. Der Gerichtshof<br />

hat seinen Ursprung im Gerichtshof der EGKS und<br />

wurde 1953 eingerichtet. Mit dem Abkommen über<br />

die gemeinsamen Organe für die Europäischen Gemeinschaften<br />

wurde er am 25. 3. 1957 einheitliches<br />

Gericht mit Sitz in Luxemburg (vgl. Satzung vom<br />

1.4.1957).AufderGrundlagederVerträgederEuropäischenGemeinschaftenunddesVertragesüberdie<br />

394<br />

Europäische Union hat der EuGH gem. Art. 7 des<br />

Vertrags von Nizza am 15. 6. 2004 eine neue Satzung<br />

erhalten.<br />

Der EuGH setzt sich derzeit (Mitte 2005) aus 25<br />

Richtern zusammen, die von den Regierungen der<br />

Mitgliedstaaten im gegenseitigen Einvernehmen für<br />

sechs Jahre ernannt werden. Aus ihrer Mitte wählen<br />

die Richter für die Dauer von drei Jahren den Präsidenten;<br />

alle drei Jahre findet eine teilweise Neubesetzung<br />

des Gerichtshofes statt, um die Kontinuität<br />

der Rechtsprechung zu sichern. Die Richter werden<br />

unterstützt von derzeit acht Generalanwälten. Bestellung<br />

und Amtsdauer der Richter des Gerichtes<br />

ersterInstanzentsprechendemEuGH.DieUnabhängigkeit<br />

der Richter ist durch ihren besonderen Status<br />

garantiert. Die Richter sind keiner Gerichtsbarkeit<br />

unterworfen; sie sind nicht absetzbar; sie dürfen weder<br />

ein politisches Amt noch ein Amt in der Verwaltung<br />

wahrnehmen; sie genießen bei ihrer Rechtsprechung<br />

Immunität; die Beratungen sind geheim (Art.<br />

3 – 6 der Satzung vom 15. 6. 2004).<br />

Der Gerichtshof bildet aus seiner Mitte Kammern<br />

mit drei und fünf Richtern. Die Entscheidungen sind<br />

nur dann gültig, wenn sie von drei Richtern getroffen<br />

werden. Der Gerichtshof tagt als Große Kammer mit<br />

zurzeit 13 Richtern, wenn ein am Verfahren beteiligter<br />

Mitgliedstaat oder ein am Verfahren beteiligtes<br />

Gemeinschaftsorgan dies verlangt. Die Entscheidungen<br />

werden mit Mehrheit gefällt (deshalb die ungeradeAnzahlvonRichtern,umeinePattsituationzu<br />

vermeiden). Der Gerichtshof tagt als Plenum in besonderen<br />

Fällen (u. a. Amtsenthebung des Europäischen<br />

Bürgerbeauftragten oder eines Mitglieds der<br />

Kommission) und wenn er zu der Auffassung gelangt,<br />

dass eine Rechtssache von außergewöhnlicher<br />

Bedeutung ist (Quorum: derzeit 15 Richter).<br />

Die Mitgliedstaaten und die Gemeinschaftsorgane<br />

werden vor dem EuGH – ebenso wie die Vertragsstaaten<br />

des Abkommens über den Europäischen<br />

Wirtschaftsraum, die nicht Mitgliedstaaten sind –<br />

durch einen Bevollmächtigten vertreten. Die anderen<br />

Parteien müssen durch einen Anwalt vertreten<br />

sein. Die Beratungen des Gerichts sind geheim.<br />

Mit Wirkung vom 31. 10.1989 wurde dem Europäischen<br />

Gerichtshof ein Gericht erster Instanz (EuG)<br />

beigeordnet, das derzeit ebenfalls aus 25 Richtern<br />

besteht und in Kammern mit drei und fünf Richtern<br />

tagt. Das EuG hat ebenfalls die gleichen Aufgaben<br />

wiederEuGH.HauptsächlichbefasstessichmitKla-


gen natürlicher und juristischer Personen gegen die<br />

Entscheidungen der Gemeinschaftsorgane. Zur Entlastung<br />

des EuG hat der Vertrag von Nizza die Bildung<br />

�„Gerichtlicher Kammern“ vorgesehen, bei<br />

denen es sich um neue spezialisierte Gerichte für besondere<br />

Bereiche handelt, deren Entscheidung vor<br />

demEuGangefochtenwerdenkönnen.DieKommission<br />

hat bislang die Schaffung eines Fachgerichts für<br />

Rechtsstreitigkeiten des öffentlichen Dienstes und<br />

eines Fachgerichts für das Gemeinschaftspatent vorgeschlagen<br />

(�Gericht für den öffentlichen Dienst der<br />

EU).<br />

Im Amsterdamer Vertrag wurde die Zuständigkeit<br />

des EuGH formal auf den Bereich der Grundrechte<br />

erweitert, wie sie insbes. im Rahmen der Europäischen<br />

Konvention zum Schutz der Menschenrechte<br />

und Grundfreiheiten gewährleistet werden (Art. 6<br />

Abs. 2 EUV).<br />

2. Aufgaben des Gerichtshofs. Er ist nach Art. 46<br />

EUV das einzige rechtsprechende Organ der EU in<br />

eindeutig ausgewiesenen Bereichen der EG. Seine<br />

Kompetenzen betreffen nicht die Politikbereiche der<br />

GASP und nur in begrenztem Maße die polizeiliche<br />

und justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen<br />

(PJZS). Der Gerichtshof ist tätig als Verfassungsgerichtshof<br />

(Rechte und Pflichten der EU-Organe;<br />

Rechtsverhältnisse zwischen der Gemeinschaft und<br />

den Mitgliedstaaten; Normenkontrollklagen), als<br />

Verwaltungsgericht (Klagen natürlicher und juristischer<br />

Personen gegen sie betreffende Maßnahmen<br />

der EU), als Zivilgericht (Prüfung von Ansprüchen<br />

auf Schadensersatz, Amtshaftung) und als Schiedsgericht.<br />

Der Ministerrat oder die Kommission oder<br />

ein Mitgliedstaat können beim Gerichtshof Gutachten<br />

über die vertragliche Vereinbarkeit von Abkommen<br />

der EU mit Dritten beantragen.<br />

3. Verfahrensarten:<br />

(1) Klage wegen Vertragsverletzung in Form einer<br />

Feststellungsklage: In diesem Verfahren prüft der<br />

Gerichtshof, ob die Mitgliedstaaten ihren gemeinschaftsrechtlichen<br />

Verpflichtungen, die sich aus<br />

dem EGV, den gesetzlichen Rechtsakten (Art. 226<br />

und 227 EGV) oder aus den von der EU mit Dritten<br />

geschlossenen Verträgen ergeben, nachgekommen<br />

sind. Die Klage kann von der Kommission oder von<br />

einem Mitgliedstaat erhoben werden. In der Regel<br />

geht ein Vorverfahren voraus, in dem die Kommission<br />

dem betroffenen Mitgliedstaat die Möglichkeit<br />

einräumt, sich zu äußern. Falls keine Einigung zu-<br />

Gerichtshof<br />

stande kommt, gibt die Kommission eine Stellungnahme<br />

ab; diese ist Voraussetzung für die Befassung<br />

des Gerichtshofs mit dem Vertragsverletzungsverfahren.<br />

Stellt das Gericht eine Vertragsverletzung<br />

fest,istderbetreffendeMitgliedstaatverpflichtet,sie<br />

unverzüglich abzustellen.<br />

(2) Nichtigkeitsklage (Art. 230 ff. EGV): Mit dieser<br />

Klage beantragt der Kläger (EU-Organe, Mitgliedstaaten<br />

oder Einzelpersonen, die unmittelbar und individuell<br />

betroffen sind) vor dem EuGH oder dem<br />

EuG die Nichtigkeitserklärung der Handlung eines<br />

OrgansderEUeinschl.derEZB(Verordnung,Richtlinie,<br />

Entscheidung).<br />

Gründe für eine Nichtigkeitsklage sind: Unzuständigkeit,<br />

Verletzungen von Vorschriften des Vertrages<br />

oder von Rechtsnormen und Ermessensmissbrauch.<br />

Schadensersatz kann nur über eine zusätzliche,<br />

entsprechende Klage erfolgen.<br />

(3) Untätigkeitsklage (Art. 232 EGV; Art. 148<br />

EAGV): „Unterlässt es das Europäische Parlament,<br />

der Rat oder die Kommission unter Verletzung dieses<br />

Vertrags, einen Beschluss zu fassen, so können<br />

die Mitgliedstaaten und die anderen Organe der Gemeinschaft<br />

beim Gerichtshof Klage auf Feststellung<br />

dieser Vertragsverletzung erheben.“ Diese Klage<br />

kann nur erhoben werden, wenn das betreffende Organ<br />

vorher aufgefordert worden ist, tätig zu werden<br />

und nicht Stellung genommen hat. Mit dem EUV<br />

wurde der Art. 232 auch auf die EZB ausgedehnt. In<br />

diesem Verfahren prüfen der Gerichtshof und das<br />

EuG die Rechtmäßigkeit der Untätigkeit eines Gemeinschaftsorgans.<br />

(4) Schadensersatzklagen auf Ersatz des durch eine<br />

Handlung oder rechtswidrige Unterlassung eines<br />

Gemeinschaftsorgans verursachten Schadens: Der<br />

EuGH oder das EuG entscheiden darüber, ob die Gemeinschaft<br />

für Schäden aufzukommen hat, die ihre<br />

Organe oder Bediensteten in Ausübung ihrer Amtstätigkeit<br />

Bürgern oder Unternehmen zugefügt haben.<br />

(5) Rechtsmittel: Beim EuGH können beschränkte<br />

Rechtsmittel gegen Urteile des EuG eingelegt werden.<br />

(6) Vorabentscheidung (Art. 234 EGV und Art. 68<br />

EGV; Art. 150 EAGV; Art. 35 EUV): Dieses Verfahren<br />

dient der einheitlichen Auslegung des Vertrages.<br />

Ihm kommt im Gemeinschaftsrecht besondere Bedeutung<br />

zu, da nationale Gerichte das Gemeinschaftsrecht<br />

durchführen. Nationale Gerichte legen,<br />

395


Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommen<br />

insofern sie eine Entscheidung des obersten Hüters<br />

des Rechts in der Gemeinschaft für erforderlich halten,<br />

dem EuGH Fragen über die Auslegung und Gültigkeit<br />

des Gemeinschaftsrechts vor; die Entscheidungen<br />

des Europäischen Gerichtshofs binden die<br />

einzelstaatlichen Gerichte. Nationale Gerichte letzter<br />

Instanz sind dazu verpflichtet. Die Vorabentscheidung<br />

verbindet gewissermaßen die nationale<br />

und europäische Gerichtsbarkeit miteinander. Gegenstand<br />

des Vorabentscheidungsersuchens kann<br />

auch die Prüfung der Gültigkeit eines Gemeinschaftsaktes<br />

sein. Der Gerichtshof antwortet dann<br />

durch Urteil oder einen mit Gründen versehenen Beschluss.<br />

Dieses Verfahren bietet auch jedem Unionsbürger<br />

die Möglichkeit, den genauen Inhalt ihn betreffender<br />

Normen des Gemeinschaftsrecht feststellen<br />

zu lassen.<br />

4. Rolle des Europäischen Gerichtshofs bei der<br />

Rechtsbildung:DerEuGHträgtmaßgeblichzurAuslegung<br />

und Weiterentwicklung des Gemeinschaftsrechts<br />

und zum Ausbau der Rechtsgemeinschaft bei,<br />

insbes. durch die Überprüfung von Rechtsakten des<br />

Ministerrates und seine Rechtsprechung über das<br />

Verhältnis zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalemRecht.MitderAkzeptanzseinesGrundsatzurteils<br />

im Fall �„Van Gend und Loos“ von 1967 haben<br />

sich die Mitgliedstaaten zum ersten Mal freiwillig<br />

europäischem Recht unterworfen. Der Gerichtshof<br />

trägt mit seinen Urteilen auch zu einem �<strong>Europa</strong> der<br />

Bürger bei, da er aufmerksam darauf achtet, dass die<br />

Grund- und Menschenrechte der EU-Bürger gegenüber<br />

der Hoheitsgewalt der Gemeinschaft geschützt<br />

sind.<br />

Der Gerichtshof hat durch seine Auslegung des Gemeinschaftsrechts<br />

die Normen und Befugnisse der<br />

Gemeinschaft konkretisiert und erweitert; er gibt<br />

wichtige Impulse für den Integrationsprozess. Der<br />

Gerichtshof schafft selbst <strong>Europa</strong>recht und ist für die<br />

Rechtsfortbildung auch deshalb so wichtig, weil das<br />

(positive) <strong>Europa</strong>recht erst in Grundzügen besteht.<br />

Der Gerichtshof schließt die Lücken und hält damit<br />

die Gemeinschaft funktionsfähig. Wegweisend waren<br />

z. B. Urteile und Stellungnahmen des Europäischen<br />

Gerichtshofs zu dem, was unter Freiheit des<br />

Warenverkehrs zu verstehen ist: Das Cassis-de-Dijon-Urteilvon1978hattezurFolge,dassauchandere<br />

Importverbote, die mit dem deutschen Reinheitsgebot<br />

für Bier, dem italienischen Hartweizengebot für<br />

Spaghetti oder dem Milcheiweißverbot bei deut-<br />

396<br />

scher Wurst begründet worden waren, aufgehoben<br />

werden mussten.<br />

Die Urteile des EuGH binden die Verfahrensbeteiligten<br />

und sichern insofern die Einheitlichkeit der<br />

Rechtsgemeinschaft. Jedoch ist der Gerichtshof<br />

auch auf die Bereitschaft der Mitgliedstaaten angewiesen,<br />

freiwillig den Urteilen Folge zu leisten.<br />

5. Gegenwärtige Probleme. Die Zusammensetzung<br />

des EuGH mit insgesamt 25 Richtern macht die Entscheidungsprozesse<br />

langwierig. Die wachsende<br />

Zahl der Verfahren hat der Gerichtshof durch vermehrte<br />

Zuweisung an das EuG, und zukünftig wohl<br />

an die Fachgerichte, weitgehend auffangen können.<br />

Die Kapazitäten des Europäischen Gerichtshofs sind<br />

ausgeschöpft; die Dauer des Vorlageverfahrens beträgt<br />

durchschnittlich rund zwei Jahre.<br />

Die Breite der zu behandelnden Spezialmaterien<br />

stellt hohe Anforderungen an die Richter. Außerdem<br />

wirft der Verfahrensablauf zwischen mündlicher<br />

Verhandlung und Urteilsberatung wegen der Verfahrensdauer<br />

Schwierigkeiten auf, da die Generalanwälte<br />

ihre Schlussanträge vorlegen und die erforderlichen<br />

Übersetzungen erfolgen müssen. Ein weiteres<br />

Problem ist die Vielzahl der Verfahrenssprachen,<br />

wenngleich der Gerichtshof intern regelmäßig auf<br />

Französisch berät. Die neue Erweiterung der EU hat<br />

die Verfahrensabläufe dadurch zusätzlich belastet,<br />

dass jeder neue Staat eigene Rechtstraditionen und<br />

eineeigeneSpracheindieGemeinschafteinbringt.<br />

U.M.<br />

Literatur:<br />

Everling, U.: Das Vorabentscheidungsverfahren nach Art.177<br />

EGV, München 1995<br />

Hakenberg, W./Stix-Hackl, Chr.: Handbuch zum Verfahren vor<br />

dem Europäischen Gerichtshof. Wien 2000<br />

Kirschner, H./Klüpfel, K.: Das Gericht erster Instanz der<br />

Europäischen Gemeinschaften. Köln 1998<br />

Klinke, U.: Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften<br />

– Aufbau und Arbeitsweise. Baden-Baden 1989<br />

Internet: http://curia.eu.int<br />

Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommen.<br />

In Ermangelung einer Rechtsetzungskompetenz<br />

der Gemeinschaftsorgane war das Internationale<br />

Zivilverfahrensrecht bis zum Inkrafttreten<br />

des �Vertrags von Amsterdam einer Regelung durch<br />

Staatsverträge vorbehalten. Das Europäische Zivilverfahrensrecht<br />

ruhte dabei im Wesentlichen auf<br />

zwei Konventionen, nämlich dem Brüsseler Übereinkommen<br />

über die gerichtliche Zuständigkeit und<br />

die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in


Zivil- und Handelssachen vom 27. 9. 1968 und dem<br />

Luganer Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommenvom16.9.1988.Ergänzendwardassog.<br />

Haager Zustellungsabkommen heranzuziehen.<br />

Nachdem durch den Vertrag von Amsterdam diese<br />

Teile der dritten �Säule des EU-Vertrages – also der<br />

ZusammenarbeitindenBereichenJustizundInneres<br />

– in den Bereich der ersten Säule überführt, also vergemeinschaftetwordenwaren,ergabsichfürdenRat<br />

eine originäre Regelungskompetenz, von der er zwischenzeitlich<br />

Gebrauch gemacht hat:<br />

– Verordnung 244/2001 des Rates vom 22. 12. 2000<br />

überdiegerichtlicheZuständigkeitunddieAnerkennung<br />

und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil-<br />

und Handelssachen (EuGVVO-Brüssel I)<br />

– Verordnung 1347/2000 des Rates vom 29. 5. 2000<br />

überdiegerichtlicheZuständigkeitunddieAnerkennung<br />

und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen<br />

und in Verfahren betreffend die elterliche<br />

Verantwortung für die gemeinsamen Kinder der<br />

Ehegatten (Brüssel II)<br />

Die sog. Brüssel I-Verordnung ersetzt mit Wirkung<br />

zum 1. 3. 2002 das Brüsseler Gerichtsstands- und<br />

Vollstreckungsübereinkommen in Zivil- und Handelssachen<br />

aus dem Jahr 1968 und schafft einheitliche<br />

Zuständigkeitsvorschriften und ein vereinfachtes<br />

Vollstreckbarerklärungsverfahren, das gegenüber<br />

dem Brüsseler Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommen<br />

schneller und einfacher ausgestaltet<br />

ist.<br />

Die mit Wirkung vom 1. 3. 2001 in Kraft getretene<br />

sog. Brüssel II-Verordnung enthält Bestimmungen,<br />

die die Vorschriften über die internationale Zuständigkeit<br />

in Ehesachen und in Verfahren über die elterliche<br />

Verantwortung vereinheitlichen und die Formalitäten<br />

im Hinblick auf eine rasche und unkomplizierte<br />

Anerkennung von Entscheidungen und deren<br />

Vollstreckung vereinfachen. Die Brüssel-II-Verordnung<br />

gilt für Zivilverfahren betreffend die Scheidung,<br />

die Trennung ohne Auflösung des Ehebandes<br />

oder die Ungültigerklärung einer Ehe sowie für Zivilverfahren<br />

betreffend die elterliche Verantwortung<br />

für die gemeinsamen Kinder der Ehegatten.<br />

Daneben existieren weitere Verordnungen, wie etwa<br />

dieVerordnungendesRatesvom 29.5.2000überInsolvenzverfahren(1346/2000,ABl.L160/2000)und<br />

über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher<br />

Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen in<br />

denMitgliedstaaten(1348/2000,ABl.L160/2000).<br />

Gesandtschaftsrecht<br />

Das deutsche Ausführungs- und Durchführungsgesetz,<br />

das sog. Anerkennungs- und Vollstreckungsausführungsgesetz<br />

(AVAG), ist am 1. 3. 2001<br />

(BGBl.IS.288)inKraftgetreten. Ch. S.<br />

Gesamtbericht über die Tätigkeit der Europäischen<br />

Union, wird jährlich gem. Art. 212 EGV<br />

(bzw. Art. 125 EAGV) von der Kommission veröffentlicht,<br />

und zwar spätestens einen Monat vor Beginn<br />

der Sitzungsperiode des Europäischen Parlaments<br />

(gem. Art. 196 EGV der zweite Dienstag des<br />

Monats März). Der Gesamtbericht gibt einen Überblick<br />

über die Tätigkeit der Union und die wichtigsten<br />

konkreten Ergebnisse im abgelaufenen Jahr und<br />

wird in allen �Amtssprachen veröffentlicht. Er kann<br />

als Papierausgabe erworben oder im PDF-Format<br />

aus dem Internet heruntergeladen werden. Auch frühere<br />

Gesamtberichte ab 1997 sind in vollständiger<br />

Fassung im Internet zugänglich.<br />

Internet: http://europa.eu.int/abc/doc/off/rg/de/2004<br />

Gesandtschaftsrecht. Der Gemeinschaft steht das<br />

aktive und passive Gesandtschaftsrecht zu. Über 160<br />

Staaten sowie viele internationale Organisationen<br />

unterhalten bei der Gemeinschaft diplomatische<br />

Vertretungen(�Missionen);dieGemeinschaftselbst<br />

unterhält in Drittländern und bei Internationalen Organisationen<br />

über 120 Vertretungen (�Delegationen).<br />

Die laufenden Geschäfte des aktiven und passiven<br />

Gesandtschaftsrechts nimmt die Kommission<br />

wahr (vgl. etwa Art. 133 Abs. 3, Art. 300 Abs. 1, Art.<br />

302 EGV). Nach Art. 20 des Unionsvertrages arbeiten<br />

die Delegationen mit den diplomatischen und<br />

konsularischen Vertretungen der Mitgliedstaaten<br />

zusammen.<br />

Der �Verfassungsvertrag 2004 erwähnt das aktive<br />

und passive Gesandtschaftsrecht ausdrücklich in<br />

Art. III-328. Mit Artikel I-28 des Verfassungsvertrags<br />

soll das Amt eines �Außenministers der Europäischen<br />

Union geschaffen werden. Unabhängig davon,<br />

welche Aufgaben dem EU-Außenminister tatsächlich<br />

zukommen werden, ist zu seiner Unterstützung<br />

gem. Art. III- 296 Abs. 3 die Einrichtung eines<br />

Europäischen Auswärtigen Dienstes vorgesehen.<br />

Der EU-Außenminister steht an der Spitze dieses diplomatischen<br />

Dienstes (Art. III-328 Abs. 2). Dieser<br />

wird durch einen Beschluss des Ministerrates, nach<br />

Anhörung des Europäischen Parlaments und nach<br />

Zustimmung der Kommission, eingerichtet. Er wird<br />

397


Geschäftsordnungen<br />

sich aus Beamten der einschlägigen Dienststellen<br />

des Generalsekretariats des Ministerrates und der<br />

Kommission und aus abgestelltem Personal der diplomatischen<br />

Dienste der Mitgliedstaaten zusammensetzen.<br />

Das in Drittländern und bei internationalen<br />

Organisationen tätige Personal der Delegationen<br />

der EU wird aus diesem Dienst bereitgestellt. Der<br />

Europäische Auswärtige Dienst wird mit den diplomatischen<br />

Diensten der Mitgliedstaaten zusammenarbeiten<br />

(Art. III-328 Abs. 2). Gemäß der Erklärung<br />

zu Art. III-296 des Verfassungsvertrages, die der<br />

Schlussakte der Regierungskonferenz beigefügt ist,<br />

werdendieerforderlichenVorkehrungenfürdieEinrichtung<br />

des Europäischen Auswärtigen Dienstes<br />

getroffen, sobald der Verfassungsvertrag 2004 für<br />

<strong>Europa</strong>ratifiziertwordenist. St. U. P.<br />

Geschäftsordnungen. Der EG-Vertrag legt fest,<br />

welche Organe und Institutionen der EU sich Geschäftsordnungen<br />

(GO) geben müssen (das EP gem.<br />

Art. 199, der Rat gem. Art. 207, die Kommission<br />

gem.Art.218,derWSAgem.Art.260,derAdRgem.<br />

Art. 264). Die Geschäftsordnungen sind Bestandteil<br />

dessekundärenGemeinschaftsrechts(dieSatzungen<br />

der EIB und des EuGH sind primärrechtlich verankert).<br />

Die GO ist für das jeweilige Organ in allen ihren Teilen<br />

im Innenverhältnis verbindlich. In GO kann festgelegt<br />

sein, dass das betreffende Organ untergeordnete<br />

Einrichtungen schaffen kann, die sich ihrerseits<br />

GO geben (z. B. Agenturen der EU).<br />

Einzelne Bestimmungen von GO können durch andere<br />

Rechtsakte bestimmt sein. So verlangt Art. 6 der<br />

VO Nr. 1 vom 15. 4. 1958, dass die Organe in ihren<br />

GO festlegen, wie sie die Sprachenfrage im Einzelnen<br />

regeln. VO 1049/2001 verlangt, dass die Organe<br />

der Öffentlichkeit Zugang zu ihren Dokumenten<br />

gem. Art. 255 EGV ermöglichen müssen; daraufhin<br />

haben die 3 an der Gesetzgebung beteiligten Organe<br />

ihre GO entsprechend geändert.<br />

Die GO der Organe und Einrichtungen und ihre Änderungen<br />

werden im Amtsblatt veröffentlicht und<br />

sind im Internet über Eur-Lex abrufbar.<br />

Geschmacksmuster,<br />

Gemeinschaftsgeschmacksmuster. Seit Anfang<br />

2003 nimmt das Harmonisierungsamt für den<br />

Binnenmarkt in Alicante (Spanien) Anträge auf Registrierung<br />

von Gemeinschaftsgeschmacksmustern<br />

398<br />

entgegen. Das Gemeinschaftsgeschmacksmuster<br />

genießt bis zu 25 Jahre Schutz in allen Mitgliedstaaten.<br />

Rechtsgrundlage ist die Verordnung 6/2002<br />

(ABl. L 3/2002). Um eingetragen werden zu können,<br />

muss ein Geschmacksmuster neu sein und Eigenart<br />

besitzen, sich also von existierenden deutlich unterscheiden.<br />

Nach wie vor ist eine Registrierung von Geschmacksmustern<br />

auch nach (durch Richtlinie 98/71<br />

harmonisiertem) nationalen Recht möglich.<br />

Geschützte geografische Angabe (g. g. A.).Verarbeitete<br />

oder unverarbeitete Agrarerzeugnisse sowie<br />

Lebensmittel, die aus einer bestimmten Region<br />

oder einem Ort stammen und ihre Merkmale oder ihren<br />

Ruf überwiegend oder ausschließlich dem geografischen<br />

Umfeld einschl. natürlicher und/oder<br />

menschlicher Faktoren verdanken, können sich<br />

durch Eintragung schützen lassen und den Zusatz „g.<br />

g. A.“ führen (ausgenommen Wein und Spirituosen,<br />

die eigene Ursprungsbezeichnungen führen können).<br />

Den Antrag auf Eintragung können alle UnternehmensgesellschaftenungeachtetihrerRechtsform<br />

oderZusammensetzungstellen.DieEintragungwird<br />

im Amtsblatt veröffentlicht. Rechtsgrundlage ist<br />

Verordnung 2081/1992 (ABl. 208/1992, berichtigt<br />

in ABl. L 27/1997 und 53/1998), zuletzt geändert<br />

durch VO 692/2003 (ABl. L 99/2003).<br />

Agrarerzeugnisse oder Lebensmittel aus einer bestimmten<br />

Region oder einem Ort, die ihre Qualität<br />

oder Eigenschaften überwiegend oder ausschließlichdieserRegionohnedenEinflussweiterernatürlicher<br />

und/oder menschlicher Faktoren verdienen,<br />

können auf gleiche Weise eine Ursprungsbezeichnung<br />

schützen lassen und den Zusatz „g. U.“ (geschützte<br />

Ursprungsbezeichnung) führen.<br />

Geschützte Ursprungsbezeichnung (g. U.)<br />

�Geschützte geografische Angabe<br />

Gesellschaftsrecht, Europäisches<br />

1. Begriffsbestimmung und Problematik: Unter Europäischem<br />

Gesellschaftsrecht versteht man alle Bestimmungen<br />

des EG-Vertrags sowie daraus abgeleitetes<br />

Recht (Sekundärrecht), also Richtlinien, Verordnungen<br />

und Übereinkommen, die auf das Recht<br />

der juristischen Personen (Gesellschaften) der Mitgliedstaaten<br />

einwirken oder eigene europäische Gesellschaftsformen<br />

schaffen sollen.


Der größte Teil der grenzüberschreitend tätigen Unternehmen<br />

ist in der Rechtsform einer Gesellschaft<br />

organisiert. Obwohl alle Mitgliedstaaten grundsätzlich<br />

ähnliche Gesellschaftsformen wie Aktiengesellschaft,<br />

GmbH, Kommanditgesellschaft oder OHG<br />

anbieten, bestehen doch im Detail große Unterschiede,<br />

was das Stammkapital, die Form der Gründung,<br />

die Anzahl der Mitglieder, die Fragen der Registrierung<br />

und öffentlich zu machenden Informationen angeht.<br />

Dies bringt nicht allein Probleme für Gesellschaften<br />

mit sich, grenzüberschreitend tätig zu sein,<br />

sondernvorallemauchmultinationaleUnternehmen<br />

oder Projekte zu gründen. Im Interesse von Gläubigern<br />

und Anteilseignern ist eine Angleichung notwendig,<br />

weil der Schutz in den Mitgliedstaaten unterschiedlich<br />

geregelt ist.<br />

2. Gegenwärtiger Stand des Gesellschaftsrechts in<br />

der EU<br />

2.1 Vorschriften: Der EG-Vertrag schreibt in Art. 48<br />

vor, dass bezüglich des Niederlassungsrechts GesellschaftennatürlichenPersonengleichstehen.Dies<br />

bedeutet nicht, dass Gesellschaften ihren Sitz ohne<br />

Behinderungen von einem Mitgliedstaat in einen anderen<br />

verlegen können.<br />

2.2 Rechtsetzung: Auf vier Arten versucht die EU,<br />

die Probleme, die durch unterschiedliches Gesellschaftsrecht<br />

entstehen, zu regeln:<br />

a) gegenseitige Anerkennung (vgl. Art. 293, 3. Spiegelstr.<br />

EGV),<br />

b) Rechtsangleichung (z. B. durch Richtlinien),<br />

c) Schaffung europa-einheitlicher Gesellschaftsformen,<br />

d) Rechtsprechung des EuGH.<br />

Zu a) Ein Übereinkommen über die gegenseitige Anerkennung<br />

von Gesellschaften und juristischen Personen<br />

(Bull. 2-1969, S. 7 – 14) wurde noch nicht von<br />

allen Mitgliedstaaten ratifiziert, weshalb es derzeit<br />

nicht in Kraft ist.<br />

Zu b) Ziel der Harmonisierung des Gesellschaftsrechts<br />

durch Richtlinien ist es, die nationalen Vorschriften<br />

zur Regelung des Gesellschaftsrechts in<br />

wichtigenPunktenanzugleichen.EinigeBeispiele:<br />

Die1.Richtlinie,die„Publizitätsrichtlinie“vom9.3.<br />

1968 (68/151, ABl. L 65/1968, geändert durch<br />

2003/58) betrifft alle Kapitalgesellschaften (Aktiengesellschaft,<br />

GmbH, Kommanditgesellschaft auf<br />

Aktien). Sie legt bestimmte Offenlegungspflichten<br />

für diese Gesellschaften fest. Sie wurde erweitert<br />

durch die 11. Richtlinie vom 21. 12. 1989 über die<br />

Gesellschaftsrecht<br />

Publizitätspflicht von Zweigniederlassungen (89/<br />

666).<br />

Die 2. Richtlinie, die Kapitalrichtlinie vom 13. 12.<br />

1976 (77/91, ABl. L 25/1977), enthält Vorschriften<br />

über ein Mindestkapital der Aktiengesellschaften<br />

beiderGründungsowiezurErhaltungundÄnderung<br />

des Kapitals.<br />

Die 3. Richtlinie, die „Fusionsrichtlinie“ (78/855,<br />

ABl. L 295/1977)), beschäftigt sich mit dem SonderfallderVerschmelzungmehrererAktiengesellschaften<br />

zu einer AG.<br />

Die 4. Richtlinie, die „Bilanzrichtlinie“ vom 25. 7.<br />

1978 (78/660, ABl. L 222/1978)), ist wohl die RegelungmitdenweitestgehendenAuswirkungenaufdas<br />

nationale Gesellschaftsrecht. Durch die Richtlinie<br />

soll erreicht werden, dass die Jahresabschlüsse in der<br />

gesamten EU nach einheitlichen Grundsätzen und<br />

Bestimmungen erfolgen.<br />

Im Zusammenhang damit ist die 7. Richtlinie vom<br />

13. 6.1983 zu sehen (83/349, ABl. L 193/1983), die<br />

Regelungen über den konsolidierten Abschluss von<br />

Konzernen aufstellt, und die 8. Richtlinie vom 10. 4.<br />

1984 (84/253, ABl. L 126/1984), die die Angleichung<br />

des Rechts der Befähigung von Wirtschaftsprüfern<br />

vorsieht.<br />

Die 6. Richtlinie vom 17.12.1982 (82/891, ABl. L<br />

378/1982) betrifft die Spaltung von Aktiengesellschaften,<br />

was in Deutschland keine praktische Bedeutung<br />

hat.<br />

Ebenso verhält es sich mit der 12. Richtlinie vom 21.<br />

12. 1989 (89/667, ABl. L 395/1989), die verbindlich<br />

festlegt, dass die Mitgliedstaaten die Gründung einer<br />

Ein-Mann-GmbH ermöglichen müssen, falls sie einem<br />

Kaufmann keine andere Möglichkeit zur Gründung<br />

eines Unternehmens mit beschränkter Haftung<br />

gewähren.<br />

Die jüngste Richtlinie zur Koordinierung des Gesellschaftsrechts<br />

ist die �Übernahmerichtlinie vom 21.<br />

4. 2004 (2004/25, ABL. L 142/2004), die bis zum 20.<br />

5. 2006 von den Mitgliedstaaten umgesetzt werden<br />

muss.<br />

Außerdem liegt derzeit ein Vorschlag für eine Richtlinie<br />

auf dem Tisch, die die Verschmelzung von Kapitalgesellschaften<br />

innerhalb der EU, die durch die<br />

unterschiedlichen innerstaatlichen Regelungen erschwert<br />

wird, erleichtern soll. Die Richtlinie soll vor<br />

allem kleinen und mittleren Kapitalgesellschaften<br />

helfen, die über ihren eigenen Mitgliedstaat hinaus<br />

tätig sein wollen, nicht aber unionsweit und deshalb<br />

399


Gesetzgebungsverfahren<br />

kaum von der Möglichkeit Gebrauch machen dürften,<br />

eine Europäische �Aktiengesellschaft (SE) zu<br />

gründen. Nach dem im Richtlinienvorschlag geregelten<br />

Verfahren sollen für Verschmelzungen die in<br />

dem betreffenden Mitgliedstaat für solche Vorgänge<br />

im Inland geltenden Grundsätze und Vorschriften<br />

maßgebend sein. Die Richtlinie schließt eine wichtige<br />

Lücke im Gesellschaftsrecht. Nachdem der Rat<br />

hierüber im November 2004 eine Einigung erzielt<br />

hat, hat das Europäische Parlament am 10. 5. 2005<br />

seine Zustimmung in den entscheidenden Punkten<br />

erteilt.<br />

Andere Vorschläge zum Gesellschaftsrecht sollen<br />

folgen: Vereinfachung und Modernisierung der<br />

Zweiten Gesellschaftsrechtsrichtlinie über die Erhaltung<br />

und Änderung des Kapitals von Aktiengesellschaften<br />

und Vorschlag für eine Richtlinie über<br />

die Sitzverlegung.<br />

Mit einer Mitteilung „Modernisierung des Gesellschaftsrechts<br />

und Verbesserung der Corporate Governance<br />

in der Europäischen Union“ vom 21. 5.<br />

2003 begann die Kommission eine breit angelegte<br />

Konsultation über alle Bereiche des Gesellschaftsrechts.<br />

Zu c) Soweit es um die Schaffung neuer europäischer<br />

Gesellschaftsformen geht, konnten nach langem, zähen<br />

Ringen in den letzten Jahren Erfolge erzielt werden:<br />

Zunächst konnte mit der �„Europäischen Wirtschaftlichen<br />

Interessenvereinigung“ (EWIV) eine<br />

neue Gesellschaftsform eigener Art geschaffen werden,<br />

die sich insbes. zur Kooperation mittelständischer<br />

Unternehmen anbietet.<br />

Auch die „Europäische Aktiengesellschaft“ (�Aktiengesellschaft)<br />

konnte als praktisch wichtigste<br />

grenzüberschreitende Gesellschaftsform verabschiedet<br />

werden, nachdem eine Einigung über die<br />

Beteiligung der Arbeitnehmer an der Kontrolle und<br />

Leitung der Gesellschaft erzielt werden konnte.<br />

Durch Übernahme dieses Beteiligungsmodells<br />

konnteauchdasRegelwerkfürdieEuropäische �Genossenschaft<br />

verabschiedet werden.<br />

WeitereProjektewiederEuropäischeVereinunddie<br />

�Europäische Gegenseitigkeitsgesellschaft liegen<br />

seit Jahren auf Eis.<br />

Dabei soll der Europäische Verein nach den Worten<br />

der Erwägungsgründe „ein lebendiges Beispiel für<br />

das�<strong>Europa</strong>derBürgersein,daerdieaktiveTeilnahme<br />

der Menschen am Leben der Gemeinschaft er-<br />

400<br />

leichtern und fördern wird“. Es geht hier keinesfalls<br />

nur um gemeinnützige Vereine. Auch eine wirtschaftliche<br />

Tätigkeit der Vereine ist durchaus vorgesehen.<br />

Sinn dieser europäischen Regelungen ist es, dass<br />

auch grenzüberschreitende Zusammenschlüsse von<br />

Vereinen oder Mitgliedern möglich sein müssen,<br />

ohne die – zumindest psychologische Hemmschwelle<br />

– der Anwendung fremden, unbekannten Rechts.<br />

Auch soll eine Sitzverlegung in einen anderen Staat<br />

ermöglicht werden, ohne dass sich der Verein zuvor<br />

auflösen und neu gründen muss. Angesichts der großen<br />

Unterschiede bezüglich der Rechtsregeln der<br />

Mitgliedstaaten, die ergänzend angewandt werden<br />

können, dürfte jedoch hier keine wesentliche Verbesserung<br />

der Situation zu erwarten sein.<br />

Auch das Statut einer „Europäischen Stiftung“ wird<br />

in der EU-Kommission geprüft. Ein Vorschlag hierfür<br />

ist allerdings noch nicht vorgelegt worden.<br />

Zu d) Nicht zuletzt die Rechtsprechung des EuGH<br />

hat auch Auswirkungen auf das europäische Gesellschaftsrecht.<br />

So hat er mit seinem Urteil vom 5. 11.<br />

2002 - Rs. C-280/00 – „Überseering“ entschieden,<br />

dass die in Deutschland geltende „Sitztheorie“, nach<br />

der grundsätzlich das Recht des Staates anwendbar<br />

ist, in dem die Gesellschaft ihre tatsächliche Tätigkeit<br />

entfaltet, mit dem Niederlassungsrecht des Art.<br />

43 EG-Vertrag nicht vereinbar ist. Nach Ansicht des<br />

EuGH sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, die<br />

Rechtsfähigkeit und die damit verbundene Parteifähigkeit<br />

zu achten, die eine Gesellschaft nach dem<br />

Recht ihres Gründungsstaats („Gründungstheorie“)<br />

behandelt. In Folge dieses Urteils kam es zu zahlreichen<br />

Gründungen britischer „Limited Companies“<br />

(Ltd.), die ihrer Ausgestaltung nach der deutschen<br />

GmbH ähneln, aber kein Mindeststammkapital<br />

vorsehen. M. K.<br />

Literatur:<br />

Habersack, M.: Europäisches Gesellschaftsrecht. München<br />

2003 2<br />

Schwarz, G.-C.: Europäisches Gesellschaftsrecht.<br />

Baden-Baden 2000<br />

Grundmann, S.: Europäisches Gesellschaftsrecht.<br />

Heidelberg 2005<br />

Gesetzgebungsverfahren (Entscheidungsverfahren,<br />

Rechtsetzungsverfahren)<br />

1. Allgemeines: Für das Zustandekommen der europäischen<br />

�Rechtsakte (sekundäres �Gemeinschaftsrecht)<br />

gibt es kein einheitliches Verfahren – nicht zu-


letzt deshalb, weil die Gemeinschaft historisch gewachsen<br />

ist und sich dadurch das primäre Gemeinschaftsrecht<br />

etappenweise entwickelt hat. Welcher<br />

Verfahrenswegeinzuschlagenist,hängtvondemPolitikbereich<br />

ab, über den entschieden werden soll.<br />

Das �Initiativrecht liegt in allen Verfahrensarten der<br />

legislativen Beschlussfassung bei der Kommission.<br />

Rat und Europäisches Parlament können die Kommission<br />

auffordern, Vorschläge für Rechtsakte zu<br />

unterbreiten.DanebenhatdieKommissionaucheine<br />

eigene Rechtsetzungskompetenz nach Maßgabe der<br />

Modalitäten, die der Rat festgesetzt hat.<br />

Dabei ist sie an die Mitwirkung bestimmter Ausschüsse<br />

gebunden, in denen die Fachvertreter der<br />

Mitgliedstaaten Sitz und Stimme haben (�Ausschussverfahren,<br />

�Durchführungsbestimmungen,<br />

�Komitologie).<br />

Das maßgebliche Legislativorgan ist der Rat. Das<br />

Europäische Parlament hat sich mittlerweile zu einem<br />

(partiellen) legislativen Mitwirkungsorgan entwickelt.<br />

2. Überblick über Entscheidungsverfahren: Der<br />

�Vertrag von Amsterdam (1. 5. 1999 in Kraft) sieht<br />

für<br />

a) die erste �Säule der EU (Europäische Gemeinschaften)dreiRechtsetzungsverfahren(ausSichtder<br />

Beteiligung des Europäischen Parlamentes am Entscheidungsverfahren)<br />

vor: das �Mitentscheidungsverfahren,<br />

das �Zustimmungsverfahren und das<br />

�Anhörungsverfahren. Das Verfahren der Zusammenarbeit<br />

nach Art. 252 EGV wird nur noch im Bereich<br />

der WWU angewandt. Der Rat entscheidet mit<br />

�qualifizierter Mehrheit (Art. 205 EGV) oder einstimmig;<br />

b) die zweite Säule (�Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik)<br />

sieht in den außenpolitischen Bereichen„Umsetzungeiner<br />

�gemeinsamenStrategie“<br />

sowie „Durchführung �gemeinsamer Aktionen bzw.<br />

Standpunkte“ eine qualifizierte Mehrheit im Rat vor.<br />

Ein Mitgliedstaat kann eine solche Entscheidung nur<br />

aus wichtigen Gründen nationaler Politik (Begründungisterforderlich)blockieren.EinVerweisanden<br />

Europäischen Rat ist dann möglich. In allen anderen<br />

Fällen bleibt die Entscheidung einstimmig (eine<br />

�konstruktiveEnthaltungistmöglich).Indensicherheitspolitischen<br />

Bereichen sind Entscheidungen nur<br />

einstimmig möglich;<br />

c) die dritte Säule (Polizeiliche und justitielle Zusammenarbeit<br />

in Strafsachen) sieht einstimmige Be-<br />

Gesetzgebungsverfahren<br />

schlussfassung vor (bei Durchführungsbestimmungen<br />

sind Mehrheitsentscheidungen möglich). Das<br />

EP wird angehört. Rechtsinstrumente sind Übereinkommen,<br />

Gemeinsame Standpunkte und Rahmenbeschlüsse<br />

(Quasi-Richtlinien).<br />

3. Rechtsetzungsverfahren<br />

3.1 Konsultationsverfahren (Anhörungsverfahren):<br />

Bei diesem Verfahren liegt die Entscheidung beim<br />

Rat. Der Rat kann aber in der Regel erst auf Vorschlag<br />

der Kommission entscheiden. Will der Rat<br />

von den Vorschlägen der Kommission abweichen,<br />

muss er einstimmig beschließen. Das EP wird im<br />

Verlauf des Entscheidungsprozesses angehört und<br />

kann Änderungsanträge einbringen, die ggf. in den<br />

Kommissionsvorschlag eingearbeitet werden, ehe<br />

der Rat darüber abstimmt. Die Vorschläge können<br />

dem �Wirtschafts- und Sozialausschuss und dem<br />

�AusschussderRegionenzurBegutachtungzugeleitet<br />

werden; beide haben beratende Funktion.<br />

Die Abstimmung im Rat erfolgt je nach Kompetenzgrundlage<br />

entweder einstimmig oder mit qualifizierter<br />

Mehrheit. Bei Mehrheitsabstimmungen ist die<br />

Stimmgewichtung der im Rat vertretenen Mitgliedstaaten<br />

zu beachten (Art. 205 EGV), die mit dem<br />

�Vertrag von Nizza (1. 2. 2003 in Kraft) im Vorfeld<br />

der Erweiterung modernisiert wurde. Mit dem 1. 11.<br />

2004 verfügen die Mitgliedstaaten über folgende<br />

Stimmenanzahl:<br />

– 29 Stimmen: Deutschland, Frankreich, Italien,<br />

Vereinigtes Königreich<br />

– 27 Stimmen: Spanien und Polen<br />

– 13 Stimmen: Niederlande<br />

– 12 Stimmen: Belgien, Tschechien, Griechenland,<br />

Ungarn, Portugal<br />

– 10 Stimmen: Österreich, Schweden<br />

– 7 Stimmen: Dänemark, Irland, Litauen, Slowakei,<br />

Finnland<br />

– 4 Stimmen: Zypern, Estland, Lettland, Luxemburg,<br />

Slowenien<br />

– 3 Stimmen: Malta<br />

Nach den geplanten Beitritten (2007) werden Rumänien<br />

14 Stimmen und Bulgarien 10 Stimmen zugeordnet.<br />

Eine qualifizierte Mehrheit ist erreicht, wenn mindestens<br />

232 befürwortende Stimmen (von insgesamt<br />

321 = 72,3 %) abgegeben werden und wenn die<br />

Mehrheit der Mitgliedstaaten zustimmt. Darüber<br />

hinauskanneinMitgliedstaatfordern,dassüberprüft<br />

wird ob durch die befürwortenden Stimmen minde-<br />

401


Gesetzgebungsverfahren<br />

stens62%derGesamtbevölkerungderUnionvertreten<br />

werden. (Zur Entwicklung der Stimmengewichtung<br />

seit Gründung der EWG: �Qualifizierte Mehrheit)<br />

3.2 Verfahren der Zustimmung (Konsensverfahren):<br />

Das EP besitzt das Recht der Zustimmung. Der Rat<br />

benötigt für den Abschluss von �Assoziierungsabkommen<br />

mit �Drittländern oder internationalen Organisationen<br />

(Art. 310 EGV, Verfahren s. Art. 300<br />

Abs. 3 EGV) die Zustimmung des EP (mit einfacher<br />

Mehrheit), bei der Aufnahme neuer Mitglieder in die<br />

Europäische Union (Art. 49 EUV) die Zustimmung<br />

des EP mit absoluter Mehrheit seiner Mitglieder. Darüber<br />

hinaus findet das Zustimmungsverfahren mit<br />

einfacher Mehrheit Anwendung bei der Ernennung<br />

des Präsidenten der Europäischen Kommission und<br />

des Kommissionskollegiums (Art. 214 Abs.2 EGV),<br />

bei Änderung der Aufgaben und Arbeitsweisen der<br />

�Strukturfonds und des �Kohäsionsfonds (Art. 161<br />

EGV),beimAbschlussvonAbkommenmitDrittländern,<br />

die einen besonderen institutionellen Rahmen<br />

schaffen,erheblichefinanzielleFolgenfürdieUnion<br />

haben oder Änderung eines nach dem Mitentscheidungsverfahren<br />

angenommenen Rechtsaktes bedingen<br />

(Art. 300 Abs. 3 EGV), bei Maßnahmen gegen<br />

EU-Staaten, die die Grundrechte verletzen (Art. 7<br />

EUV) und bei einigen Durchführungsregelungen im<br />

Bereich der Währungsunion (Art. 105 Abs. 6, Art.<br />

107 Abs. 5 EGV). Es gilt ferner für Rechtsakte nach<br />

Art. 18 EGV (�Freizügigkeit).<br />

3.3 Verfahren der Mitentscheidung (Kodezisionsverfahren):<br />

Das Mitentscheidungsverfahren ist in<br />

Art. 251 EGV verankert. Die Kommission unterbreitet<br />

dem EP und dem Rat einen Vorschlag. Nach Stellungnahme<br />

des EP verfährt der Rat mit qualifizierter<br />

Mehrheit wie folgt:<br />

a) Billigt der Rat alle Punkte der Stellungnahme oder<br />

schlägt das EP keine Abänderungen vor, kann er den<br />

Rechtsakt erlassen;<br />

b) andernfalls legt er einen �gemeinsamen Standpunkt<br />

fest und übermittelt ihn dem EP; auch die<br />

Kommission unterrichtet das EP über ihren Standpunkt.<br />

c) Hat das EP binnen drei Monaten (zweite Lesung)<br />

nach der Übermittlung<br />

– den Gemeinsamen Standpunkt gebilligt (oder bezieht<br />

keine Stellung), erlässt der Rat den betreffenden<br />

Rechtsakt;<br />

– den Gemeinsamen Standpunkt mit absoluter<br />

402<br />

Mehrheit seiner Mitglieder abgelehnt, so gilt der<br />

Rechtsakt als nicht erlassen;<br />

– Abänderungen (mit absoluter Mehrheit) vorgeschlagen,<br />

so wird die abgeänderte Fassung Rat und<br />

Kommission zugeleitet (Kommission gibt Stellungnahme<br />

ab).<br />

d) Befürwortet der Rat mit qualifizierter Mehrheit<br />

(binnen drei Monaten) die EP-Abänderungen, so gilt<br />

der Rechtsakt als erlassen. Der Rat muss dann einstimmig<br />

beschließen, wenn die Kommission eine ablehnende<br />

Stellungnahme zu den EP-Abänderungen<br />

gegeben hat.<br />

e) Stimmt der Rat nicht allen EP-Abänderungen zu,<br />

wird der Vermittlungsausschuss einberufen. Der<br />

Vermittlungsausschuss setzt sich aus Vertretern des<br />

Rates und des EP zusammen; die Kommission<br />

nimmt an der Arbeit teil.<br />

f) Billigt der Vermittlungsausschuss binnen sechs<br />

Wochen nach seiner Einberufung einen gemeinsamen<br />

Entwurf, so können Rat (mit qualifizierter<br />

Mehrheit) und EP (mit absoluter Mehrheit der abgegebenen<br />

Stimmen) den Rechtsakt erlassen. Billigt<br />

der Vermittlungsausschuss keinen gemeinsamen<br />

Entwurf, so gilt der Rechtsakt als nicht erlassen.<br />

g) Die jeweiligen Verfahrensfristen von drei Monaten<br />

und sechs Wochen können auf Antrag des EP<br />

oderRatesumhöchstenseinenMonatbzw.zweiWochen<br />

verlängert werden.<br />

3.4 Verfahren der Zusammenarbeit (Kooperationsverfahren):<br />

Das Zusammenarbeitsverfahren (Art.<br />

252 EGV) wird nur für den Bereich der Wirtschaftsund<br />

Währungsunion angewandt. Nach der ersten Lesung<br />

verabschiedet der Rat mit qualifizierter Mehrheit<br />

einen Gemeinsamen Standpunkt, der in zweiter<br />

Lesung im EP behandelt wird. Das EP kann den Gemeinsamen<br />

Standpunkt annehmen, mit absoluter<br />

Mehrheit ablehnen oder Abänderungen vorschlagen.<br />

Die Kommission hat dann im Falle von Abänderungen<br />

die Möglichkeit der Annahme oder Ablehnung<br />

(unter Angabe von Gründen). Nun beschließt<br />

der Rat in zweiter Lesung innerhalb von drei Monaten<br />

nach dem in Art. 252 EGV festgelegten fünf Entscheidungsmodalitäten<br />

endgültig:<br />

a) einstimmig bei Ablehnung des gemeinsamen<br />

Standpunkts durch das EP;<br />

b) einstimmig, wenn er Änderungen des EP annimmt,diedieKommissionnichtübernommenhat;<br />

c) einstimmig, wenn er den von der Kommission<br />

überprüften Vorschlag ändert;


d) mit qualifizierter Mehrheit, wenn das EP den gemeinsamen<br />

Standpunkt annimmt (ohne nochmals<br />

die Kommission anzuhören);<br />

d)inallenanderenFällenmitqualifizierterMehrheit.<br />

Entscheidet der Rat in zweiter Lesung nicht fristgerecht,<br />

ist das Rechtsetzungsvorhaben (Vorschlag der<br />

Kommission) gescheitert.<br />

4. Anwendungsbereiche:<br />

a) Das Anhörungsverfahren gilt in folgenden Bereichen:<br />

– polizeiliche und justitielle Zusammenarbeit in<br />

Strafsachen;<br />

– Änderung der Verträge;<br />

– Diskriminierung;<br />

– Unionsbürgerschaft;<br />

– Landwirtschaft;<br />

– Visa, Asyl, Einwanderung und andere Politikfelder<br />

im Zusammenhang mir der Freizügigkeit;<br />

– Wettbewerbsregeln;<br />

– steuerliche Vorschriften;<br />

– Wirtschaftspolitik;<br />

– „verstärkte Zusammenarbeit“.<br />

b) Das Zustimmungsverfahren ist anzuwenden bei:<br />

– Aufgabenbestimmung der Europäischen Zentralbank<br />

(EZB)<br />

– Änderung der Satzung der EZB und des Europäischen<br />

Systems der Zentralbanken<br />

– Struktur- und Kohäsionsfonds;<br />

– Festlegung eines einheitlichen Verfahrens zur<br />

Wahl des EP;<br />

– bestimmte internationale Übereinkünfte;<br />

– Beitritt neuer Mitgliedstaaten.<br />

c) Das Mitentscheidungsverfahren gilt in folgenden<br />

Bereichen:<br />

– Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit;<br />

– Recht auf Einreise, Aufenthalt und Verbleib in<br />

der Union;<br />

– Freizügigkeit der Arbeitnehmer;<br />

– Niederlassungsrecht;<br />

– Verkehr;<br />

– Binnenmarkt;<br />

– Beschäftigung;<br />

– Zusammenarbeit im Zollwesen;<br />

– Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung;<br />

– Chancengleichheit und Gleichbehandlung;<br />

– Durchführungsbeschlüsse in Bezug auf den Europäischen<br />

Sozialfonds;<br />

– Bildung;<br />

Gesetzgebungsverfahren<br />

– Berufsausbildung;<br />

– Kultur;<br />

– Gesundheit;<br />

– Verbraucherschutz;<br />

– Transeuropäische Netze;<br />

– Durchführungsbeschlüsse in Bezug auf den Europäischen<br />

Fonds für regionale Entwicklung;<br />

– Forschung;<br />

– Umwelt;<br />

– Transparenz;<br />

– Prävention und Bekämpfung von Betrug;<br />

– Statistik;<br />

– Schaffung einer beratenden Behörde für den Datenschutz.<br />

5. Einzelverfahren: Neben den Formen der Rechtsetzungsverfahren<br />

existieren folgende Einzelverfahren,<br />

die die Stellung des EP im Legislativverfahren<br />

stärken:<br />

– Konzertierungsverfahren (seit 1975) bei Rechtsakten<br />

von allgemeiner Tragweite mit ins Gewicht fallenden<br />

finanziellen Auswirkungen. Wird eine Initiative<br />

der Kommission (Vorschlag) in diese Kategorie<br />

eingeordnet, können EP oder Rat das konzertierte<br />

Verfahren einleiten, sofern der Rat von der Position<br />

des EP im Rahmen des Anhörungsverfahrens erheblich<br />

abzuweichen beabsichtigt. Verhandlungen werden<br />

dann im Konzertierungsausschuss (Kommissions-,<br />

EP- und Ratsvertreter) mit dem Ziel aufgenommen,<br />

einen Kompromiss zu finden. Nach einer<br />

erneuten Stellungnahme des EP kann dann der Rat<br />

beschließen.<br />

– Haushaltsverfahren (Art. 272 EGV);<br />

– Bestimmungen über das System der Eigenfinanzmittel<br />

der Europäischen Union (Art. 269 EGV);<br />

– Internationale Abkommen der Union mit Drittstaaten<br />

oder internationalen Organisationen (Art. 133<br />

EGV Handelspolitik, Art. 300 EGV Abkommen allgemeiner<br />

Art);<br />

5. Demokratiedefizite im Entscheidungsverfahren:<br />

Im Laufe der Zeit wurden die Befugnisse der<br />

EG/EU-Institutionen entsprechend der �Erweiterung<br />

und �Vertiefung der (Aktivitäten der) Union<br />

ausgebaut und insbes. die Rechte des EP durch die<br />

Reformen gestärkt.<br />

So weitet der �Vertrag von Amsterdam die EP-Kompetenzenaus.ErbeinhaltetaucheinegrößereBeteiligung<br />

der einzelstaatlichen Parlamente in der EU.<br />

Entwürfe für Rechtsakte, die die Kommission dem<br />

Rat und dem Europäischen Parlament vorlegt, wer-<br />

403


Gesetzgebungsverfahren<br />

den erst sechs Wochen nach Unterbreitung auf die<br />

Tagesordnung des Rates gesetzt. Die nationalen Parlamente<br />

haben Gelegenheit, von Anfang an mit ihren<br />

Regierungen über die Vorlagen zu beraten. Der Parlamentsausschuss<br />

für <strong>Europa</strong>fragen kann Empfehlungen<br />

an die EU-Institutionen richten. Dennoch<br />

blieb es bei �Demokratiedefiziten, weil die Übertragung<br />

der nationalen Zuständigkeiten auf die Union<br />

nichtimmermitderÜbertragungderentsprechenden<br />

Befugnisse auf das EP einherging. Eine Kernforderung<br />

des EP bleibt daher, in allen der EU übertragenen<br />

und der nationalen >Souveränität entzogenen<br />

Zuständigkeiten dem EP gemeinsam mit dem Rat<br />

gleichberechtigt das Recht auf Mitentscheidung zu<br />

übertragen.<br />

6. Verfassungsvertrag 2004: Mit dem �Vertrag von<br />

Nizza sind die Beteiligungsmöglichkeiten und Abstimmungsmodalitäten<br />

des Rates in allen drei Säulen<br />

der Union sowie die Beteiligungsmöglichkeiten und<br />

die Abstimmungsmodalitäten des EP so komplex geworden,<br />

dass es mindestens 38 verschiedene Verfahrensvarianten<br />

gibt. Aufgabenstellung des Verfassungskonvents<br />

war es, die Verfahrenskomplexität<br />

auf wenige Schlüsselverfahren zu reduzieren. Der<br />

�Verfassungsvertrag 2004 (dessen Inkrafttreten<br />

noch offen ist) enthält zwei zentrale Regelungen:<br />

a) Die Zahl der Abstimmungsmöglichkeiten im Rat<br />

mitqualifizierterMehrheitwirdauf156Fälleerhöht.<br />

b) Das Mitentscheidungsrecht des EP wird um 30<br />

Fälle auf 85 Bereiche im „ordentlichen Gesetzgebungsverfahren“<br />

(OGV – vormals Mitentscheidungsverfahren)<br />

erweitert.<br />

Europäische Gesetze und Rahmengesetze werden<br />

grundsätzlich im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren<br />

(Art. III-396 VVE) erlassen. Nur in bestimmten,<br />

in Teil III des Verfassungsvertrages benannten<br />

Fällen werden die Gesetze ausschließlich vom Rat<br />

oder ausschließlich vom EP, unter Beteiligung des<br />

jeweils anderen Organs, erlassen (Verfahren der Zustimmung<br />

und Konsultation).<br />

Art. I-33 VVE definiert eine �Normenhierarchie,<br />

nach der die Handlungsformen der Union als Europäische<br />

Gesetze, Europäische Rahmengesetze, Europäische<br />

Verordnungen, Europäische Beschlüsse,<br />

Empfehlungen und Stellungnahmen bestimmt werden.<br />

Kombiniert man diese Handlungsformen mit<br />

den Verfahren zwischen EP und Rat und ihren Entscheidungsvariationen,<br />

so ergibt sich mit dem Verfassungsvertrag<br />

ein klareres Bild.<br />

404<br />

– 78 Gesetzesermächtigungen unterliegen dem<br />

OGV mit qualifizierter Mehrheit (qM).<br />

– 10 Gesetzesermächtigungen unterliegen dem Zustimmungsverfahren<br />

(5 mit Einstimmigkeit [E],<br />

5 mit qM).<br />

– 17 Gesetzesermächtigungen unterliegen dem<br />

Konsultationsverfahren (12 mit E, 5 mit qM).<br />

– 48 Rahmengesetzesermächtigungen unterliegen<br />

dem OGV mit qM.<br />

– 4 Rahmengesetzesermächtigungen unterliegen<br />

dem Zustimmungsverfahren (3 mit E, 1 mit qM).<br />

– 14 Rahmengesetzesermächtigungen unterliegen<br />

dem Konsultationsverfahren (12 mit E, 2 mit qM).<br />

– 13 Verordnungen unterliegen dem Konsultationsverfahren<br />

(2 mit E, 11 mit qM).<br />

– 5 Verordnungen unterliegen dem Unterrichtungsverfahren<br />

(1 mit E, 4 mit qM).<br />

– 10 Verordnungen sehen keine EP-Beteiligung<br />

vor (2 mit E, 8 mit qM).<br />

– 10 Beschlüsse unterliegen dem Zustimmungsverfahren<br />

(6 mit E, 4 mit qM).<br />

– 19 Beschlüsse unterliegen dem Konsultationsverfahren<br />

(6 mit E, 13 mit qM).<br />

– 10 Beschlüsse unterliegen dem Unterrichtungsverfahren<br />

(1 mit E, 9 mit qM).<br />

– 36 Beschlüsse sehen keine EP-Beteiligung vor<br />

(4 mit E, 32 mit qM).<br />

– 1 Empfehlung unterliegt dem Zustimmungsverfahren<br />

(qM).<br />

– 27 Empfehlungen sehen keine EP-Beteiligung<br />

vor (20 mit E, 7 mit qM)<br />

– 1 Stellungnahme unterliegt dem Konsultationsverfahren<br />

(qM).<br />

MitdemVerfassungsvertrag2004würdesichdieZahl<br />

qualifizierter Mehrheitsentscheidungen erhöhen. Die<br />

Qualifizierte Mehrheit ist in Art. I-25 VVE geregelt<br />

(plus Protokoll über die Stimmengewichtung im Europäischen<br />

Rat und im Ministerrat auf Basis des Ergebnisses<br />

von Nizza). Weiterhin der Einstimmigkeit<br />

bedürfen folgende Politikfelder: Außen-, Sicherheitsund<br />

Verteidigungspolitik; Finanzielle Vorausschau;<br />

Steuerharmonisierung; Diskriminierungsbekämpfung;<br />

Struktur- und Kohäsionsfonds; Einzelbereiche<br />

der Umweltpolitik; Aspekte der Handelspolitik; strafund<br />

familienrechtliche Zusammenarbeit; Einsetzung<br />

einereuropäischenStaatsanwaltschaft. L. U.<br />

Literatur:<br />

Boest, R.: Ein langer Weg zur Demokratie in <strong>Europa</strong>.<br />

Die Beteiligungsrechte des EP bei der Rechtsetzung nach dem<br />

Vertrag über die EU. Baden-Baden 1992


Engel, C./Borrmann, C.: Vom Konsens zur Mehrheitsentscheidung.<br />

EG-Entscheidungsverfahren. Bonn 1991<br />

Jopp, M. u. a. (Hg.): Die Europäische Union nach Amsterdam.<br />

Bonn 1998<br />

Röttinger, M.: Handbuch der europäischen Integration.<br />

Wien 1996<br />

Maurer, A.: Orientierungen im Verfahrensdickicht?<br />

In: Integration 4/2003, S.440 – 453<br />

Schumann, W.: Neue Wege in der Integrationstheorie.<br />

Opladen 1996<br />

Vedder, C. (Hg.): EU-Verfassung. Baden-Baden 2005<br />

Gesundheitspolitik. Die Gesundheitspolitik hat<br />

auf europäischer Ebene seit Anfang der 1990er Jahre<br />

stetig an Bedeutung gewonnen, nicht zuletzt aufgrund<br />

der Herausforderungen des demografischen<br />

Wandels, der Erweiterung der Union, der Angleichung<br />

ihrer Gesundheitssysteme, der zunehmenden<br />

Patienten-Mobilität und der Veränderungen im Lebensmittelsektor<br />

(z. B. Gen-Food). Diese bedürfen<br />

neuer Regelungen und europaweiter Zusammenarbeit.<br />

Die europäischen Maßnahmen ergänzen dabei<br />

die Gesundheitspolitik der einzelnen Mitgliedstaaten.<br />

Die Verantwortung der Mitgliedstaaten für ihre<br />

Gesundheitspolitik, die Verwaltung ihres Gesundheitswesens<br />

und die medizinische Versorgung bleiben<br />

unter Berücksichtigung des �Subsidiaritätsprinzips,<br />

des �Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung<br />

und der �Verhältnismäßigkeit unberührt. Auf<br />

Probleme wie grenzübergreifende Gesundheitsgefahren<br />

(z. B. Epidemien) oder die Freizügigkeit von<br />

Patienten und Leistungserbringern im Gesundheitswesen<br />

muss jedoch auf Unionsebene reagiert werden.<br />

Zur Sicherstellung eines hohen Gesundheitsschutzniveaus<br />

fördert die Europäische Kommission<br />

den Dialog mit Institutionen, Verbänden, Organisationen<br />

und Körperschaften des Gesundheitssektors<br />

und unterstützt deren Projekte. Außerdem finanziert<br />

sie europaweite Kampagnen, z. B. gegen Alkoholund<br />

Tabakkonsum oder Drogenmissbrauch, und unterstützt<br />

die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten<br />

bei der Verbesserung und Angleichung ihrer Gesundheitssysteme.<br />

1. Vertragsgrundlagen. Die Gesundheitspolitik war<br />

imEWG-Vertrag(1958)nichtverankert.DieVerträge<br />

der EGKS (1952) und der Euratom (1958) beinhalteten<br />

vornehmlich Bestimmungen zu Sicherheit<br />

und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz. Die �Einheitliche<br />

Europäische Akte (1987) harmonisierte die<br />

arbeitsrechtlichen Schutzbestimmungen und legte<br />

den Grundstein für eine gemeinschaftsweite Zusam-<br />

Gesundheitspolitik<br />

menarbeit mit dem Ziel, die Gesundheit in der Gemeinschaft<br />

zu erhöhen. Erst der �Maastrichter Vertrag<br />

(1992) schuf durch die Aufnahme eines eigenen<br />

Titels (Titel XIII EGV) eine europaweite Regelung<br />

des „Gesundheitswesens“ und die Möglichkeit, eine<br />

europäische Strategie für diesen Bereich unter Berücksichtigung<br />

des Subsidiaritätsprinzips zu entwickeln<br />

(Art. 152 EGV). Die Gesundheitspolitik ist dabei<br />

eng verbunden mit der �Umwelt- und �Verbraucherpolitik.<br />

Der Europäische �Verfassungsvertrag 2004 zählt<br />

den Schutz und die Verbesserung der menschlichen<br />

Gesundheit zu den Bereichen, in denen die Union<br />

Koordinierungs-,Ergänzungs-oderUnterstützungsmaßnahmen<br />

beschließen kann (Art. I-17). In die<br />

�Charta der Grundrechte der Europäischen Union<br />

wurde der Gesundheitsschutz aufgenommen, wonach<br />

jeder Mensch das Recht auf Zugang zur Gesundheitsvorsorge<br />

und auf ärztliche Versorgung<br />

nach Maßgabe der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften<br />

und Gepflogenheiten hat. Zur VerwirklichungderZieledesArt.136EGV(Art.III-209VVE)<br />

zur Sozialpolitik unterstützt und ergänzt die Union<br />

die Tätigkeit der Mitgliedstaaten und fördert die Zusammenarbeit<br />

zwischen den Mitgliedstaaten auf<br />

dem Gebiet des Gesundheitsschutzes bei der Arbeit.<br />

Auch die Umweltpolitik der Union nach Art. 174<br />

EGV (Art. III-233 VVE) und der Verbraucherschutz<br />

nach Art. 153 EGV (Art. III-235 VVE) tragen zum<br />

Schutz der menschlichen Gesundheit bei.<br />

Gemäß Art. 152 EGV (Art. III-278 VVE) wird bei<br />

der Festlegung und Durchführung der Politik und<br />

Maßnahmen der Union in allen Bereichen ein hohes<br />

Gesundheitsschutzniveau sichergestellt. Die Tätigkeit<br />

der Union ergänzt die Politik der Mitgliedstaaten.<br />

Sie umfasst die Bekämpfung weit verbreiteter<br />

schwerer Krankheiten sowie schwerwiegender<br />

grenzüberschreitender Gesundheitsgefahren und die<br />

Verringerung drogenkonsumbedingter Gesundheitsschäden.<br />

Die Union fördert insbes. die Zusammenarbeit<br />

zwischen den Mitgliedstaaten, die darauf<br />

abzielt, die Komplementarität ihrer Gesundheitsdienste<br />

in den Grenzgebieten zu verbessern. Für die<br />

in diesem Artikel genannten Zwecke kann der Rat<br />

aufVorschlagderKommissionEmpfehlungenabgeben.<br />

Die Kommission kann in enger Verbindung mit<br />

den Mitgliedstaaten alle Initiativen ergreifen, die<br />

dieser Koordinierung förderlich sind. Das Europäische<br />

Parlament wird in vollem Umfang unterrichtet.<br />

405


Gesundheitspolitik<br />

Artikel 152 Abs. 3 EGV (Art. III-278 Abs. 3 VVE)<br />

weist auf die Kompetenz der Gemeinschaft zur Zusammenarbeit<br />

mit Drittländern und internationalen<br />

Organisationen hin. Durch die Bestimmung des Art.<br />

152 Abs. 4 EGV (Art. III-278 Abs. 4 VVE) tragen<br />

Verordnungen oder Richtlinien gem. Art. 251 EGV<br />

(im VVE 2004: Europäische Gesetze oder Rahmengesetze)<br />

zur Verwirklichung der Ziele dieses Artikels<br />

bei, die nach Anhörung des �Ausschusses der<br />

Regionen und des �Wirtschafts- und Sozialausschusses<br />

erlassen werden.<br />

Die Union legt nach Abs. 4 lit. a Maßnahmen zur Gewährleistung<br />

hoher Qualitäts- und Sicherheitsstandards<br />

für Organe und Substanzen menschlichen Ursprungs<br />

sowie für Blut und Blutderivate fest. Diese<br />

Maßnahmen hindern die Mitgliedstaaten jedoch<br />

nicht, strengere Schutzmaßnahmen beizubehalten<br />

oder einzuführen. Absatz 4 lit. b enthält die Möglichkeit,<br />

Maßnahmen im Bereich Tiergesundheit und<br />

Pflanzenschutz zu treffen, „die unmittelbar den<br />

SchutzderGesundheitderBevölkerungzumZielhaben“.<br />

Der Verfassungsvertrag 2004 sieht darüber<br />

hinaus auch Maßnahmen zur Festlegung hoher Qualitäts-<br />

und Sicherheitsstandards für medizinische<br />

Produkte und Geräte (Art. III-278 Abs. 4 lit. c) sowie<br />

Maßnahmen zur Bekämpfung schwerwiegender<br />

grenzüberschreitender Gesundheitsgefahren (Abs. 4<br />

lit. d) vor. Die Verantwortung der Mitgliedstaaten<br />

für die Festlegung ihrer Gesundheitspolitik sowie<br />

die Verwaltung des Gesundheitswesens und die Zuweisung<br />

der dafür bereitgestellten Mittel bleibt laut<br />

Art. 152 Abs. 5 EGV (Art. III-278 Abs. 7 VVE) gewahrt.<br />

Die Koordinierung der gesundheitspolitischen Entwicklung<br />

in <strong>Europa</strong> wurde in den letzten Jahren wesentlich<br />

durch die Rechtsprechung des EuGH beeinflusst,<br />

der durch die Entscheidungen in den Rechtssachen<br />

Kohll und Decker vom 28. 4. 1998 Grundsatzentscheidungen<br />

zur Warenverkehrsfreiheit<br />

(EuGH, Slg. 1998, I-1831 – Decker –) und zur<br />

Dienstleistungsfreiheit (EuGH, Slg. 1998, I-1931 –<br />

Kohll –) getroffen hat. Danach gelten die Grundsätze<br />

des freien Warenverkehrs und der Dienstleistungsfreiheit<br />

auch im Bereich der ambulanten und stationären<br />

Behandlung. Versicherte können sich somit<br />

Leistungen gegen Kostenerstattung zu Lasten öffentlich-rechtlicher<br />

Versicherungsträger selbst beschaffen.<br />

Der EuGH hat auch festgestellt, dass ein<br />

nationales Sachleistungssystem den Kostenerstat-<br />

406<br />

tungsanspruch nicht behindert (EuGH, Slg. 2003,<br />

I-04509 – Müller-Fauré –).<br />

Eine der wichtigsten gesundheitspolitischen Maßnahmen<br />

auf europäischer Ebene stellt zudem die Revision<br />

der europäischen Arzneimittelgesetzgebung<br />

dar. Um einen hohen Qualitätsstandard von Heilpflanzen<br />

zu garantieren, wurde eine Richtlinie zum<br />

Schutz der Gesundheit der Verbraucher erarbeitet,<br />

die Qualitäts- und Sicherheitsstandards für Heilpflanzen<br />

und Heilkräuter enthält. Die Änderung der<br />

Etikettierungsrichtlinie für Lebensmittel belegt wiederum<br />

beispielhaft die Koppelung von Gesundheitsschutz<br />

und Verbraucherschutz. Beispiele dafür sind<br />

auch das umfassende Auto-Öl-Programm zur SenkungdergesundheitsschädlichenAbgaskonzentration<br />

von motorkraftgetriebenen Fahrzeugen, die Maßnahmen<br />

zur Senkung schädlicher Emissionen aus<br />

stationären Anlagen, die Produkthaftungsrichtlinie,<br />

die Umweltaktionsprogramme, die Chemikalienpolitik,<br />

die Maßnahmen zur Bewältigung der BSE-<br />

Krise, die Novellierung der Gesetzgebung zur Lebensmittelsicherheit,<br />

z. B. mit der Schaffung eines<br />

�Amtes für Lebensmittelsicherheit in <strong>Europa</strong>, die<br />

Spielzeugrichtlinie,dieMaßnahmenimWasser-und<br />

Abwasserbereich oder die einheitliche Warenkennzeichnung.<br />

2. Aktionsprogramme. Seit 1993 sind acht europäischeAktionsprogrammeimBereichderöffentlichen<br />

Gesundheit durchgeführt worden.<br />

1.) Gesundheitsförderung, 2.) Gesundheitsberichterstattung,<br />

3.) Übertragbare Krankheiten, 4.) Krebs,<br />

5.) Seltene Krankheiten, 6.) Verhütung von Verletzungen,<br />

7.) Durch Umweltverschmutzung bedingte<br />

Krankheiten, 8.) Suchtprävention.<br />

Diese Programme wurden durch das neue Aktionsprogramm<br />

im Bereich der öffentlichen Gesundheit<br />

ersetzt. Ein kohärentes und koordiniertes Konzept<br />

für die Gesundheitspolitik wurde erstmals im Mai<br />

2000 mit der gesundheitspolitischen Strategie der<br />

Europäischen Kommission vorgelegt (KOM<br />

2000/285 endg.). Diese fördert einen integrierten<br />

Ansatz in der gesundheitspolitischen Arbeit. Für die<br />

Gesundheit relevante Politikfelder sollen auf<br />

Unionsebene zusammenwirken, um Gesundheitsziele<br />

zu erreichen. Dabei werden Ressourcen auf Bereiche<br />

konzentriert, in denen die Union einen tatsächlichen<br />

zusätzlichen Nutzen erbringen kann,<br />

ohnedassdas�Subsidiaritätsprinzipverletztwird.In<br />

diesem Zusammenhang schlug die Kommission


auch das neue Aktionsprogramm im Bereich der öffentlichen<br />

Gesundheit vor (Beschluss 1786/2002,<br />

ABl. L 271/2002). Es wurde am 23. 9. 2002 angenommen<br />

und läuft vom 1. 1. 2003 bis zum 31. 12.<br />

2008.<br />

Das Programm verfolgt drei vorrangige Ziele:<br />

– Verbesserung des Informations- und Wissensstandes<br />

durch die Förderung von Informationsaustausch,<br />

Forschung und Ausbildung im Interesse der Weiterentwicklung<br />

des öffentlichen Gesundheitswesens.<br />

– Verbesserung der Fähigkeit zur schnellen und koordinierten<br />

Reaktion auf Gesundheitsgefahren, insbes.<br />

auf grenzübergreifende Gefährdungen etwa<br />

durch Grippeepidemien. Dazu hat die EU das „Europäische<br />

Zentrum für die Prävention und die Bekämpfung<br />

von Seuchen“ eingerichtet und die grenzüberschreitende<br />

Zusammenarbeit zwischen den Gesundheitssystemen<br />

verbessert.<br />

– Gesundheitsförderung und Verhütung durch Berücksichtigung<br />

der Gesundheitsfaktoren über eine<br />

enge Zusammenarbeit mit anderen Politikbereichen,<br />

etwadurchdiePrüfungvonVorschlägenausanderen<br />

Bereichen auf ihre Gesundheitsverträglichkeit.<br />

ZurUmsetzungdiesesAktionsprogrammsstehenfür<br />

den Zeitraum von 2003 bis 2008 rund 353 Mio. Euro<br />

zur Verfügung.<br />

Aufbauend auf der gesundheitspolitischen Strategie<br />

von 2000, dem Programm im Bereich der öffentlichen<br />

Gesundheit und unter Berücksichtigung der Ergebnisse<br />

des Reflexionsprozesses und der Entwicklung<br />

der Verbraucherpolitik nahm die Kommission<br />

am 6. 4. 2005 eine Gesundheits- und Verbraucherschutzstrategie<br />

(KOM 2005/115) und einen Vorschlag<br />

für einen Beschluss des Europäischen Parlaments<br />

und des Rates über ein neues Gemeinschaftsprogramm<br />

für Gesundheit und Verbraucherschutz<br />

im Zeitraum 2007 – 2013 an. Diese neue Strategie<br />

und der Programmvorschlag vertiefen und erweitern<br />

das EU-Programm im Bereich der öffentlichen Gesundheit<br />

und das Programm für die EU-Verbraucherpolitik.<br />

3. Ausblick. Die europäische Gesundheitspolitik gewinnt<br />

zunehmend an Einfluss auf die nationalen Gesundheitssysteme.<br />

Die Urteile des EuGH und der Europäische<br />

Verfassungsvertrag 2004 bilden wichtige<br />

Entscheidungsgrundlagen für die nationalen Akteure<br />

im Gesundheitswesen und für die Gesetzgebung<br />

im Umwelt- und Verbraucherschutzbereich. Die<br />

�offene Koordinierungsmethode zielt auf eine all-<br />

Gipfelkonferenz<br />

mähliche Angleichung der nationalen Gesundheitssysteme<br />

und auf die gemeinsame Gestaltung des zukünftigen<br />

Sozial- und Wirtschaftsmodells der Union<br />

mit dem Ziel der Erreichung eines hohen GesundheitsniveausinallenMitgliedstaaten.<br />

N. P.<br />

Gil-Robles Gil-Degado, José Maria (geb. 1935 in<br />

Madrid); verbrachte seine Jugend in Portugal, wo<br />

seine Eltern während des Spanischen Bürgerkriegs<br />

(1936–1938) im Exil lebten; studierte Jura, war Anwalt,<br />

qualifizierte sich als Staatsrechtler; Präsident<br />

des EP von 1997 bis 1999; gehörte bis zum Ende der<br />

5. Wahlperiode der EVP-Fraktion im EP an.<br />

Gipfel(konferenz) wurden die (zunächst vertraglich<br />

nicht vorgesehenen) Zusammenkünfte der EG-<br />

Staats- und Regierungschefs genannt. Sie wurden<br />

erstmals in der �Einheitlichen Europäischen Akte<br />

(EEA,1986)legitimiertundimMaastrichterVertrag<br />

von 1992 als offizielle Einrichtung mit der Bezeichnung<br />

„Europäischer Rat“ bestätigt (vgl. Art. 4 EUV).<br />

Die mindestens zweimal im Jahr tagende Konferenz<br />

selbst wird ebenfalls als Europäischer Rat bezeichnet.<br />

DerersteGipfelfandinDenHaagimDezember1969<br />

statt. Er machte den Weg frei für die Erweiterung der<br />

Europäischen Gemeinschaften um drei Mitglieder<br />

(sog. Norderweiterung 1973), für die Kooperation<br />

mit der Europäischen Freihandelszone (EFTA), für<br />

Assoziierungsabkommen, für Finanzautonomie der<br />

EWG, für Haushaltskontrolle durch das Europäische<br />

Parlament (EP), für einen Stufenplan zur Wirtschafts-<br />

und Währungsunion (WWU) und für die außenpolitische<br />

Zusammenarbeit.<br />

Die zweite Gipfelkonferenz in Paris im Oktober<br />

1972 setzte sich für die Vollendung der WWU bis<br />

1980 ein (Einrichtung des �Europäischen Währungsfonds<br />

EWS) sowie für die Entwicklung einer<br />

gemeinsamen Sozialpolitik. Als politisch wichtigste<br />

Entscheidung wurde die Errichtung einer „Europäischen<br />

Union“ bis 1980 beschlossen.<br />

Die dritte Konferenz in Kopenhagen im Dezember<br />

1973 einigte sich darauf, die „Ausgestaltung der Europäischen<br />

Union zu beschleunigen“, die WWU auszubauen,<br />

einen Regionalfonds (�Fonds der EU) einzurichten,<br />

ein gesellschaftspolitisches Aktionsprogramm<br />

zu entwickeln, einen unabhängigen RechnungshofderEGzugründen,diehaushaltsrechtliche<br />

Kontrolle durch das EP zu stärken, eine gemeinsame<br />

407


Giscard d’Estaing<br />

Energie- und Technologiepolitik zu formulieren.<br />

Auf dem vierten Gipfel im Dezember 1974 in Paris<br />

beschlossen die (damals neun) Staats- und Regierungschefs,<br />

künftig regelmäßig zusammenzukommen<br />

und sich „Europäischer Rat“ zu nennen; sie<br />

machten ferner den Weg frei für die erste Direktwahl<br />

des EP und beauftragten den belgischen Premierminister,<br />

einen Bericht über den Aufbau einer Europäischen<br />

Union abzufassen (�Tindemans-Bericht).<br />

Zeittafel aller Gipfeltreffen �Europäischer Rat<br />

W.M.<br />

Giscard d’Estaing, Valérie (geb. 1926), französischer<br />

Staatspräsident (1974–1981) sowie Finanzund<br />

Wirtschaftsminister (1962 – 1965, 1969 – 1974).<br />

Auf seine Initiative hin wurde auf dem Pariser Gipfel<br />

im Dezember 1974 beschlossen, die seit 1969 in unregelmäßigen<br />

Abständen stattfindenden Treffen der<br />

EG-Staats- und Regierungschefs in Zukunft als regelmäßige<br />

Konferenz des Europäischen Rates zu institutionalisieren.<br />

Giscard d’Estaing leitete den Europäischen<br />

Konvent zur Zukunft <strong>Europa</strong>s (28. 2.<br />

2002 bis 20. 7. 2003), der den Entwurf des �Verfassungsvertrags<br />

2004 ausarbeitete. Er erhielt 2003 den<br />

Karlspreis der Stadt Aachen.<br />

Gleichstellungspolitik in der EU<br />

1. Rechtliche Grundlagen. Artikel 2 und 3 EGV verschafften<br />

der Gleichstellungspolitik der EU ihre legale<br />

Basis. Artikel 2 schreibt die Förderung der<br />

„Gleichstellung von Männern und Frauen“ als eine<br />

Aufgabe der Europäischen Gemeinschaft fest. Artikel<br />

3 stellt sicher, dass die Gemeinschaft bei allen ihren<br />

Tätigkeiten darauf hinwirkt, dass „Ungleichheiten<br />

zu beseitigen und die Gleichstellung von Männern<br />

und Frauen zu fördern“ sind. Artikel 137 und<br />

141 EGV schreiben die Gleichstellung von Frauen<br />

und Männern im Bereich der Erwerbsarbeit. Des<br />

Weiteren wurde die Schwerpunktsetzung der<br />

Gleichstellungspolitik auf europäischer Ebene, die<br />

seit Anbeginn in den Bereichen der Beschäftigungsund<br />

Familienpolitik stattfindet (vgl. auch KOM<br />

1996), durch die Inkorporation von Art. 23 in die<br />

�Charta der Grundrechte der Europäischen Union<br />

bestätigt und mit ihrer Deklaration im Dezember<br />

2000 legalisiert.<br />

Während die Verträge den unspezifischen Terminus<br />

„Gleichstellung von Männern und Frauen“ verwenden,<br />

ist in der Grundrechtecharta von „Gleichheit<br />

408<br />

von Männern und Frauen“ die Rede. De jure ist in der<br />

Gleichstellungspolitik der EU die soziale Gleichheit<br />

der Geschlechter in der EU – also auch in den Mitgliedstaaten<br />

– insbes. im Bereich der Beschäftigung,<br />

der Arbeit (was die Arbeit in der Privatsphäre einschließt)<br />

und des Arbeitsentgeltes herzustellen.<br />

Die gleichstellungspolitischen Aktivitäten der europäischen<br />

Ebene unterliegen dem �Subsidiaritätsprinzip<br />

(Art. 5 EGV). Die „Rahmenstrategie der Gemeinschaft<br />

zur Förderung der Gleichstellung von<br />

Frauen und Männern“ (KOM(2000) 335 endg.) verdeutlicht<br />

aber, dass die europäische Ebene Maßnahmen<br />

und Strategien setzen wird: „Um Überschneidungen<br />

zu vermeiden und eine optimale Nutzung der<br />

Ergebnisse sicherzustellen, wird für die Komplementarität<br />

zwischen den verschiedenen Maßnahmen<br />

der Gemeinschaft und zwischen der Rahmenstrategie<br />

und den Maßnahmen der Mitgliedstaaten Sorge<br />

getragen.“<br />

Wie interpretiert die europäische Ebene den integrationspolitischen<br />

Schlüsselbegriff „Komplementarität“?<br />

Sollen die Maßnahmen zur Herstellung der<br />

Chancengleichheit der Geschlechter in allen MitgliedstaatenmiteinemidentischenZielverfolgtwerden?<br />

Und wenn ja, ist dieses Ziel mit dem de jure festgelegten<br />

gleichstellungspolitischen Ziel der Herstellung<br />

der sozialen Gleichheit der Geschlechter identisch?EineKlärungkannamBeispielderpolitikfeldübergreifenden<br />

Thematik geschlechtsspezifische<br />

Arbeitsteilung erfolgen.<br />

2. Was heißt „soziale Gleichheit der Geschlechter“?<br />

Zielvorstellungen der supranationalen Ebene zur<br />

Ausgestaltung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung<br />

wurden durch die Verhandlungen der �Lissabon-Strategie<br />

im Jahr 2000 konkretisiert und durch<br />

die „Entschließung des Rates und der im Rat vereinigten<br />

Minister für Beschäftigung und Sozialpolitik<br />

vom 29. 6. 2000 über eine ausgewogene Teilhabe<br />

von Frauen und Männern am Berufs- und Familienleben“<br />

amtlich (ABl. C 218/2000). Letztgenanntes<br />

Dokument gibt Handlungsanweisungen an die Politik<br />

im europäischen Mehrebenensystem (Zitate nach<br />

ABl. C 218/2000):<br />

Die Mitgliedstaaten verbinden mit den neu geschaffenen<br />

rechtlichen Grundlagen der Gleichstellungspolitik<br />

Möglichkeiten für diesbezügliche Gemeinschaftsaufgaben.<br />

Im Vordergrund steht die BeseitigungdertradiertengeschlechtsspezifischenArbeitsteilung,<br />

„die Frauen in Bezug auf die Bedingungen


für den Zugang zum und die Teilhabe am Arbeitsmarkt<br />

und Männer in Bezug auf die Bedingungen für<br />

die Teilhabe am Familienleben trifft und die sich aus<br />

einer gesellschaftlichen Tradition ergibt, bei der<br />

noch immer die unbezahlte Arbeit im Rahmen der<br />

Sorge um die Familie als Hauptaufgabe der Frau und<br />

Erwerbsarbeit in Form von Teilnahme am Wirtschaftsleben<br />

als Hauptaufgabe der Männer gilt“.<br />

DerGrundsatzder„GleichstellungvonMännernund<br />

Frauen“ erfordert „die Gleichstellung der arbeitenden<br />

Väter und Mütter insbes. auch in Bezug auf die<br />

für die Betreuung von Kindern oder anderen abhängigen<br />

Personen notwendigen Abwesenheiten vom<br />

Arbeitsplatz“. Festgestellt wird: „Sowohl Männer<br />

als auch Frauen haben ungeachtet des Geschlechts<br />

ein Recht auf Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben.“<br />

Hierbei seien „Möglichkeiten zur Unterbrechung<br />

der Berufstätigkeit, Elternurlaub und Teilzeitarbeit<br />

sowie flexible Arbeitsregelungen, die unter<br />

Wahrung des nötigen Gleichgewichts zwischen<br />

Flexibilität und Sicherheit sowohl dem Arbeitgeber<br />

als auch dem Arbeitnehmer nutzen, für Männer wie<br />

Frauen von besonderer Bedeutung“.<br />

Die Begründungen der Entschließung gipfeln in der<br />

Formulierung einer umzusetzenden Vision der Neustrukturierung<br />

der Geschlechterarrangements in der<br />

EU: „Der Beginn des 21. Jahrhunderts ist ein symbolischer<br />

Zeitpunkt für die Formulierung eines neuen<br />

Gesellschaftsvertrags zwischen den Geschlechtern,<br />

in dem die faktische Gleichstellung von Frauen und<br />

Männern im öffentlichen und im privaten Leben von<br />

der Gesellschaft als Bedingung für Demokratie,<br />

Staatsbürgertum sowie individuelle Autonomie und<br />

Freiheit anerkannt wird und dem in allen Politiken<br />

der Europäischen Union Rechnung zu tragen ist.“<br />

Nach der Realisierung dieser Zielvorstellung wäre<br />

der Terminus „geschlechtsspezifische Arbeitsteilung“<br />

obsolet. Das de jure festgesetzte Ziel der Herstellung<br />

der sozialen Gleichheit der Geschlechter<br />

wäre erreicht.<br />

3. Aufträge an die Politik im europäischen �Mehrebenensystem.<br />

Die Etablierung eines neuen Gesellschaftsvertrages<br />

zwischen den Geschlechtern macht<br />

es notwendig, einen EU-Bürgerinnen-/Bürgerstatus<br />

zu schaffen, der auf individuelle Autonomie und die<br />

faktische Gleichstellung von Frauen und Männern<br />

im öffentlichen und privaten Leben abzielt. Der<br />

EU-weit rechtlich zu verankernde Geschlechtervertrag<br />

verlangt somit nach individualisierten Staats-<br />

Gleichstellungspolitik<br />

bürgerinnen-/Staatsbürgerrechten, die die soziale<br />

Gleichheit der Geschlechter nicht nur visionär, sondern<br />

faktisch herbeiführen können. Zur Realisierung<br />

der Vision erhielt die Politik im europäischen Mehrebenensystem<br />

nachfolgende Aufträge.<br />

Die Mitgliedstaaten werden ermutigt, „die Förderung<br />

einer ausgewogenen Teilhabe von Frauen und<br />

Männern am Berufs- und Familienleben als eine der<br />

Grundvoraussetzungen für eine tatsächliche Gleichstellung<br />

in ihren Regierungsprogrammen zu stärken<br />

und (...) umfassende und integrierte Strategien zu<br />

entwickeln, die auf die Verwirklichung (...) [derselben]<br />

zielen“. Hierzu sind insbes. folgende Maßnahmen<br />

in Betracht zu ziehen:<br />

Väter sollen ein individuelles und nicht übertragbares<br />

Recht auf Vaterschaftsurlaub erhalten, das<br />

gleichzeitig mit dem Mutterschaftsurlaub zu beanspruchen<br />

ist; männlichen Arbeitnehmern sollen<br />

Rechte zuerkannt werden, die ihnen eine stärkere<br />

Mitwirkung am Familienleben ermöglichen; Arbeitnehmerinnen<br />

und Arbeitnehmern soll die geschlechteregalitäre<br />

Lastenverteilung von privater Fürsorgearbeit<br />

ermöglicht werden; Dienstleistungen zur Unterstützung<br />

von Familien sollen ausgebaut werden;<br />

Familien mit einem Elternteil sollen besonderen<br />

Schutz erhalten; die Schul- und Arbeitszeiten sollen<br />

harmonisiert werden; Unternehmen sollen zur familienfreundlichen<br />

Betriebsführung ermutigt werden;<br />

Lehrpläne, Öffentlichkeitsarbeit, pro-aktive Organisationen<br />

und Forschung sollen auf das Ziel der tatsächlichen<br />

Gleichstellung von Männern und Frauen<br />

imBerufs-undFamilienlebenabgestimmtwerden.<br />

Die Organe und Einrichtungen der EU sollen in ihrer<br />

Eigenschaft als Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber<br />

die für die mitgliedstaatlichen Ebenen vorgesehenen<br />

Maßnahmen in ihren Organisationen umsetzen und<br />

darüber berichten. Die Kommission wird aufgefordert,<br />

im Rahmen ihrer strategischen Ziele insbes. die<br />

„gleichgewichtige Verantwortung von Frauen und<br />

Männern für das Familienleben“ herauszustellen<br />

und „neue Formen einer ausgewogenen Teilhabe<br />

vonFrauenundMännernsowohlamBerufs-alsauch<br />

am Familienleben vorzuschlagen“.<br />

Die öffentlichen und privaten Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen<br />

in der EU sollen im Rahmen<br />

von Arbeitszeitgestaltungen und der Beseitigung<br />

von Lohn- und Gehaltsunterschieden zwischen<br />

Frauen und Männern eine ausgewogene Teilhabemöglichkeit<br />

der Geschlechter am Berufs- und Fami-<br />

409


Globalisierung<br />

lienleben ermöglichen. Das neue EU-Geschlechterarrangement<br />

sieht sowohl Männer als auch Frauen<br />

als Vollzeiterwerbstätige, die im Falle von Betreuungsverpflichtungen,<br />

die zu gleichen Teilen von<br />

Männern und Frauen wahrzunehmen sind, eine Reduktion<br />

ihrer Erwerbstätigkeit vornehmen und dabei<br />

Unterstützung erhalten. Wie die Transformationen<br />

der alten und die konkrete Ausgestaltung des neuen<br />

EU-Geschlechterarrangements erfolgen soll, bleibt<br />

offen.<br />

Die Umsetzung der Entschließung ist primär von den<br />

mitgliedstaatlichen Ebenen zu vollziehen. Der supranationalen<br />

Ebene wird lediglich eine Koordinierungs-,<br />

Ideenlieferanten- und Vorbildrolle zugeteilt.<br />

Wie, mit welchen Schwerpunkten und in welchem<br />

Zeitrahmen die Mitgliedstaaten die Zielvision des<br />

neuen Gesellschaftsvertrages zwischen den Geschlechtern<br />

erreichen sollen, ist nicht festgelegt. Im<br />

Hinblick auf Zeit- und Zielgröße lässt sich im gesamten<br />

Dokument nur eine einzige Angabe finden: Bis<br />

zum Jahr 2010 soll die Beschäftigungsquote der<br />

Frauen EU-weit auf 60 % angehoben werden. Dass<br />

der von Ostner/Lewis (1998) identifizierten und kritisierten<br />

Schwerpunktsetzung der EU-Gleichstellungspolitik<br />

auf Erwerbsarbeitsintegration von<br />

Frauen auch im 21. Jh. das Hauptaugenmerk gewidmet<br />

bleibt und Wirtschaftspolitik mit Gesellschaftspolitik<br />

nicht Hand in Hand geht, steht im Raum. Ob,<br />

wie und wann die mitgliedstaatlichen Politiken sich<br />

der kulturellen und institutionellen Förderung der<br />

geschlechteregalitären Arbeitsteilung im Berufsund<br />

Familienleben annehmen, bleibt abzuwarten.<br />

Eindeutig ist allerdings, dass sich die Regierungen<br />

derMitgliedstaatenaufeuropäischerEbeneeinigten,<br />

ihre kulturellen und institutionalisierten Geschlechterarrangements<br />

zu transformieren und hierbei eine<br />

gemeinsameZielvorstellungzuverfolgen. U. B.<br />

Literatur:<br />

Fraser, N.: Die Gleichheit der Geschlechter und das Wohlfahrtssystem:<br />

Ein postindustrielles Gedankenexperiment. In:<br />

Nagl-Docekal, H./Pauer-Studer, H. (Hg.), Politische Theorie.<br />

Differenz und Lebensqualität. Frankfurt 1996, S. 469 – 498<br />

Europäische Kommission: Einbindung der Chancengleichheit<br />

für Frauen und Männer in sämtliche politischen Konzepte und<br />

Maßnahmen der Gesellschaft. KOM (96) 67 endg.<br />

Dies.: Für eine Rahmenstrategie der Gemeinschaft zur<br />

Förderung der Gleichstellung von Frauen und Männern<br />

(2001–2005). KOM (2000) 335 endg. vom 7. 6. 2000<br />

Ostner, I./Lewis, J.: Geschlechterpolitik zwischen europäischer<br />

und nationalstaatlicher Regelung. In: Leibfried, St./ Pierson, P.<br />

(Hg.), Standort <strong>Europa</strong>. Sozialpolitik zwischen Nationalstaat<br />

und Europäischer Integration. Frankfurt 1998, S. 196 – 239<br />

410<br />

Globalisierung der Wirtschaft. Beschreibung für<br />

einen Prozess, in dem sich grenzüberschreitende<br />

Märkte für Waren, Dienstleistungen und Kapital bilden<br />

und die Handlungen der Wirtschaftsteilnehmer<br />

im abnehmenden Maß von den gesellschaftlichen<br />

Rahmenbedingungen eines Staates bedingt werden.<br />

Die Globalisierung der Wirtschaft als Zustandsbeschreibung<br />

ist nicht an die Gegenwart gebunden, der<br />

Begriff „Globalisierung“ wird allerdings erst seit<br />

den 1980er Jahren intensiv verwendet, so dass er<br />

heute regelmäßig auf den augenblicklichen Zustand<br />

der Weltwirtschaft bezogen wird.<br />

Die Ursachen für die Globalisierung der Wirtschaft<br />

liegen zum einen in der technologischen Entwicklung,<br />

die die Kapazitäten für kostengünstige Kommunikation<br />

und Transport erheblich hat ansteigen<br />

lassen, zum anderen in einem entsprechenden politischen<br />

Ordnungsrahmen. Die Globalisierung beruht<br />

auf einer Entdifferenzierung, die bestimmte – klassische<br />

– Unterscheidungen zwischen Personen, Waren,<br />

Dienstleistungen und Kapital verbietet. Bei diesen<br />

Unterscheidungskriterien handelt es sich vor allem<br />

um den Ursprung von Gütern (�Ursprungslandprinzip)unddieStaatsangehörigkeitvonPersonen.<br />

Der Binnenmarkt der Europäischen Gemeinschaft<br />

beruht auf der �Zollunion und den �vier Freiheiten.<br />

In den gegenseitigen Handelsbeziehungen der Mitgliedstaaten<br />

sind die Zölle abgeschafft und die Diskriminierung<br />

nach der Herkunft einer Ware oder<br />

Dienstleistung ist untersagt. Das Konzept wird ergänzt<br />

durch die �Unionsbürgerschaft, die an Stelle<br />

der Staatsangehörigkeit – nur ergänzend – ein neues<br />

Anknüpfungskriterium für hoheitliche Regelungen<br />

schafft, das das Institut der Staatsangehörigkeit auf<br />

den territorialen Anwendungsbereich des EG-Vertrages<br />

ausdehnt. Im Bereich der �WTO ist zentraler<br />

Baustein der Welthandelsordnung der Grundsatz der<br />

Nichtdiskriminierung mit seinen wesentlichen Ausprägungen<br />

durch das Gebot der Inländergleichbehandlung<br />

und der Meistbegünstigung (�Meistbegünstigungsklausel).<br />

Die Nichtdiskriminierung soll<br />

eine Wettbewerbsgleichheit herstellten, indem die<br />

Schlechterstellung von Waren und Dienstleistungen<br />

wegen ihres ausländischen Ursprungs verboten<br />

wird.<br />

Die Globalisierung der Wirtschaft zeichnet sich außerdem<br />

dadurch aus, dass internationale technische<br />

und rechtliche Standards für den grenzüberschreitenden<br />

Handel entstehen. Diese Standards schaffen


Vertrauen der Wirtschaftsteilnehmer in den Fortbestand<br />

der Rahmenbedingungen und reduzieren die<br />

mitgrenzüberschreitendenTatbeständenansicheinhergehende<br />

Komplexität. Diese Harmonisierungsprozesse<br />

erfordern allerdings teilweise erhebliche<br />

Anpassungen in den nationalen Rechts- und Gesellschaftsordnungen,<br />

die nicht mehr dem vollständigen<br />

Einfluss der demokratisch legitimierten Institutionen<br />

unterliegen. Mit der Globalisierung der Wirtschaft<br />

nimmt die politische und ökonomische Bedeutung<br />

der Entscheidungen von privaten (multinationalen)<br />

Unternehmen sowie von internationalen<br />

Organisationen wie der WTO, der Weltbank und des<br />

Weltwährungsfonds zu.<br />

Gegen die Globalisierung insgesamt hat sich in einem<br />

Teil der Öffentlichkeit Kritik formiert („Globalisierungsgegner“),<br />

die sich – aus verschiedenen<br />

Motiven und mit unterschiedlichen Zielen – gegen<br />

die als negativ empfundenen ökonomischen, politischen<br />

und sozialen Folgen des Prozesses wenden.<br />

Die unitarisierende Tendenz der Globalisierung, die<br />

sich auf die kulturellen Grundlagen von Staat und<br />

Gesellschaft auswirkt, ist die notwendige Folge der<br />

Entdifferenzierung und der aus ihr entstehenden größerenBezugsräume.<br />

F. Sch.<br />

Dokumente:<br />

Deutscher Bundestag, Enquete-Kommission „Globalisierung<br />

der Weltwirtschaft – Herausforderungen und Antworten“ –<br />

14. Wahlperiode. Schlussbericht (2002). BT-Drucksache<br />

14/9200<br />

Assemblée Nationale, Rapport d’information sur la mondialisation,<br />

No. 1279 vom 10. 12. 2003<br />

OECD, Handbook on Economic Globalisation Indicators.<br />

Paris 2005<br />

Literatur:<br />

Bhagwati, J.: In defence of Globalization. Oxford 2004<br />

Bogdandy, A. v.: Demokratie, Globalisierung, Zukunft des<br />

Völkerrechts: eine Bestandsaufnahme. Zeitschrift für ausländisches<br />

öffentliches Recht und Völkerrecht 63 (2003), S. 853<br />

Bundeszentrale für politische Bildung: Globalisierung.<br />

Heft 280, Bonn 2003<br />

Cairncross, F.: The Death of Distance. Cambridge 2001 2<br />

Höffe, O.: Wirtschaftsbürger, Staatsbürger, Weltbürger: politische<br />

Ethik im Zeitalter der Globalisierung. München 2004<br />

Nahamowitz, P. / Voigt, R. (Hg.): Internationale Organisationen<br />

und Regelungsbereiche. Baden-Baden 2002<br />

Stiglitz, J. E.: Die Schatten der Globalisierung. Berlin 2002<br />

Glossar. Ein Glossar mit Definitionen von rd. 250<br />

amtlichen Begriffen zum europäischen Einigungswerk,<br />

zu den Organen und Tätigkeitsbereichen der<br />

EU bietet �Scadplus unter http://europa.eu.int/scad-<br />

Gottesbezug<br />

plus/leg/de/cig/info_glossary.htm an. Die Definitionen<br />

enthalten Informationen zur Entstehungsgeschichte<br />

der Begriffe und bieten Verweise auf die<br />

Verträge. Halbamtliche Begriffe (�Euro-Jargon)<br />

werden erklärt unter:<br />

europa.eu.int/abc/eurojargon/index_de.htm.<br />

Golfkooperationsrat, Golfrat (Gulf Cooperation<br />

Council, GCC). 1981 als regionale Gruppe in der<br />

Arabischen Liga gegründete Organisation zur Zusammenarbeit<br />

in der Außen- und Sicherheitspolitik<br />

sowie in Fragen des Erdöls. Mitglieder: Bahrain, Katar,<br />

Kuwait, Oman, Saudi-Arabien und die Vereinigten<br />

Arabischen Emirate. Mit dem Golfrat hat die EG<br />

1989 ein Kooperationsabkommen mit jährlichen<br />

Treffen der Außenminister und der Bildung eines<br />

Gemischten Kooperationsausschusses geschlossen.<br />

Schwerpunkt der Zusammenarbeit ist der Wirtschafts-<br />

und Energiebereich.<br />

Die Staaten des GCC haben 2003 mit der VerwirklichungeinerZollunionbegonnenundwollenbis2010<br />

eine Wirtschafts- und Währungsunion bilden. 2003<br />

wurde ein Wirtschaftsdialog zwischen der EG und<br />

dem GCC eingerichtet. Die 1990 mit der EG begonnenen<br />

und seit langem stockenden Verhandlungen<br />

über ein Freihandelsabkommen könnten wieder aufgenommen<br />

werden.<br />

Gottesbezug. Einen ausdrücklichen Bezug auf<br />

Gott kennen die Europäischen Verträge – anders als<br />

etwa die Präambel des deutschen Grundgesetzes<br />

(„Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott<br />

und den Menschen“) – nicht. Im Rahmen des Verfassungskonvents<br />

war ausgiebig diskutiert worden, ob<br />

eine Europäische Verfassung einen Gottesbezug haben<br />

soll. Hier kollidierten im Wesentlichen die französische<br />

Staatsauffassung eines säkularen, laizistischen<br />

Staates (mit vollständiger Trennung zwischen<br />

Staat und Kirche) mit der vor allem katholisch geprägten<br />

Auffassung einzelner Mitgliedstaaten wie<br />

etwaPolen,IrlandoderItaliensowieden(deutschen)<br />

Christdemokraten.EinKernargumentderBefürworter<br />

stellt das Postulat metaphysischer Voraussetzungen<br />

der Rechtsordnung dar: Der Verfassungs- und<br />

Rechtsstaat bedarf des Bekenntnisses zu einem vorundüberstaatlichenNormengefüge–zuNormen,die<br />

kraft ihrer selbst gelten und daher auch nicht zur Disposition<br />

des Gesetzgebers stehen. Ein Gottesbezug<br />

dokumentiert diese Bindung an letzte Werte, die der<br />

411


Governance<br />

Mensch nicht geschaffen hat. Einer der an der polnischen<br />

Verfassung orientierten Vorschläge im Verfassungskonvent<br />

hatte bspw. folgenden Wortlaut:<br />

„Die Werte der Europäischen Union umfassen die<br />

Wertvorstellungen derjenigen, die an Gott als die<br />

Quelle der Wahrheit, Gerechtigkeit, des Guten und<br />

desSchönenglauben,alsauchderjenigen,diediesen<br />

Glauben nicht teilen, sondern diese universellen<br />

Werte aus anderen Quellen ableiten.“ Endgültiges<br />

Ergebnis in dem Verfassungsvertrag ist ein Kompromiss<br />

ohne ausdrücklichen Gottesbezug. Es wird nur<br />

aufdas„kulturelle,religiöseundhumanistischeErbe<br />

<strong>Europa</strong>s“ Bezug genommen. Ein dezidiert christlicherBezugfehlt.<br />

Ch. S.<br />

Literatur:<br />

Roellecke, G.: Die Entkoppelung von Recht und Religion.<br />

In: JZ 2004, 105<br />

Franzke, H.-G.: Frankreich, seine Laizität und <strong>Europa</strong>.<br />

In: ZRP 2003, 357<br />

Schwemer, R.-O.: Der Gottesbezug in Verfassungspräambeln.<br />

In: Recht und Politik 1996, S. 7<br />

Governance („Regieren“) in der EU<br />

1. Begriff und Konzept „Governance“ („Regieren“).DieBezeichnung„Governance“spieltinWissenschaft<br />

und praktischer Politik eine immer wichtigere<br />

Rolle. Für die Bezeichnung „Governance“ wird<br />

im Deutschen das Wort „Regieren“ verwendet. Governance,<br />

also Regieren, ist dabei nicht identisch mit<br />

dem, was – im engeren Sinn – eine Regierung tut, ist<br />

also nicht gleichbedeutend mit Staats-Tätigkeit. So<br />

lautet der Titel eines Buches ausdrücklich „Governance<br />

without Government“ (Rosenau/Czempiel<br />

1992); der Untertitel des Buches lautet „Order and<br />

Change in World Politics“, um deutlich zu machen,<br />

dass „Regieren“ nicht notwendig die Existenz einer<br />

dazu berufenen Regierung voraussetzt. Die BedeutungdesBegriffs„Governance“reichtweiterundbezieht<br />

sich im politischen Bereich auf die Steuerung<br />

und Lenkung politischer Prozesse, also auf Koordinierungs-<br />

und Lenkungsmechanismen, wobei nicht<br />

nur staatliche Institutionen beteiligt sind, sondern<br />

auch gesellschaftliche, also nichtstaatliche Akteure.<br />

Das Konzept „Governance“ kreist um die Fragen,<br />

wie öffentliche Angelegenheiten behandelt, wie öffentliche<br />

Aufgaben erfüllt und wie Probleme angegangen<br />

und gelöst werden. „Governance“ verweist<br />

auf nicht-hierarchische Formen der Steuerung, an<br />

denen staatliche und nichtstaatliche Akteure beteiligt<br />

sind, und auf ihre Interaktionsbeziehungen. Go-<br />

412<br />

vernance-Studien analysieren, wie im obigen Sinn<br />

regiert wird; dabei ist eine normative Ausrichtung,<br />

(wie regiert werden soll) unübersehbar. Zwei Kriterien<br />

stehen im Mittelpunkt des Interesses: die Effizienz<br />

des Regierens und seine demokratische Qualität.<br />

2. „Multi-Level-Governance“ in der EU („Regieren<br />

im EU-Mehrebenensystem“). Die Frage, wie regiert<br />

wird bzw. wie regiert werden sollte, wurde auch für<br />

die EU gestellt; sowohl seitens der Wissenschaft als<br />

auch im Bereich der praktischen Politik. Dabei geht<br />

eseinmalumdieHandlungs-undProblemlösungsfähigkeit<br />

der EU, weil mit der Zugehörigkeit zur EU<br />

seitens der Mitgliedstaaten, aber auch gesellschaftlicher<br />

Akteure, die Erwartung verknüpft wird, dieser<br />

Verbund könne und würde wirksame Beiträge zur<br />

Erfüllung vielfältiger öffentlicher Aufgaben leisten,<br />

mit denen die Mitgliedstaaten, allein auf sich gestellt,<br />

nicht zufriedenstellend fertig werden könnten.<br />

Zum zweiten geht es um die demokratische LegitimationderEUundihrerPolitik,alsoumdieFrage,ob<br />

sie in den Augen der �Unionsbürger Zustimmung<br />

finden und als anerkennungswürdig gelten. So wurden<br />

für Vertragsänderungen und -ergänzungen seit<br />

dem �Maastrichter Vertrag bis zum Entwurf eines<br />

�Verfassungsvertrags 2004 als Hauptkriterien stets<br />

EffizienzunddemokratischeLegitimationgenannt.<br />

In der politikwissenschaftlichen Diskussion wird in<br />

diesem Zusammenhang seit geraumer Zeit der Begriff<br />

„multi-level governance“ verwendet, was mit<br />

„Regieren in einem Mehrebenensystem“ übersetzt<br />

werden könnte. Dem Begriff liegt die Vorstellung<br />

von der Europäischen Union als einem politischen<br />

System zugrunde, welches als �Mehrebenensystem<br />

näher bezeichnet wird. Als solche unterschiedlichen<br />

Ebenen werden zum einen Gebietskörperschaften<br />

verstanden, also etwa Kommunen, Regionen, Nationalstaaten<br />

und die „supranationale“ Ebene mit Brüssel<br />

als Zentrum. Ebenen können aber auch als ineinander<br />

greifende Handlungssysteme verstanden und<br />

konzipiert werden. Zum Begriff des Mehrebenensystems<br />

gehört die Verflechtung politischer Prozesse<br />

auf verschiedenen Ebenen, die miteinander verknüpft<br />

und voneinander abhängig sind. In diesem<br />

Mehrebenensystem agieren und interagieren eine<br />

VielzahlstaatlicherundnichtstaatlicherAkteure,die<br />

auf diesen verschiedenen Ebenen angesiedelt sind.<br />

„Governance“ wird in diesem Sinn als eine interaktive<br />

Form des Regierens verstanden und definiert.


Ein wichtiges Merkmal des Regierens in diesem<br />

Mehrebenensystem ist das Vorhandensein einer<br />

Vielzahl von Arenen mit vielen Gremien und Akteuren<br />

und den zwischen ihnen bestehenden Interaktionsbeziehungen.<br />

Der Koordinierung zwischen diesen<br />

Arenen mit ihren Gremien und Akteuren kommt<br />

eine überragende Bedeutung zu. Das Regieren im<br />

EU-Mehrebenensystem wird zum zweiten durch den<br />

Entscheidungsmodus der Verhandlung charakterisiert.<br />

Dabei geht es nicht nur um die interinstitutionellen<br />

Beziehungen der Hauptorgane Kommission,<br />

Rat und Europäisches Parlament; ergänzend kommen<br />

noch der �Wirtschafts- und Sozialausschuss sowie<br />

der �Ausschuss der Regionen hinzu. Sondern es<br />

gehtauchumdieKommunikationsbeziehungenzwischen<br />

den Angehörigen staatlicher Administrationen,<br />

aber ebenso um die Abstimmung mit gesellschaftlichen<br />

Akteuren. Deren Einbeziehung in den<br />

politischen Prozess erfolgt nicht im Sinne von „Pressure<br />

Group Politics“, sondern im Sinn von �Lobbying,<br />

verstanden als Austauschbeziehungen zwischen<br />

gesellschaftlichen Akteuren einerseits und institutionellen<br />

Akteuren andererseits. Beide Seiten haben<br />

dabei ein starkes Interesse an dieser Interaktion: die<br />

Kommission bspw. ist auf den Sachverstand gesellschaftlicher<br />

Akteure angewiesen, um ihre Initiativfunktion<br />

wahrnehmen zu können; sie schätzt gesellschaftliche<br />

Akteure aber auch als Resonanzboden<br />

und potentielle „Bündnis-Partner“ für die Implementierung<br />

einzelner Maßnahmen. Gesellschaftliche<br />

Akteure wiederum können im Rahmen solcher<br />

Interaktionsbeziehungen ihre Interessen und Vorstellungen<br />

einbringen und zu realisieren versuchen.<br />

Vielfach wird in diesem Zusammenhang von „RegiereninNetzwerken“gesprochen.EinemNetzwerk<br />

gehören diejenigen staatlichen und nichtstaatlichen<br />

Akteure an, die kontinuierliche Interaktionsbeziehungen<br />

bei der Behandlung eines Einzelvorgangs<br />

oder – sehr viel dauerhafter und umfassender – in einem<br />

bestimmten Politikbereich aufgebaut haben.<br />

Im Zusammenhang mit solchen Interaktionsbeziehungen<br />

kommt es zu Anpassungsprozessen von Institutionen,<br />

Prozeduren und Akteursverhalten auf<br />

verschiedenen Ebenen an die Gegebenheiten der<br />

EU-Ebene. Solche Anpassungsprozesse werden<br />

vielfach als „Europäisierung“ bezeichnet und analysiert.Dabeihandeltessichallerdingsumwechselseitige<br />

Anpassungsprozesse.<br />

3. Das Kommissions-Weißbuch „Europäisches Re-<br />

Governance<br />

gieren“.DieFrage,wieinderEUregiertwerdensoll,<br />

stellte sich den politisch Verantwortlichen in den InstitutionenderEUangesichtsneuerHerausforderungen<br />

in den 1990er Jahren, insbes. auch mit Blick auf<br />

die anstehende Osterweiterung. Zwei Anliegen beherrschten<br />

die Diskussion: wie die Handlungs- und<br />

Problemlösungsfähigkeit auch einer erweiterten EU<br />

gesichert und verstärkt, und wie die demokratische<br />

Legitimation des EU-Verbunds und seiner Politik<br />

verbessert werden könnten. Dabei spielte auch das<br />

Konzept „Governance“ in den Überlegungen insbes.<br />

der Europäischen Kommission eine zunehmend<br />

wichtige Rolle. Die Kommission hatte über die von<br />

ihrem damaligen Präsidenten Delors eingerichtete<br />

„Cellule Prospective“ – eine Art eigenständiger kleiner<br />

Think Tank im Rahmen der Brüsseler Behörde –<br />

engen Kontakt mit Angehörigen der politikwissenschaftlichen<br />

<strong>Europa</strong>forschung. Die Kommission<br />

kündigte unter ihrem Präsidenten Prodi (2000 –<br />

2004) an, sich in Form eines �Weißbuchs an der Debatte<br />

über Governance bzw. „Better Governance“ zu<br />

beteiligen. Die Kommission unter Präsident Prodi<br />

hatte nach der Krise der Vorgänger-Kommission unter<br />

Präsident Santer ein schweres Erbe anzutreten.<br />

Sie wollte einen solchen Beitrag zur Überwindung<br />

dieserKrise,dienichtnurdieKommissionalseinzelnes<br />

Gemeinschaftsorgan, sondern das Entscheidungssystem<br />

insgesamt betraf, leisten. Präsident<br />

Prodi hatte am 15. 2. 2000 in einer Grundsatzrede vor<br />

dem Europäischen Parlament einen eigenen Beitrag<br />

der Kommission angekündigt. Ziel sei, bestehende<br />

Entscheidungsverfahren, bezogen auf die beiden<br />

zentralen Kriterien der demokratischen Legitimation<br />

und der Effizienz, zu verbessern, d. h. Entscheidungsverfahren<br />

zu optimieren, sie transparenter zu<br />

machen und das Zusammenwirken zwischen den<br />

verschiedenen Ebenen und der auf ihnen angesiedelten<br />

Akteure auf eine neue partnerschaftliche Basis zu<br />

stellen, um so vor allem auch das �Subsidiaritätsprinzip<br />

zu voller Entfaltung zu bringen.<br />

Am 25. 7. 2001 veröffentlichte die Kommission das<br />

Weißbuch über „Europäisches Regieren“ (KOM<br />

2001/428 endg.). Den Begriff selbst definierte das<br />

Weißbuch wie folgt: „Der Begriff ‚Governance‘<br />

steht für die Regeln, Verfahren und Verhaltensweisen,<br />

die die Art und Weise, wie auf europäischer Ebene<br />

Befugnisse ausgeübt werden, kennzeichnen und<br />

zwar insbes. in Bezug auf Offenheit, Partizipation,<br />

Verantwortlichkeit, Wirksamkeit und Kohärenz.“<br />

413


Governance<br />

Das Weißbuch identifiziert folgende fünf Grundsätzefürgutesbzw.besseresRegieren:Offenheit,Partizipation,<br />

Verantwortlichkeit, Effektivität und Kohärenz.<br />

Ihnen wird die Aufgabe zugeschrieben, bereits<br />

im Vertrag enthaltene Grundsätze zu ergänzen bzw.<br />

zu verstärken wie bspw. das Subsidiaritätsprinzip<br />

oder den Grundsatz der �Verhältnismäßigkeit. Das<br />

Weißbuch macht hierzu eine Reihe von Anregungen<br />

undVorschlägen,dieinvierKapitelgegliedertsind:<br />

Bessere Einbindung aller Akteure und größere Offenheit.<br />

Die Ausführungen in diesem Kapitel zielen<br />

auf die Verstärkung der Kommunikation, also die<br />

Weiterentwicklung einer Konsultations- und Dialog-Kultur.<br />

Besondere Beachtung wird dabei der<br />

Einbeziehung von nationalen Parlamenten, von Regionen<br />

und Kommunen, von Repräsentanten der<br />

�Zivilgesellschaft und der Wissenschaft sowie der<br />

Verwaltung der Mitgliedstaaten bei der Vorbereitung<br />

von Entscheidungsprozessen gewidmet.<br />

Eine bessere Politik, bessere Regeln und bessere Ergebnisse.<br />

Hier geht es zunächst um die Klärung der<br />

Frage, ob Handlungsbedarf besteht und wenn ja, ob<br />

auf EU-Ebene gehandelt werden soll. Falls dies bejaht<br />

würde, gehe es um die Wahl der jeweils angemessenenMaßnahmen,StrategienundPolitikinstrumente.<br />

Dazu unterbreitet die Kommission ganz konkrete<br />

Vorschläge wie etwa<br />

– den Erlass von Rahmen-Richtlinien;<br />

– die Methode der Koregulierung, also außerrechtliche<br />

Selbstverpflichtungen von Akteuren;<br />

– die systematische Evaluierung der gemeinschaftlichen<br />

Gesetzgebung durch gezielte Rückkopplung zu<br />

den Adressaten und Betroffenen;<br />

– die Einrichtung spezieller neuer Regulierungsagenturen;<br />

– schließlich die sog. „offene Methode der Koordinierung“,<br />

die die starre Rechtsetzung ersetzen würde.<br />

Beitrag der EU zur Global Governance. Das Weißbuch<br />

plädiert dafür, dass die Union auch in ihren Außenbeziehungen<br />

die Grundsätze guten Regierens beachtetundanwendet.Dazugehört,dassdieEUalsinternationaler<br />

Akteur geschlossener auftreten, d. h.<br />

mit einer Stimme sprechen soll und dass die Kommission<br />

bei der Wahrnehmung ihrer Initiativfunktion<br />

den Dialog mit staatlichen und nichtstaatlichen<br />

Akteuren in Drittländern verstärkt.<br />

Neuausrichtung der Politiken und der Institutionen.<br />

DieAussagendiesesKapitelsbetreffendasAnliegen<br />

414<br />

einer politischen Gesamtstrategie in der EU, also ihres<br />

„politischen“ Projekts. In den auf die Institutionen<br />

bezogenen Aussagen plädiert das Weißbuch dafür,<br />

dass sich die Institutionen auf Kernaufgaben<br />

konzentrieren müssten. Konkret heißt das, dass der<br />

Europäische Rat sich auf die Formulierung der großen<br />

�Leitlinien beschränken, der Ministerrat vorrangig<br />

für die Koordinierung der Fachministerräte verantwortlich<br />

sein soll, dass das Europäische Parlament<br />

sein Hauptaugenmerk auf die Kontrolle der<br />

Umsetzung von Entscheidungen legen und die Anliegen<br />

der Wählerschaft stärker in die politische Debatte<br />

einbringen und die Kommission autonom, also<br />

ohne Einschaltung der verschiedensten Ausschüsse<br />

(�Komitologie) implementieren soll.<br />

Das Weißbuch hat eine überwiegend kritische Aufnahme<br />

gefunden. Dabei wird zum einen kritisiert,<br />

dass die Aussagen und Vorschläge sehr stark und<br />

letztlich durchgängig vom institutionellen Eigeninteresse<br />

der Kommission bestimmt werden, indem für<br />

eine Stärkung ihrer Position im gemeinschaftlichen<br />

Entscheidungsgefüge plädiert wird: die �Gemeinschaftsmethode<br />

solle gestärkt, Rat und Parlament<br />

sollten auf dem Gebiet der Rechtsetzung entlastet,<br />

die Komitologie müsse zurückgedrängt und eine<br />

Reihe spezieller �Agenturen sollten eingerichtet<br />

werden. In diesen Vorschlägen dominiere eine viel<br />

zu stark technokratische Herangehensweise, die sicherlich<br />

nicht geeignet sei, „besseres Regieren“ zu<br />

ermöglichen und herbeizuführen. Weiterhin wird<br />

kritisiert, dass die Aussagen des Weißbuchs über<br />

weite Strecken viel zu allgemein bleiben würden und<br />

dass es so gut wie nichts für die Lösung der zentralen<br />

Aufgabenbeitrage,wieinderEUmitderVielfaltund<br />

Heterogenität umgegangen werden solle, die mit der<br />

anstehenden Erweiterung deutlich zunehmen werde.<br />

Und: es bleibe trotz der Betonung von Partizipation<br />

und der Notwendigkeit einer Einbeziehung der „Zivilgesellschaft“<br />

einem technokratischen Ansatz von<br />

supranationaler Politik verpflichtet. Die Kritiker bezweifelten,<br />

dass die Vorschläge des Weißbuchs einen<br />

Beitrag zur Legitimitätssteigerung oder zur VerbesserungderEffizienzleistenwürden.<br />

R. H.<br />

Literatur:<br />

Bache, I./Flinders, M. (Hg.): Multi-level Governance.<br />

Oxford 2004<br />

Benz, A. (Hg.): Governance – Regieren in komplexen<br />

Regelsystemen. Wiesbaden 2004<br />

Bruha, Th./Nowak, C. (Hg.): Die Europäische Union nach<br />

Nizza: Wie <strong>Europa</strong> regiert werden soll. Baden-Baden 2003


Europäische Kommission: Europäisches Regieren – ein<br />

Weißbuch v. 25. 7. 2001. ABl. C 287/2001<br />

Große Hüttmann, M./Knodt, M.: Der Multi-Level Governance-Ansatz.<br />

In: Bieling, H.-J./Lerch, M. (Hg.), Theorien der<br />

europäischen Integration. Wiesbaden 2005, S. 223 – 247<br />

Hooghe, L./Marks, G.: Multi-level Governance and European<br />

Integration. Lanham 2001<br />

Jachtenfuchs, M./Kohler-Koch, B.: Regieren und Institutionenbildung.<br />

In: Dies. (Hg.): Europäische Integration Opladen<br />

2003 2 ,S.11–46<br />

Kohler-Koch, B. (Hg.): Regieren in entgrenzten Räumen.<br />

PVS, Sonderheft 29/1998<br />

Kohler-Koch, B./Conzelmann, Th./Knodt, M.: Europäische<br />

Integration – Europäisches Regieren. Wiesbaden 2004<br />

Rosenau, J. N./Czempiel, E.-O. (Hg.): Governance without<br />

Government: Order and Change in World Politics.<br />

Cambridge 1992<br />

Grenzausgleich. Ein Kernstück der �Gemeinsamen<br />

Agrarpolitik ist die Markteinheit mit dem System<br />

gemeinsamer Preise, die jährlich vom Rat festgelegtwerden.Umim�EuropäischenWährungssystem<br />

störende Einflüsse auf den Agrarmarkt (vor allem<br />

Einkommensverluste der Landwirte) auszuschließen,<br />

galten für Agrarpreise vor Beginn der<br />

Währungsunion nach Leitkursanpassungen die alten<br />

Umrechnungskurse („grüne Paritäten“) eine Zeitlang<br />

weiter. Sie garantierten den Erzeugern gleichbleibende<br />

Einkommen. Im Handel mit Agrarerzeugnissen<br />

aber wäre in einem solchen Falle die Ausnutzung<br />

von Preisunterschieden (Arbitrage) zwischen<br />

Aufwertungs- und Abwertungsland möglich gewesen.<br />

Um dies zu verhindern, haben die EG-Staaten<br />

1971 ein System des Grenzausgleichs (oder Währungsausgleichs)<br />

geschaffen.<br />

BeimpositivenGrenzausgleichwurdenEinfuhrenin<br />

ein Aufwertungsland durch Erhebung eines Grenzausgleichbetrags<br />

verteuert, Ausfuhren durch Gewährung<br />

des Ausgleichs verbilligt. Beim negativen<br />

Grenzausgleich war das Verfahren umgekehrt: Senkung<br />

der Einfuhrpreise und Anhebung der Ausfuhrpreise.<br />

Seit April 1984 gab es nur noch den negativen GrenzausgleichinAbwertungsländern.MitderWährungsunion<br />

wurde das System des Grenzausgleichs im<br />

Agrarbereich in Euro-Ländern überflüssig.<br />

Bei den Verbrauchssteuern erfolgt ein Grenzausgleich<br />

durch Erhebung der Einfuhrumsatzsteuer auf<br />

Importgüter. Beim nach wie vor geltenden �Bestimmungslandprinzip<br />

(Entlastung von der Umsatzsteuer<br />

bei der Ausfuhr, Belastung bei der Einfuhr) hat die<br />

Einfuhrumsatzsteuer die Wirkung eines Grenzaus-<br />

Grenzkontrollen<br />

gleichs, indem sie die Steuerbelastung importierter<br />

Waren der von inländischen Waren anpasst und so<br />

gleicheWettbewerbsbedingungenherstellt. W. M.<br />

Grenzkontrollen. Sichtbarste Erscheinung des<br />

Binnenmarkts als Raum ohne innere Grenzen ist der<br />

Wegfall von Personenkontrollen an den Grenzen innerhalb<br />

der Gemeinschaft. Allerdings müssen im<br />

Gegenzug die Kontrollen an den Außengrenzen der<br />

Union nach gemeinschaftlichen Standards durchgeführt<br />

werden, weil Angehörige aus Drittstaaten nach<br />

ihrer Einreise faktisch Freizügigkeit im EU-Raum<br />

genießen.<br />

1. Entwicklung. Diese „<strong>Festung</strong> <strong>Europa</strong>“ wurde zunächst<br />

auf völkervertraglicher Ebene durch die<br />

�SchengenerAbkommeninsLebengerufenundspäter<br />

mit dem Vertrag von Amsterdam als Form der<br />

verstärkten Zusammenarbeit in die dritte Säule und<br />

damitindenrechtlichenundinstitutionellenRahmen<br />

der EU überführt. Bezüglich der Grenzkontrollen<br />

formuliert Art. 62 Nr. 1 und Nr. 2a EGV eine Handlungsermächtigung<br />

für den Rat. Mit Festlegungsbeschluss<br />

des Rates vom 20. 5. 1999 (ABl 1999 L<br />

176/17) wurden die Regelungen des Schengener<br />

Durchführungsübereinkommens (SDÜ) über<br />

GrenzkontrollenindieersteSäulederEUaufgenommen<br />

und dadurch „vergemeinschaftet“. Sie werden<br />

nunmehr als Gemeinschaftsrecht angewandt, solange<br />

keine neuen Vorschriften durch die Gemeinschaft<br />

erlassen werden.<br />

2. Teilnehmer. Der Kreis der Teilnehmer am „Schengen-System“<br />

ist nicht mit dem Kreis der Mitgliedstaaten<br />

der EU identisch; die Ausnahmen sind in den<br />

EUV-Protokollen 3, 4 und 5 zum Amsterdamer Vertrag<br />

geregelt. Das Vereinigte Königreich und Irland<br />

sind an der Zusammenarbeit nicht beteiligt, haben<br />

aber eine Eintrittsoption. Dänemark ist nur im Rahmen<br />

der dritten Säule beteiligt. Island und Norwegen<br />

werden als Teilnehmer der nordischen Passunion assoziiert.<br />

Die Beitrittsländer haben den Schengen-<br />

Besitzstand vollständig zum 1. 5. 2004 übernommen,<br />

auch wenn nicht alle Vorschriften sofort angewandt<br />

werden (Art. 3 der Beitrittsakte). Denn die<br />

Kontrollen an den Binnengrenzen können nur dann<br />

vollständig abgebaut werden, wenn effiziente Außenkontrollen<br />

gewährleistet sind. Daher beschließt<br />

der Rat über die Anwendung des Schengener Besitzstands<br />

für jedes Beitrittsland gesondert, wenn die<br />

Voraussetzungen erfüllt sind.<br />

415


Grenzpolizei<br />

3. Funktionsweise. Im Anwendungsbereich des<br />

Schengen-Systems entfallen die Binnengrenzkontrollen,<br />

wobei den Mitgliedstaaten Ausnahmen aus<br />

Gründen der öffentlichen Ordnung oder der nationalen<br />

Sicherheit – wie anlässlich der Fußball-<strong>Europa</strong>meisterschaft<br />

in Portugal – gestattet sind (Art. 2<br />

SDÜ). Binnengrenzen sind die gemeinsamen Landgrenzen<br />

der Vertragsparteien, die Flughäfen und<br />

Seehäfen für den innergemeinschaftlichen Verkehr<br />

von und nach dem Gebiet der Mitgliedstaaten (Art. 1<br />

SDÜ). Die Grenzen zum Vereinigten Königreich<br />

und zu Irland gelten als Außengrenzen; die Grenzkontrollen<br />

heben die grundsätzliche Freizügigkeit<br />

von EU-Bürgern nicht auf.<br />

An den Außengrenzen finden verstärkte Kontrollen<br />

durchdiezuständigennationalenBehördennacheinheitlichen<br />

gemeinschaftsrechtlichen Grundsätzen<br />

statt (Art. 3–8SDÜ). Der Grenzübertritt ist nur an<br />

bestimmten Grenzübertrittsstellen und zu bestimmten<br />

Öffnungszeiten gestattet. Während EU-Bürger<br />

nur einer Identitätskontrolle unterzogen werden,<br />

umfasst die Kontrolle von Drittstaatsangehörigen<br />

die Überprüfung der üblichen Grenzübertrittspapiere;<br />

zusätzlich werden die Voraussetzungen für die<br />

Einreise, den Aufenthalt, die Arbeitsaufnahme und<br />

die Ausreise geprüft und eine fahndungstechnische<br />

Kontrolle durchgeführt.<br />

Die Mitgliedstaaten können laut EG-Protokoll Nr.<br />

31 zum Vertrag von Amsterdam bilaterale Grenzverkehrsverträge<br />

mit Drittstaaten abschließen und eine<br />

abweichende Praxis bezüglich der Grenzkontrollen<br />

vereinbaren. J. I.<br />

Literatur:<br />

Bergmann, J.: Art. 61 – 69 EGV. In: Lenz, C. O./Borchardt,<br />

K.-D. (Hg), EU- und EG-Vertrag. Kommentar. Köln 2003 3<br />

Geiger, R.: EUV/EGV, Art. 61 – 69 EGV. München 2004<br />

Weiß, W.: Art 61 – 64. In: Streinz, R. (Hg.), EUV/EGV.<br />

München 2003<br />

Grenzpolizei, europäische �Raum der Freiheit, der<br />

Sicherheit und des Rechts<br />

Grenzüberschreitende Strafsachen �Polizeiliche<br />

und justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen<br />

(PJZS)<br />

Grenzüberschreitendes Umgangsrecht �Zivilrecht<br />

GRID ist eine der geplanten Maßnahmen zur Reali-<br />

416<br />

sierung des Europäischen Forschungsraums. Es handelt<br />

sich um den Aufbau eines transeuropäischen<br />

Hochleistungs-Datennetzes für die wissenschaftliche<br />

Kommunikation auf Basis des Grid-Computing.<br />

Darunter ist die Vernetzung vieler Computer zur Erhöhung<br />

der Rechenleistung zu verstehen (engl. grid<br />

= Gitter, Netz).<br />

Grün- und Weißbücher. Grünbücher sind von der<br />

Kommission veröffentlichte Mitteilungen, die zur<br />

Diskussion über einen bestimmten Politikbereich<br />

dienen. Sie richten sich an die Öffentlichkeit, vor allem<br />

an interessierte Dritte, Organisationen und Einzelpersonen,<br />

die dadurch die Möglichkeit erhalten,<br />

an der jeweiligen Konsultation und Beratung teilzunehmen.<br />

In bestimmten Fällen ergeben sich daraus<br />

gesetzgeberische Maßnahmen.<br />

Weißbücher enthalten Vorschläge für ein Tätigwerden<br />

der Gemeinschaft in einem bestimmten Bereich.<br />

Sie folgen zuweilen auf Grünbücher, wenn deren<br />

Konsultationsprozess auf europäischer Ebene zu einem<br />

positiven Ergebnis geführt hat. Während in<br />

Grünbüchern eine breite Palette an Ideen präsentiert<br />

und zur öffentlichen Diskussion gestellt wird, enthalten<br />

Weißbücher bereits förmliche Vorschläge für<br />

bestimmte Politikbereiche und dienen dazu, die beratenden<br />

Einrichtungen der EU sowie die nationalen<br />

Parlamente und Interessenverbände frühzeitig über<br />

Vorhaben zu informieren und deren Stellungnahmen<br />

zu erfahren.<br />

Internet:<br />

Eine Liste aller seit 1984 erschienenen Grünbücher ist<br />

abrufbar unter<br />

http://europa.eu.int/comm/off/green/index_de.htm<br />

Eine Liste aller seit 1985 erschienene Weißbücher ist abrufbar<br />

unter http://europa.eu.int/comm/off/white/index_de.htm<br />

Grundrechtecharta der Europäischen Union<br />

1. Entstehung der Charta: Erstmals erhielt die Europäische<br />

Gemeinschaft mit der Präambel der �Einheitlichen<br />

Europäischen Akte eine Aussage zu den<br />

�Grund- und Menschenrechten, welche durch die<br />

Verträge von Maastricht und Amsterdam in Art. 6<br />

EUV ausgebaut wurde. Weitere grundrechtliche Garantien<br />

wurden in Art. 12 u. 13 (�Diskriminierungsverbote)<br />

sowie Art. 136 EGV (Verweis auf die Europäische<br />

Sozialcharta und die Gemeinschaftscharta<br />

der sozialen Grundrechte) aufgenommen. Schließlich<br />

gab es seit der Erklärung der Menschenrechte<br />

und Grundfreiheiten des Europäischen Parlaments


vom 12. 4. 1989 einen eigenen Grundrechtekatalog<br />

der Europäischen Gemeinschaften, dem allerdings<br />

nur eine politisch-deklaratorische Bedeutung zukam.<br />

Vor dem Hintergrund der grundrechtlichen<br />

Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs<br />

(EuGH), die sich an den Standards der mitgliedstaatlichen<br />

Verfassungstraditionen und der �Europäischen<br />

Menschenrechtskonvention (EMRK) orientierte,<br />

fand seit Anfang der 1990er Jahre eine Debatte<br />

über die Effektivierung des Grundrechtsschutzes in<br />

<strong>Europa</strong> statt. Dabei spielten drei Ansätze eine Rolle:<br />

(1) die Fortführung der bisherigen Lösung durch den<br />

EuGH, nach welcher die flexible Anpassung des<br />

grundrechtlichen Schutzes der Unionsbürger an<br />

neue Herausforderungen allein dem EuGH obläge,<br />

wodurch dieser allerdings auch zum Schöpfer der<br />

Grundrechte würde; (2) der Beitritt der Gemeinschaft<br />

zur EMRK, der eine Änderung der Konvention<br />

erforderte, da ihr z. Zt. nur Einzelstaaten beitreten<br />

dürfen; (3) die Kodifizierung eines eigenen Grundrechtekatalogs<br />

der EU.<br />

Der zuletzt genannte Ansatz wurde vom Europäischen<br />

Rat aufgegriffen, der am 3./4. 6. 1999 in Köln<br />

beschloss, eine Charta der Europäischen Union entwerfen<br />

zu lassen. Diese Charta wurde von einer am<br />

15./16. 10. 1999 in Tampere (Finnland) einberufenen<br />

Kommission entworfen, die sich unter ihrem<br />

Vorsitzenden Roman Herzog als „Konvent“ benannte.<br />

Dieser setzte sich aus Regierungsvertretern und<br />

Parlamentariern der Mitgliedstaaten, Mitgliedern<br />

des Europäischen Parlaments sowie Vertretern der<br />

Präsidentschaft und der Kommission zusammen; als<br />

Beobachter nahmen Vertreter des EuGH und des <strong>Europa</strong>rates<br />

an den Beratungen teil. Der Auftrag des<br />

Konvents bestand in der „Kodifizierung des sittlichen<br />

Besitzstandes“ der Union; er sollte die im<br />

Unionsvertrag, in der EMRK und in der Sozialcharta<br />

sowie in den Entscheidungen des EuGH und des Europäischen<br />

Gerichtshofes für Menschenrechte verankertenRechtekompilieren.DerKonventnahmdarüber<br />

hinaus auch Grundrechte aus den Bereichen<br />

der Bioethik und der modernen Informationstechnologien<br />

in die Charta auf. Der Entstehungsprozess der<br />

Charta wurde durch mehrere hundert Stellungnahmen<br />

gesellschaftlicher Organisationen begleitet. In<br />

zwei Sondersitzungen wurden Vertreter der Bürgergesellschaft<br />

sowie die Repräsentanten der Beitrittsländer<br />

angehört. Am 10. 10. 2000 verabschiedete der<br />

Konvent die Charta der Grundrechte der Europäi-<br />

Grundrechtecharta<br />

schen Union fast einstimmig. Sie wurde am 7. 12.<br />

2000 vom Europäischen Rat in Nizza feierlich proklamiert<br />

und vom Ratspräsidenten, dem Kommissionspräsidenten<br />

und der Parlamentspräsidentin unterzeichnet.<br />

Der Text des �Verfassungsvertrags<br />

2004 für <strong>Europa</strong> verweist in Teil I auf die Prinzipien<br />

der Menschenwürde, Menschenrechte und Grundfreiheiten<br />

und inkorporiert in Teil II die Charta der<br />

Grundrechte der Union mit kleineren Modifikationen.<br />

2. Struktur und Inhalt der Charta: Die Charta besteht<br />

aus einer Präambel sowie sieben Kapiteln (Titeln),<br />

die überschrieben sind mit (1) Würde des Menschen,<br />

(2)Freiheiten,(3)Gleichheit,(4)Solidarität,(5)Bürgerrechte,<br />

(6) Justizielle Rechte und (7) Allgemeine<br />

Bestimmungen über die Auslegung und Anwendung<br />

der Charta.<br />

In ihrem Anfang und als Grundlage der klassischen<br />

Schutz-, Abwehr- und Beteiligungsgrundrechte<br />

wird die Unantastbarkeit der Würde des Menschen<br />

betont; Art. II-61 VVE 2004 ist offenkundig Art. 1<br />

Abs. 1 GG nachgebildet. Dem ersten Kapitel sind<br />

weiterhin das Recht auf Leben, das Verbot der Todesstrafe,<br />

das Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit<br />

und die Verbote der Folter und Erniedrigung,<br />

der Sklaverei, der Zwangsarbeit und des Menschenhandels<br />

zugeordnet. In den Artikel über das<br />

Recht auf Unversehrtheit sind Bestimmungen zur<br />

Beschränkung der Biomedizin integriert; sie verbieten<br />

das reproduktive Klonen von Menschen und den<br />

gewinnorientierten Handel mit Teilen des menschlichen<br />

Körpers. Das zweite Kapitel über die Freiheitsrechte<br />

(Art. II-66 – 79 VVE 2004) garantiert insbes.<br />

den Schutz des Privatlebens, der Wohnung und der<br />

Kommunikation, die Gedanken-, Gewissens- und<br />

Religionsfreiheit, die Meinungs- und Informationsfreiheit,<br />

die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit,<br />

die Freiheit von Kunst und Wissenschaft, das<br />

Recht auf Bildung und die Berufsfreiheit, die unternehmerische<br />

Freiheit und das Eigentumsrecht sowie<br />

das Asylrecht und das Verbot der Abschiebung oder<br />

AuslieferunginStaaten,wodasRisikoderFolterund<br />

der Todesstrafe besteht. Zu den innovatorischen Bestimmungen<br />

gehören der ausdrückliche Schutz des<br />

geistigen Eigentums, der Schutz von personenbezogenen<br />

Daten und das Recht auf Auskunft über die eigenen<br />

Daten. Das dritte Kapitel (Art. II-80 – 86 VVE<br />

2004) bestimmt den Grundsatz der Gleichheit vor<br />

dem Gesetz und der Gleichheit von Männern und<br />

417


Grundrechtecharta<br />

Frauen; er verbietet jegliche Form der Diskriminierung.<br />

Weitere Bestimmungen dienen dem Schutz der<br />

Rechte der Kinder, älterer Menschen und BehindertersowiederAchtungderVielfaltderKulturen,Religionen<br />

und Sprachen. Kapitel vier (Art. II-87 – 98<br />

VVE 2004) enthält soziale Grundrechte für die Bereiche<br />

Arbeit, Beruf, Familie, Gesundheit, soziale<br />

Sicherheit sowie Umwelt- und Verbraucherschutz.<br />

Das Kapitel über die Rechte der Unionsbürger (Art.<br />

II-99 – 106 VVE 2004) garantiert das aktive und passive<br />

Wahlrecht bei den <strong>Europa</strong>- und Kommunalwahlen,<br />

Rechte gegenüber der öffentlichen Verwaltung<br />

(z. B. Anhörung, Begründung von Entscheidungen,<br />

Staatshaftung),dasRechtaufZugangzudenUnionsdokumenten,<br />

das Petitionsrecht, die Aufenthaltsfreiheit<br />

und Freizügigkeit sowie das Recht auf diplomatischen<br />

Schutz in Drittstaaten. Das sechste Kapitel<br />

gewährleistet den heute üblichen Standard an Justizgrundrechten<br />

wie das Doppelstrafverbot, die Unschuldsvermutung,<br />

die Verteidigungsrechte sowie<br />

die strafrechtlichen Grundsätze der Gesetzmäßigkeit<br />

und Verhältnismäßigkeit. Das abschließende<br />

siebente Kapitel enthält für die Europäische Union<br />

als Gemeinschaft von Staaten wichtige Bestimmungen<br />

über die Auslegung und Anwendung der Grundrechtecharta.<br />

3.RechtlicheVerbindlichkeitderCharta:DieCharta<br />

der Grundrechte ist kein gemeinsamer Grundrechtekatalog<br />

der Union und ihrer Mitgliedstaaten. Der<br />

Versuch eines Teils der Konventsmitglieder, der<br />

Charta eine umfassende Rechtsverbindlichkeit zu<br />

verleihen, scheiterte. Die Charta gilt nach Art. II-111<br />

VVE vielmehr nur für die Organe und Institutionen<br />

der EU unter Berücksichtigung des �Subsidiaritätsprinzips<br />

und für die Mitgliedstaaten nur insoweit, als<br />

diese Unionsrecht ausführen. Denn nach ihren derzeitigen<br />

rechtlichen Grundlagen besitzt die Union<br />

keine Kompetenz für einen allgemeinen Grundrechtsschutz.<br />

Solange nicht die Verfassung der<br />

Union anstelle der Verträge zur primären Rechtsgrundlage<br />

der Union wird, bestimmen ausschließlich<br />

diese die Zuständigkeiten der Union. Damit<br />

bleibt vorläufig die Bedeutung einerseits der nationalen<br />

Grundrechte und andererseits der Grundrechte<br />

der EMRK, zu deren Beachtung sich die Union wie<br />

dieeinzelnenMitgliedstaatenderEUverpflichtethaben,<br />

unbeeinträchtigt. In den vom Verfassungskonvent<br />

geänderten allgemeinen Bestimmungen im siebenten<br />

Kapitel der Charta wird ausdrücklich auf die<br />

418<br />

im Verfassungsvertrag 2004 festgelegten Grenzen<br />

der Zuständigkeiten der Union verwiesen, die auch<br />

durch die in der Charta enthaltenen Grundrechte und<br />

Grundsätze nicht ausgedehnt werden dürfen. Insofern<br />

kann man die Charta als eine identitätsstiftende,<br />

vorläufig jedoch eher politische Erklärung qualifizieren,<br />

auf die sich der EuGH in seiner Rechtsprechung<br />

nur sehr begrenzt stützen kann. Erforderlich<br />

ist die Aufnahme eines Verweises in die Verträge<br />

(vgl. Art. 6 Abs. 2 EUV), der die Union, ihre Organe<br />

und Institutionen nicht nur an die EMRK und die gemeinsamen<br />

Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten,<br />

sondern auch an die Grundrechtecharta<br />

bindet. Unter der Voraussetzung ihrer Erwähnung in<br />

Art. 6 EUV ist davon auszugehen, dass künftig die<br />

Auslegung des EU-Sekundärrechts an die Grundrechtecharta<br />

gebunden ist. Die Bedeutung der<br />

Grundrechtecharta wird schließlich auch durch den<br />

Verfassungstext selbst relativiert. Artikel I-9 des<br />

Verfassungsvertrags betont in Abs. 1 die Rechte,<br />

Freiheiten und Grundsätze der Charta und enthält zugleich<br />

in Abs. 2 das Ziel des Beitritts der Union zur<br />

EMRK. Soweit die Charta Rechte enthält, die den<br />

Garantien der EMRK trotz der darin zum Teil sehr<br />

weitreichenden Schrankenbestimmungen entsprechen,<br />

haben sie die gleiche Tragweite. Insoweit entfaltet<br />

die Charta nur dort ihre eigene Bedeutung, wo<br />

sie weitergehende Rechte enthält. Gegenüber vielen<br />

nationalen Verfassungen zeichnet sich die Grundrechtecharta<br />

durch zeitgemäße und präzise Formulierungen<br />

der grundrechtlichen Tatbestände aus; sie<br />

bleibt allerdings hinter diesen zurück, als sie nicht<br />

grundrechtsspezifisch Beschränkungsregelungen<br />

trifft, sondern nur eine undifferenzierte allgemeine<br />

Schrankenbestimmung für alle Grundrechte enthält<br />

(Art. II-112 Abs.1 VVE 2004). Es bleibt daher abzuwarten,<br />

ob und inwieweit durch einen Verweis auf<br />

die Charta im EU-Vertrag, durch die Rechtsprechung<br />

des EuGH und durch einen erfolgreichen Verfassungsratifizierungsprozess<br />

die vorläufig bestehenden<br />

Verbindlichkeitsdefizite der Grundrechtecharta<br />

abgemildert bzw. aufgehoben werden können.<br />

L. R. R.<br />

Literatur:<br />

Deutscher Bundestag (Hg.): Die Charta der Grundrechte der<br />

Europäischen Union. Opladen 2001<br />

Hummer, W.: Der Status der EU-Grundrechtecharta: Politische<br />

Erklärung oder Kern einer europäischen Verfassung?<br />

Bonn 2002


Magiera, S.: Die Bedeutung der Grundrechtecharta für die<br />

Europäische Verfassungsordnung. In: D. H. Scheuing (Hg.),<br />

Europäische Verfassungsordnung.<br />

Baden-Baden 2003, S. 117 – 132<br />

Meyer, J. (Hg.): Kommentar zur Charta der Grundrechte der<br />

Europäischen Union. Baden-Baden 2003<br />

Molthagen, J.: Das Verhältnis der EU-Grundrechte zur<br />

EMRK: Eine Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung<br />

der Charta der Grundrechte der EU.<br />

Hamburg: Diss. jur., 2003<br />

Rat der Europäischen Union (Hg.): Charta der Grundrechte<br />

der Europäischen Union. Luxemburg 2001<br />

Schmitz, T.: Die EU-Grundrechtecharta aus grundrechtsdogmatischer<br />

und grundrechtstheoretischer Sicht.<br />

In: Juristenzeitung 2001, S. 833 – 843<br />

Tettinger, P. J.: Die Charta der Grundrechte der Europäischen<br />

Union. In: Neue Juristische Wochenschrift 2001, S. 1010–1015<br />

Grund- und Menschenrechte in der Europäischen<br />

Union<br />

1. Allgemeines: Alle Mitgliedstaaten der EU sind einer<br />

demokratischen Grundordnung verpflichtet.<br />

Dieses ist zugleich primäres Kriterium für den Beitritt<br />

und die Vollmitgliedschaft neuer Staaten. Zu<br />

dieser Ordnung gehören vor allem Rechte und FreiheitenderBürgerinnenundBürger,diealsbesonders<br />

schützenswert hervorgehoben werden: die Menschenrechte<br />

und Grundfreiheiten. Auch die EU insgesamt<br />

muss an der Verwirklichung der demokratischen<br />

Grundordnung gemessen werden, d. h. an der<br />

Gewährleistung des Schutzes der Menschenrechte<br />

und Grundfreiheiten bei der Schaffung und Anwendung<br />

des Gemeinschaftsrechts.<br />

Die Mitgliedstaaten der EU haben sich im Rahmen<br />

zahlreicher internationaler Konventionen zur WahrungderMenschenrechteverpflichtet.Hierseiennur<br />

zwei hervorgehoben: Alle EU-Mitgliedstaaten sind<br />

auch Mitglieder der Vereinten Nationen, und somit<br />

gilt für sie auch die 1948 proklamierte Allgemeine<br />

Erklärung der Menschenrechte. Mit dieser Erklärung<br />

wurde erstmals der Versuch unternommen, den<br />

SchutzderindividuellenFreiheitenundGrundrechte<br />

gegenüber staatlicher Willkür als gemeinsamen<br />

Wert für eine internationale Ordnung festzulegen.<br />

In <strong>Europa</strong> wurde im Rahmen des 1948 gegründeten<br />

�<strong>Europa</strong>rats am 4. 11. 1950 die Europäische Konvention<br />

zum Schutze der Menschenrechte und<br />

Grundfreiheiten (�Europäische Menschenrechtskonvention<br />

– EMRK – genannt) unterzeichnet (1953<br />

in Kraft getreten), deren Ziel die Garantie eines Mindestschutzes<br />

der genannten Rechte in den nationalen<br />

Rechtsordnungen ist. Als großer Fortschritt gegen-<br />

Grund- und Menschenrechte<br />

über früheren Konventionen wurde dazu eine besondere<br />

Kontrollinstanz geschaffen, zunächst in Form<br />

der �Europäischen Kommission für Menschenrechteundseit1.11.1998desständigtagenden�Europäischen<br />

Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg.<br />

Weiter unterzeichneten die Mitglieder des <strong>Europa</strong>rates<br />

1961 die �Europäische Sozialcharta mit<br />

dem Ziel, die Grundlagen für die Ausübung der<br />

Grundrechte zu schaffen durch das Recht auf Arbeit,<br />

soziale Sicherheit, gerechte Entlohnung und berufliche<br />

Bildung. Alle Mitgliedstaaten der EU sind Mitglieder<br />

des <strong>Europa</strong>rats und haben in diesem Rahmen<br />

die Europäische Menschenrechtskonvention und<br />

Europäische Sozialcharta unterzeichnet und ratifiziert.<br />

2. Grundrechtsschutz: Für die Wahrung der Menschenrechte<br />

und Grundfreiheiten sind zunächst die<br />

Mitgliedstaaten zuständig. In den EU/EG-Verträgen<br />

ist deshalb derzeit kein ausdrücklicher Grundrechtskatalog<br />

enthalten und eine gerichtliche Grundrechtskontrolle<br />

der Tätigkeit der Gemeinschaftsorgane<br />

nicht ausdrücklich vorgesehen. Da aber die Gemeinschaft<br />

in bestimmten Bereichen befugt ist, unmittelbar<br />

bindendes Recht in den Mitgliedstaaten zu setzen,<br />

das entgegenstehendem nationalen Recht<br />

grundsätzlichvorgeht,stelltesichschonbalddieFrage<br />

des Grundrechtsschutzes gegenüber diesem EG-<br />

Recht und der Kontrollbefugnis nationaler Gerichte<br />

im Lichte der nationalen Grundrechtskataloge. So<br />

hielt sich das deutsche Bundesverfassungsgericht in<br />

einem Beschluss von 1974 für befugt und verpflichtet,<br />

EG-Recht auf seine Vereinbarkeit mit dem deutschen<br />

Grundgesetz zu prüfen, „solange“ ein entsprechender<br />

Grundrechtsschutz auf EG-Ebene nicht gewährleistet<br />

ist („Solange-I“-Beschluss). Auch das<br />

italienische Verfassungsgericht argumentierte in<br />

ähnlicher Weise. Damit bestand die Gefahr einer von<br />

Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlichen<br />

Anwendung der EG-Normen, was mit dem Grundsatz<br />

einer für alle EG/EU-Bürgerinnen und -Bürger<br />

gleichen Rechtsordnung nicht vereinbar gewesen<br />

wäre.<br />

Der EuGH entwickelte in der Folge eine immer umfassendere<br />

Rechtsprechung zum Grundrechtsschutz<br />

in der Gemeinschaft, angefangen 1969 mit der Feststellung,<br />

dass der Gerichtshof bei seinen Urteilen<br />

von den „gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen<br />

der Mitgliedstaaten“ auszugehen habe bis zu der<br />

Festlegung 1974, dass er „keine Maßnahmen als<br />

419


Grund- und Menschenrechte<br />

Rechtanerkennenkann,dieunvereinbarsindmitden<br />

von den Verfassungen der Mitgliedstaaten anerkannten<br />

und geschützten Grundrechten“ sowie „mit<br />

den internationalen Verträgen über den Schutz der<br />

Menschenrechte, an deren Abschluss die Mitgliedstaaten<br />

beteiligt waren oder denen sie beigetreten<br />

sind“. In einem späteren Urteil bezog sich der EuGH<br />

ausdrücklich auch auf Regelungen der Europäischen<br />

Menschenrechtskonvention. Das deutsche Bundesverfassungsgericht<br />

hat in der Folge seine „Solange“-Rechtsprechung<br />

ausdrücklich dahin modifiziert,<br />

dass es nunmehr einen ausreichenden Grundrechtsschutz<br />

auf EG/EU-Ebene als gegeben ansieht<br />

und daher EG/EU-Normen nicht mehr nach dem<br />

deutschen Grundrechtskatalog überprüft, solange<br />

hierdurch der Wesensgehalt der Grundrechte verbürgt<br />

sei („Solange-II“-Beschluss von 1986, bestätigt<br />

durch den �„Bananenmarktordnungs“-Beschluss<br />

von 2000).<br />

1977 unterzeichneten das Europäische Parlament,<br />

der Rat und die Kommission eine Gemeinsame Erklärung<br />

über die Grundrechte, mit der sie sich zur<br />

Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten<br />

verpflichten, sowie 1986 eine Gemeinsame Erklärung<br />

gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit.<br />

1979 wurden die Mitglieder des EP erstmals in allgemeiner<br />

Direktwahl gewählt, eine wesentliche Bedingung<br />

einer demokratischen Grundordnung. Am 12.<br />

4. 1989 verabschiedete das Europäische Parlament<br />

eine Erklärung der Grundrechte und Grundfreiheiten,<br />

die einen Katalog der Menschenrechte und<br />

Grundfreiheiten für alle Personen innerhalb des Geltungsbereichs<br />

des Gemeinschaftsrechts enthält.<br />

Am 22. 11. 1989 nahm das EP auf der Grundlage eines<br />

Berichts der Kommission eine Entschließung zu<br />

einerGemeinschaftschartadersozialenGrundrechte<br />

an; die (rechtlich nicht verbindliche) Charta wurde<br />

am 9. 12. 1989 von elf EG-Staaten angenommen (zunächst<br />

ohne Großbritannien). Die Umsetzung dieser<br />

Charta war Gegenstand eines Aktionsprogramms<br />

der Kommission, zu dem das EP in der gleichen Entschließung<br />

erhebliche Vorbehalte vor allem aufgrund<br />

des nicht zwingenden Charakters dieser Gemeinschaftscharta<br />

geäußert hat. In einem dem Maastrichter<br />

Vertrag beigefügten Protokoll zur Sozialpolitik<br />

findet sich eine Verpflichtung der elf anderen<br />

Mitgliedstaaten zur Umsetzung und Anwendung der<br />

Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte (Abkommen<br />

über die Sozialpolitik; �Sozialpolitik, �So-<br />

420<br />

zialprotokoll). 1997 übernahm auch Großbritannien<br />

die Sozialcharta. Schließlich wurde diese Charta in<br />

die Präambel des Amsterdamer Vertrages aufgenommen.<br />

Gemäß einem Beschluss des Europäischen Rates in<br />

Köln vom 3./4.12.1999 wurde von einem Konvent<br />

bis Juli 2000 eine Charta der Grundrechte der EU erarbeitetundam7.12.2000vonEP,RatundKommission<br />

feierlich verkündet. Diese Charta wurde inzwischen<br />

in den Verfassungsvertrag 2004 für <strong>Europa</strong><br />

aufgenommen (Art. I-9 und Teil II VVE).<br />

3. Vertragliche Grundlagen<br />

3.1 Die Einheitliche Europäische Akte (EEA), der<br />

VertragüberdieEuropäischeUnion,derVertragvon<br />

Amsterdam: Die EEA von 1986 zur Ergänzung der<br />

Römischen Verträge weist in ihrer Präambel ausdrücklich<br />

auf die Europäische Menschenrechtskonvention<br />

sowie auf die Europäische Sozialcharta des<br />

<strong>Europa</strong>rats hin und hebt insbes. die Grundrechte<br />

Freiheit, Gleichheit und soziale Gerechtigkeit als<br />

Grundlagen der EG hervor. In der Präambel des Vertrags<br />

über die Europäische Union von 1992 wird das<br />

Bekenntnis „zu den Grundsätzen der Freiheit, der<br />

Demokratie und der Achtung der Menschenrechte<br />

und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit“<br />

bestätigt und in Art. 6 Abs. 1 EUV als Grundlage der<br />

Union normiert. Durch den Unionsvertrag werden<br />

auch noch weitere Schritte auf dem Gebiete der Menschenrechte<br />

und Grundfreiheiten gemacht, so etwa<br />

durch die Schaffung einer Unionsbürgerschaft oder<br />

die Einführung des Kommunalwahlrechts für<br />

EU-Bürger in den Mitgliedstaaten.<br />

3.2 Der EG-Vertrag: Der EGV enthält neben den zuvor<br />

genannten mehr allgemeinen Erklärungen auch<br />

bereits einige spezifische, auf die EG bezogene<br />

Grundrechte, in deren Genuss alle Staatsangehörigen<br />

der Mitgliedstaaten der EU sowie in bestimmten<br />

Fällen die Staatsangehörigen von Drittländern kommen.<br />

Im Vertrag sind verschiedene Bestimmungen<br />

normiert, die den Schutz dieser Rechte garantieren<br />

sollen, vor allem:<br />

a)VerbotjeglicherDiskriminierungausGründender<br />

Staatsangehörigkeit (Art. 12 EGV).<br />

b) Freizügigkeit der Bürger und der Arbeitnehmer<br />

(Art. 39 EGV). Sie umfasst die Abschaffung jeder<br />

auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen<br />

Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten<br />

in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung<br />

und sonstige Arbeitsbedingungen, vorbehalt-


lich der aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit<br />

und Gesundheit gerechtfertigten Beschränkungen.<br />

Verschiedene Tätigkeiten im öffentlichen<br />

Dienst der Mitgliedstaaten sind von dieser Befreiung<br />

ausgeschlossen.<br />

c) Soziale Sicherheit der Arbeitnehmer (Art. 42<br />

EGV). Durch diese Vorschriften werden folgende<br />

Bereiche erfasst: Krankheit, Invalidität, Mutterschutz,<br />

Altersrenten, Arbeitsunfälle, Berufskrankheiten,<br />

Hinterbliebenenrenten, Ansprüche der Minderjährigen<br />

und Arbeitslosengeld.<br />

d)Niederlassungsrecht(Art.43–48EGV).Aufgrund<br />

der Niederlassungsfreiheit haben die Angehörigen<br />

einesMitgliedstaatesdasRecht,imHoheitsgebieteines<br />

anderen Mitgliedstaates selbständige Erwerbstätigkeiten<br />

nach den Bestimmungen des Aufnahmestaats<br />

für dessen eigene Angehörigen auszuüben.<br />

e) Freier Dienstleistungsverkehr (Art. 49–55 EGV).<br />

Die Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates können<br />

ihre Tätigkeit vorübergehend in einem anderen Mitgliedstaat<br />

unter den gleichen Bedingungen ausüben,<br />

die dieser Staat für seine eigenen Angehörigen vorschreibt.<br />

f) Gleichheit des Arbeitsentgelts (Art. 141 EGV). Jeder<br />

Mitgliedstaat muss die Anwendung des Grundsatzes<br />

des gleichen Entgelts für Männer und Frauen<br />

bei gleicher Arbeit gewährleisten.<br />

3.3 Charta der Grundrechte der Union im Vertrag<br />

über eine Verfassung für <strong>Europa</strong>. Die von einem<br />

Konvent im Jahre 2000 erarbeitete Charta ist Teil II<br />

des Verfassungsvertrags 2004 für <strong>Europa</strong>, sie fasst in<br />

einem Dokument die vorstehenden Rechte und Entwicklungen<br />

zusammen.<br />

a. Inhalt der Charta<br />

Die betreffenden Rechte untergliedern sich in folgende<br />

drei Sektionen:<br />

– Bürgerrechte: Menschenrechte und Recht auf gerichtliches<br />

Gehör, wie sie von der vom <strong>Europa</strong>rat unterzeichneten<br />

Europäischen Menschenrechtskonvention<br />

garantiert werden;<br />

– politische Rechte, die der von den Verträgen geschaffenen<br />

europäischen Staatsbürgerschaft entsprechen;<br />

– wirtschaftliche und soziale Rechte, wie sie in der<br />

am 9. 12. 1989 auf dem Straßburger Gipfel von den<br />

Staats- und Regierungschefs der elf Mitgliedstaaten<br />

in Form einer Erklärung verabschiedeten Gemeinschaftscharta<br />

der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer<br />

enthalten sind.<br />

Grund- und Menschenrechte<br />

In der Charta sind die Rechte in sechs Kapitel untergliedert.<br />

Ein siebentes Kapitel enthält die allgemeinen<br />

Bestimmungen.<br />

Die Charta vereint also in einem Text alle Personenrechte<br />

und setzt damit den Grundsatz der Unteilbarkeit<br />

der Grundrechte um. Sie bricht dogmatisch mit<br />

der bislang in europäischen und internationalen Texten<br />

üblichen Unterscheidung zwischen Bürgerrechten<br />

und politischen Rechten einerseits und wirtschaftlichen<br />

und sozialen Rechten andererseits und<br />

führt alle Rechte ausgehend von den Grundsätzen<br />

Menschenwürde, Grundfreiheiten, Gleichheit von<br />

Personen, Solidarität, Bürgerrechte und justizielle<br />

Rechte an.<br />

Unter Wahrung des Grundsatzes der Universalität<br />

sind die in der Charta genannten Rechte jeder Person<br />

ungeachtet ihrer Nationalität oder ihres Aufenthaltsortes<br />

gegeben. Anders ist es bei den direkt mit der<br />

Unionsbürgerschaft verbundenen Rechten, die nur<br />

den Unionsbürgern zustehen (wie die Beteiligung an<br />

den Wahlen zum Europäischen Parlament oder den<br />

Kommunalwahlen) und den auf einer besonderen Eigenschaft<br />

beruhenden Rechten (Rechte von Kindern,<br />

Rechte von Arbeitnehmern z. B. auf bestimmte<br />

soziale Ansprüche).<br />

Mit der Verankerung von Rechten wie dem Schutz<br />

personenbezogener Daten oder von Rechten in Bezug<br />

auf die Bioethik will der Text Antworten auf die<br />

durch die derzeitige und künftige Entwicklung der<br />

Informationstechnologien oder der Gentechnik entstehenden<br />

Probleme geben. Er entspricht auch den<br />

heutigen legitimen Forderungen nach Transparenz<br />

und Unparteilichkeit in der Arbeit der Gemeinschaftsverwaltung,<br />

indem er das Recht auf Zugang<br />

zudenVerwaltungsdokumentenderGemeinschaftsinstitutionen<br />

oder das Recht auf eine gute Verwaltung,<br />

das die diesbezügliche Rechtsprechung des<br />

Gerichtshofs zusammenfasst, wieder aufnimmt.<br />

b) Rechtlicher Status und Tragweite der Charta<br />

Die Charta wurde im Prinzip ausgehend vom „bestehenden<br />

Recht“ erarbeitet, d. h. sie fasst die von den<br />

Gemeinschaftsverträgen anerkannten Grundrechte,<br />

die gemeinsamen Verfassungsgrundsätze der Mitgliedstaaten,<br />

die Europäische Menschenrechtskonvention<br />

sowie die Sozialcharta der EU und des <strong>Europa</strong>rates<br />

zusammen.<br />

Es ist festgelegt, dass die Charta einzig und allein die<br />

Grundrechte von Personen vor Handlungen der<br />

EU-Institutionen und der Mitgliedstaaten schützen<br />

421


Grundwerte<br />

soll,dieinAnwendungderUnionsverträgeerfolgen.<br />

Als der Gedanke der Erarbeitung einer Charta der<br />

Grundrechte entstand, wurde ihr rechtlicher Status<br />

noch nicht festgelegt. Zurzeit ist sie unverbindlich.<br />

Sie ist allerdings in den Verfassungsvertrag aufgenommen<br />

worden, so dass sie mit Inkrafttreten des<br />

Verfassungsvertrages verbindliche Rechtswirkung<br />

für die Mitgliedstaaten und die Gemeinschaftsinstitutionen<br />

erhält. Ein besonderes Problem wird dann<br />

die Abgrenzung zum Geltungsbereich der EMRK<br />

sein.<br />

4. Perspektiven und laufende Arbeiten: Bereits im<br />

Amsterdamer Vertrag war die (wenn auch noch nicht<br />

volle) Einbeziehung verschiedener Bereiche der Innen-<br />

und Justizpolitik in den Rahmen der europäischen<br />

Integration vorgesehen durch die Einfügung<br />

eines neuen Titels III a in den EGV mit Bestimmungen<br />

zur Visa-, Asyl- und Einwanderungspolitik sowie<br />

zum freien Personenverkehr. Dieses wurde im<br />

Verfassungsvertrag 2004 übernommen und weiterentwickelt.<br />

Im Bereich des Grundrechtsschutzes hat das EP stets<br />

eine besondere Rolle gespielt, z. B. durch Stellungnahmen<br />

zu den Richtlinien- bzw. Verordnungsvorschlägen<br />

der Kommission sowie durch Anfragen an<br />

den Rat und an die Kommission. Zwei Parlamentsausschüsse<br />

– der Ausschuss für bürgerliche Freiheiten,<br />

Justiz und Inneres und der Petitionsausschuss –<br />

sind für die Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen<br />

in der Gemeinschaft zuständig. Ersterer<br />

erarbeitet jährlich einen Bericht über Grundrechtsverletzungen<br />

in der EU. An Letzteren werden die von<br />

den EU-Bürgern eingereichten Petitionen (jährlich<br />

etwa 700) überwiesen. Das Petitionsrecht wurde in<br />

dem Vertrag über die Europäische Union verankert<br />

(Art. 21 und 194 EGV) und findet sich auch im Vertrag<br />

über eine Verfassung für <strong>Europa</strong>. Darüber hinaus<br />

kann sich jeder Bürger an den nach Art. 195 EGV<br />

eingesetzten �Bürgerbeauftragten wenden.<br />

Der Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten und<br />

SicherheitundseinUnterausschuss„Menschenrechte“<br />

sind für die Erörterung und Prüfung von Menschenrechtsverletzungen<br />

außerhalb des Hoheitsgebiets<br />

der Gemeinschaft zuständig. Das EP hat außerdem<br />

einen ständigen Ausschuss für die Rechte der<br />

Frau eingesetzt.<br />

Bereits 1979 hat die Kommission mit Befürwortung<br />

des EP den Beitritt der Gemeinschaft zur Europäischen<br />

Konvention zum Schutz der Menschenrechte<br />

422<br />

und Grundfreiheiten des <strong>Europa</strong>rats vorgeschlagen.<br />

Obwohl alle EG/EU-Mitgliedstaaten Unterzeichner<br />

dieser Konvention oder ihr beigetreten sind, ist es<br />

bisher aus eher technischen und formalen Gründen<br />

(wie etwa der Frage von Kompetenzabgrenzungen<br />

zwischen dem Straßburger Menschenrechtsgerichtshof<br />

und dem EuGH) u. a. noch nicht zum Beitritt<br />

gekommen. Der Verfassungsvertrag 2004 enthältnunmehrinArt.I-9dieBeitrittsabsicht.<br />

K. H. O.<br />

Grundwerte/Werte, europäische<br />

1. Quellen: Zum Bürgerrecht in <strong>Europa</strong> gehören gemeinsame<br />

Grundwerte, wie sie bspw. in Art. I-2 des<br />

�Verfassungsvertrags2004für<strong>Europa</strong>benanntsind.<br />

Für die Politik sind Grundwerte regulative Ideen im<br />

Gestalten von Institutionen und im Finden von Entscheidungen;<br />

denn jedes intentionale Handeln bedarf<br />

der Orientierung an Werten. Die Frage ist, inwieweitineinempluralverfasstenStaatensystemein<br />

Wertkonsens möglich ist. Er erhält seine materiellen<br />

Inhalte sowie seine Legitimation durch die Verfassungen<br />

und Grundsatzdokumente, ferner auf dem<br />

Wege des permanenten, wandelbaren Diskurses.<br />

Während der „Vertrag über die Gründung der Europäischen<br />

Gemeinschaft für Kohle und Stahl“<br />

(EGKS, 1951) und der „Vertrag zur Gründung der<br />

Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft“ (EWG,<br />

1957) im Wesentlichen zweckrational auf einen<br />

wirtschaftlichen Zusammenschluss westeuropäischer<br />

Staaten gerichtet waren, enthält die „Satzung<br />

des <strong>Europa</strong>rats“ (1949) Hinweise auf übernationale<br />

Momente, die geeignet sind, eine normative FunktionimZusammenhangmiteinemgemeinsameneuropäischen<br />

Wertesystem einzunehmen.<br />

2. Konstitutive Wertmerkmale: Als konstitutive<br />

Wertmerkmale werden genannt: Frieden, Gerechtigkeit,<br />

internationale Zusammenarbeit, gemeinsames<br />

Erbe, persönliche und politische Freiheit, Vorherrschaft<br />

des Rechts sowie Demokratie. Daraus lässt<br />

sich zwar kein Wertesystem deduzieren, aber die<br />

Richtung ist in wichtigen Punkten angegeben und<br />

wird z. B. in der Menschenrechts- und Kulturkonvention<br />

sowie in der Europäischen Sozialcharta des<br />

<strong>Europa</strong>rats weiter aufgefaltet. Schließlich versucht<br />

die „Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und<br />

Zusammenarbeit in <strong>Europa</strong>“ (KSZE, 1975) eine gemeinsame<br />

politisch-normative Grundlage für ganz<br />

<strong>Europa</strong> zu formulieren. Sie besteht in der souveränen<br />

Gleichheit der Staaten, der Achtung der Souveräni-


tät, der Enthaltung von Androhung oder Anwendung<br />

von Gewalt, der Unverletzlichkeit der Grenzen, der<br />

territorialen Integrität der Staaten, der friedlichen<br />

Regelung von Streitfällen, der Nichteinmischung in<br />

innere Angelegenheiten, der Achtung der Menschenrechte<br />

und Grundfreiheiten (z. B. Gedanken-,<br />

Gewissens-, Religions-, Überzeugungsfreiheit), der<br />

Gleichberechtigung und des Selbstbestimmungsrechts<br />

der Völker, der Zusammenarbeit zwischen<br />

den Staaten, der Erfüllung der völkerrechtlichen<br />

Verpflichtungen nach Treu und Glauben. Der internationalen<br />

Zusammenarbeit im Bereich der<br />

Erziehung wird eine erhebliche Bedeutung zugewiesen<br />

(Korb 3); sie wird als geeignet angesehen, zu einem<br />

besseren gegenseitigen Verständnis der Staaten<br />

untereinander beizutragen. Es wird ein Austausch<br />

von Informationen und Erfahrungen sowie eine Verbesserung<br />

der Beziehungen zwischen den Bildungseinrichtungen<br />

angeregt. Dabei sollen verstärkter<br />

Fremdsprachenunterricht und das Studium fremder<br />

Zivilisationen helfen, ferner soll ein Erfahrungsaustausch<br />

über Unterrichtsmethoden auf allen Bildungsstufen<br />

erfolgen (vgl. KSZE-„Charta für ein<br />

neues <strong>Europa</strong>“, 1990).<br />

3. Wichtige Wertgrundlagen: Einen erheblichen<br />

Fortschritt in der Herausbildung einer gemeinsamen<br />

Wertegrundlage der EG-Staaten stellt die „Erklärung<br />

der Grundrechte und Grundfreiheiten“ des EuropäischenParlaments(EP)vom12.4.1989(vgl.die<br />

Erklärung vom 5. 4. 1977) dar. Unter Berufung auf<br />

die Römischen Verträge, die Verfassungstradition<br />

der Mitgliedstaaten, die Europäische Menschenrechtskonvention,<br />

die geltenden internationalen<br />

Rechtsinstrumente und die Rechtsprechung des<br />

EuGH werden in 28 Artikeln die angestrebten Minima<br />

an gemeinsamen Werten festgelegt. Dazu gehören<br />

vor allem: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“<br />

(Art. 1); „Jeder hat das Recht auf Leben,<br />

Freiheit und Sicherheit“ (Art. 2); die Rechtsgleichheit<br />

im Geltungsbereich des Gemeinschaftsrechts:<br />

„Jede Diskriminierung zwischen den europäischen<br />

Bürgern aus Gründen der Staatsangehörigkeit ist<br />

verboten“ (Art. 3 III); Gedanken-, Gewissens-, Religions-,<br />

Meinungs- und Informationsfreiheit; Schutz<br />

der Familie; Freizügigkeit; das Recht auf Eigentum;<br />

Versammlungs-, Vereinigungs- und Berufswahlfreiheit;<br />

gerechte Arbeitsbedingungen; kollektive<br />

soziale Rechte (Verhandlungen zwischen den Sozialpartnern,StreikrechtvorbehaltlichetwaigerVer<br />

Grundwerte<br />

pflichtungen aus geltenden Gesetzen und Tarifverträgen);sozialerSchutz.„JederhatdasRechtaufBildung<br />

und Ausbildung gemäß seinen Fähigkeiten.<br />

Der Schulbesuch ist frei ...“ (Art. 16). Das Recht auf<br />

ein ordnungsgemäßes Gerichtsverfahren und einen<br />

gesetzlichen Richter, Petitionsrecht an das EP, Umwelt-<br />

und Verbraucherschutz.<br />

Die vorstehende Auflistung beinhaltet einen liberalen<br />

Grundrechtskatalog, die Festschreibung der<br />

„klassischen“ Grundrechte. Sie entsprechen darin<br />

den politischen und gesellschaftlichen Vorstellungen<br />

freiheitlich-demokratischer Rechts- und Sozialstaaten.<br />

Neu ist die grundrechtliche Sicherung des<br />

Umweltschutzes; umstritten war die Einführung sozialer<br />

Rechte (s. u.).<br />

4. Individualrechte: Grundansätze in Gestalt objektiver<br />

Normen zum Schutz des Einzelnen enthält der<br />

EG-Vertrag, und zwar<br />

– Diskriminierungsverbote (Art. 12, 34, 45, 67, 75,<br />

90),<br />

– Gebote der Gleichstellung der EG-Angehörigen<br />

im Arbeits-, Niederlassungs- und Dienstleistungsrecht<br />

(Art. 39, 43, 50),<br />

– Gebot der Lohngleichheit für Männer und Frauen<br />

(Art. 141),<br />

– Freizügigkeit der Arbeitnehmer (Art. 39 ff.), Niederlassungsfreiheit<br />

(Art. 43 ff.), Freiheit des Dienstleistungsverkehrs<br />

(Art. 49 ff.), Freiheit des Kapitalverkehrs<br />

(Art. 67 ff.).<br />

5. Allgemeine Grundrechte: Allgemeine GrundrechtewerdeninderPräambelderEinheitlichenEuropäischen<br />

Akte (1986) bekräftigt, in der die Staats- und<br />

Regierungschefs erklären, dass sie „entschlossen<br />

(sind), gemeinsam für die Demokratie einzutreten,<br />

wobei sie sich auf die in den Verfassungen und Gesetzen<br />

der Mitgliedstaaten, in der Europäischen<br />

Konvention zum Schutze der Menschenrechte und<br />

Grundfreiheiten und der Europäischen Sozialcharta<br />

anerkannten Grundrechte, insbes. Freiheit, Gleichheit<br />

und soziale Gerechtigkeit, stützen“.<br />

Eine zunehmend existentielle Rolle für die europäischen<br />

Arbeitnehmer spielt die Erhaltung und Erweiterung<br />

sozialer Werte in Gestalt sozialer Grundrechte.<br />

Das Europäische Parlament hat in seiner „EntschließungzursozialenDimensiondesBinnenmarktes“<br />

vom 15. 3. 1989 „soziale Grundrechte“ formuliert,<br />

die „allen Arbeitnehmern ungeachtet ihres Arbeitsverhältnisses<br />

und der Art des Unternehmens<br />

einzuräumen sind:<br />

423


GSM<br />

– das Recht auf Chancengleichheit, auf gleichen<br />

Lohn für gleiche Arbeit ohne Diskriminierung<br />

aufgrund des Geschlechts,<br />

– das Recht auf Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz,<br />

– der Kinder- und Jugendschutz,<br />

– die Koalitionsfreiheit und das Streikrecht,<br />

– das Recht auf Unterrichtung, Anhörung und Beteiligung<br />

der Arbeitnehmer,<br />

– das Recht auf Tarifverhandlungsfreiheit,<br />

– das Recht auf eine berufliche Grundausbildung<br />

und auf Weiterbildung sowie auf Berufsberatung,<br />

– das Recht auf sozialen Schutz und eine Altersrente,<br />

– das Recht auf angemessenen Lohn und finanzielle<br />

Unterstützung für die Arbeitnehmer, die vom<br />

Arbeitsmarkt unverschuldet ausgeschlossen sind,<br />

– das Recht, den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften<br />

anzurufen,<br />

– das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte<br />

innerhalb der Gemeinschaft frei zu wählen.<br />

(Dok.A2–399/88)<br />

Daraufhin hat die Kommission im September 1989<br />

eine (rechtlich unverbindliche) Sozialcharta verabschiedet,dieimDezember1989als„Gemeinschaftscharta<br />

der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer“<br />

gegen das Votum Großbritanniens (1997 korrigiert)<br />

vom Europäischen Rat übernommen wurde, und im<br />

November desselben Jahres ein sozialpolitisches<br />

Aktionsprogramm(Dok.KOM1989/568endg.)vorgelegt.<br />

�Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte,�Sozialpolitik<br />

W. M.<br />

Literatur:<br />

Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): Grundwerte der<br />

Demokratie im internationalen Vergleich. Bonn 1994<br />

Rengeling, H.-W.: Grundrechtsschutz in der EG.<br />

München 1992<br />

GSM �UMTS<br />

GUS (Gemeinschaft Unabhängiger Staaten). LockereGemeinschaftaus12Staaten,nachdemZerfallder<br />

Sowjetunion gegründet am 8. 12. 1991 durch das Abkommen<br />

von Minsk zwischen Russland, der Ukraine<br />

undWeißrussland.Am23.12.1991tratenmitderErklärung<br />

von Alma Ata acht weitere Staaten bei (Armenien,<br />

Aserbaidschan, Kasachstan, Kirgisistan,<br />

Moldawien, Tadschikistan, Turkmenistan, Usbekistan).<br />

Georgien ist 1993 beigetreten. Ihrer „Erklärung<br />

zur Entwicklung von Zusammenarbeit und vertrau-<br />

424<br />

ensbildenden Maßnahmen“ entsprechend werden<br />

die Beziehungen auf der Grundlage von Souveränität,<br />

territorialer Integrität, Vertrauen, Offenheit und<br />

einer gegenseitigen zuträglichen Partnerschaft entwickelt.<br />

Die Zusammenarbeit geschieht in den<br />

GUS-Organen Rat der Staatsoberhäupter, InterparlamentarischeVersammlungundExekutivsekretariat.<br />

Sitz der GUS ist Minsk.<br />

Ein Kooperationsvertrag zwischen den Mitgliedstaaten<br />

von 1993 sieht eine Wirtschaftsunion (mit<br />

Freihandelszone) vor. Sie ist bisher nicht zustande<br />

gekommen. Statt dessen haben einzelne Länder eine<br />

verstärkte Zusammenarbeit vereinbart, so im März<br />

1996 Russland, Weißrussland, Kasachstan und Kirgisistan<br />

als Gemeinschaft Integrierter Staaten (1999<br />

Beitritt Tadschikistans); sie vereinbarten 2000 die<br />

Bildung einer Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft.<br />

Weitere regionale Organisationen der Zusammenarbeit<br />

bildeten 1996 Aserbaidschan, Georgien,<br />

Moldawien und die Ukraine (1999 Beitritt Usbekistans)<br />

und 2002 Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan<br />

und Usbekistan.<br />

Dem Abkommen über gegenseitige Sicherheit und<br />

militärische Zusammenarbeit von 1992 zwischen<br />

Russland, Armenien, Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan<br />

und Usbekistan sind anschließend Aserbaidschan,<br />

Georgien und Weißrussland beigetreten,<br />

1999 sind Aserbaidschan, Georgien und Usbekistan<br />

wieder ausgetreten. Die übrigen GUS-Staaten unterzeichneten<br />

2003 ein Abkommen über die Gründung<br />

einesMilitärpakts. W. M.<br />

Anschrift: Kirava 17, 220000 Minsk, Belarus<br />

Internet: www.cis.minsk.by<br />

Gutachten (nach Art. 300 Abs. 6 EGV). Schließt die<br />

GemeinschaftmitDrittstaatenAbkommengem.Art.<br />

300 EGV, so können das Europäische Parlament, der<br />

Rat, die Kommission oder ein Mitgliedstaat ein Gutachten<br />

des EuGH darüber einholen, ob das Abkommen<br />

mit dem EG-Vertrag vereinbar ist. Das Gutachten<br />

ist verbindlich. Ist es ablehnend, kann das Abkommen<br />

nur nach Ratifizierung in den Mitgliedstaaten<br />

gem. Art. 48 EUV in Kraft treten.<br />

Gute Verwaltung �Kodex für gute Verwaltungspraxis<br />

GVO (Genetisch veränderte Organismen) �Bio- und<br />

Gentechnologie


Haager Gipfelkonferenz 1969 �Gipfel(konferenzen)<br />

Haager Kongress. Veranstaltung der Europäischen<br />

Bewegung in Den Haag (1948) unter Vorsitz<br />

Winston �Churchills, von dem die „Vereinigten<br />

Staaten von <strong>Europa</strong>“ gefordert wurden.<br />

ImDezember1947hattensich(über)nationaleGruppierungen<br />

der <strong>Europa</strong>bewegung (Union Europäischer<br />

Föderalisten, Europäische Liga für wirtschaftliche<br />

Zusammenarbeit, United Europe Movement,<br />

Conseil Français pour l’Europe) unter Vorsitz von<br />

Duncan �Sandys im „Joint International Committee<br />

for European Unity“ vereint, das als erste Aktion den<br />

Haager <strong>Europa</strong>-Kongress veranstaltete. Daran nahmen<br />

mehr als 700 Politiker aus westeuropäischen<br />

Ländern teil (die sozialistischen Parteien hatten eine<br />

Teilnahmeverweigert).DerKongressverabschiedete<br />

mehrere Resolutionen zur europäischen Einigung.<br />

In Paris und London wurden ständige Sekretariate<br />

eingerichtet, die an der Verwirklichung der Forderungen<br />

des Haager Kongresses mitwirkten. Der erste<br />

SchrittgelangmitderErrichtungdes�<strong>Europa</strong>rats.<br />

W. M.<br />

Haager Programm �Einwanderungspolitik der EU<br />

Ziff. 3<br />

Haftbefehl �Europäischer Haftbefehl<br />

Haftung �Amtshaftung, �Staatshaftung<br />

Hallstein, Walter (1901 – 1982), deutscher Rechtsprofessor<br />

und Politiker, Staatssekretär im Bundeskanzleramt<br />

(1950 – 1951) und im Auswärtigen Amt<br />

(1951 – 1957).VertratinderDeutschlandpolitikden<br />

völkerrechtlichen Alleinvertretungsanspruch der<br />

Bundesrepublik Deutschland (Hallstein-Doktrin).<br />

Er wurde 1951 von Adenauer als Verhandlungsführer<br />

der deutschen Delegation bei den Beratungen<br />

über den Schumanplan (Vorbereitung der EGKS)<br />

beauftragt. 1958 – 1967 erster Präsident der EWG-<br />

Kommission, 1968 – 1974 Präsident der �Europäischen<br />

Bewegung.<br />

H<br />

Harmonisierter Verbraucherpreisindex<br />

Handelsabkommen �Abkommen<br />

Handelspolitik, gemeinsame �Außenhandelspolitik<br />

Hänsch, Klaus (geb. 1938), deutscher Politiker, seit<br />

1979 Mitglied des Europäischen Parlaments (Fraktion<br />

der Sozialdemokratischen Partei <strong>Europa</strong>s); 1994<br />

– 1997 Präsident des Parlaments, 2002 – 2003 Mitglied<br />

im Präsidium des „Konvents zur Zukunft <strong>Europa</strong>s“<br />

(Verfassungskonvent).<br />

Harmonisierung.AbstimmungderPolitikeninnerhalb<br />

der Europäischen Union, insbes. von wirtschaftspolitischen<br />

Maßnahmen, Rechts- und Verwaltungsvorschriften<br />

(z. B. Steuern) mit dem Ziel,<br />

eine gemeinsame Entwicklung zu gewährleisten und<br />

Störungen im Binnenmarkt zu vermeiden. Sie unterliegt<br />

der Gestaltungsfreiheit der Mitgliedstaaten und<br />

greiftwenigertiefinderennationaleRegelungenund<br />

Verhältnisse ein als vertraglich festgelegte Vereinheitlichungen.<br />

Harmonisierter Verbraucherpreisindex (HVPI).<br />

DasProtokollNr.12(EGV)überdieKonvergenzkriterien<br />

nach Art. 121 EGV verlangt die Messung der<br />

Inflation anhand des Verbraucherpreisindexes auf<br />

vergleichbarer Grundlage unter Berücksichtigung<br />

der unterschiedlichen Definitionen in den einzelnen<br />

Mitgliedstaaten (Art. 1 des Protokolls). Um die Veränderungen<br />

der Lebenshaltungskosten in den<br />

EU-Staaten einheitlich erfassen zu können, wird seit<br />

1997 ein Harmonisierter Verbraucherpreisindex<br />

(HVPI) verwendet. Ihm liegt ein vereinheitlichter<br />

Warenkorb zugrunde, damit nationale Besonderheitenweitgehendausgeschaltetwerdenundeinegrößtmögliche<br />

Vergleichbarkeit der Werte erreicht wird.<br />

Die Statistischen Ämter der Mitgliedstaaten ermitteln<br />

den HVPI für ihr Gebiet monatlich und liefern<br />

die Daten an �eurostat, das daraus die Vergleichstabelle<br />

der EU-Staaten erstellt und den Durchschnittwert<br />

der Inflationsrate errechnet. Dieser ist wichtigster<br />

Indikator der Inflation für geldpolitische Entscheidungen<br />

des �ESZB.<br />

425


Haushalt<br />

Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt<br />

(HABM), durch Rechtsakt der EG errichtete öffentlich-rechtliche<br />

europäische Einrichtung mit eigener<br />

Rechtspersönlichkeit und eigenem Haushalt<br />

(�Agenturen). Es ist zuständig für die Eintragung<br />

von �Geschmacksmustern, Marken und Modellen,<br />

die EU-weit gültig sind sowie für die Verwaltung der<br />

entsprechenden Rechte. Grundlagen der Tätigkeit<br />

sind die Verordnungen 40/94 des Rates über Gemeinschaftsmarken<br />

(ABl. L 245/1994) und 6/2002<br />

über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster (ABl. L<br />

3/2002) sowie die entsprechenden Durchführungsverordnungen<br />

der Kommission und die Verordnungen<br />

der Kommission über die zu entrichtenden Gebühren.<br />

Das HABM wurde 1995 gegründet zur Förderung<br />

und Verwaltung des gemeinschaftlichen Markensystems,<br />

seit 6. 3. 2002 ist es auch zuständig für die<br />

Eintragung von Gemeinschaftsgeschmacksmustern<br />

und die Verwaltung der Schutzrechte. Das Amt verwaltete<br />

Ende 2004 rd. 411 000 angemeldete Gemeinschaftsmarken<br />

und 23 270 angemeldete Gemeinschaftsgeschmacksmuster.<br />

Da die EG dem Protokoll von 1989 zum Madrider<br />

Markenabkommen von 1891 beigetreten ist, ist das<br />

HABMseit1.10.2004außerdemzuständigfürinternationale<br />

Marken, die eine Schutzausdehnung auf<br />

den Bereich des Binnenmarktes anmelden.<br />

Anschrift: HABM, Avenida de <strong>Europa</strong> 4, E–03008 Alicante.<br />

Internet: www.oami.eu.int<br />

Haushalt der Europäischen Union<br />

1. Haushaltsgrundsätze: Alle Einnahmen und Ausgaben<br />

der Union werden für jedes Haushaltsjahr veranschlagt<br />

und in den Haushaltsplan eingesetzt. Der<br />

Haushaltsplan ist in Einnahmen und Ausgaben auszugleichen.<br />

Der Haushaltsplan wird entsprechend<br />

demGrundsatzderWirtschaftlichkeitderHaushaltsführung<br />

ausgeführt.<br />

Entsprechend Art. 272 EGV (Art. III-404 VVE<br />

2004) erlassen das EP und der Ministerrat auf Vorschlag<br />

der Kommission gemäß dem regulierten<br />

Haushaltsverfahren den Haushaltsplan (nach Inkrafttreten<br />

des �Verfassungsvertrags das Europäische<br />

Gesetz zur Feststellung des jährlichen Haushaltsplanes<br />

der Union).<br />

Die Union unterscheidet im Bereich der Ausgaben<br />

zwischen Verpflichtungsermächtigungen und Zahlungsermächtigungen.<br />

Zahlungsermächtigungen<br />

sind die Ausgabenbeträge, die aufgrund der Ver-<br />

426<br />

pflichtungsermächtigungen aus dem gleichen Jahr<br />

oder aus früheren Jahren tatsächlich ausgegeben<br />

werden. Die Verpflichtungsermächtigungen geben<br />

Auskunft über die sich auf mehrere Jahre erstreckenden<br />

Zahlungsverpflichtungen.<br />

2. Finanzielle Vorausschau: Der jährliche Haushalt<br />

ist eingebettet in eine �Finanzielle Vorausschau, die<br />

sich über sieben Jahre erstreckt. 1988 wurde während<br />

einer Finanzkrise der EG unter deutscher Präsidentschaft<br />

das Instrumentarium der Finanziellen<br />

Vorausschau entwickelt. Die Regierungen der Mitgliedstaaten<br />

beschließen auf Vorschlag der Kommission<br />

einstimmig, was der EU an Eigenmitteln zusteht.<br />

Für die Zeit von 2000 bis 2006 galt der Beschluss<br />

des Europäischen Rates in Berlin von 1999.<br />

Die Eigenmittelobergrenze wurde auf 1,27 % des<br />

BIP bzw. 1,24 % des BNE aller Mitgliedstaaten festgelegt<br />

(�Finanzielle Vorausschau). Neben der Finanziellen<br />

Vorausschau umfasste die �Agenda 2000<br />

die Strategien zur Erweiterung der Union sowie die<br />

Reform der �Gemeinsamen Agrarpolitik und der<br />

EU-�Strukturfonds.<br />

3. Haushaltsstruktur<br />

3.1 Einnahmen der EU: Die politische Handlungsfähigkeit<br />

der Union ist an ihr Finanzsystem gekoppelt.<br />

Bis 1970 wurde der Haushaltsplan der Gemeinschaft<br />

aus Beiträgen der Mitgliedstaaten finanziert (�Finanzbeiträge).<br />

Nach der Vollendung der �Zollunion<br />

(1970) wurde die Finanzierung der EG stufenweise<br />

auf �Eigenmittel umgestellt. Grundlage ist der Beschluss<br />

des Rates über die Ersetzung der FinanzbeiträgederMitgliedstaatendurcheigeneMittelderGemeinschaften,deram7.1.1971inKrafttrat.Ineinem<br />

mehrstufigen Plan wurde die Finanzierung der EG<br />

aus Eigenmitteln bis zum 1. 1. 1980 vollzogen. In der<br />

Folge wurde das Eigenmittelsystem erheblich weiterentwickelt.<br />

Der Haushalt der Union wird unbeschadet<br />

der sonstigen Einnahmen vollständig aus Eigenmittelnfinanziert(Art.269EGVbzw.I-54VVE).<br />

Zu den Eigenmitteln zählen:<br />

– Traditionelle Eigenmittel (TEM): Alle Zölle und<br />

Abgaben, die bei der Einfuhr von Gütern aus Drittländern<br />

erhoben werden (z. B. �Abschöpfungen bei<br />

Agrarprodukten); ferner eine festgesetzte Abgabe<br />

für Zucker und Isoglukose, die in der Union hergestellt<br />

werden.<br />

– Mehrwertsteuereinnahmen (bis zu 1,0 % des Steueraufkommens<br />

der EU-Staaten) nach einer einheitlichen<br />

Bemessungsgrundlage.


– Ein Anteil am BIP bzw. BNE der Mitgliedstaaten<br />

(max. 1,27 % des BIP, 1,24 % des BNE).<br />

Die TEM verlieren durch die Agrarreform und die<br />

Handelsliberalisierungen bei den Zöllen im Rahmen<br />

der Welthandelsorganisation (�WTO) immer mehr<br />

an Bedeutung. Ihr Anteil sinkt kontinuierlich; er betrug<br />

1988 noch 29,1 % und nähert sich gegenwärtig<br />

der 10-Prozent-Marke an (vgl. Tab. S. 170).<br />

Rückläufig sind auch die Mehrwertsteuer-Eigenmittel<br />

(1988 60 %; 2004 rd. 39 %, 2005 rd. 15 %).<br />

Dementsprechend ist der Anteil am BIP der Mitgliedstaaten<br />

gestiegen (1988 10,9 %; 2004 rd. 50 %,<br />

2005rd.73%).DierückläufigeEntwicklungdesAnteils<br />

der Mehrwertsteuer-Eigenmittel ist Folge der<br />

Begrenzung der Bemessungsgrundlage der Mitgliedstaaten<br />

auf 50 % ihres BIP (Kappungssatz von<br />

50 %).<br />

ZusätzlichzudenEigenmittelnfließendemHaushalt<br />

noch sonstige Einnahmen zu. Es sind dies Geldbußen,<br />

Einnahmen aus der Verwaltungstätigkeit der<br />

Union, Beiträge im Rahmen des EWR, Verzugszinsen<br />

und Erträge aus der Steuer auf die Gehälter des<br />

Personals der Unionsorgane. Diese Einnahmen belaufen<br />

sich unter 1 % aller verfügbaren Haushaltsmittel.<br />

Im Gegensatz zu den Mitgliedstaaten besitzt die<br />

Union nicht die Möglichkeit der Kreditfinanzierung.<br />

DieObergrenzefürdieEigenmittelderUnionwirdin<br />

einem Europäischen Gesetz des Ministerrates festgelegt.<br />

Der Ministerrat beschließt einstimmig nach<br />

Anhörung des EP. Das Gesetz tritt erst dann in Kraft,<br />

wenn es von den Parlamenten der Mitgliedstaaten ratifiziert<br />

wurde (Art. 269 EGV bzw. Art. I-54 VVE<br />

2004). Neue Aufgaben der EU, die mit Ausgaben<br />

verbunden sind, können daher nur im Rahmen der<br />

von den EU-Staaten gebilligten Eigenmittel oder<br />

durch Einsparungen bei anderen Haushaltsstellen<br />

(Umschichtungen) bewerkstelligt werden.<br />

Die Eigenmittel der EU werden von den MitgliedstaatenerhobenundandieEUabgeführt.DieEUverfügtdanebenunmittelbarüberkleineEinnahmequellen<br />

wie Steuereinnahmen aus den EU-Beamtengehältern<br />

oder Einnahmen aus EU-Leistungen.<br />

3.2AusgabenderEU:DerHaushaltunterscheidetim<br />

Bereich der Ausgaben Verpflichtungsermächtigungen<br />

von Zahlungsermächtigungen. Zahlungsermächtigungen<br />

sind unmittelbar kassenwirksam<br />

(2005 = 106,3 Mrd. Euro). Es sind die Beträge, die<br />

aufgrund der Verpflichtungsermächtigungen (2005:<br />

Haushalt<br />

116,6 Mrd. Euro) im Haushaltsjahr tatsächlich ausgegeben<br />

werden können. Die Summe der VerpflichtungsermächtigungengibtAuskunftüberdiesichauf<br />

mehrere Jahre erstreckenden Zahlungsverpflichtungen.<br />

Die Ausgabenstruktur des Haushalts beinhaltet<br />

– Verwaltungsausgaben der EU (Institutionen),<br />

– operationelle Ausgaben (Landwirtschaft und<br />

Strukturfonds),<br />

– interne und externe Politikbereiche und<br />

– die Finanzreserve.<br />

Die Ausgaben im Haushalt sind ein Spiegelbild der<br />

Zuständigkeitsbereiche der Union.<br />

Es dominieren die Kosten der Landwirtschaft mit<br />

46,2 % (49,1 Mrd. Euro). Darin sind strukturfördernde<br />

Ausgaben für den ländlichen Raum in Höhe von<br />

10,8 Mrd. Euro enthalten. Die Abteilung Garantie<br />

des EAGFL umfasst also 38,3 Mrd. Euro (36,1 %).<br />

Für Strukturmaßnahmen stehen 32,4 Mrd. Euro<br />

(30,5 %) zur Verfügung, zusammen mit den Mitteln<br />

aus der Abteilung Ausgleich des EAGFL 43,2 Mrd.<br />

Euro(40,6%).DieinternenPolitikbereichehabeneinen<br />

Anteil von 7,9 Mrd. Euro (7,5 %) am Budget. Für<br />

die Außenbeziehungen stehen 5,5 Mrd. Euro (5,2 %)<br />

zur Verfügung.<br />

Die Verwaltungsausgaben betragen etwa 6%und<br />

liegen damit bei internationalen Vergleichen im Mittelfeld.<br />

Die Reserven betragen 0,5 %.<br />

Das Ausgabevolumen (Zahlungsermächtigungen)<br />

beträgt für das Haushaltsjahr 2005 mit 106,3 Mrd.<br />

Euro 0,99 % des BNE der EU-25.<br />

3.3 Haushaltsvollzug und Haushaltskontrolle: Die<br />

Kommission führt den Haushaltsplan zusammen mit<br />

den Mitgliedstaaten in eigener Verantwortung und<br />

im Rahmen der zugewiesenen Mittel entsprechend<br />

demGrundsatzderWirtschaftlichkeitderHaushaltsführung<br />

aus.<br />

Kontrollierende Instanz ist der Europäische Rechnungshof.SeineHauptaufgabebestehtdarin,dieeinwandfreie<br />

Ausführung des Haushaltsplanes – also<br />

die Recht- und Ordnungsmäßigkeit ihrer Einnahmen<br />

und Ausgaben – zu kontrollieren und die Wirtschaftlichkeit<br />

der Haushaltsführung zu gewährleisten.<br />

Die Kommission legt dem EP und dem Ministerrat<br />

die Jahresrechnung des abgelaufenen Haushaltsjahres<br />

vor. Auf Empfehlung des Ministerrates erteilt das<br />

EP der Kommission Entlastung zur Ausführung des<br />

Haushaltsplanes. Zur Prüfung wird der Jahresbericht<br />

des Rechnungshofs berücksichtigt.<br />

427


Haushalt<br />

Entsprechend Art. 280 EGV (Art. III-415 VVE<br />

2004) bekämpfen die Union und die Mitgliedstaaten<br />

Betrug und sonstige gegen die finanziellen Interessen<br />

der Union gerichtete rechtswidrige Handlungen.<br />

Mit dem Amt für Betrugsbekämpfung �OLAF.<br />

(Office de la Lutte Anti-Fraude) hat die Union seit<br />

1999 ein wirksames Instrument.<br />

4. Fazit: Der EU-Haushalt unterscheidet sich grundlegenddurchseineGrößenordnungundseineAusgabenstruktur<br />

von den einzelstaatlichen Haushaltsplänen.<br />

Sieht man von den Ausgabenbereichen Landwirtschaft<br />

und den externen Politikbereichen ab, erscheint<br />

der EU-Haushalt hauptsächlich als Investitionshaushalt,<br />

der zur Stärkung des Wirtschaftspotenzials<br />

der Union beiträgt. Er begleitet ihre EntwicklungunddieneuenAufgaben,diesichdarausergeben.<br />

Sein Hauptmerkmal ist daher ein ständiger<br />

(kontrollierter)Anstieg,dersichraschervollziehtals<br />

im Falle einzelstaatlicher Pläne. Dagegen darf nicht<br />

übersehen werden, dass die Übernahme neuer Aufgaben<br />

durch den EU-Haushalt die Finanzen der Mitgliedstaaten<br />

entsprechend entlastet. Bei zwei Dritteln<br />

der aus dem EU-Haushalt finanzierten Ausgaben<br />

handelt es sich um Aufgaben, die die Mitgliedstaaten<br />

bei Ausbleiben einer Unionsintervention<br />

428<br />

Gesamtausgaben<br />

Agrarpolitik ( EAGFL)<br />

Strukturpolitik<br />

Interne Politik<br />

Externe Politik<br />

Verwaltung,<br />

Sonstiges**<br />

übernehmen müssten. Die Kommission hat als Ziel<br />

bis 2013 1,14 % des BIP vorgegeben (�Finanzielle<br />

Vorausschau 2007 – 2013, Vorschläge der Kommission).<br />

Der europäische Verteilungskampf um das<br />

Geld (Höhe des Haushalts und Belastungen für die<br />

Mitgliedstaaten) ist struktureller Bestandteil der<br />

EU-Finanzverfassung. Die nationalen Ziele müssen<br />

immer wieder neu mit den Unionszielen ausbalanciert<br />

werden.<br />

Offen ausgebrochen ist der Konflikt beim gescheiterten<br />

EU-Gipfel in Brüssel im Juni 2005. Eine Einigung<br />

auf die Finanzielle Vorausschau 2007 – 2013<br />

kam nicht zustande. Konfliktlinien waren die Forderungen<br />

von Mitgliedstaaten einer Begrenzung des<br />

EU-Gesamthaushalts auf 1,00 % des BIP, der Beitragsrabatt<br />

für Großbritannien (�Ausgleichsmechanismus)<br />

und die Reduktion der landwirtschaftlichen<br />

EU-Beihilfen. Der Gipfel scheiterte am fehlenden<br />

Willen und der allzu geringen Beweglichkeit einzelner<br />

Mitgliedstaaten (insb. Frankreichs, Großbritanniens,<br />

der Niederlande, Spaniens) und zeigte die<br />

strukturellen Schwierigkeiten der EU-Mittelverteilung,<br />

die ohne ein gemeinsames Maß an Solidarität<br />

und Kompromissfähigkeit nicht zu beheben sind.<br />

(�FinanzielleVorausschau) L. U.<br />

Haushaltsausgaben der Europäischen Gemeinschaften 1960 – 2005<br />

(in Mio. RE / ERE / ECU / Euro*)<br />

1960<br />

28,3<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–<br />

23,4<br />

4,9<br />

1970<br />

5 448,4<br />

5 228,3<br />

64,0<br />

–<br />

–<br />

114,7<br />

41,4<br />

1980<br />

16 057,1<br />

11 596,1<br />

1 253,8<br />

212,8<br />

–<br />

938,3<br />

2 056,1<br />

1990<br />

46 604,6<br />

27 233,8<br />

7 766,1<br />

1 738,7<br />

–<br />

2 298,1<br />

7 567,9<br />

2000<br />

92 915,8<br />

37 023,4<br />

39 522,9<br />

6 312,8<br />

3 612,6<br />

3 288,4<br />

1 699,4<br />

* RE (=Rechnungseinheit) bis 1970; ERE 1980; ECU 1990; Euro ab 2000<br />

** 1990 einschl. externe Politik; ab 2000 hauptsächl. Heranführungshilfe, 2005 einschl. Zahlungsausgleich<br />

Quellen: Kommission der EG, Amtsblatt der EG versch. Ausgaben, für 2005 Abl. L 60/2005<br />

in Mio. Euro*<br />

in % des Gesamthaushalts<br />

Entwicklung der Ausgaben des EAGFL, Abt. Garantie, 1975 – 2005<br />

1975<br />

4 336,4<br />

70,5<br />

1980<br />

11 485,5<br />

71,5<br />

1985<br />

19 859,0<br />

* 1975: RE; 1980: ERE; 1990 ECU; ab 2000 Euro<br />

Quelle: Kommission der EG, div. Gesamtberichte; Amtsblatt der EU, versch. Ausgaben, für 2005 Abl. L 60/2005<br />

69,8<br />

1990<br />

26 522,0<br />

56,9<br />

2000<br />

37 023,4<br />

39,8<br />

2005<br />

106 300,0<br />

38 343,4<br />

43 167,5<br />

7 923,8<br />

5 476,2<br />

6 351,2<br />

4 691,9<br />

2005<br />

38 343,4<br />

36,1


Literatur:<br />

Biehl, D./Pfennig, G. (Hg.): Zur Reform der EG-Finanzverfassung.<br />

Bonn 1990<br />

Folkers, C.: Die Funktion des Europäischen Haushaltes im<br />

Integrationsprozess. In: Eckey, H. F. u.a. (Hg.): Ordnungspolitik.<br />

Stuttgart 2001<br />

Kommission der EU (Hg.): Finanzierung der Europäischen<br />

Union. Bericht der Kommission über das Funktionieren des<br />

Eigenmittelsystems. Band I und II. KOM (2004) 505.<br />

Brüssel 2004<br />

Dies. (Hg.): Finanzielle Vorausschau 2007-2013.<br />

KOM (2004) 487. Brüssel 2004<br />

Lenzen, J.: Der EU-Haushalt. In: <strong>Europa</strong>recht 2/1996,<br />

S. 214 –224<br />

Theato, D. R./Graf, R.: Das Europäische Parlament und der<br />

Haushalt der Europäischen Gemeinschaft. Baden-Baden 1994<br />

Haushaltsdisziplin muss die Kommission gem.<br />

Art. 270 EGV wahren, indem sie im Rahmen ihres<br />

�Initiativrechts keine �Vorschläge für �Rechtsakte<br />

der Gemeinschaft vorlegt oder vorgelegte ändert<br />

oder zu verabschiedeten Rechtsakten Durchführungsmaßnahmen<br />

erlässt, deren Finanzierung aus<br />

den �Eigenmitteln der Gemeinschaft nicht gedeckt<br />

ist.<br />

Die Mitgliedstaaten müssen gem. Art. 104 EGV<br />

Haushaltsdisziplin wahren, indem sie übermäßige<br />

öffentliche Defizite vermeiden.<br />

Haushaltsordnung. Der Rat legt gem. Art. 279<br />

EGV einstimmig (ab 1. 1. 2007 mit qualifizierter<br />

Mehrheit) nach Vorschlag der Kommission und Anhörung<br />

des Parlaments die Haushaltsordnung fest.<br />

Der Rechnungshof wird zu einer Stellungnahme aufgefordert.<br />

Die Haushaltsordnung legt die Aufstellung und Ausführung<br />

des Haushaltsplans sowie die Rechnungslegung<br />

und Rechnungsprüfung im Einzelnen fest. Zurzeit<br />

gültig ist die Verordnung 1605/2002 (ABl. L<br />

248/2002).<br />

Die Haushaltsordnung legt in Teil I, Titel II die<br />

Grundsätze für den Haushalt fest (entsprechend den<br />

Artikeln des Titels II „Finanzvorschriften“ im Fünften<br />

Teil des EGV):<br />

– Grundsatz der Einheit und der Haushaltswahrheit:<br />

Der Haushaltsplan muss sämtliche Einnahmen und<br />

Ausgaben der Gemeinschaften enthalten;<br />

– Grundsatz der Jährlichkeit: Die im Haushaltsplan<br />

ausgewiesenen Mittel werden für ein Haushaltsjahr<br />

bewilligt, das am 1. Januar beginnt und am 31. Dezember<br />

endet;<br />

– Grundsatz des Haushaltsausgleichs: Der Haushalt<br />

Haushaltsverfahren<br />

ist in Einnahmen und Ausgaben auszugleichen, ein<br />

positiver oder negativer Saldo wird in den Plan des<br />

folgenden Haushaltsjahrs übertragen;<br />

– Grundsatz der Rechnungseinheit: Aufstellung,<br />

Vollzug und Rechnungslegung erfolgen in Euro;<br />

– Grundsatz der Gesamtdeckung: Alle Einnahmen<br />

gelten als Deckungsmittel für Zahlungsermächtigungen;<br />

– Grundsatz der Spezialität: Die Aufstellung der<br />

Mittel wird nach Titeln und Kapiteln sachlich gegliedert,<br />

die Kapitel können in Artikel und Posten untergliedert<br />

werden; die Organe können innerhalb ihrer<br />

Einzelpläne bis zu 10 % der Mittelansätze von Titel<br />

zu Titel verschieben;<br />

– Grundsatz der Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung:<br />

Die Mittel sind sparsam, wirtschaftlich und<br />

wirksam zu verwenden;<br />

– Grundsatz der Transparenz: Der Haushaltsplan<br />

und alle Berichtigungshaushaltspläne werden im<br />

Amtsblatt veröffentlicht.<br />

InTitelIIIderHaushaltsordnungwerdendieBestimmungen<br />

für Aufstellung und Gliederung des Haushaltsplans<br />

festgelegt.<br />

Titel IV enthält die Bestimmungen für den Haushaltsvollzug,<br />

Titel V für die öffentliche Auftragsvergabe,<br />

Titel VI über die Finanzhilfen, Titel VII über<br />

Rechnungslegung und Rechnungsführung, Titel<br />

VIII über externe Kontrolle und Entlastung.<br />

Haushaltsverfahren. Das Haushaltsverfahren ist<br />

wesentlicher Bestandteil der Finanzvorschriften der<br />

Union (Art. 272 EGV). Die Bestimmungen des<br />

EG-Vertrages finden sich modifiziert in Art. III-404<br />

des �Verfassungsvertrags 2004 wieder. Der Jahreshaushaltsplan<br />

der Union wird durch ein Verfahren<br />

festgestellt, das klar geregelt ist.<br />

1. Phasen des Haushaltsverfahrens<br />

Phase I: Das Haushaltsverfahren wird damit eröffnet,<br />

dass jedes Organ der Union vor dem 1. Juli einen<br />

Haushaltsvoranschlag für seine Ausgaben aufstellt.<br />

Die Kommission fasst diese Voranschläge in einem<br />

Entwurf für den Haushaltsplan zusammen. Sie fügt<br />

eine Stellungnahme bei, die abweichende Vorschläge<br />

enthalten kann.<br />

Die Kommission legt dem Parlament und dem Ministerrat<br />

den Entwurf (spätestens zum 1. September)<br />

vor. Der Ministerrat legt seinen Standpunkt zu dem<br />

Entwurf fest und leitet ihn spätestens am 1. Oktober<br />

dem EP zu.<br />

429


Helsinki-Prozess<br />

Phase II: Hat das EP binnen 42 Tagen nach der Übermittlung<br />

den Standpunkt des Ministerrates gebilligt<br />

oder keinen Beschluss gefasst, so gilt das Europäische<br />

Haushaltsgesetz als erlassen. Hat das EP mit der<br />

absolutenMehrheitseinerMitgliederAbänderungen<br />

vorgeschlagen, so wird die abgeänderte Fassung<br />

dem Ministerrat und der Kommission zugeleitet.<br />

Die Präsidenten des EP und des Ministerrates berufen<br />

umgehend den Vermittlungsausschuss ein. Er<br />

tritt jedoch nicht zusammen, falls der Ministerrat<br />

dem EP binnen zehn Tagen mitteilt, dass er alle seine<br />

Abänderungen billigt.<br />

Der Vermittlungsausschuss hat die Aufgabe, binnen<br />

21 Tagen nach seiner Einberufung eine Einigung<br />

über einen gemeinsamen Entwurf zu erzielen. Die<br />

Kommission nimmt an den Arbeiten des Vermittlungsausschusses<br />

teil und unterstützt das gemeinsame<br />

Wirken.<br />

Phase III: Billigt der Vermittlungsausschuss innerhalb<br />

der Frist von 21 Tagen einen gemeinsamen Entwurf,sohabenEPundMinisterratabdemTagderEinigung<br />

14 Tage Zeit, den Entwurf anzunehmen. Der<br />

Ministerrat beschließt mit qualifizierter Mehrheit,<br />

dasEPmitderMehrheitderabgegebenenStimmen.<br />

Für den Fall, dass der Vermittlungsausschuss innerhalb<br />

der 21 Tagen keinen gemeinsamen Entwurf billigt<br />

oder der Ministerrat den gemeinsamen Entwurf<br />

ablehnt, so kann das EP binnen 14 Tagen mit der<br />

Mehrheit seiner Mitglieder und mit drei Fünftel der<br />

abgegebenen Stimmen beschließen, seine Abänderungen<br />

zu bestätigen.<br />

BestätigtdasEPeineseinerAbänderungennicht,gilt<br />

der Standpunkt des Ministerrates zu dem Haushaltsposten,<br />

der abgeändert wurde, als angenommen.<br />

Lehnt das EP den gemeinsamen Entwurf mit der<br />

Mehrheit seiner Mitglieder und mit drei Fünftel der<br />

abgegebenenStimmenab,sokannesverlangen,dass<br />

ein neuer Haushaltsentwurf unterbreitet wird (Globalablehnungsverfahren).<br />

Nach Abschluss des Verfahrens<br />

stellt der Präsident des EP fest, dass das<br />

Haushaltsgesetz endgültig verabschiedet ist.<br />

2. Nothaushaltsrecht: Ist zu Beginn eines Haushaltsjahres<br />

der Haushaltsplan noch nicht verabschiedet,<br />

so greift das Nothaushaltsrecht (Art. 273 EGV bzw.<br />

Art. III-405 VVE). Nach dem System der „provisorischen<br />

Zwölftel“ können für jeden Haushaltstitel monatliche<br />

Ausgaben bis zur Höhe eines Zwölftels der<br />

im abgelaufenen Haushaltsjahr bereitgestellten Mittel<br />

vorgenommen werden.<br />

430<br />

3. Haushaltsordnung: Aufstellung und Verfahren<br />

des Haushaltplanes sowie die Rechnungslegung und<br />

Rechnungsprüfung werden in einer �Haushaltsordnung<br />

(Art. 279 EGV bzw. Art. III-412 VVE) geregelt.<br />

Bis zum Ende 2006 beschließt der Ministerrat<br />

über die Haushaltsordnung einstimmig nach Anhörung<br />

des Europäischen Rechnungshofes, ab 1. 1.<br />

2007mitqualifizierterMehrheit. L. U.<br />

Literatur:<br />

Vedder, C. (Hg.): EU-Verfassung. Baden-Baden 2005<br />

Helsinki-Prozess �Europäische Sicherheits- und<br />

Verteidigungspolitik (ESVP)<br />

Heranführungshilfen für Beitrittsländer. Dazu gehörte<br />

ab 1994 die Neuausrichtung des �PHARE-<br />

Programms auf den Beitritt (jährlich 1,5 Mrd. Euro,<br />

30 % des Finanzrahmens zur Verstärkung der KapazitätenindenBereichenVerwaltungundJustiz;70%<br />

fürInvestitionenzurÜbernahmeundUmsetzungdes<br />

�acquis communautaire). Neben dem PHARE-Programm<br />

wurden ab 2000 als weitere Finanzinstrumente<br />

eine Heranführungshilfe für die Landwirtschaft<br />

(�SAPARD) in Höhe von 520 Mio. Euro jährlichunddasstrukturpolitischeInstrumentzurVorbereitung<br />

auf den Beitritt (�ISPA) mit einem Budget in<br />

Höhe von 1 040 Mio. Euro jährlich eingerichtet. Die<br />

ISPA-Mittel wurden ähnlich eingesetzt wie in der<br />

EU die Mittel des �Kohäsionsfonds.<br />

Im Dezember 2002 einigte sich der Europäische Rat<br />

in Kopenhagen auf einen gemeinsamen FinanzrahmenfürdieErweiterunginHöhevon40,9Mrd.Euro.<br />

�Heranführungsstrategie<br />

Heranführungsstrategie. Der Europäische Rat in<br />

Essen beschloss im Dezember 1994 eine Heranführungsstrategie<br />

(„Pre-accession strategy“), welche<br />

die beitrittswilligen Staaten Mittel- und Osteuropas<br />

schrittweise „auf ihre Eingliederung in den Binnenmarkt“<br />

durch stufenweise Übernahme der Regelungen<br />

der Union vorbereiten sollte. Das 1995 vorgelegte<br />

Weißbuch „Vorbereitung der assoziierten Staaten<br />

Mittel- und Osteuropas auf die Integration in den<br />

Binnenmarkt der Union“ sollte als Leitfaden den Assoziationspartnern<br />

bei der Angleichung der Rechtsvorschriften<br />

helfen. Neben den Assoziationsabkommen<br />

(�<strong>Europa</strong>abkommen) sollte der �Strukturierte<br />

Dialog ein Kernelement der Heranführungsstrategie<br />

(�Osterweiterung Ziff. 4.1) sein.


Im Juli 1997 legte die Kommission mit der „Agenda<br />

2000“ den Vorschlag für eine intensivierte Strategie<br />

zur Vorbereitung der EU auf die Erweiterung vor.<br />

DerweitgehendunwirksamgebliebeneStrukturierte<br />

Dialog sollte durch die multilaterale �<strong>Europa</strong>konferenzersetztwerden.ImDezember1977hatderEuropäische<br />

Rat in Luxemburg beschlossen, den 10<br />

�MOE-Staaten diese verstärkte Heranführungsstrategie<br />

anzubieten, deren Schwerpunkt neben den <strong>Europa</strong>abkommen<br />

die Beitrittspartnerschaften und die<br />

Teilnahme an Programmen, Agenturen und Ausschüssen<br />

der EU waren. 1997 wurde auch eine Heranführungsstrategie<br />

für das wirtschaftlich weiter<br />

entwickelte Zypern angenommen, 1998 eine für<br />

Malta.<br />

Im Rahmen von „Twinning-Partnerschaften“ wurden<br />

Experten aus Ministerien der EU-Mitgliedstaaten,<br />

regionalen Körperschaften oder öffentlichen<br />

Agenturen in die Institutionen der Beitrittsländer<br />

entsandt, um sie bei der Übernahme des �acquis<br />

communautaire zu beraten.<br />

Die EU richtete erstmals im März 1998 eine „<strong>Europa</strong>-Konferenz“<br />

ein, bei der die Staats- und Regierungschefs<br />

der EU bzw. die Außenminister mit ihren<br />

Kollegen aus den assoziierten und an einem Beitritt<br />

interessierten Staaten einen Dialog führten. Da die<br />

Türkei sich zunächst weigerte, daran teilzunehmen,<br />

hatten auch die „<strong>Europa</strong>-Konferenzen“ nur begrenztenErfolg.FürdieTürkeiwurde1999eineHeranführungsstrategie<br />

angenommen.<br />

Nach dem Beitritt von 8 MOE-Staaten am 1. 5. 2004<br />

läuft die Heranführungsstrategie für Bulgarien und<br />

Rumänien weiter. Im Oktober 2004 hat die Kommission<br />

eine Heranführungsstrategie für Kroatien vorgelegt.<br />

�Heranführungshilfe, �Osterweiterung Ziff.<br />

4 ff.<br />

Hercule ist ein Aktionsprogramm, mit dem die EU<br />

Maßnahmen fördert, die zum Schutz ihrer finanziellen<br />

Interessen beitragen (Beschluss 804/2004 des EP<br />

unddesRats,ABl.L143/2004).Esrichtetsichvorallem<br />

an Verwaltungsbehörden, Universitäten und gemeinnützige<br />

Einrichtungen. Gefördert werden u. a.<br />

der Austausch von Fachpersonal, von wissenschaftlichen<br />

Kenntnissen, die Schulung in Seminaren, die<br />

Entwicklung spezieller EDV-Hilfsmittel. Laufzeit<br />

1. 1. 2004 bis 31. 12. 2006.<br />

Herkunftslandprinzip �Ursprungslandprinzip<br />

Hoheitsrechte<br />

Hertensteiner Programm. Am 21. 9. 1946 von Föderalisten<br />

aus ganz <strong>Europa</strong> bei einem Treffen in Hertenstein<br />

(Vierwaldstätter See) verabschiedetes<br />

12-Punkte-Programm zur Verwirklichung einer föderativ<br />

aufgebauten Europäischen Union. Die Mitgliedstaaten<br />

sollten einen Teil ihrer Souveränitätsrechte<br />

an die Föderation abtreten. Die Union sollte<br />

dieUnversehrtheitdesGebietessichernunddieVielfalt<br />

ihrer Völker bewahren. Das Hertensteiner Programm<br />

ist bis heute Grundsatzprogramm der �<strong>Europa</strong>-Union.<br />

Hippokrates war ein Aktionsprogramm im Bereich<br />

Justiz und Inneres und im Rahmen der europäischen<br />

StrategiezurKriminalprävention(BeschlussdesRates<br />

vom 28. 6. 2001, ABl. L 186/2001). Ziel war es,<br />

die Zusammenarbeit der zuständigen öffentlichen<br />

und privaten Einrichtungen durch Aus- und Fortbildung,<br />

Begegnungen und Seminare zu fördern. Laufzeit:<br />

1. 1. 2001 bis 31. 12. 2002.<br />

Hohe Behörde �Europäische Gemeinschaft für<br />

Kohle und Stahl<br />

Hoheitsgebiete, überseeische �Assoziierung<br />

Hoheitsrechte<br />

1. Grundlagen<br />

1.1 Begriff und Entwicklung: Unter Hoheitsrechten<br />

werden Rechte des Staates und anderer Gebietskörperschaften<br />

verstanden, vermöge derer ihr vorbehaltene<br />

öffentlich-rechtliche Befugnisse gegenüber der<br />

Allgemeinheit und den Bürgern (natürliche und juristische<br />

Personen) zur Wahrnehmung öffentlicher<br />

Aufgaben ausgeübt werden. Hoheitsrechte stehen<br />

der gesetzgebenden, vollziehenden und rechtsprechenden<br />

Gewalt zu.<br />

Der Begriff ist eine Schöpfung der Neuzeit. Ausgehend<br />

von Jean Bodins Theorie der Souveränität (Les<br />

Six Livres de la République, 1576) zielte die EntwicklungderStaatsgewaltaufdieAusbildungderInneren<br />

Souveränität, d. h. der Durchsetzung eines einheitlichen<br />

Staatswillens, der dem inneren Frieden<br />

und der Durchsetzung der Wohlfahrtsinteressen<br />

dient. Kennzeichnendes Merkmal der inneren Souveränität<br />

ist die Befugnis zur einseitigen Bindung<br />

des Bürgers durch den Staat, was dann der Fall ist,<br />

wenn der Souverän seinen Willen auch gegen Widerstand<br />

durchzusetzen vermag. Innere Souveränität<br />

431


Hoheitsrechte<br />

bezeichnet den Inbegriff der staatlichen Herrschaftsrechte,<br />

die Letztentscheidungsgewalt des Staates.<br />

Sie besteht vor allem in der Befugnis zum einseitigen<br />

Erlass von �Rechtsakten, die den Bürger binden.<br />

Nachdem sich die innere Souveränität voll ausgebildet<br />

hatte und die Entwicklung zu einer absoluten<br />

Macht abgeschlossen war, setzte sich die Erkenntnis<br />

durch, dass die Machtfülle des Staates beim Erlass<br />

einseitiger Rechtsakte ohne Mitwirkung und Zustimmung<br />

der Bürger die Gefahr des Missbrauchs in<br />

sich birgt. So entwickelten sich mit Demokratie-,<br />

Rechtsstaatsprinzip und der fortschreitenden Anerkennung<br />

von Grundrechten Instrumente, die die Befugnis<br />

des Staates begrenzen, kanalisieren und<br />

zweckbestimmt an Interessen der Bürger ausrichten.<br />

Zudem wird die einheitliche Staatsgewalt im Rahmen<br />

der Zuständigkeitsordnung der Verfassungsorgane<br />

wieder aufgeteilt („Gewaltenteilung, Gewaltenhemmung,<br />

System der checks and balances“). In<br />

den europäischen und angloamerikanischen Staaten<br />

ist die Ausübung von Hoheitsrechten ohne Demokratie,<br />

Rechtsstaatlichkeit und eine Bindung an<br />

Menschen- und Grundrechte nicht mehr vorstellbar.<br />

Dementsprechend ist der Europäische Gerichtshof –<br />

nach anfänglichen Unsicherheiten – in seiner Rechtsprechung<br />

der gemeineuropäischen VerfassungstraditiongefolgtundhatdieAusübungvonBefugnissen<br />

durch die Organe der Europäischen Gemeinschaften<br />

und die Anwendung des europäischen Rechts an das<br />

Rechtsprinzip und die Grundrechte gebunden. Heute<br />

nehmen auch das �Primärrecht (Art. 6, 49 EUV) und<br />

der Verfassungsvertrag 2004 (Präambel, Art. I-2,<br />

Art. I-9) auf diese gemeineuropäischen Verfassungsprinzipien<br />

und -tradition Bezug.<br />

1.2 Erscheinungsformen: Herkömmlich werden die<br />

Hoheitsrechte(namentlichimVölkerrecht)inPersonal-,<br />

Gebiets- und Organisationshoheit unterteilt.<br />

1.2.1 Personalhoheit: Die Personalhoheit bezeichnet<br />

das Recht des Staates, seine Staatsangehörigen<br />

sowohl im Inland als auch im Ausland einseitig zu<br />

berechtigen und zu verpflichten. Dazu gehören z. B.<br />

das Recht des Heimatstaates, Wehrpflichtige oder in<br />

Spannungsgebieten befindliche Bürger aus dem<br />

Ausland zurückzurufen sowie die Ausübung diplomatischen<br />

Schutzes zugunsten der Staatsangehörigen.<br />

Bei der Ausübung des Rückrufrechts und des<br />

Schutzes bedarf es freilich der Mitwirkung bzw. Billigung<br />

des Aufenthaltsstaates.<br />

Voraussetzung für die Inanspruchnahme staatsbür-<br />

432<br />

gerlicher Rechte und Anknüpfungspunkt für entsprechendePflichten,diesichausderPersonalhoheit<br />

ergeben, ist die Staatsangehörigkeit, also das rechtliche<br />

Band, das eine Person mit einem bestimmten<br />

Staat verbindet. Die mit dem Staat enger verbundenen<br />

Personen können so von den Staatsfremden<br />

(AusländernundStaatenlosen)abgegrenztwerden.<br />

1.3 Gebietshoheit: Als Gebietshoheit bezeichnet<br />

man die umfassende und ausschließliche Zuständigkeit<br />

des Staates, innerhalb der Grenzen seines Territoriums<br />

tätig zu sein und insbes. Hoheitsakte vorzunehmen.<br />

Dazu gehört das Recht, die gesamte Rechtsund<br />

Verfassungsordnung mittels Akten von Gesetzgebung,<br />

Rechtsprechung und Verwaltung auszugestalten<br />

und diese auch – wenn nötig zwangsweise –<br />

durchzusetzen. Diese Kompetenz besteht grundsätzlichgegenüberallenindemTerritoriumbefindlichen<br />

Personen – Staatsangehörigen und Ausländern – und<br />

deren Eigentum. Die Gebietshoheit kann durch völkerrechtliche<br />

Verträge oder Völkergewohnheitsrecht<br />

eingeschränkt sein.<br />

1.4 Organisationshoheit: Die Organisationshoheit<br />

umfasstinsbes.dieVerfassungsautonomie.EinStaat<br />

besitzt nur dann eine vollständige innere Souveränität,<br />

wenn er über die Organisation seines staatlichen<br />

Lebens selbst entscheiden kann. Danach ist im innerstaatlichen<br />

Bereich nur solches Recht gültig, das von<br />

dem Staat selbst erzeugt worden ist oder das er durch<br />

seine Verfassung in seinem Staat zugelassen hat.<br />

2. Hoheitsrechte und europäische Integration<br />

2. 1 „Übertragung“ von Hoheitsrechten: Das entscheidende<br />

Merkmal der europäischen Integration<br />

liegt darin, dass den ursprünglich zwischenstaatlichen,<br />

jetzt treffend als supranational bezeichneten<br />

Europäischen Integrationsformen – EG und EU –<br />

von den Mitgliedstaaten ausschließlich diesen zustehende<br />

staatliche Hoheitsrechte „übertragen“ worden<br />

sind. Der EuGH hat dies schon früh in seiner Rechtsprechung<br />

damit charakterisiert, dass „die Mitgliedstaaten<br />

den Gemeinschaften Hoheitsrechte übertragen<br />

und ihren Organen die Befugnis zu eigenständiger<br />

Rechtsetzung zugewiesen haben“ (EuGH E<br />

1964, 1254, 1259 – Costa ./. E.N.E.L.). Mit dieser<br />

Entscheidung begründete der EuGH auch die Eigenständigkeit<br />

der Gemeinschaften. Durch die Gründungsverträge<br />

haben die Mitgliedstaaten eine eigene<br />

verbindliche Rechtsordnung und damit auch autonome<br />

Rechtsquelle geschaffen. Die Eigenständigkeit<br />

des Europäischen Rechts hat zur Folge, dass es den


Staaten unmöglich ist, gegen eine von ihnen auf der<br />

Grundlage der Gegenseitigkeit angenommene<br />

Rechtsordnung nachträglich einseitige Maßnahmen<br />

ins Feld zu führen. Denn es würde eine Gefahr für die<br />

in Art. 10 Abs. 2 EGV aufgeführten Ziele bedeuten<br />

und dem Verbot des Art. 12 EGV widersprechende<br />

Diskriminierungen zur Folge haben, wenn das Gemeinschaftsrecht<br />

je nach innerstaatlicher Gesetzgebung<br />

von einem Staat zum anderen verschiedene<br />

Geltung haben könnte. Daher beansprucht das Gemeinschaftsrecht<br />

gegenüber nationalen kollidierenden<br />

Hoheitsakten Anwendungsvorrang (�Vorrangfrage<br />

<strong>Europa</strong>recht – nationales Recht). Hierin<br />

kommt auch zum Ausdruck, dass die EG/EU nicht<br />

nur nationale Hoheitsrechte – quasi als fremde Rechte<br />

– ausübt, sondern mit der Übertragung eigene, von<br />

den mitgliedstaatlichen Verfassungsordnungen unabhängige<br />

gemeinschaftsrechtliche Hoheitsrechte/<br />

-befugnisse begründet wurden ( EuGH E 1978, 629 –<br />

Simmenthal II).<br />

2.2 Beschränkte gemeinschaftsrechtliche Hoheitsbefugnisse:<br />

Allerdings erfolgte lediglich eine Übertragung<br />

von einzelnen, enumerativ in den Gründungsverträgen<br />

aufgezählten Hoheitsrechten<br />

(�„Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung“,<br />

Art. 5 Abs. 1 EGV bzw. Art. I-11 Abs. 1 VVE 2004).<br />

Diese spezifischen Hoheitsrechte werden jetzt nicht<br />

mehr von den Mitgliedstaaten allein, sondern von<br />

den europäischen Einrichtungen allein (ausschließliche<br />

�Zuständigkeit) bzw. unter Beteiligung der<br />

Mitgliedstaaten ausgeübt (konkurrierende Zuständigkeit),<br />

Art. 5 Abs. 2 EGV. Da die Integration in der<br />

Vergangenheit – naturgemäß – zunehmend zentralistische<br />

Tendenzen aufwies, wird die Kompetenzausübung<br />

der europäischen Organe seit dem Vertrag<br />

von Maastricht an das �Subsidiaritätsprinzip (Art. 5<br />

Abs. 2 EGV) und an die Grundsätze der �Verhältnismäßigkeit<br />

(Art. 5 Abs. 3 EGV) gebunden. Auch der<br />

Verfassungsvertrag 2004 ändert an dieser grundlegenden<br />

Konzeption nichts (vgl. Art. I-11 VVE).<br />

Trotz dieser Versuche, die „Regulierungswut“ europäischer<br />

Rechtsetzung einzuschränken, bleiben die<br />

wenigsten Lebensbereiche heute von europäischer<br />

Normierung unberührt.<br />

Gleichwohl kann nach überwiegender Auffassung<br />

weder gegenwärtig noch für die Zukunft nach einem<br />

etwaigen Inkrafttreten des Verfassungsvertrages<br />

von einem europäischen Staat gesprochen werden.<br />

Es bleibt in der Terminologie des Bundesverfas-<br />

Hoheitsrechte<br />

sungsgerichts bei einem Staatenverbund bzw. bei einem<br />

Verfassungsverbund (Pernice), da die Mitgliedstaaten<br />

weder der Europäischen Gemeinschaft noch<br />

der künftigen Europäischen Union die �Kompetenz-Kompetenz<br />

noch die gesamte Fülle staatlicher<br />

Regelungsmacht überantwortet haben. Die Ausarbeitung<br />

und auch die Verfahren zur Ratifikation des<br />

Verfassungsvertrages 2004 können nicht als Verfassungsgebung<br />

im staatsrechtlichen Sinn angesehen<br />

werden.<br />

2.3 Grundrechtliche Bindung gemeinschaftsrechtlicher<br />

Hoheitsrechtsausübung: Neben einer Ausrichtung<br />

der EG/EU auf Grundsätze der Rechtstaatlichkeit<br />

(etwa EuGH E 1974, 607, 620) und der Demokratie<br />

(EuGH E 1991 I-2867,2901 – Titandioxydrichtlinie)<br />

ist die Ausübung der Hoheitsgewalt durch<br />

europäische Organe an Grundrechte gebunden. Da<br />

die Gründungsverträge ursprünglich keinen Grundrechtskatalog<br />

enthielten, hat der Europäische Gerichtshof<br />

– wohl unter dem Druck der nationalen<br />

Verfassungsgerichte – Grundrechte als allgemeine<br />

Rechtsgrundsätze statuiert, die die Gemeinschaftsgewalt<br />

binden (grundlegend EuGH E 1969, 419, 425<br />

– Stauder; 1970, 1125 ff., 1135 – Internationale Handelsgesellschaft;<br />

1974, 491 ff. – Nold/Kommission;<br />

zur Anerkennung dieser Bindung in Deutschland<br />

BVerfGE 73, 339 – Solange II). Gemeinschaftsgrundrechte<br />

hat der EuGH entwickelt, weil das Handeln<br />

der Gemeinschaftsorgane ansonsten wegen des<br />

Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts und<br />

der Tatsache, dass es damals keinen verbindlich geschriebenen<br />

Grundrechtskatalog gab, keinerlei<br />

Grundrechtsstandards unterliegen würde. Der Gerichtshof<br />

hat sich hierbei auf die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen<br />

der Mitgliedstaaten berufen,<br />

nach der die Ausübung staatlicher Hoheitsgewalt<br />

rechtlich begrenzt sei. Zudem verweist der Gerichtshof<br />

auch auf die �Europäische Menschenrechtskonvention,<br />

die Ausdruck dieser Tradition sei.<br />

Mit dem Maastrichter Vertrag ist dies auch primärrechtlich<br />

als Bindung an allgemeine Grundsätze des<br />

Gemeinschaftsrechts normiert (Art. 6 II EGV, vgl.<br />

auch Art. 1, Art. 46 lit. d EUV). Der Verfassungsvertrag<br />

2004 geht über den bisherigen Rechtszustand insoweit<br />

hinaus, als er nunmehr die bisher unverbindliche<br />

Grundrechtscharta in sich aufnimmt und damit<br />

eine Bindung auch ausdrücklich in allen Einzelheiten<br />

und letztlich dem nationalen Standard normativ<br />

weitgehend entsprechend festgeschrieben wird.<br />

433


Hoheitsrechte<br />

3. Verfassungsrechtliche Grundlagen in Deutschland<br />

3. 1 Normativer Befund: Nach Art. 24 Abs. 1 Grundgesetz<br />

kann der Bund generell Hoheitsrechte auf<br />

zwischenstaatliche Einrichtungen, nach der 1992<br />

neu eingefügten Regelung des Art. 23 GG Hoheitsrechte<br />

auf europäische Einrichtungen, etwa auf die<br />

Europäische Union, durch Gesetz übertragen. Artikel<br />

23 Abs. 1 GG stellt die spezielle Verfassungsbestimmung<br />

für die deutsche Mitwirkung an der Begründung<br />

der EU dar und ist Ausdruck der <strong>Europa</strong>rechtsfreundlichkeit<br />

Deutschlands. Die Einfügung<br />

dieses „<strong>Europa</strong>-Artikels“ macht deutlich, dass sich<br />

die EU inzwischen qualitativ von üblichen zwischenstaatlichen<br />

Einrichtungen unterscheidet.<br />

Die h. L. geht nicht von einer Übertragung der Hoheitsrechte,<br />

sondern vielmehr von einem Verzicht<br />

auf die Ausübung bestimmter staatlicher Hoheitsbefugnisse<br />

zugunsten einer internationalen/supranationalen<br />

Hoheitsgewalt aus. Die Frage, wie weit dabei<br />

der Verzicht auf Hoheitsbefugnisse gehen darf,<br />

ist umstritten und bisher vor allem im Rahmen der<br />

Europäischen Gemeinschaft bedeutsam geworden.<br />

Die „Übertragung“ von Hoheitsrechten, besser der<br />

Verzicht auf ihre Ausübung, erfolgt durch förmliches<br />

Bundesgesetz, unter den Voraussetzungen des<br />

Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG sogar mit verfassungsändernder<br />

Mehrheit. Artikel 23 Abs. 1 GG enthält eine sog.<br />

Struktursicherungsklausel, die im Zusammenhang<br />

mitderebenfallsdortangesiedeltenÜbertragungsermächtigung<br />

zu sehen ist. Demnach muss die Struktur<br />

der EU Grundsätzen entsprechen, die auch für die<br />

Ausübung der Hoheitsgewalt in Deutschland maßgeblich<br />

sind: Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, soziale<br />

und föderale Ordnung sowie Grundrechtsgeltung.<br />

3.2 Entwicklung und Problemkreise: Angesichts der<br />

Eigenart des Gemeinschaftsrechts geht es bei seiner<br />

Anwendung dem nationalen Recht vor. Das Bundesverfassungsgerichthatdiesanerkannt,solangedurch<br />

das Europäische Gemeinschaftsrecht, insbes. durch<br />

die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes,<br />

ein ausreichender Grundrechtsschutz gewährleistet<br />

sei (BVerfG E 73, 339; 89, 155). Anlässlich<br />

der gegen das Vertragsgesetz zum Unionsvertrag gerichteten<br />

Verfassungsbeschwerden hat das Bundesverfassungsgericht<br />

u. a. ausgeführt, dass die Union<br />

(noch) keinen Staat darstelle, sondern einen „Staatenverbund“.<br />

Bezüglich der Rechtsakte der europäi-<br />

434<br />

schen Organe prüfe das Bundesverfassungsgericht,<br />

ob sich diese innerhalb der Grenzen der eingeräumten<br />

Hoheitsbefugnisse hielten. Bei der Rechtsprechung<br />

über die Anwendbarkeit von Sekundärrecht in<br />

der Bundesrepublik bestehe ein „Kooperationsverhältnis“<br />

zum Europäischen Gerichtshof (�Kooperationsverhältnis<br />

BVerfG – EuGH). Insgesamt sei sowohl<br />

unter dem Gesichtspunkt der demokratischen<br />

Legitimation als auch hinsichtlich der Gewährleistung<br />

eines ausreichenden Rechtsschutzes der Vertrag<br />

von Maastricht mit dem Grundgesetz vereinbar.<br />

DiebisherigeRücknahmeeigenerHoheitsgewaltzugunsten<br />

der Ausübung von Gemeinschaftshoheitsrechten,<br />

die den deutschen Bürger unmittelbar berechtigen<br />

oder verpflichten, steht mit den dafür vorhandenen<br />

verfassungsrechtlichen Grundlagen des<br />

Art. 23 und 24 GG in Einklang. Dagegen ist bisher<br />

verfassungsrechtlich die Frage nur teilweise geklärt,<br />

ob und inwieweit die Integrationsermächtigungen<br />

des Grundgesetzes für die Fälle ausreichen, in denen<br />

europäische Rechtsakte selbst keine materiellen Bestimmungen<br />

treffen, sondern nur die Anerkennung<br />

von Hoheitsrechtsakten anderer Mitgliedstaaten<br />

vorsehen. (�Prinzip der gegenseitigen Anerkennung).<br />

Zwar reichen diese Ermächtigungen für die<br />

Anerkennung ausländischer Genehmigungen im<br />

RahmendesBinnenmarktessowiedes�freienPersonen-,<br />

Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs<br />

aus, weil hier letztlich keine (unmittelbaren) hoheitlichen<br />

Eingriffe in rechtlich geschützte Positionen<br />

der Bürger vorliegen, sondern die Freiheit der Bürger<br />

erweitert wird. Anders verhält es sich hingegen<br />

bei solchen Vorschriften, die ohne ausdrückliche<br />

Harmonisierung auf der europäischen Ebene lediglich<br />

vorschreiben, dass ausländische Vorschriften<br />

anzuerkennen sind und die fremden Vorschriften<br />

Eingriffe in Rechtspositionen der eigenen Staatsangehörigen<br />

bewirken (so etwa bei den Vorschriften<br />

über den �Europäischen Haftbefehl, vgl. BVerfG,<br />

Urt. v. 18. 7. 05 – 2 BvR 2236/04), zumal wenn es<br />

sich um Unionsvorgaben auf der Grundlage �intergouvernementaler<br />

Zusammenarbeit (zweite und<br />

dritte �Säule) handelt. Das Unionsrecht entfaltet hier<br />

trotz einer Positivierung der Handlungsnormen keine<br />

supranationale Wirkung.<br />

Mit Inkrafttreten des Verfassungsvertrages werden<br />

weitere Kernbereiche nationalstaatlicher Hoheitsgewalt<br />

gegenüber der Ausübung von Hoheitsgewalt<br />

durch Unionsrecht zurückgenommen und damit su-


pranational. Nachdem das Bundesverfassungsgericht<br />

in der Maastrichtentscheidung (E 89, 155) ausgeführt<br />

hatte, dass dem Deutschen Bundestag wesentliche<br />

Bereiche zur Entscheidung verbleiben<br />

müssen, werden seine Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten<br />

in vielen klassischen staatlichen Sektoren<br />

abnehmen. Justiz, Polizei, Verteidigung und<br />

auswärtiges Handeln gehören zu den Kernbereichen<br />

der Staatlichkeit. Selbst wenn Bundestag und Bundesrat<br />

dem Verfassungsvertrag mit verfassungsändernder<br />

Mehrheit (Art. 23 GG) zustimmen, könnte<br />

der Verfassungsvertrag die Integrationsgrenzen des<br />

Art. 79 Abs. 3 GG verletzen. Denn diese Norm sichertdieGrundsätzedesArtikels1und20GG.Wenn<br />

aber in einem Übertragungsakt maßgebliche Entscheidungs-<br />

und Gestaltungsmöglichkeiten des<br />

Bundestages neben der bereits weit reichenden Entäußerung<br />

von Entscheidungen im Bereich des bisherigen<br />

Gemeinschaftsrechts auf die Union übertragen<br />

werden und Bundestag und Bundesrat wegen des<br />

Vorrangs des Unionsrechts Gefahr laufen, in Zukunft<br />

allenfalls Umsetzungsautomaten zu sein, steht<br />

zu befürchten, dass das Demokratieprinzip und damit<br />

auch die deutsche Staatlichkeit in einem Maße<br />

ausgehöhlt werden, das die Identität der Verfassung<br />

unddesStaatesauflöst. St. U. P.<br />

Literatur:<br />

Bleckmann, A.: Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre.<br />

Köln u.a. 1995<br />

Bogdandy, A. v.: Europäisches Verfassungsrecht. Heidelberg<br />

u.a. 2003<br />

Häberle, P.: Europäische Verfassungslehre.<br />

Baden-Baden 2005 3<br />

Lenz, C. O./Borchardt, K.-D.: Vertrag über eine Verfassung für<br />

<strong>Europa</strong>. Bundesanzeiger Nr. 218a v. 17. 11. 2004<br />

Pernice, I.: Europäische Justizpolitik in der Perspektive der<br />

Verfassung für <strong>Europa</strong>. WHI-paper 03/05, 2005<br />

Ders.: Die dritte Gewalt im Europäischen Verfassungsverbund.<br />

<strong>Europa</strong>recht 1996, 27 ff.<br />

Reinhard, W.: Geschichte der Staatsgewalt. München 1999<br />

Hoher Vertreter für die GASP (HR)<br />

1. Rechtsgrundlage: Mit dem �Vertrag von Amsterdam<br />

(1997) im Rahmen der �GASP geschaffenes<br />

Amt, das in „Personalunion“ vom Generalsekretär<br />

des Rats wahrgenommen wird (Art. 18 Abs. 3 EUV,<br />

Art. 26 EUV, Art. 207 Abs. 2 EGV). Der Hohe Vertreter<br />

für die GASP, der auch Hoher Repräsentant genannt<br />

wird (HR), ist zugleich „Diener“ und „Leitbild“<br />

für eine vollständige Integration der Außenund<br />

Sicherheitspolitik <strong>Europa</strong>s. Er soll mit Blick auf<br />

Hoher Vertreter für die GASP<br />

den halbjährlich rotierenden Vorsitz für mehr Kontinuität<br />

und Sichtbarkeit in der �GASP sorgen.<br />

2. Aufgaben: Der HR hat die Aufgabe, den Vorsitz<br />

sowie den Rat zu unterstützen, indem er insbes. zur<br />

Formulierung, Vorbereitung und Durchführung politischer<br />

Entscheidungen beiträgt. Im System der rotierenden<br />

Präsidentschaft stellt der HR mit seiner<br />

fünfjährigen Amtszeit den Faktor der Kontinuität<br />

dar. Der HR ist Teil der �Troika, kann aber auf Ersuchen<br />

des Vorsitzes auch allein im Namen des Rats<br />

den Politischen Dialog mit anderen Staaten führen.<br />

Auf gleiche Weise kann er den Vorsitz gegenüber<br />

den GASP-relevanten �Ausschüssen des Europäischen<br />

Parlaments vertreten.<br />

Mit dem kontinuierlichen Auf- und Ausbau der<br />

GASP, insbes. im Bereich der �ESVP, aber auch<br />

durch die konstruktive Rolle, die der gegenwärtige<br />

Amtsinhaber Javier Solana u. a. bei der Stabilisierung<br />

des Balkans (Kosovo, Serbien und Montenegro)<br />

aber auch im Nahost-Friedensprozess sowie bei<br />

den Vermittlungsbemühungen der EU im Zusammenhang<br />

mit den Präsidentschaftswahlen in der<br />

Ukraine 2004 gespielt hat, sind das Ansehen und der<br />

Handlungsspielraum des HR in den vergangenen<br />

Jahren kontinuierlich gewachsen.<br />

Zur Stärkung der Position des HR tragen nicht unwesentlich<br />

die �Sonderbeauftragten der EU sowie die<br />

SondergesandtenundpersönlichenBeauftragtendes<br />

HR bei (Sondergesandte gibt es derzeit für den Kosovo<br />

und den Irak, persönliche Beauftragte für Menschenrechte,<br />

den internationalen Terrorismus und<br />

den Kampf gegen Massenvernichtungswaffen). Immer<br />

häufiger lässt sich beobachten, dass der HR, mit<br />

Billigung der jeweiligen Präsidentschaft, in der<br />

GASP einschl. der ESVP aktiv die Initiative ergreift<br />

und damit entscheidend zur Vorstrukturierung einer<br />

Entscheidung beiträgt. Da passt ins Bild, dass der<br />

HR, insbes. in Krisensituationen, immer häufiger anstelle<br />

oder zumindest deutlich abgesetzt von der<br />

Troika auftritt. Dies mag insbes. mit Blick auf die<br />

Rolle der Kommission in der GASP vertragsrechtlich<br />

bedenklich sein. Der Effektivität der GASP und<br />

ihrer Wahrnehmung innerhalb der Internationalen<br />

Gemeinschaft dient ein einziges „Sprachrohr“ mehr,<br />

als der vielseits kritisierte „Dreiklang“ der sog.<br />

„klassischen“ Troika. Der HR lässt die Funktion des<br />

Generalsekretärs (GS) des Rats, an die das Amt des<br />

HR aus Sorge vor einer allzu großen Selbständigkeit<br />

auch weiterhin de iure angebunden bleibt, de facto in<br />

435


Humanitäre Hilfe<br />

großem Umfang vom stellvertretenden GS wahrnehmen.<br />

3. Erweiterung des Aufgabenspektrums: Der HR ist<br />

neben seinen vertragsrechtlich festgeschriebenen<br />

Funktionen gemäß den entsprechenden Rechtsakten<br />

qua Amt auch Vorsitzender des Verwaltungsrats der<br />

in Unterstützung der �ESVP eingerichteten<br />

EU-�Agenturen (s. �Institut für Sicherheitsstudien<br />

der EU, �Satellitenzentrum der EU, �Europäische<br />

Rüstungsagentur). Damit soll sichergestellt werden,<br />

dass die EU-Agenturen ungeachtet ihrer rechtlichen<br />

Selbständigkeit auch strukturell eng an den einheitlichen<br />

institutionellen Rahmen der EU angegliedert<br />

bleiben.<br />

4. Ausblick: Mit dem Inkrafttreten des Europäischen<br />

436<br />

Verfassungsvertrags wird der HR durch den �Europäischen<br />

Außenminister (EU-AM) ersetzt werden.<br />

Mit der von ihm wahrzunehmenden Doppelfunktion<br />

als HR und Kommissar für das übrige Außenhandeln<br />

der EU, zu der der Vorsitz im Rat für Auswärtige Angelegenheiten<br />

hinzukommt, ist die Hoffnung verbunden,<br />

„endlich“ die bereits seit langem geforderte<br />

„einheitliche Telefonnummer“ im Bereich des AußenhandelnsderEUanbietenzukönnen.<br />

U. S.<br />

Humanitäre Hilfe �Nahrungsmittelhilfe<br />

Hundertdreizehner-Ausschuss �Ausschuss nach<br />

Art. 133 EGV, �Außenhandelspolitik


IATE (Inter-Agency Terminology Exchange) ist<br />

eine seit 1999 im Aufbau begriffene zentrale Datenbank<br />

des Übersetzungszentrums der EU. Sie wird<br />

sämtliche Begriffe aller EU-Organe und -Einrichtungen<br />

in allen Amtssprachen zusammenzufassen.<br />

Nach erfolgreichen Tests wurde IATE an die KommissionübergebenundstehtseitDezember2002den<br />

EU-Institutionen zur Verfügung. IATE hat die zentrale<br />

Terminologiedatenbank �Eurodicautom übernommen<br />

sowie die Datenbanken TIS (Rat), Euterpe<br />

(EP), Euroterms (Übersetzungszentrum), CDC-<br />

TERM (Rechnungshof) und Thesaurus (EuGH). Für<br />

die Öffentlichkeit soll IATE im Laufe des Jahres<br />

2005 bereit stehen.<br />

IDEA ist ein vom Amt für amtliche Veröffentlichungen<br />

der EU im Internet angebotenes elektronisches<br />

Verzeichnis für die Suche nach Personen (Namen,<br />

Funktionen, Behörden) und Diensten (hierarchisch<br />

nach Generaldirektionen, Direktionen, Referaten)<br />

aller Organe, Agenturen, Ämter, Institutionen und<br />

sonstigen Einrichtungen der EU in allen Amtssprachen.<br />

IDEA wird laufend aktualisiert (am aktuellsten:<br />

die französische Fassung).<br />

Internet: http://europa.eu.int/idea<br />

Identität, europäische. Die Kopenhagener Gipfelkonferenz<br />

der Staats- und Regierungschefs der<br />

EG-Länder verabschiedete im Dezember 1973 das<br />

„Dokument über die europäische Identität“. Darin<br />

wird der Wunsch nach Gemeinsamkeiten der BürgerinnenundBürgerinBezugaufeingemeinsames<strong>Europa</strong>bewusstsein<br />

zum Ausdruck gebracht. Deshalb<br />

ist zu überlegen, was übernationale, europäische<br />

Identität bedeutet und wie sie vermittelt werden kann<br />

(vgl. �<strong>Europa</strong>-Union: Charta der europäischen Identität<br />

1995).<br />

Die übergreifende Identität der Gruppe ist Bedingung<br />

für die individuelle Identität als symbolische<br />

Einheit der Person. Für die Entstehung der Identität<br />

ist die Gesellschaft selbst zuständig, indem sie unverwechselbare,<br />

intersubjektiv anerkannte Momente<br />

(z. B. bestimmte Traditionen, Rollen, Normen)<br />

hervorbringt, die ihrerseits als Erwartungen und An-<br />

I<br />

Identität<br />

forderungen an den Einzelnen von außen herangetragen<br />

werden. Es handelt sich um „Konsistenzforderungen“<br />

(Habermas). Früher war(en) es die Religion(en),<br />

die das normative Bewusstsein einer ganzen<br />

Bevölkerung integrierte(n) und kollektive Identität<br />

erzeugte(n). Heute wird die traditionelle Identität<br />

nicht mehr übernommen, sondern die Einzelnen beteiligen<br />

sich an einer flexiblen Identität, in der sich<br />

alle Gesellschaftsmitglieder wiedererkennen und<br />

gegenseitig anerkennen (achten).<br />

War die Identitätsbildung früher auf den Staat bezogen<br />

und von Religion, Recht und politischen Institutionen<br />

konstituiert worden, sind heute hochdifferenzierte<br />

(z. T. überstaatliche) Teilsysteme maßgebend,<br />

die die Individuen integrieren. Von hier kann das<br />

Verständnis für eine regionale Identität(sbildung) in<br />

einer komplexen (staatsübergreifenden) Gesellschaft<br />

ausgehen. Identität ist demnach nicht mehr<br />

mitgliedschaftlich (staatsbürgerschaftlich) geregelt,<br />

sondern reflexiv, d. h. sie ist im Bewusstsein der allgemeinen<br />

und gleichen Teilnahmechancen an wertund<br />

normbildenden Lernprozessen begründet. Diese<br />

können sich weder an retrospektiven, tradierten<br />

Werten noch allein an prospektiven Entwürfen<br />

orientieren. Sie können auch nicht von (Schul-)Verwaltungen<br />

etwa qua Curriculum verordnet und legitimiertwerden,sondernerfolgeninderKommunikation<br />

zwischen den Menschen. In modernen (pluralen)<br />

Massengesellschaften macht sich Identität also<br />

nicht mehr an umfassenden transzendenten Integrationssystemen<br />

fest, sondern sie vollziehen den Prozess<br />

der Identitätsbildung durch Gemeinschaftsbildung<br />

mittels Legitimation, Repräsentation, Institutionalisierung,<br />

Konfliktregelung, Konsensherstellung<br />

u. dgl.<br />

„Identität“ ist somit auch ein Relationsbegriff, der<br />

sich aus der Frage nach der (selbsterfahrenen) örtlichenundzeitlichenRelationergibt,z.B.:Werbinich<br />

„hier“ (im Vergleich zu „dort“) und „heute“ (im Vergleich<br />

zu „damals“)? Außerdem ist – in Einschränkung<br />

zu Habermas – zu bedenken, dass die nationalstaatliche<br />

Grundlage von Identität, konkretisiert in<br />

den Begriffen Demokratie, Freiheit, Gleichheit und<br />

Solidarität, nicht ohne Weiteres aufhebbar ist. Die<br />

437


Implied powers<br />

Präambel des Grundgesetzes der Bundesrepublik<br />

Deutschland zielte auf die „nationale und staatliche<br />

Einheit“ des deutschen Volkes ab, und in den anderen<br />

EU-Staaten würde eine Aufgabe der Nationalstaatlichkeit<br />

auf wenig Resonanz stoßen.<br />

Als kollektive Identität beruht sie auf der Konstanz<br />

derInteraktionen,RollenundSymbole,ihreFindung<br />

bedarf der gemeinsamen Überzeugungen, Zuschreibungen<br />

und Einordnungen. Sie äußert sich u. a. in der<br />

Art und Weise, wie Menschen denken, in der Form<br />

der Verankerung ihrer Weltbilder und gesellschaftlichen<br />

Konstruktionen. Sie wird von der regionalen<br />

und nationalen Identität (notwendigerweise) überdeckt<br />

und ist infolge der starken Mobilität der Menschen<br />

und der Pluralität und Differenzierungen der<br />

Erscheinungen nur schwer zu erzeugen. AndererseitsgibtesimmernebeneinanderstehendeTeilidentitäten<br />

des Einzelnen: mit der Wir-Gruppe, der Familie,<br />

der Gemeinde, dem Staat. Die Frage erhebt sich,<br />

inwieweit eine europäische Identität angesichts der<br />

konzeptionellen Dynamik der europäischen �Integration<br />

herstellbar ist. Historische und andere „Bausteine“,<br />

konstitutiv für eine europäische Identität,<br />

sind: Idee der Freiheit, der �Menschenrechte, Demokratie/Parlamentarismus,<br />

Vielfalt der Kulturen, Idee<br />

der Individualität, Zentrum der Wissenschaften, Humanismus/Aufklärung,<br />

Industrialisierung, Christentumusw.<br />

W. M.<br />

Implied powers. Sinngemäß in den (geschriebenen)<br />

Ermächtigungsnormen der europäischen Verträge<br />

enthaltene ungeschriebene Zuständigkeiten<br />

der EU. „Implied powers“ werden aus bestehenden<br />

(geschriebenen) Kompetenznormen durch AuslegungabgeleitetundgebenderEUerweiterteKompetenzen<br />

in einem bestimmten Politikfeld, ähnlich wie<br />

bei der Generalrmächtigung nach Art. 308 EGV.<br />

Verschiedene Urteile des EuGH haben die Kompetenzen<br />

der Gemeinschaft im Sinne der implied powers<br />

erweitert (EuGH, Slg. 1956, 297 – Fédéchar –;<br />

EuGH, Slg. 1971, 263 – AETR –), bislang insbes. zur<br />

Begründung von Außenkompetenzen: Vorschriften<br />

eines völkerrechtlichen Vertrages oder eines Gesetzes<br />

beinhalteten auch ungeschriebene Ermächtigungen,<br />

bei deren Fehlen die ausdrücklich genannten<br />

Vorschriften sinnlos wären oder nicht in vernünftiger<br />

und zweckmäßiger Weise angewendet werden<br />

könnten.<br />

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Maas-<br />

438<br />

tricht-Urteil Bedenken gegenüber einer zu großzügigen<br />

Interpretation geäußert. Eine Auslegung der Gemeinschaftsverträge<br />

dürfe in ihrem Ergebnis nicht<br />

einer Vertragserweiterung gleichkommen.<br />

Indirekte Steuern �Steuerrecht,Steuerharmonisierung<br />

Industriepolitik<br />

1. Begriffliches: Industriepolitik umfasst die Gesamtheit<br />

der wirtschaftspolitischen Maßnahmen, die<br />

auf Sicherung und Steigerung der Leistungs- und<br />

Wettbewerbsfähigkeit der Industrie ausgerichtet<br />

sind, und die damit verbundene Rolle des Staats in<br />

der �Wirtschaftspolitik. Als eigenständige Aufgabe<br />

ist die Industriepolitik mit der �Einheitlichen EuropäischenAkteverankertworden(1.7.1987inKraft).<br />

Sie ist der Generaldirektion „Unternehmen und Industrie“<br />

in der Kommission zugeordnet und wird<br />

neutral als Teil der Wirtschaftspolitik verstanden, so<br />

wie die Industrie ein Teil der Wirtschaft ist, und beinhaltet<br />

noch kein staatsinterventionistisches Verständnis.InAbgrenzungzudenMitgliedstaatensetzt<br />

dieUnionstarkaufdenStrukturwandelundkaumauf<br />

den Erhalt von Krisenbranchen. Ursache dafür ist,<br />

dass bei der Umstrukturierung einer Branche in mehreren<br />

EU-Ländern die Kommission die Anpassungslasten<br />

unter den Mitgliedstaaten einfacher verteilen<br />

kann als eine Regierung innerhalb ihres Landes, wo<br />

Krisenbranchen oft zugleich das industrielle Rückgrat<br />

einer Region darstellen.<br />

So erlaubt z. B. die EU-Fusionskontrolle weitaus<br />

mehr die Berücksichtigung industriepolitischer Belange<br />

im staatsinterventionistischen Sinn als etwa<br />

das deutsche Bundeskartellamt.<br />

AusSichtderVertretereinerreinenmarktwirtschaftlichen<br />

Lehre darf es eine Industriepolitik nicht geben,<br />

da die Marktwirtschaft vom Wettbewerb und<br />

seinem damit verbundenen Ausleseprozess lebt.<br />

Durch das Ausscheiden unrentabler Unternehmen<br />

wird der Strukturwandel gefördert und damit die<br />

Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft erhöht. Sie<br />

lehnen die selektiven Eingriffe des Staates in das<br />

Wirtschaftsgeschehen ab. Für die Befürworter ist die<br />

Industriepolitik dagegen ein Instrument, um den industriellen<br />

Strukturwandel zu steuern. Unbestritten<br />

ist für beide Gruppen die Wettbewerbspolitik, die für<br />

den Wettbewerb gleiche Rahmenbedingungen<br />

schafft.


2. Industriepolitik in europäischer Dimension: EuropäischeIndustriepolitikstehtzwischenzweiextremen<br />

Positionen: zum einen die Protektionisten, die<br />

eine interventionistische Industriepolitik fordern<br />

(�Protektionismus), zum anderen die konsequenten<br />

Marktwirtschaftler. Interventionistische Industriepolitik<br />

versucht mit handelspolitischen Maßnahmen,<br />

wie Importbeschränkungen, und durch Subventionierung<br />

(�Subventionen) die eigene Wirtschaft<br />

vor ausländischer Konkurrenz zu schützen.<br />

DiedahinterstehendegrundsätzlicheFrage,obIndustriepolitik<br />

in einem Gegensatz zur marktwirtschaftlichen<br />

Politik steht, wurde (europäisch) in Form einer<br />

eher pragmatisch orientierten marktwirtschaftlichen<br />

Industriepolitikstrategie gelöst, da eine marktwirtschaftliche<br />

Ordnung kein geschlossenes System<br />

darstellt. Dies gilt besonders für die EU. Danach ist<br />

eine eher interventionistische Industriepolitik zum<br />

Scheitern verurteilt, nicht hingegen eine wettbewerbsorientierte<br />

Industriepolitik, die sich den Weltmarkt<br />

zum Maßstab nimmt. Der �Binnenmarkt als<br />

wettbewerbsförderndes Element beschleunigt den<br />

Strukturwandel, liberalisiert und dereguliert die<br />

Wirtschaft durch Gewährung von Freiheiten. Diese<br />

marktwirtschaftliche Variante der Industriepolitik<br />

versucht ein günstiges wirtschaftliches Umfeld zu<br />

schaffen, indem ihre Aktionen in der Vorphase des<br />

Wirtschaftens (u. a. Förderung von Infrastrukturmaßnahmen,<br />

Berufsbildung, Forschung und Technologie)<br />

ansetzen.<br />

Die Instrumente der Industriepolitik sind vielfältig.<br />

Branchenspezifische Maßnahmen lassen sich von<br />

Maßnahmen unterscheiden, die eher allgemein auf<br />

die Verbesserung der wirtschaftlichen Standortbedingungen<br />

gerichtet sind (industrielle Wettbewerbsfähigkeit).<br />

Sie greifen in folgenden Industriebereichen:<br />

Eisen und Stahl, Grundstoffindustrien, Chemie,<br />

Holz- und Papier, Maschinenbau, Elektro, Automobilbau,maritimeWirtschaft(Schiffbaupolitik),<br />

Luft- und Raumfahrt, Rüstung, Eisenbahn, Textil<br />

und Bekleidung, Biotechnologie, Pharmazeutik und<br />

Kosmetik, Informationstechnologie und Bauwesen.<br />

Die Kommission weist darauf hin, dass bei einem<br />

VerzichtaufeineaktiveIndustriepolitikindustriepolitische<br />

Maßnahmen verdeckt über �Sozialpolitik,<br />

�Forschungs-, �Regional- oder �Wettbewerbspolitik<br />

in die �Regionen gelangen. So wird in demokratischenGesellschaftennichtohneWeiteresakzeptiert,<br />

dassganzeIndustriezweigeabsterbenoderRegionen<br />

Industriepolitik<br />

industriellveröden.EinindustriepolitischerSchwerpunktbildetdeshalbfürdieEUdieFörderungkleiner<br />

und mittlerer Unternehmen (�KMU).<br />

3. Zielfelder: Ziel der Industriepolitik ist eine europäische<br />

Unternehmensstruktur, die international<br />

wettbewerbsfähig ist.<br />

Mit dem �Verfassungsvertrag 2004 fällt die Industriepolitik<br />

in die Politikbereiche, in denen die Union<br />

beschließen kann, eine Koordinierungs-, Ergänzungs-<br />

oder Unterstützungsmaßnahme durchzuführen<br />

(Art. I-17 VVE). Die Ziele sind gegenüber dem<br />

EG-Vertrag (Art. 157) nur leicht modifiziert und haben<br />

folgende Kernpunkte:<br />

a) Beschleunigung der Anpassung der Industrie an<br />

die strukturellen Veränderungen;<br />

b) Förderung eines günstigen Umfelds für die Initiative<br />

und Weiterentwicklung der Unternehmen, insbes.<br />

der kleinen und mittleren Unternehmen;<br />

c) Förderung eines günstigen Umfeld für die Zusammenarbeit<br />

zwischen Unternehmen;<br />

d) Förderung einer besseren Nutzung des industriellen<br />

Potenzials der Politik in den Bereichen Innovation,<br />

Forschung und technologische Entwicklung.<br />

4. Förderbereiche: Im EU-Bereich beinhaltet Industriepolitik<br />

die Tendenz, im vorwettbewerblichen<br />

Raum und auf dem Felde außenwirtschaftlicher Strategien<br />

tätig zu werden. Der Erfolg der Unternehmen<br />

auf dem Markt wird dann dem freien Spiel der Kräfte<br />

überlassen, so z. B. die Technologiepolitik (�Forschungs-<br />

und Technologiepolitik) als angebotsorientierte<br />

Organisation eines flächendeckenden<br />

Technologietransfers, d. h. eine Konzipierung der<br />

TechnologiepolitikmitdenUnternehmenfürdieUnternehmen.<br />

Zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit werden in<br />

den Bereichen Elektronik, Informatik und Biotechnologien<br />

Programme durchgeführt. Schwerpunkte<br />

sind dabei die Produktqualität und die Produktionstechniken,<br />

die mit folgenden Maßnahmen verbessert<br />

wurden/werden:<br />

– im Bereich des europäischen �Gesellschaftsrechts<br />

die Verankerung der �Europäischen Wirtschaftlichen<br />

Interessenvereinigung (EWIV) mit dem Ziel,<br />

Kooperation zu ermöglichen;<br />

– die Unterstützung kleinerer und mittlerer Unternehmen<br />

(insbes. gezielte Förderung des Zugangs zu<br />

Forschungs- und Entwicklungsprogrammen);<br />

– Gründung und Betrieb eines �Büros für Unternehmenskooperation;<br />

439


Industriepolitik<br />

– das Netzwerk BC-Net (�Business Cooperation<br />

Network) als Netz von Unternehmensberatern, die<br />

Kooperationen vorbereiten und unterstützen;<br />

– die Projektunterstützung durch die �Europäische<br />

Investitionsbank;<br />

– die Finanzierung von Rahmenprogrammen für<br />

Forschung und technologische Entwicklung in den<br />

Bereichen Informations- und Kommunikationstechnologien,<br />

industrielle Technologien und neue Werkstoffe,<br />

Umwelttechnik, Biowissenschaft und Biotechnik,<br />

Energie, Mensch und Mobilität.<br />

5. Lissabon-Strategie für mehr Wachstum, mehr<br />

Wettbewerbsfähigkeit und mehr Beschäftigung:Im<br />

März 2000 beschloss der Europäische Rat in Lissabon<br />

eine neue Strategie. Im Kern handelt es sich um<br />

ein Bündel sich gegenseitig beeinflussender Reformen:<br />

a) Den Übergang zu einer wissensbasierten Wirtschaft<br />

und Gesellschaft durch bessere Politiken für<br />

die Informationsgesellschaft und für die Bereiche<br />

Forschung und Entwicklung sowie durch die Forcierung<br />

des Prozesses der Strukturreform im Hinblick<br />

auf Wettbewerbsfähigkeit und Innovation und durch<br />

die Vollendung des Binnenmarktes vorzubereiten;<br />

b) das europäische Gesellschaftsmodell zu modernisieren;<br />

c) für anhaltend gute wirtschaftliche und günstige<br />

Wachstumsaussichten Sorge zu tragen.<br />

Die Zielsetzungen sehen u. a. vor<br />

a) bis 2010 in die Bereiche Forschung und EntwicklungimprivatenundöffentlichenSektorrund3%des<br />

BIP zu investieren;<br />

b) die Beschäftigungsquote bis 2010 möglichst nahe<br />

an 70% heranzuführen (2000: 61%);<br />

c) eine durchschnittliche Wachstumsrate von etwa<br />

3% zu erzielen.<br />

Ziel ist es, die Union bis zum Jahr 2010 zum „wettbewerbsfähigsten<br />

und dynamischsten, wissensbasierten<br />

Wirtschaftsraum der Welt“ zu machen. Mit der<br />

Lissabon-Strategie verbindet sich somit „Wachstum,<br />

Beschäftigung und nachhaltige Entwicklung“.<br />

Sie hat jedoch nach Einschätzung der Kommission<br />

nach halber Laufzeit (2005) nicht genügend Fortschritte<br />

erzielt. Die Union definiert daher die Prioritäten<br />

dieser Strategie neu. Für die Industriepolitik<br />

sieht die Kommission Handlungsansätze auf Basis<br />

der Artikel 95 (Binnenmarkt), 152 (Gesundheitswesen)<br />

und 157 (Wettbewerbsfähigkeit) sowie Titel<br />

XVIII(InnovationundForschung)desEG-Vertrags:<br />

440<br />

a) Folgende allgemeine Ziele hat sich die Kommission<br />

gesetzt:<br />

– Abbau von Hürden für Unternehmer in <strong>Europa</strong> und<br />

Förderung potenzieller Unternehmer,<br />

– Innovationsförderung sowohl im technischen Bereich<br />

als Ergänzung zur Forschung als auch im Geschäftsprozess,<br />

– weitere Steigerung der Effizienz des Binnenmarktes,<br />

insbes. seines Funktionierens in den neuen Mitgliedstaaten<br />

und nach Möglichkeit Ausweitung der<br />

Vorteile des Binnenmarktes auf andere Regionen,<br />

– Verbesserung der globalen Wettbewerbsfähigkeit<br />

der europäischen Industrie im Rahmen einer nachhaltigen<br />

Entwicklung.<br />

b) Tätigkeitsfelder sind<br />

– die Förderung der unternehmerischen Initiative:<br />

Dieser Bereich umfasst Maßnahmen zur ständigen<br />

Verbesserung des wirtschaftlichen Umfelds vor allem<br />

mithilfe des BEST-Verfahrens (Rahmenregelung<br />

für Projekte zur Förderung der Arbeit der Mitgliedstaaten<br />

bei Ermittlung und Austausch bewährter<br />

Verfahren durch �Benchmarking und andere Methoden)<br />

und Netze zur Unterstützung von Unternehmen;<br />

– die Förderung von Innovation und Wandel;<br />

– die Steigerung des Binnenmarktes;<br />

– die Wettbewerbsfähigkeit und �Nachhaltige Entwicklung:<br />

Hier geht es um horizontale und sektorale<br />

Tätigkeiten zur Analyse und Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit<br />

der europäischen Wirtschaft.<br />

Dazu gehören auch Überschneidungen mit anderen<br />

EU-Politikfeldern, die in den wirtschaftlichen Bereich<br />

hineinwirken können.<br />

c) Auch der EU-weite Abbau der Bürokratie ist ein<br />

wichtiges Anliegen der Lissabon-Strategie für mehr<br />

Wachstum und Beschäftigung. In deren Rahmen soll<br />

die EU-Gesetzgebung durch den Abbau von Überregulierungen<br />

verbessert werden. Ziel ist eine Vereinfachung<br />

der Rechtssetzung. Die Kommission setzt<br />

beim Bürokratieabbau auf drei Qualitätsparameter:<br />

Verbesserte Folgenabschätzung bereits im Gesetzgebungsverfahren,<br />

eine stärkere Vereinfachung vorhandener<br />

EU-Regelungen und eine kontinuierliche<br />

Umsetzung des Bürokratieabbaus über jährliche Aktionspläne.<br />

6. Fazit: Mit der Lissabon-Strategie konzentriert<br />

sichdieIndustriepolitikderEUaufdie–auchfürUnternehmen<br />

– Hauptfaktoren Wettbewerbsfähigkeit<br />

und Wachstum, d. h. Verbesserung der Wissensge-


sellschaft, Vollendung des Binnenmarktes, Schaffung<br />

eines besseren Unternehmensklimas, mehr Anpassungsfähigkeit<br />

der Arbeitsmärkte und Investitionen<br />

in Öko-Innovationen.<br />

Damit folgt die Industriepolitik einem Mix aus aktiver<br />

und rahmenorientierter Politik. Aktiv, wenn sie<br />

einzelne Unternehmen oder Unternehmensgruppen<br />

gegenüber anderen Produzenten begünstigt und sich<br />

(über Forschung und technologische Entwicklung)<br />

in die Entscheidungen darüber einschaltet, welche<br />

Güter mit welchen Produktionsmethoden angeboten<br />

werden sollen. Rahmenorientiert zur Stärkung der<br />

Marktkräfte, wenn sie in einem innovativen Wettbewerb,dessenFörderungübereininvestitions-undinnovationsfreundliches<br />

Klima und ein effizientes Bildungssystem<br />

(�Bildungspolitik) bei ansonsten weitgehendem<br />

Verzicht auf staatliche Eingriffe in das<br />

Wirtschaftsleben erfolgt.<br />

Hier lässt sich auch die erneuerte Strategie für<br />

Wachstum und Beschäftigung verorten, mit der die<br />

Kommission bis Ende 2010 über sechs Millionen Arbeitsplätze<br />

schaffen und gleichzeitig den sozialen<br />

und umweltpolitischen Bedürfnissen gerecht werden<br />

will. Zunächst sollen Forschung und Entwicklung<br />

stärker gefördert, das System der staatlichen<br />

Beihilfen reformiert und ein für kleine und mittlere<br />

Unternehmen (KMU) freundliches Klima geschaffen<br />

werden. Die Strategie verfolgt drei Hauptziele:<br />

Wirtschaftliche, soziale und die Umwelt betreffende<br />

Belange sind nicht voneinander zu trennen. Daher<br />

bindet die Union auch die Themen nachhaltige Entwicklung<br />

und Klimaveränderung ein, wobei man<br />

sich insbes. auf Maßnahmen zur Verringerung von<br />

Treibhausgasemissionen für den Zeitraum nach<br />

EndedesKyoto-Protokollsab2012orientiert. L. U.<br />

Literatur:<br />

Bangemann, M.: Mut zum Dialog – Wege zu einer<br />

europäischen Industriepolitik. Bonn 1992<br />

Bleitschacher, G./Klodt, H.: Braucht <strong>Europa</strong> eine neue<br />

Industriepolitik? Universität Kiel 1991<br />

Dickersbach, A.: Die Entwicklung des Subventionsrechts seit<br />

1993. In: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 10/1996,<br />

S. 962–970<br />

Hutschenreiter, G.: Industriepolitik der EG. Wien 1993<br />

Info-Points �Informationsstellen<br />

Informationsbüros der deutschen Länder in<br />

Brüssel, auch Länderbüros oder Vertretungen genannt.<br />

Sie dienen der ständigen Beobachtung der für<br />

Informationsgesellschaft<br />

die einzelnen Länder bedeutsamen Maßnahmen und<br />

Entwicklungen der EU-Organe und -Politik. Wegen<br />

ihres Anspruchs, die Bundesrepublik nach außen zu<br />

vertreten, ist die Bundesregierung nicht erfreut, dass<br />

viele Länder ihre Büros als „Vertretung des Landes<br />

…/des Freistaats ...“ bezeichnen. Doch diese Namensgebung<br />

spiegelt das gestiegene Selbstbewusstsein<br />

der Länder wider, die gelegentlich <strong>Europa</strong>fragen<br />

als Innenpolitik betrachten. Die Ständige Vertretung<br />

der Bundesrepublik Deutschland bei der EU<br />

und die bilaterale Botschaft beim Königreich Belgien<br />

unterstützen die Länderbüros, soweit dies erforderlichist.<br />

H. D.-K.<br />

Informationsbüros des Europäischen Parlaments<br />

gibt es in allen Mitgliedstaaten. In Deutschland:<br />

Europäisches Parlament, Informationsbüro für<br />

Deutschland, Unter den Linden 78, 10117 Berlin.<br />

Europäisches Parlament, Informationsbüro München,<br />

Erhardtstraße 27, 80331 München. In Österreich:<br />

Europäisches Parlament, Informationsbüro<br />

für Österreich, Kärntner Ring 5–7, A-1010 Wien.<br />

Adressen aller Infobüros unter: www.europarl.de<br />

Informationsgesellschaft. Die rasante EntwicklungderInformations-undKommunikationstechnologien<br />

verursacht einen umfassenden wirtschaftlichen<br />

und gesellschaftlichen Wandel. An dessen<br />

Ende steht die Informationsgesellschaft, in der neue<br />

Informations- und Kommunikationstechnologien<br />

einen umfassenden Umgang mit den Ressourcen<br />

„Information“, „Wissen“ und „Unterhaltung“ ermöglicht.<br />

Vor allem werden interaktive Möglichkeiten<br />

elektronischer Kommunikation im wirtschaftlichen,<br />

behördlichen und privaten Bereich erheblich<br />

zunehmen.<br />

Bereits in den 1980er Jahren legte die EU zwei<br />

Grundsteine für eine Strategie für die Informationsgesellschaft:<br />

Mit dem Programm ESPRIT (Informationstechnik)<br />

im Jahre 1984, dem kurz darauf 1986<br />

spezifische Programme für Telematikanwendungen<br />

(Verkehr, Gesundheit und Fernunterricht) und das<br />

Programm RACE (fortgeschrittene Telekommunikationstechnologien)<br />

folgten, begann sie Forschungsprogramme<br />

im Bereich der Informationstechnologien.<br />

1987 nahm die Politik zur Liberalisierung<br />

des Telekommunikationsmarkts ihren Anfang,<br />

durch die nicht nur die bis dahin vorhandenen Monopole<br />

aufgelöst und die Wettbewerbsregelnstrikt an-<br />

441


Informationsgesellschaft<br />

gewendet wurden, sondern auch gemeinsame Regeln<br />

und Normen den Markt harmonisierten.<br />

Im Dezember 1993 beauftragte der Europäische Rat<br />

erstmals infolge des Weißbuchs „Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit,<br />

Beschäftigung“ eine Gruppe von<br />

Persönlichkeiten unter Federführung des damaligen<br />

Kommissionsmitglieds Martin Bangemann, einen<br />

Bericht über konkrete Maßnahmen vorzulegen, die<br />

von der EU und den Mitgliedstaaten in Bezug auf die<br />

Informationsinfrastrukturen zu ergreifen sind. Dieser<br />

Bericht enthielt Empfehlungen für den Beitrag<br />

der Europäischen Union zur Schaffung günstiger<br />

rechtlicher, technologischer und sozialer Rahmenbedingungen<br />

für die Informationsgesellschaft.<br />

Auf dieser Grundlage entstand im Juni 1994 der erste<br />

Aktionsplan der EU für die Informationsgesellschaft<br />

mit dem Titel „<strong>Europa</strong>s Weg in die Informationsgesellschaft“.<br />

Die Hauptziele dieses Aktionsplans waren<br />

die Beschleunigung der 1998 begonnenen vollständigen<br />

Liberalisierung der Telekommunikationsdienste<br />

und -infrastrukturen, der Ausbau und die<br />

Neuausrichtung der Forschungsprogramme und die<br />

Einbeziehung der neuen Aspekte der Informationsgesellschaft<br />

in alle einschlägigen Bereiche der Gemeinschaftspolitik.<br />

Im Jahre 1999 war die Informationsgesellschaft bereits<br />

keine Zukunftsvorstellung mehr, sondern zunehmend<br />

zu einer Wirklichkeit geworden, die sich<br />

mit dem rasanten Wachstum des Internet und dem<br />

schnellen Einzug der wissensbestimmten Wirtschaft<br />

deutlich abzeichnete. So benötigte die EU-Politik im<br />

Bereich der Informationsgesellschaft einen erneuten<br />

Anstoß und neue Ziele, die den geänderten Bedingungen<br />

besser gerecht würden.<br />

Deshalb legte die Kommission im Dezember 1999<br />

eine Mitteilung mit dem Titel „eEurope – Eine Informationsgesellschaft<br />

für alle“ vor (KOM 1999/687<br />

endg., nicht im ABl. veröffentlicht). Im März 2000<br />

beauftragtederEuropäischeRatdieKommissionmit<br />

der Ausarbeitung eines Aktionsplans eEurope, der<br />

dann im Juni 2000 gebilligt wurde. Der Aktionsplan<br />

„eEurope 2002“ sollte, so die Kommission, der Politik<br />

der EU „neuen politischen Elan verleihen“ (KOM<br />

2001/140endg.).DasZielbestanddarin,dieVorteile<br />

der Informationsgesellschaft allen Bürgern und der<br />

Geschäftswelt der Union, insbes. kleinen und mittleren<br />

Unternehmen (�KMU), zugänglich zu machen.<br />

Er enthielt eine Reihe wichtiger Zielsetzungen, die<br />

jeder Mitgliedstaat bis Ende 2002 erreichen sollte.<br />

442<br />

So sollte ein schnelleres und sichereres Internet geschaffen,<br />

Investitionen in Menschen und Fertigkeiten<br />

gefördert und die Nutzung des Internets insgesamt<br />

gefördert werden. Im Juni 2002 folgte ihm der<br />

Aktionsplan „eEurope 2005“ (KOM 2002/263<br />

endg.), der den Breitbandzugang zu wettbewerbsfähigen<br />

Preisen ermöglichen, die Sicherheit der Netze<br />

verbessern und die Anwendung der Informationstechnologien<br />

durch die Behörden verstärken sollte<br />

(„E-Government“). Im November 2003 wurde das<br />

Programm „MODINIS“ (Entscheidung 2256/2003,<br />

ABl. L 336/2003) verabschiedet, das den Leistungsvergleich<br />

zwischen den Mitgliedstaaten und die Unterstützung<br />

von Aufklärungsmaßnahmen zur Erhöhung<br />

der Netz- und Informationssicherheit zum Inhalt<br />

hat.<br />

Die Telekommunikationspolitik bildet den Schwerpunkt<br />

der EU-Strategie für die Informationsgesellschaft,<br />

da sie weiterhin die Haupttriebkraft für die<br />

schnelle und weite Verbreitung und Übernahme neuer<br />

Dienste der Informationsgesellschaft darstellt.<br />

Nachdem der Telekommunikationsmarkt im Jahre<br />

1998 weitgehend liberalisiert worden war, wurde im<br />

Jahr 2002 ein „Telekommunikationspaket“ verabschiedet<br />

(Rahmenichtlinie 2002/21, ABl. L 108/<br />

2002) mit der Richtlinie über den Zugang zu elektronischen<br />

Kommunikationsnetzen und zugehörigen<br />

Einrichtungen sowie deren Zusammenschaltung<br />

(2002/19), der Richtlinie über die Genehmigung<br />

elektronischer Kommunikationsnetze und -dienste<br />

(2002/20), der Richtlinie über Universaldienst und<br />

Nutzerrechte (2002/22, alle ABl. L 108/ 2002)) und<br />

der Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation<br />

(2002/58, ABl. L 201/2002).<br />

Im Juni 2002 veröffentlichte die Kommission eine<br />

Mitteilung mit dem Titel „Wege zur allgemeinen<br />

Verbreitung der Mobilfunkdienste der dritten Generation“(KOM2002/301endg.),indersiediewesentlichen<br />

finanziellen, technischen und rechtlichen Fragen<br />

analysiert und Handlungsschwerpunkte vorschlägt,<br />

um diese Entwicklung zu unterstützen. Im<br />

Bereich der Sicherheit und des Datenschutzes bestehen<br />

eine Richtlinie über die gegenseitige rechtliche<br />

Anerkennung elektronischer Signaturen (1999/93,<br />

ABl. L 13/2000), eine Verordnung zur Liberalisierung<br />

des innergemeinschaftlichen Handels mit VerschlüsselungsproduktenundeineRichtlinieüberden<br />

Schutz personenbezogener Daten (95/46, ABl. L<br />

281/1995). Ferner hat die EU einen Aktionsplan zur


Förderung der sicheren Nutzung des Internet (Entscheidung<br />

276/1999, ABl. L 33/1999) und zur Bekämpfung<br />

illegaler und schädlicher Inhalte angenommen<br />

und arbeitet an der Bekämpfung der Cyberkriminalität<br />

und der Verbesserung der Netzsicherheit.<br />

Im Juli 2002 wurde eine Datenschutzrichtlinie<br />

für elektronische Kommunikation verabschiedet, in<br />

der Aspekte geregelt werden, die mehr oder weniger<br />

kritisch sind, darunter die Aufbewahrung von VerbindungsdatenzumZweckederÜberwachungdurch<br />

Strafverfolgungsbehörden durch die Mitgliedstaaten,<br />

die Übermittlung unerbetener Nachrichten, die<br />

Verwendung von „Cookies“ und die Aufnahme persönlicher<br />

Daten in Teilnehmerverzeichnisse.<br />

Um den Nutzern eine höhere Sicherheit garantieren<br />

zu können, hat die EU die Europäische Agentur für<br />

Netz- und Informationssicherheit (ENISA) gegründet<br />

(VO 460/2003, ABl. L 336/2003), die eine beratende<br />

Funktion hat und die Maßnahmen der Mitgliedstaaten<br />

zur Sicherung ihrer Netze und Informationssysteme<br />

koordinieren soll. Ziel ist es, die Reaktionsfähigkeit<br />

der EU, der Mitgliedstaaten und der<br />

Unternehmen auf Probleme im Zusammenhang mit<br />

der Netz- und Informationssicherheit zu stärken. Die<br />

Agentur hat im März 2004 ihre Arbeit aufgenommen.<br />

Ein wesentliches Augenmerk richtet die EU auf den<br />

elektronischen Geschäftsverkehr. Notwendig sind<br />

EU-Regelungen, um wesentliche Rechtsgarantien<br />

für die elektronische Abwicklung von Geschäften<br />

und eine freie Erbringung elektronischer Dienstleistungen<br />

zu ermöglichen. Dabei ist die EU bestrebt,<br />

ein ausgewogenes Gleichgewicht herzustellen zwischen<br />

der Notwendigkeit, den elektronischen Geschäftsverkehr<br />

zu regeln, und der Gefahr einer Überregulierung,<br />

die ein schnelles Wachstum in diesem<br />

Bereich torpedieren könnte. Richtlinien regeln<br />

rechtliche Aspekte des elektronischen Geschäftsverkehrs<br />

(2000/31, ABl. L 178/2000), den Schutz<br />

geistiger Eigentumsrechte in der Informationsgesellschaft<br />

(2001/29, ABl. L 167/2001) sowie den<br />

Fernabsatz von Finanzdienstleistungen. Eine im Juli<br />

2005 vorgestellte Studie sieht darüber hinaus einen<br />

akuten Bedarf, europäische Strukturen für die kollektive<br />

Rechtevergabe für urheberrechtsgeschützte<br />

Musikwerke zur Verbreitung im Internet zu schaffen,<br />

da derzeit nationale Verwertungsgesellschaften<br />

keineeuropaweitenNutzungslizenzenermöglichen.<br />

Forschungsprogramme im Bereich der Telekommu-<br />

nikation ergänzen die Strategie der EU. Zu erwähnen<br />

ist hier der Schwerpunktbereich „Technologien für<br />

die Informationsgesellschaft (TIG, Information Society<br />

Technologies, IST)“, mit einem Volumen von<br />

3,625 Mrd. Euro im 6. Forschungsrahmenprogramm<br />

(2002 – 2006). Ergänzend gibt es eine Reihe wichtiger<br />

Begleitmaßnahmen, Programme und spezieller<br />

Maßnahmen wie z. B. das Programm eContent zur<br />

Förderung der Entwicklung europäischer multimedialer<br />

Inhalte (Kultur, Sprache) für das Internet und<br />

der Aktionsplan eLearning, das die Tätigkeit der EU<br />

in Bezug auf die Bildung im digitalen Zeitalter bündeln<br />

soll.<br />

Das Internet und der elektronische Geschäftsverkehr<br />

sindvonNaturausglobalangelegt.Deshalbmussein<br />

Mindestmaß an gemeinsamen Regeln auf internationalerEbenefestgelegtwerden.Umdieszuerreichen,<br />

arbeitet die Kommission in verschiedenen multilateralen<br />

Organisationen mit, z. B. in der Internationalen<br />

Fernmeldeunion(ITU)derWelthandelsorganisation<br />

(WTO), der Weltorganisation für geistiges Eigentum<br />

(WIPO), der Organisation für wirtschaftliche<br />

Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) u. a. Als<br />

wichtigste internationale Vereinbarung ist das im<br />

Rahmen der WTO geschlossene Allgemeine Abkommen<br />

über den Handel mit Dienstleistungen<br />

(�GATS) für die Telekommunikation, das den Weg<br />

für den Wettbewerb auf einem bedeutenden Teil des<br />

weltweiten Marktes der Telekommunikationsdiensteebnet,zuerwähnen.<br />

M. K.<br />

Informationsstellen (Info-Points-<strong>Europa</strong> und Carrefours)<br />

in den Mitgliedstaaten und insbes. für den<br />

ländlichen Raum haben neben fachkundiger Beratung<br />

und Information über die Europäische Union<br />

auch offizielle Dokumente und Broschüren für Bürgerinnen<br />

und Bürger angeboten. Info-Points und<br />

Carrefours werden seit 2005 ersetzt durch das neue,<br />

EU-weit einheitliche Informationsnetz �Europe-<br />

Direct mit 400 Informationszentren in den 25 EU-<br />

Staaten. Träger sind in der Regel Handelskammern<br />

oder kommunale Behörden. Anfragen werden<br />

mündlich oder schriftlich beantwortet. Gebührenfrei<br />

(vom Festnetz aus) ist das „Europe Direct Kontaktzentrum“<br />

unter 0800/67891011 aus allen 25 EU-<br />

Staaten zu erreichen.<br />

Internet: http://europa.eu.int/europedirect<br />

Initiativrecht �Gesetzgebungsverfahren<br />

Initiativrecht<br />

443


Inkrafttreten<br />

Inkrafttreten. Im primären �Gemeinschaftsrecht<br />

der EU: Verträge zur Änderung der bestehenden<br />

Verträge bedürfen der Ratifizierung. Der Tag des Inkrafttretens<br />

ist in der Regel im Vertragstext genannt,<br />

andernfalls tritt der Vertrag am ersten Tag des auf die<br />

Hinterlegung der letzten Ratifizierungsurkunde folgendenMonatsinKraft.ErkannnichtinKrafttreten,wennauchnureinMitgliedstaatdenVertragnichtratifiziert.<br />

Der �Verfassungsvertrag 2004 sieht dafür<br />

in Art. IV-443 Abs. 4 ein geändertes Verfahren vor:<br />

Haben nach Ablauf von zwei Jahren nach der Unterzeichnung<br />

des Vertrags zur Änderung dieses Vertrags<br />

vier Fünftel der Mitgliedstaaten den genannten<br />

Vertrag ratifiziert und sind in einem Mitgliedstaat<br />

oder in mehreren Mitgliedstaaten Schwierigkeiten<br />

bei der Ratifikation aufgetreten, so befasst sich der<br />

Europäische Rat mit der Frage.<br />

Im sekundären �Gemeinschaftsrecht der EU: Die<br />

nach dem Kodezisionsverfahren (Art. 251 EGV,<br />

�Gesetzgebungsverfahren)angenommenen �Rechtsakte<br />

werden im �Amtsblatt der EG veröffentlicht.<br />

Sie treten zu dem durch sie festgelegten Zeitpunkt in<br />

Kraft, andernfalls am zwanzigsten Tag nach ihrer<br />

Veröffentlichung.DasgleichegiltfürVerordnungen<br />

des Rates und der Kommission sowie für Richtlinien<br />

dieser Organe, die an alle Mitgliedstaaten gerichtet<br />

sind. Alle anderen Richtlinien und Entscheidungen<br />

werden wirksam, sobald sie dem Adressaten bekannt<br />

gegeben worden sind. Der �Verfassungsvertrag<br />

2004 ändert daran nichts (Art. I-39 VVE). Er selbst<br />

tritt gem. Art. IV-447 am 1. 11. 2006 in Kraft, sofern<br />

alle EU-Staaten ihn ratifiziert haben, andernfalls am<br />

ersten Tag des zweiten auf die Hinterlegung des letzten<br />

Ratifikationsurkunde folgenden Monats. Das bedeutet,<br />

er tritt nicht in Kraft, wenn auch nur ein Staat<br />

ihn nicht ratifiziert.<br />

Inmarsat. Ein seit 1982 bestehendes Unternehmen,<br />

das ein weltweites System zur drahtlosen Übertragung<br />

von Nachrichten von Schiffen, Flugzeugen<br />

oder Fahrzeugen aus betreibt. Das System besteht<br />

aus neun geostationär in 36 000 km Höhe über dem<br />

Äquator stehenden Satelliten, die die gesamte Erdoberfläche<br />

(mit Ausnahme der Pole) in vier Bereichenabdecken:Atlantik-Ost,Atlantik-West,Pazifik<br />

und Indischer Ozean. Das Inmarsat-System wird<br />

auch von Übertragungswagen für Hörfunk und Fernsehen<br />

genutzt, ebenso von Katastrophendiensten,<br />

Expeditionen oder zur Kommunikation mit entfern-<br />

444<br />

ten Baustellen. Am 11. 3. 2005 wurde der erste von<br />

drei Inmarsat-Satelliten der 4. Generation gestartet<br />

und in seine Position gebracht. Sie dienen der Hochgeschwindigkeitsübertragung<br />

von Daten und Stimmen<br />

für Mobiltelefone.<br />

Institut für Europäische Politik (e.V.). 1959 gegründet<br />

als selbständiges wissenschaftliches Institut.<br />

Das IEP ist Gründungsmitglied der Trans European<br />

Policy Studies Association (TEPSA), Brüssel.<br />

Aufgabe des IEP ist es, die Probleme der europäischen<br />

Politik und der Integration wissenschaftlich zu<br />

untersuchen und die praktische Anwendung der Untersuchungsergebnisse<br />

zu fördern. Arbeitsschwerpunkte:<br />

Grundlagen, Strukturen und Institutionen<br />

der EU, Reformdebatten und europapolitische Langzeittrends,<br />

Beiträge zur Integrationstheorie und -geschichte<br />

(�Integration), deutsche <strong>Europa</strong>politik und<br />

Deutschlands Rolle in der EU, EU-Erweiterung und<br />

�Europäische Nachbarschaftspolitik, �Gemeinsame<br />

Außen- und Sicherheitspolitik, �Wirtschaftsund<br />

Währungsunion und andere Politikbereiche,<br />

Fortbildung und europäische politische Bildung<br />

(�Bildungspolitik).<br />

Regelmäßige Publikationen: Jahrbuch der Europäischen<br />

Integration (seit 1981); Vierteljahreszeitschrift<br />

„integration“ (seit 1977); <strong>Europa</strong> von A bis Z.<br />

Taschenbuch der europäischen Integration (9. Auflage<br />

2005); Reihen: Europäische Schriften, Analysen<br />

zur europäischen Verfassungsdebatte (seit 2004<br />

alleNomosVerlag,Baden-Baden). W.M.<br />

Anschrift: Jean-Monnet-Haus, Bundesallee 22, 10717 Berlin.<br />

Institut für Sicherheitsstudien (EUISS). Ursprünglich<br />

in der �Westeuropäischen Union (WEU)<br />

angesiedeltes, infolge des Beschlusses des Europäischen<br />

Rats (ER) in Köln 1999 zur schrittweisen<br />

Überleitung der Rolle und Aufgaben der WEU vom<br />

Rat durch �Gemeinsame Aktion vom 20. 7. 2001 in<br />

die EU überführtes Institut zur wissenschaftlichen<br />

Forschung und Analyse im Bereich der �Gemeinsamen<br />

Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) einschl.<br />

der �Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik<br />

(ESVP). Das EUISS ist in der Rechtsform einer<br />

�Agentur der EU verfasst. Ungeachtet der damit<br />

verbundenen eigenen Rechtspersönlichkeit ist das<br />

EUISSengandeneinheitlicheninstitutionellenRahmen<br />

der EU angebunden (�Satellitenzentrum der<br />

EU, �Europäische Verteidigungsagentur). Die Ar-


eitdesEUISSwirdvoneinemVerwaltungsratüberwacht,demunterdemVorsitzdes<br />

�HohenVertreters<br />

(HR) alle Mitgliedstaaten der EU angehören. Die politische<br />

Aufsicht über das EUISS wird vom �Politischen<br />

und Sicherheitspolitischen Komitee (PSK)<br />

ausgeübt.SitzdesEUISSistParis. U S.<br />

Institutionelles Gleichgewicht ist ein wünschenswerter,<br />

in der Praxis aber kaum vollkommen erreichbarer<br />

Zustand der Ausgewogenheit von Ausübung<br />

derMachtundihrerKontrollezwischendenOrganen<br />

(Institutionen) der EU. Das modellhafte Gleichgewicht<br />

durch Trennung der drei Gewalten Exekutive,<br />

Legislative und Jurisdiktion (Montesquieu 1748) ist<br />

auf die politische Arbeit der EU nicht einfach übertragbar.<br />

Ausgewogene Machtverteilung in der EU<br />

entstehteherdurchdasausderangelsächsischenTradition<br />

entstandene System von checks and balances,<br />

vom Gleichgewicht durch gegenseitige Kontrolle<br />

mit hemmender Wirkung.<br />

In den Anfangsjahren der Europäischen GemeinschaftenwarderRatdasalleinentscheidendelegislative<br />

Organ, das auch exekutive Befugnisse, also den<br />

Erlass von Durchführungsverordnungen, weitgehend<br />

in der Hand behielt. Dem heute erreichten, noch<br />

unvollkommenen Zustand von institutionellem<br />

Gleichgewicht näherte sich die Gemeinschaft durch<br />

schrittweise Änderungen der Gründungsverträge<br />

und allmähliche Übertragung von Zuständigkeiten<br />

auf das Europäische Parlament (legislative Mitentscheidung)<br />

und die Kommission (exekutive Befugnisse).<br />

Auch �Interinstitutionelle Vereinbarungen<br />

trugen zur Austarierung des Gleichgewichts bei. So<br />

wurde einerseits das �Demokratiedefizit im Rechtsetzungsverfahren<br />

der EG abgebaut, andererseits die<br />

MachtdesRatesdurchwachsendeEntscheidungsbefugnisse<br />

des EP beschnitten.<br />

Da diese Machtverlagerung vom Rat zum Parlament<br />

mit dem Abbau des Vetorechts der Mitgliedstaaten<br />

einherging (Übergang von der Einstimmigkeit zum<br />

Mehrheitsbeschluss), also mit Souveränitätsübertragung<br />

verbunden war, kam sie oft nur mühsam und<br />

durch Überwindung hinhaltenden Widerstands einzelner<br />

Regierungen zustande. Aber dieser Übergang<br />

zur „echten“ �Supranationalität der Gemeinschaft<br />

war die Voraussetzung für das Entstehen eines annähernden<br />

Gleichgewichts der Institutionen und der<br />

Annäherung an das Ziel der Rechtsetzung auf demokratischer<br />

und rechtsstaatlicher Basis.<br />

Dem Versuch eines Organs der EU, das institutionelle<br />

Gleichgewicht vertragswidrig zu seinen Gunsten<br />

zu verändern, kann ein anderes Organ mit einer Klage<br />

vor dem EuGH begegnen. Ein einschlägiges Urteil<br />

begründete der EuGH u. a. so: „Die Wahrung des<br />

institutionellen Gleichgewichts gebietet es, dass jedes<br />

Organ seine Befugnisse unter Beachtung der Befugnisse<br />

der anderen Organe ausübt. Sie verlangt<br />

auch, dass eventuelle Verstöße gegen diesen Grundsatz<br />

geahndet werden können“ (vgl. EuGH, Slg.<br />

1990, I-2041 – Tschernobyl –).<br />

Institutionen der EU �Organe (allgemein)<br />

Integration<br />

Integration<br />

1. Begriffserklärung: Integration bedeutet den Zusammenschluss<br />

einzelner Teile zu einem übergeordneten<br />

Ganzen. In der Politik beschreibt Integration<br />

etwas Weitergehendes als die Zusammenarbeit von<br />

Staaten: Wenn diese sich zu einer Integration entscheiden,<br />

dann geben sie nationalstaatliche ZuständigkeitenaneineübergeordneteEbeneab,dieeigene<br />

Organe ausbildet. Es entsteht ein supranationales Institutionensystem<br />

(�Supranationalität) mit autonomer<br />

Rechtsordnung, d. h. Staaten arbeiten nicht nur<br />

auf Gebieten gemeinsamen Interesses zusammen,<br />

sondern übertragen auf freiwilliger Basis nationale<br />

Hoheitsrechte an überstaatliche Institutionen. Im<br />

Gegensatz zur Kooperation kommt es zu einer Verschmelzung<br />

von ursprünglich nationalstaatlichen<br />

Hoheitsrechten. Die gemeinschaftliche Politik soll<br />

mehr sein als nur die Summe der Politiken der einzelnen<br />

Mitglieder.<br />

Die europäische Integration ist in ihrer Art bisher ein<br />

weltweit einzigartiger Vorgang. Das Wort Integration<br />

bezeichnet im politischen Sprachgebrauch sowohl<br />

ein Ziel als auch den zu diesem Ziel führenden<br />

Prozess.<br />

2. Historische Entwicklung: Das Nachdenken über<br />

ein politisch geeintes <strong>Europa</strong> hat eine lange Tradition.<br />

Konkretisiert hat sich die Idee nach den zwei<br />

Weltkriegen. Die zweimalige Zerstörung des Kontinents<br />

gab Überlegungen Auftrieb, dass es eine Form<br />

der Zusammenarbeit geben müsse, die solche Katastrophen<br />

verhindere. Instrumente zur friedlichen Lösung<br />

von Konflikten sollten entwickelt werden. Dabei<br />

standen sich zwei unterschiedliche Konzeptionen<br />

gegenüber:<br />

Die Konföderalisten setzten auf einen eher losen, un-<br />

445


Integration<br />

verbindlichen Staatenbund, der die SouveränitätsrechtederMitgliedstaatenunangetastetlassensollte.<br />

Hier wird kein Gesamtstaat mit eigener Staatsgewalt<br />

und eigenen Staatsorganen angestrebt. Die Mitgliedstaaten<br />

können sich zwar verpflichten, gemeinsame<br />

Einrichtungen zu unterhalten und gemeinsam einheitliche<br />

Gesetze zu erlassen; diese müssen aber, um<br />

rechtsverbindlich zu werden, gemäß den Bestimmungen<br />

der Mitgliedstaaten als Übereinkommen<br />

verabschiedetwerden.DeshalbistdieseineFormder<br />

�intergouvernementalen Zusammenarbeit zwischen<br />

Staaten. Grundgedanke ist, dass allein der klassische<br />

NationalstaatüberdieMittelverfüge,diezuroptimalen<br />

Entwicklung einer modernen Nation notwendig<br />

seien.<br />

Die Föderalisten gehen davon aus, dass es eine Reihe<br />

von Problemen gibt, die nur in einem sehr engen Verbund<br />

der Mitgliedstaaten mit eigenständigen Entscheidungsstrukturen<br />

zu lösen sind. Ein Teil der gemeinsamen<br />

Politik wird dann über die eigens hierfür<br />

ausgebildeten supranationalen Organe betrieben.<br />

Vorteile:<br />

– größere Effizienz durch die Bündelung gemeinsamer<br />

Ressourcen (z. B. in der Forschungs- und Technologiepolitik);<br />

– wirksame Lösungen bei Problemen, die nationale<br />

Grenzen überschritten haben (z. B. in der Umweltpolitik);<br />

– größere Wettbewerbschancen auf dem Weltmarkt<br />

durch gegenseitiges Abstimmen von Normen (z. B.<br />

in der Außenhandelspolitik);<br />

– das Setzen von Standards gibt auch den weniger<br />

entwickelten Mitgliedstaaten Anreiz zu neuen Anstrengungen<br />

(z. B. soziale Dimension, Verbraucherschutzniveau);<br />

– die Lasten des Strukturwandels können in gegenseitiger<br />

Solidarität getragen werden.<br />

Die föderale Idee geht davon aus, dass bestimmte<br />

Kompetenzen bei den Gliedstaaten verbleiben, d. h.<br />

die Mitgliedstaaten werden sich nicht auflösen. Deshalb<br />

wird der Begriff Föderation auch mit Bundesstaat<br />

gleichgesetzt. Das Austarieren der Balance<br />

zwischen den Mitgliedstaaten und der europäischen<br />

Struktur ist Ausdruck eines lebendigen Föderalismus.<br />

Da keines der beiden Modelle ohne Weiteres zu verwirklichen<br />

war, einigten sich die Gründerstaaten der<br />

EWG, den Weg der sektoriellen Teilintegration einzuschlagen:<br />

Es wurde nur ein bestimmter definierter<br />

446<br />

Teilbereich (EGKS: Kohle und Stahl; EWG: Agrarund<br />

Zollbereich; EAG: Atomwirtschaft) vergemeinschaftet.<br />

Die Erwartung war, dass sich die in der engen<br />

wirtschaftlichen Kooperation angesammelten<br />

Erfahrungen auch auf andere Bereiche ausdehnen<br />

lassen werden (Funktionalismus) und zuletzt auch<br />

sensiblere politische Sachbereiche einbezogen werden<br />

können („spill over“). Während beim Ansatz des<br />

Funktionalismus der Integrationsprozess eher inkrementalistischerNatur,d.h.aufZuwachsangelegtist,<br />

ist Ausgangspunkt des Föderalismus/Konföderalismus<br />

eine politische Willenserklärung und ggf. damit<br />

verbunden ein verfassungsähnlicher Akt.<br />

Der Prozess der Vertiefung der politischen Integration<br />

erwies sich als problematisch: Alle Versuche, ein<br />

politisches Dach über die bisherigen Integrationsfortschritte<br />

zu wölben, verliefen erfolglos (�Verfassungsvertrag<br />

2004, �Verfassungsentwürfe). So war<br />

es in den siebziger Jahren nur möglich, einen Teilbereich<br />

originärer nationalstaatlicher Kompetenz im<br />

Kooperationsverfahren (intergouvernemental) in<br />

gemeinsames Handeln zu überführen (�Europäische<br />

Politische Zusammenarbeit). Erst mit dem Vertrag<br />

über die Europäische Union (1993) ist es gelungen,<br />

drei Säulen unterschiedlicher Integrationsqualität<br />

mit einem Unions-Vertrag zu überwölben.<br />

Die bisherige Entwicklung der europäischen Integration<br />

zeigt zwei unterschiedliche Formen: Einmal<br />

gibt es im Vertragswerk festgeschriebene Ziele, die<br />

bei den Mitgliedstaaten keine unmittelbaren Kosten<br />

verursachen, so dass man davon ausgeht, dass der<br />

Markt selbst zu einer gerechten Verteilung der Güter<br />

führt und deshalb keine flankierenden Strukturmaßnahmen<br />

vonseiten der EU notwendig sind (negative<br />

Integration, z. B. europäischer Binnenmarkt). Dann<br />

wieder gibt es Politikbereiche, in denen die EU politisch<br />

gestaltend agiert, was auch haushaltsrelevante<br />

Kostenansätze zur Folge hat (positive Integration,<br />

z. B. wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt).<br />

3. Gegenstandsbeschreibung: Die europäische Integration<br />

ist immer noch durch ihre Prozesshaftigkeit<br />

gekennzeichnet; die endgültige Form der Integration<br />

ist noch nicht erreicht. Die Europäische Union, so<br />

wie sie sich aktuell darstellt, ist eine Mischung aus<br />

den beiden Elementen Konföderation und Föderation:<br />

Es gibt nebeneinander sowohl supranationale<br />

wie intergouvernementale Elemente. Das deutsche<br />

Bundesverfassungsgericht hat deshalb in seinem Urteil<br />

zum Vertrag über die Europäische Union als


Klassifizierung des Integrationsstandes den Begriff<br />

„Staatenverbund “ eingeführt. Auch der Entwurf eines<br />

Vertrages über eine Verfassung für <strong>Europa</strong> überwindet<br />

diese unterschiedlichen Integrationsansätze<br />

nicht.<br />

Vor dem Hintergrund der immer größer werdenden<br />

EU und damit verbunden der Notwendigkeit des Erhalts<br />

ihrer Handlungsfähigkeit werden Formen differenzierter<br />

Integration verstärkt diskutiert (�Integrationsmodelle,<br />

u. a. �Kerneuropa, �Abgestufte Integration<br />

etc.).<br />

4. Kritische Wertung: Problematisch bei der Qualifizierung<br />

des Integrationsprozesses ist, dass das Ziel<br />

bisher nur vage beschrieben worden ist. Die Formel<br />

„EuropäischeUnion“kannvielerleiInterpretationen<br />

beinhalten. Dadurch findet bei jedem weiterreichenden<br />

Integrationsschritt eine intensive Diskussion<br />

über das zu wählende Konzept statt. Dieses hat – je<br />

nachdem, welche Seite sich durchsetzen konnte – zu<br />

einer vom Ansatz her heterogenen Vertragsrealität<br />

geführt. Auf der anderen Seite bleibt durch die Offenheit<br />

der Formel „Europäische Union“ eine Handlungsmarge<br />

in der aktuellen politischen Situation gegeben.<br />

Vielleicht macht dies auch den Erfolg der bisherigen<br />

Integration aus: Man konnte immer mit den<br />

zu dem jeweiligen Zeitpunkt angemessenen, durchsetzbaren<br />

Mitteln weiter voranschreiten. Wäre das<br />

Konzept starrer, wäre die Integration behindert worden.<br />

M. P.<br />

Literatur:<br />

Bieling, H. J./Lerch. M.: Theorien der europäischen<br />

Integration. Stuttgart 2005<br />

Faber, A.: Europäische Integration und politikwissenschaftliche<br />

Theorienbildung. Neofunktionalismus und<br />

Intergouvernementalismus in der Analyse. Wiesbaden 2005<br />

Hallstein, W.: Der unvollendete Bundesstaat.<br />

Düsseldorf/Wien 1969<br />

Haltern, U.: Die Wissenschaft des öffentlichen Rechts und die<br />

europäische Integration. Köln 2005<br />

Integrationsmodelle und -theorien<br />

1. Begriff: Die europäische Integration wird von<br />

Überlegungen aus Wissenschaft und Praxis im Hinblick<br />

auf Möglichkeiten ihrer aktuellen und künftigenEntwicklungbegleitet.DieEUistimLichtepolitikwissenschaftlicher<br />

Analysen eine „intergouvernementale<br />

Kooperationsform“ bzw. ein „Zweckverband<br />

funktioneller Integration“, woraus diverse Modelle<br />

entwickelt worden sind. Ein „Modell“ stellt<br />

eine gedankliche Vereinfachung eines Komplexes<br />

auf seine wesentlichen Bestandteile dar. Es ist die<br />

Integrationsmodelle<br />

Suche nach Verallgemeinerungen und wichtigen<br />

Strukturzusammenhängen. Ausgangspunkt ist die<br />

politische Entscheidung nach einer Vollintegration<br />

oder (funktionalen) Teilintegration. Einige alternative<br />

Modellentwürfe aus der Zeit bis zur Mitte der<br />

1970er Jahre werden im Folgenden präsentiert.<br />

2. Modelle<br />

– Modell „Evolutionäres <strong>Europa</strong>“: Es visiert eine<br />

Teilunionan,währenddiebisherigeStruktursichnur<br />

unwesentlich ändert; eine stärkere Zusammenarbeit<br />

in mehreren Bereichen wird stattfinden, aber diplomatisch<br />

und machtpolitisch wird dieses <strong>Europa</strong> als<br />

Ganzes schwach bleiben; die Unabhängigkeit von<br />

den USA wird wachsen, gleichzeitig soll Ost(mittel)europa<br />

hinzugezogen werden.<br />

– Modell „Atlantisches <strong>Europa</strong>“: Enge Zusammenarbeit<br />

mit der Großmacht USA in Politik, Sicherheit,<br />

Industrie und Technologie usw.<br />

– Modell „<strong>Europa</strong> der Staaten“ (Vaterländer): Europäische<br />

Institutionen ergänzen nur die nationalstaatliche<br />

Autonomie; eine Staatenunion (Konföderation)<br />

mit koordinierter Politik (�Fouchet-Pläne<br />

1961/62); bilaterale und multilaterale Bündnisse<br />

(vgl. Locarno-Pakt).<br />

– Modell „Partnerschafts-<strong>Europa</strong>“: Europäische Föderation<br />

und Partnerschaft mit den USA; Endziel:<br />

VereinigteStaatenvon<strong>Europa</strong>mitbundesstaatlicher<br />

Verfassung, föderaler Superstaat durch Zusammenfassung<br />

aller wirtschaftlichen, sozialen, militärischen<br />

und politischen Verantwortung (Forderung<br />

Monnets seit 1950; Barzel-Plan); <strong>Europa</strong> würde zum<br />

weltpolitischen Faktor.<br />

– Modell „Unabhängige Europäische Föderation“:<br />

Vereinigtes <strong>Europa</strong> als „<strong>Europa</strong> der Staaten“ mit<br />

bundesstaatlicher Struktur, ohne die USA.<br />

– Modell „Wirtschafts- und Währungsunion“: Sie<br />

würde einer Politischen Union angenähert sein<br />

(�Werner-Plan).<br />

– Modell „Europäische Union“: Forderung der Pariser<br />

Gipfelkonferenz von 1972; nach internationaler<br />

Interpretation eine (Kon-)Föderation, nach bundesdeutscher<br />

Interpretation eine politische Union<br />

(�Einheitliche Europäische Akte 1986 und �Vertrag<br />

über die Europäische Union 1992).<br />

Schließlich sind institutionelle und Rationalchoice-Ansätze<br />

zu nennen.<br />

3. Theoretische Grundlagen: Als Verfahrensweisen<br />

bieten sich verschiedene Wege zur europäischen Integration<br />

an: der föderalistische, der institutionelle,<br />

447


Integrierte Mittelmeerprogramme<br />

der konstitutionelle, der funktionalistische und der<br />

kulturelle Weg. Daraus wurden verschiedene Integrationstheorien<br />

entwickelt, und zwar<br />

a) die föderalistische Theorie (einmaliger politischer<br />

Verfassungsakt zur Schaffung eines Vereinigten<br />

<strong>Europa</strong>);<br />

b) die funktionalistische Theorie (Zusammenschluss<br />

von Funktionsbereichen, z. B. Wirtschaft,<br />

Politik, Kultur; durch technische und administrative<br />

Kooperation wird ein allmählicher Wandel der einzelstaatlichen<br />

Handlungsparameter erwartet; nach<br />

der neofunktionalistischen Theorie stehen die konfliktregelnden<br />

Institutionen, einschl. der in ihnen arbeitenden<br />

Menschen, im Vordergrund, spezifische<br />

integrationsfördernde Variablen werden berücksichtigt<br />

und gebündelt zu Hintergrundvariablen und<br />

Prozessvariablen; als wichtigste Variable gelten die<br />

nationalen Interessengruppen, die sich zu regionalen<br />

Interessenverbänden mit eigenständigen Entscheidungsstrukturen<br />

zusammenschließen und durch<br />

Druck auf mehr Integration hinarbeiten);<br />

c) die systemtheoretische Konzeption;<br />

d) das (neo-)liberale Konzept (Marktmechanismus<br />

als per se freiheitsverbürgendes und wohlfahrtsoptimierendes<br />

Grundprinzip).<br />

Eine andere integrationstheoretische Klassifizierung<br />

teilt ein<br />

a) in den Ansatz Kerneuropa: Vertiefung, enger Zusammenschluss<br />

integrationsfähiger und -williger<br />

Staaten, funktional-sektoral orientiert;<br />

b) in den intergouvernementalen Ansatz: vor allem<br />

von den britischen Konservativen verfolgt; richtet<br />

sich gegen eine föderalistische Zentralisierung;<br />

c) in den Ansatz �Abgestufte Integration: einige<br />

Mitglieder gehen voran, die anderen folgen (z. B.<br />

�Währungsunion); es handelt sich um eine differenzierte<br />

Integration durch ein „opting-in“ leistungsbereiter<br />

Mitgliedstaaten.<br />

Schließlich hält die kybernetische Methode die Ausweitung,<br />

Regelung und Steuerung grenzüberschreitender<br />

Kommunikations- und Transaktionsströme<br />

für den grundlegenden Vorgang der transnationalen<br />

Gemeinschaftsbildung.<br />

Seit Mitte der 1970er Jahre stagniert die Theorieentwicklung,<br />

wobei die Integration eigentlich keine<br />

Theorie im strengen sozialwissenschaftlichen Sinne<br />

darstellt, sondern eher ein Beschreibungsschema bestimmter<br />

pragmatischer Strategien der Politik, Prozessmodelle<br />

für das Zusammenwachsen ökonomi-<br />

448<br />

scher, politischer und sozialer Systeme, deren Realitätsbezugnichteindeutigist.NebenderIntegrationssteht<br />

daher die (oft realistischere) Kooperationsmethode.<br />

Diese beruht auf einem Grad von Demokratie<br />

in den teilnehmenden Staaten. Soll sich die Kooperation<br />

in Richtung auf die Integration bewegen, so<br />

muss gleichzeitig der Grad an Demokratie erhöht<br />

werden. W. M.<br />

Literatur:<br />

Bellers, J.: Integrationstheorien. In: Nohlen, D. (Hg.): Pipers<br />

Wörterbuch zur Politik. Bd. 3: Europäische Gemeinschaft<br />

(hg. von W. Woyke). München 1984, S. 354 – 362<br />

Giering, Cl.: <strong>Europa</strong> zwischen Zweckverband und Superstaat.<br />

Die Entwicklung der politikwissenschaftlichen Integrationstheorie<br />

im Prozess der europäischen Integration.<br />

München 1997<br />

Integrierte Mittelmeerprogramme �Barcelona-<br />

Prozess<br />

Integrierte ProduktpolitikistdasZieleinervonder<br />

KommissionimGrünbuchvom7.2.2001entwickelten<br />

Strategie, die zu umweltfreundlicheren Produkten<br />

führen soll. Die Industrie soll zu ökologischer<br />

Produktion angehalten, die Preisbildung ökologischer<br />

Produkte durch (z. B. steuerliche) Vorteile begünstigt<br />

und die Verbraucher sollen zu kritischer<br />

Wahl motiviert werden.<br />

Intelligente Energie für <strong>Europa</strong>. Das Programm<br />

Intelligente Energie für <strong>Europa</strong> (IEE) wurde am 26.<br />

6. 2003 mit der Entscheidung Nr. 1230/2003 (ABl. L<br />

176/2003) für eine Dauer von zunächst vier Jahren<br />

(2003–2006)ausderTaufegehobenundverfügtüber<br />

ein Budget von 250 Mio. Euro. Es folgt dem sog.<br />

Energierahmenprogramm, konzentriert sich jedoch<br />

auf die Förderung erneuerbarer Energien und der rationellen<br />

Nutzung von Energie. Das IEE-Programm<br />

ist als nicht-technologisches Programm der GemeinschaftimBereichEnergiekonzipiert,d.h.imGegensatz<br />

zum EU-Forschungsrahmenprogramm befasst<br />

es sich nicht mit Erforschung und Demonstration<br />

nachhaltiger Energietechnologien, sondern setzt in<br />

der Phase der Markteinführung ein. Das IEE trägt<br />

den übergreifenden energiepolitischen Zielen der<br />

EU–Klimaschutz,VersorgungssicherheitundWettbewerbsfähigkeit<br />

– und den quantitativen Vorgaben<br />

für den Ausbau regenerativer Energien und die Steigerung<br />

der Energieeffizienz Rechnung. Dabei fördertesinersterLinieProjektelokaler,regionaler,nationaler<br />

und europäischer Akteure, die zur Markter-


schließung von nachhaltigen Energietechnologien<br />

beitragen und Investitionen ankurbeln, administrative<br />

Barrieren abbauen helfen, die Bewusstsein für<br />

nachhaltige Energieerzeugung und -nutzung schaffen<br />

sowie die Umsetzung bestehenden und die Vorbereitung<br />

zukünftigen EU-Rechts unterstützen. Das<br />

laufende Programm ist in vier Bereiche unterteilt:<br />

SAVE (Energieeffizienz und rationelle Nutzung von<br />

Energie); ALTENER (neue und erneuerbare Energien),<br />

STEER (Energieeffizienz und Nutzung neuer<br />

und erneuerbarer Energiequellen im Verkehrssektor)<br />

sowie COOPENER (Förderung erneuerbarer<br />

Energien und Energieeffizienz in Entwicklungsländern).<br />

Die Umsetzung des Programms liegt mittlerweile<br />

größtenteils in den Händen der neu gegründeten<br />

Exekutivagentur (Intelligent Energy Executive<br />

Agency),dieihrenSitzinBrüsselhatunddieersteihrer<br />

Art ist.<br />

Im Zuge der Verhandlungen über die Finanzielle<br />

Vorausschau 2007 – 2013 wird auch über die FortführungdesIEE-Programmsundseinenzukünftigen<br />

Zuschnitt entschieden.<br />

Anlässlich des EU-Frühjahrsgipfels nahm die Kommission<br />

am 6. 4. 2005 den Vorschlag für ein neues<br />

Rahmenprogramm für Wettbewerbsfähigkeit und<br />

Innovation an, das u. a. das Programm Intelligente<br />

Energiefür<strong>Europa</strong>einschließensoll. U. N.<br />

Internet:<br />

http://europa.eu.int/comm/energy/intelligent/index_en.html<br />

Intergouvernementale Zusammenarbeit (Zusammenarbeit<br />

der Regierungen) ist die Methode der<br />

politischen Entscheidungsfindung und der Durchführung<br />

gemeinsamer Maßnahmen in den Bereichen<br />

der zweiten und der dritten �Säule im Rahmen des<br />

EU-Vertrages. Intergouvernementale Zusammenarbeit<br />

ist die allgemeine Form der Zusammenarbeit internationaler<br />

Organisationen, beruht also, anders als<br />

die (supranationale) �Gemeinschaftsmethode der<br />

EG, auf dem Völkerrecht. In der intergouvernementalen<br />

Zusammenarbeit werden verbindliche Entscheidungen<br />

in der Regel einstimmig bzw. im Konsensgetroffen.DamitstehtjedemStaateinVetorecht<br />

zu; intergouvernementale Zusammenarbeit ist insoweit<br />

nicht mit einer Übertragung von Souveränität<br />

auf gemeinsame Organe verbunden.<br />

Interinstitutionelle Konferenzen werden von der<br />

Ratspräsidentschaft der Europäischen Union, dem<br />

Interinstitutionelle Vereinbarungen<br />

Europäischen Parlament und der Europäischen<br />

Kommission gemeinsam veranstaltet und finden unter<br />

Teilnahme außerinstitutioneller Fachleute statt.<br />

Sie sind bestimmten Themen (z. B. der Drogenpolitik<br />

in <strong>Europa</strong>) gewidmet. Auch der „Konvent zur Zukunft<br />

<strong>Europa</strong>s“ zur Vorbereitung des Entwurfs einer<br />

Verfassung für <strong>Europa</strong> oder der Konvent zur Ausarbeitung<br />

der Grundrechtecharta können als interinstitutionelle<br />

Konferenzen angesehen werden.<br />

Interinstitutionelle Vereinbarungen. Mit diesem<br />

Begriff bezeichnet man „Rechtshandlungen“, die<br />

das Verhältnis zwischen den EU-Organen oder gemeinsame<br />

Absprachen der Organe für das Handeln<br />

nach außen betreffen.<br />

Interinstitutionelle Vereinbarungen beinhalten eine<br />

Selbstbindung der betreffenden Organe. Auf der<br />

Grundlage von Art. 272 EGV, der für den Haushalt<br />

einen Dialog von Rat und Europäischem Parlament<br />

festlegt, entwickelte sich als erste Vereinbarung<br />

1975 ein Konzertierungsverfahren (�Gesetzgebungsverfahren)zwischendenOrganenderEG.Dieses<br />

betrifft neben dem Haushaltsverfahren alle<br />

Rechtsakte mit erheblichen finanziellen Auswirkungen.<br />

Sofern es zu Meinungsverschiedenheiten zwischen<br />

Rat und EP kommt, wird ein Konzertierungsausschuss,indemauchdieKommissionvertretenist,<br />

zusammengerufen, um innerhalb von drei Monaten<br />

eineAnnäherungderStandpunktezuerreichen.Erstmals<br />

angewendet wurde das Verfahren 1977 bei der<br />

Vorbereitung der EG-Haushaltsordnung. Dialoge<br />

zwischen den Organen fanden auch bei der Beschlussfassung<br />

über die Direktwahl zum EP statt.<br />

Durch den Vertrag über die Europäische Union, der<br />

die Mitwirkungsrechte des EP bei der Rechtsetzung<br />

erheblich erweiterte und neue Institutionen schuf<br />

(Bürgerbeauftragter, nichtständige Untersuchungsausschüsse,Vermittlungsausschuss),warenauchdie<br />

gegenseitigen Rechte und Pflichten der Organe neu<br />

zu bestimmen. Im November 1992 wurden unter britischem<br />

Vorsitz interinstitutionelle Verhandlungen<br />

aufgenommen und deren Ergebnisse am 25. 10. 1993<br />

paraphiert:<br />

1. In der interinstitutionellen Erklärung zu Demokratie,TransparenzundSubsidiaritäterklärtsichderRat<br />

zu folgenden Maßnahmen bereit: Öffentlichkeit bei<br />

bestimmten Aussprachen; Veröffentlichung und Erläuterung<br />

der Abstimmungsergebnisse; Zustimmung<br />

der Kommission zu umfassenderen Konsulta-<br />

449


Interkulturelles Lernen<br />

tionen vor der Vorlage von Vorschlägen und Angabe<br />

von geplanten Vorschlägen im Legislativprogramm,<br />

zu denen weiterer Diskussionsbedarf bestehen könnte.<br />

Darüber hinaus wurde ein Notifizierungsverfahren<br />

eingeführt. Es beinhaltet die zusammenfassende<br />

Veröffentlichung von Initiativen der Kommission<br />

und nennt eine Antwortfrist für die interessierten<br />

Parteien.<br />

2.DieVereinbarungüberdie„VerfahrenzurAnwendung<br />

des Subsidiaritätsprinzips“ sieht vor, dass jeder<br />

Vorschlag der Kommission eine Rechtfertigung im<br />

Hinblick auf das Subsidiaritätsprinzip enthält. Entsprechend<br />

hat die Kommission alle Rechtsvorschriften<br />

überprüft und in ihrem Bericht an den Europäischen<br />

Rat vom 10./11. 12. 1993 erstmals Vorschläge<br />

zur Überarbeitung der Rechtsvorschriften entwickelt,<br />

um deren hohe Komplexität zu beseitigen. Sie<br />

schlug zudem vor, eine �Normenhierarchie einzuführen.<br />

3. Außerdem wurden in den interinstitutionellen<br />

Verhandlungen der Beschluss des EP über die Regelung<br />

der Aufgaben des �Bürgerbeauftragten von Rat<br />

und Kommission gebilligt und die Modalitäten für<br />

deninArt.251EGVvorgesehenenVermittlungsausschuss<br />

zwischen den Organen vereinbart.<br />

Vorschläge zur Regelung der interinstitutionellen<br />

Vereinbarungen, die im Verfassungsentwurf des EP<br />

undauchimZusammenhangmitderRegierungskonferenz<br />

1996 angesprochen wurden, fanden keinen<br />

Niederschlag im Amsterdamer Vertrag. In der dem<br />

Vertrag von Nizza beigefügten „Erklärung für die<br />

Schlussakte der Konferenz zu Art. 10 EGV“ wird lediglich<br />

darauf verwiesen, dass das EP, der Rat und<br />

die Kommission interinstitutionelle Vereinbarungen<br />

schließen können, wenn dadurch die Anwendung<br />

der Bestimmungen des EG-Vertrages erleichtert<br />

werde. Artikel IV-438 VVE 2004 bestimmt, dass<br />

Interinstitutionelle Vereinbarungen nach Inkrafttreten<br />

des �Verfassungsvertrags als „weitere Teile des<br />

�Besitzstandes der EG und der EU“ weiter Bestand<br />

habenwerden. U. M.<br />

Literatur<br />

Jopp, M./Maurer, A./Schmuck, O. (Hg.): Die Europäische<br />

Union nach Amsterdam. Analysen und Stellungnahmen zum<br />

neuen EU-Vertrag, Bonn 1998<br />

Weidenfeld, W. (Hg.): Nizza in der Analyse, Gütersloh 2001<br />

Interkulturelles Lernen<br />

1. Der Begriff: Unter Verzicht auf mannigfaltige Implikationen<br />

und Probleme kann man interkulturelles<br />

450<br />

Lernen folgendermaßen zusammenfassen: Die Jugendlichen<br />

erwerben Einstellungen und Fähigkeiten,<br />

welche ihnen einen vernünftigen und offenen<br />

Umgang mit Menschen anderer Sprache, Kultur und<br />

Nationalität in einer multikulturellen Gesellschaft<br />

ermöglichen und zu möglichst konfliktfreien Kulturbegegnungen<br />

im Zeitalter der Europäisierung und<br />

Globalisierung beitragen. Interkulturelles Lernen<br />

stellt eine Herausforderung dar, welche sich gleichzeitig<br />

an die einheimischen wie an die zugewanderten<br />

Mitglieder der Gesellschaft richtet. „Interkulturelles<br />

Lernen ist eine Form des sozialen Lernens, das<br />

durch die Erfahrung kultureller Unterschiede und in<br />

Form kultureller Vergleiche sowohl zu einer genauen<br />

Analyse und Relativierung der eigenen Normen<br />

und Sozialsysteme als auch zum Abbau kultureller<br />

(nationaler)Vorurteileführt“(Bundeszentrale1998,<br />

S. 356). In einer multikulturellen Gesellschaft wird<br />

interkulturelles Lernen zu einem unverzichtbaren<br />

Element der Persönlichkeitsbildung und Identitätsfindung<br />

jedes Einzelnen.<br />

2. Von der „Ausländerpädagogik“ zur InterkulturellenPädagogik:Spätestensseitden1970erJahrenhaben<br />

die Begriffe interkulturelles Lernen, interkulturelle<br />

Erziehung und interkulturelle Bildung einen<br />

nachhaltigen Eingang in die pädagogische Literatur,<br />

aber auch in offizielle bildungspolitische Stellungnahmen<br />

und Empfehlungen gefunden und sind rasch<br />

zu einem Schwerpunktthema der Pädagogik geworden.<br />

Als Konsequenz der starken Zuwanderung ausländischer<br />

Arbeitskräfte mit ihren Familien ging es<br />

zunächst vor allem darum, die Integration der Migrantenkinder<br />

zu erleichtern und deren Schwierigkeiten<br />

bei der Eingliederung in die deutschen Schulen<br />

abzubauen sowie ihre Anpassung an die dominante<br />

deutsche Kultur zu fördern.<br />

Diese „Sonderpädagogik für Ausländerkinder“ sah<br />

sich jedoch bald heftiger Kritik ausgesetzt, weil sie<br />

die Migranten ausgrenzte, indem deren Sonderstellung<br />

betont wurde (Defizithypothese), und zugleich<br />

bei den ausländischen Kindern und Jugendlichen<br />

durch massive Assimilations- und Integrationsversuche<br />

zu Identitätsproblemen führte. Deshalb wurde<br />

interkulturelles Lernen in den 1980er Jahren dahingehend<br />

erweitert, dass man nun auch die soziale und<br />

kulturelle Eigenständigkeit der jugendlichen Migranten<br />

förderte. Die Beschäftigung mit Religion,<br />

Brauchtum und Sprache der Herkunftsländer wurde<br />

in die pädagogischen Maßnahmen einbezogen. Das


ZielderIntegrationindiedeutscheGesellschaftwurde<br />

darüber freilich nicht aufgegeben. Andererseits<br />

richtete sich interkulturelles Lernen jetzt auch an die<br />

einheimischen Schülerinnen und Schüler, indem die<br />

Bildungseinrichtungen nun alle gleichermaßen auf<br />

das Zusammenleben in einer dauerhaft multikulturellen<br />

und pluralen Gesellschaft vorbereiten sollen;<br />

interkulturelles Lernen wurde zu einer besonderen<br />

Ausprägung des politischen und des sozialen Lernens.<br />

3. Die europäische Dimension im interkulturellen<br />

Lernen: Pädagogische und didaktische Überlegungen<br />

zu einem „Lernen für <strong>Europa</strong>“ begleiteten den<br />

europäischen Integrationsprozess von Anfang an.<br />

Die Kommission und der Ministerrat der Europäischen<br />

Gemeinschaft, der <strong>Europa</strong>rat sowie die deutschen<br />

Kultusminister fassten weitreichende Beschlüsse<br />

und entwarfen Richtlinien für eine europäische<br />

Erziehung, welche die Notwendigkeit aufzeigten,<br />

ein hinreichendes Grundwissen über die Institutionen<br />

und die Funktionen der Gemeinschaft zu vermitteln<br />

und die Herausbildung einer „europäischen<br />

Identität“ bei den Schülerinnen und Schülern zu unterstützen.<br />

Die Vollendung des europäischen Binnenmarktes in<br />

den frühen 1990er Jahren und die damit verbundene<br />

nahezu völlige Freizügigkeit für Selbständige und<br />

Arbeitnehmer innerhalb der Europäischen Union<br />

verstärkte die Möglichkeit, aber auch die Notwendigkeit<br />

zu einer hochgradigen grenzüberschreitenden<br />

Mobilität. Die Erweiterung der Union um zehn<br />

mittel- und osteuropäische Staaten im Jahr 2004 auf<br />

25 Mitglieder hat das Feld möglicher Begegnungen<br />

und Auseinandersetzungen mit Angehörigen andererVölkerundmitanderenKulturenabermalserheblich<br />

vergrößert. Ungeachtet der ethnischen und der<br />

sozialen Herkunft müssen sich nunmehr alle Jugendlichen<br />

auf Kulturbegegnungen vorbereiten und zur<br />

Bewältigung von Situationen und Herausforderungen<br />

in anderem kulturellen Umfeld befähigt werden.<br />

Interkulturelles Lernen in europäischer Dimension<br />

bedeutet nicht weniger als die Vorbereitung auf die<br />

eigene zukünftige Lebenswelt. Bei der Konzeption<br />

der Lernprozesse ist sowohl die immigrationspolitischeeuropäischeKomponente(Multikulturalitätder<br />

deutschen Gesellschaft durch die Zuwanderung von<br />

Unionsbürgern) als auch die emigrationspolitische<br />

Komponente (zeitlich befristete oder auf Dauer angelegte<br />

Verlagerung des Lebensmittelpunktes von<br />

Interkulturelles Lernen<br />

Deutschen in andere Mitgliedstaaten der Gemeinschaft)<br />

zu berücksichtigen.<br />

Die europäische Dimension kann interkulturelles<br />

Lernen bereichern, weil der charakteristische Wesenszug<br />

der europäischen Einigung „Einheit in der<br />

Vielfalt“ die Akzeptanz eines geregelten Neben- und<br />

Miteinanders unterschiedlicher Kulturen und Lebensweisen<br />

geradezu voraussetzt. Das �„Mehrebenensystem“derEUermöglichteinHineinwachsenin<br />

den größeren europäischen Lebensraum, ohne dass<br />

regionale und einzelstaatliche kulturelle Bindungen<br />

und Identifikationen aufgegeben werden müssen;<br />

diese werden vielmehr durch die Zugehörigkeit zur<br />

Europäischen Gemeinschaft vielfältig erweitert und<br />

ergänzt.EsentstehtkeineneueeuropäischeEinheitskultur;<br />

interkulturelles Lernen in europäischer Dimension<br />

eröffnet vielmehr die Chance zur Begegnung<br />

mit einer Vielzahl von Denk- und Lebensformen<br />

anderer gleichberechtigter Unionsbürger und<br />

trägt so zu einer vorurteilsfreien und Neuem gegenüber<br />

offenen Persönlichkeitsbildung bei.<br />

4. Das Integrationsproblem. Sowohl die Schul- und<br />

die Unterrichtsorganisation als auch die Didaktik<br />

und Methodik der einzelnen Fächer stehen angesichts<br />

der großen und weiter wachsenden Zahl<br />

nicht-einheimischer Schülerinnen und Schüler vor<br />

neuen Herausforderungen. Interkulturelles Lernen<br />

hat immer zwei Aspekte: Die Kinder und Jugendlichen<br />

des eigenen Landes müssen befähigt werden,<br />

mit den historischen Erfahrungen, den Einstellungen<br />

und Verhaltensweisen der Fremden zurechtzukommen,<br />

während die aus anderen Ländern zugewanderten<br />

bzw. aus nicht-deutschen Familien stammenden<br />

Kinder bei der angemessenen Anpassung an die Lebensgewohnheiten<br />

und gesellschaftlichen Wertvorstellungen<br />

in Deutschland gefordert und gefördert<br />

werden müssen. Ohne gewisse Zumutungen ist dies<br />

nicht zu erreichen.<br />

Weitgehend hat sich die Auffassung durchgesetzt,<br />

dass es dabei nicht um Assimilation und völlige Aufgabe<br />

von Familien- und Milieubindungen gehen<br />

kann, sondern um das Erlernen eines Lebens in einer<br />

offenen multikulturellen Gesellschaft, deren Regelungen<br />

verstanden und loyal eingehalten werden<br />

müssen. Diese Regelungen ermöglichen durchaus<br />

auchdieArtikulationundVerfolgungdereigenenInteressen<br />

der Immigranten, was unbedingt Gegenstand<br />

einer verantwortungsbewussten interkulturellen<br />

Pädagogik sein sollte.<br />

451


Interkulturelles Lernen<br />

„Die Bildungspolitik ist wahrscheinlich das wichtigste<br />

Feld, auf dem ein gewisser Integrationszwang<br />

ausgeübt werden muss“ (Paul Nolte; in: DIE ZEIT<br />

vom 17. 12. 2004, S. 9). Schule und Unterricht haben<br />

die schwierige Aufgabe der drohenden Verweigerung<br />

und Abschottung ausländischer Schülerinnen<br />

und Schüler gegenüber der deutschen Gesellschaft<br />

entgegenzuwirken; sie müssen deshalb sowohl einem<br />

Kulturimperialismus, der nur die eigenen –<br />

deutschen–Wertegeltenlässt,alsaucheinerüberzogenenToleranz,dieeinZusammenlebennurdannfür<br />

möglich hält, wenn kulturelle Wertvorstellungen der<br />

Immigranten vorbehaltlos Gültigkeit behalten, eine<br />

Absage erteilen.<br />

5. Inhalte und Ziele: Die wichtigsten Intentionen in<br />

dem breit gefächerten Lernzielkatalog für interkulturelles<br />

Lernen sind:<br />

– Entwicklung von sprachlicher, emotionaler und<br />

problembewusster Kommunikations- und Interaktionsfähigkeit<br />

(kommunikative Kompetenz),<br />

– Ausbildung der Fähigkeit, Angehörigen anderer<br />

Kultur- und Lebenswelten mit Toleranz, Achtung<br />

und Verständigungsbereitschaft zu begegnen und<br />

andere Kulturen als gleichberechtigt wahrzunehmen,<br />

– Ausprägung der Bereitschaft gesellschaftliche<br />

Pluralität als Wesenszug und Bereicherung menschlichen<br />

Zusammenlebens anzuerkennen,<br />

– Förderung der Einsicht in die Tatsache, dass unterschiedliche<br />

Lebensformen und Verhaltensweisen in<br />

einer hochkomplexen und multikulturellen Gesellschaft<br />

jeweils auf spezifische historische und soziale<br />

Voraussetzungen und Bedingungen zurückzuführen<br />

sind,<br />

– Erwerb der Fähigkeit zur kritischen Selbstwahrnehmung<br />

und realistischen Selbsteinschätzung,<br />

– Vergewisserung der eigenen Identität in der Auseinandersetzung<br />

mit Fremden und Bereitschaft, die<br />

eigenen Einstellungen und Verhaltensweisen rationalzuüberprüfenundgegebenenfallszukorrigieren,<br />

– Überwindung von Vorurteilen, Stereotypen, selektiver<br />

Wahrnehmung und der Angst vor Neuem<br />

und Fremdem.<br />

6. Wege, Chancen und Grenzen: Eine unabdingbare<br />

Voraussetzung produktiver interkultureller Begegnungen<br />

ist die Mehrsprachigkeit; interkulturelles<br />

Lernen beinhaltet deshalb vorrangig das Erlernen<br />

von Fremdsprachen (Fremdsprachenunterricht bereits<br />

in der Grundschule, bilingualer Unterricht,<br />

452<br />

Sprachreisen). Freilich ist längst deutlich geworden,<br />

dass sprachbezogene Ansätze durch andere unterrichtliche<br />

Maßnahmen ergänzt werden müssen; hier<br />

sind vor allem zu nennen: Rollenspiele, Perspektivenwechsel,<br />

biografisches Erzählen und Fall- bzw.<br />

Konfliktanalysen. Positive Erfahrungen ergaben<br />

sich auch bei Kulturvergleichen (interkultureller<br />

Vergleich), wobei sowohl Gemeinsamkeiten als<br />

auch Unterschiede der jeweiligen Kulturen zu erarbeiten<br />

und zu begründen sind; zu denken ist zunächst<br />

an Lebensgewohnheiten (Kleidung, Tagesablauf,<br />

Ess-Sitten), an die Gestaltung von Feiertagen und<br />

Festen in verschiedenen Kulturkreisen, aber auch an<br />

unterschiedliches Reagieren auf bestimmte Situationen<br />

und Herausforderungen sowie an Einstellungen<br />

und Wertesysteme. Eine besondere Bedeutung<br />

kommt der schwerpunktmäßigen Behandlung eines<br />

bestimmten Landes oder Kulturkreises in fächerverbindenden<br />

Projekten mit produktions- und produktorientierter<br />

Zielsetzung zu (vgl. Bundeszentrale<br />

1998 und Mickel 1993, S. 170).<br />

Schließlich ist auch auf das umfangreiche Bildungsprogramm<br />

der Europäischen Union (�Comenius,<br />

�Erasmus usw.), auf die Möglichkeit des Schülerund<br />

Jugendaustausches, auf grenzüberschreitende<br />

Schulpartnerschaften, den �„<strong>Europa</strong>tag“ und den<br />

alljährlich durchgeführten �Europäischen Wettbewerb<br />

hinzuweisen.<br />

Interkulturelles Lernen darf die Schülerinnen und<br />

Schüler nicht überfordern. Alle Lernprozesse sind<br />

auf ihre Zumutbarkeit für die Jugendlichen und ihre<br />

Altersgemäßheit hin zu überprüfen; andererseits hat<br />

interkulturelles Lernen in allen Schularten, in allen<br />

Bildungseinrichtungen und auf allen Schulstufen<br />

seinen Platz. Die Bereitschaft zu Toleranz, Offenheit<br />

gegenüber Fremdem und die uneingeschränkte<br />

Akzeptanz multikulturellen Zusammenlebens kann<br />

nicht verordnet, wohl aber in überlegt konzipierten<br />

Unterrichtsarrangements erworben werden. Da häufigEinstellungs-undVerhaltensänderungendasZiel<br />

sind, dürfen die Erwartungen nicht zu hoch angesetzt<br />

werden; interkulturelles Lernen erfolgt in der Regel<br />

stufen- und schrittweise (Spiralcurriculum) und solltemöglichstfreiwilligvonstattengehen.„Vominterkulturellen<br />

Unterricht kann man nicht erwarten, dass<br />

mit ihm die großen Ziele wie Duldsamkeit und interkulturelles<br />

Einvernehmen von heute auf morgen realisiert<br />

werden. Mit anderen Kulturen zusammenleben<br />

kann man nur in einem langwierigen Prozess ler-


nen, mit dem man nicht früh genug beginnen kann.“<br />

(van Geertruyen, G.; in: Hohmann/Reich 1993).<br />

Interkulturelles Lernen verfehlt seine Erfolgschancen<br />

dann, wenn die Möglichkeit von Konflikten,<br />

welche bei der Begegnung und beim Zusammenleben<br />

von Menschen aus verschiedenen Kulturen auftreten<br />

können, verharmlost oder gar geleugnet werden;<br />

Konfliktwahrnehmung und rationale Konfliktbewältigung<br />

sind konstitutive Elemente interkulturellen<br />

Lernens. „Einmal aufgebaute Weltorientierungen<br />

geben Handlungssicherheit... . Wenn diese<br />

grundlegenden Weltorientierungen preisgegeben<br />

werden müssen, dann erzeugt dies unvermeidlich<br />

Orientierungslosigkeit“ (Nieke 2000). Deshalb hat<br />

interkulturelles Lernen die Aufgabe, das Weltbild<br />

der Jugendlichen zu erweitern, nicht aber es zu zerstören.<br />

Der zentrale Ort interkulturellen Lernens ist zwar die<br />

Schule, der Erfolg ist jedoch auch von den EinstellungenundderErziehungimElternhaus,vomgesellschaftlichen<br />

Umfeld der Jugendlichen und von politischenVorgabenabhängig.<br />

G. M.<br />

Literatur:<br />

Auernheimer, G. u.a.(Hg.): Interkulturalität im Arbeitsfeld<br />

Schule. Opladen 2001<br />

Brocker, M./Nau. H. H. (Hg.): Ethnozentrismus. Möglichkeiten<br />

und Grenzen des interkulturellen Dialogs. Darmstadt 1997<br />

Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): Lernen für<br />

<strong>Europa</strong>. Bonn 1993<br />

Dies. ( Hg.): Interkulturelles Lernen. Bonn 1998<br />

Dallmann, H.-U.: Das Recht, verschieden zu sein. Gütersloh<br />

2002<br />

Hohmann, M./Reich, H. H.(Hg.): Ein <strong>Europa</strong> für Mehrheiten<br />

und Minderheiten. Münster/New York 1993 2<br />

Jungmann, W.: Kulturbegegnung als Herausforderung der<br />

Pädagogik. Münster/New York 1995<br />

Kanther, M.: Interkulturelles Lernen. Stuttgart 2001<br />

Körber, A. (Hg.): Interkulturelles Geschichtslernen. Münster<br />

u.a. 2001<br />

Mickel, W. W.: Lernfeld <strong>Europa</strong>. Grundlagen einer<br />

europäischen Erziehung. Opladen 1993 2<br />

Möbius, B.: Die liberale Nation. Deutschland zwischen nationaler<br />

Identität und multikultureller Gesellschaft. Opladen 2003<br />

Neubert, S. u. a. (Hg.): Multikulturalität in der Diskussion.<br />

Opladen 2002<br />

Nieke, W.: Interkulturelle Erziehung und Bildung.<br />

Opladen 2000 2<br />

Rauscher, A.: Immigration und Integration. Berlin 2003<br />

Internationaler Strafgerichtshof (IStGH). Der<br />

IStGH mit Sitz in Den Haag (Niederlande) ist ohne<br />

Zweifel ein bedeutendes neues Instrument zur Ahndung<br />

von Völkermord, Verbrechen gegen die<br />

Internetadressen<br />

Menschlichkeit und Kriegsverbrechen und damit<br />

auch zur völkerrechtlichen Prävention solcher Straftaten.<br />

Das Römische Statut zur Errichtung des noch<br />

im Aufbau befindlichen Gerichtshofs trat am 1. 7.<br />

2002 in Kraft. Deutscher Richter und Mitglied der<br />

Vorermittlungskammer des IStGH ist derzeit Hans-<br />

Peter Kaul. Die Bundesrepublik ist größter Beitragszahler<br />

und gehörte von Anfang an zu den wichtigsten<br />

Unterstützern des Gerichtshofes, ganz im Gegensatz<br />

zu den USA, die das Projekt (derzeit) grundsätzlich<br />

ablehnen.<br />

Nach der Idee des IStGH sollen sich künftig die Verantwortlichen<br />

für Krieg und Vertreibung nicht mehr<br />

unter den Schutzschirm nationaler Souveränität stellen<br />

und damit Strafe entziehen können. Auch soll<br />

eine positive Ausstrahlung auf nationale Strafrechtssysteme<br />

und Rechtsüberzeugungen entstehen. Mit<br />

Hilfe des IStGH sollen künftig schwerste Verbrechen<br />

gegen das Völkerrecht, welche die internationale<br />

Gemeinschaft als Ganzes berühren, auch gegenüber<br />

Individuen wirkungsvoll geahndet werden. Zugleich<br />

soll hierdurch die Herrschaft des Rechts in den<br />

internationalenBeziehungengefestigtwerden.Nach<br />

denpolitischenVorgabendesEuropäischenRatesist<br />

die effektive Zusammenarbeit mit dem IStGH VoraussetzungfüreinenEU-Beitritt.<br />

J. M. B.<br />

Internet: http://www.icc-cpi.int/<br />

Internet-Adressen der EU. Die Europäische<br />

Union ist über das zentrale Internetportal „<strong>Europa</strong>“<br />

(http://europa.eu.int) zu erreichen. Über diese EingangsseiteerfolgtzunächstdieSprachwahlunddann<br />

der Zugang zu den Internet-Adressen (Webseiten)<br />

derEuropäischenUnion,ihrerOrgane,Institutionen,<br />

Einrichtungen und Dienste, welche jedoch teilweise<br />

häufig wechseln.<br />

Diese bieten einen Überblick über sämtliche Politikbereiche,<br />

in denen die Europäische Union aufgrund<br />

der ihr durch die Verträge übertragenen Zuständigkeiten<br />

tätig ist und geben Zugang zu allen geltenden<br />

und in Vorbereitung befindlichen Rechtsakten. Hinzu<br />

kommen aktuelle Informationen („Schlagzeilen“),<br />

Themenschwerpunkte und Kontakthinweise<br />

(„Dialog“). Die meisten Seiten ermöglichen die<br />

Kontaktaufnahme über E-Mail-Adressen.<br />

Die Institutionen der EU präsentieren sich in ihren<br />

Stammangeboten (auf den ‚homepages‘) in der Regel<br />

in allen Amtssprachen, aktuelle und speziellere<br />

Angebote werden anfänglich, zum Teil aber auch<br />

453


INTERREG<br />

dauerhaft, oft nur in englischer und französischer<br />

Sprache vorgelegt.<br />

Spätestens im Jahr 2006 soll (in Abstimmung mit<br />

ICANN, der quasi-offiziellen Internet-Regulierungsstelle,<br />

eineeigeneTop-Level-Domain„eu“zur<br />

Verfügung stehen. Die Registrierung der „eudomains“<br />

erfolgt über die belgische Nonprofit-Organisation<br />

EURid.<br />

Eigenständige Internet-Adressen der EU-Einrichtungen<br />

(vorbehaltlich möglicher Änderungen, Stand<br />

Frühjahr 2005):<br />

EP: www.europarl.eu.int<br />

Rat: http://ue.eu.int<br />

Europäische Kommission:<br />

http://europa.eu.int/comm<br />

EuGH: http://curia.eu.int/de/index.htm<br />

EuRH: www.eca.eu.int<br />

Europäischer Bürgerbeauftragter:<br />

www.euro-ombudsman.eu.int<br />

EZB: www.ecb.int<br />

EIB: www.eib.eu.int<br />

EIF: www.eif.eu.int<br />

Eurostat: http://europa.eu.int/comm/eurostat<br />

EWSA: www.esc.eu.int<br />

AdR: www.cor.eu.int<br />

Internet-Adressen anderer europäischer Institutionen und<br />

Einrichtungen:<br />

<strong>Europa</strong>rat: www.coe.int<br />

EFTA: www.efta.int<br />

OSZE: www.osce.org<br />

B. K. S.<br />

Eine umfangreiche kommentierte Sammlung von europabezogenen<br />

Internetadressen bietet das �Institut für Europäische Politik<br />

unter: www.iep-berlin.de/links<br />

INTERREG �Regionalpolitik<br />

Ioannina-Kompromiss, Vereinbarung von Ioannina.<br />

Der �Maastrichter Vertrag (in Kraft getreten am<br />

1. 11. 1993) hatte die Stimmen im Rat der 12 Mitgliedstaaten<br />

auf 76 festgelegt, wovon 54 eine qualifizierte<br />

Mehrheit bildeten. 23 Stimmen konnten also<br />

einen Beschluss verhindern (Sperrminorität). Der<br />

Beitritt von Finnland, Österreich und Schweden am<br />

1. 1. 1995 erhöhte die Stimmenzahl im Rat auf 87, die<br />

Sperrminorität sollte entsprechend auf 26 Stimmen<br />

wachsen. Einige Mitgliedstaaten, darunter Großbritannien<br />

und Spanien, sahen darin eine Schmälerung<br />

ihres nationalen Einflusses und verlangten weiterhin<br />

eineBegrenzungderSperrminoritätauf23Stimmen.<br />

Nach langen Verhandlungen stimmten sie der neuen<br />

Regelung in Art. 205 EGV zu und erhielten vom Rat,<br />

454<br />

der am 29. 3. 1994 in Ioannina (Korfu) tagte, einen<br />

Kompromiss angeboten: Wenn sich bei einem Beschluss<br />

mit qualifizierter Mehrheit 23 bis 25 Neinstimmen<br />

melden, wird weiter verhandelt, bis ein einvernehmliches<br />

Ergebnis erzielt wird. In der Erklärung<br />

Nr. 50 der Regierungskonferenz zum Amsterdamer<br />

Vertrag (in Kraft getreten am 1. 5. 1999) wurde<br />

vereinbart, dass der Ioannina-Kompromiss bis<br />

zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der ersten Erweiterung<br />

verlängert wird und dass bis dahin eine Lösung<br />

für den Sonderfall Spanien gefunden werden muss.<br />

Diese Frage wurde im Vertrag von Nizza (2001) entschieden<br />

durch eine neue Stimmverteilung im Rat<br />

(Art. 3 des Protokolls über die Erweiterung der EU)<br />

und die Möglichkeit jedes Ratsmitglieds, feststellen<br />

zu lassen, ob die Mitgliedstaaten, die eine qualifizierteMehrheitbilden,mindestens62%derGesamtbevölkerung<br />

der EU repräsentieren.<br />

IRDAC (Industrial Research and Development Advisory<br />

Committee). Ehemaliger Beratender Ausschuss<br />

für industrielle Forschung und Entwicklung<br />

bei der Europäischen Kommission. Ersetzt durch<br />

�ERF (European Research Forum)<br />

ISPA (Instrument for Structural Policies for Pre-<br />

Accession),einEU-ProgrammimRahmenderintensivierten<br />

�Heranführungsstrategie für die �MOE-<br />

Staaten zur finanziellen Unterstützung im Bereich<br />

der wirtschaftlichen und sozialen Kohäsion, insb.<br />

der Umwelt- und der Verkehrspolitik. In der Planungsperiode2000–2006werdendazujährlichetwa<br />

1 Mrd. Euro an nicht rückzahlbaren Hilfsmitteln zur<br />

Verfügunggestellt.RechtsgrundlagefürISPAistdie<br />

Verordnung 1267/1999 des Rates vom 21.6.1999<br />

über ein strukturpolitisches Instrument zur VorbereitungaufdenBeitritt(ABl.L161/1999).<br />

B. K. S.<br />

IST (Information Society Technologies), Technologien<br />

für die Informationsgesellschaft. Entwicklung<br />

benutzerfreundlicher Informationstechnologien ist<br />

einer der sieben vorrangigen Themenbereiche im 6.<br />

Forschungsrahmenprogramm (2002 bis 2006). Gefördert<br />

wird Forschung und Entwicklung im Bereich<br />

Informationsgesellschaft.<br />

IStGH �Internationaler Strafgerichtshof<br />

ITER �JET


Jaunde-Abkommen. Bei Gründung der EWG wurdendieKolonienBelgiensundFrankreichsderEWG<br />

assoziiert (Teil IV EWGV). Nach ihrer UnabhängigkeitvondenMutterländernschlossen17neuentstandene<br />

afrikanische Staaten und Madagaskar am 20. 7.<br />

1963inJaunde(Kamerun)einAssoziierungsabkommen<br />

mit der EWG, das am 1. 7. 1964 in Kraft trat und<br />

eine Laufzeit von 5 Jahren hatte. Als Assoziierte<br />

Afrikanische Staaten und Madagaskar (AASM) hatten<br />

sie bevorzugte Handelsbeziehungen zur EWG<br />

(stufenweise Bildung einer Freihandelszone) und<br />

wurden durch entwicklungspolitische Maßnahmen<br />

gefördert. Die Maßnahmen wurden aus dem 1958<br />

(gem. Art. 131 und 136 EWGV) gegründeten, nicht<br />

in den Haushalt der Gemeinschaft einbezogenen<br />

�Europäischen Entwicklungsfonds finanziert (Budget<br />

1964–1968: 730 Mio. RE = �Europäische Rechnungseinheit).<br />

Das Nachfolgeabkommen vom 29. 7. 1969 (Jaunde<br />

II, in Kraft am 1. 1. 1971) stockte die Mittel für die<br />

nächsten fünf Jahre auf 828 Mio. RE auf.<br />

Das Jaunde-Abkommen wurde nach dem Beitritt<br />

Großbritanniens und seinen Bindungen im Commonwealth<br />

1975 durch das �Lomé-Abkommen ersetzt,<br />

das auch Staaten der Karibik und des Pazifiks<br />

einschloss (�AKP-Staaten).<br />

Jenkins, Roy (1920 – 2003), britischer Politiker,<br />

Minister in verschiedenen Ressorts. 1955 – 1957<br />

Mitglied der Beratenden Versammlung des <strong>Europa</strong>rats,<br />

1977–1980 Präsident der EG-Kommission,<br />

Träger des Karlspreises der Stadt Aachen.<br />

JESSI (Joint European Submicron Silicon Initiative),1988gestartetesundimRahmenvon�EUREKA<br />

gefördertes Mega-Projekt im Bereich der Mikroelektronik<br />

zur Entwicklung eines 64-MB-Chips.<br />

Laufzeit des Projekts bis 1997. Eines der Ergebnisse<br />

ist die Entwicklung des tragbaren Telefons (Handy).<br />

Nachfolger war das Projekt �Medea (1997–2000).<br />

JET (Joint European Torus) ist die in Culham/England<br />

stationierte, weltweit größte Anlage für Fusionsexperimente,<br />

betrieben ursprünglich (seit<br />

J<br />

1978) von EURATOM, jetzt von EFDA (European<br />

Fusion Development Agreement). Hier versuchen<br />

Forscher, die kontrollierte thermonukleare Verschmelzung<br />

von Atomkernen als neue Energiequelle<br />

nutzbar zu machen. Die Anlage arbeitet nach dem<br />

Tokamak-Prinzip (magnetischer Einschluss von<br />

Plasmen). Als Nachfolger war NET (Next European<br />

Torus) geplant, jetzt abgelöst von ITER. An der Entwicklung<br />

von ITER (International Thermonuclear<br />

Experimental Reactor; auch: iter, lat.: der Weg) sind<br />

neben der EU auch die USA, Russland, Japan, China<br />

und Südkorea beteiligt. Mit dem Bau soll Ende 2005<br />

in Cadarache (Südfrankreich) begonnen werden.<br />

Joint European Venture (JEV) �Finanzierungsinstrumente<br />

Ziff. 2<br />

Jugend für <strong>Europa</strong> �Bildungsprogramme<br />

Jugendforum<br />

Jugendforum der EU. 1978 gegründet; vertritt die<br />

Jugendorganisationen als Sprachrohr gegenüber den<br />

EU-Institutionen, dem <strong>Europa</strong>rat und den Vereinten<br />

Nationen. Mitglieder sind nationale Komitees für Jugendarbeit<br />

aus europäischen Staaten und GUS-Staaten<br />

sowie internationale Jugendverbände, insgesamt<br />

93. Das Forum wird finanziell von der EU unterstützt<br />

und vor jugendspezifischen Entscheidungen der<br />

Kommission und des EP angehört.<br />

Das Jugendforum beschäftigt sich mit allen die EU<br />

betreffenden Fragen. Die Vertreter der Jugendlichen<br />

befürworten u. a. ein �<strong>Europa</strong> der Bürger, eine Zusammenarbeit<br />

der Jugendorganisationen auf europäischer<br />

Ebene (um die Entscheidungen der EU-<br />

Gremien zu beeinflussen), ein Initiativrecht zugunsten<br />

einer Diskussion jugendpolitischer Fragen und<br />

Chancen zu ihrer Durchsetzung. Die Jugendvertreter<br />

lehnen die Art der europäischen Integrationspolitik<br />

(mangelnde Bürgerbeteiligung), das Vorherrschen<br />

des ökonomischen über das soziale <strong>Europa</strong>, die Art<br />

der Beziehungen zur Dritten Welt, das Fortbestehen<br />

der regionalen und sozialen Unterschiede in <strong>Europa</strong><br />

ab. Das Jugendforum erweist sich als eine demokratisch<br />

strukturierte Plattform der Jugend gegenüber<br />

der EU. Es besteht aus den Vorsitzenden, der Gene-<br />

455


Jugendschutz<br />

ralversammlung, den Permanenten Kommissionen<br />

und dem Exekutivkomitee; das Sekretariat ist in<br />

Brüssel. W. M.<br />

Adressen: Rue Joseph II 120 B, B–1000 Bruxelles ; Deutsches<br />

Nationalkomitee für Internationale Jugendarbeit, c/o Deutscher<br />

Bundesjugendring, Mühlendamm 3, 10178 Berlin<br />

Internet: www.youthforum.org<br />

Jugendschutz. Unter dem Begriff Jugendschutz<br />

werden Maßnahmen zum Schutz der Jugendlichen<br />

vor gesundheitlichen und moralischen Gefahren zusammengefasst.Inden25EU-StaatenistderJugendschutz<br />

sehr unterschiedlich geregelt, teils gibt es eigenständige<br />

Gesetze, teils sind sie Bestandteil allgemeiner<br />

Rechtsvorschriften. Die Europäische Union<br />

verfügt grundsätzlich über keine Kompetenz in diesem<br />

Aufgabenbereich; diese liegt weiterhin bei den<br />

Mitgliedstaaten. Dennoch hat die EU innerhalb von<br />

einzelnen Aktionsprogrammen – speziell in den Bereichen<br />

Medien, Gesundheit und Inneres – Verbote<br />

und präventive Jugendschutzmaßnahmen formuliert.<br />

Für die audiovisuellen Medien verlangt z. B. die<br />

Richtlinie 89/552 „Fernsehen ohne Grenzen“ (ABl.<br />

L 298/1989) von den Mitgliedstaaten in Art. 22,<br />

Maßnahmen zu ergreifen, „um zu gewährleisten,<br />

dass Sendungen von Fernsehveranstaltern, die ihrer<br />

Rechtshoheit unterworfen sind, keine Programme<br />

enthalten, die die körperliche, geistige und sittliche<br />

Entwicklung von Minderjährigen schwer beeinträchtigen<br />

können, insbes. solche, die Pornografie<br />

oder grundlose Gewalttätigkeiten zeigen“. Im Zuge<br />

der technischen Weiterentwicklung konzentrieren<br />

sich die Empfehlungen und Maßnahmenprogramme<br />

der EU auf die Kompetenzstärkung der durch Eltern<br />

ausgeübten Kontrolle der Nutzung audiovisueller<br />

MediendurchKinderundJugendlichesowieaufeine<br />

Selbstregulierung der Medienanbieter. Bespielhaft<br />

seien hier das Grünbuch über den Jugendschutz und<br />

den Schutz der Menschenwürde (KOM 1996/483<br />

endg.),derAktionsplanzurFörderungeinessicheren<br />

Gebrauchs des Internets (ABl. L 92/1999), die Mitteilung<br />

über illegale und schädigende Inhalte im Internet<br />

(KOM 1996/487) und der Empfehlung des<br />

Rats zum Jugendschutz und Schutz der Menschenwürde<br />

in den audiovisuellen Medien und den Informationsdiensten<br />

(98/560, ABl. L 270/1998) genannt.<br />

Auch bieten die neuesten technologischen<br />

Entwicklungen wie der V-Chip beim Fernsehen und<br />

das PICS (Platform for Internet Content Selection)<br />

456<br />

bei den Online-Medien ein größeres Maß an elterlicher<br />

Kontrolle. Außerdem, so die Kommission, „besteht<br />

in jedem Fall der Vorteil (der elterlichen Kontrolle,<br />

G. C. G.) darin, dass eine Lösung ‚von unten‘<br />

und keine Lösung ‚von oben‘ angeboten wird, die die<br />

Notwendigkeit der Vorzensur und die potenzielle<br />

Wirksamkeit der Selbstkontrolle erhöht“. Die Kompetenzstärkung<br />

von Eltern und Lehrkräften über die<br />

RisikendesInternetsstehtauchbeimdemProgramm<br />

„Mehr Sicherheit im Internet“ (2005 –2008, mit 45<br />

Mio. Euro ausgestattet) im Vordergrund.<br />

Im Gesundheitsbereich finden sich sowohl Anbieter-<br />

und Werbungsverbote als auch PräventionsmaßnahmengegenDrogen-,Tabak-undAlkoholprodukte<br />

und für ungesunde Ernährung und Verhütung von<br />

HIV/Aids.UnterstütztdurchdieErkenntnis,dassgesundheitsschädigendes<br />

Konsumverhalten bereits im<br />

Kindes- und Jugendalter beginnt, zielen EU-Maßnahmen<br />

wie das Aktionsprogramm der Gemeinschaft<br />

im Bereich der öffentlichen Gesundheit (2003<br />

– 2008) darauf, die betroffenen Jugendlichen, Eltern<br />

und betreuenden Personen über Risiken aufzuklären<br />

und dafür zu sensibilisieren. Desgleichen fordert die<br />

EU-Kommission die Mitgliedstaaten auf sicherzustellen,<br />

dass die Hersteller von Tabak- und Alkoholprodukten<br />

keine Erzeugnisse gezielt für Kinder und<br />

Jugendliche produzieren und dass die Aufmachung<br />

der Erzeugnisse und/oder die Werbung nicht auf<br />

KinderundJugendlicheabzielt.Dabeiistspeziellauf<br />

die verwendeten Trendsymbole oder die Verwendung<br />

von Bildern, die mit dem Konsum der Produkte<br />

assoziiert sind, z. B. Konsum und sportlicher/gesellschaftlicher<br />

Erfolg, den Einsatz von Kindern in Werbekampagnen<br />

für die Erzeugnisse sowie das Sponsoring<br />

für Getränke und Tabakprodukte (Sportmannschaften,<br />

Merchandising im sportlichen Bereich<br />

usw.) zu achten. Mit „HELP – For a life without tobacco“<br />

(2005 – 2008), lanciert die EU eine „Gegen-Rauchen-Kampagne“<br />

für junge Leute. Die<br />

Kampagne wirbt für ein Leben ohne Tabak, macht<br />

die Gefahren des Passivrauchens deutlich und unterstützt<br />

die Bemühungen um rauchfreie öffentliche<br />

Zonen. Jugendliche (15 bis 18 Jahre) und junge Erwachsene<br />

(18 bis 30 Jahre) sind die Hauptzielgruppe<br />

der Aktion.<br />

Auch im Bereich der Gewaltprävention und Gewalt<br />

gegen Kinder und Jugendliche ist die EU aktiv. Das<br />

DAPHNE II Programm (2004 – 2008) ist ein präventiv<br />

ausgerichtetes Aktionsprogramm der EU zur Be-


kämpfung von Gewalt gegen Kinder, Jugendliche<br />

und Frauen, das auf die Unterstützung und Tätigkeit<br />

nichtstaatlicher Organisationen abzielt, die sich im<br />

Kampf gegen Gewalt an Kindern, Jugendlichen und<br />

Frauen engagieren.<br />

Gefördert werden z. B. der Auf- und Ausbau multidisziplinärer<br />

Netze für die Zusammenarbeit zwischen<br />

�Nichtregierungsorganisationen, der Austausch<br />

von Informationen und bewährten Praktiken<br />

sowie die Sensibilisierung der Öffentlichkeit.<br />

Allen Maßnahmen der EU ist gemeinsam, dass sie<br />

Jugendliche über Risiken und Gesundheitsgefahren<br />

aufklären und ihre eigene Handlungskompetenz<br />

stärken, die Hersteller zur Selbstregulierung anregen,<br />

die Kompetenz der betreuenden Erwachsenen<br />

schulen und grundsätzlich eine gesunde Entwicklung<br />

– körperlich wie auch geistig und seelisch – von<br />

Jugendlichen fördern wollen. Da es sich bei allen<br />

Programmen um zeitlich und räumlich begrenzte<br />

Projektehandelt,istdieNachhaltigkeitdereinzelnen<br />

Aktionen nur bedingt messbar. Anzunehmen ist,<br />

dass viele der Programme auf eine Veränderung des<br />

BewusstseinsderBeteiligtenhinwirken. G. C. G.<br />

Jugendwerk, Deutsch-Französisches. Eine aufgrund<br />

des Deutsch-Französischen Vertrages (Elysée-Vertrag)<br />

vom 22. 1. 1963 und durch Abkommen<br />

vom 5. 7. 1963 entstandene Organisation zur Förderung<br />

der Beziehungen zwischen der Jugend beider<br />

Staaten. Es bietet das umfangreichste, staatlich subventionierte<br />

(bilaterale) Austauschprogramm zwischen<br />

Jugendorganisationen, Sportvereinen, Schulen,<br />

Universitäten, Gewerkschaften, Partnerschaftskomitees<br />

und Gemeinden. Unter anderem führt es<br />

junge Menschen aus beiden Ländern zu mehrwöchigenBegegnungslagernzusammen.<br />

W. M.<br />

Anschriften: Molkenmarkt 1, D–10179 Berlin;<br />

51 rue de l’Admiral-Mouchez, F–75013 Paris<br />

Internet: www.dfjw.org<br />

Jugendwerk, Deutsch-Polnisches. Auf der<br />

Grundlage der Vereinbarung über den Deutsch-<br />

Polnischen Jugendaustausch (6. 11. 1990) und dem<br />

Abkommen über das Deutsch-Polnische Jugendwerk<br />

(17. 6. 1991) fördert das Deutsch-Polnische Jugendwerk<br />

seit 1. 1. 1993 den Schüler- und Jugendaustausch<br />

zwischen beiden Ländern. Durchgeführt<br />

werden u. a. Workcamps, Seminare, Fortbildungen<br />

und Sprachkurse. Maßnahmen wie Workcamps, Jugendfreizeiten<br />

und -treffen, Musik- und Sportveran-<br />

Justiz und Inneres<br />

staltungen werden teilweise durch Zuschüsse gefördert.<br />

Höchstes Organ des Jugendwerkes ist der<br />

Deutsch-Polnische Jugendrat, dessen Vorsitzende<br />

die für Jugend zuständigen Minister(innen) beider<br />

Ländersind. W. M.<br />

Anschrift: Deutsch-Polnisches Jugendwerk,<br />

Friedhofsgasse 2, 14473 Potsdam<br />

Junge Europäische Föderalisten (JEF) (Jeunes<br />

EuropéensFédéralistes),1949gegründetalsJugendorganisation<br />

der �Union der Europäischen Föderalisten<br />

UEF (in Deutschland: 1949 Bund Europäischer<br />

Jugend BEJ, ab 1957 Junge Europäische Föderalisten).<br />

Europäischer, föderalistischer, überparteilicher<br />

Jugendverband mit Sitz in Brüssel und Sektionen<br />

in über 30 Ländern; Mitglieder bis 35 Jahre.<br />

Ziele: ein gemeinsames, demokratisches, soziales,<br />

ökologisches<strong>Europa</strong>;Vereinigungdereuropäischen<br />

Völker auf föderalistischer Grundlage (europäischer<br />

Bundesstaat);föderaleStruktureninallenLebensbereichen,<br />

eine menschliche Umwelt, Menschenrechte,<br />

soziale Gerechtigkeit, Toleranz und Freiheit, Abbau<br />

von Herrschaft über Menschen, Demokratisierung<br />

der Wirtschaft, d. h. föderalistische Neuordnung<br />

der europäischen Gesellschaft (Bundessatzung,<br />

Art. 2). <strong>Europa</strong> soll zur Selbstbestimmung in<br />

der Welt(politik) fähig sein. Grundlage der Arbeit ist<br />

das �Hertensteiner Programm.<br />

Veranstaltung von Seminaren, Diskussionen, Informationsfahrten,<br />

Jugendaustausch und -treffen, Aktionen<br />

zu allen Fragen der europäischen Einigung,<br />

gesamteuropäischer Dialog und Kooperation auf der<br />

Grundlage des friedlichen Nebeneinanders, Bildung<br />

eineseuropäischenBewusstseins. W. M.<br />

Anschrift: JEF-Deutschland e.V., Bundessekretariat,<br />

Greifswalder Straße 4, 10405 Berlin.<br />

Grundsatzdokument: „Europäisches Manifest“, 1977<br />

Justitielle Zusammenarbeit �Polizeiliche und<br />

justitielle Zusammenarbeit (PJZS)<br />

Justiz und Inneres. Bis 1986 einigte man sich auf<br />

das europäische Vorgehen in Fragen der Justiz und<br />

des Inneren in �Ad-hoc-Gruppen auf Regierungsebene<br />

völlig außerhalb der legislativen Strukturen<br />

der EU. Justiz und Inneres standen im Zentrum des<br />

Konzepts nationalstaatlicher Souveränität. Dies änderte<br />

sich im Mai 1986, als die Mitgliedstaaten beschlossen,<br />

in der Frage der Einreise von Drittstaatsangehörigen<br />

in die EU und ihrer Reise- und Aufenthaltsrechte<br />

in der EU zusammenzuarbeiten.<br />

457


Justiz und Inneres<br />

1. Maastrichter Vertrag: Mit dem �Maastrichter<br />

Vertrag (7. 2. 1992) wurden die Befugnisse der europäischen<br />

Handlungsebene unter ausdrücklichem<br />

Verweis auf das Prinzip der �Subsidiarität erweitert<br />

und eindeutiger festgelegt. Darunter fallen auch die<br />

neuen Bestimmungen über die Zusammenarbeit in<br />

den Bereichen Justiz und Inneres.<br />

UnbeschadetderZuständigkeitenderEUwurdenzur<br />

Verwirklichung ihrer Ziele folgende Bereiche als<br />

Angelegenheiten von gemeinsamem Interesse klassifiziert:<br />

�Asylpolitik, �Einwanderungspolitik,<br />

Grenzkontrollpolitik der EU-Außengrenzen, Bekämpfung<br />

der Drogen- und Betrugskriminalität im<br />

Bereich internationaler Kriminalität, justitielle Zusammenarbeit<br />

in Zivil- und Strafsachen, die Zusammenarbeit<br />

im Zollwesen und die polizeiliche Zusammenarbeit<br />

im Bereich innerer Sicherheit zur Verhütung<br />

und Bekämpfung des Terrorismus, des illegalen<br />

DrogenhandelsundsonstigerschwerwiegenderFormen<br />

der internationalen Kriminalität in Verbindung<br />

mit dem Aufbau eines unionsweiten Systems zum<br />

Austausch von Informationen im Rahmen eines Europäischen<br />

Polizeiamtes (Europäische kriminalpolizeiliche<br />

Zentralstelle, �Europol).<br />

Damit wurde formell anerkannt, dass die Bereiche<br />

Justiz und Inneres Angelegenheiten von gemeinsamemInteressesind,undeswurdeeineeigenelegislative<br />

Struktur für den Erlass von Rechtsvorschriften<br />

in diesem Bereich geschaffen. In diesem Kontext<br />

sprichtmanhäufigvonder„drittenSäule“derEU,im<br />

Unterschied zu den traditionellerweise in EU-Verantwortung<br />

liegenden Bereichen, der „ersten Säule“,<br />

und der �Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik,<br />

der „zweiten Säule“ (�Tempelstruktur). Bei den<br />

mühevollen und langwierigen Rechtssetzungsakten<br />

handelt es sich konkret um Regierungsvereinbarungen,<br />

die für die EU rechtlich bindend sind.<br />

Sie wurden in Form internationaler Vereinbarungen<br />

verfasst, die von den EU-Regierungen anzunehmen<br />

und dann von jedem der nationalen Parlamente formell<br />

zu ratifizieren waren.<br />

2. Vertrag von Amsterdam: Mit dem Inkrafttreten<br />

des Amsterdamer Vertrages (1. 5. 1999) wurden<br />

mehrere politische Schlüsselbereiche, darunter die<br />

Asyl- und Einwanderungspolitik sowie Fragen der<br />

Zusammenarbeit zwischen Zivilgerichten, in die<br />

normale gesetzgeberische Struktur der EU eingebunden.<br />

Die vertraglichen Regelungen sind im Sinne<br />

des „Säulen-Modells“ zweigeteilt: Die Politik in den<br />

458<br />

Bereichen Visa, Einwanderung und freier Personenverkehr<br />

fällt unter Titel IV des EG-Vertrages, wogegen<br />

die Bestimmungen über polizeiliche und justitielle<br />

Zusammenarbeit in Strafsachen (�PJZS) unter<br />

Titel VI des EU-Vertrages fällt.<br />

2.1 Geregelt wurde im EG-Vertrag die Visapolitik,<br />

die Voraussetzungen für den Aufenthalt von Zuwanderern,<br />

das Asylverfahren sowie die justitielle Zusammenarbeit<br />

in Zivilsachen. Damit gelten für die<br />

jeweiligen Sachbereiche die EG-Vorschriften, d. h.<br />

die Beteiligung aller Organe und die Kontrolle der<br />

Rechtmäßigkeit durch den Europäischen Gerichtshof.<br />

In diesen Angelegenheiten beschließt der Rat<br />

während eines Übergangszeitraums von fünf Jahren<br />

nach Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages einstimmig.<br />

Nach Ablauf dieser Übergangszeit werden<br />

die Entscheidungsverfahren der EG angewandt.<br />

Die Europäische Kommission erhält danach das volle<br />

Initiativrecht für den EGV-Titel. Ziel ist es, einen<br />

�Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts<br />

aufzubauen.<br />

2.2 Nach EU-Vertrag erfolgte die (direkte oder über<br />

Europol laufende) Zusammenarbeit zwischen Polizeibehörden<br />

und anderen Strafverfolgungsbehörden<br />

hingegen weiterhin im Wege der Regierungszusammenarbeit.<br />

Dies gilt auch für die Rechtshilfe bei<br />

Strafsachen sowie für die wichtigsten Felder der Zusammenarbeit<br />

der EU-Staaten, nämlich Terrorismus,<br />

organisierte Kriminalität, Straftaten gegenüber<br />

Personen und Kindern, Drogen- und Waffenhandel<br />

sowie Betrug und Korruption im internationalen<br />

Maßstab. Die Form der Regierungszusammenarbeit<br />

bedeutet vor allem, dass gemeinsame Standpunkte<br />

festgelegt und gemeinsame Maßnahmen beschlossen<br />

werden können. Die eigentliche Verantwortung<br />

und �Souveränität bleibt bei den Mitgliedstaaten,<br />

d. h. dass die Kompetenz für ihre eigene Sicherheit in<br />

diesen Bereichen nicht angetastet wird.<br />

2.3 Ein wichtiges Ziel des Amsterdamer Vertrages<br />

war die Schaffung eines europäischen Raumes, in<br />

dem Personen frei verkehren können und allen Bürgern<br />

ein hohes Maß an Sicherheit geboten wird. Folgende<br />

Instrumente wurden vereinbart:<br />

– EngereZusammenarbeitderPolizei-,Zoll-undanderen<br />

Behörden in den EU-Staaten, auch unter Einschaltung<br />

von Europol;<br />

– Aufforderung der zuständigen Behörden der EU-<br />

Staaten,durchEuropolErmittlungendurchzuführen;<br />

– Aufforderung an die EU-Staaten, gemeinsame


Teams mit Europol-Vertretern in unterstützender<br />

Funktion zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität<br />

zu bilden;<br />

– Erleichterung der Auslieferung zwischen den<br />

EU-Staaten;<br />

– Festlegung unionsweit geltender Mindestvorschriften<br />

über die Tatbestandsmerkmale strafbarer<br />

Handlungen und die in den Bereichen organisierte<br />

Kriminalität, Terrorismus und Drogenhandel zu verhängenden<br />

Strafen;<br />

– eine rechtliche Verpflichtung zu engerer Zusammenarbeit<br />

der Polizei- und Justizbehörden aller<br />

EU-Staaten, um Rassismus, Fremdenfeindlichkeit,<br />

Terrorismus, organisierte Kriminalität, Menschenhandel<br />

und Straftaten gegenüber Kindern, Drogenhandel,<br />

Bestechung und Betrug zu verhüten und zu<br />

bekämpfen.<br />

2.4 In der Folge verpflichteten sich die Mitgliedstaaten<br />

auf einem Sondergipfel des Europäischen Rates<br />

im Oktober 1999 in Tampere (Finnland) zu einer<br />

ganzen Reihe von Initiativen zum Asylrecht, zur Kriminalitätsbekämpfung<br />

und zur justitiellen und polizeilichen<br />

Zusammenarbeit.<br />

Auf der Ebene der Kriminalitätsermittlung wurde<br />

vereinbart:<br />

– Euroteams: Gemeinsame Ermittlungsteams (Drogenhandel,<br />

Menschenhandel, Terrorismus) mit Unterstützung<br />

durch Europol;<br />

– Task Force: Einrichtung einer operativen Task<br />

Force der EU-Polizeichefs, die mit Europol sich über<br />

grenzüberschreitende Kriminalität verständigt und<br />

operative Maßnahmen plant;<br />

– Europol: Aufwertung und stärkere finanzielle<br />

Ausstattung des Europäischen Polizeiamtes, das<br />

1995 gegründet wurde;<br />

– �Eurojust: Bekämpfung der schweren organisierten<br />

Kriminalität;<br />

– Akademie: Einrichtung einer europäischen Polizeiakademie.<br />

Als weitere Maßnahmen wurden vereinbart:<br />

– Strafrechtsharmonisierung unter Betonung des<br />

Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung in<br />

Rechtsfragen; die Harmonisierung konzentriert sich<br />

auf gemeinsame Definitionen, Tatbestandsmerkmale<br />

und Sanktionen bei Delikten wie Finanzkriminalität,Drogen-undMenschenhandel,sexuellerKindesmissbrauch,<br />

Umweltkriminalität;<br />

– uneingeschränkte Rechtshilfe bei schwerer Wirtschaftskriminalität;<br />

Justiz und Inneres<br />

– Forcierung der Drogenbekämpfung;<br />

– Sondermaßnahmen zur Bekämpfung der �Geldwäsche.<br />

Die EU konkretisierte zunehmend ihr integrationspolitisches<br />

Ziel, die Schaffung eines „Raumes der<br />

Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“. Der �Verfassungsvertrag<br />

2004 legt dazu in Art. I-3 (Die Ziele<br />

der Union) fest: „Die Union bietet ihren Bürgerinnen<br />

und Bürgern einen Raum der Freiheit, der Sicherheit<br />

und des Rechts ohne Binnengrenzen.“<br />

2.5 Terrorismusbekämpfung: Seit den Terroranschlägen<br />

in Madrid am 11. 3. 2004 hat die EU ihre<br />

Anstrengungen zur Bekämpfung des Terrorismus<br />

verstärkt und zu diesem Zweck konkrete Maßnahmen<br />

ergriffen. Der Tag selbst wurde zum Europäischen<br />

Tag der Opfer des Terrorismus erklärt. In einem<br />

Bericht hat die Kommission eine Bestandsaufnahme<br />

all dieser Maßnahmen durchgeführt, ihre<br />

Umsetzung auf nationaler und europäischer Ebene<br />

überprüft und die noch zu bewältigenden Herausforderungenaufgeführt.EineWochenachdenAnschlägen<br />

nahm der Europäische Rat eine Erklärung zur<br />

Terrorismusbekämpfung an, in der sich die Union<br />

und ihre Mitgliedstaaten verpflichten, „alles in ihrer<br />

Macht Stehende zu tun, um alle Formen des Terrorismus<br />

gemäß den Grundprinzipien der EU zu bekämpfen“.<br />

Der Aktionsplan zur Terrorismusbekämpfung<br />

setzt diese Erklärung in strategisch erreichbare Zielsetzungen<br />

um, darunter die Beseitigung von Barrieren<br />

zwischen den Mitgliedstaaten bei der VerbreitungvonInformationenzuTerrorismus,AufspürungundUnterbindungderTerrorismusfinanzierung,Beseitigung<br />

der Ursachen für Terrorismus sowie die<br />

Vorbereitung auf die Bewältigung von Folgen möglicher<br />

Anschläge.<br />

Die Kommission hat folgende Aufgabenbereiche:<br />

– Die Einrichtung eines allgemeinen Frühwarnsystems,<br />

das alle bestehenden Warnsysteme auf<br />

EU-Ebene vernetzt, und die Einrichtung eines Krisenzentrums,<br />

das im Notfall alle bestehenden Dienste<br />

der Kommission miteinander in Kontakt bringen<br />

würde.<br />

– Die Erarbeitung eines Vorschlages zur Einrichtung<br />

eines europäischen Strafverfolgungsnetzes (bis<br />

2006). Hierdurch soll eine Verbindung zwischen den<br />

zuständigen Behörden der einzelnen Mitgliedstaaten,<br />

Europol und dem Frühwarnsystem der Kommission<br />

hergestellt werden.<br />

– Entwicklung von Maßnahmen zur Gewährleistung<br />

459


Justiz und Inneres<br />

größerer Sicherheit vor Sprengstoffen, Material zur<br />

Herstellung von Bomben und vor Schusswaffen.<br />

– Im Hinblick auf die Terrorismusfinanzierung will<br />

die Kommission mehr Zusammenarbeit und Informationsaustausch<br />

erzielen, um die Rückverfolgung<br />

von für den Terrorismus bestimmten Mitteln zu erleichtern.<br />

3. Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts<br />

(RFSR): Der RFSR als Leitkonzept für die Innenund<br />

Justizpolitik der Union gehört zu den wichtigsten<br />

jüngeren Integrationszielen. Folgende Politikfelder<br />

sind in ihm integriert:<br />

– Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung<br />

– Justitielle Zusammenarbeit in Zivilsachen<br />

– Justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen<br />

– Polizeiliche Zusammenarbeit<br />

4. Verfassungsvertrag 2004: Mit dem Verfassungsvertrag<br />

verändert sich, sofern er in Kraft treten kann,<br />

der rechtliche Rahmen erneut. Grundsätzlich soll der<br />

Verfassungsvertrag die seitherige Struktur der drei<br />

„Säulen“ durch einen einheitlichen rechtlichen Rahmen<br />

auflösen. Der RFSR ist grundsätzlich als Ziel<br />

der Union definiert (Art. I-3 Abs. 2 VVE); ausgeformt<br />

wird er in den Art. III-257 bis Art. III-277. FolgendeallgemeineBestimmungensindgrundlegend:<br />

– Die Union bildet einen Raum der Freiheit, der Sicherheit<br />

und des Rechts, in dem die Grundrechte geachtet<br />

und die Rechtstraditionen der Mitgliedstaaten<br />

berücksichtigt werden.<br />

– Die Union stellt sicher, dass Personen an den Binnengrenzen<br />

nicht kontrolliert werden. Sie entwickelt<br />

eine gemeinsame Politik in den Bereichen Asyl, Einwanderung<br />

und Kontrolle an den Außengrenzen.<br />

– Die Union wirkt präventiv und bekämpft Kriminalität,<br />

Rassismus und Fremdenfeindlichkeit.<br />

– Die Union fördert die Koordination und Zusammenarbeit<br />

von Polizeibehörden und Organen der<br />

Strafrechtspflege; auch gegenseitige Anerkennung<br />

strafrechtlicher Entscheidungen.<br />

– Die Union erleichtert den Zugang zum Recht, insbes.<br />

durch den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung<br />

gerichtlicher und außergerichtlicher Entscheidungen<br />

in Zivilsachen.<br />

460<br />

Der Erkenntnis, dass Freiheit, Sicherheit und Recht<br />

engmiteinanderverbundensind,folgtauchdieKommission.<br />

Mit der Kommission 2004 – 2009 existiert<br />

der Kommissionsbereich (Generaldirektion) „Justiz,<br />

Freiheit und Sicherheit“. Der Europäische Rat<br />

legt für die Kommission die strategischen Leitlinien<br />

für die legislative und operative Programmplanung<br />

fest.<br />

Bemerkenswert ist, dass der Verfassungsvertrag 2004<br />

dafür das Mitentscheidungsverfahren mit Mehrheitsentscheidung<br />

im Rat zum Regelverfahren benennt.<br />

Bedeutende Ausnahmen sind Einstimmigkeit bei Beschlüssen<br />

– zum Familienrecht mit grenzüberschreitenden Bezügen;<br />

– zur Einführung von Mindestvorschriften für Aspekte<br />

des Strafverfahrensrechts;<br />

– zur Erweiterung der Liste von Bereichen besonders<br />

schwerer Kriminalität, in denen Mindestvorschriften<br />

zur Festlegung von Straftaten und Strafen<br />

zur Anwendung gelangen können;<br />

– für die Einführung der europäischen Staatsanwaltschaft;<br />

– für Maßnahmen zur operativen Zusammenarbeit<br />

zwischen den Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten;<br />

– für die Festlegung der Bedingungen, unter denen<br />

Behörden der Mitgliedstaaten im Hoheitsgebiet eines<br />

anderen Mitgliedstaates tätig werden dürfen.<br />

Der Verfassungsvertrag 2004 (Art. i-43) verankert<br />

eine Solidaritätsklausel: Die Union und ihre Mitgliedstaaten<br />

handeln gemeinsam im Geist der Solidarität,<br />

wenn ein Mitgliedstaat von einem Terroranschlag<br />

oder einer betroffen ist. Die Union mobilisiert<br />

alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel (einschl. militärischerMittel).<br />

L. U.<br />

Literatur:<br />

Monar, J.: Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des<br />

Rechts im Verfassungsentwurf des Konvents. In: Integration<br />

4/2003, S.536 – 549<br />

Müller-Graff, P. (Hg.): Europäische Zusammenarbeit in den<br />

Bereichen Justiz und Inneres. Baden-Baden 1996<br />

Rupprecht, R./Hellenthal, H.: Die Europäische Gemeinschaft<br />

der inneren Sicherheit. Gütersloh 1992


Kabinette sind Gruppen persönlicher Berater, die<br />

jedes Mitglied der Kommission gem. Art. 14 der Geschäftsordnung<br />

bilden kann. Kabinette unterstützen<br />

die einzelnen Kommissionsmitglieder bei der Erfüllung<br />

ihrer Aufgaben und bereiten die Beschlüsse der<br />

Kommission vor. Bei Abwesenheit eines KommissionsmitgliedskannseinKabinettschefanSitzungen<br />

der Kommission teilnehmen und hat nach Aufforderung<br />

des Präsidenten Rederecht (Art. 8 GO).<br />

Die Kabinettschefs aller Kommissionsmitglieder<br />

bereiten die Beschlussfassung der Kommission in<br />

ähnlicher Weise vor wie der �AStV die Beschlüsse<br />

des Rates.<br />

Kabotage. Begriff aus dem Transportwesen, der bei<br />

der Verwirklichung der Dienstleistungsfreiheit im<br />

Rahmen des �Binnenmarktes eine Rolle spielt(e).<br />

Kabotage ist jede Beförderungsleistung ohne Grenzüberschreitung.<br />

Sie war früher Inländern vorbehalten,<br />

was gegen das �Diskriminierungsverbot in der<br />

EG verstieß. Eine EG-Verordnung von 1989, die<br />

eine erste Lockerung des Kabotageverbots für Ausländer<br />

vorsah, war Mitte 1990 in Kraft getreten: Es<br />

wurden zunächst 15 000 Kabotagegenehmigungen<br />

vergeben, die zwei Monate gültig waren.<br />

Die Kabotage im Straßengüterverkehr (Erdkabotage)<br />

wurde am 1. 7. 1998 völlig freigegeben. Das bedeutet:<br />

Jeder Lkw-Halter mit Sitz in einem Mitgliedstaat<br />

der EU kann seitdem mit seinen Fahrzeugen innerhalb<br />

eines jeden Landes der EU seinen Transportgeschäften<br />

nachgehen – ohne mengenmäßige oder<br />

räumliche Marktzugangsbeschränkungen.<br />

In der �Binnenschifffahrt ist die Kabotage seit 1. 1.<br />

1995 frei, im Luftfrachtverkehr seit 1. 4. 1997, im<br />

Seeverkehr seit Anfang 1999. �Verkehrspolitik<br />

Kalanke-/Marschall-(Frauenquoten-)Urteil. Im<br />

Urteil vom 17. 10. 1995 (Rs. C–450/93; NJW 1995,<br />

3109) entschied der EuGH im Wege der �Vorabentscheidung,<br />

dass die Gleichbehandlungsrichtlinie<br />

(76/207, ABl. L 39/1976) einer nationalen Regelung<br />

(Bremer Gleichstellungsgesetz) entgegenstehe,<br />

nach der bei gleicher Qualifikation von Bewerbern<br />

unterschiedlichen Geschlechts um eine Beförderung<br />

K<br />

in Bereichen, in denen die Frauen unterrepräsentiert<br />

sind (weniger als die Hälfte Frauen in der jeweiligen<br />

Vergütungsgruppe), den weiblichen Bewerbern automatisch<br />

der Vorrang eingeräumt wird. Diese absolute<br />

und unbedingte Bevorzugung stelle eine unzulässige<br />

Diskriminierung der Männer aufgrund des<br />

Geschlechts dar, die auch nicht über die grundsätzlich<br />

mögliche Förderung der Chancengleichheit von<br />

Männern und Frauen zu rechtfertigen sei. Im konkreten<br />

Fall wurde schließlich (nach Abschluss der Gerichtsverfahren)<br />

dennoch der weiblichen Konkurrentin<br />

die Beförderungsstelle zugeteilt, da sie doch<br />

die „bessere persönliche Eignung“ aufweise.<br />

ImUrteilMarschallstelltederEuGHam11.11.1997<br />

(Rs. C–409/95; N7W 1997, 3429) klar, dass dagegen<br />

eine flexible Quotenregelung, die etwa durch eine<br />

„Härtefallklausel“ für Männer ergänzt wird, grundsätzlich<br />

europarechtskonform ist. In zahlreichen Urteilen<br />

hat der EuGH zwischenzeitlich diese Rechtsprechungverfestigt.<br />

J. M. B.<br />

Kaleidoskop. Eines der drei ersten KulturförderprogrammederGemeinschaftvon1996(nebenAriane<br />

und Raphael). Gefördert wurden künstlerische<br />

und kulturelle Veranstaltungen, an denen Organisationen<br />

aus mindestens drei Mitgliedstaaten beteiligt<br />

waren (Beschluss 719/96; ABL. L 99/1996). Kaleidoskop<br />

wurde ersetzt durch das Programm �Kultur<br />

2000.<br />

Kapitalverkehr �Freier Kapitalverkehr<br />

Kartellrecht<br />

Kartellrecht, Europäisches<br />

1. Allgemeines. Das Europäische Kartellrecht hat die<br />

Aufgabe, den Wettbewerb zwischen Wirtschaftsunternehmen<br />

in der Europäischen Union vor Beschränkungen<br />

zu schützen. Der �Binnenmarkt, den die<br />

EU-Mitgliedstaaten verwirklichen, indem sie Handelshemmnisse<br />

abbauen, soll nicht dadurch beeinträchtigt<br />

werden, dass Unternehmen Kartelle bilden<br />

oder ihre starke Stellung auf dem Markt missbrauchen.<br />

Folglich dienen die Regeln des europäischen<br />

Kartellrechts auch der Verwirklichung des europäischenBinnenmarktes(vgl.Art.3Abs.1lit.gEGV).<br />

461


Kartellrecht<br />

Die wichtigsten Rechtsnormen des Europäischen<br />

Kartellrechts finden sich im Kapitel des EG-Vertrages<br />

über „Wettbewerbsregeln“ (Art. 81 – 89<br />

EGV). Abschnitt 2 dieses Kapitels enthält das europäische<br />

Beihilfenrecht; er richtet sich an die<br />

EU-Mitgliedstaaten. Diese dürfen Wirtschaftsunternehmen<br />

keine �staatlichen Beihilfen gewähren, die<br />

den Wettbewerb verfälschen. Abschnitt 1 der Wettbewerbsregeln<br />

(Art. 81 – 86 EGV) richtet sich an die<br />

im Binnenmarkt aktiven Unternehmen; dieser Abschnitt<br />

bildet den Kern des heute geltenden europäischenKartellrechts.ImnochnichtvonallenEU-Mitgliedstaaten<br />

ratifizierten �Verfassungsvertrag 2004<br />

finden sich diese Vorschriften im Wesentlichen unverändert<br />

in den Artikeln III-161 ff.<br />

Der Wettbewerb kann durch Unternehmen auf drei<br />

verschiedene Arten beschränkt werden. Erstens können<br />

Unternehmen ihr Verhalten koordinieren, indem<br />

siez.B.wettbewerbsbeschränkendeVerträgeschließen.<br />

Dagegen richtet sich Art. 81 EGV. Zweitens<br />

können sie Mitbewerber behindern (z. B. durch<br />

Kampfpreisunterbietung oder Lieferverweigerung).<br />

Diese Verhaltensweisen werden von Art. 82 EGV erfasst.<br />

Und drittens kann im Wege von Strukturveränderungen<br />

dem Wettbewerb geschadet werden. Unter<br />

einer solchen Strukturveränderung ist zu verstehen,<br />

dassUnternehmensichzusammenschließenunddiese<br />

Fusion dazu führt, dass nach ihrem Vollzug auf<br />

dem betroffenen Markt kein wirksamer Wettbewerb<br />

mehr herrscht. Gegen derartige Fusionen richtet sich<br />

die europäische �Fusionskontrollverordnung (VO<br />

139/2004, ABl. L 24/2004).<br />

2. Kartellverbot<br />

a) In Art. 81 EGV ist das europäische Kartellverbot<br />

geregelt. Bestimmte Formen, in denen Unternehmen<br />

ihr Verhalten auf dem Markt koordinieren und mit<br />

denen sie den Wettbewerb beschränken, sind demnach<br />

verboten. Diese Handlungsformen sind: Vereinbarungen<br />

zwischen Unternehmen, Beschlüsse<br />

von Unternehmensvereinigungen (wie z. B. Ärzteoder<br />

Architektenkammern) und aufeinander abgestimmte<br />

Verhaltensweisen.<br />

Sie werden vom europäischen Kartellverbot allerdings<br />

nur erfasst, wenn sie geeignet sind, den Handel<br />

zwischen den EU-Mitgliedstaaten spürbar zu beeinträchtigen.<br />

An diese Eignung, den Handel zwischen<br />

den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen, sind keine<br />

hohen Anforderungen zu stellen. Sie liegt bereits<br />

dann vor, wenn sich mit hinreichender Wahrschein-<br />

462<br />

lichkeit voraussehen lässt, dass die wettbewerbsbeschränkende<br />

Absprache unmittelbar oder mittelbar,<br />

tatsächlich oder auch nur potenziell den Wirtschaftsverkehr<br />

zwischen den Mitgliedstaaten beeinflussen<br />

kann. Der Handel zwischen den Mitgliedstaaten<br />

muss also noch gar nicht beeinträchtigt worden sein.<br />

Kleine Kartelle, die keine spürbaren Auswirkungen<br />

auf den Handel in der EU haben können, fallen jedoch<br />

nicht unter das europäische Kartellverbot. Diese<br />

und auch alle anderen Kartelle, die nicht geeignet<br />

sind, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu<br />

beeinträchtigen, können nur durch das nationale<br />

Kartellrecht, in Deutschland etwa durch das Gesetz<br />

gegen Wettbewerbsbeschränkungen, sanktioniert<br />

werden.<br />

Eine weitere Voraussetzung für die Anwendung des<br />

europäischen Kartellverbots ist, dass die Vereinbarung,<br />

der Beschluss oder die aufeinander abgestimmten<br />

Verhaltensweisen eine Wettbewerbsbeschränkungbezweckenoderbewirken.EineWettbewerbsbeschränkung<br />

liegt vor, wenn die Unternehmen<br />

ihre wirtschaftliche Handlungs- und Entscheidungsfreiheit<br />

einschränken und insofern auf dem<br />

Markt nicht mehr selbständig agieren.<br />

Genau wie die Eignung, den Handel zwischen den<br />

EU-Mitgliedstaatenzubeeinträchtigen,mussjedoch<br />

auch die Wettbewerbsbeschränkung spürbar sein; in<br />

Bagatellfällen, in denen nur eine geringe Wettbewerbsbeschränkung<br />

vorliegt, ist das europäische<br />

Kartellverbot nicht einschlägig. Die EU-Kommission<br />

sieht einen derartigen Bagatellfall als gegeben<br />

an, wenn die an der Vereinbarung beteiligten Unternehmen<br />

zusammen genommen nur einen Marktanteil<br />

von 10 %, in manchen Fällen auch 15 % besitzen.<br />

Liegt der Marktanteil über dieser Schwelle, so ist die<br />

Wettbewerbsbeschränkung spürbar. Diese Rechtsauffassung<br />

hat die Kommission in ihrer �„de-minimis-Bekanntmachung“<br />

aus dem Jahre 2001 mitgeteilt<br />

(ABl. C 368/2001).<br />

Damit ein verbotenes Kartell vorliegt, muss es noch<br />

nicht zu einer Wettbewerbsbeschränkung gekommen<br />

sein; es genügt vielmehr, wenn diese nur bezweckt<br />

wird.<br />

Derartige, nach Art. 81 Abs. 1 EGV verbotene wettbewerbsbeschränkende<br />

Vereinbarungen sind z. B.<br />

Absprachen von Unternehmen, für ihre Produkte am<br />

Markt die gleichen Preise zu fordern (Preisabsprachen);<br />

Vereinbarungen, den Markt räumlich unter<br />

den beteiligten Unternehmen aufzuteilen, wobei


kein Unternehmen im Gebiet eines Konkurrenten tätig<br />

wird (Gebietsabsprachen); Verträge, in denen ein<br />

Hersteller seinen Vertriebshändlern die Verkaufspreise<br />

vorschreibt (vertikale Preisbindungen).<br />

b) Die nach Art. 81 Abs. 1 EGV verbotenen Kartelle<br />

sind nichtig (Art. 81 Abs. 2 EGV); das bedeutet, dass<br />

die beteiligten Unternehmen nicht an die Kartellabsprache<br />

gebunden sind. Ein Kartell ist eine Ordnungswidrigkeit,<br />

die von der Europäischen Kommission<br />

und auch von den Kartellämtern der Mitgliedstaaten<br />

mit einem Bußgeld belegt werden kann.<br />

Die von der EU-Kommission verhängten Bußgelder<br />

erreichen in manchen Fällen mittlerweile die GrößenordnungvonmehrerenhundertMillionenEuro.<br />

Den Opfern von Kartellen können zudem Unterlassungsansprüche<br />

und vor allem auch Schadensersatzansprüche<br />

gegen die Mitglieder des Kartells zustehen.<br />

Diese Ansprüche ergeben sich jedoch aus dem<br />

jeweiligen Recht der Mitgliedstaaten und nicht aus<br />

<strong>Europa</strong>recht. Entsteht z. B. dem Abnehmer von Waren<br />

eines Kartells ein Schaden, weil der Preis für die<br />

WareninfolgederKartellabspracheüberhöhtwar,so<br />

kann er diesen Schaden vor einem nationalen Zivilgericht<br />

geltend machen.<br />

In einem wichtigen Urteil aus dem Jahre 2001 hat der<br />

Europäische �Gerichtshof zudem entschieden, dass<br />

unter gewissen Voraussetzungen auch einer Partei<br />

eines wettbewerbsbeschränkenden Vertrages gegen<br />

seinen Vertragspartner ein europarechtlicher Schadensersatzanspruch<br />

wegen Kartellverstoßes zustehen<br />

kann („Courage/Crehan“; Rs. C-453/99; Slg.<br />

2001, I-6297).<br />

In Zukunft soll die zivilrechtliche Durchsetzung des<br />

Kartellrechts erleichtert werden; die Betroffenen<br />

sollen (durch EU-Kommission und nationale Kartellbehörden)<br />

ermuntert werden, Schadensersatzansprüche<br />

gegen Kartelle einzuklagen.<br />

c)AbgesehenvondenverbotenenundnichtigenKartellen<br />

gibt es auch Vereinbarungen, die zwar den<br />

Wettbewerb beschränken, aber dennoch insgesamt<br />

positiv zu bewerten sind. So kann etwa durch die Zusammenarbeit<br />

von Unternehmen im Bereich Forschung<br />

und Entwicklung der technische oder wirtschaftliche<br />

Fortschritt gemehrt werden. Manche<br />

wettbewerbsbeschränkenden Absprachen führen<br />

auch zu einer effizienteren Organisation des Vertriebs,<br />

was den Preis der betreffenden Produkte sinken<br />

lässt. Diese Errungenschaften kommen letztlich<br />

auch dem Verbraucher zugute. Derartige Vereinba-<br />

Kartellrecht<br />

rungen sind daher, wenn ihre positiven Auswirkungen<br />

stärker wiegen als die Wettbewerbsbeschränkung,<br />

durch Art. 81 Abs. 3 EGV vom Kartellverbot<br />

freigestellt und damit gültig. Früher überprüfte die<br />

Europäische Kommission, ob die Voraussetzungen<br />

einer Freistellung vom Kartellverbot vorlagen und<br />

erließ hierzu Freistellungsentscheidungen. Seit Mai<br />

2004 (zeitgleich mit der Osterweiterung der EU) ergehen<br />

zur Entlastung der Kommission keine derartigen<br />

Entscheidungen mehr. Statt dessen müssen die<br />

betroffenen Unternehmen, die eine wettbewerbsbeschränkende<br />

Vereinbarung treffen, nun selbst einschätzen,<br />

ob ihre Vereinbarung von Gesetzes wegen<br />

freigestellt ist. Dies ergibt sich aus Art. 1 Abs. 2 der<br />

neuen Kartellverfahrensverordnung, der VO 1/2003<br />

(ABl. L 1/2003). Dadurch entsteht eine gewisse<br />

Rechtsunsicherheit.<br />

Diesewirddadurchgemildert,dassdieEU-Kommission<br />

für manche wettbewerbsbeschränkenden Absprachen<br />

durch Verordnung geregelt hat, ob diese<br />

vom Kartellverbot freigestellt sind oder nicht (sog.<br />

Gruppenfreistellungsverordnungen). Derartige Verordnungen<br />

existieren zum einen für bestimmte Bereiche<br />

der Wirtschaft, etwa den KraftfahrzeugvertrieboderdenVersicherungssektor,zumanderenallgemein<br />

für bestimmte Arten von wettbewerbsbeschränkenden<br />

Vereinbarungen. So sind z. B. wettbewerbsbeschränkende<br />

Vereinbarungen und abgestimmte<br />

Verhaltensweisen zwischen Unternehmen,<br />

die auf unterschiedlichen Produktions- oder Vertriebsstufen<br />

tätig sind (d. h. Vertikalvereinbarungen,<br />

z. B. zwischen einem Hersteller von Elektrogeräten<br />

und seinen Vertriebshändlern), pauschal vom Kartellverbot<br />

freigestellt, wenn die Unternehmen höchstens<br />

einen Marktanteil von 30 % auf dem betroffenen<br />

Markt haben. Von dieser Freistellung sind nur<br />

bestimmte, besonders schwerwiegende Wettbewerbsbeschränkungen<br />

ausgenommen, z. B. Preisbindungen.<br />

Dies regelt die VO 2790/ 1999 der Kommission,<br />

die sog. „Vertikal-Gruppenfreistellungsverordnung“.<br />

3. Missbrauchskontrolle. Auch dann, wenn Unternehmen<br />

ihr Verhalten auf dem Markt nicht untereinander<br />

koordinieren, sondern wenn sie durch einseitiges<br />

Verhalten den Wettbewerb beschränken, kann<br />

dies durch das europäische Kartellrecht verboten<br />

sein. Artikel 82 EGV bestimmt, dass die missbräuchliche<br />

Ausnutzung einer beherrschenden Stellung auf<br />

dem Gemeinsamen Markt oder auf einem wesentli-<br />

463


KASEF<br />

chen Teil desselben verboten ist. Dies gilt jedoch nur<br />

dann, wenn (wie beim Kartellverbot des Art. 81 EGV<br />

auch) das missbräuchliche Verhalten dazu geeignet<br />

ist, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen.<br />

Einseitige wettbewerbsbeschränkende Maßnahmen<br />

sind nach dem europäischen Kartellrecht somit nur<br />

dann verboten, wenn das betreffende Unternehmen<br />

über eine marktbeherrschende Stellung verfügt. Um<br />

zuermitteln,obdiesderFallist,musszunächstderjeweilseinschlägigeMarktabgegrenztwerden.Hierzu<br />

untersucht die Kommission bzw. der EuGH, welche<br />

Waren oder Dienstleistungen zu einem Markt gehören.<br />

Alle Produkte, die aus der Sicht der Nachfrager<br />

zur Befriedigung eines gleich bleibenden Bedarfs<br />

gleichermaßen geeignet sind und die untereinander<br />

hinreichendaustauschbarsind,bildenzusammengenommen<br />

einen Markt. Zudem muss der Markt auch<br />

räumlich abgegrenzt werden.<br />

In einem nächsten Schritt wird dann die Frage geklärt,<br />

ob das Unternehmen auf diesem Markt über<br />

eine beherrschende Stellung verfügt. Eine marktbeherrschende<br />

Stellung ist die wirtschaftliche Machtstellung,<br />

durch die ein Unternehmen die Aufrechterhaltung<br />

eines wirksamen Wettbewerbs auf dem<br />

Markt verhindern kann. Dafür muss das Unternehmen<br />

über kein Monopol verfügen; auch wenn auf<br />

dem Markt noch Wettbewerb herrscht, kann eine<br />

marktbeherrschende Stellung vorliegen. Um eine<br />

solche zu ermitteln, ist die Gesamtbetrachtung der<br />

Marktverhältnisse erforderlich. Das wichtigste Kriterium<br />

sind hierbei die Marktanteile der miteinander<br />

konkurrierenden Unternehmen. Je höher der Marktanteil<br />

eines Unternehmens ist, desto eher hat dieses<br />

eine beherrschende Stellung inne.<br />

Verfügt demnach ein Unternehmen über eine marktbeherrschende<br />

Stellung, so ist der Missbrauch derselben<br />

nach Art. 82 EGV verboten. Ein Missbrauch<br />

liegt vor, wenn die Verhaltensweise die Struktur des<br />

betroffenen Marktes beeinflussen kann und die Aufrechterhaltung<br />

des auf dem Markt noch bestehenden<br />

Wettbewerbs behindert, indem Mittel verwendet<br />

werden, die von den normalerweise im Wettbewerb<br />

eingesetzten Mitteln abweichen. Ein wichtiges Beispiel<br />

hierfür ist der Fall, dass ein Unternehmen über<br />

eine wesentliche Einrichtung verfügt und diese Einrichtung<br />

selbst nutzt, seinen Konkurrenten aber den<br />

Zugang zu dieser Einrichtung unberechtigterweise<br />

verweigert (sog. „essential facility doctrine“). So<br />

464<br />

handelt etwa ein Stromkonzern missbräuchlich, der<br />

über ein wichtiges Stromnetz verfügt und dieses<br />

nicht seinen Mitbewerbern zur Durchleitung zur<br />

Verfügung stellt. Ähnliche Beispiele sind auch im<br />

Bereich der Telekommunikation denkbar.<br />

Liegt ein Missbrauch einer marktbeherrschenden<br />

Stellung vor, so verhängt die EU-Kommission ein<br />

Bußgeld gegen das handelnde Unternehmen. Zudem<br />

kann dem geschädigten Unternehmen nach nationalem<br />

Recht ein Schadensersatzanspruch zustehen.<br />

4. Zusammenschlusskontrolle. Um Wettbewerbsbeschränkungen<br />

infolge von Strukturveränderungen<br />

zu begegnen, überprüft die Europäische Kommission<br />

Unternehmenszusammenschlüsse von gemeinschaftsweiter<br />

Bedeutung (Europäische �Fusionskontrolle).<br />

Im Gegensatz zum Kartellverfahren besteht<br />

im Fusionskontrollverfahren die Pflicht für die<br />

betroffenen Unternehmen, ihren Zusammenschluss<br />

bei der Kommission anzumelden (s. Art. 4 Abs. 1 VO<br />

139/2004). Durch die seit Mai 2004 geltende neue<br />

Fusionskontrollverordnung (VO 139/2004, ABl. L<br />

133/2004) wurde ein neues Prüfkriterium eingeführt.DanachuntersagtdieKommissionalleZusammenschlüsse,<br />

„durch die wirksamer Wettbewerb im<br />

Gemeinsamen Markt oder in einem wesentlichen<br />

Teil desselben erheblich behindert würde, insbes.<br />

durch Begründung oder Verstärkung einer beherrschenden<br />

Stellung“ (Art. 2 Abs. 3 VO 139/ 2004).<br />

Rechtzeitig zur Osterweiterung der Europäischen<br />

Union wurde somit nicht nur das Kartellverfahren,<br />

sondernauchdieFusionskontrolledurchErlasseiner<br />

neuen Verordnung reformiert. Inwieweit Fusionen<br />

nachdemneuenPrüfkriteriumimErgebnisanderszu<br />

beurteilenseinwerdenalsnachdemfrühergeltenden<br />

„Marktbeherrschungstest“, bleibt abzuwarten.<br />

H. Sch.<br />

Literatur:<br />

Mestmäcker, E.-J./Schweitzer, H.: Europäisches Wettbewerbsrecht.<br />

München 2004 2<br />

Schröter, H./Jakob, Th./Mederer, W. (Hg.): Kommentar zum<br />

Europäischen Wettbewerbsrecht. Baden-Baden 2003<br />

KASEF (Katholisches Sekretariat für Europäische<br />

Fragen, Office Catholique d’Information et<br />

d’Initiative Pour l’Europe, OCIPE). Sekretariat des<br />

Jesuitenordens in Brüssel. Gibt zusammen mit<br />

�COMECE die monatlich in fünf Sprachen erscheinenden<br />

„Europe Infos“ heraus.<br />

Anschrift: 3, rue des Trévires, Brüssel<br />

Internet: www.ocipe.org


Katastrophenhilfe �Nahrungsmittelhilfe, �Solidaritätsfonds<br />

Katastrophenschutz. Bezeichnung für Maßnahmen<br />

zur Vorsorge oder Reaktion auf besonders<br />

schwere Unglücke oder schadensträchtige Naturereignisse<br />

von erheblichem Ausmaß. Der Katastrophenschutz<br />

ist eine hoheitliche Aufgabe der Mitgliedstaaten.<br />

Überlegungen innerhalb der EU, eine<br />

europäische Katastrophenschutztruppe aufzustellen,sindbishernichtzurEntscheidungsreifegelangt.<br />

Jüngste Initiativen in diese Richtung beruhen auf<br />

Vorschlägen von Frankreich, Deutschland, Belgien<br />

und Luxemburg vom 29. 4. 2003 (Tervuren) (Schaffung<br />

eines europäischen Systems der humanitären<br />

Soforthilfe) und Vorstößen einzelner Mitgliedstaaten<br />

auf dem Sonderrat der EU vom 7. 1. 2005, der<br />

über Maßnahmen im Zusammenhang mit der Tsunami-Flutwelle<br />

in Südostasien 2004 beriet. Die Vorschläge<br />

umfassen auch Maßnahmen im Rahmen der<br />

�Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik<br />

(ESVP), zu deren Aufgabenfeldern gem. den<br />

�„Petersberg Aufgaben“ auch humanitäre Aufgaben<br />

und Rettungseinsätze gehören sowie der Einsatz der<br />

�zivil-militärischen Zelle zur Führung entsprechender<br />

Operationen der EU. Der Europäische �Verfassungsvertrag<br />

2004 würde erstmals eine eigenständige<br />

Rechtsgrundlage für den Katastrophenschutz<br />

schaffen (Art. III-284 VVE), die sich jedoch wegen<br />

der bestehenden Souveränitätsvorbehalte der Mitgliedstaaten<br />

auf unterstützende Maßnahmen und<br />

eine verstärkte Koordinierung beschränkte. Vom<br />

Katastrophenschutz zu trennen ist die �Humanitäre<br />

Hilfe, die sich auf die Linderung der akuten Not von<br />

Menschenbeschränkt,dieinfolgevonKatastrophen,<br />

Kriegen oder Krisen nicht in der Lage sind, sich aus<br />

eigenerKraftzuhelfen. U. S.<br />

Keck-Urteil. Mit dem Urteil vom 24. 11. 1993 (Rs.<br />

C–267 u. 268/91; Slg. 1993, I–6097), das z. T. als<br />

„Novemberrevolution“ bezeichnet wird, schränkte<br />

der EuGH erstmals seine fast grenzenlose �Dassonville-Formel<br />

ein und stellte die mitgliedstaatlichen<br />

Regelungskompetenzen im Bereich des freien Warenverkehrsklar.DieNormierungdiskriminierungsfreier<br />

Verkaufsmodalitäten, die nicht faktisch zur<br />

Abschottung der nationalen Märkte führen, bleibe<br />

den Mitgliedstaaten unbenommen. Damit wurde<br />

verdeutlicht, dass die Mitgliedstaaten trotz des Bin-<br />

Kennzeichnungspflicht<br />

nenmarktes vertriebsbezogene Beschränkungen wie<br />

bspw. das Verbot, Waren zu Verlustpreisen zu verkaufen,<br />

Arbeitszeitregelungen, Ladenschlusszeiten<br />

etc.weiterhinerlassendürfen,auchwenndiesenegative<br />

Folgen auf den freien Warenverkehr haben können.<br />

Produktbezogene Beschränkungen des freien<br />

Warenverkehrs (Vorschriften bzgl. Bezeichnung,<br />

Form, Abmessung, Gewicht, Zusammensetzung,<br />

Etikettierung, Verpackung usw.) dagegen seien den<br />

Mitgliedstaaten grundsätzlich verboten, wenn diese<br />

geeignet seien, den zwischenstaatlichen Handel zu<br />

behindern. Insoweit gelte weiterhin die �Dassonville-Formel.<br />

J. M. B.<br />

Kennzeichnungspflicht<br />

Allergene: Die Richtlinie 2003/89 (ABl. L 308/<br />

2003) verpflichtet Hersteller von Lebensmitteln zu<br />

detaillierten Angaben über Zutaten, die Allergien<br />

hervorrufen können. Dazu zählen insbes. folgende<br />

Stoffe und daraus hergestellte Erzeugnisse: glutenhaltiges<br />

Getreide, Krebstiere, Eier, Fisch, Erdnüsse,<br />

Soja, Milch einschl. Laktose, Schalenfrüchte, Sellerie,<br />

Senf, Sesamsamen, Schwefeldioxid und Sulfite<br />

in einer Konzentration von mehr als 10 mg je Kilogramm<br />

oder Liter. Die Umsetzung der Richtlinie in<br />

deutsches Recht tritt am 25. 11. 2005 in Kraft. Die allergenen<br />

Zutaten werden regelmäßig wissenschaftlich<br />

überprüft und die Richtlinie ggf. angepasst.<br />

Gentechnisch veränderte Organismen (GVO): Gentechnisch<br />

veränderte Lebens- und Futtermittel müssen<br />

seit 18. 4. 2004 gekennzeichnet sein (Verordnung<br />

1830/2003, ABl. L 268/2003), unabhängig davon,<br />

ob darin noch GVO nachweisbar sind, außerdemLebensmittel,dieGVOenthaltensowieLebensmittel<br />

oder Lebensmittelzutaten, die zufällig oder<br />

technisch unvermeidbar mehr als 0,9 % GVO-<br />

Spuren enthalten. Zu kennzeichnen sind auch gentechnisch<br />

verändertes Obst und Gemüse. AusgenommenvonderKennzeichnungspflichtsindMilch,<br />

Eier oder Fleischprodukte von Tieren, die Futtermittel<br />

aus gentechnisch veränderten Pflanzen erhalten<br />

haben.<br />

Rindfleisch muss seit 1. 9. 2000 mit einem Etikett<br />

versehen sein, aus dem hervorgeht, in welchem Land<br />

dasTiergeschlachtetundzerlegtwordenist(Verordnung<br />

820/97, ABl. L 117/1997, aufgehoben durch<br />

Verordnung 1760/2000, ABl. L 204/2000).<br />

Eier der Güteklasse A müssen seit 1. 1. 2004 (für Direktvermarkter:<br />

ab 1. 7. 2005) einen Stempel tragen,<br />

465


Kerneuropa<br />

ausdemHaltungsform(Freiland-,Boden-,Käfighaltung<br />

oder ökologische Haltung) und die Herkunft erkennbar<br />

sind: 0 bedeutet Öko, 1 Freilandhaltung, 2<br />

Bodenhaltung, 3 Käfighaltung; DE steht für das Herkunftsland<br />

Deutschland, AT für Österreich, NL für<br />

Niederlande usw., eine siebenstellige Ziffer identifiziert<br />

die Region, den Betrieb und die Stallnummer<br />

(Verordnung 2295/2003, ABl. L 340/2003).<br />

Lebende Nutztiere. Kennzeichen müssen nach der<br />

deutschen Viehverkehrsordnung (Neufassung vom<br />

18. 4. 2000, BGBl. I S.547, Änderung BGBl. I S.<br />

1879) tragen: Rinder, Pferde, Schweine, Ziegen und<br />

Schafe. Kälber müssen seit 1. 9. 1999 spätestens 7<br />

Tage nach der Geburt mit zwei Ohrmarken gekennzeichnet<br />

werden, Schafe und Ziegen 6 Monate nach<br />

der Geburt bzw. vor der Ausfuhr, Ferkel nach dem<br />

Absetzen. Pferde, Esel, Maultiere und Maulesel<br />

müssen einen Equidenpass haben, wenn sie aus einem<br />

Bestand entfernt werden.<br />

Lebende Tiere geschützter Arten dürfen seit 1. 1.<br />

2000 nur gehalten werden, wenn sie gekennzeichnet<br />

sind, z. B. mit geschlossenen Ringen (Vögel) oder<br />

mitTranspondernnachISO11784:1996(E)undISO<br />

11785: 1996 (E).<br />

CE-Zeichen:Produkte,diegrundlegendeundfüralle<br />

Mitgliedstaaten verbindliche Sicherheitsforderungen<br />

erfüllen müssen, damit sie zum freien Verkehr<br />

im Binnenmarkt zugelassen sind, müssen das �CE-<br />

Zeichen tragen. Es ist kein Prüfzeichen, sondern<br />

zeigt an, dass der Hersteller bzw. der Importeur die<br />

Konformität des Produkts mit allen einschlägigen<br />

Richtlinien bestätigt und die Verantwortung dafür<br />

übernimmt. Beispiele: Aufzüge RL 95/16, SeilbahnenRL2000/9,SpielzeugRL88/378,MaschinenRL<br />

89/ 392.<br />

Kerneuropa. Begriff, der eine veränderliche Anzahl<br />

von Mitgliedstaaten der EU kennzeichnen soll,<br />

die entweder<br />

a) auf dem Weg der Integration weiter fortschreiten<br />

wollen oder fortgeschritten sind als die restlichen<br />

Staaten, auch in Bereichen der 2. und 3. Säule (�Flexibilität,<br />

�verstärkte Zusammenarbeit), oder<br />

b) bei einem evtl. Rückbau der Union zu einer weniger<br />

integrierten Gemeinschaft (�Freihandelszone)<br />

den derzeitigen Stand der Integration beibehalten<br />

wollen, oder<br />

c) neben ihrer Mitgliedschaft in der EU auch allen<br />

weiteren, für <strong>Europa</strong> wichtigen völkerrechtlichen<br />

466<br />

Organisationen oder Vereinbarungen angehören wie<br />

NATO, Schengen etc., oder<br />

d) in besonderer, unspezifischer Weise unverzichtbare<br />

Teile der Europäischen Union sind.<br />

Der Begriff geht zurück auf die Dokumentation<br />

„Überlegungen zur europäischen Politik“ der CDU/<br />

CSU-Fraktion des Deutschen Bundestages vom 1. 9.<br />

1994 (nach ihren Autoren Schäuble/Lamers-Papier<br />

genannt). �Abgestufte Integration, �Avantgarde<br />

Kirchen/Religionsgemeinschaften. Mit dem<br />

�Verfassungsvertrag 2004 wollen sich die 25 Mitgliedstaaten<br />

eine Konstitution geben, die auch dem<br />

Thema Religion sowie den Kirchen und Religionsgemeinschaften<br />

in den Mitgliedstaaten eine zukunftsweisende<br />

Bedeutung beimisst. Das wird bereits<br />

in der Präambel der Verfassung deutlich. Sie<br />

enthält zwar keinen ausdrücklichen Bezug zum<br />

Christentum, aber einen allgemeinen Religionsbezug<br />

(kulturelles, religiöses und humanistisches Erbe<br />

<strong>Europa</strong>s). Im Einzelnen finden sich entsprechende<br />

rechtliche Gewährleistungen in Artikel II-70 VVE<br />

(Religionsfreiheit) und Artikel II-74 Abs. 3 VVE<br />

(Recht auf religiöse Bildung). In Artikel II-81 VVE<br />

ist ein Diskriminierungsverbot aus religiösen Gründen<br />

enthalten. In Artikel II-82 VVE verpflichtet sich<br />

die Europäische Union zur Achtung der Vielfalt der<br />

Religionen durch die EU.<br />

In der Diskussion über die Kodifizierung der Grundrechte<br />

spielte vor allem der Streit um den sog. �Gottesbezug<br />

in der Verfassung eine große Rolle. Dabei<br />

standen hinter kontroversen Positionen, wie sie etwa<br />

Deutschland gegenüber Frankreich vertrat, auch die<br />

unterschiedlichestaatskirchenrechtlicheOrdnungin<br />

den Mitgliedstaaten. Deutlich wurde aber – gerade<br />

anlässlich der Erweiterung der EU 2004 um 10 Staaten–,dassreligiöseBezügeinderVerfassungdieReferenz<br />

auf Seele und Geist der EU ermöglichen und<br />

die religiösen Freiheiten, die durchgehend von den<br />

jeweiligen nationalen Verfassungen garantiert werden,<br />

zu Grundwerten der Gemeinschaft erklären.<br />

Der Verfassungsvertrag 2004 hat zudem in Artikel<br />

I-52 VVE die sog. Amsterdamer Kirchenerklärung<br />

aufgenommen. Damit enthält die Verfassung die<br />

grundsätzliche Botschaft, dass die europäische Einigung<br />

sich nicht ohne Mitwirkung von Kirchen und<br />

Religionsgemeinschaften vollziehen wird.<br />

Nach Artikel I-52 Abs. 1 VVE achtet die Union den<br />

Status von Kirchen, religiösen Vereinigungen und


Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach den jeweiligen<br />

Rechtsvorschriften. Neben einer gleichwertigen<br />

Statusachtung (Abs. 2) entsprechend dem<br />

nationalstaatlichen Schutz verpflichtet sich die EU<br />

zu einem „offenen, transparenten und regelmäßigen<br />

Dialog“mitdenKirchenundReligionsgemeinschaften.VerfassungsrechtlichkommtdieserVertragsbestimmung<br />

große Bedeutung zu: Zum einen begründet sie<br />

– ausgehend vom Schutz der nationalen staatskirchenrechtlichen<br />

Ordnungen – die notwendige verfahrensmäßige<br />

Beteiligung der Mitgliedstaaten und<br />

der Religionsgemeinschaften bei der Schaffung europäischen<br />

Rechts mit Bezug oder Auswirkungen<br />

auf die Religionsgemeinschaften. Zum anderen erhalten<br />

die Religionsgemeinschaften mit dem ProgrammdesDialogseinenpartnerschaftlichenStatus.<br />

Hinter dem von Kirchen/Religionsgemeinschaften<br />

und EU gewollten Dialog steht als Prämisse auf nationaler<br />

Ebene die gewollte partnerschaftliche Verständigung<br />

über nationale Interessen von Kirche und<br />

Staat. Eine solche Verständigung zeigt sich bereits<br />

heute in vielfacher Form und trotz unterschiedlicher<br />

staatskirchenrechtlicher Ordnungsformen, die vom<br />

System der Staatskirche (z. B. Malta) bis zum Trennungssystem<br />

i. S. der laicité (z. B. Frankreich) reichen.<br />

Interessant wird sein, wie sich förmliche VertragsbeziehungenzwischenEUunddenindenMitgliedstaaten<br />

vertretenen Kirchen und Religionsgemeinschaften<br />

entwickeln werden. Offizielle vertragliche Beziehungen<br />

solcher Art bestehen bisher lediglich mit<br />

dem Heiligen Stuhl und dem Malteser Orden.<br />

Die Diskussionen im Vorfeld des �Verfassungsvertrags<br />

2004 gestalteten unterschiedliche Zusammenschlüsse<br />

von Kirchen und Religionsgemeinschaften<br />

auf europäischer Ebene. Beispielhaft zu nennen sind<br />

die �KonferenzEuropäischerKirchen(KEK)alsZusammenschluss<br />

von 125 anglikanischen, protestantischenundorthodoxenKirchen,derRatdereuropäischen<br />

Bischofskonferenzen (CCEE) auf katholischerSeite,aberauchdieEKDalsZusammenschluss<br />

der Evangelischen Kirchen Deutschlands in einzelnen<br />

Stellungnahmen.<br />

Als Themenfelder für den Dialog werden voraussichtlich<br />

die allgemeine „Wertedebatte“ (anlässlich<br />

der Frage des Beitritts der Türkischen Republik),<br />

aber auch wichtige ethische, soziale, entwicklungsund<br />

umweltpolitische Fragen aufgerufen werden.<br />

Grundlegende und kontrovers zu diskutierende Fragen<br />

werden dabei insbes. der Bereich der Bioethik<br />

(Embryonenforschung, pränatale Implantationsdiagnostik,<br />

Sterbehilfe u. a.), Ernährungs- und �Entwicklungspolitik<br />

und der Sicherheitspolitik aufwerfen.<br />

Bildung und Kultur sind angesichts des religiösen<br />

Selbstbestimmungsrechts der Kirchen der in den Nationalverfassungen<br />

unterschiedlich ausgestalteten<br />

Mitwirkungsrechten von Kirchen und Religionsgemeinschaften<br />

ebenfalls von zentraler Bedeutung.<br />

Fragen der theologischen Ausbildung im Zuge des<br />

�Bologna-Prozesses werden dort eine wichtige Rollespielen,ebensoauch<strong>Europa</strong>undderkirchlicheArbeitsmarkt.<br />

Das zuletzt genannte Stichwort rückt<br />

auch die interessante und schwierige Frage in den<br />

Blick, wie einerseits das EU-rechtliche �Diskriminierungsverbot<br />

Beachtung finden soll, andererseits<br />

die Forderung von Kirchen nach einer kirchlichen<br />

Mitgliedschaft von Arbeitnehmern für bestimmte<br />

kirchliche Ämter.<br />

Inwieweit die unterschiedlichen Fragen und Konsultationsprozesse<br />

ihrerseits zur Ausgestaltung eines<br />

europäischen Staatskirchenrechtssystems beitragen<br />

können,bleibtspannendundabzuwarten. B. L.<br />

Kleinunternehmen �Charta für Kleinunternehmen<br />

Kleine und mittlere Unternehmen �KMU<br />

KMU<br />

Klepsch, Egon Alfred (geb. 1930), deutscher Politiker;<br />

Mitglied des Deutschen Bundestages (1965 –<br />

1980), Mitglied des Europäischen Parlaments ab<br />

1973 (1979 Vorsitzender der EVP-Fraktion), 1989<br />

Präsident der �<strong>Europa</strong>-Union Deutschland, 1992 –<br />

1994 Präsident des Europäischen Parlaments. Sein<br />

Nachfolger wurde Klaus �Hänsch.<br />

KMU – Kleine und mittlere Unternehmen. Im Europäischen<br />

Wirtschaftsraum (einschl. der Schweiz)<br />

gab es 2003 19,31 Mio. Unternehmen mit 139,71<br />

Mio. Beschäftigten, in den Beitritts- und Kandidatenländern<br />

2001 weitere 5,97 Mio. Unternehmen mit<br />

30,67 Mio. Beschäftigten. Von diesen insgesamt<br />

25,28 Mio. Unternehmen sind 25,22 Mio. (99,8 %)<br />

kleine und mittlere Unternehmen (KMU, englisch<br />

Small and Medium Enterprises, SME) mit 117,95<br />

Mio.Beschäftigten(69%allerBeschäftigten).Diese<br />

Handwerksbetriebe und mittelständischen Unter-<br />

467


Köbler-Urteil<br />

nehmen bilden das Rückgrat der europäischen Wirtschaft<br />

(zwei Drittel des Gesamtumsatzes).<br />

Die EU hat erstmals 1996 Schwellenwerte für die<br />

Definition von KMU festgelegt (Empfehlung des<br />

Rates 96/280) und diese am 8. Mai 2003 geändert<br />

(03/652). Diese Änderungen gelten seit 1. 1. 2005.<br />

– Mittlere Unternehmen haben weniger als 250 Beschäftigte<br />

und einen Umsatz bis 50 Mio. Euro (früher:<br />

40 Mio.) oder einen Bilanzwert bis 43 Mio. Euro<br />

(früher: 27 Mio.).<br />

– Kleine Unternehmen haben weniger als 50 Mitarbeiter<br />

und einen Umsatz bis 10 Mio. Euro (früher:<br />

7 Mio.) oder einen Bilanzwert bis 10 Mio. Euro (früher:<br />

5 Mio.).<br />

– Kleinstunternehmen haben weniger als 10 Mitarbeiter<br />

und einen Umsatz oder einen Bilanzwert bis<br />

2 Mio. Euro (früher: keine Definition).<br />

Als weiteres Kriterium kommt die Unabhängigkeit<br />

hinzu: Höchstens 25 % des Kapitals oder der Stimmanteile<br />

dürfen im Besitz von Unternehmen liegen,<br />

die keine KMU sind.<br />

Innerhalb der KMU bilden die Kleinstunternehmen<br />

mit 23,49 Mio. Betrieben die Hauptgruppe (93 %).<br />

Sie haben im Durchschnitt 3 Beschäftigte.<br />

KMU werden von der EU in besonderer Weise gefördert;<br />

die Rechtsgrundlage dafür bieten u. a. Art. 157<br />

und 163 EGV, die Bedeutung der Förderung im Hinblick<br />

auf die �Lissabon-Strategie wird unterstrichen<br />

durch die �Charta für Kleinunternehmen, vom Europäischen<br />

Rat in Santa Maria da Feira am 19. 6. 2000<br />

verabschiedet.<br />

Förderung erfahren KMU durch Programme und Initiativen.<br />

Seit 1989 legt die EU Mehrjahresprogramme<br />

auf, um für KMU beschäftigungswirksame Investitionsanreize<br />

zu schaffen. Insbesondere wird<br />

KMU der Zugang zu Investitionskapital zu annehmbaren<br />

Kosten erleichtert, zu Kreditbürgschaften und<br />

zu Risikokapital. Wichtigstes Instrument hierfür ist<br />

der �Europäische Investitionsfonds (EIF), der eine<br />

Startkapital- und eine Bürgschaftsfazilität für KMU<br />

eingerichtet hat. Mit Hilfe des Informationsaustauschnetzes<br />

�ELISE wird KMU der Zugang zu Krediten<br />

für beschäftigungswirksame Investitionen erleichtert.<br />

Das Programm �CRAFT fördert KMU in den Bereichen<br />

Forschung und Entwicklung, indem es die Auftragsvergabe<br />

an externe Forschungseinrichtungen<br />

bezuschusst. Ein weiteres Programm fördert die<br />

Gründung von Joint European Ventures (JEF, Ge-<br />

468<br />

meinschaftsunternehmen); dieses Förderprogramm<br />

wird voraussichtlich Mitte 2005 auslaufen. Existenzgründer<br />

innovativer KMU finden Förderung in<br />

den �Business & Innovation Centres (BIC).<br />

Unter den Initiativen ist Gate2Growth (www.gate2growth.com)<br />

zu erwähnen, die von der Kommission<br />

im Rahmen ihrer Innovations/KMU-Programme<br />

unterstützt wird. Es vermittelt innovativen KMU<br />

u. a. Partner für Kapital, Forschung, Beteiligung.<br />

Bei den meisten allgemeinen Förderprogrammen<br />

(wie Leonardo da Vinci), Finanzierungsinstrumenten<br />

(wie LIFE, FIAF, EFRE) und Gemeinschaftsinitiativen<br />

(wie INTERREG) wird besonderer Wert<br />

auf die Beteiligung von KMU gelegt.<br />

ZentraleAnsprechpartnerfüralleKMU-Fördermaßnahmen<br />

der EU sind die Euro-Info-Zentren (�EIC).<br />

Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit von<br />

KMU wird durch das seit 1973 bestehende Büro für<br />

Unternehmenskooperation (BUK bzw. BCC) und<br />

das Business Cooperation Network (BC-Net) unterstützt.<br />

Zur Beobachtung der wirtschaftlichen Entwicklung<br />

der KMU hat die Kommission im Dezember<br />

1992 das Beobachtungsnetz der europäischen<br />

KMU geschaffen<br />

Literatur:<br />

Europäische Kommission: Beobachtungsnetz der europäischen<br />

KMU 2003, Nr. 8. Brüssel 2004<br />

Dies.: Förderprogramme der Europäischen Union für KMU.<br />

Brüssel 2003.<br />

Europäischer Rat: Schlussfolgerungen des Vorsitzes,<br />

Santa Maria da Feira. 2000<br />

Köbler-Urteil. Mit diesem Grundsatzurteil vom 30.<br />

9.2003(Rs.C-224/01=NJW03,3539)entschiedder<br />

EuGH, dass einem Kläger, der aufgrund einer „offenkundigen“<br />

<strong>Europa</strong>rechtsignoranz eines nationalen<br />

Gerichtes kausalen Schaden nachweisen kann,<br />

grundsätzlich Ersatz im Wege der Staatshaftung geleistet<br />

werden muss. Nicht anerkannt wurde damit<br />

ein Richterprivileg im Sinne etwa des deutschen<br />

§ 839 Abs. 2 BGB. Auch wurde in Kauf genommen,<br />

dass schon rechtskräftig entschiedene Fragen so womöglich<br />

noch einmal im Rahmen eines Schadensersatzprozesses<br />

aufgerollt werden. Wenn Richter aufgrund<br />

offenkundiger <strong>Europa</strong>rechtsmissachtung dem<br />

Bürger einen Schaden zufügen, habe der MitgliedstaatalsDienstherrhierfürzuhaften.<br />

J. M. B.<br />

Kodex für gute Verwaltungspraxis. Vom Europäischen<br />

�Bürgerbeauftragten 1998 ausgearbeiteter


und vom Europäischen Parlament am 6. 11. 2001 gebilligter<br />

Kodex, der sich insbes. an die Bürgerinnen<br />

und Bürger wendet und sie darüber aufklärt, was sie<br />

berechtigterweise von der Verwaltung und ihren<br />

Mitarbeitern erwarten können und welche Grundsätze<br />

der öffentliche Dienst bei seiner Tätigkeit berücksichtigen<br />

sollte.<br />

DerKodexpräzisiert,wasinder �Grundrechtecharta<br />

als „Recht auf gute Verwaltung“ (Art. II-101 VVE<br />

2004)bezeichnetwird.Eristrechtlichnichtbindend,<br />

doch haben die Verwaltungsorgane der EU eine<br />

Selbstverpflichtung abgegeben, wonach sie die Verhaltensregeln<br />

befolgen wollen.<br />

Internet: www.euro-ombudsman.eu.int<br />

Kodezision. Mitentscheidung des Europäischen<br />

Parlaments gemeinsam mit dem Rat im �Gesetzgebungsverfahren<br />

der EU (Art. 252 EGV). �Mitentscheidungsverfahren<br />

Kodifikation von Rechtsvorschriften bezeichnet<br />

allgemein die Zusammenfassung aller zu einem<br />

Rechtsgebiet (z. B. zum Verwaltungsrecht) zählenden<br />

Normen zu einem Gesetzeswerk. In der EU<br />

spricht man von amtlicher (oder konstitutiver) Kodifikation<br />

der Rechtsvorschriften, wenn ein Basisrechtsakt<br />

und weitere ändernde Rechtsakte in einen<br />

neuen, im Amtsblatt (Reihe L) veröffentlichten (also<br />

angenommenen) Rechtsakt integriert (und damit<br />

aufgehoben), aber inhaltlich nicht verändert sind.<br />

Als vertikal wird die Zusammenfassung eines Basisrechtsakts<br />

und weiterer, ihn ändernder Rechtsakte<br />

bezeichnet, eine horizontale Kodifikation integriert<br />

mehrere, zu einem Rechtsgebiet gehörende Rechtsakte<br />

samt ändernder Rechtsakte in einem einzigen<br />

neuen.DieKodifikationdientderVereinfachungdes<br />

Sekundärrechts. �Konsolidierung der Rechtsvorschriften<br />

Kohärenz (lat. Zusammenhang) bezeichnet in der<br />

EU insbes. die erforderliche Übereinstimmung politischer<br />

Maßnahmen in allen 3 Säulen der EU (�Tempelstruktur)<br />

im Hinblick auf die zu erreichenden Ziele<br />

der Verträge. Die Kohärenz wird u. a. durch den<br />

�einheitlichen institutionellen Rahmen der EU sichergestellt<br />

(Art. 3 EUV). Insbesondere im Bereich<br />

der Außenbeziehungen muss die Union auf Kohärenz<br />

aller von ihr ergriffenen Maßnahmen achten (in<br />

der2.Säule:�GASPund�ESVP;inder1.Säule:Ent-<br />

wicklungspolitik, Wirtschaftsbeziehungen, Handelspolitik,<br />

Abkommen mit Drittstaaten). Verantwortlich<br />

dafür sind Rat und Kommission gemeinsam.<br />

Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, jede<br />

Handlung zu unterlassen, die im Bereich der 2. Säule<br />

(GASP) die Kohärenz schwächen könnte (Art. 11<br />

EUV).<br />

Kohäsion. Allgemein: Zusammenhalt (Bindung)<br />

als Wirkung einander anziehender Kräfte. Die EG<br />

entwickelt und verfolgt eine Politik zur Stärkung ihres<br />

wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts<br />

(frz. cohésion), um eine harmonische Entwicklung<br />

der Gemeinschaft als Ganzes zu fördern (Art. 158<br />

EGV). In diesem Sinne wird „Kohäsion“ auch im<br />

Deutschen verwendet, wenn von der EU die Rede ist.<br />

Instrumente der Kohäsionspolitik sind vor allem die<br />

Strukturfonds und der Kohäsionsfonds der EU<br />

(�Fonds der EU).<br />

Kohäsionsfonds �Fonds der EU<br />

Kollegialitätsprinzip<br />

Kohl, Helmut (geb. 1930), deutscher Bundeskanzler<br />

(1982–1998),seit3.10.1990deswiedervereinigten<br />

Deutschlands, dessen staatliche Einheit in erheblichem<br />

Maße seinem entschlossenen Handeln nach<br />

demFallderMauerunddemSturzdesSED-Regimes<br />

der DDR 1989 zu verdanken ist. Helmut Kohl ist<br />

überzeugter Verfechter der europäischen Integration.Erwurde1988zusammenmitFrançoisMitterand<br />

mit dem Karlspreis der Stadt Aachen ausgezeichnet.<br />

Im Dezember 1998 wurde er zum zweiten Ehrenbürger<br />

<strong>Europa</strong>s, nach Jean Monnet, ernannt.<br />

Kollegialitätsprinzip, auch Kollegialprinzip.<br />

Durch Gesetz oder Verfassung (z. B. in Schweizer<br />

Kantonen) oder durch Geschäftsordnung (z. B. der<br />

Europäischen Kommission) vorgeschriebene Form<br />

der Entscheidungsfindung in einem Kollegium<br />

gleichberechtigter Mitglieder. Beschlüsse werden<br />

vom Kollegium als Ganzes in geheimer Sitzung gefasst,<br />

entweder im Konsens oder durch die Mehrheit.<br />

Nach außen werden die Beschlüsse von allen Mitgliedern<br />

vertreten und verantwortet. Abweichende<br />

Meinungen einzelner Mitglieder werden nicht veröffentlicht.<br />

Nach ihrer Geschäftsordnung (ABl. L 308/2000)<br />

handelt die Europäische Kommission als Kollegium<br />

(Art. 1), die Sitzungen der Mitglieder sind nicht öf-<br />

469


Kölner Prozess<br />

fentlich und die Beratungen vertraulich (Art. 9), die<br />

Beschlüsse werden mit der Mehrheit der Mitglieder<br />

gefasst(Art.8).AuchbeianderenzulässigenFormen<br />

der Beschlussfassung (Art. 12) muss das Prinzip der<br />

kollegialenVerantwortlichkeitvollgewahrtbleiben.<br />

Entsprechend müssen die Mitglieder der Kommission<br />

gem. Art. 201 EGV geschlossen ihr Amt niederlegen,<br />

wenn wegen der Tätigkeit der Kommission ein<br />

Misstrauensantrag im Europäischen Parlament eingebracht<br />

und angenommen wird.<br />

Kölner Prozess<br />

1. Der Hintergrund. Bis zur Revision des �Maastrichter<br />

Vertrags auf dem Amsterdamer Gipfel im<br />

Jahr 1997 konnte dem europäischen Integrationsprozess<br />

von Kritikern mit einigem Recht vorgehalten<br />

werden, er stelle zu einseitig auf die Sicherung der<br />

�Preisstabilität der neuen Währung in der �Europäischen<br />

Währungsunion (EWU) ab: Zweifellos sind<br />

die EWU seit 1999 und die Einführung der Gemeinschaftswährung<br />

�Euro seit Anfang 2002 historisch<br />

bahnbrechende Schritte auf dem Weg in eine gemeinsameeuropäischeZukunft,dochistgleichzeitig<br />

mit dem trendmäßigen Anstieg der Arbeitslosigkeit<br />

in den 1990er Jahren in den meisten Mitgliedstaaten<br />

(die durchschnittliche Arbeitslosenquote in der<br />

EU-12 lag in den 1970er Jahren bei 4,2 %, in den<br />

1980er Jahren bereits bei 9,0 % und in den 1990er<br />

Jahrenschließlichbei10,4%)eineVerschiebungdes<br />

Politikfokus von der Preisstabilität auf die Bekämpfung<br />

der Beschäftigungsmisere zu verzeichnen, die<br />

schließlich zur Aufnahme eines „Beschäftigungskapitels“<br />

durch den �Vertrag von Amsterdam (Art. 125<br />

–130EGV)führte.DamitwurdezwareinneuesPolitikfeld<br />

auf europäischer Ebene erschlossen, die Weigerung<br />

einer Aufstockung der EU-Finanzen zeigt<br />

aber bereits, dass die EU-Beschäftigungspolitik allenfalls<br />

prozeduralen Charakter haben kann, mithin<br />

keine eigenständigen, finanzielle Ressourcen bindende<br />

Interventionen umfasst.<br />

Auf verschiedenen Gipfeltreffen seit Amsterdam<br />

sind nun die genaueren Inhalte der europäischen Beschäftigungspolitik<br />

herauskristallisiert worden. Auf<br />

dem Luxemburger Sondergipfel 1997 wurde eine<br />

Koordination der Arbeitsmarktpolitik (�„Luxemburger<br />

Prozess“) beschlossen, deren wesentliche Inhalte<br />

(Förderung der Beschäftigungsfähigkeit, des<br />

Unternehmergeistes, der Anpassungsfähigkeit und<br />

der Chancengleichheit) die Allokationsfähigkeit des<br />

470<br />

Arbeitsmarktes in den Vordergrund stellt. Der 1998<br />

beschlossene �„Cardiff Prozess“ umfasst die Reform<br />

der europäischen Güter- und Finanzmärkte und<br />

setzt im Wesentlichen auf eine verstärkte Privatisierung<br />

öffentlicher Güterbereitstellung (Post, Telekom,<br />

Energie, Wasserversorgung) und LiberalisierungeinstmalsgeschützterMärkte.Der„KölnerProzess“<br />

schließlich ist von anderem Charakter, da er<br />

makroökonomisch orientiert ist und nachfragetheoretisch<br />

argumentiert. Es geht um die Koordination<br />

der makroökonomischen Politikbereiche Geld-, Finanz-<br />

und Lohnpolitik zur Schaffung eines für<br />

Wachstum und Beschäftigung günstigen Policy mix.<br />

Insbesondere der zeitgeschichtliche Hintergrund<br />

lässt vermuten, weshalb der Kölner Prozess bereits<br />

als „eurokeynesianische Strategie“ bezeichnet wurde:<br />

(1) Mit dem �Stabilitäts- und Wachstumspakt<br />

von 1997 wurden die finanzpolitischen Konvergenzkriterien<br />

des Maastrichter Vertrages insbes. von der<br />

deutschen Bundesregierung unter Helmut Kohl in<br />

die EWU hinein verlängert und verschärft und eine<br />

angebotspolitische Orientierung festgeschrieben.<br />

(2) Mit dem Regierungswechsel in mehreren EU-<br />

Mitgliedstaaten, insbes. in Deutschland im Herbst<br />

1998, stellte sich kurzzeitig ein Stimmungswechsel<br />

ein, der dem angebotspolitisch und mikroökonomisch<br />

ausgerichteten Kurs der europäischen Wirtschafts-<br />

und Beschäftigungspolitik eine neue Orientierung<br />

geben wollte. Die deutsche Bundesregierung<br />

unter Finanzminister Oskar Lafontaine nutzte dieses<br />

„window of opportunity“, indem sie Vorarbeiten der<br />

beschäftigungspolitisch besonders engagierten österreichischen<br />

Bundesregierung aufgriff und auf<br />

dem Kölner EU-Gipfel 1999 den makroökonomischen<br />

Dialog institutionalisierte und die drei Politikprozesse<br />

zu einem „Beschäftigungspakt“ vereinte.<br />

2. Makro-Dialog als Form der kooperativen Wirtschaftspolitik.<br />

Bereits im Weißbuch „Wachstum,<br />

Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung“ von 1993<br />

(KOM 1993/700 endg.) hatte die Kommission herausgearbeitet,<br />

dass eine nachhaltige Verbesserung<br />

der Beschäftigungssituation in der EU nur durch eine<br />

Abstimmung der Geldpolitik, der Finanzpolitik und<br />

der Lohnpolitik zu erreichen ist. Aufgrund von Wirkungsinterdependenzen<br />

zwischen den Politikbereichen<br />

können die einzelnen Akteure – die Europäische<br />

Zentralbank (EZB), die europäischen Finanzminister<br />

(Ecofin-Rat) und die europäischen Tarifparteien<br />

– ihre Zielgrößen (Preisstabilität, hoher Be-


schäftigungsstand, hohe Einkommen) nicht unabhängig<br />

voneinander erreichen. Eine eindeutige Zielzuweisung<br />

und lineare Politikverfolgung ist deshalb<br />

nicht möglich, es müssten notwendigerweise Zielkonflikte<br />

entstehen. Eine Verhaltensabstimmung<br />

führt deshalb nicht nur zu einem gesamtwirtschaftlich<br />

überlegenen Ergebnis, sondern ermöglicht es<br />

auch den einzelnen Akteuren, ihre Ziele (und damit<br />

ihren Nutzen) besser zu verfolgen. Dennoch gelingt<br />

eine solche Kooperation nicht ohne institutionelle<br />

Ausgestaltung, denn ohne vertragliche Beziehungen<br />

– die im Falle des Makro-Dialogs allerdings unmöglich<br />

sind – befinden sich die Akteure in der sog. Kooperationsfalle:<br />

sie müssen befürchten, bei gutmütigem<br />

Verhalten (Kooperation) von den anderen Akteuren<br />

zu deren Vorteil ausgenutzt zu werden.<br />

Mit dem Kölner Prozess sind diese Zusammenhänge<br />

offiziell anerkannt und erstmals die unabhängige<br />

EZB in ein EU-weites Koordinierungsverfahren einbezogen<br />

worden.<br />

3. Aussichten des Kölner Prozesses. Der Kölner Prozess<br />

teilt sich in eine „politische“ und eine „technische“<br />

Ebene. Auf technischer Ebene tauschen sich<br />

Experten der beteiligten Akteure – also der EZB, des<br />

Wirtschafts- und des Arbeitsmarkt- und Beschäftigungsausschusses,dermakroökonomischenGruppe<br />

der EU-Sozialpartner unter Anleitung der Kommission<br />

– halbjährlich über die konjunkturelle Entwicklung<br />

und die Wirkungsweise der Wirtschaftspolitik<br />

in der Euro-Zone aus. Auf der politischen Ebene treffen<br />

sich die politischen Vertreter der beteiligten Akteure<br />

ebenfalls zwei Mal pro Jahr in einem Forum, in<br />

dem Strategien verhaltensabstimmender und vertrauensbildender<br />

Maßnahmen besprochen werden<br />

können. Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass<br />

diese Zusammenkünfte über den Austausch weitgehend<br />

bekannter Informationen und Standpunkte bisher<br />

nicht hinausgegangen sind – ein wachstumsförderlicher<br />

Policy mix (das erklärte Ziel des Kölner<br />

Prozesses) hat sich zumindest bislang nicht eingestellt.<br />

Dieses enttäuschende Ergebnis, dass mit der<br />

weitgehenden Unbekanntheit des Kölner Prozesses<br />

in der europäischen Öffentlichkeit in Einklang steht,<br />

hat mehrere Ursachen: (1) Nach dem Rücktritt des<br />

deutschen Finanzministers Oskar Lafontaine hat<br />

sich das „window of opportunity“ für eine makroökonomisch<br />

ausgerichtete Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik<br />

wieder geschlossen. (2) Die<br />

Rahmenbedingungen des EU-Makrodialogs (Unan-<br />

Komitologie<br />

tastbarkeit der Unabhängigkeit der Akteure, Dominanz<br />

der Bestimmungen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes,<br />

Gültigkeit des �Subsidiaritätsprinzips)<br />

konterkarieren die wirtschaftspolitische Ausrichtung<br />

des Makrodialogs, und (3) die institutionelle<br />

Ausgestaltung ist nicht in der Lage, die „Kooperationsfalle“zuüberwinden,indersichdieAkteurebefinden.<br />

Insbesondere fehlen einem effektiven<br />

EU-Makrodialog bislang die EU-weit handlungsfähigen<br />

Akteure (lediglich die Geldpolitik ist ja in der<br />

EWU europäisiert, nicht so aber die Finanz- oder Tarifpolitik)<br />

oder eine Unterfütterung des EU-Makrodialogs<br />

mit nationalen Makrodialogen auf der Ebene<br />

der jeweiligen Mitgliedstaaten.<br />

Bestenfalls verbleibt der Kölner Prozess damit eine<br />

leere Hülle ohne Inhalt, schlechtestenfalls könnte er<br />

als ein Verfahren missbraucht werden, um die Sozialpartner<br />

auf den Kurs einer „moderaten Lohnpolitik“<br />

einzuschwören, wenn sich die EZB aufgrund ihrer<br />

Unabhängigkeit und der Ecofin-Rat aufgrund des<br />

Stabilitäts- und Wachstumspaktes für verhandlungsunfähigerklären.<br />

A. H.<br />

Literatur<br />

Angelo, S./Schweighofer, J.: Makroökonomische Koordinierung<br />

auf EU-Ebene. In: Kurswechsel, H.3, 2001, S. 49 – 61<br />

Aust, A.: ‚Dritter Weg‘ oder ‚Eurokeynesianismus‘? Zur Entwicklung<br />

der Europäischen Beschäftigungspolitik seit dem<br />

Amsterdamer Vertrag. In: Österreichische Zeitschrift für<br />

Politikwissenschaften, Nr.3, 2000, S. 269–283<br />

Bofinger, P.: Politikkoordinierung nützt <strong>Europa</strong>s Zukunft.<br />

In: Randzio-Plath, Chr. (Hg.); Wege aus der Krise.<br />

Baden-Baden 2004, S. 63–76<br />

Heise, A.: Der Kölner Prozess – Theoretische Grundlagen und<br />

erste Erfahrungen mit dem EU-Makrodialog. In: integration,<br />

24. Jg., H. 4, 2001, S. 390–402<br />

Heise, A.: Bedeutung und Perspektiven des EU-Makrodialogs.<br />

In: Heise, A. (Hg.), Neues Geld – alte Geldpolitik? Die EZB<br />

im makroökonomischen Interaktionsraum. Marburg 2002<br />

Köhler, C.: Beschlüsse zu einer fehlentwicklungsfreien wirtschaftlichen<br />

Entwicklung in der EWU. Berlin 2000<br />

Komitologie (Ausschusswesen). Der Begriff „Komitologie“<br />

(frz. „comité“ = Ausschuss) bezeichnet<br />

die Mitwirkung von Ausschüssen bei der Durchführung<br />

des Gemeinschaftsrechts durch die Kommission.<br />

Denn der Rat ist ermächtigt, der Kommission die<br />

Durchführungsbefugnisse zu übertragen (Art. 202<br />

dritter Spiegelstrich EGV). Hierzu wird im (Basis-)Rechtsakt<br />

Inhalt und Ausmaß der Durchführungsbefugnisse<br />

festgelegt sowie das entsprechende<br />

Ausschussverfahren ausgewählt. Da die meisten<br />

�Rechtsakte weder im Rat noch im Europäischen<br />

471


Komitologie<br />

Parlamentverabschiedetwerden,sondernalsDurchführungsbestimmungen<br />

von der Kommission festgelegt<br />

werden, kommt dem Ausschusswesen erhebliche<br />

Bedeutung zu. Die Ausschüsse bestehen in nahezu<br />

allen wichtigen Politikbereichen und sind zahlreich.<br />

Sie setzen sich aus Vertretern der Mitgliedstaaten<br />

zusammen und tagen unter dem Vorsitz eines<br />

Vertreters der Kommission.<br />

Das Entscheidungsverfahren in den Ausschüssen<br />

wurde im Interesse der Vereinfachung, der Transparenz<br />

und der stärkeren Einbindung des Europäischen<br />

Parlamentes im Beschluss des Rates vom 28. 6. 1999<br />

zur Festlegung der Modalitäten für die Ausübung der<br />

der Kommission übertragenen Durchführungsbefugnisse<br />

neu gestaltet (1999/468, ABl. L 184/1999 –<br />

Komitologie-Beschluss), der den ersten Beschluss<br />

vom 13. 7. 1987 ersetzt. Neu werden dem Europäischen<br />

Parlament im Zusammenhang mit der Durchführung<br />

von Rechtsakten, die im �Mitentscheidungsverfahren<br />

erlassen werden, ein Mitspracherecht<br />

eingeräumt, klarere Kriterien für die Wahl des<br />

Ausschusses und vereinfachte, transparentere Verfahrensmodalitäten<br />

geschaffen. Auch der EU-Bürger<br />

hat nunmehr besseren Zugriff auf Ausschussdokumente,<br />

die zudem ab 2003 in einem öffentlichen<br />

Registererfasstwerden(RegisterderKomitologie).<br />

Die Arbeitsweise der Ausschüsse ist auf drei Arten<br />

von Verfahren (Beratender Ausschuss, Verwaltungsausschuss,<br />

Regelungsausschuss) beschränkt,<br />

die sich durch die unterschiedlichen Einflussmöglichkeiten<br />

unterscheiden.<br />

Bei Angelegenheiten von geringer politischer Tragweite<br />

bzw. im Zusammenhang mit der Verwirklichung<br />

des Binnenmarktes erlassenen Rechtsakten<br />

wird ein beratender Ausschuss eingesetzt. Dieser<br />

gibt gegenüber der Kommission eine Stellungnahme<br />

ab. Die Kommission ist aufgefordert, aber nicht verpflichtet,<br />

die Stellungnahme soweit wie möglich zu<br />

berücksichtigen und dem Ausschuss darüber Rechenschaft<br />

abzulegen.<br />

Demgegenüber wird das Verwaltungsverfahren insbes.beiMaßnahmenzurUmsetzungder�Gemeinsamen<br />

Agrarpolitik oder der �Fischereipolitik und zur<br />

Durchführung von Programmen mit erheblichen<br />

Auswirkungen auf den �Haushalt angewandt. Bei<br />

diesem Verfahren muss die Kommission vor dem Erlass<br />

der von ihr beabsichtigten Maßnahmen den Verwaltungsausschussanhören.DiesergibtzudenMaßnahmeentwürfen<br />

eine Stellungnahme ab. Hiervon<br />

472<br />

unabhängig erlässt die Kommission die Maßnahmen<br />

grundsätzlich selbst. Stimmen diese jedoch nicht mit<br />

der Stellungnahme des Ausschusses überein, so<br />

muss die Kommission die beschlossenen Maßnahmen<br />

unverzüglich dem Rat mitteilen, der innerhalb<br />

von drei Monaten mit qualifizierter Mehrheit einen<br />

anders lautenden Beschluss fassen kann.<br />

Ein Regelungsausschuss wird hingegen vor allem<br />

bei Maßnahmen von allgemeiner Tragweite eingesetzt<br />

wie z. B. zum Schutz der Gesundheit oder Sicherheit<br />

von Menschen, Tieren oder Pflanzen sowie<br />

bei Maßnahmen, mit denen nicht als wesentlich zu<br />

betrachtende Bestimmungen eines Basisrechtsakts<br />

geändert werden sollen. Im Unterschied zum Verwaltungsverfahren<br />

ist die Stellung der Kommission<br />

im Falle der Ablehnung der Maßnahme durch den<br />

Regelungsausschuss erheblich geschwächt. In diesen<br />

Fällen kann die Kommission ihre Durchführungsmaßnahme<br />

nicht zur Anwendung bringen, sondernmussdiezutreffendenMaßnahmendemRatzur<br />

Beschlussfassung vorschlagen und das Europäische<br />

Parlament unterrichten. Das Europäische Parlament<br />

prüft, ob sich die vorgeschlagene Maßnahme im<br />

Rahmen der durch den durchzuführenden Rechtsakt<br />

gesetzten Grenzen hält, und unterrichtet den Rat von<br />

seinem Standpunkt. Der Rat kann unter Berücksichtigung<br />

des Standpunktes des Europäischen ParlamentesinnerhalbeinesZeitraumsvonhöchstensdrei<br />

Monaten mit qualifizierter Mehrheit über den Vorschlag<br />

der Kommission befinden. Spricht sich der<br />

RatgegendenVorschlagaus,überprüftdieKommission<br />

den Vorschlag und kann dem Rat einen geänderten<br />

Vorschlag vorlegen, ihren Vorschlag erneut vorlegen<br />

oder den Erlass der Maßnahme mit einem entsprechenden<br />

Vorschlag dem Europäischen Parlament<br />

und dem Rat überantworten. Hat der Rat nach<br />

Ablauf der Frist von drei Monaten weder den vorgeschlagenen<br />

Durchführungsrechtsakt erlassen noch<br />

sich gegen den Vorschlag für die Durchführungsmaßnahme<br />

ausgesprochen, so wird der vorgeschlagene<br />

Durchführungsakt von der Kommission erlassen.<br />

Anders als beim Beratungs- und Verwaltungsverfahren<br />

kann es somit im Regelungsverfahren zu<br />

einer gesetzgeberischen Blockade führen, sofern der<br />

Ausschuss nicht zustimmt und der Rat die vorgeschlagene<br />

Maßnahme fristgerecht ablehnt.<br />

Das Komitologie-Verfahren ist als „politische Verwaltung“<br />

weiterhin stark umstritten. Als KritikpunktesindvorabdasDemokratiedefizit(EinflussdesRa-


tes beim Vollzug der Rechtsakte, Ausschussmitglieder<br />

nicht direkt gewählt), die Stellung des Europäischen<br />

Parlamentes (mangelnde Einbindung, fehlendes<br />

Vetorecht) und die Intransparenz zu nennen. Bereits<br />

Anfang 2000 hat die Kommission eine Reform<br />

der europäischen �Governance angekündigt (Weißbuchvom25.7.2001,KOM2001/428),dieaucheine<br />

Neugestaltung des Ausschussverfahrens umfasst.<br />

Im Verfassungsvertrag 2004 in Art. I–36 VVE 2004<br />

sollnundemEuropäischenParlamentnebendemRat<br />

ein generelles, jederzeitiges Widerrufsrecht der Befugnisübertragung<br />

und im Einzelfall ein Vetorecht<br />

für die delegierte Europäische Verordnung übertragen<br />

werden. Weiter sind bereits im Voraus im EuropäischenGesetzRegelnundGrundsätzederÜbertragung<br />

von Durchführungsbefugnissen an die Kommission<br />

festzulegen, nach denen die Mitgliedstaaten<br />

ihr Kontrollrecht ausüben (Art. I–37 Abs. 3 VVE<br />

2004). Neu soll zudem durch die Verankerung des<br />

GrundsatzesderOffenheitundTransparenzeineverantwortungsvolle<br />

Verwaltung gefördert werden<br />

(Art.I–50Abs.1VVE2004). U. W.<br />

Kommission der<br />

Europäischen Gemeinschaften<br />

1. Begriffserklärung: Die Kommission ist ein Kollegium<br />

der von den Regierungen der Mitgliedstaaten<br />

der EU einvernehmlich ernannten, vom Europäischen<br />

Parlament (EP) zu bestätigenden, ihr Amt jedoch<br />

unabhängig ausübenden Mitglieder, einschl.<br />

der dazugehörigen Verwaltungsbehörde. Die Kommission<br />

ist Kontroll-, Initiativ- und Exekutivorgan<br />

zugleich (Art. 211–219 EGV). Die Kommission<br />

sieht sich als „Motor“ der europäischen Integration<br />

und als „Hüterin“ der Verträge. Seit Dezember 1993<br />

ist in den offiziellen Sprachgebrauch die Bezeichnung<br />

„Europäische Kommission“ eingegangen, obwohl<br />

es rechtlich korrekt nach wie vor „Kommission<br />

der Europäischen Gemeinschaften“ heißt.<br />

2. Historische Entwicklung: Die Kommission ist aus<br />

der Hohen Behörde der EGKS und den Kommissionen<br />

der EWG und der EAG hervorgegangen. Durch<br />

den Fusionsvertrag vom 8. 4. 1965 wurden die Organe<br />

der drei Gemeinschaften zusammengeführt (in<br />

Kraft ab 1. 7. 1967). Die Fusion zu einer gemeinsamen<br />

Kommission sollte der Rationalisierung und<br />

Koordinierung der Verwaltung dienen mit dem Ziel,<br />

das politische Gewicht dieser Gemeinschaftsinstitution<br />

zu stärken.<br />

Kommission<br />

Die Stellung der Kommission innerhalb des institutionellen<br />

Systems der EU wird besonders geprägt<br />

von ihren Präsidenten.<br />

3. Organisatorische Details: Sitz der Kommission<br />

ist Brüssel. Sie hat 25 Mitglieder (Stand Mitte 2005),<br />

je Mitgliedstaat eines. Bis zum Jahr 2004 besetzten<br />

die fünf größeren Staaten der EU zwei Kommissarsposten.SobalddieEU27Staatenumfasst,solleinnäher<br />

noch nicht festgelegtes Rotationsprinzip eingeführt<br />

werden.<br />

Die Kommissare sind zu voller Unabhängigkeit verpflichtet<br />

und dürfen keine andere berufliche Tätigkeit<br />

ausüben. Die Amtszeit betrug bis 1995 vier Jahre;<br />

durch den Maastrichter „Vertrag über die Europäische<br />

Union“ wurde sie ab 1995 auf fünf Jahre ausgeweitet<br />

und damit dem Wahlrhythmus des EP angepasst.<br />

Der Präsident der Kommission wird durch den<br />

Rat, der in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs<br />

tagt, mit qualifizierter Mehrheit und<br />

nach Zustimmung des EP ausgewählt. In Abstimmung<br />

mit dem designierten Präsidenten benennt der<br />

Rat wiederum mit qualifizierter Mehrheit die übrigen<br />

Mitglieder. Das Kollegium muss sich dann einem<br />

Zustimmungsvotum des EP stellen. Seit dem<br />

Amsterdamer Vertrag wurde die Legitimation der<br />

Einsetzung der Kommission durch einen Ausbau der<br />

Rechte des EP verstärkt; ebenso wurde die Rolle des<br />

Präsidenten ausgebaut: er hat die Richtlinien- und<br />

OrganisationskompetenzfürdieinnereOrganisation<br />

der Kommission sowie politische Führungsfunktion.<br />

Zur Erfüllung ihrer Aufgaben verfügt die Kommission<br />

über einen Verwaltungsapparat mit �Generaldirektionen<br />

und verschiedenen Diensten, in denen<br />

ca. 25 000 Beamte (Stand 2004) arbeiten.<br />

4. Aufgaben der Kommission: Die Kommission ist<br />

dem Gemeinschaftswohl verpflichtet und vertritt die<br />

gemeinschaftlichen Interessen. Alle Informationen<br />

und Aktivitäten der EG laufen bei der Kommission<br />

zusammen, und die meisten gehen von ihr aus. Unabhängigkeit<br />

und Überparteilichkeit der Kommission<br />

beiderErfüllungihrerAufgabenwerdendadurchgarantiert,<br />

dass sie weder vom Rat noch von den Mitgliedstaaten<br />

abgesetzt werden kann. Lediglich ein<br />

Misstrauensvotum des EP kann die gesamte Kommission<br />

zum Rücktritt zwingen (im März 1999 kam<br />

die Kommission einem drohenden Misstrauensvotum<br />

durch Rücktritt zuvor). Bei schweren Verfehlungen<br />

eines Kommissars ist die Einleitung eines<br />

Amtsenthebungsverfahrens möglich.<br />

473


Kommission<br />

Die Kommission hat vier Hauptaufgaben:<br />

– Sie ist Initiator der Tätigkeit der EG, d. h. es obliegt<br />

ihr, Vorschläge zur Aufrechterhaltung, Weiterentwicklung<br />

und Ausweitung der Gemeinschaftspolitiken<br />

zu machen. Sie verfügt über das alleinige Vorschlagsrecht,<br />

so dass der Ministerrat – von Ausnahmen<br />

abgesehen – nur auf der Grundlage eines von der<br />

Kommission vorgelegten Entwurfs beschließen<br />

kann. Der Rat und das EP können die Kommission<br />

zwar auffordern, initiativ zu werden, dürfen jedoch<br />

nicht ohne solche Vorschläge selbst tätig werden.<br />

Die Wahl des Zeitpunktes, des Inhalts und der<br />

Rechtsgrundlage liegt ausschließlich in der Kompetenz<br />

der Kommission. Solange noch kein Beschluss<br />

des Rates vorliegt, kann die Kommission ihren Entwurf<br />

jederzeit ändern oder sogar zurückziehen.<br />

– Die Kommission ist das Exekutivorgan der EU,<br />

d. h. sie ist mit der Durchführung der EG-Verträge<br />

beauftragt und kann in diesem Rahmen verbindliche<br />

Verordnungen erlassen. Dazu gehört auch die Beteiligung<br />

der Kommission an der Verabschiedung des<br />

Die Präsidenten der Kommission<br />

der E(W)G, der EURATOM und der<br />

Hohen Behörde der EGKS<br />

Hohe Behörde der EGKS<br />

1952 – 1955: Jean Monnet, Frankreich<br />

1955 – 1958: René Mayer, Frankreich<br />

1958 – 1959: Paul Finet, Belgien<br />

1959 – 1963: Piero Malvestiti, Italien<br />

1963 – 1067: Dino del Bo, Italien<br />

1967 Fusion mit der Kommission der EWG<br />

Kommission der EURATOM<br />

1958 – 1959: Louis Armand, Frankreich<br />

1959 – 1962: Etienne Hirsch, Frankreich<br />

1962 – 1967: Pierre Chatenet, Frankreich<br />

1967 Fusion mit der Kommission der EWG<br />

Kommission der E(W)G<br />

1958 – 1967: Walter Hallstein, Deutschland<br />

ab 1967 Kommission der 3 Gemeinschaften<br />

1967 – 1970: Jean Rey, Belgien<br />

1970 – 1972: Franco Maria Malfatti, Italien<br />

1972: Sico L. Mansholt, Niederlande<br />

1973 – 1976: François-Xavier Ortoli, Frankreich<br />

1977 – 1980: Roy Jenkins, Großbritannien<br />

1981 – 1984: Gaston Thorn, Luxemburg<br />

1985 – 1994: Jacques Delors, Frankreich<br />

1995 – 1999: Jacques Santer, Luxemburg<br />

1999 – 2004: Romano Prodi, Italien<br />

seit 2004: José Manuel Durão Barroso, Spanien<br />

474<br />

Haushalts der EU, die Ausführung des Haushaltsplans,<br />

die Befugnis, Abkommen mit Drittländern<br />

und internationalen Organisationen auszuhandeln.<br />

– Die Kommission ist die Hüterin der Verträge, d. h.<br />

sie ist für die Anwendung des Gemeinschaftsrechts<br />

sowie der von den Organen getroffenen Bestimmungen<br />

verantwortlich. Hat nach Auffassung der Kommission<br />

ein Mitgliedsland gegen eine Verpflichtung<br />

aus den Verträgen verstoßen, so kann sie ein Vertragsverletzungsverfahren<br />

einleiten, das bis zur Klage<br />

vor dem Europäischen Gerichtshof führen kann.<br />

Gegen den Rat kann die Kommission eine Untätigkeitsklage<br />

beim Europäischen Gerichtshof einreichen.<br />

Sie ist für die Einhaltung der Regeln des freien<br />

Wettbewerbs verantwortlich (�Gemeinsame Wettbewerbspolitik),<br />

sie kann �staatliche Beihilfen kontrollieren<br />

(Beihilfenkontrollen) sowie Unternehmenszusammenschlüsse<br />

untersagen (�Fusionskontrolle)<br />

und gegen Unternehmen Geldbußen verhängen.<br />

– Der Kommission obliegt die Aushandlung handelspolitischer<br />

und sonstiger Abkommen mit Drittländern,<br />

wobei sie in Einzelfällen selbst für die Europäische<br />

Union Abkommen abschließen kann. Darüber<br />

hinaus ist die Kommission in vollem Umfang an<br />

den Arbeiten im Rahmen der �Gemeinsamen Außen-<br />

und Sicherheitspolitik beteiligt und teilt sich ein<br />

Vorschlagsrecht für Maßnahmen und Beschlüsse<br />

mit den Mitgliedstaaten. Mit dem Amsterdamer Vertrag<br />

wurden die Rechte der Kommission in diesem<br />

Bereich erweitert: Die Kommission wurde Mitglied<br />

der �Troika. Die Mitarbeiter der �Strategie- und<br />

Frühwarneinheit rekrutieren sich aus Personal der<br />

Kommission. Die außenpolitische Kompetenz soll<br />

in Zukunft in einer Person gebündelt werden (Vizepräsident),<br />

um ihr so mehr Gewicht zu verleihen. Zudem<br />

ist die Kommission in Zukunft im vollen Umfang<br />

an der Außenvertretung sowie Durchführung<br />

von gemeinsamen Aktionen zu beteiligen (Art. 18,<br />

22, 27 EUV); für gemeinsame Aktionen kann die<br />

Kommission nach Aufforderung durch den Rat Vorschläge<br />

unterbreiten.<br />

– Im Bereich der polizeilichen und justitiellen ZusammenarbeitinStrafsachen(�PJZS)wirddieKommission<br />

in vollem Umfang an den Arbeiten beteiligt<br />

(Art. 36, 39, 42 EUV).<br />

5. Kritische Wertung: Die Kommission hat einem<br />

doppelten Anspruch zu genügen: Sie muss innovative<br />

Vorschläge entwickeln und andererseits die Poli-


tiken der EU auf der Grundlage des bestehenden<br />

Rechts durchsetzen.<br />

Die Kommission wird aufgrund ihrer Rolle als Vertreterin<br />

der Interessen der Gemeinschaft in der Öffentlichkeit<br />

und den Medien sprachlich oft mit der<br />

Gemeinschaft gleichgesetzt und dann auch für die<br />

Beschlüsse, die eigentlich der Rat trifft, verantwortlich<br />

gemacht. Defizite und Probleme dieser Beschlüsse<br />

werden häufig der Kommission angelastet,<br />

die dann in den Augen der Bürger als Eurokratie erscheint.<br />

Überlegungen zu einer Reform des institutionellen<br />

Gefüges, die durch die Erweiterungsphasen<br />

der EU, aber auch durch die Diskussion über<br />

Handlungsfähigkeit und Transparenz der europäischen<br />

Gesetzgebung ausgelöst wurden, bezogen<br />

auchdieKommissionmitein.WennaucheinigeVeränderungen<br />

zur Stärkung der Rolle der Kommission<br />

vorgenommen wurden, so hat der Vertrag von Nizza<br />

das Problem der Größe und damit Handlungsfähigkeit<br />

der Kommission, die Rollenzuordnung „Europäische<br />

Regierung“ gleichzeitig an die Kommission<br />

und den Rat sowie die Frage, wie die Kommission<br />

ihre politisch-strategische Funktion wieder stärken<br />

kann, nicht zufriedenstellend gelöst. Der „Vertrag<br />

übereineVerfassungfür<strong>Europa</strong>“(�Verfassungsvertrag<br />

2004) liefert für diese offenen Fragen auch nur<br />

begrenzteLösungsansätze. M. P.<br />

Anschriften:<br />

Europäische Kommission, rue de la Loi 200,<br />

B–1049 Bruxelles<br />

Europäische Kommission, Vertretung in der Bundesrepublik<br />

Deutschland, Unter den Linden 78, 10711 Berlin<br />

Dies.: Bertha-von-Suttner-Platz 2-4, 53111 Bonn<br />

Dies.: Erhardtstr. 27, 80331 München<br />

Literatur:<br />

Bieber, R.: Die Europäische Union. Baden-Baden 2005<br />

Seibold, U.: Die Kontrolle der Europäischen Kommission<br />

durch das Europäische Parlament. Inhalt und Umfang.<br />

Frankfurt/Main 2004<br />

Kommunalpolitik<br />

1. Allgemeines: In der EU sind Kommunen die unterste<br />

Verwaltungseinheit. In Deutschland gibt es 439<br />

kreisfreie Städte und Landkreise sowie 14 308 Gemeinden<br />

(Stand: 2005). Schätzungsweise 60 bis<br />

70 % der EU-Gesetzgebung betreffen die Kommunen<br />

(Angabe nach dem <strong>Europa</strong>-Jahresbericht des<br />

Deutschen Städtetages 2004). Besonders in Bereichen<br />

wie Umweltschutz, Lebensmittelkontrolle und<br />

Veterinärrecht wird deutlich, dass die EU-Entscheidungen<br />

nur greifen, wenn auf kommunaler Ebene die<br />

Kommunalpolitik<br />

entsprechende Umsetzung stattfindet. Kommunen<br />

müssen ihrerseits EU-weit öffentlich ausschreiben,<br />

wenn z. B. Bauaufträge im Straßenbau ein Volumen<br />

von mehr als 5 Mio. Euro und bei Liefer- und Dienstleistungsaufträgen<br />

400 000 Euro überschreiten.<br />

2. Kommunalpolitische Auswirkungen der <strong>Europa</strong>politik:<br />

EG-Vertrag und EU-Vertrag lassen sich in<br />

ihren Auswirkungen auf die kommunale Ebene wie<br />

folgt kategorisieren:<br />

– Maßnahmen, die bis in den Kern des Selbstverwaltungsrechts<br />

vorstoßen: Hierzu zählen z. B. die<br />

Durchsetzung des �Kommunalwahlrechts für Bürgerinnen<br />

und Bürger der EU, die Vergabe öffentlicher<br />

Aufträge, Beihilfekontrollen und die mögliche<br />

Einschränkung der wirtschaftlichen Betätigung der<br />

Kommunen.<br />

– Regelungen, die kommunale Gebietskörperschaften<br />

im Bereich der Pflichtaufgaben nach Weisungen<br />

gegenüber Dritten zu vollziehen haben. Zu nennen<br />

sind hier insbes. das Baurecht, das Umweltrecht, das<br />

Lebensmittelrecht, das Naturschutzrecht und das<br />

Straßenverkehrsrecht.<br />

– Regelungen, die allgemein gelten, aber Kommunen<br />

in besonderer Weise treffen oder von ihnen zu<br />

beachten sind. Dazu gehört die gegenseitige Anerkennung<br />

von beruflichen Abschlüssen, Berechtigungen<br />

und Zulassungen (z. B. Bauvorlageberechtigung<br />

ausländischer Architekten, �Diskriminierungsverbote<br />

bei der Einstellung in den öffentlichen<br />

Dienst sowie bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen).<br />

– Finanzielle Fördermaßnahmen der Europäischen<br />

Union, deren Empfänger die Kommunen selbst sein<br />

können oder die für die Entwicklung der Gemeinden<br />

von Bedeutung sind. Zu erwähnen sind die Strukturfonds<br />

(�Fonds der EU) und eine ganze Reihe von<br />

kleinen Sonderprogrammen, geförderten Pilotvorhaben<br />

und Forschungsmitteln sowie die �Europäische<br />

Investitionsbank, die durch günstige Konditionen<br />

zunehmend Bedeutung im kommunalen Bereich<br />

erlangt.<br />

3. EU und der Grundsatz der kommunalen Selbstverwaltung:<br />

Aus deutscher Perspektive von Bedeutung<br />

ist die in Art. 28 GG festgeschriebene Verfassungsgarantie<br />

der kommunalen Selbstverwaltung. Sie bindet<br />

die Organe der Bundesrepublik Deutschland,<br />

aber nicht die �Organe der EU. Die EU kennt einen<br />

solchen, für die kommunale Selbstverwaltung wirkenden<br />

Kernschutz nicht. Die kommunalen Spitzen-<br />

475


Kommunalpolitik<br />

verbände forderten schon lange, dass im Rahmen einer<br />

europäischen Verfassung dieser Rechtsschutz<br />

festgeschrieben wird. Die „Europäische Charta der<br />

kommunalen Selbstverwaltung“ des �<strong>Europa</strong>rates<br />

leistet das als völkerrechtlicher Vertrag nicht, da die<br />

EU als Nicht-Vertragspartner nicht daran gebunden<br />

ist. Das in Art. 5 EGV fixierte Prinzip der �Subsidiarität<br />

ordnet der kommunalen Handlungsebene zwar<br />

Bestandsschutz zu, ist aber nicht so weit greifend wie<br />

Art. 28 GG.<br />

3.1 <strong>Europa</strong>rat und Kommunalcharta: Der <strong>Europa</strong>rat<br />

hat früh den Beitrag erkannt, den Kommunal- und<br />

Regionalbehörden für den Fortgang der europäischen<br />

Einigung leisten können. 1957 wurde die<br />

„Ständige Konferenz der Gemeinden und Regionen<br />

<strong>Europa</strong>s“ gegründet, die als einzige Kommunalkonferenz<br />

offiziellen Status innerhalb einer zwischenstaatlichen<br />

Organisation besaß. 1982 verabschiedete<br />

die Ständige Konferenz den Entwurf einer „Europäischen<br />

Charta der kommunalen Selbstverwaltung“,<br />

die 1985 vom Ministerkomitee des <strong>Europa</strong>rates beschlossen<br />

wurde und seit dem 1. 9. 1988 in Kraft ist.<br />

Die Europäische Charta ist der erste multilaterale,<br />

völkerrechtliche Vertrag zwischen europäischen<br />

Staaten, der das Prinzip der kommunalen Selbstverwaltung<br />

in Form einer Konvention absichert. Sie enthält<br />

die wesentlichen Gesichtspunkte, die für eine<br />

kommunale Selbstverwaltung der lokalen und regionalen<br />

Körperschaften unerlässlich sind:<br />

– Verfassungsmäßige Garantie der kommunalen<br />

Selbstverwaltung;<br />

– Bestandsschutz der bereits existierenden lokalen<br />

Körperschaften;<br />

– Begrenzung der Staatsaufsicht;<br />

– Organisationshoheit der lokalen Körperschaften<br />

und<br />

– angemessene finanzielle Ausstattung zur Erledigung<br />

der Selbstverwaltungsaufgaben.<br />

Die Inhalte der Kommunalcharta des <strong>Europa</strong>rats<br />

wurden vom Europäischen Parlament (EP) als Strukturprinzipien<br />

für die kommunale Ebene im Rahmen<br />

der EU übernommen.<br />

Die „Ständige Konferenz der Gemeinden und Regionen<br />

<strong>Europa</strong>s“ wurde 1994 abgelöst vom �„Kongress<br />

der Gemeinden und Regionen“ (�<strong>Europa</strong>rat).<br />

3.2 Kommunen und �Vertrag von Amsterdam: Der<br />

Amsterdamer Vertrag (in Kraft 1. 5. 1999) stärkt die<br />

Belange der Kommunen und Regionen vor allem im<br />

institutionellen Bereich. Das von den Kommunen<br />

476<br />

geforderte Klagerecht für den �Ausschuss der Regionen<br />

(AdR) vor dem EuGH und die Verankerung<br />

des kommunalen Selbstverwaltungsrechts wurde<br />

dagegen nicht in den Vertrag übernommen.<br />

Im Einzelnen betreffen folgende Vertragsregelungen<br />

die Kommunen:<br />

– Anerkennung der Interessen der innerstaatlichen<br />

Gliederung in einem Protokoll über die Anwendung<br />

der Prinzipien der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit;<br />

– neue Zuständigkeiten des AdR in Form der Ausweitung<br />

der Beratungsbefugnisse auf die Bereiche<br />

Beschäftigung, Soziale Angelegenheiten, Öffentliche<br />

Gesundheit, Umwelt, Europäischer Sozialfonds,<br />

Berufliche Bildung und Verkehr;<br />

– Bestandsgarantie für die öffentliche Kreditwirtschaft<br />

in der Bundesrepublik Deutschland.<br />

3.3 Kommunen und der Verfassungsvertrag: Der<br />

�Verfassungsvertrag 2004 (VVE) würde den Kommunen<br />

den Rücken stärken, wenn er in Kraft treten<br />

sollte. Die kommunale Selbstverwaltung ist als Bestandteil<br />

der nationalen Identität der Mitgliedstaaten<br />

anerkannt (Art. I-5 Abs. 1 VVE). Die regionale und<br />

lokale Ebene werden explizit in das Subsidiaritätsprinzip<br />

einbezogen; die Organe der EU werden auf<br />

dessen Einhaltung verpflichtet (Art. I-9 Abs. 3<br />

VVE). Im Unterschied zum EU-Vertrag besitzt der<br />

VVE ein allgemeines Bekenntnis zugunsten der<br />

kommunalen Gebietskörperschaften. Ihren Interessen<br />

muss damit bei der europäischen Rechtsetzung<br />

Rechnung getragen werden. Grundsätzlich sind damit<br />

Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im<br />

RahmenderGesetzeineigenerVerantwortungzuregeln.<br />

Realisiert wurde das längst überfällige Klagerecht<br />

des AdR vor dem Europäischen Gerichtshof,<br />

wenn er der Ansicht ist, dass von der Kommission initiierte<br />

Rechtsvorschriften gegen das Subsidiaritätsprinzip<br />

verstoßen.<br />

4. Regionalisierungspolitik der EU: Im Mittelpunkt<br />

der europäischen Unionsdebatte steht die Forderung<br />

nach einer durchgängigen effektiven Regionalisierung<br />

der EU. Die Entschließung zur �Regionalpolitik<br />

der Gemeinschaft und zur Rolle der �Regionen<br />

vom 18. 11. 1988 (ABl. L 326/1988) sowie die Gemeinschaftscharta<br />

zur Regionalisierung (Regionalcharta)<br />

sind wesentliche Schritte auf dem Weg zu einem<br />

dem Prinzip der Subsidiarität verpflichteten <strong>Europa</strong><br />

der Regionen. Die Fortentwicklung der europäischen<br />

�Integration in Richtung einer Europäi-


schen Union auf der Basis von starken Regionen und<br />

Kommunen liegt im europäischen Interesse. Regionalismusdiskussionen<br />

und kommunale Selbstverwaltung<br />

stehen in einem inneren Zusammenhang.<br />

Den kommunalen Einheiten kommt eine wichtige<br />

Brückenfunktion im <strong>Europa</strong> der Regionen und Kommunen<br />

zu, da die Weiterentwicklung der Union nur<br />

Bestand haben kann, wenn sie in der Bevölkerung<br />

verankert ist. So auch das Fazit des Weißbuchs European<br />

�Governance (2001), nach dem regionale und<br />

lokale Erfahrungen und Bedingungen bei der Entwicklung<br />

politischer Vorschläge stärker berücksichtigt<br />

werden sollten. Die Kommission pflegt bereits<br />

den Dialog durch Anhörungen, Folgeabschätzungen<br />

und im Internet mittels der Datenbank �CONECCS.<br />

Die Absicherung und Stärkung der kommunalen und<br />

regionalen Selbstverwaltung in den EU-Staaten ist<br />

daher für die kommunalen und regionalen Gebietskörperschaften<br />

eine Grundvoraussetzung für den<br />

Aufbaueines�„<strong>Europa</strong>sderBürger“.Diekommunalen<br />

Spitzenverbände (�Rat der Gemeinden und Regionen<br />

<strong>Europa</strong>s, RGRE, und der Internationale Gemeindeverband)<br />

forderten die Überführung der<br />

Kommunalcharta des <strong>Europa</strong>rates in das primäre<br />

�Gemeinschaftsrecht der EU und die Absicherung<br />

ihrer Kernaussagen in einer zukünftigen europäischen<br />

Verfassung. Mit der Verankerung der kommunalen<br />

Selbstverwaltung in den VVE 2004 ist hier ein<br />

Einstieg gelungen.<br />

Anzumerken ist an dieser Stelle, dass in dem Beziehungsgefüge<br />

von Kommunen und EU-Organen die<br />

Aktivitäten der kommunalen Spitzenverbände von<br />

besonderem Gewicht sind. Ein wachsendes Geflecht<br />

von kommunalen Institutionen arbeitet deshalb auf<br />

EU-Ebene zusammen. In der Datenbank CONECCS<br />

haben sich rund 150 Büros (Stand 2004) in Brüssel<br />

und Straßburg registriert, um ihren Interessen direkt<br />

Gewicht und Stimme zu verleihen, mit Schwerpunkt<br />

auf Beschäftigung, Soziales, Umweltschutz und Unternehmen.<br />

Von großer Bedeutung ist mittelfristig der mit dem<br />

�Maastrichter Vertrag eingerichtete �Ausschuss der<br />

Regionen. Für Deutschland sind die Kommunen mit<br />

drei Vertretern in diesem Ausschuss (Art. 263 EGV)<br />

vertreten (insgesamt 24 deutsche Sitze). Damit ist<br />

erstmals auch die deutsche kommunale Selbstverwaltung<br />

in den institutionellen Rahmen der EU integriert.<br />

Der VVE 2004 definiert den AdR als beratende<br />

Einrichtung der Union (Art. I-31 VVE).<br />

Kommunalpolitik<br />

Dennoch haben – unter institutionellen Gesichtspunkten<br />

– die Regionen und Kommunen nach wie<br />

vor einen geringen Einfluss auf die europäischen<br />

Entscheidungsverfahren. Mit dem Beirat der kommunalen<br />

und regionalen Gebietskörperschaften bei<br />

derKommission(seit1987)verfügendielokalenund<br />

regionalen Gebietskörperschaften über ein schwach<br />

ausgeprägtes institutionelles Mitspracherecht. Der<br />

Beirat kann von der Kommission bei allen Fragen,<br />

die sich auf die regionale Entwicklung und insbes.<br />

auf die Erarbeitung und Durchsetzung der Regionalpolitik<br />

der Gemeinschaft beziehen, konsultiert werden.<br />

Die weitere Ausgestaltung des Subsidiaritätsprinzips<br />

wird letztlich darüber entscheiden, ob es als<br />

Korrektiv gegen Zentralismus wirken kann.<br />

5. Kommunalpolitische Dimensionen europäischer<br />

Politik<br />

a) Politikinhalte: Kommunalrelevante Themen sind<br />

in einer Vielzahl in die europäische Politik integriert.<br />

Exemplarisch seien angeführt der Umweltschutz<br />

(z. B. die Trinkwasserrichtlinie), die Richtlinie zur<br />

Umweltverträglichkeitsprüfung, die Richtlinien<br />

über gefährliche Abfälle und Hausmüll, der<br />

Verkehrs- und Infrastrukturbereich im Rahmen<br />

�Transeuropäischer Netze für Verkehrs-, Telekommunikations-<br />

und Energieinfrastruktur, die Subventionskontrollen<br />

im Bereich kommunaler Wirtschaftsförderung,<br />

Fragen des ländlichen Raumes infolge<br />

der europäischen Agrarpolitik/-reform, das<br />

Kommunalwahlrecht für EU-Bürger, der Fremdenverkehr<br />

und das Kurwesen, die Bauleitplanung und<br />

das Bauordnungsrecht, die Kreditwirtschaft, die<br />

Vergabe öffentlicher Aufträge, Haftungsfragen bei<br />

Dienstleistungen, das Energierecht und die Steuerharmonisierung.<br />

b) Die Kommunen sind Förderer und MultiplikatorendereuropäischenIdee.EinAnsatzfürdieHerausbildung<br />

einer europäischen �Identität liegt in dem<br />

Bemühen, <strong>Europa</strong> im besten Sinne des Subsidiaritätsprinzips<br />

in direktem Kontakt zu Bürgerinnen und<br />

Bürgern, also auf kommunaler Ebene erfahrbar zu<br />

machen. Die Kommunalverwaltungen wären somit<br />

Schnittstellen zwischen den EU-Bürgern und den<br />

EU-Institutionen, so dass sich der europäische Einigungsprozess<br />

nicht abstrakt, wenig transparent und<br />

anonym, sondern – vor Ort – konkret und personifiziert<br />

darstellt. Instrumente sind z. B. <strong>Europa</strong>beauftragte<br />

oder ein <strong>Europa</strong>büro.<br />

c) Bezüglich der europäischen Interessenvertretung<br />

477


Kommunalpolitik<br />

der Kommunen wirkt im außerinstitutionellen Bereich<br />

der EU insbes. der Rat der Gemeinden und Regionen<br />

<strong>Europa</strong>s. Der Rat (1951 gegründet) umfasst<br />

24 Mitgliedssektionen und ist aufgrund einer Integrationsvereinbarung<br />

gleichzeitig die europäische<br />

Sektion des Internationalen Gemeindeverbandes.<br />

HistorischeVerdienstehatderRatimBereichdereuropäischen<br />

Partnerschaftsbewegung. Initiativen des<br />

Rates führten auf <strong>Europa</strong>rats- und EU-Ebene zu Gremien,<br />

die eine institutionelle Mitsprache der kommunalen<br />

und regionalen Gebietskörperschaften ermöglichen.<br />

Im institutionellen Bereich der EU wirkt neben dem<br />

Beirat der kommunalen und regionalen Gebietskörperschaften<br />

bei der Kommission eine interfraktionelle<br />

Gruppe gewählter Vertreter der Kommunen<br />

und Regionen des EP. Auf Initiative des Rates der<br />

Gemeinden und Regionen <strong>Europa</strong>s wurde diese interfraktionelle<br />

Gruppe unmittelbar nach der EP-<br />

Wahl 1979 einberufen. Sie setzt sich aus Mitgliedern<br />

des EP zusammen, die gleichzeitig ein Wahlmandat<br />

auf kommunaler oder regionaler Ebene besitzen. Arbeitsschwerpunkte<br />

sind u. a. die Probleme großstädtischer<br />

Ballungsgebiete, die Planung von Verkehrssystemen,<br />

die Stadterneuerung, die Beschäftigungspolitik<br />

und Reformen im Bereich der EU-�Strukturpolitik.<br />

d) Mit ihren Förderprogrammen unterstützt die<br />

Kommission zahlreiche Projekte kommunaler Gebietskörperschaften<br />

sowie ihre Netzwerkbildung.<br />

Vor allem die Gemeinschaftsprogramme für die<br />

grenzüberschreitende Zusammenarbeit (�INTER-<br />

REG II), den ländlichen Raum (�LEADER II), städtischeProbleme(�URBAN)undPartnerschaftenmit<br />

mittel- und osteuropäischen Kommunen (früher:<br />

PHARE)bietenvielHandlungsspielraum.ZweiBeispiele:<br />

Die Kommission fördert seit 2003 mit<br />

URBACT (Netzwerk für europaweiten Erfahrungsaustausch)<br />

im Rahmen von URBAN II exemplarisch<br />

ProjektezurintegriertenStadtentwicklung.Gearbeitet<br />

wird an innovativen Finanzierungsinstrumenten<br />

der lokalen Wirtschaftsförderung im Rahmen des<br />

Netzwerkprojektes ECO-FIN-NET. Nicht nur rechtliche,<br />

sondern auch negative KonjunkturentwicklungenundfinanzielleGrenzendurchkreuzenhäufig<br />

kommunale Wirtschaftsstrategien. ECO-FIN-NET<br />

prüft,wieIhnenerfolgreichentgegenzuwirkenist.<br />

6. Konfliktfeld Daseinsvorsorge: Städte und Gemeinden<br />

sind Dienstleister im Interesse des Gemein-<br />

478<br />

wohls. In Fachressorts wie Soziales, Allgemeinbildung,<br />

Gesundheit, Kultur, Umweltschutz, Veterinärwesen,<br />

Verkehr, Energie und Telekommunikation<br />

decken sie nicht nur Grundbedürfnisse der Zivilgesellschaft<br />

ab. Sie tragen zugleich in erheblichem<br />

MaßezurWettbewerbsfähigkeitbei(Art.16EGV).<br />

Die Diskussion über den Rahmen und die Grenzen<br />

für die kommunale Wirtschaft im Binnenmarkt führt<br />

zuderFrage,welchederDienstleistungenvonAllgemeinemInteressedenRegelndesBinnenmarktesunterworfen<br />

sein sollen. Konsens besteht vor allem<br />

beim Prinzip „Gemeinwohl vor Marktliberalisierung“,<br />

so das Fazit im Weißbuch 2004. Kannbereiche<br />

für Liberalisierung sind ausschließlich Felder<br />

wie Wasserversorgung, Abfallentsorgung, Energieversorgung,<br />

Mobilität oder Postdienste. Generell<br />

steht der Gesetzgeber mit der Liberalisierung der<br />

Märkte vor der schwierigen Aufgabe, ChancengleichheitzwischenprivatenundöffentlichenUnternehmen<br />

herzustellen. Deshalb gewinnt die allgemeine<br />

Wettbewerbspolitik der Union mit Beihilfekontrolle,<br />

Vergaberecht und Transparenzvorschriften<br />

zunehmende Bedeutung für die kommunalen Unternehmen.<br />

Der VVE 2004 (Art. III-122) ordnet der<br />

UnionundihrenMitgliedstaatenimRahmenihrerjeweiligen<br />

Zuständigkeiten die Kompetenz zu, Grundsätze<br />

und Bedingungen so zu gestalten, dass die<br />

Dienstleistungenvonallgemeinemwirtschaftlichem<br />

Interesse erfüllt werden können.<br />

Die Dienste der Daseinsvorsorge werden nicht von<br />

der umstrittenen Richtlinie über Dienstleistungen im<br />

Binnenmarkt erfasst. Die Richtlinie über Dienstleistungen<br />

im Binnenmarkt (sog. Bolkestein-Richtlinie)<br />

zielt darauf ab, einen Binnenmarkt für Dienstleistungen<br />

zu schaffen. Die neue Maßnahme würde<br />

EU-Mitgliedstaaten dazu verpflichten, den Verwaltungsaufwand<br />

zu verringern, der Unternehmen davon<br />

abhält, ihre Dienste über die Grenzen der einzelnen<br />

Mitgliedstaaten hinaus anzubieten. Mit der<br />

DienstleistungsrichtliniewürdeaufDienstleisterdas<br />

„Herkunftslandprinzip“ angewandt, nach dem der<br />

Dienstleistungserbringer nicht den Rechtsvorschriften<br />

des Landes unterliegt, in dem die Dienstleistung<br />

erbracht wird, sondern des Landes, in dem er niedergelassen<br />

ist. Von der neuen Richtlinie wären eine<br />

Vielzahl von Dienstleistungen betroffen, die von<br />

Reisebüros bis zu Gesundheitsdienstleistungen reichen.<br />

Dienste, die bereits von spezifischen EU-<br />

Maßnahmen geregelt werden – z. B. Finanzdienst-


leistungen, Telekommunikation und Verkehr – sind<br />

vonderRichtlinieausgenommen. L. U.<br />

Anschrift: Rat der Gemeinden und Regionen <strong>Europa</strong>s,<br />

Deutsche Sektion, Lindenallee 13–17, 50968 Köln<br />

Literatur:<br />

Deutscher Städtetag (Hg.): 2. Jahresbericht des <strong>Europa</strong>büros<br />

des Deutschen Städtetages 2003/2004. Köln/Berlin 2004<br />

Götsche, U.: <strong>Europa</strong>–Region–Kommune. Baden-Baden 2004<br />

Knemeyer, F.-L. (Hg.): Die Europäische Charta der kommunalen<br />

Selbstverwaltung. Entstehung und Bedeutung –<br />

Länderberichte und Analysen. Baden-Baden 1990<br />

Schultze, Cl. J.: Die deutschen Kommunen in der<br />

Europäischen Union. Baden-Baden 1997<br />

Schwarze, J. (Hg.): Das Verwaltungsrecht unter europäischem<br />

Einfluss. Baden-Baden 1996<br />

Kommission – Vertretung der EU-Kommission in der Bundesrepublik<br />

Deutschland (Hg.): EU-Kommunal. Handbuch zu<br />

europäischen Themen für Kommunalpolitiker und lokale<br />

Medien. Bonn 1995 3<br />

Kommission (Hg.): Grünbuch zu Dienstleistungen von<br />

allgemeinem Interesse. KOM(2003)270. Brüssel 2003<br />

Dies. (Hg.): Weißbuch Europäisches Regieren.<br />

KOM(2001) 428. Brüssel 2001<br />

Dies. (Hg.): Weißbuch zu Dienstleistungen von allgemeinem<br />

Interesse. KOM(2004)374. Brüssel 2004<br />

Kommunalwahlrecht für Unionsbürger. Der<br />

�Maastrichter Vertrag von 1992 hat in die Gründungsverträge<br />

der Gemeinschaft Bestimmungen<br />

zum Kommunalwahlrecht in Mitgliedstaaten eingefügt<br />

(Art 19 Abs. 1 EGV, Art. 40 der �Grundrechtecharta,<br />

entsprechend Art. I-10 und Art. II-100 VVE<br />

2004). Danach besitzen Unionsbürgerinnen und<br />

Unionsbürger (�Unionsbürgerschaft) unabhängig<br />

vonihrerStaatsangehörigkeitanihremWohnsitzdas<br />

aktiveundpassiveWahlrechtbeiKommunalwahlen.<br />

Einzelheiten (auch Ausnahmen) legte der Rat am 19.<br />

12. 1994 in einer Richtlinie fest (94/80, ABl. L<br />

368/1994), die in Deutschland und den Bundesländern<br />

bis Ende 1995 in nationales Recht umgesetzt<br />

wurde. In Deutschland regeln die Bundesländer die<br />

Einzelheiten des Kommunalwahlrechts. Weitere<br />

Einzelheiten enthält die Richtlinie 96/30 (ABl. L<br />

122/1996).<br />

Um in Deutschland die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen<br />

zu schaffen, wurde Art. 28 GG um folgenden<br />

Satz ergänzt: „Bei Wahlen in Kreisen und<br />

Gemeinden sind auch Personen, die die Staatsangehörigkeit<br />

eines Mitgliedstaates der Europäischen<br />

Gemeinschaft besitzen, ... wahlberechtigt und wählbar.“<br />

Die Teilnahme von EU-Bürgern ist auf die<br />

Wahl begrenzt und gestattet nicht eine Beteiligung<br />

an kommunalen Abstimmungen wie Bürgerbegeh-<br />

Konferenz der <strong>Europa</strong>-Ausschüsse<br />

ren und -entscheiden. Dies kann durch Gesetz geändert<br />

werden. Die EU-Richtlinie vom 19. 12. 1994<br />

stellt frei, ob EU-Ausländer von Amts wegen oder<br />

nur auf deren Antrag ins Wählerverzeichnis aufzunehmen<br />

sind. Exekutivämter (Bürgermeister, Landrat<br />

und deren Stellvertreter) können wegen des den<br />

Deutschen vorbehaltenen Beamtenstatus den eigenen<br />

Staatsangehörigen vorbehalten bleiben (z. B. in<br />

Bayern und Sachsen). Seit 1993 haben Bund und<br />

Länder ihre Beamtengesetze geändert, so dass auch<br />

EU-Bürger/-innen berufen werden können, aber wegen<br />

hoheitlicher Aufgaben nicht als Bürgermeister,<br />

Landräte oder Beigeordnete, solange für diese das<br />

Beamtenverhältnis gesetzlich vorgeschrieben ist.<br />

EU-Ausländer könnten in einem anderen Dienstverhältnis<br />

(als Angestellter) durchaus in kommunale<br />

Spitzenämter gewählt werden.<br />

Ein EU-Ausländer, dem das passive Wahlrecht in<br />

seinem Herkunftsland aberkannt wurde, verliert<br />

auch die Wählbarkeit in den deutschen Bundesländern<br />

(Ausnahme: Hessen). In vielen Bundesländern<br />

müssen EU-Bürger, die bei Kommunalwahlen kandidieren<br />

möchten, eine förmliche Erklärung abgeben,<br />

dass ihnen im Heimatland das passive Wahlrechtnichtaberkanntwordenist.<br />

W. M.<br />

Kompetenz-Kompetenz bezeichnet im Staatsrecht<br />

die Befugnis des Staates, seine eigene Zuständigkeit<br />

durch Änderung der Verfassung zu erweitern<br />

(u. U. zu Lasten untergeordneter Glieder). In der EU<br />

haben grundsätzlich nur die Mitgliedstaaten die Befugnis,<br />

die Kompetenzen der Union zu verändern.<br />

Die EU verfügt also nicht über eine Kompetenz-<br />

Kompetenz. Allerdings gibt es ansatzweise Durchbrechungen<br />

(vgl. Art. 95 und 308 EGV, �Generalermächtigung).<br />

Kompromiss von Ioannina �Ioannina, Kompromiss<br />

von<br />

Konferenz der <strong>Europa</strong>-Ausschüsse der Parlamente<br />

der Mitgliedstaaten der EU und des EuropäischenParlaments(COSAC,ConférencedesOrganes<br />

Spécialisés dans les Affaires communautaires et Européenne<br />

des Parlements de l’Union Européenne).<br />

Gremium aus Vertretern der für <strong>Europa</strong>fragen zuständigen<br />

Ausschüsse der nationalen Parlamente<br />

und Mitgliedern des Europäischen Parlaments.<br />

Ausführlich�COSAC<br />

479


Konferenz der Parlamente<br />

Konferenz der Parlamente �Assises<br />

Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) �Ökumenische<br />

Begegnungen in <strong>Europa</strong><br />

Konföderation der Rektorenkonferenzen der<br />

EU �Europäische Rektorenkonferenz<br />

Konkurrierende Zuständigkeit. In föderal organisierten<br />

Staaten teilt die Verfassung die legislativen<br />

und exekutiven Kompetenzen für alle Bereiche der<br />

Politik den einzelnen staatlichen Ebenen zu. Soweit<br />

dabei nicht ausschließliche Zuständigkeit festgelegt<br />

ist, gilt konkurrierende Zuständigkeit (Kompetenz).<br />

In diesen Fällen soll das Prinzip der �Subsidiarität<br />

über die Zuständigkeit entscheiden.<br />

Die EU hat, entsprechend dem �Prinzip der begrenzten<br />

Einzelermächtigung, ausschließliche Kompetenz<br />

nur in einigen Politikbereichen (z. B. �Zollunion,<br />

�Außenhandelspolitik). In allen Bereichen,<br />

dienichtinihreausschließlicheZuständigkeitfallen,<br />

muss die Union nach Art. 5 EGV das �Subsidiaritätsprinzip<br />

strikt beachten. Der �Verfassungsvertrag<br />

2004 nennt als Bereiche konkurrierender (geteilter)<br />

Zuständigkeit u. a.: Binnenmarkt, Landwirtschaft<br />

und Fischerei, Umwelt, Verbraucherschutz, Verkehr,<br />

Energie (vgl. Art. I-14 VVE).<br />

Konsolidierung der Rechtsvorschriften in der<br />

EU ist eine inoffizielle Zusammenfassung eines<br />

Rechtsakts und seiner Änderungen. Der konsolidierte<br />

Text dient lediglich der besseren Lesbarkeit, hat<br />

aber keine Rechtswirkung. Er kann im Amtsblatt<br />

(Reihe C) veröffentlicht werden. �Kodifikation von<br />

Rechtsvorschriften<br />

Konstruktive Enthaltung(positiveEnthaltung)ist<br />

bei einstimmigen Beschlüssen des Rats im Rahmen<br />

der �GASP möglich (Art. 23 EUV). Die Stimmenthaltung<br />

verhindert den Beschluss nicht. Die stimmenthaltende<br />

Regierung kann eine förmliche Erklärung<br />

abgeben und akzeptiert damit, dass der Beschluss<br />

für die EU bindend ist. Sie muss den Beschluss<br />

nicht durchführen, muss jedoch alles unterlassen,<br />

was die Durchführung des Beschlusses durch<br />

die Union behindern oder dem Beschluss zuwiderlaufen<br />

könnte.<br />

WenndiestimmenthaltendenRatsmitgliederzusammen<br />

über mehr als ein Drittel der Stimmen verfügen,<br />

480<br />

die zur qualifizierten Mehrheit gehören, kommt der<br />

Beschluss nicht zustande.<br />

Konsultation �GASP, �ESVP<br />

Konsultationsverfahren �Gesetzgebungsverfahren<br />

Kontrolle der Anwendung des Gemeinschaftsrechts<br />

(Art. 226 EGV) �Vertragsverletzungsverfahren<br />

Konvent / Konventsverfahren. Änderungen der<br />

europäischen Verträge wurden seit Bestehen der Europäischen<br />

Gemeinschaften stets durch Regierungskonferenzen<br />

„hinter verschlossenen Türen“ vorbereitet.<br />

Die Unterzeichnung erfolgte jeweils durch die<br />

Staats- und Regierungschefs auf einem Europäischen<br />

Rat (so in Maastricht, Amsterdam, Nizza).<br />

Erstmals wurde auf Vorschlag der deutschen Regierung<br />

auf dem Europäischen Rat in Köln im Juni 1999<br />

einanderesVerfahrengewählt,zurErarbeitungeiner<br />

�Grundrechtecharta. Es wurde ein Konvent (von lateinisch<br />

convenire = zusammenkommen) einberufen.<br />

Dieser tagte unter dem Vorsitz des früheren<br />

deutschen Bundespräsidenten Roman Herzog und<br />

entwickelte den Entwurf einer Grundrechtecharta.<br />

DieChartawurdezunächstnurfeierlichproklamiert,<br />

ohne Bindungswirkung zu erlangen.<br />

Konvent zur Zukunft <strong>Europa</strong>s. Nachdem das KonventsverfahrensichbeiderGrundrechtechartaalserfolgreich<br />

erwiesen hatte, entschied sich der Europäische<br />

Rat von Laeken am 14./15. 12. 2001, einen „Europäischen<br />

Konvent zur Zukunft <strong>Europa</strong>s“ einzuberufenmitderAufgabe,ÄnderungenderVerträge,auf<br />

denen die Union beruht, vorzubereiten.<br />

Zum Vorsitzenden wurde der frühere französische<br />

Präsident Valéry �Giscard d’Estaing ernannt. Der<br />

Konvent hatte 105 Mitglieder. Neben dem Vorsitzenden<br />

und zwei Vizepräsidenten gehörten ihm je<br />

ein Vertreter der nationalen Regierungen und je zwei<br />

Mitglieder jedes mitgliedstaatlichen Parlaments sowie<br />

16 Vertreter des Europäischen Parlaments und<br />

zwei Vertreter der Kommission an. Die Beitrittsländer<br />

waren in gleicher Weise beteiligt. Für DeutschlandwarenimKonvent:zunächstProfessorDr.Peter<br />

Glotz als Vertreter der Bundesregierung, später Außenminister<br />

Joschka Fischer, Ministerpräsident Erwin<br />

Teufel (Baden-Württemberg) für den Bundes-


at, Professor Dr. Jürgen Meyer für den Bundestag.<br />

Der Konvent tagte vom 28. 2. 2002 bis zum 10. 7.<br />

2003. Er beendete seine Arbeit mit dem Entwurf eines<br />

„Vertrages über eine Verfassung für <strong>Europa</strong>“<br />

(�Verfassungsvertrag2004).DarinhatderKonvent<br />

– eine bessere Aufteilung der Zuständigkeiten der<br />

Union und der Mitgliedstaaten vorgeschlagen;<br />

– empfohlen, die bisherigen vier Vertragswerke von<br />

Union und Gemeinschaften zusammenzufassen und<br />

dieneueEUmitRechtspersönlichkeitauszustatten;<br />

– vorgeschlagen, die Grundrechtecharta in das neue<br />

Vertragswerk aufzunehmen;<br />

– verschiedene Handlungsinstrumente der EU ausgearbeitet;<br />

– Maßnahmen für mehr Demokratie, Transparenz<br />

und Effizienz in der EU vorgeschlagen;<br />

– Maßnahmen ausgearbeitet, die zur Verbesserung<br />

der Struktur und zur Stärkung der Rolle aller drei Organe<br />

der Union erforderlich sind.<br />

Das in Art. 48 EUV festgelegte Verfahren zur Änderung<br />

der Verträge sieht die Einberufung einer Konferenz<br />

von Vertretern der Regierungen vor, um die vorzunehmenden<br />

Änderungen zu vereinbaren. Der Entwurf<br />

des Konvents bildete die Basis für die Arbeit<br />

dieser sich anschließenden Regierungskonferenz.<br />

Sie hat die Ergebnisse des Konvents überwiegend<br />

übernommen. Die Verfassung wurde am 29. 10.<br />

2004 feierlich in Rom von den Staats- und Regierungschefs<br />

unterzeichnet. Sie muss in allen Mitgliedstaaten<br />

ratifiziert werden. In mehreren Staaten<br />

wird dazu ein Referendum durchgeführt. In Frankreich<br />

und den Niederlanden sind die Referenden gescheitert<br />

(�Ratifizierung des Verfassungsvertrags).<br />

In Deutschland wurde das Zustimmungsgesetz von<br />

Bundestag und Bundesrat im Mai 2005 beschlossen.<br />

�Verfassungsvertrag H. D.-K.<br />

Konvent zur Zukunft <strong>Europa</strong>s �Konvent / Konventsverfahren<br />

Konvergenz<br />

1. Allgemeines: Der Begriff der wirtschaftlichen<br />

Konvergenz beschreibt die gegenseitige Angleichung<br />

(Annäherung und Übereinstimmung) zwischen<br />

konkreten, unterschiedlich ausgeprägten wirtschaftlichen<br />

Gesamtsystemen und ihrer Lage, Entwicklung<br />

und Ziele.<br />

In der Union beschreibt der Begriff eine Angleichung<br />

der Wirtschafts-, Haushalts- und Währungs-<br />

Konvergenz<br />

politik der Mitgliedstaaten, die auch zu einer Annäherung<br />

wichtiger volkswirtschaftlicher Indikatoren<br />

(Zinsen, Wachstum, Inflation, Stabilität von Wechselkurs<br />

und Zahlungsbilanz) führt. Ein breit angelegtes<br />

Konvergenzprojekt war das �Europäische Währungssystem<br />

(1979), dessen stabilitätsorientierte Politik<br />

zu einer Konvergenz der Inflationsraten, Zinsen<br />

und Wechselkursabweichungen beitrug. Eine gesamtwirtschaftliche<br />

Konvergenz unter den Teilnahmeländern<br />

entstand daraus jedoch nicht. Einige Kriterien<br />

für die Teilnahme an der �Wirtschafts- und<br />

Währungsunion (WWU) beruhen ebenfalls auf der<br />

Konvergenz: Inflationsvorgabe, Wechselkursstabilität<br />

und Langfrist-Zinssätze orientieren sich an der<br />

Entwicklung der Mitgliedstaaten.<br />

In der Entscheidung des Rates vom 18. 2. 1974 zur<br />

Erreichung eines hohen Grades an Konvergenz der<br />

Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten wurden eine<br />

Reihe von Gemeinschaftsprozeduren festgelegt,<br />

durch die eine Abstimmung der �Wirtschafts- und<br />

�Währungspolitik zwischen den Mitgliedstaaten<br />

verstärkt wurde. Eingeführt wurde vor allem ein<br />

straffer jährlicher Konsultationskalender, nach dessen<br />

Rhythmus der Rat im Jahresverlauf einen Jahresbericht<br />

über die wirtschaftliche Lage in der EU verabschiedet<br />

und seine wirtschaftspolitischen Leitlinien<br />

fortschreibt.<br />

Für die Realisierung der WWU waren und sind Konvergenzfragen<br />

entscheidend. Die Konvergenz der<br />

EU-Staaten ist die Voraussetzung für den Eintritt eines<br />

Staates in die WWU und für deren Erfolg. Die<br />

erste Stufe der WWU (ab 1. 7. 1990) war durch ihr<br />

Ziel gekennzeichnet, die Wirtschaftspolitiken der<br />

EU-Staaten in einen größeren Gleichklang zu bringen<br />

(Konvergenz). Jeder EU-Staat verpflichtete<br />

sich, mittelfristige Konvergenzprogramme vorzulegen,indenendiewirtschaftspolitischenMaßnahmen<br />

skizziert wurden, durch die die Bedingungen für die<br />

uneingeschränkte Teilnahme an der 3. Stufe der<br />

�Währungsunion (WU) erfüllt werden sollten, da für<br />

den Eintritt in die 3. Stufe der WWU die im<br />

EG-Vertrag festgelegten �Konvergenzkriterien verbindlich<br />

sind.<br />

2.ElementederEU-Konvergenzpolitik:DieKonvergenz<br />

in der Geld- und Haushaltspolitik erfolgt in<br />

Form von Prüfsteinen zur Stabilitätssicherung<br />

(�Konvergenzkriterien). Die wirtschaftliche EntwicklungjedesMitgliedstaateswirdregelmäßighinsichtlich<br />

der wirtschaftlichen Konvergenz über-<br />

481


Konvergenz<br />

wacht sowie auf die Vereinbarkeit mit den Grundzügen<br />

überprüft. Wird im Rahmen dieses multilateralen<br />

Überwachungsverfahrens festgestellt, dass die<br />

WirtschaftspolitikeinesEU-StaatsvondeninArt.98<br />

und Art. 99 Abs. 2 EGV normierten Grundzügen abweicht<br />

oder das Funktionieren der WWU zu gefährdendroht,dannkanndieEUandenbetreffendenMitgliedstaat<br />

eine Empfehlung richten. Diese Empfehlungkannveröffentlichtwerden.Überwachungsverfahren<br />

und Empfehlungsrecht sollen eine mit den<br />

Zielen der WWU zu vereinbarende Wirtschafts- und<br />

Finanzpolitik der EU-Staaten gewährleisten. Der<br />

EG-Vertrag verpflichtet jeden Staat, übermäßige<br />

Haushaltsdefizite zu vermeiden und verankert zentrale<br />

Grundsätze stabilitätsorientierter Haushaltspolitik.<br />

Dazu gehören insbes. das Verbot der KreditgewährunganöffentlicheStellendurchdieZentralbanken<br />

sowie die Eigenverantwortlichkeit jedes Mitgliedstaates<br />

für seine Staatsschulden. Der EG-<br />

VertragenthältdarüberhinausKriterienzurFeststellungübermäßigerHaushaltsdefizite(Art.104)sowie<br />

in dem „Protokoll über das Verfahren bei einem<br />

übermäßigen Defizit“ präzise Referenzwerte für diese<br />

Kriterien. Stellt die EU ein übermäßiges Defizit<br />

fest, kann sie ein Verfahren in Gang setzen, das auf<br />

seinen Abbau hinzielt und auch die Möglichkeit finanzieller<br />

Sanktionen einschließt.<br />

Mit den �Strukturpolitiken verfügt die EU über Instrumente,<br />

die den Konvergenzprozess nachhaltig<br />

positiv beeinflussen. Der wirtschaftliche und soziale<br />

Zusammenhalt (�Kohäsion) ist grundlegend, weil<br />

nur Volkswirtschaften gleicher Entwicklungsstufen<br />

dauerhaft in einer einheitlichen Währungszone zusammengehalten<br />

werden können. Struktur- und Kohäsionsfonds<br />

(�Fonds der EU) leisten Transferzahlungen<br />

in die weniger wohlhabenden EU-Staaten<br />

und �Regionen. Die mit der Kohäsionspolitik verbundenen<br />

Transferzahlungen müssen von den Empfängerländernfürvolkswirtschaftlichsinnvolle,d.h.<br />

wachstumsfördernde Investitionen verwendet werden,umdiegesamtwirtschaftlicheDynamikzuerhöhen.<br />

Voraussetzung ist, dass diese Länder Programme<br />

zur Anpassung ihrer Wirtschaft (Konvergenzprogramme)<br />

durchführen.<br />

Gemäß �Stabilitäts- und Wachstumspakt verpflichten<br />

sich die noch nicht der Euro-Gruppe angehörenden<br />

Mitgliedstaaten zur Erarbeitung jährlicher Konvergenzprogramme.<br />

Die Mitgliedstaaten der Euro-<br />

Gruppe legen jährlich ein Stabilitätsprogramm vor.<br />

482<br />

BeideProgrammtypengebenAuskunftdarüber,mithilfe<br />

welcher Maßnahmen die Erreichung bzw. die<br />

weitere Einhaltung des Defizitkriteriums ermöglicht<br />

werden soll. Außerdem müssen Konvergenz- und<br />

Stabilitätsprogramme die Hauptannahme über die<br />

voraussichtliche wirtschaftliche Entwicklung erläutern<br />

und darlegen, welche Probleme sich bei Abweichungen<br />

von diesen Annahmen ergeben. Der Rat<br />

überwacht laufend die Umsetzung der Programme.<br />

Die Überwachung spielt eine wichtige Rolle als<br />

Frühwarnsystem im Rahmen des Stabilitäts- und<br />

Wachstumspakts.<br />

3. Fazit: Die WWU ist Endpunkt eines nachhaltigen<br />

Prozesses der Konvergenz. Der mit dem Start der<br />

WWU erreichte hohe Grad an Konvergenz zwischen<br />

den Wirtschaften der Euro-Länder bildet das Fundament<br />

für stabile wirtschaftliche Rahmenbedingungen<br />

in der EU.<br />

Die Situation der 11 Euro-Länder zum Start der<br />

WWU (1999) war bemerkenswert und ist ein Beweis<br />

dafür, dass sich die Konvergenz ihrer Wirtschaften<br />

deutlich verstärkt hat. Am 1. 1. 2002 wurde letztlich<br />

das Ziel erreicht: Die Einführung der Euro-Banknoten<br />

und -Münzen als letzter Schritt eines Konvergenzprozesses<br />

innerhalb eines multilateralen Rahmens<br />

von 12 Staaten der Euro-Gruppe.<br />

Im Rahmen ihrer Berichts- und Informationspflicht<br />

geben die Monatsberichte der EZB der Öffentlichkeit<br />

Auskunft über die Entwicklung der Fundamentaldaten:<br />

Leitzins-Sätze (2005 z. B. mit 2 % für die<br />

Hauptrefinanzierungsgeschäfte) auf einem historisch<br />

niedrigen Niveau, Wachstum des BIP im Euro-Währungsgebiet<br />

(2005 mit 2 %), Inflationsrate<br />

(2005 durchschnittlich stabil unter 2 %), öffentliche<br />

Finanzen (2005 anhaltender Konsolidierungsbedarf<br />

nationaler Haushalte bei einigen Euro-Ländern) und<br />

strukturelle Entwicklungen (z. B. Produktivitätswachstum,Arbeitsmarktreformen,außenwirtschaftliches<br />

Umfeld).<br />

Kommission und Europäische Zentralbank berichten<br />

alle zwei Jahre und auf Antrag eines Mitgliedstaats,<br />

der nicht der Euro-Gruppe angehört, darüber<br />

inwieweit die Mitgliedstaaten, die nicht der Euro-Gruppe<br />

angehören, bei der Verwirklichung der<br />

WWU ihren Verpflichtungen nachgekommen sind<br />

(Konvergenzbericht). Als Konvergenz-Parameter<br />

regelt der �Verfassungsvertrag 2004: Vereinbarkeit<br />

der innerstaatlichen Rechtsvorschriften einschl. der<br />

Satzung der jeweiligen nationalen Zentralbank mit


den Vertragsvorgaben (Art. III-189 VVE) sowie der<br />

Satzung des �Europäischen Systems der Zentralbanken<br />

(ESZB) und der Europäischen Zentralbank; die<br />

nachhaltige Erfüllung der vier Konvergenzkriterien;<br />

die Ergebnisse bei der Integration der Märkte; den<br />

Stand und die Entwicklung der Leistungsbilanzen;<br />

die Entwicklung bei den Lohnstückkosten und anderePreisindizes.<br />

L. U.<br />

Literatur:<br />

Collignon, St.: Geldwertstabilität für <strong>Europa</strong>. Gütersloh 1996<br />

Deutsche Bundesbank (Hg.): Europäische Organisationen und<br />

Gremien im Bereich von Währung und Wirtschaft. Frankfurt/M.<br />

1997<br />

Europäische Kommission (Hg.): Euro 1999. Bericht über den<br />

Konvergenzstand. In: EU-Nachrichten Nr. 3 v. 25 .3. 1998<br />

Tietmeyer, H.: Die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion.<br />

Stuttgart 1992<br />

Konvergenzkriterien sind die wirtschaftlichen<br />

Voraussetzungen für den Eintritt in die Währungsunion<br />

(WU), die in Art. 121 EGV und im „Protokoll<br />

über die Konvergenzkriterien nach Art. 121 des Vertrages<br />

zur Gründung der EG“ festgelegt wurden. Der<br />

Verfassungsvertrag weist sie in Art. III-92 aus. Damit<br />

wird geprüft, ob ein hoher Grad an dauerhafter<br />

�Konvergenz erreicht ist. Maßstab hierfür ist, ob jeder<br />

Mitgliedstaat, der noch nicht der Euro-Gruppe<br />

angehört, folgende Kriterien erfüllt:<br />

1. Preisstabilität: Erreichung eines hohen Grades an<br />

Preisstabilität, ersichtlich aus einer Inflationsrate,<br />

die der Inflationsrate jener – höchstens drei – Mitgliedstaaten<br />

nahe kommt, die auf dem Gebiet der<br />

Preisstabilität das beste Ergebnis erzielt haben. Konkret:<br />

Vom Durchschnitt der drei preisstabilsten Länder<br />

darf höchstens 1,5 % abgewichen werden. Beispiel:<br />

In der Gründungsphase der Euro-Gruppe hattenimJahr1997Österreichmit1,1%,Frankreichmit<br />

1,2 % und Irland mit 1,2 % die geringsten Inflationsraten.<br />

Der Durchschnittswert betrug 1,16%, der Referenzwert<br />

aufgerundet 2,7 %.<br />

2. Öffentliche Finanzen: Eine auf Dauer tragbare Finanzlage<br />

der öffentlichen Hand, ersichtlich aus einer<br />

öffentlichen Haushaltslage ohne übermäßiges Defizit.<br />

Konkret: Das jährliche Haushaltsdefizit darf 3 %<br />

des BIP nicht überschreiten und die Gesamtschulden<br />

der öffentlichen Hand dürfen nicht mehr als 60 % des<br />

BIP ausmachen. Zu den öffentlichen Finanzen gehören<br />

die Haushalte des Zentralstaates, der regionalen<br />

und kommunalen Gebietskörperschaften sowie der<br />

Sozialversicherungseinrichtungen. Das 3 %-Kriterium<br />

ist ein Richtwert, d. h. ein Überschreiten wird to-<br />

Kooperationsabkommen<br />

leriert, wenn der Wert erheblich und laufend zurückgeht<br />

und die Nähe von 3 % erreicht oder er nur ausnahmsweise<br />

und vorübergehend überschritten wird<br />

und in der Nähe von 3 % bleibt. Gleiches gilt für das<br />

60 %-Kriterium, wo ebenfalls ein Überschreiten toleriert<br />

wird, wenn der Wert rückläufig ist.<br />

3. Wechselkurse: Einhaltung der normalen Bandbreiten<br />

des �Wechselkursmechanismus seit mindestens<br />

zwei Jahren ohne Abwertung gegenüber dem<br />

Euro.<br />

4. Zinsen: Dauerhaftigkeit der erreichten Konvergenz<br />

und Teilnahme am Wechselkursmechanismus,<br />

die im Niveau der langfristigen Zinssätze zum Ausdruck<br />

kommt. Konkret: Der durchschnittliche langfristige<br />

Nominalzinssatz darf nicht mehr als 2 Prozentpunkte<br />

über dem entsprechenden Satz in jenen<br />

drei EU-Staaten liegen, die auf dem Gebiet der Preisstabilität<br />

das beste Ergebnis erzielen. Beispiel: In der<br />

Gründungsphase der Euro-Gruppe hatten im Jahr<br />

1997 die drei preisstabilsten Länder folgende Zinssätze<br />

Österreich 5,6 %, Frankreich 5,5 % und Irland<br />

6,2 %. Der Durchschnittswert betrug damit 5,76 %,<br />

der Referenzwert aufgerundet 7,8 % für das Zinskriterium.<br />

L. U.<br />

Literatur:<br />

Europäische Kommission (Hg.): Wirtschaftliche Konvergenz<br />

in der Gemeinschaft. In: Jahreswirtschaftsbericht der EU 1993<br />

Nötig, W.: Unser Geld. Der Kampf um die Stabilität der<br />

Währungen in <strong>Europa</strong>. Berlin/Frankfurt/M. 1993<br />

Vedder,C. (Hg.): EU-Verfassung. Baden-Baden 2005<br />

Konvergenzprogramm �Stabilitäts- und Wachstumspakt<br />

Ziff. 2 b)<br />

Konzentrische Kreise �Integrationsmodelle<br />

Kooperation (Zusammenarbeit)<br />

– im zwischenstaatlichen Bereich: �intergouvernementale<br />

Zusammenarbeit;<br />

– zwischen den EU-Organen: �Gesetzgebungsverfahren(KooperationsverfahrennachArt.252EGV);<br />

– mit Drittstaaten: Kooperationsabkommen (�Völkerrechtliche<br />

Verträge).<br />

Kooperationsabkommen. Die EG hat mit einer<br />

Reihe von Drittstaaten bilaterale und mit regionalen<br />

Zusammenschlüssen mulilaterale Kooperationsabkommen<br />

geschlossen. Rechtsgrundlage dafür ist nebenArt.133EGVinsbes.Art.300EGV.DieAbkommen<br />

enthalten in unterschiedlichem Maße neben<br />

483


Kooperationsverhältnis BVerfG – EuGH<br />

handelspolitischen Vereinbarungen auch Zusagen<br />

überZusammenarbeitinanderenBereichen,z.B.der<br />

Forschung und Entwicklung, der Industriepolitik,<br />

der allgemeinen Wirtschaftspolitik, der Kultur. In<br />

vielen Fällen sind die Kooperationsabkommen mehr<br />

dem Bereich der �Entwicklungspolitik als dem der<br />

�Handelspolitik zuzuordnen; sie können neben dem<br />

eigentlichen Vertrag ein zusätzliches Finanzprotokoll<br />

enthalten, das ohne Vertragsänderung von Zeit<br />

zu Zeit angepasst werden kann.<br />

Sind mit einem Kooperationsabkommen erhebliche<br />

finanzielle Folgen für die EG verbunden oder wird<br />

durch das Abkommen ein besonderer institutioneller<br />

Rahmen geschaffen (z. B. regelmäßige Treffen von<br />

Parlamentariern), muss das Europäische Parlament<br />

ihm zustimmen, in den übrigen Fällen wird das<br />

Parlament gehört. Entstehen durch ein Kooperationsabkommen<br />

besondere Verpflichtungen für die<br />

MitgliedstaatenoderwirddurchdasAbkommenihre<br />

Eigenschaft als Völkerrechtssubjekt berührt, wird es<br />

inderRegelals�gemischtesAbkommenverabschiedet.<br />

Bestehen Zweifel, ob ein Abkommen mit dem<br />

EG-Vertrag vereinbar ist, können die gesetzgebenden<br />

Organe der Europäischen Union und die Mitgliedstaaten<br />

ein Gutachten beim EuGH einholen, das<br />

verbindlich ist.<br />

Bilaterale Kooperationsabkommen bzw. Partnerschafts-<br />

und Kooperationsabkommen hat die Europäische<br />

Gemeinschaft u. a. abgeschlossen mit Russland<br />

(ABl. L 327/1997), der Ukraine (ABl. L 49/<br />

1998), den Maghreb-Staaten, Brasilien, Argentinien,<br />

Chile, Mexiko, Uruguay, Südafrika, China, Indien,<br />

Sri Lanka, Pakistan, Bangladesh; multilaterale<br />

Abkommen bestehen u. a. mit den Andenpaktstaaten<br />

und den ASEAN-Staaten.<br />

�Außenhandelspolitik, �Entwicklungspolitik,<br />

�Völkerrechtliche Verträge<br />

Kooperationsverhältnis BVerfG – EuGH.<br />

Im �Maastricht-Urteil vom 12. 10. 1993 hatte das<br />

Bundesverfassungsgericht (BVerfG) im Anschluss<br />

an den �„Solange-II“-Beschluss bezüglich des<br />

Grundrechtsschutzes ausgeführt, es sichere durch<br />

seine Zuständigkeiten auch gegenüber dem Gemeinschaftsrecht<br />

den Wesensgehalt der deutschen<br />

Grundrechte. Allerdings übe es seine diesbezügliche<br />

Gerichtsbarkeit in einem „Kooperationsverhältnis“<br />

zum EuGH aus, „in dem der EuGH den Grundrechtsschutz<br />

in jedem Einzelfall für das gesamte Gebiet der<br />

484<br />

(...) Gemeinschaften garantiert, das BVerfG sich<br />

deshalb auf eine generelle Gewährleistung des unabdingbaren<br />

Grundrechtsstandards beschränken<br />

kann“.<br />

Ein solches „Kooperationsverhältnis“ ist allerdings<br />

nirgendwo geregelt. Vielmehr kann nur von einem<br />

Verhältnis der „Koexistenz“ zwischen den beiden<br />

Gerichten gesprochen werden. Streitig war darum in<br />

Folge, ob das BVerfG nunmehr ein Prüfungsrecht in<br />

jedem Einzelfall beanspruchen kann bzw. wer hier<br />

„das letzte Wort“ hat. Aus der völkerrechtlichen Perspektive<br />

des damaligen BVerfG-Richters Kirchhof<br />

ist der Geltungsgrund des Gemeinschaftsrechts in<br />

Deutschland allein das deutsche Zustimmungsgesetz<br />

zu den europäischen Verträgen, das den innerstaatlichen<br />

Rechtsanwendungsbefehl erteilt. Das<br />

deutsche Zustimmungsgesetz sei mithin „die alleinige<br />

Brücke“, über die Gemeinschaftsrecht rechtsverbindlich<br />

„nach Deutschland fließe“; was diese Brücke<br />

„nicht trage“, gewinne in Deutschland keine<br />

Rechtsverbindlichkeit. Aus der europarechtlichen<br />

Perspektive des ehemaligen EuGH-Richters Hirsch<br />

dagegen legt derjenige „die Axt an die Wurzel der<br />

Gemeinschaftsrechtsidee“, der das letzte Wort über<br />

die innerstaatliche Anwendbarkeit von Gemeinschaftsrecht<br />

nationalen Gerichten vorbehalten will.<br />

Über das �Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung<br />

und der �Subsidiarität dürfe kein „Konfrontationsverhältnis“<br />

konstruiert werden. Im „Brückenhäuschen“<br />

hätten nationale Gerichte und vielleicht<br />

auch noch das Heer der nationalen Beamten keinen<br />

Platz. Die authentische Interpretation des Gemeinschaftsrechts<br />

obliege nach den Verträgen vorbehaltlos<br />

dem EuGH. Nur inhaltlich finde eine Kooperation<br />

statt bei der gemeinsamen Aufgabe, das Recht zu<br />

wahren. Aus Gründen der Rechtseinheit in der europäischen<br />

Rechtsgemeinschaft könne nur der EuGH<br />

bezüglich der Gültigkeit europäischen Rechts das<br />

letzte Wort haben. Im �Bananenmarktordnung-<br />

Beschluss vom 7. 6. 2000 ist das BVerfG im WesentlichenaufdieseLinieeingeschwenkt.<br />

J. M. B.<br />

Koordinierungsausschuss �Ausschuss Hoher<br />

Beamter<br />

Kopenhagener Bericht �Luxemburger Bericht<br />

Ziff. 1<br />

Kopenhagen-Kriterien �Beitrittskriterien


Kopenhagen-Prozess, Kopenhagener Erklärung<br />

(auch Brügge-Kopenhagen-Prozess)<br />

Begriff: Am 30. 11. 2002 von 30 Ländern und der Europäischen<br />

Kommission in Kopenhagen unterzeichnete<br />

intergouvernementale (Bemühens-)Erklärung<br />

zur verstärkten europäischen Zusammenarbeit in der<br />

beruflichen Bildung (Kopenhagen-Prozess). Die Erklärung<br />

ist auf den Europäischen Rat in Lissabon<br />

vom 22./23. 3. 2000 (�Lissabon-Strategie) zurückzuführen<br />

und ist eine Parallele zum �Bologna-<br />

Prozess.<br />

Hintergrund und Zielsetzung: Der im Rahmen der<br />

Lissabon-Strategie dem Europäischen Rat auf seiner<br />

Frühjahrstagung in Brüssel am 23./24. 3. 2001 vorgelegte<br />

Bericht der Kommission vom 31. 1. 2001<br />

über „die konkreten künftigen Ziele der Bildungssysteme“<br />

(KOM/2001/059) enthielt Vorschläge für<br />

die Bereiche der allgemeinen und beruflichen Bildung<br />

und des lebenslangen Lernens. Damit sich <strong>Europa</strong><br />

zu einem „offenen, europäischen Raum des lebenslangen<br />

Lernens“ entwickeln kann, ist während<br />

einer Sitzung der Generaldirektoren für Berufsbildung<br />

im Oktober 2001 in Brügge die Notwendigkeit<br />

eines (zum Bologna-Prozess) „parallelen, jedoch<br />

nichtidentischenKooperationsprozessesimBereich<br />

der Berufsbildung“ unterstrichen worden. Der Europäische<br />

Rat hat am 15./16. 3. 2002 in Barcelona zu<br />

„entsprechenden Maßnahmen“ aufgefordert. Auf einer<br />

von der Kommission am 10./11. 6. 2002 ausgerichteten<br />

Konferenz, an der Vertreter aus 29 europäischen<br />

Ländern (EU-Mitgliedstaaten, Beitrittskandidaten<br />

und EWR-Länder) und Vertreter der Sozialpartner<br />

teilnahmen, wurde die Zusammenarbeit insbes.<br />

für die Problemfelder Transparenz, Anerkennung<br />

und Qualität im Einzelnen festgelegt. Es wurde<br />

vereinbart, nationale Referenzstellen als Informationszentren<br />

zu Fragen über berufliche Qualifikationen<br />

einzurichten (in Deutschland das Bundesinstitut<br />

für Berufliche Bildung BIBB, für die EU das �Europäische<br />

Zentrum für die Förderung der Berufsbildung<br />

CEDEFOP). Weitere Instrumente des Kopenhagen-Prozesses<br />

sind der �„<strong>Europa</strong>ss Berufsbildung“,<br />

der „europäische Lebenslauf“, das „CertificateSupplement“unddieErarbeitungeinesÜbertragungssystemsnachdemMusterdes<br />

�CreditTransfer<br />

Systems. Die Bildungsminister fassten am 12. 11.<br />

2002 eine Entschließung (förmlich am 19. 12. 2002)<br />

„zur Förderung einer verstärkten europäischen Zusammenarbeit<br />

bei der beruflichen Bildung“ (ABl. C<br />

Kopenhagen-Prozess<br />

13 vom 18. 1. 2003), in der folgenden Problemfeldern<br />

Vorrang eingeräumt wurde: Europäische Dimension,<br />

Transparenz, Information und Orientierung,<br />

Anerkennung von Fähigkeiten und Qualifikationen,Qualitätssicherung.DieseBeschlüssefanden<br />

Eingang in die „Kopenhagener Erklärung“, die am<br />

30. 11. 2002 in Kopenhagen auf einer von der dänischen<br />

Präsidentschaft ausgerichteten Tagung von 30<br />

Ländern beschlossen wurde.<br />

Die Kopenhagener Erklärung, mit der der Kopenhagen-Prozess<br />

beginnt, unterzeichneten Ministerinnen<br />

und Minister aus allen 15 EU-Staaten, den 10 Beitrittsstaaten,<br />

den EWR-Staaten Island und Norwegen,<br />

den Beitrittskandidaten Bulgarien, Rumänien<br />

und Türkei sowie die Europäische Kommission.<br />

Die Erklärung wurde unterstützt von folgenden Sozialpartnern:<br />

Das European Center of Enterprises<br />

with Public Participation and of Enterprises of General<br />

Economic Interest (�CEEP), die Union of Industrial<br />

and Employers Confederations of Europe<br />

(�UNICE) und die European Trade Union Confederation<br />

(�ETUC). Als Beobachter waren anwesend:<br />

CEDEFOP, die European Training Foundation<br />

(ETF), das Europäische Parlament und das Generalsekretariat<br />

des <strong>Europa</strong>rats.<br />

Erste Ergebnisse des Kopenhagen-Prozesses fasste<br />

der von der Kommission am 11. 11. 2003 vorgelegte<br />

und vom Bildungsministerrat in geänderter Form am<br />

26. 2. 2004 angenommene gemeinsame Zwischenbericht<br />

„Allgemeine und berufliche Bildung 2010“<br />

zusammen (KOM/2003/685). Er verweist auf die<br />

Rolle des Kopenhagen-Prozesses bei der Förderung<br />

von Reformen, der Unterstützung von lebenslangem<br />

Lernen und beim Aufbau von Vertrauen zwischen<br />

den wichtigsten Akteuren und zwischen den Ländern.<br />

Nachfolgekonferenz von Maastricht 2004: Die Unterzeichner<br />

der Kopenhagener Erklärung und Kroatien<br />

beschlossen am 14. 12. 2004 in dem „Kommuniqué<br />

von Maastricht ,Stärkung der europäischen Zusammenarbeit<br />

im Bereich der beruflichen Bildung’“<br />

13 künftige Prioritäten für die verstärkte Europäische<br />

Zusammenarbeit in der Berufsbildung (FortschreibungderKopenhagenerErklärungvom30.11.<br />

2002):<br />

Auf nationaler Ebene: Stärkung des Beitrags der Berufsbildungssysteme,<br />

von Institutionen und Unternehmen<br />

sowie der Sozialpartner zur Erreichung der<br />

Lissabonziele.<br />

485


Korruptionsbekämpfung<br />

Auf europäischer Ebene: Mehr Transparenz, Qualität<br />

und gegenseitiges Vertrauen als Voraussetzung<br />

für einen echten europäischen Arbeitsmarkt.<br />

Zur Umsetzung des Kopenhagen-Prozesses werden<br />

„alle Akteurinnen und Akteure im Bereich der Berufsbildung<br />

– Anbieter/innen, Arbeitgeber/innen,<br />

Gewerkschaften, Sektororganisationen, Kammern<br />

für Handel, Industrie und Gewerbe, Arbeitsverwaltungen,<br />

regionale Einrichtungen und Netzwerke<br />

etc.“ zur Mitarbeit aufgerufen. Der Beratende Ausschuss<br />

für Berufsbildung wird umfassend in die Umsetzung<br />

und das Follow-up einbezogen.<br />

Für einen Europäischen Qualifikationsrahmen und<br />

ein Europäisches Anrechnungssystem für die Berufsbildung<br />

sollen Vorschläge ausgearbeitet und geprüft<br />

werden.<br />

SowohlaufnationaleralsauchaufeuropäischerEbene<br />

soll ein kohärenter Ansatz entwickelt und in folgenden<br />

Bereichen die Zusammenarbeit vertieft werden:<br />

– Hochschulbereich, einschl. der Weiterentwicklung<br />

des Bologna-Prozesses;<br />

– Europäische Politik in den Bereichen Wirtschaft,<br />

Beschäftigung, nachhaltige Entwicklung und sozialerZusammenhalt(LeitlinienundnationaleAktionspläne);<br />

– Instrumente und Finanzmittel zur Vorbereitung<br />

auf den Beitritt;<br />

– Vernetzung und Austausch von Innovationen und<br />

erfolgreichen Beispielen zwischen Forschung, Praxis<br />

und Politik.<br />

Besondere Bedeutung wird der Strategie für lebenslanges<br />

Lernen zugemessen.<br />

Das nächste Ministertreffen zur Evaluierung der<br />

Umsetzung und zur Überprüfung der Prioritäten und<br />

Strategien für die Berufsbildung im Rahmen des Arbeitsprogramms<br />

„Allgemeine und berufliche Bildung<br />

2010“ soll 2006 stattfinden.<br />

Rechtliche Würdigung: Beim Kopenhagen-Prozess<br />

handelt es sich um ein Bündel von Initiativen, die<br />

teils innerhalb des Vertrages (<strong>Europa</strong>ss, Qualitätssicherung)<br />

bzw. in der �gemischten Formel (Ermittlung<br />

und Validierung von Lernprozessen, Prioritäten,<br />

Lebenslanges Lernen) teils in unverbindlicher<br />

Form (Beteiligung nicht staatlicher Organisationen)<br />

erfolgen.<br />

ZurRechtswirkung�Bologna-Prozess I. H.<br />

Internet: http://europa.eu.int/comm/education/copenhagen/index_de.html<br />

486<br />

Korruptionsbekämpfung. Ins Blickfeld der Öffentlichkeit<br />

rückte das Thema Korruption auf EU-<br />

EbeneverstärktEndeder1990erJahrewegeneiniger<br />

Skandale innerhalb der EU-Institutionen, die 1999<br />

zum Rücktritt der Kommission Santer führten. DanachrichtetensichdieBefürchtungenimVorfeldder<br />

EU-Osterweiterung 2004 zusätzlich auf Korruptionsrisiken<br />

innerhalb der damaligen Kandidatenstaaten.<br />

Betrieben wird Korruptionsbekämpfung auf<br />

EU-Ebene auf dreierlei Grundlagen:<br />

1) Im Rahmen der polizeilichen und justitiellen Zusammenarbeit(derzeitdiesog.„dritteSäule“;�Tempelstruktur)<br />

schafft Art. 29 EUV die Basis für ein gemeinsames<br />

Vorgehen bei der Verhütung und BekämpfungvonBestechungundBestechlichkeit.Entsprechend<br />

wurden auch die Mandate von �Europol<br />

und �Eurojust ausgestaltet.<br />

2) Im Bereich des Gemeinschaftsrechts fällt Korruptionsbekämpfung<br />

als Maßnahme zum Schutz der finanziellen<br />

Interessen der EU unter die Kompetenzgrundlage<br />

des Art. 280 EUV. Korruptionsbekämpfung<br />

wird insofern als Unterfall der �Betrugsbekämpfung<br />

behandelt, für die das Europäische Amt<br />

für Betrugsbekämpfung (�OLAF) eingerichtet wurde.<br />

Für die Bekämpfung von Korruption in der Privatwirtschaft<br />

und im innerstaatlichen Bereich der<br />

Mitgliedstaaten besteht keine Rechtsgrundlage im<br />

Gemeinschaftsrecht, solange EU-Finanzinteressen<br />

nicht betroffen sind.<br />

3) Bei EU-Beitrittsverhandlungen hingegen sind tiefe<br />

Eingriffe in den nationalen Rechtsbereich der<br />

Kandidatenländer möglich, wie sich bei der Vorbereitung<br />

der EU-Erweiterung um zehn neue Mitgliedstaaten<br />

für 2004 zeigte. Ausreichende gesetzliche<br />

und tatsächliche Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung<br />

innerhalb der beitrittswilligen Länder<br />

wurden bei dieser Erweiterungsrunde erstmals zum<br />

BeitrittskriteriumundwareneinwichtigerPrüfungsgegenstand<br />

der jährlichen Fortschrittsberichte der<br />

Kommission. Dieser Ansatz wird im Verhältnis zu<br />

den Kandidatenländern Rumänien, Bulgarien, Türkei<br />

und Kroatien entsprechend weiter verfolgt.<br />

J. W.<br />

Kreditverbot der EZB �EZB<br />

Kriminalitätsbekämpfung. Die �vier Freiheiten<br />

des Binnenmarktes sowie unterschiedliche Rechtsvorschriften<br />

der EU-Staaten erleichtern der organisierten<br />

Kriminalität das Eindringen in die Gesell-


schaft. Ein erstes Aktionsprogramm zur Bekämpfung<br />

der organisierten Kriminalität hat der Europäische<br />

Rat im Juni 1997 verabschiedet. Der Vertrag<br />

von Amsterdam ermöglichte ab 1999 ein verbessertes<br />

abgestimmtes Vorgehen der EU-Staaten, der Organe<br />

sowie von �Europol und �Eurojust, um den<br />

Aufbau des �Raums der Freiheit, der Sicherheit und<br />

des Rechts zu verwirklichen.<br />

Der Rat hat nach Aufforderung des Europäischen<br />

Rats in Tampere/Finnland (Oktober 1999) eine<br />

„Strategie zur Prävention und Bekämpfung der organisierten<br />

Kriminalität“ verabschiedet (ABl. C 124/<br />

2000). Sie besteht aus politischen Leitlinien und einer<br />

Reihe von Empfehlungen. Ziele der Initiativen<br />

sind u. a.:<br />

– Sammlung und Analyse von Daten,<br />

– Verbesserung der Rechtsvorschriften auf nationaler<br />

Ebene,<br />

– Verbesserung der Ermittlungsarbeit,<br />

– Ausbau der Rolle von Europol,<br />

– Verstärkte Zusammenarbeit der Strafverfolgungs-<br />

und Justizbehörden der Mitgliedstaaten,<br />

– Verstärkte Zusammenarbeit mit Drittstaaten und<br />

internationalen Organisationen.<br />

Eine multidisziplinäre Gruppe „Organisierte Kriminalität“berichtetdemRatunddemEuropäischenRat<br />

regelmäßig über den Stand der Durchführung der<br />

Strategie. Spätestens Mitte 2005 wird die Kommission<br />

einen Gesamtbericht vorlegen, auf dessen Basis<br />

der Europäische Rat neue Leitlinien verabschieden<br />

will.<br />

Kriminalitätsprävention, Europäisches Netz für<br />

Kriminalprävention (EUPCN). Auf Beschluss des<br />

Rats vom Mai 2001 (2001/427/JI, ABl. L 153/2001)<br />

wurdedasEUPCNeingerichtet,dasüber1bis3Kontaktstellen<br />

je Mitgliedstaat verfügt. In Deutschland<br />

sind dies das Innen- und das Justizministerium sowie<br />

das Deutsche Forum für Kriminalprävention.<br />

Das Netz dient der Information über und der Weiterentwicklung<br />

von Methoden der Verbrechensvorbeugung,<br />

insbes. in den Bereichen Jugendkriminalität,<br />

Drogenkriminalität und Kriminalität in Städten. Das<br />

Netz sammelt und analysiert einschlägige Daten.<br />

�Hippokrates<br />

Krisenmanagement, ziviles. Bezeichnung für die<br />

nichtmilitärischen Aspekte der �Europäischen Sicherheits-<br />

und Verteidigungspolitik (ESVP).<br />

Kultur 2000<br />

Krisenreaktionstruppe, europäische. Im Rahmen<br />

der Europäischen �Sicherheits- und Verteidigungspolitik<br />

(ESVP) baut die EU derzeit gewissermaßen<br />

als ihre „militärische Faust“ die sog. Europäische<br />

Krisenreaktionstruppe auf. Demnächst soll der<br />

EU so mit Hilfe von Soldaten der Mitgliedstaaten der<br />

Zugang zu einer operativen Kapazität eröffnet werden.<br />

Geplant sind schnell verfügbare Landstreitkräfte<br />

im Umfang von etwa 60 000 Soldaten sowie entsprechende<br />

Luft- und Seestreitkräfte (ca. 400 Flugzeuge<br />

und 100 Schiffe), die innerhalb von 60 Tagen<br />

in ein Krisengebiet verlegbar sind und die – unter<br />

Führung des EU-Militärausschusses – auch anspruchsvolle<br />

Krisenmanagement-Operationen mindestens<br />

ein Jahr lang durchhalten können. Insgesamt<br />

ist an einen Umfang von 150 000 bis 180 000 Soldaten<br />

gedacht, an dem Deutschland mit allen Teilstreitkräften<br />

mit etwa 20 % beteiligt sein soll. Bereits vorhandeneEinheitensollenumgeschultundneuausgerüstet<br />

werden. Allerdings soll die kollektive Verteidigung<br />

weiter Sache der NATO bleiben. Die EU will<br />

künftig(nur)imStandesein,Krisennotfallsauchmilitärisch<br />

zu bewältigen; bei Bedarf in Eigenregie und<br />

mit eigenen Mitteln, falls die NATO die ihrigen nicht<br />

hergeben will oder kann. Bemerkenswert ist insoweit,<br />

dass im Konzept der Europäischen Krisenreaktionstruppe<br />

für Interventionen weder eine geographische<br />

Grenze gezogen worden ist noch ein Mandat<br />

desSicherheitsratsverlangtwird. J. M. B.<br />

Kultur 2000. Erstes Rahmenprogramm der EU zur<br />

Kulturförderung (Entscheidung 508/2000 des EP<br />

und des Rates vom 14. 2. 2000) für die Zeit vom 1. 1.<br />

2000bis31.12.2006,Budget236,5Mio.Euro.Esersetzt<br />

die früheren Programme �Raphael, �Kaleidoskop<br />

und �Ariane. Mit der Durchführung des Programms<br />

ist die Kommission beauftragt, die von einem<br />

Ausschuss mit beratender Funktion unterstützt<br />

wird. Beteiligt sind alle EU-Staaten, die EWR-StaatenunddieBeitrittsländerBulgarienundRumänien.<br />

Kultur 2000 dient der Schaffung eines gemeinsamen<br />

KulturraumsderEuropäer.Esfördertdenkulturellen<br />

Dialog, die Kenntnis der Geschichte und des europäischen<br />

Kulturerbes sowie der wirtschaftlichen und<br />

sozialen Bedeutung der Kultur, den Austausch von<br />

Künstlern und ihrer Werke, die Entstehung neuer<br />

Formen kulturellen Ausdrucks, die Schaffung und<br />

Verbreitung neuer kultureller Werke und unterstützt<br />

dietransnationaleZusammenarbeitzwischenKünst-<br />

487


Kultur 2007<br />

lern und Kulturinstitutionen. Der Begriff Kultur umfasst<br />

dabei auch die volkstümliche Kultur, die Alltagskultur<br />

und die industrielle Massenkultur.<br />

Von den Finanzmitteln dienen<br />

– höchstens 45 % der Förderung spezieller innovativer<br />

und/oder experimenteller Maßnahmen, an denen<br />

mindestens drei Länder beteiligt sind und die neue<br />

Formen kulturellen Ausdrucks zeigen, den Zugang<br />

zur Kultur verbessern, insbesondere für Jugendliche<br />

und für benachteiligte Bevölkerungsgruppen, sowie<br />

der Live-Übertragung von kulturellen Veranstaltungen;<br />

– mindestens 35 % für integrierte Maßnahmen im<br />

Rahmen von mehrjährigen Abkommen über kulturelle<br />

Zusammenarbeit zwischen mindestens fünf<br />

Ländern; die Aktionen sollen einen Kulturbereich<br />

vertiefen oder mehrere Kulturbereiche miteinander<br />

verknüpfen und ein vorher festgelegtes Ziel von kulturellem<br />

Belang erreichen;<br />

– 10%fürbesonderekulturelleVeranstaltungenvon<br />

herausragender Bedeutung mit europäischer Ausstrahlung(Beispiel:EuropäischeKulturhauptstadt);<br />

– 10 % für sonstige Ausgaben.<br />

Jedes Jahr werden Akteure des Kulturbetriebs aufgefordert,<br />

Vorschläge für Projekte einzureichen<br />

Kultur2007.UnterdiesemTitelhatdieKommission<br />

am14.7.2004VorschlägefürEU-Programmeinden<br />

Bereichen allgemeine und berufliche Bildung, Kultur,<br />

Jugend und audiovisueller Sektor vorgelegt. Die<br />

VorschlägemüssenvonRatundEPbewilligtwerden<br />

(Zeitplan: Ende 2005). Laufzeit der neuen Programme:<br />

2007 – 2013.<br />

Vorgeschlagen werden vier Programme:<br />

– Integriertes Aktionsprogramm im Bereich des lebenslangen<br />

Lernens. Die bestehenden Programme<br />

Comenius (Schulen), Erasmus (Hochschulen), Leonardo<br />

da Vinci (Berufsausbildung) und Grundtvig<br />

(Erwachsenenbildung) sollen durch ein neues Querschnittsprogramm<br />

„Jean Monnet“ mit Schwerpunkt<br />

europäische Integration ergänzt werden. Budgetvorschlag:<br />

13,62 Mrd. Euro.<br />

– Jugend in Aktion soll ein Budget von 915 Mio.<br />

Euro erhalten.<br />

– Kultur 2007 soll die Programme von Kultur 2000<br />

fortführen. Budgetvorschlag 408 Mio. Euro.<br />

– MEDIA 2007 soll die bestehenden Programme<br />

MEDIAPlusundMEDIAFortbildungweiterführen.<br />

Finanzrahmen: 1,055 Mrd. Euro.<br />

488<br />

Kulturkonvention�EuropäischeKulturkonvention<br />

Kulturpolitik. Die Formierung des Bürgers in <strong>Europa</strong><br />

mit europäischem Bewusstsein ist ohne die europäische<br />

Kultur („Abendland“) ausgeschlossen. Ihre<br />

gemeinsamen Wurzeln liegen in der griechischen<br />

Philosophie, im römischen Rechts- und Staatsdenken<br />

(Ideen der Gerechtigkeit, Legitimität, Rechtsstaatlichkeit),inderjüdischenundchristlichenGlaubensüberlieferung,<br />

im Humanismus und in der Aufklärung,<br />

in der neuzeitlichen Verfassungsentwicklung<br />

u. dgl. Ein <strong>Europa</strong> der Wirtschaft und der Politik<br />

reicht nicht aus. Die kulturelle Vielfalt der europäischen<br />

Völker und Regionen muss als Wert erfahren<br />

werden.<br />

1. Begriff und Zielsetzungen: Nach dem Rahmenprogramm<br />

1988–1992 der Europäischen Kommission<br />

(„Neue Impulse für die Aktion der Europäischen Gemeinschaft<br />

im kulturellen Bereich“) bedeutet die<br />

„kulturelleDimension“die„Teilnahmeaneinemauf<br />

Demokratie,GerechtigkeitundFreiheitgegründeten<br />

pluralistischen Humanismus“. Sie soll stärker in die<br />

Definition und Anwendung der Gemeinschaftspolitikeinbezogenwerden.KultursollRisiken,diedurch<br />

Wirtschaft und Technologie entstehen, abmildern<br />

und bewältigen helfen; ferner wird das Gefühl der<br />

Zugehörigkeit zur europäischen Kultur als Voraussetzung<br />

für die Solidarität der „europäischen Bürger“<br />

in der Gemeinschaft betrachtet.<br />

Das Programm (Mitteilung der Kommission an den<br />

Rat 87/603/EWG) beschreibt fünf Bereiche:<br />

– Schaffung eines europäischen Kulturraums, der<br />

darin besteht, „im Hinblick auf die Verwirklichung<br />

des großräumigen Binnenmarktes ... vorrangig den<br />

freien Verkehr von Kulturgütern und kulturellen<br />

Dienstleistungen ... zu gewähren“;<br />

– Förderung der europäischen audiovisuellen Industrie;<br />

– Zugang zu den kulturellen Ressourcen durch „Verbesserung<br />

der Sprachkenntnisse der europäischen<br />

Bürger durch Förderung der Mehrsprachigkeit, Unterstützung<br />

der Kulturförderung in den europäischen<br />

Regionen“ (u. a. Erhaltung des architektonischen Erbes,<br />

Kulturausweis für Jugendliche);<br />

– kulturelle Aus- und Weiterbildung;<br />

– kultureller Dialog mit der übrigen Welt.<br />

Dazu sollen – neben den Organen der Europäischen<br />

Union – die folgenden Einrichtungen einen Beitrag<br />

leisten: das �Europäische Hochschulinstitut in Flo-


enz, das �<strong>Europa</strong>-Kolleg in Brügge, die �Europäische<br />

Kulturstiftung in Amsterdam, das �Europäische<br />

Institut für öffentliche Verwaltung in Maastricht,<br />

das �Europäische Zentrum für die Förderung<br />

der Berufsbildung (CEDEFOP) in Thessaloniki, die<br />

�<strong>Europa</strong>-Schulen, das �Jugendforum der EG/EU;<br />

ferner ist seit 1985 die jährliche Nominierung einer<br />

�„Europäischen Kulturhauptstadt“ zu nennen. Außerdem<br />

werden vergeben: ein Europäischer Literaturpreis<br />

und ein Europäischer Übersetzungspreis<br />

u. dgl. Diese (teilweise realisierten) Maßnahmen<br />

werden als wesentlich für das Heranwachsen eines<br />

europäischen Bürgersinns erachtet, der sich in seiner<br />

ausgereiften Form als �„europäische Identität“ darstellen<br />

soll.<br />

Die praktische Folge besteht in einem �interkulturellen<br />

Lernen, das sich u. a. auf die Andersartigkeit<br />

fremder Kulturen und Menschen bezieht, das Kultur<br />

und Bildung generell unter übernationalen Aspekten<br />

betrachtetunddiesealseineErweiterungdereigenen<br />

(Erkenntnis-, Erfahrungs- usw.) Möglichkeiten ansieht.<br />

Dies reicht bis in die Perspektivität und Begrifflichkeit<br />

der Sprache(n) hinein. So wird man sich<br />

bspw. fragen müssen: Wie sieht ein Ausländer die<br />

Deutschen,wasbedeutenihmWörterwieParlament,<br />

Souveränität,europäischePolitischeUnionu.dgl.?<br />

2. Vertragliche Grundlagen: Bei Fragen der Kulturpolitik<br />

auf europäischer Ebene stellt sich schließlich<br />

für die Bundesrepublik Deutschland, als dem einzigen<br />

föderalistischen Staat neben Österreich und Belgien<br />

in der EU, das Problem, inwieweit die grundsätzlich<br />

verankerte Kulturhoheit der Bundesländer<br />

betroffenist,d.h.dieLänderzustimmungsberechtigt<br />

sind (vgl. Positionspapier der KMK zur Bildungsund<br />

Kulturpolitik vom 24. 4. 1989).<br />

Seit 1984 tagen die EG/EU-Kulturminister zweimal<br />

jährlich informell, d. h. ohne explizite Kompetenzen<br />

aus dem EG-Vertrag. Aufgrund der (bis 1992, s. u.)<br />

fehlenden Gemeinschaftskompetenz im kulturellen<br />

Bereich wurden Beschlüsse in rein zwischenstaatlicher<br />

(= völkerrechtlicher) Rechtsform oder mit Hilfe<br />

der sog. �„gemischten Formel“ verabschiedet.<br />

Für den Kulturbereich ist in der Europäischen Kommission<br />

– GD Bildung und Kultur, GD Informationsgesellschaft<br />

und Medien – eine Arbeitseinheit, die<br />

sog. „action culturelle“, zuständig.<br />

Die „Feierliche Deklaration zur Europäischen<br />

Union“ 1983 enthält in ihrem Abschnitt über die kulturelle<br />

Zusammenarbeit (3.3) die Forderung nach<br />

Kulturpolitik<br />

– „Intensivierung des Erfahrungsaustauschs, insbes.<br />

unter der Jugend, und den Ausbau des Unterrichts in<br />

denSprachenderMitgliedstaatenderGemeinschaft;<br />

– Verbesserung der Kenntnis über die anderen Mitgliedstaaten<br />

der Gemeinschaft und eine bessere Unterrichtung<br />

über die Geschichte und Kultur <strong>Europa</strong>s<br />

im Hinblick auf die Förderung eines europäischen<br />

Bewusstseins“.<br />

Neben den notwendigen landeskundlichen Kenntnissen<br />

wird hier das <strong>Europa</strong>bewusstsein (unpolitisch)alskulturell-historischeDimensionpostuliert.<br />

Als Einzelprojekte im Rahmen der kulturellen Zusammenarbeit<br />

der EG-Mitgliedstaaten ragen heraus:<br />

die Entschließungen vom 24. 7. 1984 über die Bekämpfung<br />

der widerrechtlichen Verwertung audiovisuellen<br />

Materials; vom 13. 6. 1985 über die alljährliche<br />

Benennung einer „Kulturhauptstadt <strong>Europa</strong>s“;<br />

vom 27. 9. 1985 über die Zusammenarbeit zwischen<br />

denBibliothekenimBereichderInformatik;vom18.<br />

5. 1989 über die Förderung des Buches und der Lektüre<br />

(u. a. europäischer Literatur-, Übersetzerpreis,<br />

Statistik für den Buchsektor); die Schlussfolgerungen<br />

vom 19. 11. 1990 über die Berufsbildung im kulturellen<br />

Bereich (Restauratoren/Denkmalpfleger,<br />

Übersetzer);derBeschlussvom21.12.1990überdie<br />

Durchführung eines Aktionsprogramms zur Förderung<br />

der Entwicklung der europäischen audiovisuellen<br />

Industrie (MEDIA 1991–1995); die Entschließungen<br />

vom 7. 6. 1991 über die Ausbildung von Verwaltungsfachleuten<br />

im kulturellen Bereich; vom<br />

7.6.1991überdieEntwicklungdesTheatersin<strong>Europa</strong>.<br />

Die Kommission hat diese (informellen) Entschließungen<br />

und Beschlüsse ergänzt durch ein Dokument<br />

„Neue Impulse für die Aktion der EG im kulturellen<br />

Bereich“ (s. o.).<br />

3. Die neue vertragsrechtliche Regelung der Kulturpolitik:<br />

Im revidierten EG-Vertrag (Maastricht) von<br />

1992 wird die Kulturpolitik erstmals als Kompetenzbereich<br />

der EU anerkannt und zu einer genuinen vertraglichen<br />

Aufgabe gemacht (Titel XII). Artikel 151<br />

lautet:<br />

„(1) Die Gemeinschaft leistet einen Beitrag zur Entfaltung<br />

der Kulturen der Mitgliedstaaten unter Wahrung<br />

ihrer nationalen und regionalen Vielfalt sowie<br />

gleichzeitiger Hervorhebung des gemeinsamen kulturellen<br />

Erbes.<br />

(2) Die Gemeinschaft fördert durch ihre Tätigkeit die<br />

Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und<br />

489


Kulturstadt <strong>Europa</strong>s<br />

unterstützt und ergänzt erforderlichenfalls deren Tätigkeit<br />

in folgenden Bereichen:<br />

– Verbesserung der Kenntnis und Verbreitung der<br />

Kultur und Geschichte der europäischen Völker,<br />

– Erhaltung und Schutz des kulturellen Erbes von<br />

europäischer Bedeutung,<br />

– nichtkommerzieller Kulturaustausch,<br />

– künstlerisches und literarisches Schaffen, einschließlich<br />

im audiovisuellen Bereich ...“.<br />

In den Angelegenheiten des (durch den Vertrag über<br />

die EU aufgewerteten) Rates der Kulturminister verabschiedet<br />

dieser „einstimmig auf Vorschlag der<br />

Kommission Empfehlungen“ (Art. 151 Abs. 5, 2.<br />

Spiegelstr.). Die EU betreibt demnach keine eigene<br />

Kulturpolitik und tritt nur subsidiär ein (�Subsidiarität).<br />

So bleiben die regionale Verwurzelung der Kultur<br />

und die nationale Identität der EU-Staaten erhalten<br />

(Art. 6 EUV). Neu ist allerdings die Kulturverträglichkeitsklausel,<br />

wonach die kulturpolitischen<br />

490<br />

Auswirkungen bei allen EU-Initiativen zu berücksichtigen<br />

sind sowie die kulturelle Zusammenarbeit<br />

der EU mit Drittländern, einschl. <strong>Europa</strong>rat und internationalenOrganisationen.<br />

W. M.<br />

Anschrift: Deutsches Komitee für kulturelle Zusammenarbeit<br />

in <strong>Europa</strong>. c/o Deutsch-Französisches Institut, Asperger Straße<br />

34, 71634 Ludwigsburg<br />

Literatur:<br />

Rat der Europäischen Union, Generalsekretariat (Hg.): Texte<br />

zur Kulturpolitik im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft.<br />

Luxemburg 1994<br />

Weidenfeld, W. u. a.: Europäische Kultur. Das Zukunftsgut des<br />

Kontinents. Gütersloh 1990<br />

Zentrum für Kulturforschung (Hg.): Europäisches Kulturhandbuch.<br />

Baden-Baden, 1995 2<br />

Kulturstadt <strong>Europa</strong>s, Kulturhauptstadt <strong>Europa</strong>s<br />

�Europäische Kulturhauptstadt<br />

Kulturstiftung �Europäische Kulturstiftung<br />

Kyoto-Protokoll �Umweltpolitik


Lagezentrum �EU-Lagezentrum<br />

Länderbeobachter.Eineseitden1950erJahrenbestehende<br />

gemeinsame Einrichtung aller Länder der<br />

Bundesrepublik Deutschland in Brüssel. Die Aufgabe<br />

besteht im Schwerpunkt darin, über Ratssitzungen<br />

an den Bundesrat und die Landesregierungen<br />

Bericht zu erstatten. Die Länderbeobachterberichte<br />

sind ausführlicher als die Berichte der Ständigen<br />

Vertretung und länderspezifisch. Der Länderbeobachter<br />

beschäftigt zwei bis drei hauptamtliche Länderbeamte,<br />

die zeitlich befristet nach Brüssel abgeordnet<br />

werden. In der Vergangenheit wurde wiederholt<br />

diskutiert, ob an Stelle oder in Ergänzung zum<br />

Länderbeobachter in der Ständigen Vertretung Länderbeamte<br />

aufgenommen werden sollten. Inzwischen<br />

gibt es Länderbeamte in der Ständigen Vertretung<br />

zusätzlich zur Einrichtung des Länderbeobachters.<br />

H. D.-K.<br />

Länderbüros �Informationsbüros der deutschen<br />

Bundesländer in Brüssel<br />

Ländliche Entwicklung / Entwicklung des ländlichen<br />

Raums �Gemeinsame Agrarpolitik, �Regionalpolitik,<br />

�Fonds der EU<br />

Landwirtschaft in der EU �Gemeinsame Agrarpolitik<br />

Lateinamerikapolitik<br />

1. Einleitung. Zahlreiche bilaterale Beziehungen<br />

existierten schon seit langem zwischen <strong>Europa</strong> und<br />

Lateinamerika, bevor die EU in den 1960er Jahren<br />

als Akteur die Bühne der internationalen Politik betrat<br />

und eine gezielte europäische Lateinamerikapolitik<br />

begann (im Folgenden wird immer von der Europäischen<br />

Union gesprochen, auch wenn der Vorläufer<br />

EWG bzw. EG der tatsächliche Akteur war).<br />

Dabei muss bedacht werden, dass <strong>Europa</strong> bis heute<br />

nicht als einheitlicher Akteur auftritt, sondern vielfach<br />

parallel zur EU die Einzelstaaten ihre bilateralen<br />

Politiken verfolgen. Stärker noch ist die Zersplitterung<br />

auf Seiten Lateinamerikas, wo es neben Ver-<br />

L<br />

Lateinamerikapolitik<br />

suchen der gesamtregionalen Kooperation mehrere<br />

subregionale Integrationsversuche gibt und selbstverständlich<br />

daneben die Einzelstaaten. 25 europäische<br />

Staaten, 33 lateinamerikanische und karibische<br />

Länder, die supranationalen Akteure Europäische<br />

Kommission und Europäisches Parlament sowie<br />

eineVielzahltransnationalerAkteure(Unternehmer,<br />

Kirchen, Gewerkschaften, Universitäten, Nichtregierungsorganisationen<br />

und andere) schaffen ein komplexes<br />

Beziehungsgeflecht, das aber einer kohärenten,<br />

verbindenden Strategie ermangelt.<br />

Die Beziehungen zwischen beiden Regionen haben<br />

sich dennoch seit den 1960er Jahren kontinuierlich<br />

fortentwickelt.DieEUistheutederwichtigsteGeber<br />

von Entwicklungshilfe für Lateinamerika, wichtiger<br />

ausländischer Investor und zweitwichtigster Handelspartner.<br />

Die wirtschaftliche Bedeutung Lateinamerikas<br />

für <strong>Europa</strong> ist dagegen eher gering. Allein<br />

der Handel mit der Schweiz übersteigt das gesamte<br />

Handelsvolumen der EU mit Lateinamerika. Das Interesse<br />

<strong>Europa</strong>s an Lateinamerika ist daher nicht primär<br />

ökonomischer Natur.<br />

Auf lateinamerikanischer Seite haben die seit 1979<br />

stattfindendenpolitischenundökonomischenTransformationsprozesse<br />

zu einer stärkeren Hinwendung<br />

des Subkontinents zu Demokratie und marktwirtschaftlichen<br />

Prinzipien geführt. Damit entstand eine<br />

Werte- und Interessengemeinschaft mit <strong>Europa</strong>, die<br />

auf vielfältige Traditionslinien zurückgreifen konnte.<br />

Eine wesentliche verbindende Klammer ist die<br />

Tatsache, dass Lateinamerika die „europäischste“<br />

unter allen Entwicklungsregionen ist. Die spanisch-portugiesische<br />

Kolonialzeit und europäische<br />

Einwanderung haben kulturell den Subkontinent europäisch<br />

geprägt, die meisten Lateinamerikaner sind<br />

europäischer Abstammung, sprechen europäische<br />

Sprachen (v. a. spanisch und portugiesisch) und sind<br />

katholisch. Die Beziehungen zwischen <strong>Europa</strong> und<br />

Lateinamerika sind die einer „special relationship“.<br />

Sie finden auf biregionaler Ebene statt (EU–Lateinamerika),<br />

auf subregionaler Ebene (Mercosur, Andengemeinschaft,<br />

Zentralamerika) und mit Einzelstaaten<br />

(Mexiko und Chile).<br />

2. Historische Entwicklung. Die Beziehungen zwi-<br />

491


Lateinamerikapolitik<br />

schen <strong>Europa</strong> und Lateinamerika begannen 1492.<br />

Die über dreihundertjährige spanisch-portugiesische<br />

Kolonialzeit sorgte für die bereits erwähnte<br />

EuropäisierungLateinamerikasunddieZurückdrängung<br />

der indianischen Urbevölkerung. Auch nach<br />

der Unabhängigkeit blieb der Subkontinent unter europäischem<br />

Einfluss und war im 19. Jahrhundert Bestandteil<br />

des britischen „Informal Empire“. Daneben<br />

waren Deutschland und Frankreich bedeutende<br />

Wirtschaftsmächte, Italien Hauptherkunftsland vieler<br />

Einwanderer, v. a. des �Cono Sur. Erst im 20. Jh.<br />

verlor <strong>Europa</strong> im Kontext beider Weltkriege die vorherrschende<br />

Stellung. Neue Hegemonialmacht wurde<br />

die USA. Dabei ist allerdings ein starkes<br />

Nord-Süd-Gefälle zu konstatieren. Während spätestens<br />

mit der Eröffnung des Panama-Kanals 1914 die<br />

Karibik faktisch zum „mare nostrum“ der USA wurde<br />

und Mittelamerika damit zum „Hinterhof“ der<br />

Vereinigten Staaten, blieb der Cono Sur stärker <strong>Europa</strong><br />

verbunden, auch im ökonomischen Bereich.<br />

Ein „Meilenstein“ europäisch-lateinamerikanischer<br />

Beziehungen stellte der 1984 begonnene San José-<br />

Dialog dar. Die EU griff die Initiative der Contadora-Gruppe<br />

(zunächst Kolumbien, Mexiko, Venezuela,Panama,späternochArgentinien,Brasilien,Peru,<br />

Uruguay) zur Befriedung Zentralamerikas auf und<br />

initiierte die Außenministerkonferenzen von San<br />

José. Respekt erwarb <strong>Europa</strong> in Lateinamerika vor<br />

allem aufgrund der Tatsache, dass es aus europäischer<br />

Perspektive nicht um eigene machtpolitische<br />

Interessen, sondern um grundsätzliche Vorstellungen<br />

von Völkerrecht, Frieden, Gerechtigkeit, Demokratie<br />

und sozialer Ordnung ging und sich die EU dabei<br />

sogar gegen die USA stellte.<br />

Auf lateinamerikanischer Seite erwuchs daraus die<br />

Rio-Gruppe, ein informelles Forum der politischen<br />

Koordination, dem mittlerweile fast alle Staaten des<br />

Subkontinents angehören. 1990 begannen jährliche<br />

Außenministerkonferenzen der EU und der Rio-<br />

Gruppe, die 1999 zum ersten europäisch-lateinamerikanischen<br />

Gipfeltreffen in Rio de Janeiro führten.<br />

2002 folgte ein zweites Gipfeltreffen in Madrid,<br />

2004 das dritte in Guadalajara, das vierte Treffen ist<br />

für 2006 in Wien geplant.<br />

Parallel zu diesen politischen Dialogforen intensivierte<br />

sich die ökonomische Zusammenarbeit. Verschiedene<br />

Abkommen wurden mit der Andengemeinschaft<br />

und Zentralamerika geschlossen, 1993<br />

gab es die ersten Freihandelsangebote der EU gegen-<br />

492<br />

über Chile, Mexiko und dem Mercosur. Im Jahr 2000<br />

trat ein Freihandelsabkommen mit Mexiko, 2002 mit<br />

Chile in Kraft, die Verhandlungen mit dem Mercosur<br />

dauern noch an.<br />

3. Politische Ebene. Auf politischer Ebene unterhält<br />

die EU, anknüpfend an den Ausgangspunkt des San<br />

José-Dialogs, verschiedene Dialogforen. Spezielle<br />

Dialoge werden mit den karibischen Staaten, die in<br />

den �Lomé- bzw. �Cotonou-Vertrag eingebunden<br />

sind, geführt, mit Zentralamerika, der Andengemeinschaft,<br />

Mexiko, Chile und dem Mercosur. Während<br />

bei diesen speziellen Dialogen wirtschaftliche<br />

Fragen im Vordergrund stehen, sind die regelmäßig<br />

stattfindendeneuropäisch-lateinamerikanischenGipfelderStaats-undRegierungschefsdaszentralebiregionale<br />

Dialogforum auf politischer Ebene.<br />

Der erste Gipfel fand am 28./29. 6. 1999 in Rio de Janeiro<br />

statt und galt als europäische Reaktion auf die<br />

beiden panamerikanischen Gipfel (Miami 1994 und<br />

Santiago de Chile 1998), die eine Freihandelszone<br />

für ganz Amerika initiieren sollten. 13 Staats- und<br />

Regierungschefs aus <strong>Europa</strong> trafen auf 33 Kollegen<br />

ausLateinamerikaundderKaribik.(Esfehltenlediglich<br />

Großbritannien und Irland wegen gleichzeitig<br />

stattfindender Nordirland-Gespräche sowie Jamaika<br />

und Guatemala.) Ergebnis des Gipfeltreffens war die<br />

Erklärung einer „strategischen Partnerschaft“ zwischen<br />

der EU und Lateinamerika. „Auf der Grundlage<br />

des tiefen kulturellen Erbes, das uns eint“, sollten<br />

die Beziehungen in den Bereichen politischer Dialog,<br />

Wirtschafts- und Handelsbeziehungen und<br />

Kultur ausgebaut werden (Rio-Abschlussdeklaration<br />

1999). Die zehnseitige Abschlusserklärung<br />

führte69Unterpunkteauf,derenUmsetzungzueiner<br />

Vertiefung der biregionalen Beziehungen führen<br />

sollten. Das Dokument enthielt sehr allgemein gehaltene<br />

Absichtserklärungen zur Wirtschaft, Kriminalität,<br />

Demokratie, Umwelt und zu Menschenrechten.<br />

Kritiker stuften deshalb den Gipfel als vage und<br />

nichtssagend ein. Im Wesentlichen, so muss Kritikern<br />

entgegnet werden, war der Rio-Gipfel ein symbolischer<br />

Akt, dessen Bedeutung in dieser Hinsicht<br />

nicht zu unterschätzen ist. Die Funktion von GipfeldiplomatieliegtnichtinderVermittlungneuerInhalte,<br />

sondern dient vor allem politischen Demonstrationseffekten.<br />

So blieb denn auch der zweite Gipfel am 17./18. 5.<br />

2002 in Madrid die Konkretisierung der anvisierten<br />

strategischen Partnerschaft schuldig. Zwar wurde


das Treffen von der EU auch genutzt, um separat mit<br />

den subregionalen und einzelstaatlichen Partnern zu<br />

sprechen. Hier konnte als herausragendes Ergebnis<br />

die Unterzeichnung eines umfassenden Assoziierungsabkommens<br />

mit Chile präsentiert werden.<br />

Aberinsgesamtwurden,unterdemEindruckderTerroranschläge<br />

des 11. 9. 2001 in den USA, eher allgemeine<br />

politische Fragen der Weltpolitik diskutiert.<br />

Dabei wurde kaum ein Thema ausgelassen und folgerichtig<br />

standen globale Fragen wie die Stärkung<br />

des Multilateralismus, Drogen- und Terrorismusbekämpfung<br />

im Mittelpunkt der Abschlusserklärung.<br />

Das dritte Gipfeltreffen am 28. 5. 2004 in Guadalajara,<br />

Mexiko, verlief ähnlich unspektakulär. Das Abschlussdokument<br />

umfasste mit 104 Unterpunkten<br />

eine umfassende, aber ebenfalls sehr allgemein gehaltene<br />

Bestandsaufnahme und zukünftige Bezugspunkte<br />

gemeinsamer europäisch-lateinamerikanischer<br />

Positionen. Zwei zentrale Themen bestimmten<br />

den Gipfel: soziale Kohäsion und Multilateralismus.<br />

Das Thema sozialer Kohäsion sprach ein KernproblemderlateinamerikanischenStaatenan,dieArmut<br />

weiter Teile der Bevölkerung. 2003 lebten 44,3 Prozent<br />

der Lateinamerikaner unterhalb der Armutsgrenze,<br />

2004 42,9 Prozent, mehr als noch 25 Jahr zuvor.<br />

Zum einen spielt die EU als größter Entwicklungshilfegeber<br />

eine besondere Rolle bei dieser Thematik,<br />

zum anderen ist die Verarmung Teil einer lateinamerikanischen<br />

Wirtschaftspolitik, die sich lange<br />

Jahre an dem nordamerikanischen Vorbild des<br />

Washington Konsenses orientierte und nach dieser<br />

verheerenden sozialen Bilanz nach ordnungspolitischen<br />

Alternativen sucht, die <strong>Europa</strong> anscheinend zu<br />

bieten hat. Sowohl bei diesem als auch dem anderen<br />

wichtigen Thema des Gipfels zeigte sich eine Verstärkung<br />

der gemeinsamen Werte- und Interessengemeinschaft<br />

zwischen der EU und Lateinamerika, die<br />

sich als Fortschritte auf dem Weg zu einer strategischen<br />

Partnerschaft deuten lassen. Das andere Thema<br />

war der Multilateralismus in der internationalen<br />

Politik. Hier zeigten sich offen gemeinsame Werte<br />

und Interessen. Beide Seiten formulierten gemeinsame<br />

Interessen in Bezug auf die Bedeutung der Vereinten<br />

Nationen, des Internationalen Strafgerichtshofs,<br />

des Kyoto-Klimaschutzprotokolls, der Internationalen<br />

Konvention gegen Antipersonenminen sowie<br />

hinsichtlich der eindeutigen Verurteilung von<br />

Folter, die sich indirekt ganz klar gegen US-ame-<br />

Lateinamerikapolitik<br />

rikanische Positionen und Handlungen im Irak und<br />

Guantánamo abgrenzten.<br />

Einen besonderen symbolischen Wert hatte der Gipfel<br />

von Guadalajara im Übrigen auch allein aufgrund<br />

derTatsache,dasszumerstenMaldieneue,erweiterte<br />

EU auf internationalem Parkett auftrat.<br />

4. Wirtschaftliche Ebene. Die wirtschaftlichen Beziehungen<br />

zwischen Lateinamerika und der EU sind,<br />

wie bereits erwähnt, von einer starken Asymmetrie<br />

geprägt. Diese wirkt doppelt, zum einen zwischen<br />

denRegionen,zumandereninnerhalbderRegionen.<br />

LateinamerikaistinsgesamtfürdieEUeinrelativunbedeutender<br />

Partner. Der Anteil an den Im- und Exporten<br />

beträgt etwa drei bis vier Prozent (2003: 4,6<br />

Prozent; �Außenhandelspolitik). Die europäischen<br />

Länder mit den stärksten Wirtschaftsinteressen sind<br />

Spanien, Deutschland und Frankreich, wobei Spanien,<br />

vor allem auch als Investor, eine herausragende<br />

Stellung hat.<br />

Umgekehrt hat die EU einen Anteil von rund 10 Prozent(2003:13Prozent)amAußenhandelLateinamerikas,<br />

der insgesamt von Nordamerika dominiert<br />

wird. Die USA und Kanada wickeln mehr als 50 Prozent<br />

(2003: 52 Prozent) der lateinamerikanischen<br />

Im- und Exporte ab. Dabei ist ein klares Nord-Süd-<br />

Gefälle innerhalb des lateinamerikanischen Kontinents<br />

zu konstatieren. Das nördliche Lateinamerika<br />

hängt von der US-Wirtschaft ab. Während die Vereinigten<br />

Staaten auch für Zentralamerika (Außenhandel<br />

2002 mit USA und Kanada 41,8 Prozent, mit der<br />

EU 10,4 Prozent) und die Andengemeinschaft der<br />

wichtigste Handelspartner sind (Anteil am Außenhandel<br />

2003: USA und Kanada 40,4 Prozent, EU 13<br />

Prozent), dominiert die EU im südlichen Lateinamerika.<br />

Im Mercosur ist die EU mit Investitionen in<br />

Höhe von 137 Mrd. US-Dollar im Jahr 2003 wichtigster<br />

Investor (gegenüber 83 Mrd. US-Dollar aus<br />

den USA) sowie wichtigster Handelspartner mit einem<br />

Anteil am Außenhandel von 23,5 Prozent (gegenüber<br />

20,1 Prozent Anteil der USA und Kanada<br />

2003). Chile wickelte 2003 mit der EU 22,2 Prozent,<br />

mit den Vereinigten Staaten und Kanada 18,1 Prozent<br />

des Außenhandels ab.<br />

Die wirtschaftliche Hegemonie der USA wird durch<br />

mehrereFreihandelsabkommenverstärkt.1994wurde<br />

die Nordamerikanische Freihandelszone NAFTA<br />

(North American Free Trade Agreement: Kanada,<br />

USA, Mexiko) abgeschlossen, im selben Jahr eine<br />

gesamtamerikanische Freihandelszone von Alaska<br />

493


Lateinamerikapolitik<br />

bis Feuerland offiziell vorgeschlagen, die für 2005<br />

vorgesehen war, sich aber bis dato im Verhandlungsstadium<br />

befindet, 2004 kamen Abkommen mit Chile<br />

und Zentralamerika zustande. Um der Expansion der<br />

US-Ökonomie entgegen zu halten, initiierte auch die<br />

EU verschiedene Abkommen, die aber nicht nur<br />

Freihandel, sondern auch politischen Dialog sowie<br />

Menschenrechts- und soziale Fragen erfassten.<br />

2000 wurde ein Freihandelsabkommen mit Mexiko<br />

geschlossen, das 95 Prozent des Warenverkehrs erfasste<br />

und für 2007 die vollständige Zollfreiheit für<br />

alle Waren vorsieht. Mit Chile wurde 2002 der weitreichendste<br />

Assoziationsvertrag unterzeichnet, den<br />

die EU je vereinbart hat. Kernbestandteil des �Assoziationsabkommens<br />

ist die Errichtung einer Freihandelszone<br />

EU-Chile innerhalb von 10 Jahren nach Inkrafttreten<br />

des Abkommens. Seit 2003 sind bereits<br />

85 Prozent aller chilenischen Exporte in die EU zollfrei.<br />

Die Andengemeinschaft und Zentralamerika<br />

sind durch �Kooperationsabkommen erfasst. Seit<br />

1999 verhandelt die EU mit dem Mercosur über einen<br />

Assoziationsvertrag, der auch eine Freihandelszone<br />

umfassen soll. Bereits 1993 hatte die EU Freihandelsabkommen<br />

mit Mexiko, Chile und dem Mercosur<br />

angeregt. Die Tatsache, dass noch immer ohne<br />

konkretes Ergebnis mit dem Mercosur verhandelt<br />

wird, dagegen mit Mexiko und Chile abgeschlossen<br />

wurde, ist auf den ersten Blick paradox, ist doch der<br />

Mercosur der wichtigste EU-Partner in Lateinamerika.<br />

Allerdings gibt es große Probleme im sensiblen<br />

Agrarbereich, der fast 50 Prozent der Mercosur-<br />

Exporte nach <strong>Europa</strong> ausmacht.<br />

5. Ausblick. Fünf Faktoren dürften für das künftige<br />

Verhältnis eine Rolle spielen:<br />

– Wichtig wird sein, wie sich Lateinamerika, nachdemsichdemokratischeRegimetrotzallerProbleme<br />

etabliert haben, ökonomisch entwickelt. Die Überwindung<br />

der Argentinienkrise, die auch zu einer Belebung<br />

des Mercosur geführt hat, bietet Anlass zur<br />

Hoffnung, ebenso die am 8. Dezember 2004 im peruanischen<br />

Cuzco beschlossene südamerikanische<br />

Staatengemeinschaft, die den Mercosur mit der Andengemeinschaft<br />

zusammenführen soll. Interessant<br />

wird auch sein, welche Rolle die asiatischen Ökonomien<br />

in Lateinamerika spielen werden. Der Beginn<br />

von Verhandlungen zwischen Chile und China über<br />

ein Freihandelsabkommen ist in diesem Zusammenhang<br />

besonders erwähnenswert. Der ökonomische<br />

Aufschwung Lateinamerikas in den letzten beiden<br />

494<br />

Jahren ist wesentlich auf die asiatische, vor allem<br />

chinesische, Nachfrage nach Rohstoffen zurückzuführen.<br />

Dass eine rohstoffbasierte Weltmarktintegration<br />

in der Regel nicht zu einem nachhaltigen,<br />

selbsttragenden Wirtschaftswachstum führt, sollte<br />

allerdings als Warnsignal angesehen werden.<br />

– Ebenfalls bleibt abzuwarten, wie sich die EU-Osterweiterung<br />

auf die europäisch-lateinamerikanischen<br />

Beziehungen auswirken wird. Einerseits gibt<br />

es Befürchtungen, dass sich der europäische HandelsaustauschnochstärkerinnerhalbderEUkonzentriert.<br />

Die osteuropäischen Länder gelten auch als direkte<br />

Konkurrenten um Direktinvestitionen. Andererseits<br />

liegt in der EU-Osterweiterung auch eine<br />

Chance, wickelten die zehn neuen Mitgliedsländer<br />

2002 doch lediglich 1 Prozent ihres Außenhandels<br />

mit Lateinamerika ab.<br />

– Im Kontext der Erweiterung ist möglicherweise<br />

der Umstand problematisch, dass Spanien mehr und<br />

mehr als zentraler Brückenkopf zwischen Lateinamerika<br />

und <strong>Europa</strong> fungiert. Die seit 1991 stattfindenden<br />

iberoamerikanischen Gipfeltreffen, eine<br />

Konzentration spanischer Entwicklungshilfe sowie<br />

ein verstärktes Engagement im Rahmen von Direktinvestitionen<br />

führen zu einer Verstärkung der spanisch-lateinamerikanischen<br />

Beziehungen, allerdings<br />

auf Kosten anderer europäischer Länder, vor<br />

allem Deutschlands.<br />

– Die europäisch-lateinamerikanischen Beziehungen<br />

stehen im Schatten des regionalen Hegemons,<br />

der Vereinigten Staaten von Amerika. Die EU-Lateinamerikapolitik<br />

kann nicht als KonkurrenzunternehmenzudenUSAgesehenwerden.Faktischfindet<br />

eine immer stärker werdende Dominanz der Vereinigten<br />

Staaten statt, vor allem im ökonomischen Bereich.<br />

Das Bestreben der USA, eine hemisphärische<br />

Freihandelszone zu errichten, ist Ausdruck dieser<br />

Dominanz. Bestenfalls kann eine doppelte informelle<br />

Arbeitsteilung konstatiert werden: zum einen ist<br />

<strong>Europa</strong> eher zuständig für politischen Dialog und<br />

Entwicklungshilfe,dieUSAdagegensindderbedeutendste<br />

Handelspartner, zum anderen ist die USamerikanische<br />

Dominanz überragend im nördlichen<br />

Lateinamerika, während der Mercosur noch immer<br />

eine europäische Domäne ist. Es mehren sich Stimmen,<br />

die von einer zukünftigen transatlantischen trilateralen<br />

Partnerschaft sprechen.<br />

– Eine „special relationship“ lässt sich derzeit auf<br />

dem internationalen Parkett feststellen. Die gemein-


samen Vorstellungen in Bezug auf Multilateralismus,<br />

Völkerrecht und die Bedeutung Internationaler<br />

Organisationen wie der UNO sind keine schlechte<br />

Grundlage für ein strategisches Bündnis.<br />

Die europäisch-lateinamerikanischen Beziehungen<br />

sindinsgesamtdurcheindichtesBeziehungsgeflecht<br />

politischer wie ökonomischer Art gekennzeichnet.<br />

Die kulturelle Nähe lässt dieses enge Beziehungsgeflechtzueiner„specialrelationship“werden,diesich<br />

allerdings eher in „weicher“ Sympathie und Verbundenheit<br />

als „harter“ Kooperation ausdrückt. Beispiel<br />

hierfür sind die biregionalen Gipfeltreffen. Die „harte“<br />

Kooperation zeichnet sich dagegen durch eine<br />

„variable Geometrie“ aus. An erster Stelle stehen dabei<br />

die ökonomisch interessanten Länder wie Mexiko<br />

und Chile sowie, allerdings mit den erwähnten<br />

spezifischen Problemen, der Mercosur, an zweiter<br />

Stelle die Andenländer und Zentralamerika, die,<br />

ökonomisch weniger interessant, eher über Entwicklungshilfeleistungen<br />

und politischen Dialog mit der<br />

EU verbunden sind, sowie die karibischen Staaten<br />

mit dem Sonderstatus durch die Lomé- bzw. Cotonou-Abkommen.<br />

Doch trotz dieses engen Beziehungsgeflechts nimmt<br />

Lateinamerika auf der EU-Agenda keinen vorderen<br />

Rang ein, Nordamerika, Osteuropa, Russland und<br />

der Balkan, aber auch die Mittelmeeranrainer genießenVorrang.<br />

W. Mu.<br />

Literatur:<br />

Bodemer, K.: Auftakt zu einer strategischen Partnerschaft? Der<br />

erste Europäisch-Lateinamerikanische Gipfel in Rio de<br />

Janeiro. Brennpunkt Lateinamerika 14/1999, Hamburg 1999<br />

Ders.: Auf dem Weg zu einer strategischen Partnerschaft? –<br />

Die europäisch-lateinamerikanischen Beziehungen an der<br />

Wende zum 21. Jahrhundert. In: Zippel, W. (Hg.), Die<br />

Beziehungen zwischen der EU und den Mercosur-Staaten.<br />

Baden-Baden 2001/2002, 99 – 123<br />

Gratius, S:/Risi, M.: Das zweite europäisch-lateinamerikanische<br />

Gipfeltreffen in Madrid: Mucho ruido, pocas nueces?<br />

Brennpunkt Lateinamerika 10/2002: Hamburg 2002<br />

Gratius, S.: <strong>Europa</strong> und Lateinamerika: zwischen Rückzug und<br />

Annäherung. Ergebnisse des Gipfeltreffens in Mexiko:<br />

SWP-Aktuell 26/Juni 2004, Berlin 2004<br />

Gratius, S.: Spielt <strong>Europa</strong> in Lateinamerika noch eine Rolle?<br />

In: Aus Politik und Zeitgeschichte B38 – 39/2003, 38 – 46<br />

Hoffmann, K.-D.: Die EU und Lateinamerika: Chancen und<br />

Grenzen einer special relationship. In: Schubert, K./Brandeck-Müller-Bocquet,<br />

G. (Hg.): Die Europäische Union als<br />

Akteur der Weltpolitik. Opladen 2000, 187–204<br />

Maihold, G.: Die südamerikanische Staatengemeinschaft. Ein<br />

neuer Partner für die EU in Lateinamerika? SWP-Aktuell 60,<br />

Berlin 2004<br />

Mols, M.: Großbritannien und Lateinamerika: Vom „informellen<br />

Empire“ zu einer europäisch-lateinamerikanischen<br />

Normalbeziehung. Mainz 1997<br />

Pohl, Th.: Die Verhandlungen zwischen der Europäischen<br />

Union und dem Mercosur: ein langer, steiniger Weg.<br />

Brennpunkt Lateinamerika 24/2004<br />

Sangmeister, H.: Gute Aussichten für die gesamtwirtschaftliche<br />

Entwicklung in Lateinamerika 2005. Brennpunkt Lateinamerika<br />

1/2005, Hamburg 2005<br />

Internet:<br />

Madrid-Abschlussdeklaration 2002:<br />

http://europa.eu.int/ comm/world/lac/conc_en/decl.htm<br />

Rio-Abschlussdeklaration 1999: http://europa.eu.int/comm/external_relations/andean/doc/rio_sum06_99.htm<br />

LEADER �Regionalpolitik<br />

Lebensmittelrecht<br />

Lebenslanges Lernen �Erwachsenenbildung<br />

Lebensmittelbehörde �Europäische Behörde für<br />

Lebensmittelsicherheit (EFSA), �Lebensmittelrecht<br />

Lebensmittelrecht. Um ein hohes Gesundheitsschutzniveau<br />

gewährleisten zu können, haben die<br />

Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten der Lebensmittelsicherheit<br />

auf der europäischen politischen<br />

Agenda höchste Priorität eingeräumt. Die Lebensmittelsicherheit<br />

darf keineswegs isoliert betrachtet<br />

werden, sondern stellt eine Querschnittsaufgabe<br />

dar, der bei der Umsetzung der gesamten Gemeinschaftspolitik<br />

Rechnung zu tragen ist. Mehrere<br />

Zuständigkeitsbereiche der Europäischen Union<br />

sind jedoch direkter betroffen. Es handelt sich um die<br />

�Gemeinsame Agrarpolitik (GAP), die Verwirklichung<br />

des Binnenmarktes, den Schutz der Verbraucher,<br />

die öffentliche Gesundheit sowie die Maßnahmen<br />

zum Schutz der Umwelt.<br />

1.Genese:DieursprünglichzurBekämpfungderLebensmittelknappheit<br />

in der Nachkriegszeit konzipierteGAPdienteinersterLiniedemZiel,dieSelbstversorgung<br />

der Gemeinschaftsbürger mit Lebensmitteln<br />

sicherzustellen. In den 1970er Jahren wurde<br />

bei den meisten landwirtschaftlichen Erzeugnissen<br />

das Ziel der Selbstversorgung nicht nur erreicht, sondern<br />

sogar übertroffen. Landwirtschaft und Lebensmittelindustrie,<br />

die zunächst nur auf Produktion ausgerichtetwaren,musstensichzunehmendaufdieBefriedigung<br />

der Sicherheits- und Qualitätsansprüche<br />

der Verbraucher einstellen. Die im Vertrag von Rom<br />

noch nicht vorgesehene Verbraucherpolitik entwickelte<br />

sich in dieser Zeit und wurde 1972 vom Europäischen<br />

Rat in Paris anerkannt. Mit der �Einheitlichen<br />

Europäischen Akte konnte der Verbraucherbegriff<br />

in den Vertrag aufgenommen werden. Seitdem<br />

495


Lebensmittelrecht<br />

kann die Kommission Maßnahmen zum Schutz der<br />

Verbraucher vorschlagen, wobei sie von einem „hohen<br />

Schutzniveau“ als politische Basis ausgeht. Im<br />

Laufeder1990erJahreführtenKrisenimLebensmittelsektor–wiez.B.derBSE-Skandal–zueinerWende<br />

in der Politik des �Verbraucherschutzes und der<br />

Lebensmittelsicherheit. Sie ließen die Grenzen des<br />

Gemeinschaftsrechts deutlich werden, was eine<br />

energische Reaktion der staatlichen Stellen hervorrief.<br />

Der Erlass sektorspezifischer Richtlinien hatte<br />

indeneinzelnenMitgliedstaatenzuUnterschiedenin<br />

der Auslegung und Anwendung geführt. Mitunter<br />

gab es sogar Regelungslücken.<br />

Mit Blick auf eine grundlegende Neufassung der<br />

Rechtsvorschriften veröffentlichte die Europäische<br />

KommissionimJahre1997dasGrünbuchüberallgemeine<br />

Grundsätze des Lebensmittelrechts in der Europäischen<br />

Union, das als Grundlage einer umfassendenDiskussionüberdasgeltendeRechtundmögliche<br />

Verbesserungen diente (KOM 1997/176<br />

endg.). Die mit dem Grünbuch eingeleitete öffentliche<br />

Debatte hat im Januar 2000 zur Veröffentlichung<br />

des Weißbuchs zur Lebensmittelsicherheit geführt<br />

(KOM 1999/719 endg.). Dieses stellt einen weiteren<br />

Schritt in die Richtung einer vollständigen Neufassung<br />

der einschlägigen Rechtsvorschriften dar. Die<br />

Kommission kündigte darin die Ausarbeitung eines<br />

rechtlichen Rahmens an, der mit einem globalen und<br />

integrierten Konzept die gesamte Lebensmittelkette<br />

– „vom Erzeuger bis zum Verbraucher“ – erfassen<br />

soll. Vorgesehen war auch die Schaffung einer �Europäischen<br />

Behörde für Lebensmittelsicherheit. Im<br />

Weißbuch wird ferner darauf hingewiesen, dass ein<br />

echtes einheitliches Vorgehen in der gesamten Gemeinschaftvoraussetzt,dassdieHarmonisierungder<br />

nationalen Kontrollsysteme weiter vorangetrieben<br />

und diese angesichts der nächsten Erweiterung bis zu<br />

den Außengrenzen der Union ausgedehnt werden.<br />

AußerdemwirdzurWiederherstellungdesgegenseitigen<br />

Vertrauens zwischen beiden Seiten die Aufnahme<br />

eines permanenten Dialogs zwischen den<br />

Verbrauchern und den einschlägigen Fachkreisen<br />

befürwortet. Schließlich wird im Weißbuch die Notwendigkeit<br />

unterstrichen, den Bürgern klare und eindeutige<br />

Informationen über die Qualität, etwaige Risiken<br />

und die Zusammensetzung von Lebensmitteln<br />

an die Hand zu geben.<br />

2. Rechtsgrundlagen: Das Lebensmittelrecht der<br />

Gemeinschaft basiert im Wesentlichen auf vier Arti-<br />

496<br />

keln des Vertrages zur Gründung der Europäischen<br />

Gemeinschaft:<br />

– Stehen landwirtschaftliche Aspekte im Vordergrund,<br />

so ist Art. 37 (Titel „Landwirtschaft“) anwendbar.Dieserbestimmtinsbes.,dassdieKommission<br />

Vorschläge für Verordnungen, Richtlinien oder<br />

Entscheidungen vorlegt, die sich auf die Ausgestaltung<br />

und Durchführung der GAP beziehen.<br />

– Artikel 152 bildet den Titel XIII „Gesundheitswesen“<br />

des EG-Vertrags. Er bezweckt die Sicherstellung<br />

eines hohen Gesundheitsschutzniveaus bei der<br />

Festlegung und Durchführung aller Gemeinschaftspolitiken<br />

und -maßnahmen. Abweichend von Art. 37<br />

stützt sich der Rat auf diesen Artikel, wenn er Maßnahmen<br />

im Veterinär- und Pflanzenschutzbereich<br />

erlässt, die unmittelbar auf den Schutz der öffentlichen<br />

Gesundheit abzielen.<br />

– Artikel 95 enthält die zur Verwirklichung des Binnenmarkts<br />

erforderlichen Bestimmungen und trägt<br />

dem vordringlichen Ziel Rechnung, in den Bereichen<br />

öffentliche Gesundheit und Umwelt ein hohes<br />

Schutzniveau zu gewährleisten.<br />

– Titel XIV („Verbraucherschutz“) mit Art. 153 zielt<br />

daraufab,einhohesVerbraucherschutzniveauzugewährleisten.<br />

In diesem Artikel sind drei grundlegende<br />

Prinzipien der Verbraucherpolitik verankert: das<br />

Recht auf Schutz der Gesundheit, der Sicherheit und<br />

der wirtschaftlichen Interessen der Verbraucher. Die<br />

Gemeinschaft leistet ferner einen Beitrag zur Förderung<br />

ihres Rechtes auf Information, Erziehung und<br />

BildungvonVereinigungenzurWahrungihrerInteressen.<br />

Den Erfordernissen des Verbraucherschutzes<br />

wird außerdem bei der Festlegung und Durchführung<br />

der anderen Gemeinschaftspolitiken und -maßnahmen<br />

Rechnung getragen.<br />

3. Mit der Lebensmittelsicherheitspolitik werden die<br />

folgenden allgemeinen Ziele verfolgt:<br />

– Gewährleistung eines hohen Niveaus beim Schutz<br />

der Gesundheit von Mensch und Tier durch mehr<br />

Kontrollen, die die gesamte Lebensmittelherstellungskette<br />

erfassen.<br />

– Die Qualität in den Vordergrund stellen. Bei dem<br />

untrennbarmitderLebensmittelsicherheitverknüpften<br />

Begriff der Qualität sind zwei Stufen zu unterscheiden:<br />

a) die unverzichtbare Qualität betrifft die Sicherheit<br />

unserer Nahrungsmittel und die Mindestanforderungen<br />

an den Schutz der Umwelt und der Tier- und<br />

Pflanzenarten;


) die relative oder subjektiv empfundene Qualität<br />

verleiht jedem Lebensmittel seine besondere Note<br />

durch den Geschmack, das Aussehen, den Geruch,<br />

dieHerstellungsmethodenoderdieArtdesVerzehrs.<br />

– Das Vertrauen der Verbraucher wiederherstellen.<br />

Zur Wiederherstellung dieses Vertrauens wird die<br />

Überwachung und Kontrolle der Sicherheit von Lebensmitteln<br />

durch strengere Verfahren verschärft.<br />

Die Verbraucher müssen somit über klare und präzise<br />

Informationen über alle Aspekte der Lebensmittelsicherheit<br />

verfügen. Kennzeichnungssysteme wie<br />

das Umweltzeichen oder geografische Angaben und<br />

geschützte Ursprungsbezeichnungen sind Initiativen,derenHauptanliegendieSicherungderQualität,<br />

der Verbraucherschutz und der Schutz traditioneller<br />

Erzeugnisse ist.<br />

4. Lebensmittel und Gemeinsamer Markt:<br />

Strategien der Kommission<br />

4.1 Harmonisierungsstrategie: Seit ihrer Gründung<br />

bemüht sich die EG um den Abbau von Handelshemmnissen<br />

(�Binnenmarkt), die u. a. durch lebensmittelrechtliche<br />

Bestimmungen in den Mitgliedstaaten<br />

entstanden sind (insbes. unterschiedliche Herstellungs-,<br />

Verpackungs-, Kennzeichnungs- und<br />

Qualitätsvorschriften). Die Kommission war bestrebt,<br />

den Lebensmittelmarkt zu liberalisieren und<br />

die nationalen Märkte zu öffnen. Das europäische<br />

Lebensmittelrecht sollte zunächst die nationale Gesetzgebung<br />

in der Form vereinheitlichen, dass für jedes<br />

auf nationalen Vorschriften beruhende Handelshemmnis<br />

eine entsprechende gemeinschaftliche Regelung<br />

gefunden werden sollte.<br />

Das Harmonisierungsprogramm der EG von 1969<br />

folgte dieser Vorgabe und listete über 50 Teilbereiche<br />

des Lebensmittelrechts auf, die harmonisiert<br />

werden sollten. Die Kommission entwickelte horizontale<br />

Rechtsmaßnahmen (z. B. Vorschriften über<br />

Kennzeichnung oder Zusatzstoffe) und vertikale<br />

Rechtsmaßnahmen (z. B. Anforderungen für Fruchtsäfte,<br />

Marmelade und Mineralwasser), die in die nationale<br />

Gesetzgebung umgesetzt wurden. Das Konzept<br />

der absoluten �Harmonisierung stieß jedoch zunehmend<br />

auf Kritik der EG-Staaten; eine Konsensfindung<br />

wurde immer schwieriger (1985 waren lediglich<br />

zwei Fünftel des Programms verwirklicht),<br />

so dass seitens der Kommission über eine Neuorientierung<br />

nachgedacht wurde.<br />

4.2 Strategiewandel (infolge des Prinzips gegenseitiger<br />

Anerkennung): Versuchen von Abschottungen<br />

Lebensmittelrecht<br />

gegen Importe aus anderen EG-Staaten setzte die EG<br />

nun das �Prinzip der gegenseitigen Anerkennung<br />

entgegen, abgeleitet aus dem �Casssis-de-Dijon-<br />

Urteil des EuGH 1979. Produkte, die in einem Mitgliedstaat<br />

der EU rechtmäßig hergestellt und in Verkehr<br />

gebracht worden sind, müssen in allen Ländern<br />

der Union zugelassen werden.<br />

Über dieses Urteil hinaus übte der EuGH mit seiner<br />

Rechtsprechung prägenden Einfluss auf die Entwicklung<br />

des europäischen Lebensmittelrechts aus.<br />

Dem Grundgedanken des EuGH folgend, entwickelte<br />

die Kommission eine neue Strategie, um die Liberalisierung<br />

im Lebensmittelverkehr zu verwirklichen.<br />

Statt Harmonisierung forderte sie jetzt einen<br />

weit gehenden Verzicht auf Harmonisierung. Strategie<br />

der Kommission ist es, vom Ansatz der Rechtsangleichung<br />

wegzukommen und das Gewicht auf gegenseitige<br />

Anerkennung und die Gleichwertigkeit<br />

der nationalen Regeln zu legen. Recht setzende Maßnahmen<br />

von Seiten der EU sollen nur in den Bereichen<br />

getroffen werden, die Fragen des allgemeinen<br />

RechtsbetreffenundeinebesondereRelevanzfürdie<br />

GesundheitundSicherheitderVerbraucher,dieLauterkeit<br />

des Handelsverkehrs und den Umweltschutz<br />

beinhalten.<br />

1985 veröffentlichte die Kommission eine Dokumentation<br />

(an Rat und EP) zum gemeinschaftlichen<br />

Lebensmittelrecht, in der die Grundthesen des neuen<br />

Ansatzes dargelegt werden. Sie legte ferner die Sektoren<br />

dar, die einer gemeinschaftlichen Regelung bedürfen:<br />

– Schutz der öffentlichen Gesundheit (Zusatzstoffregelungen;<br />

Behandlungs- und Herstellungsverfahren<br />

von Lebensmitteln, insbes. Lebensmittelbestrahlung,<br />

Lebensmittelzutaten und Tiefkühlung; Schadstoffe<br />

in Lebensmitteln);<br />

– Bedürfnis der Verbraucher nach Unterrichtung<br />

und deren Schutz in nicht gesundheitlichen Bereichen<br />

(Kennzeichnung und Verkehrsbezeichnung<br />

von Lebensmitteln);<br />

– Sicherstellung eines lauteren Wettbewerbs (gegenseitige<br />

Anerkennung von Gütezeichen; Notifizierung<br />

von Normierungsvorhaben; diätetische Lebensmittel;<br />

biologisch erzeugte Lebensmittel);<br />

– Notwendigkeit der amtlichen Überwachung.<br />

Für alle anderen Bereiche gilt das Prinzip der gegenseitigen<br />

Anerkennung. Grundsätzlich sollen nur horizontale<br />

Regelungen getroffen werden. Rezepturen<br />

sollen nicht durch europäisches Recht festgeschrie-<br />

497


Lebensmittelrecht<br />

benwerden.ÜberallemstehtderGrundsatz,dassLebensmittel<br />

nicht gesundheitsgefährdend sein dürfen.<br />

Der Schutz vor Irreführung und Täuschung des Verbrauchers<br />

wird dadurch gewährleistet, dass Abweichungen<br />

in der Zusammensetzung eines Lebensmittels<br />

ausreichend gekennzeichnet werden. Die Kennzeichnung<br />

ist wichtigstes Hilfsmittel des Verbrauchers<br />

im �Binnenmarkt. Sie wird u. a. auch von der<br />

Kommission bevorzugt, weil sie das geringste Handelshemmnis<br />

darstellt.<br />

5. Vorrangige Tätigkeiten und Ziele: Unter dem Eindruck<br />

von �BSE (Rinderseuche) und der Debatte um<br />

�gentechnisch veränderte Lebensmittel gehört die<br />

Herstellung und das Inverkehrbringen sicherer Lebensmittel<br />

zu den Prioritäten der EU (vgl. Erklärung<br />

des Europäischen Rates in Luxemburg im Dezember<br />

1997).<br />

5.1 Allgemeine Grundsätze des Lebensmittelrechts<br />

a) Ziel ist die Sicherstellung eines hohen Schutzniveaus<br />

für die Gesundheit des Menschen und die Verbraucherinteressen<br />

bei gleichzeitiger Gewährleistung<br />

eines reibungslosen Funktionierens des Binnenmarkts<br />

durch<br />

– Festlegung allgemeiner Grundsätze der Lebensmittelsicherheit<br />

auf einzelstaatlicher und gemeinschaftlicher<br />

Ebene,<br />

– die Einrichtung einer Europäischen Behörde für<br />

Lebensmittelsicherheit,<br />

– die Festlegung von Verfahren zur Gewährleistung<br />

der Lebensmittelsicherheit.<br />

Der freie Verkehr sicherer und gesundheitlich unbedenklicher<br />

Lebensmittel ist ein wesentlicher Grundsatz<br />

eines reibungslos funktionierenden Binnenmarkts.<br />

Allerdings behindern die Unterschiede zwischen<br />

den einzelstaatlichen Lebensmittelgesetzen<br />

zuweilen den freien Verkehr der Lebensmittel. Deshalbisteserforderlich,aufGemeinschaftsebeneeine<br />

gemeinsame Grundlage für die Lebens- und Futtermittelvorschriften<br />

festzulegen.<br />

b) Das allgemeine Lebensmittelrecht erstreckt sich<br />

auf die gesamte Lebensmittelkette mit folgenden<br />

Zielen:<br />

– den Schutz des menschlichen Lebens und der<br />

menschlichen Gesundheit, den Schutz der Verbraucherinteressen<br />

unter Berücksichtigung des Tierschutzes<br />

und der artgerechten Tierhaltung, des<br />

Pflanzenschutzes und des Umweltschutzes,<br />

– die Verwirklichung des freien Verkehrs der Lebens-<br />

und Futtermittel in der Gemeinschaft,<br />

498<br />

Zentrale Regelungen des Lebensmittelrechts<br />

Zusatzstoff-Richtlinie (89/107, ABl. L 40/1989, geändert<br />

durch RL 94/34 und VO 1882/2003): Nach dem<br />

Verbotsprinzip mit Erlaubnisvorbehalt sind alle Zusatzstoffe<br />

im Prinzip verboten, sofern sie nicht in der<br />

Richtlinie als ausdrücklich erlaubt bezeichnet werden.<br />

Kriterien für die Zulassung ist die hinreichende technische<br />

Notwendigkeit, die gesundheitliche Unbedenklichkeit<br />

und die Nicht-Irreführung des Verbrauchers.<br />

Mit der Richtlinie über „Lebensmittelzusatzstoffe außer<br />

Farbstoffe und Süßstoffe“ (95/2, ABl. L 61/1995,<br />

geändert durch 96/85, 98/72, 2001/5) mussten allein<br />

13 000 verschiedene Regeln und Gepflogenheiten der<br />

europäischen Lebensmittelindustrie kompatibel gemacht<br />

werden. Die Richtlinie erlaubt beinahe alle in<br />

der EU gebräuchlichen Lebensmittelzusätze. Die Zusätze<br />

werden von einem ständigen Lebensmittelausschuss<br />

der EU geprüft. (Weitere Richtlinien: 94/35,<br />

ABl. L 237/1994, über Süßungsmittel in Lebensmitteln;<br />

94/36, ABl. L 237/1994, über Farbstoffe in Lebensmitteln.)<br />

Lebensmittelkennzeichnung: 1979 erließ der Rat eine<br />

Kennzeichnungsrichtlinie (79/112, geändert durch RL<br />

2000/13, ABl. L 109/2000 und durch RL 2001/101,<br />

ABl. L 310/2001), um Verbraucher vor Täuschungen<br />

zu schützen. Kennzeichnungsbereiche sind: auf Maßeinheiten<br />

bezogene Preisangaben, die Herstellerund<br />

Handelsmarke, die allgemeine Verkehrsbezeichnung,<br />

die Zutaten nach Gewichtsanteilen und das Mindesthaltbarkeitsdatum.<br />

Umstritten ist die Angabe des<br />

Nährwerts.<br />

Lebensmittelimitate: Im Bereich der Milchprodukte<br />

untersagt eine Verordnung (1898/87, ABl. L 1982/<br />

1987) die Anlehnung von Lebensmittelimitaten an<br />

echte Butter, Käse oder Jogurt; selbst die Abbildung<br />

einer Kuh oder einer Milchkanne auf Imitat-Erzeugnissen<br />

wird nicht geduldet. Im Bereich der Kunstprodukte<br />

verzichtet die EU auf Regelungen.<br />

Kontrolle: Ein weiteres Regelungsfeld der EU ist die<br />

Kontrolle der Lebensmittelrechtsakte. Schwerpunkt<br />

bildet die Richtlinie zur Lebensmittelüberwachung<br />

(89/397, ABl. L 186/1989). Die europäischen Verbraucherverbände<br />

fordern, dass die Harmonisierung<br />

durch europäisches Recht auf höchstem Niveau stattzufinden<br />

hat.<br />

Bio-Produkte: Um einen lauteren Wettbewerb zu sichern<br />

(für Produkte, die ohne chemisch-synthetische<br />

Mittel erzeugt wurden), existiert die Verordnung über<br />

den ökologischen Landbau und die entsprechende<br />

Kennzeichnung der landwirtschaftlichen Erzeugnisse<br />

und Lebensmittel (1991). Die Kennzeichnung „aus<br />

ökologischem Landbau“ ist nur zulässig, wenn sich die<br />

Agrarbetriebe an die strengen EU-Vorschriften halten<br />

und gänzlich auf Chemieeinsatz verzichten.


– die Berücksichtigung bereits bestehender oder geplanter<br />

internationaler Normen.<br />

Das Lebensmittelrecht beruht hauptsächlich auf der<br />

Risikoanalyse, die sich wiederum auf die verfügbaren<br />

wissenschaftlichen Nachweise stützt. Gemäß<br />

demVorsorgeprinziptreffendieMitgliedstaatenund<br />

die Kommission vorläufige und verhältnismäßige<br />

Maßnahmen zum Risikomanagement, wenn eine<br />

Bewertung die Wahrscheinlichkeit gesundheitsschädigender<br />

Auswirkungen nahe legt. Bei der Erarbeitung,<br />

Bewertung und Überprüfung des Lebensmittelrechts<br />

wird die Öffentlichkeit unmittelbar oder<br />

über Vertretungsgremien in offener und transparenter<br />

Weise konsultiert. Sobald ein Lebens- oder Futtermittel<br />

ein Risiko mit sich bringt, informieren die<br />

Behörden die Öffentlichkeit über die Art des Risikos<br />

für die Gesundheit von Mensch oder Tier.<br />

c) Allgemeine Anforderungen des Lebensmittelrechts:<br />

Kein Lebensmittel, das gefährlich, d. h. gesundheitsschädlich<br />

und/oder genussuntauglich ist,<br />

darf auf den Markt gebracht werden. Bei der Entscheidung,<br />

ob ein Lebensmittel gefährlich ist, werden<br />

die normalen Verwendungsbedingungen, die an<br />

den Verbraucher gerichteten Informationen, die<br />

wahrscheinlichen unmittelbaren oder verzögerten<br />

gesundheitlichen Auswirkungen, kumulative toxische<br />

Auswirkungen und etwaige gesundheitliche<br />

Unverträglichkeiten bei einer bestimmten Verbrauchergruppe<br />

berücksichtigt. Ist ein gefährliches Lebensmittel<br />

Teil einer Partie oder Charge, so gilt die<br />

gesamte Partie bzw. Charge als gefährlich. Kein Futtermittel,<br />

das gefährlich ist, darf auf den Markt gebracht<br />

oder an Lebensmittel erzeugende Tiere verfüttert<br />

werden. Ein Futtermittel ist gefährlich, wenn<br />

es schädliche Auswirkungen auf die Gesundheit von<br />

Mensch oder Tier hat. Enthält eine Partie ein gefährliches<br />

Futtermittel, so gilt die gesamte Partie als gefährlich.<br />

Auf allen Stufen der Lebensmittelkette sorgen die<br />

Unternehmen dafür, dass die Lebens- und Futtermittel<br />

die Anforderungen des Lebensmittelrechts erfüllen.<br />

Die Mitgliedstaaten kontrollieren die Anwendung<br />

dieser Rechtsvorschriften; sie überprüfen, ob<br />

dieUnternehmendieseRechtsvorschrifteneinhalten<br />

und legen Maßnahmen und Sanktionen fest, die bei<br />

VerstößengegendieseRechtsvorschriftenanzuwenden<br />

sind. Auf allen Erzeugungs-, Verarbeitungs- und<br />

Vertriebsstufen ist die Rückverfolgbarkeit der Lebens-<br />

und Futtermittel, der Lebensmittel erzeugen-<br />

Lebensmittelrecht<br />

den Tiere sowie aller sonstigen Stoffe, die in Lebensmitteln<br />

verarbeitet werden, sicherzustellen. Zu diesem<br />

Zweck richten die Lebens- und Futtermittelunternehmer<br />

Systeme und Verfahren ein, die eine solche<br />

Rückverfolgbarkeit ermöglichen. Erkennt ein<br />

Lebensmittelunternehmer, dass ein von ihm eingeführtes,<br />

erzeugtes, verarbeitetes oder vertriebenes<br />

Lebensmittel für Mensch oder Tier gesundheitsschädlich<br />

ist, so leitet er unverzüglich Verfahren ein,<br />

um das betreffende Lebensmittel vom Markt zu nehmen,<br />

und unterrichtet die zuständigen Behörden sowie<br />

die Verbraucher darüber.<br />

5.2 Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit<br />

(EBLS): Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit<br />

hat ihre Tätigkeit am 1. 1. 2002 aufgenommen.<br />

Ihre Aufgabe besteht darin, für wissenschaftliche<br />

und technische Beratung und Unterstützung in<br />

allen Bereichen zu sorgen, die Auswirkungen auf die<br />

Lebensmittelsicherheit haben. Sie bildet bei allen<br />

einschlägigen Fragen eine unabhängige Informationsquelle;<br />

außerdem stellt sie die Risikokommunikation<br />

mit der Öffentlichkeit sicher. Die Beteiligung<br />

an der Behörde steht den Mitgliedstaaten der Europäischen<br />

Union sowie denjenigen Ländern offen,<br />

welche die Bestimmungen des gemeinschaftlichen<br />

Lebensmittelrechts anwenden. Die Behörde ist eine<br />

juristische Person. Im Falle eines Rechtsstreits über<br />

vertragliche Haftung ist der Europäische Gerichtshof<br />

zuständig. Aufgaben.<br />

Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit<br />

hat in ihren Zuständigkeitsbereichen folgende<br />

Aufgaben :<br />

– Sie liefert den Organen der Gemeinschaft und den<br />

Mitgliedstaaten die bestmöglichen wissenschaftlichen<br />

Gutachten auf eigene Initiative oder im Auftrag<br />

der Kommission, des Europäischen Parlaments oder<br />

eines Mitgliedstaats.<br />

Diese unabhängigen wissenschaftlichen Gutachten<br />

betreffen Fragen der Lebensmittelsicherheit und<br />

sonstige, damit im Zusammenhang stehende Themen<br />

(Futtermittel und Tiergesundheit, Pflanzenschutzkontrollen,<br />

Ernährung usw.). Sie dienen als<br />

Grundlage für politische Entscheidungen über das<br />

Risikomanagement.<br />

– Sie gibt die für die Erfüllung ihres Mandats erforderlichen<br />

wissenschaftlichen Studien in Auftrag,<br />

wobei sie Überschneidungen mit den europäischen<br />

und einzelstaatlichen Forschungsprogrammen vermeidet.<br />

499


Leerer Stuhl<br />

– Sierecherchiertdiewissenschaftlichenundtechnischen<br />

Daten über den Lebensmittelkonsum und die<br />

Exposition gefährdeter Personen, stellt diese Daten<br />

zusammen, analysiert sie und fasst sie zusammen.<br />

Die Kommission veröffentlicht einen Bericht über<br />

die auf Gemeinschaftsebene vorhandenen Datenerhebungssysteme.<br />

– Sie führt Maßnahmen zur Ermittlung und Beschreibung<br />

neu auftretender Risiken durch. Die Behörde<br />

legt Kontrollverfahren fest, um Informationen<br />

zu recherchieren, zu erheben, zusammenzustellen<br />

und auszuwerten, welche die Ermittlung neu auftretender<br />

Risiken ermöglichen.<br />

– Sie sorgt für die Vernetzung von Organisationen,<br />

die im Bereich der Lebensmittelsicherheit tätig sind.<br />

Die Behörde beteiligt sich am Schnellwarnsystem,<br />

das die Kommission und die Mitgliedstaaten vernetzt.<br />

Sie fördert den Austausch von Informationen,<br />

Erkenntnissen und bewährten Verfahren, die Koordinierung<br />

von Maßnahmen sowie die Durchführung<br />

gemeinsamer Projekte.<br />

Die Kommission veröffentlicht ein Verzeichnis der<br />

auf Gemeinschaftsebene vorhandenen Datenerhebungssysteme.<br />

– Sie gewährt wissenschaftliche und technische Unterstützung<br />

mit dem Ziel, die Zusammenarbeit zwischen<br />

der Kommission, den Beitrittsländern, internationalen<br />

Organisationen und Drittländern zu verbessern.<br />

– Sie stellt sicher, dass die Öffentlichkeit und alle<br />

Beteiligten zuverlässige, objektive und verständlicheInformationenerhalten.<br />

L. U.<br />

Literatur:<br />

Epiney, A.: Umgekehrte Diskriminierungen im Lebensmittelrecht.<br />

In: Zeitschrift für das Lebensmittelrecht 3/1996,<br />

S. 259 – 272<br />

Europäische Kommission (Hg.): Grünbuch über allgemeine<br />

Grundsätze des Lebensmittelrechts in der EU. KOM(97) 176.<br />

Brüssel 1997<br />

Reich, N.: Europäisches Verbraucherrecht. Baden-Baden 1996<br />

Verordnung (EG) Nr. 178/2002 des Europäischen Parlaments<br />

und des Rates vom 28. 1. 2002 zur Festlegung der allgemeinen<br />

Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur<br />

Errichtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit<br />

und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit<br />

(Amtsblatt L 31/ 2002)<br />

„Leerer Stuhl“ �Politik des leeren Stuhls<br />

Legislaturperiode �Europäisches Parlament, �<strong>Europa</strong>wahlen<br />

500<br />

Legitimation, Legitimationsprobleme. Eine Kernforderung<br />

der Demokratie, nämlich die demokratische<br />

Kontrolle über die ausführenden Organe, kann<br />

durch das Europäische Parlament nur unvollkommen<br />

erfüllt werden. Zentrale Machtinstanzen – Ministerrat,<br />

Europäischer Rat, Europäische Kommission<br />

– haben kein Direktmandat von den europäischen<br />

Bürgerinnen und Bürgern. Ausgangspunkt für die<br />

ersten beiden Organe ist der Nationalstaat. Auch der<br />

�Ausschuss der (sehr heterogenen) Regionen hat nur<br />

Konsultativrechte. Ein erfolgreicher wirtschaftlicher<br />

Zusammenschluss allein schafft keine gemeinsamen<br />

politischen Strukturen. Die Regierungsvertreter<br />

haben nur eine indirekte Legitimation in europäischen<br />

Fragen. Ein herausragendes Beispiel ist die<br />

Beschlussfassung über den Euro.<br />

„Brüssel“ (d. h. der Rat) handelt oftmals weitgehend<br />

ohne parlamentarischen Auftrag, ohne die Vertreter<br />

des Souveräns. Brüsseler Projekten fehlt so womöglich<br />

bisweilen die mehrheitliche Unterstützung<br />

durchdieöffentlicheMeinungunddiegroßenVolksparteien.<br />

Es wird oft zu sehr die (vermeintliche) administrative<br />

Sachkompetenz hervorgehoben, ohne<br />

die parlamentarisch-demokratische Absicherung zu<br />

bedenken. Auch die Reflexionsgruppe für die Regierungskonferenz<br />

von 1996/97 (als Vorbereitung des<br />

�Vertrags von Amsterdam) hatte nur eine Beauftragung<br />

durch den Europäischen Rat (Gipfelkonferenz<br />

von Korfu, Juni 1994).<br />

Die demokratische Legitimation in den europäischen<br />

Entscheidungsverfahren war bislang schwach<br />

ausgeprägt. Da es keinen europäischen demos<br />

(Staatsvolk) gibt, gibt es womöglich auch kein europäisches<br />

Zusammengehörigkeitsgefühl, kein europäisches<br />

Gemeinwesen. Infolgedessen gibt es nur<br />

eine vom Europäischen Parlament, dessen Mitentscheidungsbefugnisse<br />

insbes. vom Amsterdamer<br />

Vertrag erheblich erweitert wurden, abgeleitete eingeschränkte<br />

Legitimation. Das Europäische Parlament<br />

ist jedoch keine Repräsentativkörperschaft eines<br />

europäischen (Volks-)Souveräns. Die Souveränität<br />

ist nach wie vor an den Nationalstaat gebunden.<br />

Die Interessen der Bürger/-innen der einzelnen Mitgliedstaaten<br />

der EU differieren u. U. erheblich. Deshalb<br />

kann die im Rat (= nach dem Territorialprinzip<br />

zusammengesetzte Regierungsvertreter) überstimmte<br />

Minderheit jede gegen sie getroffene Entscheidung<br />

als ethnische Fremdbestimmung betrachten.<br />

Der zukünftige Verfassungsvertrag soll die le-


gislatorische Kompetenz des Europäischen Parlaments<br />

verstärken.<br />

Generell besteht im europäischen Entscheidungsprozess<br />

ein Spannungsverhältnis zwischen Verfahrensregeln<br />

nach dem Demokratieprinzip und effizienter<br />

Entscheidung(sfindung). Theoretisch müssten<br />

– besonders in einer erweiterten Union – Mehrheitsentscheidungen<br />

die Einstimmigkeit ersetzen<br />

und intergouvernementale Handlungsfelder abgebaut<br />

werden. Der Entscheidungsfindung in der europäischen<br />

�Mehrebenenstruktur mangelt es an vertikaler<br />

Gewaltenteilung, nicht zuletzt, so lange �Subsidiarität<br />

als Kompetenzausübungs- und nicht als<br />

Vertragsregel praktiziert wird, d. h. ohne föderale<br />

Legitimation bleibt, die letztlich wohl nur durch eine<br />

europäischeVerfassunghergestelltwerdenkannund<br />

von der öffentlichen Meinung als Ausdruck der<br />

Partizipation der Bürger unterstützt wird..<br />

Kommission und Ministerrat (Rat der EU) sind die<br />

zentralen Organe des Gesetzgebungsverfahrens,<br />

trotzdesAusbausderdemokratischenStrukturendes<br />

Europäischen Parlaments (�Mitentscheidungsverfahren,<br />

durch den Nizzavertrag erweiterte Mitspracherechte<br />

des EP durch Zunahme der Mehrheitsentscheidungen).<br />

Was fehlt, ist die starke legitimatorische<br />

Absicherung der Gesetzgebung. Diese beruht<br />

noch auf der Rückkoppelung der obigen Organe an<br />

die nationalen Parlamente. Eine zufriedenstellende<br />

demokratische Kontrolle durch das EP ist oftmals<br />

nicht vorhanden. Die nationalen Regierungen spielen<br />

die entscheidende Rolle. Auch fehlen aktive, europaweit<br />

agierende Parteien. Die Bevölkerung hat<br />

demnachkaumMöglichkeiten,aufdiePolitikderEU<br />

einzuwirken. Es ist grundsätzlich zu fragen, inwieweit<br />

parlamentarische Superorgane ohne Staat und<br />

Staatsvolk zufriedenstellend funktionieren können.<br />

Das EP repräsentiert kein (Staats-)„Volk“, sondern<br />

eher Völker. Es gibt nicht immer eine einheitliche<br />

Position der EU in den Politikbereichen. Die EU besitztkeinestaatlicheAutorität(keineeigenenExekutivbehörden).EineGemeinsamkeitfehltz.B.beiden<br />

Folgeverhandlungen (Erweiterung – Reduzierung<br />

der strengen Anforderungen an die gemeinsamen<br />

Werte von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Grundrechtsgarantien,<br />

Marktwirtschaft – Kerneuropa –<br />

multinationaleAllianzen–Opt-out-Klauseln–keine<br />

Fixierung allgemeingültiger Grund- und Freiheitsrechte),<br />

die nach Möglichkeit die nationalen Interessen<br />

berücksichtigen sollen.<br />

Leitlinien-Kompetenz<br />

Das Legitimationsfundament liegt so im Wesentlichen<br />

noch bei den Einzelstaaten, die durch ihr Veto<br />

bei einstimmigen Beschlüssen alles blockieren können.<br />

Im Einzelnen geht es darum, dass die Mitglieder<br />

des Ministerrats zuhause Repräsentanten der nationalen<br />

Exekutive sind, während sie in der EU eine rein<br />

legislative Funktion wahrnehmen, deren Bedeutung<br />

weit über die Befugnisse des Europäischen Parlaments<br />

hinausgeht (Fehlen des eigentümlichen Initiativrechts).<br />

Die Kommission besitzt mit dem alleinigenInitiativrechteineessentiellelegislativeKompetenz.<br />

Dies kollidiert wiederum mit ihrer Aufgabe als<br />

„Hüterin der Verträge“. Des Weiteren übt die Kommission<br />

mit der Verwaltung der zahlreichen EU-Programme<br />

und Fonds sowie mit der Führung der Außenhandelspolitik<br />

erhebliche (Regierungs-)Macht<br />

aus. W. M.<br />

Leistungsgebundene Reserve �Haushalt<br />

Leitlinien-Kompetenz. Der Begriff der Leitlinien<br />

darf nicht mit dem Begriff der Richtlinien, der Form<br />

europäischer �Rechtsakte nach Art. 249 des EG-<br />

Vertrags, verwechselt werden. Leitlinien sind vielmehr<br />

Teil der Erarbeitung und Durchführung einer<br />

gemeinsamen Politik im Wechselspiel von Kommission,<br />

Rat und Mitgliedstaaten. Leitlinien besitzen<br />

zwar auch eine Art der Verbindlichkeit, werden aber<br />

nicht in den Verfahren, wie sie für die europäischen<br />

Rechtsakte vorgesehen sind, verabschiedet. Das bedeutet,<br />

dass die Mitentscheidung oder aktive Mitwirkung<br />

des Europäischen Parlaments hier nicht stattfindet.<br />

Nach der Entwicklung der europäischen<br />

Wirtschaftsunion wurde das Verfahren einer Koordinierung<br />

der mitgliedstaatlichen Politiken mittels<br />

Leitlinien in der Beschäftigungspolitik vertraglich<br />

verankert.<br />

1. Entstehung der Leitlinienkompetenz. Nach Art.<br />

128 EGV, eingefügt durch den Vertrag von Amsterdam,<br />

legt der Rat auf Vorschlag der Kommission und<br />

nach Anhörung des Europäischen Parlaments, des<br />

�Wirtschafts- und Sozialausschusses, des �Ausschusses<br />

der Regionen und des �Beschäftigungsausschusses<br />

jährlich mit qualifizierter Mehrheit Leitlinien<br />

fest, welche die Mitgliedstaaten in ihrer Beschäftigungspolitik<br />

berücksichtigen. Diese LeitlinienmüssenmitdereuropäischenWirtschaftspolitik<br />

in Einklang stehen. Bereits vor Inkrafttreten des Vertrages<br />

von Amsterdam am 1. 5. 1999 wurde aber<br />

501


Leitlinien-Kompetenz<br />

durch den Europäischen Rat in Luxemburg die gemeinsame<br />

Beschäftigungspolitik am 20./21. 11.<br />

1997 vorweg genommen und der sog. �„Luxemburg-Prozess“<br />

begründet. Damals hatte der Europäische<br />

Rat beschlossen, den einschlägigen Bestimmungen<br />

des neuen Titels „Beschäftigung“ im Vertrag<br />

von Amsterdam sofortige Wirksamkeit zu verleihen<br />

und die Abstimmung der Beschäftigungspolitik<br />

der Mitgliedstaaten bereits auf das Jahr 1998 vorzuziehen.<br />

Diese Abstimmung beruhte bereits auf gemeinsamen<br />

Leitlinien, die sich sowohl auf die Ziele<br />

als auch auf das Mittel bezogen – den sog. „Beschäftigungspolitischen<br />

Leitlinien“. Seit dem Inkrafttreten<br />

des Vertrages von Amsterdam ist die vertragliche<br />

Zuständigkeit der Gemeinschaft nach Art. 128 EGV<br />

gegeben. Auch der Verfassungsvertrag 2004 würde<br />

hier nichts ändern (Artikel III-206 VVE). Damit hat<br />

die Europäische Union insoweit eine Leitlinienkompetenz.<br />

Entsprechende Leitlinien wurden in den vergangenen<br />

Jahren zunächst durch Entschließung des<br />

Rates und dann durch förmlichen Ratsbeschluss angenommen.<br />

2. Methodik der Leitlinien. Die damals eingeführte<br />

Methodik der Leitlinien gilt weiterhin. Ausgehend<br />

von einer gemeinsamen Analyse der Beschäftigungslage<br />

werden in den „Leitlinien“ konkrete Ziele,<br />

unterstützt durch Messlatten und �Benchmarks,<br />

festgesetzt, deren Verwirklichung regelmäßig nach<br />

einem gemeinsamen Vorgehen bei der Bewertung<br />

der Ergebnisse überprüft wird. Die „Leitlinien“ können<br />

je nach ihrer Art, ihren Auswirkungen für die<br />

Mitgliedstaaten und ihre Adressaten von den Mitgliedstaaten<br />

in unterschiedlicher Weise durchgeführtwerden.DieLeitlinienmüssendas�Subsidiaritätsprinzip<br />

sowie die Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten,<br />

einschl. der ihrer Gebietskörperschaften, im<br />

Bereich der Beschäftigung wahren und mit den<br />

Grundzügen der Wirtschaftspolitik vereinbar sein.<br />

Das politische Konzept, auf das sich die Leitlinien<br />

der Beschäftigungsstrategie im Luxemburg-Prozess<br />

stützten und stützen, umfasst vier „Grundpfeiler“ :<br />

Unternehmertum, Beschäftigungsfähigkeit der Bevölkerung,<br />

Anpassungsfähigkeit und Chancengleichheit.<br />

3. Ausweitung der Leitlinienmethode. Darüber hinaus<br />

hat der Begriff der Leitlinien und die Frage nach<br />

einer Kompetenz der Gemeinschaft zum Erlass derartiger<br />

Instrumente eine neue Bedeutung im Zusammenhang<br />

mit der �„offenen Koordinierungsmetho-<br />

502<br />

de“, denn das Verfahren der europäischen Beschäftigungsstrategie<br />

erschien so vielversprechend, dass es<br />

bald auch auf andere Bereiche der Politik übertragen<br />

wurde. Der Europäische Rat von Lissabon vom<br />

23./24. 3. 2000 legte neue Zielvorgaben für eine umfassende<br />

Strategie für den Weg zu Beschäftigung,<br />

Wirtschaftsreform und sozialem Zusammenhalt als<br />

Bestandteile der wissensbasierten Gesellschaft fest<br />

und verpflichtete sich darauf, die Voraussetzungen<br />

für Vollbeschäftigung zu schaffen. Dies führte zur<br />

Festlegung einer neuen „offenen Koordinierungsmethode“:<br />

Das bedeutet: Die mit der �Lissabon-Strategie<br />

über den Beschäftigungsbereich hinaus<br />

ausgedehnte Methode der Koordinierung sieht<br />

für eine Reihe von Politiken eine Verfahrensweise<br />

vor,diedenMitgliedstaateneineHilfebeiderschrittweisen<br />

Entwicklung ihrer eigenen Politiken sein<br />

soll. Sie umfasst Folgendes:<br />

– Festlegungen von Leitlinien für die Union mit einem<br />

jeweils genauen Zeitplan für die Verwirklichung<br />

der von ihnen gesetzten kurz-, mittel- und<br />

langfristigen Ziele.<br />

– Gegebenenfalls Festlegung quantitativer und qualitativer<br />

Indikatoren und Benchmarks im Vergleich<br />

zu den Besten der Welt, die auf die in den einzelnen<br />

Mitgliedstaaten und Bereichen bestehenden Bedürfnisse<br />

zugeschnitten sind, als Mittel für den Vergleich<br />

der bewährten Praktiken.<br />

– Umsetzung dieser europäischen Leitlinien in die<br />

nationale und regionale Politik durch Entwicklung<br />

konkreter Ziele und Erlass entsprechender Maßnahmen.<br />

Dazu kommen regelmäßige Überwachung, Bewertung<br />

und gegenseitige Prüfung des Erreichten im<br />

Rahmen eines Prozesses, bei dem alle Seiten voneinander<br />

lernen sollen.<br />

Mit der Halbzeitbilanz zur Lissabon-Strategie wurden<br />

die koordinierte Wirtschaftspolitik gem. Art. 99<br />

EGV und die Leitlinienpolitik im Beschäftigungsbereich<br />

gem. Art. 128 EGV zu „integrierten Leitlinien“<br />

zusammengefasst.<br />

4. Fehlende Leitlinienkompetenz – z. B. im Bildungsbereich.<br />

Die beschäftigungspolitischen Leitlinien<br />

richten sich nach dem Europäischen Rat in Lissabon<br />

nach dessen Vorgaben aus. Dabei wurde die Bedeutung<br />

des lebenslangen Lernens betont. Die Vorgaben<br />

enthalten deshalb auch konkrete Vorgaben für die<br />

Bildungspolitik der Mitgliedstaaten. So wird u.a.<br />

festgelegt, dass die Mitgliedstaaten ihre Pro-Kopf-


Investitionen in die Humanressourcen erhöhen und<br />

die Qualität ihrer Bildungs- und Ausbildungssysteme<br />

sowie die einschlägigen Lehrpläne verbessern<br />

und vor allem im Bereich der Informationstechnologien<br />

und des Spracherwerbs aktiv sein sollen. Es<br />

werden konkrete Messzahlen vorgegeben wie z. B.<br />

dieHalbierungderZahlder18-bis24jährigen,dielediglich<br />

über einen Abschluss der Sekundarstufe I<br />

verfügen und keine weitere Schul- oder Berufsausbildung<br />

durchlaufen, bis zum Jahre 2010. Die Mitgliedstaaten<br />

sollen sicherstellen, dass ihre Bildungssysteme<br />

ein kontinuierlich an den Bedarf angepasstes<br />

Bündel von Schlüsselqualifikationen vermitteln<br />

(so aus dem Anhang der beschäftigungspolitischen<br />

Leitlinien für das Jahr 2000 – unmittelbar nach dem<br />

Inkrafttreten der Lissabon-Strategie).<br />

Die Europäische Union besitzt jedoch im Bildungsbereich<br />

nur ganz geringe Zuständigkeiten – sie kann<br />

die Politiken der Mitgliedstaaten lediglich fördern<br />

und ergänzen. Eine Harmonisierung der Rechts- und<br />

Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten ist dabei<br />

nicht möglich. Deshalb stieß die derartige Festlegung<br />

von bildungspolitischen Zieldaten in den<br />

europäischen Leitlinien auch auf Kritik: So begrüßten<br />

die Bildungsminister der Mitgliedstaaten im Bildungsministerrat<br />

zwar die neue aktive Rolle der Bildungspolitik<br />

bei der Mitgestaltung der europäischen<br />

Beschäftigungspolitik und die Aufnahme bildungsbezogenerZielsetzungenindieLeitlinien,siewiesen<br />

aber auch darauf hin, dass sich Bildung nicht in beschäftigungspolitischer<br />

Relevanz erschöpfe, sondern<br />

dass es auch um die persönliche, soziale und<br />

kulturelle Entfaltung des Einzelnen gehe (Stellungnahme<br />

des Rates [Bildung] zum Vorschlag für eine<br />

EntscheidungdesRatesüberLeitlinienfürbeschäftigungspolitische<br />

Maßnahmen der Mitgliedstaaten im<br />

Jahr 2001, verabschiedet am 9. 11. 2000, Rats-Dok.<br />

128 14/00). Der Bundesrat, über den die deutschen<br />

LänderanderWillensbildungineuropäischenAngelegenheiten<br />

innerhalb der Bundesrepublik Deutschland<br />

mitwirken, hatte stets die Eigenständigkeit des<br />

Bildungswesens gegenüber der Sozial-, Beschäftigungs-<br />

und Wirtschaftspolitik betont und es deshalb<br />

abgelehnt, die Bildung in die Koordinierungsmaßnahmen<br />

für die Beschäftigungspolitik mit einzubeziehen.<br />

Der Bundesrat betonte demgegenüber die<br />

eingeschränkten Zuständigkeiten der Europäischen<br />

Gemeinschaft für die Bildung und sah in den beschäftigungspolitischen<br />

Möglichkeiten des Art. 128<br />

EGV keine Ausweitung der Grenzen, die in den einschlägigen<br />

Bildungsartikeln für ein Handeln der Europäischen<br />

Gemeinschaft gesetzt sind (BR.Drs.<br />

658/00, Beschluss vom 1. 12. 2001). �Bildungspolitik<br />

5. Bewertung. Obwohl Leitlinien und Indikatoren es<br />

erlauben, dass jeder Mitgliedstaat sie im Sinne des<br />

Subsidiaritätsprinzips nach den eigenen Vorgaben<br />

und Bedürfnissen umsetzen kann, bleibt es doch bei<br />

einer politischen Steuerung der Politik der Mitgliedstaaten<br />

durch die Gemeinschaftsvorgaben. Dies<br />

wäre dann, wenn die Europäische Union ohnehin<br />

eine Rechtsetzungszuständigkeit hätte, zu akzeptieren,weilhiermitsogareinmilderesMittelgegenüber<br />

einem Rechtsakt gefunden wurde. Das entspricht<br />

dem Subsidiaritätsprinzip. Besteht aber eine derartige<br />

Zuständigkeit der Gemeinschaft zum Setzen von<br />

Rechtsakten nicht, ist die Vorgabe von Leitlinien aus<br />

der Sicht der Unionskompetenzen problematisch.<br />

Wenn schon nicht eindeutig rechtlich, so wird doch<br />

zumindest durch politische Bindung in die ZuständigkeitenderMitgliedstaateneingegriffen.<br />

I. B.-M.<br />

Leitzinsen �ESZB<br />

Leonardo da Vinci �Bildungsprogramme der EU<br />

Liberalisierung �Binnenmarkt<br />

LIFE<br />

Lien-Programm (1993 – 2000) im Rahmen von<br />

Phare und (ab 1999) TACIS. Es förderte Initiativen<br />

und Projekte von Nichtregierungsorganisationen im<br />

sozialen Bereich, insbes. zur Unterstützung von unterprivilegierten<br />

Bevölkerungsgruppen. Das Lien-<br />

Programm wurde 2000 vom �Access-Programm abgelöst.<br />

LIFE. Finanzierungsinstrument der EU für den Umweltschutz<br />

und den Naturschutz. Ziel ist es, einen<br />

Beitrag zur Entwicklung, Durchführung und Aktualisierung<br />

der Umweltpolitik sowie der Umweltbestimmungen<br />

der Gemeinschaft – vor allem auch im<br />

Hinblick auf die Einbeziehung von Umweltaspekten<br />

in andere Politikfelder sowie auf die �nachhaltige<br />

Entwicklung – zu leisten (VO 1655/2000, ABl. L<br />

192/2000).<br />

Die erste Phase lief von 1992 bis 1995 und umfasste<br />

Finanzmittel in Höhe von 400 Mio. ECU (= Euro),<br />

die zweite Phase lief von 1996 bis 1999 und war mit<br />

503


Lingua<br />

etwa 450 Mio. Euro ausgestattet. Die dritte Phase lief<br />

von 2000 bis Ende 2004 und war mit 640 Mio. Euro<br />

veranschlagt; sie wurde durch VO 1682/2004 bis 31.<br />

12. 2006 verlängert und mit zusätzlichen 317,2 Mio.<br />

Euro ausgestattet. Von LIFE finanzierte Vorhaben<br />

müssen von gemeinschaftlichem Interesse sein und<br />

den LIFE-Zielen entsprechen, von technisch und finanziell<br />

zuverlässigen Partnern vorgelegt werden<br />

und es muss die Durchführbarkeit hinsichtlich der<br />

technischen Lösungen, der Zeitplanung, der Mittelausstattung<br />

und der Wirtschaftlichkeit gesichert<br />

sein.<br />

LIFE umfasst drei thematische Bereiche: LIFE-<br />

Nature und LIFE-Umwelt (jeweils 47 % der Gesamtmittel)<br />

sowie LIFE-Drittländer (6 % der Gesamtmittel).<br />

Weitere 5 % der Gesamtmittel können für Begleitmaßnahmen<br />

verwendet werden. Die Kommission<br />

ist für die Überprüfung der Finanzierung zuständig,<br />

verfolgt die Durchführung der Maßnahmen und<br />

fordert ggf. unberechtigt vereinnahmte Mittel zurück.<br />

LIFE-Nature hat besondere Bedeutung für die Erhaltung<br />

der natürlichen Lebensräume und insbes. des<br />

europäischen Netzes �Natura 2000. Finanziert werden<br />

können Naturschutzvorhaben und Begleitmaßnahmen,<br />

welche für den Erfahrungsaustausch oder<br />

die Vorbereitung, die Bewertung und die Überwachung<br />

eines Vorhabens erforderlich sind. Die finanzielle<br />

Förderung erfolgt ausschließlich in Form einer<br />

Kofinanzierung. Der Höchstsatz beträgt 50 % der zuschussfähigen<br />

Kosten bei Naturschutzvorhaben und<br />

bis zu 100 % bei bestimmten Begleitmaßnahmen.<br />

Ziel von LIFE-Umwelt ist die Förderung der Entwicklung<br />

innovativer und integrierter Techniken<br />

und Verfahren sowie die Fortentwicklung der Umweltpolitik<br />

der EU. Es können finanziert werden:<br />

Demonstrationsvorhaben zur Einbeziehung von Aspekten<br />

der Umwelt in die Raumordnungspolitik sowiezurFörderungdernachhaltigenBewirtschaftung<br />

von Wasser und Abfällen oder zur Verringerung der<br />

Umweltauswirkungen wirtschaftlicher Tätigkeiten,<br />

vorbereitende Vorhaben im Hinblick auf neue Umweltmaßnahmen<br />

und -instrumente sowie -rechtsvorschriften.<br />

Die Kofinanzierung kann bei Vorhaben,<br />

die mit beträchtlichen Nettoeinnahmen verbunden<br />

sind, bis 30 %, in anderen Fällen bis zu 50 % betragen.<br />

LIFE-Drittländer kommt für Vorhaben der technischen<br />

Hilfe und entsprechende Begleitmaßnahmen<br />

504<br />

in Frage. Ziel ist hierbei, in den Drittländern im Mittelmeer-<br />

und Ostseeraum beim Aufbau der für den<br />

Umweltschutz erforderlichen Kapazitäten und VerwaltungsstrukturensowiebeiderAusarbeitungeiner<br />

Umweltpolitik und entsprechender Aktionsprogramme<br />

für den Umweltschutz zu helfen. Dabei<br />

müssen die Vorhaben (Kofinanzierung i. d. R. bis zu<br />

70 % der Gesamtkosten) von Interesse für die Gemeinschaft<br />

sein, eine nachhaltige Entwicklung fördern<br />

und Lösungen für größere Umweltprobleme<br />

bieten. Gefördert wurden damit u. a. Projekte zur<br />

nachhaltigen Verkehrsentwicklung in Tirana (Albanien),<br />

zum integrierten Umweltschutz in ländlichen<br />

Gebieten im Gaza Streifen und der West Bank (Palästinensische<br />

Autonomiegebiete) sowie zur Einrichtung<br />

des Öko-Tourismus Park in der Jerash-<br />

ProvinzinJordanien. C.-P. H.<br />

Lingua �Bildungsprogramme der EU<br />

Lissabon-Agenda. Bezeichnung für Arbeitsprogramme,<br />

Aktionspläne, Auflistungen von geplanten<br />

Maßnahmen,vonAufgabenoderForderungeninBezug<br />

auf die Umsetzung der �Lissabon-Strategie.<br />

Lissabon-Strategie (Lissabon-Prozess). Die Lissabon-Strategie<br />

umfasst die Vorgabe des Europäischen<br />

Rates, der bei seiner Tagung im Frühjahr 2000<br />

das strategische Ziel gesetzt hatte, die Europäische<br />

Union in 10 Jahren zum wettbewerbfähigsten und<br />

dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum<br />

der Welt zu machen. Diese Plansetzung umfasste ein<br />

stetiges Wirtschaftswachstum, Vollbeschäftigung<br />

sowie die Stärkung der sozialen Integration. Der<br />

Verlauf der Anstrengungen, dieses Ziel zu erreichen,<br />

die Ernüchterungen angesichts einer weltweit sich<br />

verändernden Wirtschaftslage und der Versuch,<br />

nach einer enttäuschenden Halbzeitbilanz zu einem<br />

neuen Aufbruch zu gelangen, kennzeichnen diesen<br />

Prozess, der wegen seiner strategischen Ausrichtung<br />

bald schon als „Lissabon-Strategie“ bezeichnet wurde.<br />

1. Die neue Zielsetzung des Europäischen Rats von<br />

Lissabon. Der Europäische Rat führte am 23./24. 3.<br />

2000 eine Sondertagung in Lissabon zu dem Thema<br />

„Beschäftigung, Wirtschaftsreform und sozialer Zusammenhalt“<br />

durch. Als Ergebnis gab der Europäische<br />

Rat ein „neues strategisches Ziel“ vor: Die Europäische<br />

Union müsse bis zum Jahre 2010 „zum


wettbewerbfähigsten und dynamischsten wissensbasierten<br />

Wirtschaftsraum der Welt werden – einem<br />

Wirtschaftsraum, der fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum<br />

mit mehr und besseren Arbeitsplätzen<br />

und einem größeren sozialen Zusammenhalt<br />

zu erzielen“. Das Ziel umfasste Vollbeschäftigung<br />

und eine durchschnittliche wirtschaftliche Wachstumsratevon3%.DieSchwerpunktewarendabei:<br />

– Der Übergang zu einer wissensbasierten Wirtschaft<br />

und Gesellschaft. Das bedeutete vermehrte<br />

politische Anstrengungen für das Entstehen der Informationsgesellschaft,<br />

die Stärkung von Forschung<br />

und Entwicklung, die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit<br />

und Innovation sowie die Vollendung<br />

des Binnenmarktes.<br />

– Eine Modernisierung des europäischen Sozialmodells.<br />

Das bedeutete Investitionen in die Humanressourcen,<br />

eine aktive Arbeitsmarktpolitik, die Reform<br />

des Sozialschutzes und die Bekämpfung von<br />

sozialer Ausgrenzung.<br />

Um diese übergreifende Zielsetzung zu erreichen,<br />

wurden ganz konkrete einzelne Zielvorgaben und<br />

Maßnahmen festgesetzt, die zum Teil mit Zeitplänen<br />

zu ihrer Umsetzung verbunden waren. Dies galt vor<br />

allem für folgende Bereiche:<br />

–eEurope – eine Informationsgesellschaft für alle<br />

– Forschung und Innovation<br />

– Schaffung eines günstigen Umfelds für Unternehmen<br />

(vor allem für die kleinen und mittleren<br />

Unternehmen, �KMU)<br />

– Wirtschaftsreformen für einen vollendeten und<br />

einwandfrei funktionierenden Binnenmarkt<br />

– Investition in Bildung und Ausbildung<br />

– Aktive Beschäftigungspolitik<br />

– Modernisierung des Sozialschutzes<br />

– Förderung der sozialen Integration.<br />

In den folgenden Europäischen Räten in Feira vom<br />

19./ 20. 6. 2000 und in Stockholm vom 23./24. 3.<br />

2001 wurde diese Strategie in der sozialen Komponente<br />

vertieft und durch eine Umweltdimension für<br />

eine nachhaltige Entwicklung erweitert.<br />

Durch diesen neuen Ansatz sollte mit der Wirtschaft<br />

der USA Schritt gehalten werden. Diese stützte sich<br />

damals vor allem auf ihre Spitzenposition in den Informations-<br />

und Kommunikationstechnologien und<br />

nahm dadurch einen starken Aufschwung. Ferner<br />

ging von Asien ein zunehmender Wettbewerbsdruck<br />

aus. Hinzu kam das niedrige europäische Bevölkerungswachstum.<br />

Die geplante neue wirtschaftliche<br />

Lissabon-Strategie<br />

Dynamik sollte aber mit den traditionellen europäischen<br />

Anliegen, wie dem sozialen Zusammenhalt,<br />

der sozialen Gerechtigkeit und dem Umweltschutz,<br />

in Einklang gebracht werden. Dies konnte nach Auffassung<br />

des Europäischen Rates nur mit einer gemeinsamen<br />

Anstrengung der Union sowie der Mitgliedstaaten<br />

verwirklicht werden. Der Europäische<br />

Rat ging davon aus, dass die Maßnahmen eines Mitgliedstaates<br />

nur dann ihre volle Wirkung entfalten<br />

könnten, wenn sie mit den anderen Mitgliedstaaten<br />

und der Unionspolitik abgestimmt wurden. Die einzelnen<br />

Reformen der Mitgliedstaaten sollten sich gegenseitig<br />

beeinflussen und verstärken. Aus diesen<br />

Zielen, der damit verbundenen Dynamik und gegenseitigen<br />

Wechselwirkung, erwuchs bald der Begriff<br />

„Lissabon-Strategie“.<br />

2. Die Instrumentarien zum Erreichen der Ziele. Zur<br />

Verwirklichung dieser Zielvorgaben wurden zwei<br />

Wege festgelegt:<br />

Zum einen sollten die bereits bestehenden Instrumente,<br />

wie die Koordinierung der Wirtschaftspolitik<br />

(Art. 99 EGV) und der Beschäftigungspolitik (Art.<br />

128 EGV), d. h. des �Luxemburg-, �Cardiff- und<br />

�Köln-Prozesses, vereinfacht und besser miteinanderverzahntsowieandenneuenZielenvonLissabon<br />

ausgerichtet werden. Dies bedeutete eine gezielte<br />

EU-Gesetzgebung zur Förderung des BinnenmarktpotentialsundEU-Aktionspläne,z.B.zurFörderung<br />

neuer Produkte und Dienstleistungen vor allem im<br />

Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien.DasumfassteaberauchverstärkteFolgenabschätzungen<br />

aller Vorhaben, um sicherzustellen,<br />

dass den Geboten der Wirtschaftlichkeit und der<br />

sozialen sowie ökologischen Nachhaltigkeit Rechnung<br />

getragen wurde. Gefordert waren auch die<br />

EU-�Strukturfonds und die Tätigkeit der �Europäischen<br />

Investitionsbank, z. B. im Rahmen der europäischen<br />

Wachstumsinitiative.<br />

Zum anderen sollte eine neue �„offene Koordinierungsmethode“<br />

eingeführt werden. Diese Methode<br />

baute auf mehreren Stufen auf:<br />

– Die Festlegung von Leitlinien für die Union mit jeweilsgenauenZeitplänenfürdieVerwirklichungder<br />

gesetzten Ziele.<br />

– Die Festlegung quantitativer und qualitativer Indikatoren<br />

und �Benchmarks als Mittel für den Vergleich<br />

der bewährten Praktiken.<br />

– Eine Umsetzung dieser europäischen �Leitlinien<br />

in die nationale und regionale Politik durch Vorgabe<br />

505


Lissabon-Strategie<br />

konkreter Ziele und den Erlass entsprechender Maßnahmen.<br />

– Regelmäßige Überwachung und Bewertung des<br />

Fortschrittes durch die Europäische Ebene sowie gegenseitige<br />

Prüfung im Rahmen dieses Prozesses von<br />

Seiten der Mitgliedstaaten, so dass alle Seiten voneinander<br />

lernen können.<br />

Diese neue Methode sollte der Tatsache Rechnung<br />

tragen, dass die Lissabon-Strategie mit ihren ehrgeizigen<br />

Zielen auch Bereiche abdeckte, für die nicht<br />

die Europäische Union, sondern ausschließlich die<br />

Mitgliedstaaten zuständig sind. Deshalb sollte in einem<br />

gemeinsamen Prozess, der voll im Einklang mit<br />

dem �Subsidiaritätsprinzip stehen sollte, mit einem<br />

dezentralen Ansatz vorgegangen werden. Die<br />

Union, die Mitgliedstaaten, die regionalen und lokalen<br />

Ebenen sowie die Sozialpartner und die Zivilgesellschaft<br />

sollten im Rahmen ihrer Möglichkeiten in<br />

unterschiedlichen Formen und Partnerschaften aktiv<br />

zur Erreichung der gesetzten Ziele mitwirken.<br />

Außerdem wurde festgelegt, dass der Europäische<br />

Rat künftig jedes Frühjahr eine Tagung über Wirtschafts-<br />

und Sozialfragen abhalten werde<br />

3. Reaktion in der Bundesrepublik Deutschland. In<br />

der Bundesrepublik Deutschland fand diese neue<br />

Strategie nicht ungeteilte Zustimmung. Der Bundesrat,<br />

über den die deutschen Länder an der Meinungsbildung<br />

in europäischen Angelegenheiten mitwirken,<br />

unterstützte zwar grundsätzlich den Europäischen<br />

Rat in seiner ehrgeizigen Zielsetzung. Er sah<br />

jedoch in der Überwachungsfunktion der Kommission<br />

über die nationalen Politiken eine Stärkung des<br />

europäischen Zentralismus (BR.Drs. 27400 – Beschluss<br />

vom 29. 9. 2000).<br />

4. Halbzeitbilanz der Lissabon-Strategie (Wim-<br />

Kok-Bericht). Kurz darauf änderte sich weltweit die<br />

wirtschaftliche Situation. Die Terroranschläge vom<br />

11. 9. 2001, der Zusammenbruch der New Economy,<br />

die steigenden Öl- und Rohstoffpreise, aber auch ein<br />

z.T.erheblicherwirtschaftlicherReformbedarfineiner<br />

großen Anzahl von Mitgliedstaaten führten zu<br />

enttäuschenden Ergebnissen – während allerdings<br />

einige Mitgliedstaaten die Vorgaben von Lissabon<br />

sogar übertreffen konnten. Auf seiner Frühjahrstagung<br />

2004 forderte der Europäische Rat ein größeres<br />

Tempo der Reformen, um die Ziele der Lissabon-Strategie<br />

bis 2010 zu erreichen. Das bedeutete<br />

vor allem eine Belebung des Binnenmarktes, eine<br />

verstärkte Deregulierung des EU-Rechtes und grö-<br />

506<br />

ßere Investitionen in das Humankapital. Der Europäische<br />

Rat forderte zu diesem Zweck von der EU -<br />

Kommission ein entsprechendes Aktionsprogramm.<br />

Er setzte ferner eine Expertengruppe unter dem Vorsitz<br />

des früheren niederländischen Premierministers<br />

Wim Kok ein, die eine Halbzeitbewertung der Lissabon-Strategie<br />

vornehmen und Vorschläge für eine<br />

Neuausrichtung ausarbeiten sollte.<br />

Im November 2004 legte diese Arbeitsgruppe einen<br />

Bericht über die Lissabon-Strategie für Wachstum<br />

und Beschäftigung vor, der die enttäuschenden bisherigen<br />

Ergebnisse feststellte. Die Sachverständigengruppe<br />

rügte als Ursache dafür vor allem den<br />

mangelnden politischen Handlungswillen der Mitgliedstaaten,<br />

Reformen durchzusetzen. Sie forderte<br />

eine entschlossene und überzeugende politische<br />

Führung sowie eine Verstärkung der Anstrengungen<br />

vonSeitenderMitgliedstaatenundderEuropäischen<br />

Kommission, um tatsächliche Veränderungen zu bewirken.<br />

Der Bericht verlangte, die europäischen Sozialpartner<br />

stärker einzubeziehen und die europäischenBürgerinnenundBürgerfürdenWandelzugewinnen.<br />

Jedem Menschen müsse begreiflich gemacht<br />

werden, weshalb Lissabon für jeden Bürger in<br />

<strong>Europa</strong> von Bedeutung ist. Die Arbeitsgruppe hielt<br />

Maßnahmen in folgenden Politikbereichen für dringend<br />

erforderlich:<br />

– Wissensgesellschaft: Forschung und Entwicklung<br />

sollten zur absoluten Priorität werden und der EinsatzfürdieInformations-undKommunikationstechnologien<br />

sollte erhöht werden.<br />

– Binnenmarkt: Der Binnenmarkt sollte unverzüglich<br />

vollendet werden – hier ging es vor allem um die<br />

Freiheit der Dienstleistungen.<br />

– Wirtschaftsklima: Die administrative Belastung<br />

der Wirtschaft müsste reduziert, die Qualität der<br />

Rechtsvorschriften verbessert und die Abwicklung<br />

von Unternehmensgründungen beschleunigt werden.<br />

Ein unternehmensfreundliches Umfeld müsse<br />

geschaffen werden.<br />

– Arbeitsmarkt: Das Ziel einer Steigerung der Beschäftigung<br />

müsste verstärkt angegangen werden;<br />

Strategien für lebenslanges Lernen und aktives Altern<br />

sowie Partnerschaften für Wachstum und Beschäftigung<br />

sollten erarbeitet werden.<br />

– Ökologische Nachhaltigkeit: Das bedeutete ökologische<br />

Innovationen, eine Führungsrolle in der Ökoindustrie<br />

und langfristige nachhaltige Produktivitätssteigerungen<br />

im Sinne einer höheren Ökoeffizienz.


Der Bericht schlug detaillierte Maßnahmen vor, die<br />

von einer neuen Führungsrolle des Europäischen Rates<br />

ausgingen, um die die Umsetzung der Lissabon-Strategie<br />

weiter voranzutreiben. Er verlangte<br />

nationale Programme der Mitgliedstaaten, mit denen<br />

sich diese zur Durchführung von Reformen verpflichten<br />

und auch die Bürger in den Prozess mit einbinden<br />

sollten. Die Europäische Kommission sollte<br />

die Fortschritte überprüfen, über diese berichten und<br />

weitere Fortschritte fördern. Auch forderte der BerichteineaktiveRollebeiderÜberwachungderFortschritte<br />

durch das Europäische Parlament. Letztlich<br />

sollten die europäischen Sozialpartner ihre Verantwortung<br />

wahrnehmen und aktiv an der Umsetzung<br />

der Lissabon-Strategie mitwirken.<br />

6. Vorschläge der EU Kommission zur Halbzeitbilanz.<br />

Entsprechend dem Auftrag des Europäischen<br />

Rates legte die EU-Kommission am 2. 2. 2005 ihre<br />

Halbzeitbilanz zur Umsetzung der Lissabonner Strategie<br />

vor und präsentierte eine „neue Strategie für die<br />

Europäische Union zur Schaffung von mehr Wachstum<br />

und Arbeitsplätzen“ (KOM 2005/24). Die EU-<br />

Kommission ging davon aus, dass durch eine Wiederbelebung<br />

der Lissabon-Strategie bis zum Jahre<br />

2010 ein Wachstum des Bruttoinlandsproduktes von<br />

3%sowie6MillionenneueArbeitsplätzegeschaffen<br />

werden könnten. Die neue Strategie richtete sie sowohl<br />

an die Europäische Union als auch an die Mitgliedstaaten.<br />

Sie verlangte, die Instrumente des beschäftigungspolitischen<br />

Leitlinienprozesses (�Luxemburg-,<br />

�Cardiff-Prozess) mit den wirtschaftspolitischen<br />

Ausrichtungen zu einem einheitlichen<br />

„Lissabonner Leitlinienprozess“ zu verbinden. Über<br />

diesen Prozess sollten die Mitgliedstaaten regelmäßig<br />

Bericht in Form „nationaler Lissabon-Aktionspläne“<br />

erstatten und außerdem bis zum Herbst eines<br />

jeden Jahres jeweils ein sog. „Einheitliches Nationales<br />

Aktionsprogramm für Wachstum und Beschäftigung“<br />

vorlegen. Ein innerstaatlicher Koordinator<br />

sollte durch die nationale Regierung ernannt werden<br />

(ein „Mr“/eine „Mrs. Lisbon“ ). Bis Januar sollte<br />

dann der Entwurf eines strategischen Jahresberichtes<br />

durch die Kommission dem Europäischen Rat zu<br />

seiner Frühjahrstagung vorgelegt und von diesem<br />

verabschiedet werden. Daraus würde die Kommission<br />

in einem Monat ein Leitlinienpaket erarbeiten,<br />

das im folgenden Monat von den einzelnen Fachministerräten<br />

angenommen werden sollte. Damit sollte<br />

deutlich werden, dass die Verantwortlichkeiten vor<br />

Lissabon-Strategie<br />

allem bei den Mitgliedstaaten als den „Besitzern des<br />

Reformprozesses“ liegen. Die Rolle der Kommission<br />

sollte sich darauf beschränken, durch Benchmarking,<br />

finanzielle Unterstützung, die Förderung des<br />

sozialen Dialogs und die Darstellung von besten<br />

Praktiken koordinierend und überwachend einzuwirken.<br />

Die Mitgliedstaaten dagegen sollten im Rahmen<br />

ihrer Nationalen Lissabon-Programme feste<br />

Zusagen mit zeitlichen Umsetzungsplänen und Fortschrittsindikatoren<br />

abliefern.<br />

7.PositioneninderBundesrepublikDeutschlandzur<br />

Halbzeitbilanz. Bereits im Oktober 2004 hatte die<br />

BundesregierungeinPositionspapierzurHalbzeitbilanz<br />

der Lissabon-Strategie vorgelegt und sowohl<br />

auf europäischer als auch auf nationaler Ebene eine<br />

Neuausrichtung und Konzentration der Reformbemühungen<br />

für unerlässlich erklärt, sollten die Kernziele<br />

der Lissabon-Strategie erreicht werden. Sie<br />

verlangte,sichaufdieZieledesnachhaltigenWachstums,<br />

der Beschäftigung durch Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit<br />

der Unternehmen in einer wissensbasierten<br />

Wirtschaft zu konzentrieren (BR.Drs.<br />

917/04).<br />

DiedeutschenLänderteiltenimBundesratdieseEinschätzung<br />

der Bundesregierung. Der Bundesrat hielt<br />

die Ausgangskonzeption der Lissabon-Strategie mit<br />

ihrer Vielzahl an Zielvorgaben, Indikatoren und Programme<br />

für schädlich. Er forderte einen Prioritätenkatalog<br />

zur Umsetzung einzelner Ziele. Er forderte,<br />

Stärken und Reformdefizite in den einzelnen Mitgliedstaaten<br />

konkreter als bisher zu benennen und<br />

darzustellen,. Er bedauerte, dass in den nationalen<br />

Aktionsplänen, wie sie die Kommission vorgeschlagen<br />

hatte, auf eine vergleichende Bewertung und auf<br />

Ranglisten der Mitgliedstaaten hinsichtlich ihrer Reformanstrengungen<br />

verzichtet wurde (BR.Drs. 917/<br />

04 – Beschluss vom 18. 2. 2005).<br />

8. Der Europäische Rat von Brüssel zur Halbzeitbilanz.<br />

Am 22./23. 3. 2005 legte der Europäische Rat<br />

eine Strategie zur Neubelebung der Lissabon-Strategie<br />

vor. Er räumte ein, dass 5 Jahre nach Einleitung<br />

der Lissabon-Strategie die Bilanz nicht zufriedenstellend<br />

sei. Deshalb hielt er es für unabdingbar, der<br />

Lissabon-Strategie unverzüglich neue Impulse zu<br />

geben und die Prioritäten auf Wachstum und Beschäftigung<br />

auszurichten. Er forderte, dass die<br />

Union alle geeigneten einzelstaatlichen und gemeinschaftlichen<br />

Mittel für die drei Dimensionen der<br />

Strategie – Wirtschaft, Soziales und Umwelt – mobi-<br />

507


Lissabon-Strategie<br />

lisieren müsse. Neben den Regierungen forderte er<br />

alle anderen Beteiligten, d. h. die Parlamente, die regionalen<br />

und lokalen Stellen, die Sozialpartner sowie<br />

die �Zivilgesellschaft auf, sich die neue StrategiezueigenzumachenundaktivzurVerwirklichung<br />

ihrer Ziele beizutragen. Außerdem verlangte er, die<br />

Union für den Zeitraum 2007 bis 2013 mit den angemessenen<br />

Mitteln auszustatten, damit diese die Strategie<br />

zum Erfolg führen könne.<br />

Schwerpunkte für die Neubelebung sollen sein:<br />

– Wissen und Innovation – Triebkräfte für nachhaltiges<br />

Wachstum: Es geht um das Investitionsniveau<br />

von3%imBereich von Forschung und Entwicklung<br />

bei gleichzeitiger Ausgewogenheit der privaten und<br />

öffentlichen Investitionen, um die Verwirklichung<br />

des europäischen Forschungsraumes durch Zusammenarbeit<br />

innerhalb <strong>Europa</strong>s, um die Unterstützung<br />

von innovativen Unternehmen, vor allem der kleinen<br />

und mittleren Unternehmen, um ein neues Gemeinschaftsprogramm<br />

zur Förderung von Wettbewerbsfähigkeit<br />

und Innovationen, um eine aktive Industriepolitik<br />

und um einen umfassenden Einsatz der Informations-<br />

und Kommunikationstechnologien vor<br />

allem auch in öffentlichen Diensten. Dabei spielt die<br />

Umweltpolitik eine wichtige Rolle zur Beschäftigung<br />

und Lebensqualität. Hervorgehoben sind ein<br />

effizienter Energieeinsatz sowie die Förderung der<br />

Umwelttechnologien im öffentlichen Auftragwesen.<br />

Der Europäische Rat forderte hierzu einen echten<br />

Dialog zwischen öffentlichen und privaten Akteuren<br />

der Wissensgesellschaft.<br />

– Ein attraktiver Raum für Investitionen und Arbeit:<br />

Hier stehen die Vollendung des Europäischen Binnenmarktes<br />

– vor allem im Bereich der Dienstleistungen<br />

–, ein günstiger Regelungsrahmen für die Unternehmen<br />

und die Stärkung der sozialen VerantwortungderUnternehmenimMittelpunkt.Esgehtferner<br />

um leistungsfähige Infrastrukturen der Daseinsvorsorge<br />

und eine gesunde Umwelt – vor allem auch im<br />

Bereich der Chemikalien. Horizontale Ziele wie Forschung<br />

und Entwicklung und die Erschließung von<br />

Humankapitalsindwiederummaßgeblich.Vorgegeben<br />

wird ferner eine Verbesserung des Regelungsrahmens,<br />

wobei eine gemeinsame Methode zur Bemessung<br />

des Verwaltungsaufwands bis Ende 2005<br />

geregelt werden soll. Es geht letztlich um eine offene<br />

Weltwirtschaft und die Stellung der Europäischen<br />

Union im Rahmen der Verhandlungen des Welthandelsabkommens.<br />

508<br />

– Wachstum und Beschäftigung im Dienste des sozialen<br />

Zusammenhaltes:<br />

Das Ziel ist weiterhin die Verwirklichung des europäischen<br />

Sozialmodells und der Vollbeschäftigung.<br />

Das bedeutet Beschäftigung als realistische Möglichkeit<br />

für alle, Erhöhung der Arbeitsmarktbeteiligung,<br />

Modernisierung des Sozialschutzes, Förderung<br />

der Chancengleichheit – vor allem zwischen<br />

MännernundFrauen,MaßnahmenzurVereinbarkeit<br />

von Berufs- und Familienleben, Strategien für ein<br />

aktives Altern, Förderung der sozialen Eingliederung,neueFormenderArbeitsorganisationsowieInvestitionen<br />

in das Humankapital. Ein Schwerpunkt<br />

ist dabei das lebenslange Lernen, wobei einer hohen<br />

Qualität auf allen Ebenen des Lernens eine große Bedeutung<br />

zugemessen wird. Die Mitgliedstaaten sollendaslebenslangeLernenzueinemAngebotfüralle<br />

Menschen in Schulen, Unternehmen und Haushalten<br />

machen. Es geht um die Entwicklung eines europäischen<br />

Bildungsraums durch Förderung der geographischen<br />

und beruflichen Mobilität und um einen<br />

Europäischen Qualifikationsrahmen. Eine besondere<br />

Zielgruppe sind in Armut lebende Kinder.<br />

Das bisherige Instrumentarium der Lissabon-Strategie<br />

soll ab dem Jahre 2005 vereinfacht werden, um<br />

Prioritäten leichter festlegen zu können und gleichzeitig<br />

das Gesamtgleichgewicht der Strategie und<br />

der Synergieeffekte zwischen ihren verschiedenen<br />

Bestandteilen zu erreichen. Damit soll auch eine bessere<br />

Umsetzung der Prioritäten durch eine stärkere<br />

Einbeziehung der Mitgliedstaaten und eine Rationalisierung<br />

des Beobachtungsverfahrens erreicht werden.<br />

So werden dreijährige Zyklen geschaffen, die 2006<br />

beginnen und 2008 fortgeschrieben werden. Am<br />

Ausgangspunkt eines Zyklus steht ein „Strategiebericht“derKommission.AufgrunddessenlegtderEuropäische<br />

Rat in seiner Frühjahrstagung die politischen<br />

Zielvorstellungen für die wirtschaftliche, die<br />

soziale und die umweltpolitische Dimension der<br />

Strategie fest. Ferner werden die koordinierte Wirtschaftspolitik<br />

gem. Art. 99 EGV und die Leitlinienpolitik<br />

im Beschäftigungsbereich gem. Art. 128<br />

EGV zu „integrierten Leitlinien“ zusammengefasst.<br />

Die Grundzüge der Wirtschaftspolitik sind dabei der<br />

übergreifende Rahmen für die Gesamtkohärenz der<br />

drei Dimensionen Wirtschaft, Soziales und Umwelt.<br />

Aufgrund der „integrierten Leitlinien“ erstellen<br />

dann die Mitgliedstaaten in ihrer jeweiligen Verant-


wortung „nationale Reformprogramme“, die ihren<br />

Bedürfnissen und spezifischen Gegebenheiten entsprechen.<br />

Dazu sollen die Mitgliedstaaten ihre innerstaatliche<br />

Koordinierung verbessern – ggf. durch die<br />

Benennung eines „nationalen Lissabon-Koordinators“.<br />

Die Kommission ihrerseits unterbreitet ein<br />

„Lissabon-Programm der Gemeinschaft“, das alle<br />

auf Unionsebene zu treffenden Maßnahmen für<br />

WachstumundBeschäftigungumfasstunddabeiden<br />

Erfordernissen der Konvergenz der Politiken Rechnung<br />

trägt. Die bisher von den Mitgliedstaaten an die<br />

Kommission zu richtenden Berichte über die UmsetzungderLissabon-Strategiewerdenkünftigineinem<br />

einzigen Dokument zusammengefasst, in dem Maßnahmen<br />

aufgeführt werden, die während der 12 vorangegangenen<br />

Monate zur Durchführung der nationalenProgrammeergriffenwordenwaren.DieKommission<br />

erstattet jährlich Bericht über die Umsetzung<br />

der Strategie. Am Ende des dritten Jahres eines<br />

jeden Zyklus werden die „integrierten Leitlinien“,<br />

die „nationalen Reformprogramme“ und das „Lissabon-Programm<br />

der Gemeinschaft“ erneuert, wobei<br />

wiederum ein Strategiebericht der Kommission<br />

Grundlage ist. Dieser Strategiebericht stützt sich auf<br />

eine umfassende Wertung der in den drei vorangegangenen<br />

Jahren erzielten Fortschritte.<br />

9. Ausblick. Der Erfolg der neuen Strategie wird von<br />

vielen Faktoren abhängen. Dazu gehört neben den<br />

Auswirkungen der Erweiterung auch die wirtschaftliche<br />

Entwicklung in großen Mitgliedstaaten wie Italien,<br />

Frankreich und Deutschland. Wieweit zentrale<br />

Steuerungs- und Überwachungsmechanismen, Berichtspflichten<br />

und konkrete Zielvorgaben die gegenwärtigen<br />

Probleme lösen können, mag fraglich<br />

erscheinen. Notwendig aber ist ein stärkeres gemeinsames<br />

Vorgehen der Union und ihrer Mitgliedstaaten<br />

sowie gemeinsame Anstrengungen, um in den<br />

Bereichen Wachstum, Soziales und Umwelt zu signifikantenFortschrittenzukommen.<br />

I. B.-M.<br />

Lissabon-Strategie im Bildungsbereich<br />

Begriff: Die �Lissabon-Strategie umfasst sämtliche<br />

Maßnahmen zur wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen<br />

Erneuerung der EU. Im Bildungsbereich<br />

enthält sie das strategische Ziel, die europäischen<br />

Systeme und Einrichtungen der allgemeinen und beruflichen<br />

Bildung bis zum Jahre 2010 hinsichtlich<br />

Qualität und Bedeutung zur Weltgeltung zu entwickeln.<br />

Lissabon-Strategie im Bildungsbereich<br />

Hintergrund, Zielsetzung, Prozessverlauf: Mit der<br />

Sondertagung des Europäischen Rates am 23./24.<br />

März 2000 in Lissabon trat die Europäische Zusammenarbeit<br />

in eine neue Phase. Der Europäische Rat<br />

setzte sich zum Ziel, für das kommende Jahrzehnt<br />

(bis 2010), „die Union zum wettbewerbsfähigsten<br />

und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum<br />

in der Welt zu machen“. Zu den Kernpunkten<br />

zählt auch eine Reform der Bildungssysteme (im<br />

Rahmen der rechtlichen Möglichkeiten der Mitgliedstaaten;<br />

vgl. �Bologna-Prozess).<br />

Für den Bereich der allgemeinen und beruflichen<br />

Bildung forderte der Europäische Rat eine NeuorientierungdereuropäischenBildungs-undAusbildungssysteme<br />

hin „auf den Bedarf der Wissensgesellschaft<br />

und die Notwendigkeit von mehr und besserer<br />

Beschäftigung“. Mitgliedstaaten, Rat und<br />

Kommission sollten in ihren Zuständigkeitsbereichen<br />

– die Mitgliedstaaten im Rahmen ihrer verfassungsrechtlichen<br />

Vorschriften – auf folgende Ziele<br />

hinarbeiten:<br />

– Steigerung der Humankapitalinvestitionen;<br />

– bis 2010 Halbierung der Zahl der 18- bis 24-jährigen,<br />

die lediglich über einen Sekundarstufen I-Abschluss<br />

verfügen und keine weiterführende Schuloder<br />

Berufsausbildung durchlaufen;<br />

– Entwicklung von lokalen Mehrzweck-Lernzentren<br />

und Gründung von Lernpartnerschaften;<br />

– Förderung neuer Grundfertigkeiten durch lebenslanges<br />

Lernen, insbesondre im IT-Bereich;<br />

– Förderung der Mobilität von Schülern und Studenten,<br />

Lehrern sowie Ausbildungs- und Forschungspersonal;<br />

mehr Transparenz bei der Anerkennung<br />

von Abschlüssen sowie von Studien- und Ausbildungszeiten;<br />

– Entwicklung eines gemeinsamen, europäischen<br />

Musters für Lebensläufe, das auf freiwilliger Basis<br />

gelten sollte.<br />

Die konkreten künftigen Ziele der Bildungssysteme<br />

(„Zielebericht“):<br />

Ziffer 27 der Schlussfolgerungen des Europäischen<br />

Rates von Lissabon fordert den Bildungsministerrat<br />

auf, als „Beitrag zum �Luxemburg-Prozess und<br />

�Cardiff-Prozess für die Frühjahrstagung des EuropäischenRates2001inStockholm,allgemeineÜberlegungen<br />

über die konkreten künftigen Ziele der Bildungssysteme<br />

anzustellen“ (sog. „Zielebericht“).<br />

Ziffer 37 der Schlussfolgerungen sieht für die Verwirklichung<br />

der Strategieziele die �offene Koordi-<br />

509


Lissabon-Strategie im Bildungsbereich<br />

nierungsmethode vor (Lenkung der im Vertrag vorgesehenen<br />

Selbstkoordinierung der Mitgliedstaaten<br />

durch Festlegung von �Leitlinien, Indikatoren und<br />

�Benchmarks mit Zielvorgaben und jährlichen Ergebnisüberprüfungen).<br />

Die Kommission legte am 31. 1. 2001 den Bericht<br />

über „die konkreten künftigen Ziele der Bildungssysteme“<br />

vor („Zielebericht“: – KOM 2001/059<br />

endg.), mit folgenden drei allgemeinen strategischen<br />

Zielen, die nochmals in dreizehn Teilziele untergliedert<br />

sind:<br />

– höhere Qualität und verbesserte Wirksamkeit der<br />

Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung in<br />

der Europäischen Union,<br />

– leichterer Zugang zu den Systemen der allgemeinen<br />

und beruflichen Bildung für alle und<br />

– Öffnung dieser Systeme gegenüber der Welt.<br />

Der Bildungsministerrat billigte am 12. 2. 2001 den<br />

Bericht.<br />

„Detailliertes Arbeitsprogramm“: Der Europäische<br />

Rat billigte den Zielebericht am 23./24. 3. 2001 in<br />

Stockholm und beauftragte die Kommission, ein detailliertes<br />

Arbeitsprogramm vorzuschlagen. Dies ist<br />

am 14. 2. 2002 vom Rat angenommen worden („Detailliertes<br />

Arbeitsprogramm zur Umsetzung der Ziele<br />

der Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung<br />

in <strong>Europa</strong>“ (KOM 2001/501 endg., Abl. C 142/<br />

2002).<br />

Der Europäische Rat nahm das Arbeitsprogramm<br />

mit seinen 3 strategischen und 13 Teilzielen auf seiner<br />

Tagung am 15./16. März 2002 in Barcelona an<br />

und legte als weiteres Ziel fest, dass “die Systeme der<br />

allgemeinen und beruflichen Bildung bis 2010 zu einer<br />

weltweiten Qualitätsreferenz“ fortentwickelt<br />

werden sollte. Er ersuchte den Rat und die Kommission,<br />

ihm auf seiner Frühjahrstagung 2004 über die<br />

effektive Umsetzung einen Zwischenbericht zu erstatten<br />

(Ziff. 43 der Schlussfolgerungen des Vorsitzes).<br />

Zwischenbericht: Die Kommission legte am 11. 11.<br />

2003 den Entwurf eines gemeinsamen Zwischenberichtsvor:„AllgemeineundberuflicheBildung2010<br />

– die Dringlichkeit von Reformen für den Erfolg der<br />

Lissabon-Strategie – Entwurf eines gemeinsamen<br />

Zwischenberichts über die Maßnahmen im Rahmen<br />

des detaillierten Arbeitsprogramms zur Umsetzung<br />

der Ziele der Systeme der allgemeinen und beruflichen<br />

Bildung in <strong>Europa</strong>“ (KOM 2003/685 endg.).<br />

Darin werden drei Schlüsselbereiche (sog. Key mes-<br />

510<br />

sages) für das weitere Arbeitsprogramm bis 2010<br />

hervorgehoben:<br />

1. Die zentrale Rolle der Bildung und Bildungsinvestitionen<br />

als Schlüsselfaktoren für die Wettbewerbsfähigkeit<br />

der Union, für Wachstum und Beschäftigung<br />

verbunden mit dem Ziel einer Steigerung<br />

der öffentlichen und privaten Investitionen in<br />

den Mitgliedstaaten.<br />

2. Die Notwendigkeit, auf nationaler Ebene Strategien<br />

für das lebenslange Lernen zu entwickeln unter<br />

Einbeziehung der Wirtschaft, Sozialpartner und Bildungseinrichtungen<br />

auf allen Ebenen.<br />

3. Schaffung eines europäischen Referenzrahmens<br />

für die Anerkennung von Qualifikationen und Kompetenzen.<br />

Der Europäische Rat nahm den gemeinsamen Bericht<br />

auf seiner Frühjahrstagung am 25. und 26. März<br />

2004 in Brüssel zur Kenntnis.<br />

Frühjahrsbericht: In ihrem „Bericht für die Frühjahrstagung<br />

2004 des Europäischen Rates : Die Lissabon-Strategie<br />

realisieren, Reformen für die erweitere<br />

Union“ (KOM 2004/29 endg. vom 21. 1. 2004)<br />

ersucht die Kommission den Europäischen Rat, für<br />

die folgenden drei prioritären Bereiche die notwendigen<br />

Entscheidungen zu treffen und die DringlichkeitdervondenMitgliedstaatenzutreffendenAktionen<br />

zu unterstreichen:<br />

– Steigerung der Investitionen in Netze und Wissen,<br />

insbes. durch die Umsetzung der „Europäischen<br />

Wachstumsinitiative“ und durch eine Erhöhung von<br />

Umfang und Qualität der Investitionen im Bereich<br />

der Forschung und der allgemeinen und beruflichen<br />

Bildung.<br />

– Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen<br />

durch die Optimierung der Regulierung, insbes.<br />

im Industriesektor und durch Verabschiedung der<br />

Vorschläge für eine Rahmenrichtlinie über Dienstleistungen<br />

sowie für einen Aktionsplan für Umwelttechnologie.<br />

– Förderung des aktiven Alterns durch Anreize für<br />

ältere Erwerbstätige, im Arbeitsleben zu bleiben, sowie<br />

durch die Modernisierung der Systeme der beruflichenBildungundderArbeitsorganisationsowie<br />

der Systeme der Prävention und der Gesundheitssysteme.<br />

Halbzeitbilanz (Wim-Kok-Bericht): Der Europäische<br />

Rat (25./26. 3. 2004 in Brüssel) beauftragte die<br />

Kommission außerdem, zur nächsten Frühjahrstagung<br />

am 22./23. 3. 2005 in Brüssel eine Halbzeitbi-


lanz (Fünfjahresbilanz) der Lissabonstrategie durch<br />

eineHochrangigeGruppeunterdemehemaligenniederländischen<br />

Ministerpräsidenten Wim Kok ausarbeiten<br />

zu lassen (Ziff 48 der Schlussfolgerungen des<br />

Vorsitzes). Der Bericht „Die Herausforderung annehmen<br />

– Die Lissabon-Strategie für Wachstum und<br />

Beschäftigung“wurdeam3.11.2004derKommission<br />

und dem Europäischen Rat (für seine Sitzung am<br />

4./5. 11. 2004 in Brüssel) abgeliefert (vgl. �Lissabon-Strategie<br />

Ziff. 4).<br />

Der Kok-Bericht nahm zum bisherigen Ergebnis der<br />

Lissabon-Strategie eine kritische Position ein<br />

(„mangelnde Schwungkraft“), kritisierte ihre Überfrachtung<br />

mit 28 Haupt- und 120 untergeordneten<br />

Zielen und 117 verschiedenen Indikatoren und<br />

schlugdieFestlegungeinesbegrenztenRahmensaus<br />

14 Zielen und Indikatoren vor (S. 49). Außerdem<br />

habe die offene Koordinierungsmethode die in sie<br />

gesetzten Erwartungen „bei weitem nicht erfüllt“;<br />

auch die Gemeinschaftsmethode habe nicht das geleistet,<br />

was von ihr erwartet wurde (S. 48). Zu dem<br />

die Bildung betreffenden Bereich nahm der Bildungsministerrat<br />

am 21. 2. 2005 in Schlussfolgerungen<br />

Stellung. Darin wird erneut die Notwendigkeit<br />

von Investitionen in das Bildungssystem, die Förderung<br />

des lebenslangen Lernens, die Schaffung eines<br />

Europäischen Raums der Bildung und Ausbildung<br />

und die verstärkte Zusammenarbeit im Rahmen der<br />

offenen Koordinierungsmethode angemahnt. Zu der<br />

PositionderBundesregierungzumKok-Berichtvom<br />

18. 11. 2004 beschloss der Bundesrat am 18. 2. 2005<br />

eine Stellungnahme (BR.Drs. 917/04).<br />

In ihrer Stellungnahme zur Halbzeitbilanz nahm die<br />

Kommission (KOM 2005/24 endg.) die Kritik auf<br />

und schlug eine Straffung der Strategie vor. Die Lissabon-Strategie<br />

sei auf die zentralen Aufgaben<br />

Wachstum und Arbeitsplätze zu konzentrieren. Für<br />

den Bildungsbereich wird empfohlen:<br />

– mehr Investitionen in die allgemeine und berufliche<br />

Bildung und Forschung,<br />

– Vollendung des Europäischen Hochschulraums<br />

(�Bologna-Prozess),<br />

– nationale Strategien für lebenslanges Lernen zu<br />

entwickeln,<br />

– vereinfachte gegenseitige Anerkennung beruflicher<br />

Qualifikationen.<br />

MitBezugaufdieFrühjahrsorientierungendesEuropäischen<br />

Rates sollten nationale Aktionsprogramme<br />

(mitnationalenKoordinatoren)entwickeltwerden.<br />

Lissabon-Strategie im Bildungsbereich<br />

Der Frühjahrsgipfel 2005 des Europäischen Rates:<br />

Der Europäische Rat begrüßte auf seiner Frühjahrstagung<br />

am 22./23. 3. 2005 in Brüssel den Halbzeitbericht<br />

und bat die Kommission, den Rat und die Mitgliedstaaten,<br />

„die Strategie neu zu beleben“; im Einzelnen:<br />

– Forschung, Bildung und Innovation in all ihren<br />

Formen zu intensivieren,<br />

– Einsetzung eines Europäischen Forschungsrates,<br />

der Spitzen- und Grundlagenforschung unterstützen<br />

soll,<br />

– Verringerung der Zahl der Schulabbrecher,<br />

– Lebenslanges Lernen für alle in Schulen, Unternehmen<br />

und Haushalten,<br />

– Weiterentwicklung des europäischen Bildungsraums<br />

durch Förderung der geografischen und beruflichen<br />

Mobilität, Einführung des �<strong>Europa</strong>sses, Annahme<br />

der Richtlinien über die Anerkennung der Berufsqualifikationen<br />

im Jahr 2005 und des europäischen<br />

Qualifikationsrahmens im Jahre 2006,<br />

– Zusammenfassung der bisherigen nationalen Berichte<br />

über die Umsetzung der Lissabonner Strategie<br />

in einem einzigen Dokument.<br />

Für den Fortgang der Lissabon-Strategie im Bildungsbereich<br />

und mit Hinblick auf den nächsten<br />

ZwischenberichtimJahr2006wurdefürdieBundesrepublik<br />

vereinbart, künftig einen gemeinsamen<br />

Bund/Länder-Bildungsbericht für Deutschland herauszugeben,<br />

der das gesamte Feld der Bildung vom<br />

Elementarbereich bis zur Erwachsenenbildung umfasst.<br />

Hierfür wurde eine Steuerungsgruppe auf<br />

Staatssekretärsebene (Vertretung von Bund und<br />

Ländern unter Beteiligung des Generalsekretärs der<br />

KMK) gebildet, die durch einen wissenschaftlichen<br />

Beirat beraten wird.<br />

Die Lissabon-Strategie ist alljährlich Gegenstand<br />

der Frühjahrsberichte der Kommission und das einzige<br />

Dokument auf der Tagesordnung der Frühjahrstagungen<br />

des Europäischen Rates.<br />

Rechtliche Würdigung: Die Lissabon-Strategie<br />

deckt mit ihren ehrgeizigen Zielen auch Bereiche ab,<br />

für die nicht die EU, sondern ausschließlich die Mitgliedstaaten<br />

zuständig sind. Die herkömmliche, auf<br />

dem Vorschlagsmonopol der Kommission beruhende„Gemeinschaftsmethode“wirdinsoferndurchdie<br />

offene Methode der Koordinierung „ergänzt“, die<br />

die freiwillige Zusammenarbeit und Selbstkoordinierung<br />

der Mitgliedstaaten voraussetzt. Hieraus ergeben<br />

sich zahlreiche Probleme für die Substanz und<br />

511


Lobbyismus<br />

den zeitlichen Ablauf des Lissabon-Prozesses. Die<br />

Länder der Bundesrepublik standen dem „Zielebericht”<br />

zunächst zurückhaltend gegenüber. Sie kritisierten<br />

namentlich die darin enthaltenen �Leitlinien<br />

und Vorgaben (�Benchmarks) und die vorgeschlagene<br />

offene Methode der Koordinierung als Überschreitung<br />

der Befugnisgrenzen des Vertrages und<br />

Eingriff in ihre verfassungsrechtlich verbürgte Kulturhoheit<br />

(BR.Drs. 173/01 [Beschluss] vom 11. 5.<br />

2001)..<br />

SowiederersteZwischenberichtwerdenauchdiefür<br />

2006, 2008 und 2010 vorgesehenen weiteren Berichte<br />

nicht nur auf EU-Ebene, sondern auch zwischen<br />

Bund und Ländern einen gesteigerten Beratungsbedarferfordern.<br />

I. H.<br />

Internet: http://europa.eu.int/comm/lisbon_strategy/reports/index_de.htm<br />

Dokumente:<br />

Europäische Kommission: Frühjahrsberichte: Stockholm 2001<br />

– KOM (2001) 79 endg.; Barcelona 2002 – KOM (2002) 14<br />

endg.; Brüssel 2003 – KOM (2003) 05 endg.; Brüssel 2004 –<br />

KOM (2004) 29 endg.; Brüssel 2005 – KOM (2005) 24 endg.<br />

Dies.: Das intellektuelle Potenzial <strong>Europa</strong>s wecken – So<br />

können die Universitäten ihren vollen Beitrag zur Lissabon-<br />

Strategie leisten. Mitteilung der Kommission KOM (2005) 152<br />

Europäischer Rat: Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Ziff. 7.<br />

Brüssel 16./17. 6. 2005<br />

Lobbyismus �Europäische Verbände<br />

Lomé-Abkommen<br />

1. Entstehung und Absicht: Das Lomé-Abkommen<br />

war (als Vorläufer des �Cotonou-Abkommens) das<br />

Kernstück der �Entwicklungspolitik der EU und der<br />

Zusammenarbeit zwischen der E(W)G und den Entwicklungsländern<br />

Afrikas, der Karibik und des Pazifiks<br />

(�AKP-Staaten), die früher Kolonien von<br />

EU-Staaten waren. Dieses Abkommen wurde am 28.<br />

2 1975 in Lomé/Togo mit damals 46 AKP-Staaten<br />

abgeschlossenunddanachdreimalerneuert(LoméII<br />

1979mit58,LoméIII1984mit66,LoméIV1989mit<br />

69 Staaten).<br />

Während Lomé I bis III eine Laufzeit von jeweils<br />

fünf Jahren hatten, galt das am 1. 9. 1990 in Kraft getretene<br />

Lomé IV-Abkommen für zehn Jahre (Finanzprotokolle:<br />

je fünf Jahre). Vorläufer des Lomé-Abkommens<br />

waren die gem. Art. 131 ff. EWGV 1957<br />

abgeschlossenen Verträge über die �Assoziierung<br />

der außereuropäischen Gebiete (z. B. Kolonien), die<br />

mit einzelnen Gründungsstaaten der EWG besondere<br />

Beziehungen unterhielten (Entwicklungspolitik),<br />

512<br />

und die �Jaunde-Abkommen I und II. Letztere wurden<br />

mit 17 bzw. 19 mit der Gemeinschaft verbundenen<br />

Staaten nach Erlangung der Unabhängigkeit als<br />

Assoziierungsabkommen geschlossen; sie traten am<br />

1. 7. 1964 bzw. am 1. 1. 1971 in Kraft.<br />

Zur Ablösung des Jaunde-Abkommens durch das<br />

Lomé-Abkommen führte der Beitritt Großbritanniens<br />

zu den Europäischen Gemeinschaften 1973.<br />

Um das Verhältnis der Commonwealth-Staaten zur<br />

EWG für alle Seiten befriedigend lösen und auf eine<br />

partnerschaftliche Basis stellen zu können, wurden<br />

gemeinsame Verhandlungen über ein einheitliches<br />

Abkommen mit den Ländern Subsahara-Afrikas, der<br />

Karibik und des Pazifiks geführt.<br />

Ziele der Assoziierungspolitik des Lomé-Abkommens<br />

waren von Anfang an die Schaffung eines großen<br />

Wirtschaftsraumes mit einem Höchstmaß an<br />

Freizügigkeit, eine wirksame finanzielle Unterstützung<br />

der assoziierten Länder, die Entwicklung eines<br />

Systems zur Stabilisierung von Exporterlösen der<br />

AKP-Staaten und die institutionelle Zusammenarbeit.<br />

Die in Lomé I vereinbarte partnerschaftliche<br />

Zusammenarbeit wurde in den anschließenden Abkommen<br />

Lomé II bis IV fortgesetzt, verstärkt und erweitert;<br />

insbes. Lomé IV setzte neue Akzente.<br />

2. Zusammenarbeit: In den Verträgen wurden die<br />

wichtigen Bereiche der Zusammenarbeit zwischen<br />

der E(W)G und AKP-Staaten rechtlich verbindlich<br />

geregelt:<br />

– Handelspolitische Zusammenarbeit: Zollfreier Zugang<br />

für fast alle Erzeugnisse aus AKP-Staaten zum<br />

EG-Markt. Ausgenommen waren eine Reihe agrarischer<br />

Exportgüter, deren Einfuhrbeschränkungen<br />

auf Agrarmarktordnungen der EG zurückzuführen<br />

sind (�Agrarprotektionismus, �Gemeinsame Agrarpolitik)<br />

.<br />

– Zusammenarbeit im Bereich der Grundstoffe: Das<br />

im Rahmen des Lomé I-Abkommens entwickelte<br />

System der Exporterlösstabilisierung (STABEX)<br />

zielte darauf, negative Auswirkungen, die sich aus<br />

Schwankungen der Erlöse aus dem Export landwirtschaftlicher<br />

Rohstoffe ergeben, aufzufangen. Für<br />

insgesamt 49 Agrarprodukte wurden Ausgleichszahlungen<br />

geleistet, wenn das Land von diesen Exporterlösen<br />

abhängig war und die Einnahmen aus der<br />

Ausfuhr dieses Gutes unter einen bestimmten Referenzwert<br />

gefallen waren. Lomé III stellte 925 Mio.<br />

ECU für Ausgleichszahlungen zur Verfügung, für<br />

Lomé IV waren es für den Zeitraum von 1990 bis


1995 1,5 Mrd. ECU und von 1995 – 1999 1,8 Mrd.<br />

ECU. Die ursprünglich bei einem Wiederansteigen<br />

der Exportpreise von den am weitesten entwickelten<br />

AKP-Staaten zu leistenden Rückzahlungen wurden<br />

mit Lomé IV abgeschafft.<br />

– Das auf unbestimmte Zeit zum Abkommen Lomé I<br />

vereinbarte Zuckerprotokoll: Es sichert den 18 Zucker<br />

exportierenden AKP-Staaten nach bestimmten<br />

Quoten jährlich den Export von insgesamt 1,3 Mio. t<br />

Zucker auf den EG-Markt zu garantierten Preisen,<br />

die sich an den Erzeugerpreisen in der EG orientieren.<br />

Das Zuckerprotokoll wurde in Lomé II, III und<br />

IV unverändert übernommen.<br />

– Das durch Lomé II geschaffene Kreditsystem zur<br />

Sanierung und Diversifizierung von Bergbauunternehmen<br />

(SYSMIN) sollte den AKP-Staaten, die<br />

Bergbauerzeugnisse ausführen, eine gewisse Erlösstabilisierung<br />

gewährleisten. Jedoch wurden im Unterschied<br />

zum STABEX-System, das beim Rückgang<br />

der Erlöse einen automatischen Ausgleichsanspruch<br />

gewährte, im SYSMIN-System die Mittel für<br />

konkrete Förderungs-, Sanierungs-, Diversifizierungs-<br />

oder Rehabilitierungsprogramme und -projekte<br />

eingesetzt, um die Wettbewerbsfähigkeit wiederherzustellen<br />

oder zu stärken. Außerdem war<br />

SYSMIN anwendbar, wenn die Exporterlöse aus<br />

dem Bergbausektor so stark zurückgingen, dass dessen<br />

Existenz gefährdet war. In dieses System waren<br />

vor allem Kupfer, Phosphate, Bauxit, Aluminiumoxid,Zinn,EisenerzundManganeinbezogen.Eswar<br />

nur anwendbar, wenn die gefährdeten Bergbauprodukte<br />

mindestens 20 % (bei einigen 15 %) der Ausfuhrerlöse<br />

des betreffenden Landes ausmachten (bei<br />

den am wenigsten entwickelten Ländern, bei Inselund<br />

Binnenstaaten 12 % bzw. 10 %).<br />

– Zusammenarbeit bei der Entwicklungsfinanzierung:<br />

Der Schwerpunkt der finanziellen und technischen<br />

Zusammenarbeit lag bei der Förderung der<br />

Landwirtschaft, der Ernährungssicherung und der<br />

ländlichen Entwicklung; Unterstützung dabei leistete<br />

das Technische Zentrum Landwirtschaft.<br />

DanebenkamderFörderungderprivatenWirtschaft,<br />

insbes. kleinerer und mittlerer Betriebe, große Bedeutung<br />

zu. Hilfe bei der Anbahnung von Joint-<br />

Ventures zwischen AKP-Unternehmen und EU-<br />

Partnern bot das Zentrum für Industrielle Entwicklung<br />

in Brüssel an. Darüber hinaus wurden je nach<br />

Bedarf auch andere Bereiche, z. B. Energie, Dienstleistungen,<br />

Transport und Kommunikation, Handel,<br />

Lomé-Abkommen<br />

kulturelle und soziale Kooperation, unterstützt. Die<br />

Grundprinzipien, auf die sich die Zusammenarbeit<br />

zwischen der EG/EU und den AKP-Staaten bis heute<br />

stützt, sind: Gleichheit der Partner; Achtung ihrer<br />

Souveränität; beiderseitiges Interesse und wechselseitige<br />

Abhängigkeit.<br />

3. Organe und Instrumente: Die für die Durchführung<br />

des Abkommens (auch des nachfolgenden Cotonou-Abkommens)<br />

verantwortlichen Organe sind<br />

der AKP-EU-Ministerrat, der Botschafterausschuss<br />

und die Paritätische Versammlung.<br />

Der Ministerrat setzt sich aus den Mitgliedern des<br />

RatsundMitgliedernderEuropäischenKommission<br />

einerseits und je einem Mitglied der Regierungen der<br />

AKP-Staaten andererseits zusammen. Er hat die<br />

Aufgabe, die Hauptleitlinien für die Durchführung<br />

der Abkommen festzulegen und alle politischen Beschlüsse<br />

zur Verwirklichung der Vertragsziele zu<br />

fassen.<br />

Der Botschafterausschuss besteht aus den ständigen<br />

Vertretern der Mitgliedstaaten bei der EU sowie einem<br />

Vertreter der Kommission einerseits und aus<br />

den Leitern der �Missionen der einzelnen AKP-<br />

Staaten bei der EU andererseits. Er unterstützt den<br />

Ministerrat als Entscheidungs-, Aufsichts- und<br />

Streitbeilegungsorgan.<br />

Die Paritätische Versammlung setzt sich zu gleichen<br />

TeilenausMitgliederndesEuropäischenParlaments<br />

und aus von den AKP-Staaten benannten Parlamentsmitgliedern<br />

zusammen. Sie hat beratende Aufgaben.<br />

Für die Finanzierung der Maßnahmen in den AKP-<br />

Staaten ist der 1957 auf der Grundlage des Internen<br />

Finanzierungsabkommens von den Mitgliedstaaten<br />

errichtete Europäische Entwicklungsfonds (EEF)<br />

zuständig. Die Aufbringung der Mittel erfolgt nach<br />

einemfestgelegtenSchlüsseldurchdieMitgliedstaaten<br />

(vgl. Cotonou-Abkommen); ihre Verwaltung obliegt<br />

der Europäischen Kommission unter Beachtung<br />

der vorgesehenen Mitwirkungsmöglichkeiten<br />

der Mitgliedstaaten. Der EEF hat eine Laufzeit von<br />

jeweils fünf Jahren. Sein Umfang stieg von 3,1 Mrd.<br />

ECU (4. EEF, Lomé I) auf 13,5 Mrd. Euro für den 9.<br />

EEF (2000 – 2005/07). Außerdem stellt die �Europäische<br />

Investitionsbank (EIB) Darlehen für Entwicklungsvorhaben<br />

der AKP-Länder zur Verfügung:<br />

1,7 Mrd. Euro für die Laufzeit von 2000 bis<br />

2005.<br />

4. Lomé IV: Neben der Konsolidierung der in den<br />

513


Lomé-Abkommen<br />

Lomé -Verträgen I bis III grundgelegten und weiterentwickelten<br />

Politik packte Lomé IV neue Aufgaben<br />

an und setzte neue Schwerpunkte. In allen wichtigen<br />

Bereichen wurden im Vergleich zu seinen VorgängernbeachtlicheVerbesserungenerreicht.Dieschon<br />

inLoméIIIinFormeiner„GemeinsamenErklärung“<br />

enthaltenen Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte,<br />

zur demokratischen Kontrolle und zur<br />

Teilhabe der Bevölkerung an Entwicklungsprozessen<br />

wurden konkretisiert und in den Vertragstext<br />

übernommen;beiHandelundRohstoffen–zentralen<br />

BereichenfürdieAKP-Länder–konntennurgeringe<br />

Fortschritteverbuchtwerden,z.B.Verbesserungder<br />

STABEX- und SYSMIN-Systeme, Erhöhung der<br />

Mittel dafür und Lockerung der Ursprungsregeln für<br />

Handelsgüter aus den AKP-Staaten. Neue Schwerpunkte<br />

des Lomé IV-Abkommens waren:<br />

– die Ausweitung und Intensivierung der Zusammenarbeit<br />

im kulturellen und sozialen Bereich;<br />

– die Erhaltung und Verbesserung der Umwelt;<br />

– die dezentralisierte Entwicklung durch stärkere<br />

BeteiligungvonBasisgruppen(z.B.Genossenschaften,<br />

Dorfgemeinschaften, einheimischen und europäischen<br />

Nichtregierungsorganisationen an der Entwicklungszusammenarbeit);<br />

– die regionale Zusammenarbeit;<br />

– die Förderung der Privatinitiative;<br />

– die Finanzhilfe für Strukturanpassungsmaßnahmen;<br />

– der Beitrag zur Verminderung der Verschuldung<br />

der AKP-Staaten.<br />

5. Würdigung: Nach 25 Jahren Lomé-Abkommen<br />

(1975–2000)isteineentwicklungspolitischeEpoche<br />

zu Ende gegangen. Sie wurde in der ersten Phase (bis<br />

1990) durch den Kalten Krieg, in der zweiten Phase<br />

durch die Auflösung des globalen Blockdenkens geprägt.<br />

Die daraus resultierenden Veränderungen haben<br />

sich in der konzeptionellen Fortentwicklung des<br />

Vertragswerkes niedergeschlagen. Konzentrierte<br />

sich im Rahmen der Abkommen von Jaunde (1964–<br />

69,1970–75) die entwicklungspolitische Kooperation<br />

der EWG auf damals 19 unabhängig gewordene<br />

Staaten des französischsprachigen Schwarzafrika,<br />

so führte der Beitritt Großbritanniens zur EG 1975<br />

zum ersten Lomé-Abkommen, durch das die Gruppe<br />

derPartnerländerauf46AKP-Staaten erweitertwurde.<br />

Leitgedanken schon dieser ersten Kooperationsabkommen<br />

waren<br />

– das Prinzip der Partnerschaft,<br />

514<br />

– die vertragliche Vereinbarung gegenseitiger<br />

Rechte und Pflichten,<br />

– der Kooperationsansatz und<br />

– die Vorhersehbarkeit automatisch bereit gestellter<br />

Finanzmittel.<br />

DiesesgrundlegendeKonzeptdermultilateralenKooperation<br />

als Rahmen der AKP-EG/EU-Entwicklungszusammenarbeit<br />

hatte als leitendes Prinzip 25<br />

JahreBestand.JedochsinddieeinzelnenHandlungsinstrumente<br />

kontinuierlich weiterentwickelt worden.<br />

Ab 1990 wurden Strukturanpassungsmaßnahmen<br />

vereinbart. Zeitgleich mit dem Ende des<br />

Ost-West-KonfliktserhieltdasVertragswerkmitder<br />

Aufnahme von Menschenrechtsbestimmungen eine<br />

politische Dimension. Diese wurde durch die Aufnahme<br />

demokratischer und rechtsstaatlicher Grundsätze<br />

in den Vertragstext von Lomé IV weiter ausgebaut.<br />

Zugleich wurde die Möglichkeit eröffnet, die<br />

Verletzung dieser Grundsätze des Abkommens mit<br />

der teilweisen oder vollständigen Aussetzung des<br />

Abkommens zu ahnden (Art. 366a).<br />

Die Lomé-Abkommen verfolgten ehrgeizige Ziele,<br />

sie scheiterten aber häufig an der Realität. Insbesondere<br />

wurde die Leistungsfähigkeit der institutionellen<br />

und politischen Strukturen vieler AKP-Staaten<br />

überschätzt. Pauschale Mittelzuweisungen an die<br />

AKP-Staaten förderten deren Anspruchsdenken.<br />

Daraus resultierte, dass bei Neuverhandlungen immer<br />

wieder zusätzliche Sonderfonds, Fazilitäten<br />

usw. das Vertragswerk zunehmend komplexer, damit<br />

unübersichtlicher und schwieriger handhabbar<br />

machten und die Mittelabflüsse verzögerten. Auch<br />

die den AKP-Staaten eingeräumten Handelspräferenzen<br />

haben, wenn auch von Land zu Land unterschiedlich,<br />

aufgrund der Globalisierung der Wirtschaft<br />

und neuer Regelwerke des �GATT an Wirksamkeit<br />

verloren. Der Handel der EG/EU mit den<br />

AKP-Staaten ist auf eine marginale Größe zurückgefallen:<br />

Nur ca. 3 % der EU-Exporte gehen in die<br />

AKP-Staaten, die umgekehrt nur noch 4 % ihrer Ausfuhren<br />

auf den europäischen Markt schicken. Die<br />

Rohstoffabhängigkeit der westlichen Industrieländer<br />

von den Entwicklungsländern hat sich seit Öffnung<br />

des Ostens und der Globalisierung der Märkte<br />

wesentlich verringert. Außenwirtschaftlich haben<br />

die Entwicklungsländer immer mehr an Bedeutung<br />

für die EU verloren. Zwar hat Lomé IV manchen dieser<br />

Kritikpunkte Rechnung getragen, doch die<br />

grundlegend veränderten Rahmenbedingungen er-


fordern eine diesem Wandel Rechnung tragende<br />

Umgestaltung und Neubelebung der Kooperation<br />

zwischen AKP-Ländern und Europäischer Union.<br />

Die Europäische Kommission hat frühzeitig die Notwendigkeit<br />

dafür erkannt und ihre Vorschläge dazu<br />

in einem „Grünbuch über die Beziehungen zwischen<br />

derEuropäischenUnionunddenAKP-Staatenander<br />

Schwelle zum 21. Jahrhundert – Herausforderungen<br />

und Optionen für eine neue Partnerschaft“ (1996,<br />

KOM 1996/570) niedergelegt. Darin wird der Wille<br />

unterstrichen, die Beziehungen zu den AKP-Staaten<br />

zu „revitalisieren“. Das Grünbuch macht dafür eine<br />

Reihe bemerkenswerter Vorschläge, die zum großen<br />

Teil Eingang in das Cotonou-Abkommen als Nachfolge-AbkommenvonLoméIVgefundenhaben.Mit<br />

dem neuen Abkommen ist es gelungen, ein Vertragswerkzuschaffen,dassichweitgehendandieseitdem<br />

Ende des Kalten Krieges veränderten Rahmenbedingungen<br />

und an die fortschreitenden Differenzierungen<br />

zwischen den AKP-Ländern anpasst. Der neue<br />

Name des Abkommens signalisiert einen grundlegenden<br />

Neuanfang, der zugleich aber auch die Leitidee<br />

des Lomé-Abkommens bewahrt. �Cotonou-<br />

Abkommen,�Entwicklungspolitik K. E.<br />

Literatur:<br />

Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit<br />

(BMZ): Lomé IV. Materialien Nr. 82. Bonn 1991<br />

Dass.: Das Abkommen von Cotonou – Neue Wege in der<br />

AKP-EG-Partnerschaft. Materialien Nr. 118 Bonn 2002<br />

Buntzel-Cano, R..: Alles außer Waffen – und Zucker?<br />

In: EuZ, 4/2001<br />

Europäische Kommission: Grünbuch über die Beziehungen<br />

zwischen der Europäischen Union und den AKP-Staaten an<br />

der Schwelle zum 21. Jahrhundert – Herausforderungen und<br />

Optionen für eine neue Partnerschaft. Luxemburg 1997<br />

Dies.: Das IV. Abkommen von Lomé nach der Halbzeitüberprüfung.<br />

Änderungen und Aussichten. Brüssel, Luxemburg<br />

1996<br />

Frisch, D.: Jenseits von Lomé. Die Zukunft der<br />

EU-AKP-Beziehungen nach dem Jahr 2000. In: EuZ, 4/1998<br />

Ders.: Abschied von Lomé- IV – Was kommt danach?<br />

In:EuZ,10/1999<br />

Lutz, G./Tellkämper, W.: Weltmarktintegration oder besondere<br />

Beziehungen? Interessengegensätze zwischen EU und<br />

AKP-Staaten. In: EuZ 10/1999<br />

Wolf, S.: Partnerschaft auf dem Prüfstand: Die EU und die<br />

AKP-Staaten. In: Integration 3/97, S. 160–174<br />

Londoner Bericht �Luxemburger Bericht Ziff. 1<br />

Luxemburger Bericht<br />

1. Begriff und Entwicklung: Mit dem Luxemburger<br />

Berichtvon1970wurdederEinstiegindie �Europäi-<br />

Luxemburger Bericht<br />

sche Politische Zusammenarbeit (EPZ) der damals<br />

sechs Mitgliedstaaten der EWG vollzogen. Der Bericht<br />

ist nach dem Konferenzort der Außenminister<br />

benannt. Die Staats- und Regierungschefs der EWG<br />

beschlossenaufderHaagerGipfelkonferenzam1./2.<br />

12. 1969, die politische Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten<br />

auszubauen. Drei Berichte bildeten die<br />

Grundlage für die außenpolitische Zusammenarbeit<br />

der Staaten:<br />

– Auf den Konferenzen in Viterbo (19. 5. 1970) und<br />

endgültig in Luxemburg (27. 10. 1970) einigten sich<br />

die Außenminister auf Grundsätze und Verfahren<br />

der engeren politischen Zusammenarbeit (Luxemburger<br />

Bericht). Dieser Luxemburger Bericht wiederum<br />

basierte auf einer Vorlage, welche die Leiter<br />

der politischen Abteilungen der Außenministerien<br />

unter dem Vorsitz von Etienne �Davignon ausgearbeitet<br />

hatten (�Davignon-Bericht).<br />

– Eine weitere Vertiefung der politischen Zusammenarbeit<br />

beschlossen die Staats- und Regierungschefs<br />

auf der Pariser Gipfelkonferenz (19./20. 10.<br />

1972),nämlichdenjährlichviermaligenZusammentritt<br />

der Außenminister im Rahmen der EPZ und die<br />

Verstärkung der Konsultationen auf allen Gebieten.<br />

Sie vereinbarten darüber hinaus, einen zweiten Bericht<br />

über die weitere Verbesserung der politischen<br />

Zusammenarbeit ausarbeiten zu lassen, der am 11. 9.<br />

1973 von den Außenministern der dann neun Mitgliedstaaten<br />

in Kopenhagen angenommen wurde<br />

(Kopenhagener Bericht).<br />

– Der dritte Bericht datiert von 1981 und beteiligt die<br />

Kommission an der außenpolitischen Zusammenarbeit,<br />

auch wenn sie in diesem Bereich nicht über die<br />

besondere institutionelle Rolle verfügt, wie sie in der<br />

EG festgelegt ist (Londoner Bericht).<br />

DiesedreiBerichtebildetendasFundamentderEPZ,<br />

bevor diese mit der �Einheitlichen Europäischen<br />

Akte (1986) eine Grundlage im primären Gemeinschaftsrecht<br />

erhielt.<br />

2. Gegenstandsbeschreibung: Im Luxemburger Bericht<br />

wurde festgelegt, dass die Außenminister der<br />

sechs Mitgliedstaaten mindestens zweimal jährlich<br />

zu Beratungen zusammenkommen. Ein „Politisches<br />

Komitee“, dem die Leiter der politischen Abteilungen<br />

der Außenministerien angehören, trifft sich viermaljährlich,umdieMinistertreffenvorzubereiten.<br />

Weil diese Treffen nicht unter dem Dach der EWG,<br />

sondern als eigenständige Form der Zusammenarbeit<br />

der Staaten stattfanden, wurden sie – ebenso wie<br />

515


Luxemburger Erklärung<br />

Erklärungen der EPZ – auch nach der Anzahl der<br />

Mitgliedstaaten benannt (1970 – 1973: die Sechs;<br />

1973 – 1980:dieNeun;1981 – 1985:dieZehn;1986<br />

– 1993: die Zwölf).<br />

Die Außenminister trennten zuerst genau, ob sie sich<br />

im Rahmen der EWG zu Sitzungen trafen oder im<br />

Rahmen der EPZ. Dies führte – für Außenstehende –<br />

zu verwunderlichen Verhaltensweisen: Vormittags<br />

tagten die Außenminister z. B. in London, um über<br />

die Verstärkung der politischen Zusammenarbeit zu<br />

beraten; dann bestiegen sie das Flugzeug, um nachmittags<br />

in Brüssel als Ministerrat der EWG zusammenzutreten.<br />

Dieser Ortswechsel sollte zeigen, dass die Europäische<br />

Politische Zusammenarbeit keine Angelegenheit<br />

der EWG ist. Dieses umständliche und ineffizienteVerfahrenwurdeimLaufederZeiteingestellt.<br />

3. Kritische Wertung: Die Europäische Politische<br />

Zusammenarbeit wurde durch den Luxemburger Bericht<br />

mit intergouvernementalen Mechanismen etabliert,<br />

d. h. die Entscheidungskompetenz lag bei den<br />

nationalen Regierungen, und es galt das Konsens-<br />

Prinzip. Die Kommission war zu Beginn nicht in das<br />

Verfahren eingebunden, was zur Schwächung ihrer<br />

Position führte. Der Europäische Gerichtshof hatte<br />

keinerlei Kompetenzen. Die EPZ bestand also rechtlich<br />

gesehen zusätzlich zu den EWG-Verträgen und<br />

war Ausdruck einer Zeit der Stagnation in der europäischen<br />

Integrationsentwicklung.<br />

Durch den Vertrag über die Europäische Union wurde<br />

die EPZ zur �Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik<br />

(GASP) weiterentwickelt. Die Verträge<br />

vonAmsterdamundNizzabeinhalteneineReihevon<br />

institutionellen Veränderungen der GASP (�Hoher<br />

Vertreter der GASP, �Strategie- und Frühwarneinheit,�Troika,VerhältnisEUzurWEU).<br />

M. P.<br />

Literatur:<br />

Fröhlich, S.: Die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik<br />

GASP. Wiesbaden 2005<br />

Pijpers, A./Regelsberger, E.: Die Europäische Politische<br />

Zusammenarbeit in den 80er Jahren. Eine gemeinsame Außenpolitik<br />

für Westeuropa? Bonn 1989<br />

Regelsberger, E.: Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik<br />

der EU (GASP). Konstitutionelle Angebote im Praxistest<br />

1993 – 2003. Baden-Baden 2004<br />

Rummel, R.: Zusammengesetzte Außenpolitik. Westeuropa als<br />

übernationaler Akteur. Kehl a. Rh. 1982<br />

Luxemburger Erklärung �Außenbeziehungen der<br />

EU Ziff. 4.1.4<br />

516<br />

Luxemburger Kompromiss �Luxemburger Vereinbarung<br />

Luxemburger Vereinbarung<br />

1. Begriffserklärung und -beschreibung: Die Luxemburger<br />

Vereinbarung von 1966 (häufig „Luxemburger<br />

Kompromiss“ genannt) ist eine rechtlich<br />

nicht verbindliche Vereinbarung, welche die damals<br />

noch sechs Staats- und Regierungschef der EWG in<br />

Luxemburg getroffen haben. Inhalt ist die Absprache,<br />

dass bei Entscheidungen im Ministerrat grundsätzlicheinKonsensanzustrebenist,auchwennnach<br />

dem Vertrag ein Beschluss mit qualifizierter Mehrheit<br />

möglich ist. Der Mitgliedstaat, der „sehr wichtige<br />

Interessen“ geltend macht, soll nicht ohne weiteres<br />

überstimmt werden, sondern „die Erörterung<br />

(muss) fortgesetzt werden, bis ein einstimmiges Einvernehmen<br />

erzielt worden ist“. Dieser Kompromiss<br />

beendete die Krise der EWG, die durch die französische<br />

„Politik des leeren Stuhls“ (s. u.) ausgelöst wordenwar.Offenblieb,wieeinwichtigesnationalesInteresse<br />

zu definieren und wie zu verfahren ist, wenn<br />

der Dissens nicht auszuräumen ist.<br />

Gemäß Art. 43 EWGV von 1957 sollte zu Beginn der<br />

dritten Stufe zur Verwirklichung des Gemeinsamen<br />

Agrarmarktes, also zum 1. 1. 1966, im Ministerrat<br />

das für eine Übergangszeit angewandte Einstimmigkeitsprinzip<br />

von der Mehrheitsentscheidung abgelöst<br />

werden. Der französische Regierungsvertreter<br />

nahm die Beratungen über ein Maßnahmenpaket der<br />

Kommission vom 31. 3. 1965 (Finanzierung der Gemeinsamen<br />

Agrarpolitik durch eigene Finanzmittel<br />

der Gemeinschaft; bessere Kontrolle des Haushaltsbudgets<br />

durch eine Ausdehnung der Rechte des Europäischen<br />

Parlaments und der Kommission) zum<br />

Anlass, sich aus dem Ministerrat zurückzuziehen<br />

und nicht mehr zu den Sitzungen zu erscheinen<br />

(�„Politik des leeren Stuhls“). So konnte die EWG<br />

ein halbes Jahr lang (vom 1. 7.1965 bis 29. 1. 1966)<br />

keine Entscheidungen mehr treffen. Erst durch die<br />

Luxemburger Vereinbarung wurde Frankreich wieder<br />

an den Verhandlungstisch geholt und die Krise<br />

überwunden.<br />

Praktisch bedeutete die Luxemburger Vereinbarung<br />

eine Außerkraftsetzung der im EWG-Vertrag vorgesehenen<br />

Mehrheitsabstimmungen. Über die Folgen<br />

eines Scheiterns der Vereinbarung, wenn also kein<br />

einvernehmlicher Konsens unter den Mitgliedstaaten<br />

herzustellen ist, waren Frankreich und die ande-


en Mitgliedstaaten unterschiedlicher Auffassung<br />

(Formel: Man war sich einig, dass man sich uneinig<br />

war.): Frankreich ging davon aus, dass das einzelne<br />

Mitglied eine Veto-Position besitze, falls vitale Interessen<br />

des eigenen Landes berührt seien. Die fünf<br />

anderen EWG-Staaten wollten in diesen Fällen die<br />

vertraglich vorgesehenen Abstimmungsprozeduren<br />

verwirklichen. Frankreich gelang es, seine Sicht<br />

durchzusetzen, so dass für jedes Land faktisch die<br />

Möglichkeit eines Vetos bestand.<br />

Der Luxemburger Kompromiss ist formalrechtlich<br />

nicht verbindlich. Er schuf aber einen Vertrauenstatbestand,<br />

der nicht einseitig aufgekündigt werden<br />

konnte, es sei denn, ein Mitgliedsland wollte einen<br />

offenen Konflikt heraufbeschwören.<br />

Hinter der Blockade der Tätigkeit der EWG durch<br />

Frankreich stand ein grundsätzlicher Dissens über<br />

die Integrationskonzepte: Die Übertragung von politischen<br />

Entscheidungsbefugnissen auf die EWG<br />

ging Frankreich (unter Charles de �Gaulle, der seit<br />

Dezember1958Präsidentwar)zuweit.Unterschiedliche<br />

Konzepte zur Organisation der europäischen<br />

Einigung (supranationale und intergouvernementale<br />

Entscheidungsfindung) standen hier einander gegenüber.<br />

In der Zeit nach der Luxemburger Vereinbarung erfolgte<br />

gegen den Willen eines Mitgliedslandes keine<br />

Mehrheitsabstimmung mehr, mehrere MitgliedstaatenberiefensichaufdenKompromissundverhinderten<br />

so Entscheidungen. Die �Einheitliche Europäische<br />

Akte (1986) tastete die Regelung des Luxemburger<br />

Kompromisses nicht an. Seit 1986 kam es jedoch<br />

vermehrt zu Entscheidungen mit qualifizierter<br />

Mehrheit. In den letzten Jahren wurde auf den Luxemburger<br />

Kompromiss kein Bezug mehr genommen.<br />

In den �Vertrag von Amsterdam hat eine abgewandelte<br />

Form der Luxemburger Vereinbarung Eingang<br />

gefunden, sowohl im Bereich der �Gemeinsamen<br />

Außen- und Sicherheitspolitik (Art. 23 Abs. 2 EUV)<br />

wie auch bei den Regularien zur �Flexibilität in der<br />

ersten (Art. 11 EGV) und dritten Säule (Art. 40<br />

EUV). Neu ist, dass ein Veto bei einer qualifizierten<br />

Mehrheitsabstimmung möglich wird. Wenn wichtige<br />

nationale Gründe ein Mitgliedsland dazu veranlassen,<br />

eine mit Mehrheit zu treffende Entscheidung<br />

abzulehnen, dann erfolgt überhaupt keine Abstimmung.<br />

2. Kritische Wertung: Der Kompromiss von Luxem-<br />

Luxemburg-Prozess<br />

burg war die Minimallösung in einer großen Krise<br />

der europäischen Einigung. Durch ihn erfuhr aber<br />

auch der Leitgedanke, der alle europäischen Föderationspläne<br />

der Nachkriegszeit bestimmt und die<br />

EWG so erfolgreich gemacht hatte, eine Niederlage.<br />

Der Integrationsprozess wurde schwerfälliger. Die<br />

neuen, dem Luxemburger Kompromiss ähnlichen<br />

Regelungen im Amsterdamer Vertrag wurden notwendig,<br />

um in den drei genannten Fällen überhaupt<br />

einen Einstieg in die Mehrheitsentscheidung zu erreichen.<br />

Durch die weitere Einführung von Mehrheitsentscheidungen<br />

– das letzte Mal durch den Nizza-Vertrag<br />

– und die im �Verfassungsvertrag 2004<br />

vorgesehenen Möglichkeiten zum vereinfachten<br />

Übergang zu Mehrheitsentscheidungen (�Passerelle)<br />

werden die Regelungen des Luxemburger Kompromisses<br />

immer weniger relevant. Die Staats- und<br />

Regierungschefs erhalten sie aber gewissermaßen<br />

„inderSchublade“weiterhinamLeben. M. P.<br />

Literatur:<br />

Berens, A.: Der Weg der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft<br />

zur Politik des leeren Stuhls und zum Luxemburger<br />

Kompromiss. Düsseldorf 2002<br />

Streinz, R.: Die Luxemburger Vereinbarung. München 1984<br />

Luxemburg-Prozess. Der sog. Luxemburg-Prozess<br />

zielt auf eine Weiterentwicklung und bessere<br />

Umsetzung einer europäischen Beschäftigungsstrategie,<br />

welche die Maßnahmen der Mitgliedstaaten<br />

der Europäischen Union koordiniert. Damit soll die<br />

Effizienz der Arbeitsmärkte erhöht und durch die<br />

Verbesserung von Beschäftigungsfähigkeit, Unternehmensgeist,<br />

Anpassungsfähigkeit der Unternehmen<br />

und ihrer Arbeitsnehmer sowie der gleichberechtigten<br />

Teilhabe von Frauen an der Erwerbstätigkeit<br />

ein beschäftigungspolitischer Aufschwung erreicht<br />

werden.<br />

1. Entstehen des Luxemburg-Prozesses. Eingeleitet<br />

wurde diese neue „europäische Beschäftigungsstrategie“<br />

durch die Sondertagung des Europäischen Rates<br />

über Beschäftigungsfragen in Luxemburg vom<br />

20./21. 11. 1997. Grundlage für diesen Prozess war<br />

die Unterzeichnung des �Vertrages von Amsterdam<br />

am 2. 10. 1997. In diesem Vertrag war der Europäischen<br />

Gemeinschaft eine neue Aufgabe und Zuständigkeit<br />

in Bezug auf Beschäftigung zugewiesen worden<br />

(Titel VIII, Artikel 125–130 EGV). Die Ratifizierung<br />

dieses Vertragstextes bedurfte eines gewissen<br />

Zeitraumes – der Vertrag trat am 1. 5. 1999 in<br />

Kraft. Angesichts der prekären Beschäftigungslage<br />

517


Luxemburg-Prozess<br />

innerhalb der EU beschloss der Europäische Rat auf<br />

seiner Tagung in Luxemburg, auf der erstmalig das<br />

Beschäftigungsproblem alleiniges Thema war, den<br />

einschlägigen Bestimmungen des neuen Titels „Beschäftigung“<br />

im Vertrag von Amsterdam sofort Wirkung<br />

zu verleihen. Damit sollte die Anwendung der<br />

Bestimmungen über die Abstimmung der Beschäftigungspolitik<br />

der Mitgliedstaaten bereits auf das Jahr<br />

1998 vorgezogen werden. Die Problematik, ob möglicherweise<br />

durch diesen Vorgang in das Ratifizierungsrecht<br />

der nationalen Parlamente eingegriffen<br />

wurde, wurde nicht weiter vertieft. Es war das gemeinsame<br />

Ziel, den Erfolg bei der Konvergenz der<br />

Wirtschaftspolitik, die zur Einführung des Euro notwendig<br />

war, nunmehr auch im Bereich Beschäftigung<br />

herbeizuführen. Deswegen rief der Europäische<br />

Rat in Luxemburg alle Beteiligten – die Mitgliedstaaten,dieRegionen,dieSozialpartner,dieOrgane<br />

der Gemeinschaft – dazu auf, die sich zu diesem<br />

Zeitpunkt bietende Gelegenheit zu ergreifen, um<br />

sich zu einem kohärenten und geschlossenen VorgehenimBereichderBeschäftigungzuentschließen.<br />

2. Verfahrensschritte der Beschäftigungsstrategie –<br />

rechtliche Grundlage. Die koordinierte Strategie für<br />

die nationalen Beschäftigungspolitiken stützte sich<br />

dabei auf die Vorgaben des Artikel 128 des EG-<br />

Vertrages in der Fassung des später so in Kraft getretenen<br />

Vertrages von Amsterdam. Nach dieser Vertragsbestimmung<br />

legen Rat und Kommission dem<br />

Europäischen Rat jährlich einen Bericht über die Beschäftigungslage<br />

in der Gemeinschaft vor. Der Europäische<br />

Rat beschließt hierüber. Anhand dieser<br />

Schlussfolgerungen des Europäischen Rates legt der<br />

Rat auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung<br />

des Europäischen Parlaments, des �Wirtschafts-<br />

und Sozialausschusses, des �Ausschusses<br />

der Regionen und eines extra eingesetzten �Beschäftigungsausschusses<br />

jährlich Leitlinien fest, welche<br />

dieMitgliedstaateninihrerBeschäftigungspolitikzu<br />

berücksichtigen haben. Wichtig ist dabei, dass diese<br />

Leitlinien mit der gemeinsamen Wirtschaftspolitik<br />

in Einklang stehen. Danach übermittelt jeder Mitgliedstaat<br />

dem Rat und der Kommission jährlich einen<br />

Bericht über die wichtigsten Maßnahmen, die er<br />

zur Durchführung seiner Beschäftigungspolitik getroffen<br />

hat – das sind die sog. Nationalen Aktionspläne<br />

Beschäftigung (NAP). Diese Pläne werden dann<br />

ausgewertet. Der Rat überprüft auf dieser Grundlage<br />

die Beschäftigungspolitiken der Mitgliedstaaten im<br />

518<br />

Lichte der beschäftigungspolitischen Leitlinien.<br />

Dies geschieht jährlich. Dann kann der Rat auf Empfehlung<br />

der Kommission Empfehlungen an die Mitgliedstaaten<br />

richten, wenn er dies aufgrund der Ergebnisse<br />

seiner Prüfung für angebracht hält. Außerdem<br />

erstellen Rat und Kommission einen gemeinsamen<br />

Jahresbericht für den Europäischen Rat über die<br />

Beschäftigungslage in der Gemeinschaft und die<br />

Umsetzung der beschäftigungspolitischen Leitlinien.<br />

Der �Verfassungsvertrag 2004 hat die BestimmungendesAmsterdamerVertrageszurBeschäftigungspolitik,<br />

vor allem den Prozess der Analysen, Leitlinien,<br />

nationalen Berichte und möglichen Empfehlungen<br />

übernommen (Artikel III-206 VVE). Der Beschäftigungsprozess<br />

geht somit weiter, wenn der<br />

Verfassungsvertrag in Kraft tritt.<br />

3. Der Luxemburg-Prozess im Einzelnen. Der Luxemburg-Prozess<br />

besteht aus den genannten Vertragsvorgaben:<br />

Auf der Ebene der Union werden<br />

„beschäftigungspolitischeLeitlinien“festgelegt,die<br />

auf einer gemeinsamen Analyse der Lage und der<br />

Richtung einer Politik aufbauen, die zu einer dauerhaften<br />

Verringerung der Arbeitslosigkeit durchzuführen<br />

ist. Aufgrund dieser Analyse werden in den<br />

„Leitlinien“ dann konkrete Ziele festgelegt, deren<br />

Verwirklichung regelmäßig nach einem gemeinsamen<br />

Verfahren der Bewertung der Ergebnisse überprüft<br />

wird. Die beschäftigungspolitischen Leitlinien<br />

enthalten vier Grundpfeiler: das Unternehmertum<br />

und den Unternehmensgeist, die Beschäftigungsfähigkeit,<br />

die Anpassungsfähigkeit der Europäischen<br />

Union und die Chancengleichheit. Wichtig ist dabei,<br />

dass die „Leitlinien“ je nach ihrer Art und ihren Auswirkungen<br />

für die Mitgliedstaaten in unterschiedlicher<br />

Weise durchgeführt werden. Die Leitlinien<br />

müssen das �Subsidiaritätsprinzip sowie die ZuständigkeitenderMitgliedstaaten,einschl.ihrerGebietskörperschaften,<br />

im Bereich der Beschäftigung wahren<br />

und mit den Grundzügen der Wirtschaftspolitik<br />

vereinbar sein. Nach ihrer Annahme durch den Rat<br />

sind diese „Leitlinien“ in „Nationale Beschäftigungspolitische<br />

Aktionspläne“ einzufügen, die von<br />

den Mitgliedstaaten auf mehrjährige Sicht ausgearbeitetwerden.AufdieseWeisewerdendieLeitlinien<br />

jedes Mal, wenn es sich als möglich und angemessen<br />

erweist, als einzelstaatliche und in Zahlen ausgedrückte<br />

Ziele konkretisiert und anschließend in einzelstaatlichen<br />

Rechts- und Verwaltungsvorschriften


oder andere Regelungen umgesetzt. Dabei wird der<br />

unterschiedlichen Ausgangslage der Mitgliedstaaten<br />

hinsichtlich der in den „Leitlinien“ behandelten<br />

ProblemedurchdifferenzierteLösungenundAkzente<br />

entsprochen, die der Lage jedes einzelnen Mitgliedstaatesangepasstsind.MitderÜbermittlungihrer<br />

„Nationalen Beschäftigungspolitischen Aktionspläne“<br />

an Kommission und Rat und dem dann möglichen<br />

Erlass von Empfehlungen erhalten Kommission<br />

und Rat eine Überwachungsfunktion über die Beschäftigungspolitiken<br />

der Mitgliedstaaten. So prüft<br />

der Rat jährlich, in welcher Weise die Mitgliedstaaten<br />

die „Leitlinien“ in ihrer einzelstaatlichen Politik<br />

umgesetzthabenundlegtdiesdemEuropäischenRat<br />

vor. In diesem Prozess legt der Europäische Rat Wert<br />

auf Indikatoren, die anhand vergleichbarer statistischer<br />

Daten entwickelt worden sind und die bei den<br />

Beschäftigungspolitiken verfolgt werden sollen.<br />

Entsprechend wurde in den Folgejahren verfahren.<br />

Mit der ersten Entschließung des Rates vom 15. 12.<br />

1997zudenbeschäftigungspolitischenLeitlinienfür<br />

1998 wurde ein Prozess eingeleitet, der sich durch<br />

eine große Öffentlichkeit, politische Verpflichtungen<br />

und – so wurde erhofft – weitreichende Akzeptanz<br />

bei allen Akteuren auszeichnen sollte und mit<br />

Beschluss des Rates vom 13. 3. 2000 über die Leitlinien<br />

für beschäftigungspolitische Maßnahmen im<br />

Jahr 2000 (ABl. L 72/2000) formalisiert wurde.<br />

4.Einbindungindie �Lissabon-Strategie. Durchden<br />

Europäischen Rat vom 23./24. 3. 2000 in Lissabon<br />

wurde ein neues strategisches Ziel gesetzt: Die Europäische<br />

Union sollte zum wettbewerbsfähigsten und<br />

dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum<br />

der Welt werden. Das umfasste weitgehend den Bereich<br />

der Beschäftigung. Die Ziele der Lissabon-<br />

Strategie mussten somit in die beschäftigungspolitischen<br />

Leitlinien Eingang finden. Auf seiner Tagung<br />

vom 19./20. 6. 2000 in Santa Maria da Feira forderte<br />

der Europäische Rat die Sozialpartner auf, bei der<br />

Festlegung, Durchführung und Bewertung der beschäftigungspolitischenLeitlinieneinestärkereRolle<br />

zu übernehmen. Der Europäische Rat von StockholmimMärz2001bestimmtedannweiterebeschäftigungspolitische<br />

Ziele – so sollte bis zum Jahr 2005<br />

die allgemeine Beschäftigungsquote 67 % erreichen,<br />

die von Frauen 57 %, die der älteren Arbeitnehmer<br />

bis zum Jahr 2000 50 %.<br />

Der Europäische Rat von Barcelona bestätigte im<br />

März 2002 die Vollbeschäftigung als das übergrei-<br />

Luxemburg-Prozess<br />

fende Ziel der Europäischen Union und forderte eine<br />

verstärkte Beschäftigungsstrategie, um die Ziele der<br />

Lissabon-Strategie in einer erweiterten Europäischen<br />

Union zu unterstützen.<br />

Der Luxemburg-Prozess als laufendes Arbeitsprogramm<br />

der jährlichen Planung, Überwachung, Überprüfung<br />

und Neuanpassung hat durch die maßgeblichen<br />

Vorgaben der Europäischen Räte seit Lissabon<br />

inhaltlich einen stärkeren Impuls erhalten. Im Jahr<br />

2002 wurde eine umfassende Wirkungsbewertung<br />

der ersten fünf Jahre dieses Prozesses durchgeführt.<br />

Dabei wurden zentrale Herausforderungen und Themen<br />

für die Zukunft der europäischen Beschäftigungsstrategie<br />

identifiziert. Bei der Halbzeitbewertung<br />

wurde deutlich, dass der Luxemburg-Prozess<br />

noch nicht weitgehend im öffentlichen Bewusstsein<br />

verankert war. Es wurde die Notwendigkeit gesehen,<br />

die Ziele noch mehr mit den Vorgaben des Europäischen<br />

Rates von Lissabon im Hinblick auf ein nachhaltiges<br />

wirtschaftliches Wachstum und mehr und<br />

bessere Arbeitsplätze sowie einen größeren sozialen<br />

Zusammenhalt zu verbinden; auch erschien eine<br />

Vereinfachung, vor allem des Berichtswesens, notwendig.<br />

Ferner sollten andere Ministerräte, wie vor<br />

allem der Bildungsministerrat, stärker eingebunden<br />

werden. Die Entwicklung der Indikatoren sollte fortgesetzt<br />

werden. Die bildungspolitischen Leitlinien<br />

sollen in Zukunft kontinuierlicher ausgestaltet werden.<br />

5. Grenzen der Strategie – z. B. Beschäftigung und<br />

Bildung. Bei den beschäftigungspolitischen Leitlinien,<br />

dem Kern des Beschäftigungspaketes der Luxemburg-Strategie,<br />

ist auch ein Bereich angeführt,<br />

bei dem die Europäische Gemeinschaft nach den<br />

Vertragsgrundlagen nur ergänzende und fördernde<br />

Maßnahmen ergreifen darf – dies ist der Bildungsbereich.<br />

Im Rahmen der Beschäftigungsfähigkeit der<br />

Arbeitnehmergehtesdarum,durcheineModernisierung<br />

der Bildungs- und Ausbildungssysteme und<br />

durch eine bessere Verbindung zwischen Bildungsund<br />

Ausbildungssystemen und Arbeitswelt das Qualifikationsdefizit<br />

der europäischen Arbeitnehmer zu<br />

überwinden. Dabei wird das Ziel gesetzt, alle Arbeitskräfte<br />

in den Stand zu versetzen, neue Beschäftigungsmöglichkeitenzunutzen.Sosindu.a.folgende<br />

Vorgaben gemacht: Zur Bekämpfung der Langzeit-<br />

und der Jugendarbeitslosigkeit soll jedem arbeitslosen<br />

Erwachsenen innerhalb von 12 Monaten<br />

eine neue Chance in Form eines Arbeitsplatzes, einer<br />

519


Luxemburg-Prozess<br />

Ausbildung, einer Umschulung, eines Berufspraktikums<br />

oder einer anderen Beschäftigungsmaßnahme<br />

angeboten werden. Jedem arbeitslosen Jugendlichen<br />

soll bereits innerhalb von sechs Monaten eine entsprechende<br />

Chance angeboten werden. Die Zahl der<br />

SchulabbrechersollhalbiertunddieZahlderjenigen,<br />

welche die Sekundarstufe II nicht abschließen, verringert<br />

werden. Die Systeme der Lehrlingsausbildung<br />

sollen verbessert und die Lehrlingsausbildung<br />

nach dem Vorbild der leistungsfähigsten Mitgliedstaaten<br />

ausgebaut werden. Die Ausbildungssysteme<br />

sollen Anreize zur Beschäftigung geben. Die Zahl<br />

der Arbeitslosen, denen Ausbildungsmaßnahmen<br />

angeboten werden, ist maßgeblich zu erhöhen.<br />

Die beschäftigungspolitischen Leitlinien haben<br />

auch die konkreten bildungspolitischen Ziele, die in<br />

der Lissabon-Strategie festgelegt sind, aufgegriffen.<br />

Es geht hier um Einzelheiten im Bereich der Grund-,<br />

Sekundar- und Hochschulausbildung sowie des lebenslangen<br />

Lernens, des Umgangs mit Informationstechnologien<br />

und der beruflichen Bildung, damit<br />

die Beschäftigungsfähigkeit, die Anpassungsfähigkeit<br />

und die Qualifikation der Menschen verbessertwird.(�Lissabon-StrategieimBildungsbereich)<br />

Dieser Ansatz wurde aber von den deutschen Ländern<br />

zurückgewiesen: Der Bundesrat, über den die<br />

Länder an der europäischen Meinungsbildung und<br />

Rechtsetzung mitwirken, hat stets darauf hingewie-<br />

520<br />

sen,dassdieBildungspolitikeineigenständigerPolitikbereich<br />

und nicht der Beschäftigungs- und Wirtschaftspolitik<br />

zuzuordnen sei. Verbindliche Vorgaben<br />

für die Mitgliedstaaten im Bereich der Bildung<br />

seien durch den Vertrag ausgeschlossen und könnten<br />

deshalb auch nicht über die allgemeinen beschäftigungspolitischen<br />

Maßnahmen eingeführt werden<br />

(BR.Drs. 658/00, Beschluss vom 1. 12. 2000, vgl.<br />

auch BR.Drs. 765/00 – Beschluss vom 30. 3. 2001,<br />

BR.Drs. 86/01 – Beschluss vom 09.03.2001). Auch<br />

dieBildungsministerderMitgliedstaatenbestätigten<br />

im Bildungsministerrat der Europäischen Union den<br />

beschäftigungspolitischen Ansatz für das Bildungswesen<br />

nur zum Teil und verwiesen auf die eingeschränkten<br />

Zuständigkeiten der Europäischen Gemeinschaft<br />

im Bildungsbereich. Zwar begrüßten die<br />

Minister die neue aktive Rolle der Bildungspolitik<br />

bei der Mitgestaltung der europäischen Beschäftigungspolitik<br />

und die Aufnahme bildungsbezogener<br />

ZielsetzungenindenLeitlinien,siewiesenaberauch<br />

aufdiepersönliche,sozialeundkulturelleEntfaltung<br />

der Bürger als Ziel der Bildung hin (Stellungnahme<br />

des Rates (Bildung) zum Vorschlag für eine Entscheidung<br />

des Rates über Leitlinien für beschäftigungspolitische<br />

Maßnahmen der Mitgliedstaaten im<br />

Jahr 2001, verabschiedet am 9. 11. 2000, Rats-Dok.<br />

12814/00). I. B.-M.<br />

Internet: http://europa.eu.int/pol/socio/overwiew_de.htm


Maastrichter Vertrag (Vertrag über die Europäische<br />

Union)<br />

1. Begriffserklärung: Der „Vertrag über die EuropäischeUnion“(EUV)istaufdemGipfelderStaats-und<br />

Regierungschefs am 9./10. 12. 1991 im niederländischenMaastrichtvereinbartworden(daherdieKurzbezeichnung<br />

„Maastrichter Vertrag“). Er wurde am<br />

7. 2. 1992 in Maastricht unterzeichnet und ist nach<br />

seiner Ratifizierung in – damals – allen zwölf Staaten<br />

am 1. 11. 1993 in Kraft getreten. Der Vertrag wurde,<br />

vorbereitet durch Regierungskonferenzen, auf den<br />

Gipfeln der Staats- und Regierungschefs in Amsterdam<br />

(Juni 1997) und Nizza (Dezember 2000) weiterentwickelt<br />

und soll nun durch den �Verfassungsvertrag<br />

2004 ersetzt werden.<br />

2. Historische Entwicklung: In den Jahrzehnten seit<br />

ihrer Gründung (1957/1958) hat die Gemeinschaft<br />

mehrfach auf drängenden Reformbedarf mit unterschiedlich<br />

umfangreichen und funktionstüchtigen<br />

Regelungen reagiert. Einer der Versuche eines umfassenderen<br />

Entwurfs für eine Europäische Union –<br />

der Verfassungsentwurf des Europäischen Parlaments<br />

(EP) von 1984 – mündete in die �Einheitliche<br />

Europäische Akte (EEA), die das erste umfassende<br />

Reformwerk in der Geschichte der Gemeinschaft<br />

war. Die EEA konkretisierte das Ziel der europäischen<br />

Einigung explizit durch den Begriff „EuropäischeUnion“undunterstrichdamitdieProzesshaftigkeit<br />

der europäischen Einigung. Sehr viel schneller<br />

als erwartet hat die 1986 beschlossene und am 1. 7.<br />

1987 in Kraft getretene EEA einen erneuten ReformbedarfimGemeinschaftssystementfacht,sodassvor<br />

allemimHinblickaufdieZeitnachdervorgesehenen<br />

Verwirklichung des Binnenmarktes der Bedarf nach<br />

einer weiteren Vertragsrevision deutlich wurde.<br />

Unter dem Vorsitz des damaligen Kommissionspräsident<br />

Jacques Delors wurde ein Drei-Stufen-Plan<br />

zur �Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) ausgearbeitet.<br />

Die Auswirkungen des Binnenmarkt-<br />

Programms gingen über den wirtschafts- und währungspolitischen<br />

Bereich weit hinaus: Eine E(W)G,<br />

die immer mehr Regelungskompetenz bindet, muss<br />

auch über ein dazu passendes politisches Instrumentarium<br />

verfügen, damit eine demokratisch abgesi-<br />

M<br />

Maastrichter Vertrag<br />

cherte Entscheidungsfindung möglich ist. Es galt,<br />

die inneren Strukturen so zu reformieren, dass die<br />

Gemeinschaft auch im Hinblick auf ihre künftige Erweiterung<br />

die Handlungsfähigkeit bewahren und ihrem<br />

Anspruch als Zentrum des europäischen Einigungsprozesses<br />

weiterhin gerecht werden kann.<br />

Auch aus diesen Gründen beschlossen die Staatsund<br />

Regierungschefs der EG auf dem Gipfel des Europäischen<br />

Rates in Dublin (Juni 1990), in inhaltlicher<br />

Ergänzung zur geplanten WWU-Konferenz<br />

eine zweite Regierungskonferenz über die Politische<br />

Union einzuberufen. Ab Dezember 1990 tagten die<br />

beiden Regierungskonferenzen zur WWU und zur<br />

Politischen Union.<br />

Am 7. 2. 1992 wurde der am 10. 12. 1991 auf dem<br />

Gipfel in Maastricht von den zwölf Staats- und Regierungschefs<br />

der EG-Mitgliedstaaten vereinbarte<br />

„Vertrag über die Europäische Union“ offiziell von<br />

den Außen- und Finanzministern der Gemeinschaft<br />

unterzeichnet. Ergänzt wird der Maastricht-Vertrag<br />

durch 17 Protokolle und 33 Erklärungen.<br />

Die Vertragsänderungen mussten in allen Mitgliedstaaten<br />

ratifiziert werden. In neun EG-Staaten war<br />

ein ausschließlich parlamentarisches Verfahren vorgesehen,währendinDänemarkundIrlandzusätzlich<br />

Volksbefragungen stattfanden. Mehr als zwei Drittel<br />

der Iren (69 %) stimmten in einem Referendum im<br />

Juni 1992 für den Vertrag. In Dänemark endete die<br />

Auszählung des Referendums mit negativem Ergebnis:<br />

50,7 % der Dänen stimmten im Juni 1992 gegen<br />

das Vertragswerk. Auf dem Gipfeltreffen in Edinburgh<br />

im Dezember 1992 einigten sich die Staatsund<br />

Regierungschefs auf Sonderregelungen (Optout-Klauseln)<br />

für Dänemark, um in einer dann im<br />

Mai 1993 stattfindenden zweiten Volksbefragung<br />

den Dänen doch noch eine Zustimmung zu ermöglichen<br />

(56,8 % dafür, 25 % dagegen). In Frankreich<br />

hatte Staatspräsident Mitterrand aus innenpolitischen<br />

Gründen ein verfassungsmäßig eigentlich<br />

nicht vorgesehenes Referendum angesetzt, in dem er<br />

über das Vertragswerk befinden ließ. Die Zustimmung<br />

zum Vertrag fiel knapper aus als in Irland: 51%<br />

stimmten im September 1992 für die Vereinbarungen<br />

von Maastricht.<br />

521


Maastrichter Vertrag<br />

Bevor der Maastrichter Vertrag am 1. 11. 1993 in<br />

Kraft treten konnte, war über eine deutsche Verfassungsklage<br />

zu entscheiden. Unter anderem hatte ein<br />

ehemaliger EG-Beamter wegen der vermeintlichen<br />

Entmachtung der nationalen Volksvertretung und<br />

damitdesAnfangsvomEndedesselbständigenStaates<br />

Bundesrepublik Deutschland Verfassungsbeschwerde<br />

erhoben: Das Wahlrecht zum Deutschen<br />

Bundestag nach Art. 38 GG werde ausgehöhlt.<br />

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil<br />

vom 12. Oktober 1993 die Beschwerden abgewiesen<br />

und u. a. erklärt: Die Mitgliedstaaten bleiben Herren<br />

der Verträge (sie können diese ggf. sogar kündigen),<br />

derUnionsvertragbelässtdemDeutschenBundestag<br />

nochhinreichendesubstantielleBefugnisseundlässt<br />

bisher nur einen „Staatenverbund“ (keinen Bundesstaat)<br />

zu. Nach dem Urteil des BVerfG (�Maastricht-Urteil)<br />

ist darauf zu achten, dass die durch<br />

Wahl(Art.38GG)zustandegekommeneLegitimation<br />

von Staatsgewalt und deren Ausübung nicht so<br />

entleert wird, „dass das demokratische Prinzip, soweit<br />

es Art. 79 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 20 Abs.<br />

1 und 2 GG für unantastbar erklärt, verletzt wird“.<br />

Das Urteil des BVerfG beschreibt also den aktuellen<br />

Stand der Integration, befindet diesen als mit dem<br />

Grundgesetz vereinbar, enthält aber keine Aussagen<br />

über mögliche weitere Integrationsschritte. (Vgl.<br />

auch „Zur Geschichte der Europäischen Einigung“,<br />

Abschn. 7, S. 865 ff.).<br />

Mit dem Vertrag von Amsterdam (1997) und dem<br />

Vertrag von Nizza (2000) wurde der Maastrichter<br />

Vertrag weiterentwickelt und ausgebaut.<br />

3. Inhalt des Maastrichter Vertrages: Der Maastrichter<br />

Vertrag bedeutete einen „qualitativen<br />

Sprung“ hin zur Europäischen Union. Der Vertrag<br />

soll – so formulieren es die einleitenden Gemeinsamen<br />

Bestimmungen – eine „neue Stufe“ bei der Verwirklichung<br />

der Europäischen Union darstellen: Zu<br />

den bisher vorrangig wirtschaftlichen Motiven und<br />

Begründungen für die europäische Einigung, wie sie<br />

vor allem im EWG-Vertrag von 1957 zu finden sind,<br />

kommenverstärktpolitischeZielbestimmungenhinzu.<br />

Der Vertrag revidiert und aktualisiert in einer<br />

Vielzahl von Punkten den ursprünglichen EWG-<br />

Vertrag und versucht, das in 40 Jahren angewachsene<br />

Gemeinschaftsrecht zu systematisieren.<br />

Die Beschlüsse von Maastricht sichern den Bestand<br />

der bisherigen Integration, binden weitere Politikbereiche<br />

in den europäischen Integrationsprozess ein<br />

522<br />

und führen bestimmte Bereiche stufenweise an die<br />

europäische Einigung heran. Das Maastrichter Vertragswerk<br />

besteht aus dem „Vertrag über die Europäische<br />

Union“, mit dem die EU gegründet wurde; er<br />

enthält Fortschreibungen des EWG-Vertrags und<br />

entsprechende Anpassungen des EGKS- und des Euratom-Vertrags.<br />

Diese drei Gemeinschaften werden<br />

als Grundlage der Union bezeichnet (Art. A EUV,<br />

jetzt Art. 1); sie werden ergänzt durch die mit dem<br />

EU-Vertrag eingeführte Zusammenarbeit in der Außen-<br />

und Sicherheitspolitik und in Bereichen der<br />

Justiz- und Innenpolitik.<br />

Die Europäische Union verbindet als Dach diese<br />

„drei Säulen“ (�Tempelstruktur) miteinander: Im<br />

Rahmen der drei Gründungsverträge (EGKS, EWG,<br />

EAG) wurde bzw. wird weiterhin gemeinschaftliche<br />

Politik betrieben, hier agieren supranationale Organe<br />

und Institutionen (wie z. B. die Europäische Kommission,<br />

das Europäische Parlament, der Rat der Europäischen<br />

Union, der Ausschuss der Regionen). Sie<br />

bilden die erste Säule der „Europäischen Union“.<br />

Zweite Säule ist die �Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik<br />

(GASP), in der die Mitgliedstaaten<br />

der Europäischen Union als Akteure gemeinsame<br />

Politik betreiben, eine Mischform aus zwischenstaatlichen<br />

und supranationalen Entscheidungsregeln.<br />

Die dritte Säule der Europäischen Union bilden<br />

die Bestimmungen über die Zusammenarbeit in den<br />

Bereichen �Justiz und Inneres (ZBJI). Diese bisher<br />

klassisch nationalstaatlichen Regelungsbereiche<br />

wurden neu in das Vertragswerk eingefügt, wobei<br />

das Verfahren durch intergouvernementale Abläufe<br />

gekennzeichnet ist. Teile der ZBJI wurden durch den<br />

Vertrag von Amsterdam in die erste Säule überführt,<br />

sodass heute nur noch die Zusammenarbeit von Polizei<br />

und Justiz in Strafsachen (�PJZS) die dritte Säule<br />

bildet. Am detailliertesten im Maastrichter Vertrag<br />

sind die Regelungen zur Wirtschafts- und Währungsunion<br />

(WWU), die in der ersten Säule (EGV)<br />

verankert sind und den Stufenplan zur Einführung<br />

des Euro enthalten.<br />

Der Maastrichter Vertrag legt weitreichende StrukturprinzipienfürdieEuropäischeUnionfest.Sowurde<br />

eine Formulierung zur �Subsidiarität und eine<br />

Umschreibung des Föderalismus in den Vertrag aufgenommen,<br />

in dem die Gemeinschaft als „immer engere<br />

Union der Völker <strong>Europa</strong>s“ beschrieben wird,<br />

„in der die Entscheidungen möglichst bürgernah getroffen<br />

werden“ (Art. 1 EUV). Darüber hinaus wird


in Art. 5 EGV festgelegt, dass die (von „EWG“ umbenannte)<br />

EG in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche<br />

Zuständigkeit fallen, nach dem Subsidiaritätsprinzip<br />

nur tätig wird, soweit die in Betracht<br />

gezogenen Maßnahmen durch die Mitgliedstaaten<br />

nicht ausreichend geregelt werden können und wegen<br />

ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf<br />

Gemeinschaftsebene beschlossen werden sollten.<br />

Zudem wurden Regelungen zur Unionsbürgerschaft<br />

(Art.8–8eEGV,jetztArt.17–22)neuindenVertrag<br />

aufgenommen.<br />

Zum Zeitpunkt der Verhandlungen um das Maastrichter<br />

Vertragswerk konnten nicht gänzlich die angestrebte<br />

Ausweitung der Rechte des Europäischen<br />

Parlaments durchgesetzt und die Revision der Abgeordnetenzahlen<br />

erreicht werden. Neben einigen wesentlichen<br />

Kompetenzerweiterungen (wie �Mitentscheidungsverfahren,<br />

�Vermittlungsausschuss, Investitur<br />

der Europäischen Kommission, �Untersuchungsausschüsse),<br />

die in die Maastrichter Beschlüsse<br />

Eingang gefunden haben, wurde für 1996<br />

eine erneute Regierungskonferenz zur Überprüfung<br />

der getroffenen Regelungen und zur Weiterentwicklung<br />

der Rechte des Europäischen Parlaments vereinbart(�VertragvonAmsterdam).DieNeuordnung<br />

der durch die deutsche Einheit im Oktober 1990 notwendiggewordenenAbgeordnetenkontingentewurde<br />

von den Staats- und Regierungschefs am 11./12.<br />

12. 1992 beschlossen; seit der <strong>Europa</strong>-Wahl im Juni<br />

1994 sind 99 deutsche Abgeordnete im EP vertreten;<br />

auch für die anderen Mitgliedstaaten sind die Mandatszahlen<br />

angepasst worden.<br />

Mit dem Vertrag wurde neu ein �Ausschuss der Regionen<br />

eingesetzt, der für die Kommission und den<br />

Ministerrat beratende Funktion hat.<br />

4. Kritische Wertung: Die Bilanz der Verhandlungen<br />

umden„VertragüberdieEuropäischeUnion“,wieer<br />

in Maastricht verabschiedet worden ist, muss immer<br />

auch im Lichte der Kompromissbereitschaft der Mitgliedstaatengezogenwerden.Angesichtsderheterogenen<br />

Ausgangslage, den aus unterschiedlichen MotivengespeistenInteressender(damals)12Mitgliedstaaten,<br />

repräsentierte der erzielte Kompromiss das<br />

politisch Durchsetzbare. Der Maastrichter Vertrag<br />

wurde in der Zeit der Überwindung des Ost-West-<br />

Konfliktes und des Falls der Mauer verhandelt;<br />

schon bald zeigte sich, dass er den Anforderungen<br />

nachHandlungsfähigkeitundTransparenzeinersich<br />

stark erweiternden EU nicht gewachsen ist. Die<br />

Maastricht-Urteil<br />

nächste Revision des europäischen Vertragswerkes<br />

ließ nicht lange auf sich warten: Der Amsterdamer<br />

Vertrag. M. P.<br />

Literatur:<br />

Ahrens, J. (Hg.): Zehn Jahre Vertrag von Maastricht.<br />

Berlin 2003<br />

Hahn, H. J.: Der Vertrag von Maastricht als völkerrechtliche<br />

Übereinkunft und Verfassung. Baden-Baden 1992<br />

Hrbek, R. (Hg.): Der Vertrag von Maastricht in der wissenschaftlichen<br />

Debatte. Baden-Baden 1993<br />

Läufer, Th. (Bearb.): Europäische Union, Europäische<br />

Gemeinschaft: die Vertragstexte von Maastricht mit den<br />

deutschen Begleitgesetzen. Bonn 1998 8<br />

Simson, W. v./Schwarze, J.: Europäische Integration und<br />

Grundgesetz. Maastricht und die Folgen für das deutsche<br />

Verfassungsrecht. Berlin 1992<br />

Maastricht-Urteil. Das Bundesverfassungsgericht<br />

(BVerfG) wies in seinem Urteil vom 12. 10. 1993<br />

(BVerfGE 89, 155; NJW 1993, 3047) die gegen den<br />

Vertrag über die Europäische Union erhobenen Verfassungsbeschwerden<br />

zurück und ermöglichte so<br />

dessen Inkrafttreten zum 1. 11. 1993. In den UrteilsgründenwurdendabeigrundsätzlicheAusführungen<br />

zur Rolle Deutschlands in der EU getroffen. Zunächst<br />

wurde festgestellt, dass das Demokratieprinzip<br />

Deutschland nicht an einer Mitgliedschaft in einer<br />

supranationalen, zwischenstaatlichen Gemeinschaft<br />

hindere. Voraussetzung sei aber, dass eine<br />

vom Volk ausgehende �Legitimation und Einflussnahme<br />

auch innerhalb des „Staatenverbundes“ gesichert<br />

bleibe. Im Rahmen der EU erfolge diese über<br />

die nationalen Parlamente der Mitgliedstaaten sowie<br />

über das direkt gewählte Europäische Parlament.<br />

Entscheidend sei, dass die demokratischen GrundlagenderEUschritthaltendmitder�Integrationausgebaut<br />

würden und auch in deren Fortgang in den Mitgliedstaaten<br />

eine lebendige Demokratie erhalten<br />

bleibe.<br />

AußerdempochtedasBVerfGaufdieEinhaltungdes<br />

�Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung. Bei<br />

der Auslegung der Befugnisnormen durch die europäischen<br />

Einrichtungen und Organe sei zu beachten,<br />

dass der EU-Vertrag grundsätzlich zwischen der<br />

Wahrnehmung einer begrenzt eingeräumten Hoheitsbefugnis<br />

sowie der Vertragsänderung unterscheide.<br />

Die Auslegung einer Vertragsnorm dürfe<br />

deshalbimErgebnisnichtzueinerVertragsänderung<br />

führen; eine solche wäre für Deutschland jedenfalls<br />

nicht bindend. In einem „Kooperationsverhältnis“<br />

zum EuGH werde das BVerfG prüfen, ob sich das se-<br />

523


Madariaga<br />

kundäre �Gemeinschaftsrecht insoweit in den eingeräumten<br />

Grenzen halte oder aus ihnen „ausbreche“.<br />

Somit wurde die Vorrangfrage thematisiert. Dies sei<br />

schon aus Sicht des deutschen Grundrechtsschutzes<br />

erforderlich. Auch müssten dem Bundestag Aufgaben<br />

und Befugnisse von substanziellem Gewicht<br />

verbleiben. Der EU-Vertrag begründe einen „Staatenverbund“<br />

zur Verwirklichung einer immer engeren<br />

Union der staatlich organisierten Völker <strong>Europa</strong>s,nichtabereinensichaufeineuropäischesStaatsvolk<br />

stützenden Staat.<br />

Unter anderem billigte das BVerfG im Maastricht-Urteil<br />

schließlich die Europäische �Wirtschafts-<br />

und Währungsunion. Allerdings unterwerfe<br />

sich Deutschland mit der Ratifikation des EU-Vertrags<br />

nicht „einem unüberschaubaren, in seinem<br />

Selbstlauf nicht mehr steuerbaren Automatismus zu<br />

einerWährungsunion“;derVertrageröffnevielmehr<br />

„denWegzueinerstufenweisenweiterenIntegration<br />

der europäischen Rechtsgemeinschaft, der in jedem<br />

weiteren Schritt entweder von gegenwärtig für das<br />

Parlament voraussehbaren Voraussetzungen oder<br />

aber von einer weiteren, parlamentarisch zu beeinflussenden<br />

Zustimmung der Bundesregierung“ abhänge.<br />

J. M. B.<br />

Madariaga y Rojo, Salvador de (1886 – 1978), spanischer<br />

Schriftsteller und Diplomat. Er war 1922 im<br />

Völkerbund tätig, wurde 1931 spanischer Botschafter<br />

in den USA, 1932 in Paris, ab 1936 im Exil in<br />

Großbritannien. Er schrieb Romane und Essays,<br />

auch zur Völkerpsychologie, über internationale politische<br />

Beziehungen und über Liberalismus. Er engagierte<br />

sich in der Europäischen Bewegung und erhielt<br />

1973 den Karlspreis der Stadt Aachen.<br />

Magna Charta Universitatum (auch: Bologna<br />

Magna Charta Universitatum)<br />

Begriff: Am 18. 9. 1988 von zahlreichen Universitätspräsidenten<br />

und -rektoren anlässlich der 900-<br />

JahrfeierderUniversitätBologna(gegr.1088)undin<br />

Erinnerung an das vor 830 Jahren von Kaiser Friedrich<br />

Barbarossa die akademische Freiheit begründende<br />

Dekret „Authentica habita“ (1158) unterzeichnete<br />

Erklärung zum Bildungsauftrag der Hochschulen<br />

und den Grundvoraussetzungen ihrer Tätigkeit<br />

im Binnenmarkt.<br />

Hintergrund und Beweggründe: Die im „Weißbuch<br />

zur Vollendung des Binnenmarkts“ vom 14. 6. 1985<br />

524<br />

enthaltene Zielvorstellung für die Verwirklichung<br />

des Binnenmarkts wurde durch den Binnenmarktartikel<br />

8a der �Einheitlichen Europäischen Akte<br />

(EEA) vertraglich festgeschrieben. Der Beschluss<br />

des Erasmus-Programms vom 15. 6. 1987 und die<br />

Entschließung des Bildungsministerrats vom 24. 5.<br />

1988 zur europäischen Dimension im Bildungswesen<br />

ergänzen die Binnenmarktzielsetzung durch die<br />

bildungspolitischen Perspektiven der Mobilitätsförderung.<br />

Die bevorstehende 900-Jahrfeier der Gründung<br />

der Rechtsschule von Bologna im Jahre 1088<br />

und deren spätere Rolle bei der Rezeption des Römischen<br />

Rechts, namentlich des Körperschaftsrechts<br />

(„universitas non moritur“, universitas als der dem<br />

kirchlichen corpus spirituale entsprechenden „ewigen“<br />

Gemeinschaft, der „Bolognität“), gab Anlass,<br />

Bologna für die Proklamation der Magna Charta auszuwählen.<br />

Der Gedanke hierzu entstand auf einem<br />

Treffen europäischer Rektoren 1986 in Löwen; auf<br />

dem Erasmus-Eröffnungssymposium am 5./6. 6.<br />

1987 in Bologna wurde dann eine Initiativ- und Redaktionsgruppeberufen,derdieRektorenderPariser<br />

Sorbonne, der Universitäten von Barcelona, Löwen<br />

und Utrecht, der Vorsitzende des für Bildungsfragen<br />

zuständigen Ausschusses des Europäischen Parlaments,derPräsidentderEuropäischenRektorenkonferenz<br />

und der Rektor der Universität Bologna als<br />

verantwortlicher Organisator angehörten. Der Text<br />

der Charta wurde von diesem Ausschuss am 7./8. 1.<br />

1988 in Barcelona abgeschlossen.<br />

Zielsetzung: Anknüpfend an das „Weißbuch“ proklamiert<br />

die Magna Charta Universitatum als<br />

„Grundvoraussetzung“ für die Rolle der Hochschulen<br />

im Binnenmarkt die<br />

– Autonomie der Universitäten,<br />

– Akademische Freiheit und Verknüpfung von Forschung<br />

und Lehre,<br />

– den gegenseitigen Austausch und<br />

– ihre Beteiligung bei der Schaffung eines europäischen<br />

Hochschulraumes.<br />

Zur rechtlichen Würdigung �Bologna-Erklärung.<br />

I. H.<br />

Makrodialog, Makroökonomischer Dialog.Vom<br />

Europäischen Rat in Köln 1999 eingesetztes Gremium<br />

aus hochrangigen Vertretern der Regierungen<br />

(Ratsmitglieder), der Kommission, der Europäischen<br />

Zentralbank und der Sozialpartner. Es trifft<br />

sich halbjährlich zur Abstimmung der Geld-, Lohn-


und Fiskalpolitik der Mitgliedstaaten. Die vertraulichen<br />

Treffen dienen dem Informationsaustausch, es<br />

werden keine Berichte erstellt. Köln-Prozess<br />

Mansholt, Sicco Leendert (1908 – 1995), niederländischer<br />

Minister für Landwirtschaft und Fischerei<br />

(1945 – 1958). Vizepräsident der Kommission<br />

(1958 – 1972). Als zuständiger �Kommissar für die<br />

Landwirtschaft arbeitete er 1968 einen Plan zur Reform<br />

der Agrarpolitik aus (�Mansholt-Plan). 1972<br />

Interimspräsident der Kommission.<br />

Mansholt-Plan von 1968, benannt nach dem Vizepräsidenten<br />

der EG-Kommission, Sicco L. Mansholt.<br />

Der Plan sah eine Reform der europäischen<br />

Landwirtschaft vor mit dem Ziel, einen marktwirtschaftlichfunktionierendenAgrarmarktzuschaffen.<br />

Erreicht werden sollte das Ziel durch die Aufgabe<br />

von Höfen, Herstellung größerer landwirtschaftlicher<br />

Einheiten, Stilllegung unrentabler Böden, Reduzierung<br />

des Bestandes an Milchkühen (alles bei<br />

Zahlung von Ausgleichs-Prämien), Strukturhilfen<br />

für überlebensfähige landwirtschaftliche Betriebe.<br />

DerPlanwurdehartdiskutiertundinTeilendurchgesetzt.<br />

Gemeinsame Agrarpolitik<br />

Marco-Polo-Programm. Durch Verordnung 1382/<br />

2003 (ABl. L 196/2003) entstandenes EU-Programm,<br />

das Projekte zur Verbesserung der Umweltverträglichkeit<br />

des Güterverkehrs finanziell fördert.<br />

Gefördert werden Aktionen zur Verlagerung des Güterverkehrs<br />

von der Straße auf die Schiene, die Binnenschifffahrt<br />

und den Kurzstrecken-Seeverkehr,<br />

sog. katalytische Aktionen zur Überwindung von<br />

strukturellen Hindernissen im europäischen Markt<br />

des nicht straßengebundenen Güterverkehrs sowie<br />

gemeinsame Lernaktionen zur Verbreitung fortschrittlicher<br />

Methoden und Verfahren der Zusammenarbeit<br />

im Güterverkehr. Ziel ist, den Straßengüterverkehr<br />

bis 2010 auf den Stand von 1998 zurückzuführen.<br />

Markenamt �Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt<br />

Markenrecht, europäisches. Die Marke und das<br />

Warenzeichen dienen dazu, die Bekanntheit einer<br />

Ware oder eines Unternehmens zu sichern. Um den<br />

Missbrauch einer Marke, die sich bereits durchge-<br />

Markenrecht<br />

setzt oder einen gewissen Bekanntheitsgrad erworben<br />

hat, zu verhindern, wurde bereits Ende des<br />

19. Jhs. ein Warenzeichengesetz geschaffen, das die<br />

Möglichkeit eröffnete, Marken schützen zu lassen.<br />

Da Marken auch im grenzüberschreitenden Warenund<br />

Dienstleistungsverkehr eine große Rolle spielen,<br />

wurden auch internationale Verträge zum<br />

Schutz von Marken und Warenzeichen geschlossen.<br />

So entstand 1883 die „Pariser Verbandsübereinkunft<br />

zum Schutz des gewerblichen Eigentums“ und 1891<br />

das „Madrider Markenabkommen über die internationale<br />

Registrierung von Fabrik- und Handelsmarken“.<br />

1967 wurde durch das Stockholmer Übereinkommen<br />

eine Weltorganisation für geistiges Eigentum<br />

(WIPO) gegründet, deren Ziel die Angleichung<br />

der unterschiedlichen Markenrechte durch Konsultationen<br />

ist. Auf europäischer Ebene musste zunächst<br />

der Europäische �Gerichtshof Grundsätze<br />

aufstellen, nach denen nationale Marken bei Kollision<br />

mit Marken in anderen Mitgliedstaaten anerkannt<br />

werden. So stellt der EuGH für eine Verbotsbefugnis<br />

einesMarkeninhabersgegenübereinergleichenoder<br />

ähnlichen Marke aus einem anderen Land darauf ab,<br />

ob diese Marke mit Wissen und Wollen des Inhabers<br />

im anderen Land geschützt wird.<br />

Da es durch Unterschiede in der Markengesetzgebung<br />

teilweise zu Behinderungen im grenzüberschreitenden<br />

Verkehr im Binnenmarkt kam, verabschiedete<br />

der Rat am 21. 12. 1988 eine Richtlinie zur<br />

Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten<br />

über die Marken (89/104, ABl. L 40/1989),<br />

die in Deutschland durch das Markengesetz von<br />

1995 umgesetzt wurde. Geschützt werden danach<br />

alle Marken, geschäftlichen Bezeichnungen und<br />

geografische Herkunftsangaben, gleich ob in Form<br />

von Wörtern, Abbildungen, Buchstaben, Zahlen,<br />

Hörzeichen oder dreidimensionalen Gestalten.<br />

Dabei entsteht Markenschutz nicht allein durch die<br />

Eintragung der Marke (in Deutschland zuständig:<br />

das Bundespatentamt in München), sondern schon<br />

durchihreBenutzungimgeschäftlichenVerkehr,sofernsieinnerhalbbeteiligterVerkehrskreisealsMarke<br />

Verkehrsgeltung erworben hat, oder durch die<br />

feststellbare Bekanntheit der Marke.<br />

Der Inhaber einer solchen Marke hat das ausschließliche<br />

Recht, ihre Benutzung durch andere zu verbieten<br />

oder (gegen Entgelt) zu erlauben, gegenüber Verletzern<br />

hat er einen Unterlassungs- und einen Schadensersatzanspruch.<br />

Wichtig sind der Benutzungs-<br />

525


Marktordnung<br />

zwang (bei Nichtbenutzung kann die Marke gelöscht<br />

werden) und der Erschöpfungsgrundsatz, wonach<br />

die Benutzung von Waren mit einer Marke einem anderen<br />

nicht untersagt werden kann, wenn die Waren<br />

unter dieser Marke bereits von ihm oder mit seiner<br />

Zustimmung in Verkehr gebracht wurden.<br />

Die Entwicklung der Europäischen Union zu einem<br />

einheitlichen Markenraum soll die Verordnung über<br />

die Gemeinschaftsmarke vom 20. 12. 1993 fördern<br />

(40/94, ABl. L 11/1994). Hiernach können seit dem<br />

1. 4. 1996 im �„Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt“<br />

(Europäisches Markenamt) in Alicante<br />

(Spanien) Marken angemeldet werden, deren Schutz<br />

einheitlich für die gesamte EU gilt. Die Anmeldung<br />

kann aber auch beim zuständigen nationalen Amt,<br />

hier also beim Bundespatentamt, eingereicht werden,<br />

das diese nach Alicante weiterreicht.<br />

Im Übrigen gelten hier nahezu die gleichen Voraussetzungen<br />

wie im – vereinheitlichten – nationalen<br />

Markenrecht. Da die Gemeinschaftsmarke einen<br />

Markenschutz eigener Art gewährt, kann sie neben<br />

einer nationalen Marke bestehen. Allerdings ist der<br />

Antrag auf Eintragung abzulehnen, sofern der beantragtenMarkeeinenationaleMarkeentgegensteht.<br />

Hierzu recherchiert das Markenamt in eigenen Beständen<br />

und in den nationalen Markenämtern. Da allerdings<br />

die Recherche in den Mitgliedstaaten zeitaufwändig,<br />

kostenintensiv und nicht sicher ist, sieht<br />

eine Änderung der Gemeinschaftsmarkenverordnung<br />

vor, dass ab 2008 eine Recherche in den Mitgliedstaaten<br />

nur noch auf ausdrücklichen Antrag<br />

durchgeführt wird.<br />

Die Gemeinschaftsmarke empfiehlt sich insbes. für<br />

Marken, die in der gesamten EU oder großen Teilen<br />

eingesetzt werden sollen oder auch für Haus- und<br />

Dachmarken international tätiger Unternehmen,<br />

auch wenn diese bereits in Teilen der EU geschützt<br />

sind,sowiefürMarken,diehäufigVerletzungenausgesetzt<br />

sind.<br />

NachMitteilungdesMarkenamtsinAlicantewerden<br />

in jedem Jahr etwa 50 000 bis 60 000 Marken zur Anmeldung<br />

eingereicht, so dass es seit Beginn seiner<br />

Tätigkeit in 1996 derzeit ca. 430 000 Marken verwaltet.<br />

Durch Beschluss des Rates und Verordnung vom 27.<br />

10. 2003 (1992/2003, ABl. L 296/2003) ist die EU<br />

dem Madrider Abkommen über die internationale<br />

Registrierung von Marken beigetreten, das von der<br />

Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO)<br />

526<br />

verwaltet wird. Auf diese Weise soll es den Unternehmen<br />

ermöglicht werden, sich künftig mit einer<br />

einzigen Anmeldung den Schutz ihrer Marke nicht<br />

nur in der gesamten Gemeinschaft – als Gemeinschaftsmarke<br />

–, sondern auch in den (derzeit etwa<br />

60)Ländern,diedemMadriderProtokollbeigetreten<br />

sind, zu sichern.<br />

Durch eine „Durchsetzungs-Richtlinie“ vom 29. 4.<br />

2004 für den Schutz geistigen Eigentums (2004/48,<br />

ABl. L 157/2004) soll – zwar nicht allein, aber auch –<br />

der Schutz der Marken gestärkt werden. Sie hat das<br />

Ziel, Verfahren zur Durchsetzung und Sicherung<br />

von Schadensersatzansprüchen bei Verletzung geistigenEigentumszuharmonisieren.<br />

M. K.<br />

Literatur:<br />

Marx, C.: Deutsches und europäisches Markenrecht.<br />

Neuwied 1997<br />

Marktordnung(en) �Gemeinsame Agrarpolitik<br />

MAST (Marine sciences and technologies). Ein spezifisches<br />

EU-Programm für Forschung und Entwicklung<br />

im Bereich der Meereswissenschaften und<br />

-technologien, das Hochschulen, Forschungseinrichtungen<br />

und Unternehmen förderte. Ziel war eine<br />

�nachhaltige Nutzung der Ozeane. Das Programm<br />

MASTIIIliefvon1994bis1998(ABl.L334/1994).<br />

Matthews-Urteil des �EGMR. In dem Urteil Matthews<br />

./. Vereinigtes Königreich vom 18. 2. 1999 (dt.<br />

Übersetzung in EuGRZ 1999, 200) stellt der Europäische<br />

Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)<br />

fest, dass das Vereinigte Königreich Art. 3 des 1. Zusatzprotokolls<br />

(ZP) zur Europäischen Menschenrechtskonvention<br />

(EMRK) verletzt habe, indem es<br />

dieinGibraltarwohnhafteBeschwerdeführerin,eine<br />

britischeStaatsangehörige,vondenWahlenzumEuropäischen<br />

Parlament (EP) ausschloss. Artikel 3 des<br />

1. ZP EMRK schützt das Recht auf freie Wahlen. Ungeachtet<br />

der speziellen Probleme, die aus dem Sonderstatus<br />

von Gibraltar herrühren, ist dieses Urteil<br />

wichtig, weil hiermit das EP gerichtliche Anerkennung<br />

als wesentlichen Bestandteil der politischen<br />

Demokratie im System der Europäischen Gemeinschaften<br />

(EG) und als gesetzgebende Körperschaft<br />

gefunden hat. Damit geht der EGMR viel weiter als<br />

das deutsche Bundesverfassungsgericht (BVerfG),<br />

das dem EP bislang wohl nur stützende Funktion zugebilligt<br />

hat. Zugleich ist das Matthews-Urteil aber


auchderersteFall,indemderEGMReinenMitgliedstaat<br />

im Zusammenhang mit der Umsetzung des Europäischen<br />

Gemeinschaftsrechts verurteilt hat. Die<br />

weitergehende Frage hingegen, ob eine Zuständigkeit<br />

des EGMR auch für Beschwerden gegen Maßnahmen<br />

der Organe der Europäischen Gemeinschaften<br />

zulässig ist, hat der EGMR bislang bewusst offen<br />

gehalten, so zuletzt in seiner Entscheidung Senator<br />

Lines ./. 15 Mitgliedstaaten vom 10. 3. 2004, (dt.<br />

ÜbersetzunginEuGRZ2004,279).�Cantoni S. W.<br />

MEDA ist das Finanzierungsinstrument der EG für<br />

Maßnahmen im Rahmen der �Euro-Mediterranen<br />

Partnerschaft. Rechtsgrundlage ist die VO 1488/96,<br />

geändert durch VO 2698/2000 (ABl. L 311/2000).<br />

Das Budget für den Zeitraum 2000 – 2006 beträgt<br />

5,35 Mrd. Euro.<br />

MEDIA, MEDIA PLUS, MEDIA 2007 �Medienpolitik<br />

Medienentwicklung in <strong>Europa</strong>. Die traditionellen<br />

Medien Film, Fernsehen, Radio und Presse haben<br />

wesentlich dazu beigetragen, den Kenntnisstand<br />

über die jeweils anderen Länder in <strong>Europa</strong> und über<br />

europäische Politik und Kultur bei einem nationalen<br />

Publikumzuvergrößern.Zugleichhatsichaber,trotz<br />

der grenzüberschreitenden Kommunikationsmöglichkeiten,<br />

keine breite paneuropäische Öffentlichkeit<br />

entwickelt. Zwar gibt es einige breiter angelegte<br />

Angebote – Euronews und arte, Deutsche Welle,<br />

BBC World oder TV5 als Beispiele aus dem Fernsehen,<br />

Financial Times oder Le Monde als auch international<br />

gelesene Presse – doch ein wirkliches Massenpublikum<br />

wird gestreut über ganz <strong>Europa</strong> weder<br />

von einem relativ homogenen Inhaltsangebot noch<br />

von audiovisuellen Koproduktionen kontinuierlich<br />

erreicht. Unterschiedliche Sprachen, unterschiedliche<br />

Codes, unterschiedliche nationale Interessen<br />

und Motivlagen verhindern, dass es, von einigen<br />

Ausnahmen abgesehen, durchgängig europäische<br />

Gemeinschaftsthemen, Unterhaltungsangebote, ja<br />

Identifikationsfiguren wie Filmstars oder hochpopuläre<br />

Politiker gibt. Es sind eher nationale oder amerikanische<br />

Film- und Fernsehprodukte, die eine Chance<br />

auf heimischen Erfolg haben, oder europäische<br />

Regisseure und Schauspieler, die über den Umweg<br />

HollywoodwiederaufdenMärktenderanderenLänder<br />

des Kontinents gelandet sind.<br />

Medienentwicklung<br />

Die wirtschaftlichen Auswirkungen dieses Defizits<br />

sollenhiernichtbewertetwerden.Kulturellundpolitisch<br />

hat die fehlende Mediengemeinsamkeit allerdings<br />

zur Folge, dass eine europäische Öffentlichkeit,<br />

eine europäische Identitätsstiftung über die<br />

Massenmedien kaum stattfinden. Zweifellos ist die<br />

Vielfalt eine der Stärken <strong>Europa</strong>s. Anders als in den<br />

USA aber, wo die verschiedensten kulturellen Strömungen<br />

innerhalb der Nation gerade durch gemeinsamePopulärmedieninhalteintegriertwurden,ergab<br />

sich in <strong>Europa</strong> nie ein vergleichbarer Druck zur medialen<br />

Zusammenführung. Sprachen, Medienökonomien<br />

und -systeme existierten und existieren lose<br />

umklammert letztlich auch geographisch immer<br />

noch nebeneinander.<br />

Dass also die USA in der Populärkultur global und<br />

selbst in <strong>Europa</strong> erfolgreicher sind als grenzüberschreitende<br />

Angebote unseres Kontinents, Ausnahmen<br />

immer konzediert, ist nicht nur eine Frage der<br />

wirtschaftlichen Macht, sondern auch eine der sozialenNotwendigkeit,nebendergesprocheneneinemediale,<br />

populäre Universalsprache zu entwickeln. Sie<br />

hat gemeinsame Codes für die eigene Nation, aber<br />

auch für die Welt geschaffen.<br />

<strong>Europa</strong> erfährt Anfang des 21. Jhs. ähnlich wie viele<br />

weitere Regionen des Globus eine fundamentale<br />

Veränderung der Medienstrukturen. Traditionelle<br />

Formen dominieren noch, aber vor allem die Digitaltechnologie<br />

hat neue Möglichkeiten der Produktion,<br />

Aufnahme und Verbreitung von audiovisuellen und<br />

gedruckten Inhalten geschaffen. Besonders für die<br />

europäische Öffentlichkeit, grenzüberschreitende<br />

Kommunikation und Identitätsbildung ergeben sich<br />

hier auch neue Chancen des Zusammenwachsens.<br />

Vor allem mit dem Stichwort Maß- und Massenkommunikation<br />

lässt sich eine Entwicklung kennzeichnen,<br />

die die gemeinsame kulturelle Basis <strong>Europa</strong>s<br />

mit den spezifischen Interessen und Routinen der<br />

einzelnen europäischen Regionen koppeln kann.<br />

Ein zentraler Punkt ist dabei die Möglichkeit, sog.<br />

bottom-up-Prozesse mit einer zentraler gesteuerten<br />

Kommunikation zu verknüpfen. Zunehmend ist das<br />

alte Sender-Empfänger-Modell, das auch bei den<br />

Medieninstitutionen und vor allem bei der Entwicklung<br />

von Kampagnen die entscheidende Rolle spielt,<br />

ersetzt worden durch eine Kommunikationsform, in<br />

derdieBürgeruntereinanderThemenundInhaltebestimmen.<br />

In vielen Ländern <strong>Europa</strong>s nimmt unter<br />

jüngerenMenschendieInternetnutzungbereitsmehr<br />

527


Medienentwicklung<br />

Raum ein als die Nutzung von Fernsehen, Presse und<br />

Radio. Besondere Aufmerksamkeit verdienen hier<br />

die Weblogs, eine Art digitaler Tagebücher, die zum<br />

Teil als Informationsquelle ergänzend oder sogar ersetzendzumklassischenJournalismushinzugetreten<br />

sind. Hier ergibt sich die Chance, die viel beschworene<br />

Bürgernähe, die in herkömmlichen Kommunikationskampagnen<br />

nur selten realisiert wurde, doch<br />

noch zu schaffen. Für die Politik heißt dies, sich aktiv<br />

an der Weblog-Kultur zu beteiligen, dabei vor allem<br />

aber Authentizität zu wahren. Denn die kommunikative<br />

Krise mancher nationaler Politik ist auch eine<br />

<strong>Europa</strong>s: Bürger haben häufig zu sehr das Gefühl,<br />

dass sie mit dem Handwerk der Medienindustrie<br />

überzeugt werden sollen, zugleich aber nicht wirklich<br />

an die Botschaften glauben. Das Aufgreifen der<br />

in Weblogs thematisierten Wünsche gegenüber <strong>Europa</strong><br />

könnte zu einer individualisierteren und interaktiven<br />

Form des Nahebringens unserer gemeinsamen<br />

Kultur führen. Der Bürger fühlt sich besser verstanden.<br />

Insgesamt lohnt es, bei der Kommunikationsentwicklung<br />

innerhalb <strong>Europa</strong>s die fundamentalen EigenschaftenderdigitalenWelt,auchimVergleichzu<br />

den traditionellen Medien, zu berücksichtigen. Dabei<br />

kann man das Fünf-U-Prinzip anwenden. Digital<br />

vermittelte Inhalte erreichen den Nutzer<br />

– unmittelbar,<br />

– universal,<br />

– umfassend,<br />

– unabhängig von Zeit und Raum,<br />

– unterwegs.<br />

Konkret heißt dies, dass sich jedes Ereignis, aber<br />

auch jede private Auffassung, nahezu synchron beliebig<br />

in der Gesellschaft verbreitet. Dies hat gerade<br />

für tagesaktuelle Ereignisse, besonders aber auch für<br />

Stimmungen einen Aktualitätsdruck und Aktualitätserwartungen<br />

geschaffen, die von den führenden<br />

Akteuren <strong>Europa</strong>s stärker genutzt werden könnten.<br />

AuchdieserFaktorträgtzugrößererBürgernähebei.<br />

Lange wurde unterstellt, dass mit dem Internet endgültig<br />

die geographischen Grenzen in der Kommunikation<br />

gesprengt würden. Und tatsächlich hat sich in<br />

der besser ausgebildeten Schicht sowie bei sehr vielen<br />

Jugendlichen eine Gemeinschaft entwickelt, die<br />

– bevorzugt englischsprachig – einen manchmal größeren<br />

Zusammenhalt über das Netz geschaffen hat,<br />

als er im persönlichen Kontakt existiert. Zugleich ist<br />

dieser Zusammenhalt aber nicht auf <strong>Europa</strong> be-<br />

528<br />

schränkt, sondern findet global statt. Hier liegt die<br />

Herausforderung darin, zwischen der traditionellen<br />

nationalen und der digitalen globalen Kommunikationswelt<br />

ein häufig abstrakt bleibendes <strong>Europa</strong> bürgernah<br />

zu platzieren. Denn wenn auch der internationale<br />

Internetverkehr vorwiegend der einer kleineren<br />

Gruppe ist, so wirkt diese Gruppe doch meinungsbildend<br />

in Richtung einer viel größeren nationalen Öffentlichkeit.<br />

DerBegriff„umfassend“kennzeichnetdieTatsache,<br />

dass die Grenzen zwischen verschiedenen Medienformen<br />

aufgehoben werden. Noch dominiert zwar<br />

der Fernseher das Wohnzimmer, doch bieten andere<br />

Kommunikationsträger wie PC, Mobiltelefon etc.<br />

ebenfallsdieMöglichkeitdesRundfunksempfangs.<br />

Wahrscheinlich ist eine künftige technische Kommunikationsstruktur,<br />

in der zwar immer noch traditionelle<br />

Mediensituationen existieren – also passives<br />

Fernsehen zuhause, individuelle Kommunikation<br />

unterwegs –, aber diese Formen direkt miteinander<br />

verknüpft sind und ineinander übergehen. Für europäische<br />

Inhalte heißt dies, eine Infrastruktur zu nutzen,<br />

die Mediengebrauch viel stärker über die Situation<br />

als über die Technik definiert. Man muss nicht<br />

mehr nach Hause gehen, um zum Beispiel ein <strong>Europa</strong>-Magazin<br />

zu schauen, sondern kann sich vor Ort,<br />

z. B. beim Besuch eines anderen Landes, die entsprechende<br />

Hintergrundinformation fernsehähnlich direktaufseinemobileApparaturholen.Dieser„Situationismus“<br />

bedeutet eine neue kommunikative<br />

Chance für <strong>Europa</strong>. Bei allen <strong>Europa</strong>-Inhalten in den<br />

traditionellen Medien wird derzeit ein eklatantes<br />

Desinteresse der Nutzer beklagt.<br />

Die z. T. ungünstigen Programmplatzierungen reflektieren<br />

das vermutlich tatsächlich vorhandene,<br />

manchmal auch nur unterstellte mangelnde Bürgerbedürfnis<br />

nach <strong>Europa</strong>-Sendungen. Zwar wird auf<br />

der Prioritätenliste persönlich empfundener Wichtigkeit<br />

das Thema <strong>Europa</strong> vermutlich noch für längere<br />

Zeit keine hohe Position einnehmen, jedenfalls<br />

nicht bei positiver Besetzung, aber bei einer flexibleren,<br />

medienübergreifenden Inhalte-Verbreitung<br />

können mithilfe der Digitalisierung die richtigen<br />

Momente – z. B. beim Besuch eines anderen Landes<br />

– dann eben doch bedient werden. Hier wird sich ein<br />

deutlicher Akzent in der Kampagnenplanung setzen<br />

lassen.<br />

Gerade das traditionelle Fernsehen erfährt auch in<br />

anderer Hinsicht eine Veränderung. Zwar gibt es


schon seit langem Video- und seit kurzem DVD-<br />

Rekorder; diese erfordern aber immer noch eine gezielte<br />

und sehr eingeschränkte Auswahl, um sich<br />

orts- und zeitunabhängig audiovisuell zu informieren<br />

und zu unterhalten. Für eine mit vielen Angeboten<br />

konfrontierte Bevölkerung erscheint es fast ein<br />

Glücksfall, wenn sie bei nicht hoch ausgeprägter<br />

Motivation zufällig auf <strong>Europa</strong>-Sendungen trifft.<br />

Dabei gibt es ein umfangreiches Repertoire entsprechender<br />

Programme, die, einmal gesendet, für lange<br />

ZeitindenArchivenverschwinden.Zwarmageshier<br />

manchmal Rechte-Probleme geben, doch das Bereitstellen<br />

bisheriger Produktionen zur jederzeitigen<br />

Online-Nutzung einerseits und die neuen Möglichkeiten<br />

der Festplattenrekorder zur Aufnahme ganzer<br />

thematischer Sendungsblöcke oder auch größerer<br />

Programmstrecken andererseits, erleichtern die Verfügbarkeit<br />

eben auch von <strong>Europa</strong>-Inhalten immens,<br />

zum Beispiel vor Geschäfts- oder Urlaubsreisen.<br />

Die vielleicht größte Veränderung in der Kommunikationswelt<br />

ist die Einführung der Mobiltechnologie.<br />

Seit Beginn der 1990er Jahre hat sich gerade in<br />

<strong>Europa</strong> eine fast vollständige Penetrierung mit Mobiltelefonen<br />

ergeben. Gleichzeitig und darauf folgend<br />

wurden auch Computer (Laptops, PDAs) sowie<br />

die Zwischenformen und aktuell Computerspielkonsolen<br />

mobil. Dies realisiert die bereits genannte Situationszentrierung.<br />

Zugleich belegt es den Befund,<br />

dass digitale Kommunikation räumliche Mobilität<br />

nicht reduziert, sondern weiter steigen lässt. Innerhalb<br />

<strong>Europa</strong>s haben besonders Kurzreisen, nicht zuletzt<br />

durch Schengen und preiswerte Flüge, weiter<br />

zugenommen. Das wirtschaftliche Zusammenwachsen<br />

hat den Geschäftsverkehr ebenfalls gesteigert.<br />

Mit dieser geographischen Mobilität hat dann auch<br />

die kommunikative weiter zugenommen.<br />

Führend waren hier in Technologie und Gebrauch<br />

zunächst die skandinavischen Länder, sogar vor anderen<br />

Weltregionen. Inzwischen wird man vom Abklingen<br />

des sog. Fernsehzeitalters sprechen können,<br />

und auch die Periode der PC-Dominanz dürfte abgelöst<br />

werden durch das Zeitalter der Mobilkommunikation.<br />

Dies ist keine nur auf Nutzungsformen bezogene<br />

Frage.<br />

Das Fernsehen hat als Leitmedium Themen, Denkweisen,Personenbewertungen,jadieWahrnehmung<br />

von Politik, Wirtschaft und Kultur deutlich geprägt.<br />

Mit der Mobilkommunikation steht ein ähnlich einflussreiches<br />

Paradigma an. Es ermöglicht die Ver-<br />

Medienentwicklung<br />

bindung aus geographischem und kommunikativem<br />

Zusammenwachsen innerhalb <strong>Europa</strong>s weit mehr,<br />

als es das Fernsehen in der traditionellen Form mit<br />

seinen doch fixierten Raum- und Zeitmöglichkeiten<br />

geboten hat. Sowohl für die Kommunikations- und<br />

Informationspolitik rund um <strong>Europa</strong>-Inhalte sowie<br />

natürlich auch für die medienpolitischen Perspektiven<br />

der Gestaltung von Technologie, Struktur und<br />

Regulierung bedeuten diese Entwicklungen neue<br />

Möglichkeiten. Mit dem britischen Ofcom-Modell,<br />

das für die Medienregulierung eine Abkehr von restriktiven<br />

Ansätzen als Ausgangspunkt und eine<br />

stark fördernde Politik für Konvergenz vorsieht, dabei<br />

gleichzeitig massiv auf Selbstregulierung setzt,<br />

ist ein interessanter Ansatz gegeben, der auch in anderen<br />

Ländern bzw. für ganz <strong>Europa</strong> den Realitäten<br />

entsprechend geprüft werden müsste. Mit einer Loslösung<br />

der Kommunikation von dominierend offiziellen<br />

Kanälen hin zu stärker vielfältigen und informellen<br />

Formen wird sich in Teilen die national notwendige<br />

Garantie glaubwürdiger und ethisch vertretbarer<br />

Inhalte auf die Gewährleistung entsprechender<br />

Infrastrukturen verlagern. Hier spielen die<br />

öffentlich-rechtlichen Anbieter in ganz <strong>Europa</strong> vermutlich<br />

auch weiterhin eine zentrale Rolle.<br />

Aus der Erkenntnis heraus, dass Kommunikation<br />

und speziell Massenkommunikation der „Kitt“ der<br />

Gesellschaft und natürlich auch <strong>Europa</strong>s ist, wird es<br />

garantierte Inhaltsstrukturen geben müssen, die diesem<br />

Prinzip gerecht werden. Sechs Bereiche definieren,<br />

z. T. in bestehenden Verträgen (unter anderem<br />

demAmsterdamerVertrag),dienotwendigen,jedem<br />

europäischen Bürger zugänglich zu machenden Inhalte:<br />

– Information als vollständige und glaubwürdige Ereignis-<br />

und Themenberichterstattung, dabei auch<br />

Gewährleistung einer hinreichenden, wirtschaftlich<br />

unabhängigen Repräsentanz auch internationaler<br />

Positionen.<br />

– Pluralismus als Zugang zum Senden und Empfangen<br />

durch alle gesellschaftlichen Gruppierungen,<br />

gerade auch von Minderheiten, kommerziell angeblich<br />

nicht relevanten Zielgruppen sowie in kleineren<br />

Ländern. Hier liegt durch die grenzüberschreitende<br />

Kommunikation die Chance, eine Ballung von Programmen<br />

vorzunehmen, z. B. für Roma, die national<br />

kaum möglich ist.<br />

– Forum-Funktion. Der eher abnehmende Austausch<br />

von Film- und Fernsehproduktionen inner-<br />

529


Medienpolitik<br />

halb <strong>Europa</strong>s belegt die Herausforderung, besonders<br />

durch fiktive Inhalte das auf europäischer Ebene zu<br />

schaffen, was auf nationaler Ebene in Teilen immer<br />

noch gelingt: durch gemeinsame Geschichten, Mythen<br />

und Stars eine vereinigende Identität zu entwickeln.<br />

Gerade die öffentlich-rechtlichen Anbieter<br />

können hier, durchaus auch in wettbewerbsferner<br />

Online-Präsenz, eine grenzüberschreitende Funktion<br />

erfüllen. Unterhaltung ist dabei mehr als reine<br />

Entspannungshilfe; sie prägt Weltbilder und Identitäten<br />

mit.<br />

– Partizipation. Der Rundfunk wird kaum noch als<br />

expliziter Volkserzieher anzusehen sein; dennoch<br />

findet über die Medien auch (latentes) Lernen statt.<br />

Die öffentlich-rechtliche Aufgabe ist es hier, durchaus<br />

didaktisch die Bürger <strong>Europa</strong>s zu befähigen, aktiv<br />

an Kultur, Politik und Bildung teilzuhaben. Lernen<br />

ist spielerischer geworden; sogar Computerspiele<br />

vermitteln inzwischen „wertvolle“ Inhalte. Hier<br />

bieten sich in der künftigen Verknüpfung von Medienformen<br />

– Stichwort interaktives Fernsehen –<br />

nicht mehr hausbackene Vermittlungsformen an.<br />

– Innovation. Angeblich ist Fernsehen für viele Bürger<br />

immer langweiliger geworden. Dies mag damit<br />

zusammenhängen, dass kaum noch freier Raum für<br />

Experimente vorhanden ist, die von kommerziellen<br />

Überlegungen unabhängig sind. Rundfunk ist aber<br />

auch ein Kulturfaktor, der die Avantgarde braucht,<br />

uminFreiräumenAngeboteauszuprobieren,diesich<br />

erst langfristig in populären Sendungen auswirken.<br />

VieleheutigeVideoclipstragendieÄsthetikkünstlerischer<br />

Formen aus früheren Jahrzehnten, die sich<br />

niemals entwickelt hätten ohne damals dafür geschaffene<br />

Freiräume. Der Rundfunk braucht entsprechend<br />

die Anerkennung als Kulturfaktor auf europäischer<br />

Ebene; er ist kein reiner Wettbewerbsraum.<br />

– <strong>Europa</strong>. Wirtschaftlich und politisch ist der Kontinent<br />

zusammengewachsen. Große Herausforderungen<br />

stellen sich aber bei der Entwicklung einer europäischen<br />

Öffentlichkeit (s. o.). Auch hier ist es eine<br />

Aufgabe der Öffentlich-Rechtlichen, entsprechende<br />

Inhaltezugarantieren. J. G.<br />

�Urheberrecht Ziff. 1, Ziff. 2.8<br />

Medienpolitik<br />

1. Grundlagen und Inhalte: Die Medienpolitik der<br />

EU ist als Gesamtkonzept ein relativ neuer Bestandteil<br />

der Gemeinschaftspolitiken. Sie ist aus (urhe-<br />

530<br />

ber)rechtlichen, ordnungs- und industriepolitischen<br />

Bestandteilen zusammengesetzt. Auch die Handelspolitik<br />

(WTO) und die Kulturpolitik (Unesco) spielen<br />

eine wichtige Rolle. Wie alle Gemeinschaftspolitiken<br />

beruht auch die medienpolitische auf den Verträgen.<br />

Zu den ersten medienpolitischen Aktivitäten<br />

der Gemeinschaft kam es somit schrittweise auf der<br />

Basis der Art. 23, 25, 28 und 31 EGV zum freien Güterverkehr,<br />

der Art. 39 bis 55 zum freien Verkehr der<br />

Arbeitnehmer sowie der Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit,<br />

der Art. 81 und 82 zum WettbewerbundderArt.94und(später)95und308EGVzur<br />

Rechtsangleichung im Binnenmarkt. In diesem Sinne<br />

wurden schon zwischen 1963 und 1970 mehrere<br />

Richtlinien erlassen die Filmprodukte und den Kinosektor<br />

betreffend.<br />

Bis jüngst war die gemeinschaftliche Medienpolitik<br />

fast ausschließlich auf den klassischen Rundfunksektor<br />

bezogen, wobei in jüngster Zeit ein integriertes<br />

Konzept für den Bereich der Informationsgesellschaft<br />

und der audiovisuellen Medien angestrebt<br />

wird, weil aus technischer Sicht die Kommunikationsnetze,<br />

Medien, Inhalte, Dienste und Geräte in<br />

digitaler Konvergenz zusammenwachsen. Sprache<br />

über Internet, Web-TV, Online-Musik oder Filme<br />

über Handys sind inzwischen Realität geworden.<br />

Eine eigenständige Politik für die stärker nationenund<br />

sprachraumgebundenen Printmedien gibt es bis<br />

heute nicht. Das gleiche gilt für das Radio, was sich<br />

jedoch mit dem Aufkommen des DAB (Digital Audio<br />

Broadcasting) ändern könnte.<br />

Bis zu Beginn der 1980er Jahre hatte sich der Rundfunk<br />

in <strong>Europa</strong> aus technologischen, aber auch aus<br />

gesellschaftspolitischen Gründen innerhalb der nationalstaatlichen<br />

Grenzen und Gesetze entwickelt.<br />

SeineVerbreitungsmöglichkeitenwarenterrestrisch<br />

beschränkt. Ordnungspolitisch gesehen galt in den<br />

meisten demokratischen Staaten <strong>Europa</strong>s, dass der<br />

Rundfunk, bei aller Staatsferne, staatsbürgerlichen<br />

und bildungspolitischen Prämissen zu gehorchen<br />

habe.<br />

Dies änderte sich völlig mit dem Auftreten der neuen<br />

Verbreitungsmöglichkeiten über Satellit und Kabel,<br />

aber auch durch die veränderte gesellschaftspolitische<br />

Grundhaltung zum Rundfunk. Auch für diese<br />

entscheidende Neuentwicklung der Audiovision<br />

legten die Mitgliedstaaten den Grundstein, nicht die<br />

Gemeinschaft. Sie brachen die öffentlich-rechtlichen<br />

Fernsehmonopole, schufen das duale (ge-


mischte) System und verhalfen so den neuen Technologien<br />

zum Siegeszug.<br />

Das aus gemeinschaftlicher Sicht besondere ordnungspolitische<br />

Merkmal dieser Revolutionierung<br />

der audiovisuellen Landschaft liegt in dem grenzüberschreitenden<br />

Charakter der Verbreitungsmöglichkeiten.<br />

Die europäischen Veranstalter nutzten<br />

die neuen Möglichkeiten und schufen dadurch einen<br />

rechtlichen Handlungsbedarf, dem man mit den herkömmlichen<br />

nationalen Rechtsmitteln nicht beikommen<br />

konnte.<br />

MitdemGrünbuchderKommissionvon1984zurErrichtung<br />

eines „Gemeinsamen Marktes für den<br />

Rundfunk“ (KOM 1984/300) betrat die Gemeinschaft<br />

Neuland. Lange Zeit war umstritten, ob sie auf<br />

dem Gebiet über die strikte Anwendung des Gemeinschaftsrechts<br />

hinaus überhaupt tätig werden dürfe.<br />

Tatsächlich erwähnen weder die Römischen Verträge<br />

noch der Vertrag über die Europäische Union eine<br />

ausdrückliche medienrechtliche Kompetenz der Gemeinschaft.<br />

Gleichwohl hat der Maastrichter VertragmitderEinfügungvonArt.128(jetztArt.151)in<br />

den EG-Vertrag erstmals die kulturelle Dimension<br />

der Gemeinschaft anerkannt und den audiovisuellen<br />

Bereich mit einbezogen, in beiden Fällen jedoch im<br />

streng subsidiären Sinne. Artikel 151 schränkt die<br />

kulturelle Kompetenz der Kommission und des Europäischen<br />

Parlaments (EP) bei genauerem Hinsehen<br />

mehr ein, als dass er sie begründet. Der Gemeinschaft<br />

wird lediglich eine zwischenstaatlich fördernde,<br />

unterstützende und nur „erforderlichenfalls“<br />

auch ergänzende Rolle zugestanden. Der besondere<br />

Aspekt dieses Kulturartikels ist zweifelsohne, dass<br />

erstmals in der Form anerkannt wurde, dass Kultur<br />

und Wirtschaft nicht zu trennen sind und dass es eine<br />

Illusion ist zu glauben, man könne im audiovisuellen<br />

Sektor wirtschaftliche und kulturelle Faktoren unabhängig<br />

voneinander behandeln: „Die Gemeinschaft<br />

trägt den kulturellen Aspekten bei ihrer Tätigkeit<br />

aufgrund anderer Bestimmungen dieses Vertrages<br />

Rechnung“ (Art. 151 Abs. 4 EGV). Tatsächlich geht<br />

es der Europäischen Gemeinschaft, seitdem ihre Medienpolitik<br />

als solche umrissen ist, darum, die juristischen,ökonomischenundtechnologischenAnforderungendesSektorsmitdenkulturelleninEinklangzu<br />

bringen.<br />

Zusammengefasst will die EU den medienpolitischen<br />

Sektor an die gesetzmäßigen Anforderungen<br />

des Binnenmarktes anpassen, die Fragmentierung<br />

Medienpolitik<br />

des Marktes überwinden, die kulturelle Vielfalt der<br />

europäischen Produktion bewahren und die wirtschaftliche<br />

Überlebensfähigkeit der europäischen<br />

Soft- und Hardwareindustrie in dem sich verschärfenden<br />

globalen Konkurrenzkampf sichern.<br />

2. Regelungen und Projekte: Die EG-Richtlinie<br />

„Fernsehen ohne Grenzen“ vom Oktober 1989<br />

(89/522, ABl. L 298/1989), deren Revision am 10.<br />

Juni 1997 abgeschlossen wurde (RL 97/36, ABl. L<br />

202/1997), bildet nach wie vor das Herzstück der<br />

EG-Medienpolitik. Ihr Hauptanliegen ist die Verpflichtung<br />

zur ungehinderten Sendefreiheit für<br />

grenzüberschreitendeFernsehsendungenüberSatellit<br />

und Kabel auf der Basis gemeinsamer Mindeststandards.<br />

Die Richtlinie schuf diese Mindestregelungen,<br />

um möglichen Wettbewerbsverzerrungen<br />

entgegenzuwirken. Die diesbezüglichen Regelungen<br />

betreffen vor allem die Bereiche der Werbung<br />

und des Sponsoring sowie des Jugend- und Verbraucherschutzes;<br />

z. B. wurde der Höchstanteil der Werbezeit<br />

auf 15 % der täglichen Sendedauer begrenzt,<br />

mehr als 12 Minuten Werbung pro Stunde sind untersagt,<br />

längere Spielfilme (mindestens 90 Min.) dürfen<br />

erst nach 45 Minuten, Sendungen für Kinder oder religiösen<br />

Inhalts gar nicht unterbrochen werden. Auf<br />

dem Gebiet des Verbraucher- und Jugendschutzes<br />

sind neben dem Recht auf Gegendarstellung vor allem<br />

das prinzipielle Verbot von Sendungen mit gewaltverherrlichendem<br />

oder pornographischem Inhalt<br />

und im Bereich der Werbung das Verbot jedweder<br />

irreführenden, versteckten oder unterschwelligen<br />

Werbung sowie die Verpflichtung zur Respektierung<br />

der Menschenwürde und der religiösen Gefühle<br />

zu nennen.<br />

Dem breiteren Publikum aufgrund zahlreicher Kontroversen<br />

bekannt sind aber die sog. „Quotenartikel“<br />

der Fernsehrichtlinie. Sie bestimmen zum einen,<br />

dass ein Hauptanteil der Sendezeit der europäischen<br />

Veranstalter europäischen Werken vorbehalten<br />

wird. Zwar heißt es, dass sie „wann immer möglich<br />

und mit den geeigneten Mitteln“ anzuwenden seien,<br />

aber gemeint ist eben doch ein Mindestanteil von<br />

51 % (Art. 4). Zum anderen wird in einem weiteren<br />

Quotenartikel verlangt, dass die Veranstalter 10 %<br />

ihres Produktionsbudgets unabhängigen (europäischen)<br />

Produktionen widmen müssen (Art. 5). Diese<br />

Artikel stellen die ersten medienpolitischen Bestimmungen<br />

der Gemeinschaft mit kulturellem Inhalt<br />

dar. Die Absicht der Quotenartikel ist es keineswegs,<br />

531


Medienpolitik<br />

den europäischen Markt für ausländische, heißt:<br />

amerikanische Produkte zu verschließen; sie sollen<br />

vielmehr dazu beitragen, dass die europäischen Produktionen<br />

ungefähr den Anteil halten können, den<br />

sie auch vor der Liberalisierung innehatten. <strong>Europa</strong>s<br />

Filmindustrie soll nicht dafür bestraft werden, dass<br />

<strong>Europa</strong> seinen Binnenmarkt für jedermann öffnet.<br />

<strong>Europa</strong>s Medienmarkt für Inhalte gilt zu Recht als<br />

der offenste der Welt.<br />

Mit der im Juni 1997 abgeschlossenen Revision ist<br />

die Fernsehrichtlinie so weit wie möglich den damaligen<br />

neuen technologischen und damit auch den<br />

neuen politischen Ansprüchen angepasst worden.<br />

Die Revision war zum einen schon in der Richtlinie<br />

von 1989 nach fünf Jahren vorgesehen worden und<br />

zum anderen notwendig, da rechtliche Grauzonen<br />

hinsichtlich der Anwendung und der Verantwortlichkeit<br />

der Mitgliedstaaten aufgetaucht waren.<br />

Eine große Bedeutung nahm schon damals die Definition<br />

der Anwendungsbereiche der Fernsehrichtlinie<br />

ein. Es stand zur Debatte, ob die neuen elektronischen<br />

Dienste wie zum Beispiel Electronic PublishingunddieInternet-Dienstemiteingegliedertwerden<br />

sollten. Dies wäre im Falle einer eins-zueins-Anwendung<br />

jedoch nicht dem selektiven und<br />

eigenverantwortlichen Zugriff auf Information der<br />

interaktiven Dienste gerecht geworden. So wurde<br />

schließlich in Artikel 1 der Rundfunkbegriff restriktiv<br />

definiert. Aufgrund der damals im Vergleich zu<br />

heute noch schwerer einzuschätzenden Entwicklungen<br />

entschied man sich letztlich für einen weiterhin<br />

restriktiven Rundfunkbegriff.<br />

Das Europäische Parlament und die europäische Medienwelt<br />

konzentrieren sich auf eine Revision der<br />

Fernsehrichtlinie,diedieKommissionnochbisEnde<br />

2005 als Vorschlag präsentieren will. Im Folgenden<br />

sei dennoch auf die Diskussion der Vergangenheit<br />

eingegangen.<br />

DieAnwendungderFernsehrichtliniebegrenztesich<br />

damals auf den klassischen Rundfunkbegriff. Es<br />

herrschte 1997 die Meinung, dass die elektronischen<br />

Dienste ein eigenes Regelwerk bekommen sollten,<br />

das ihrem Charakter gerecht wird und so dem Medienstandort<br />

<strong>Europa</strong> auch weiterhin eine gesunde<br />

Basis für seine Entwicklung bieten kann. In diesem<br />

Sinne hat die Kommission schon 1996 ein Grünbuch<br />

über den Jugendschutz und den Schutz der Menschenwürde<br />

vorgelegt (KOM 1996/483), dem im<br />

Dezember 1997 das Grünbuch zur Konvergenz der<br />

532<br />

Branchen der Telekommunikation, Medien und Informationstechnologie<br />

und ihren ordnungspolitischenAuswirkungenfolgte(KOM1997/623,s.u.).<br />

Eine weitere Neuerung in der Fernsehrichtlinie ist<br />

der Artikel betreffend die Übertragung von „gesellschaftlich<br />

bedeutenden Ereignissen“ im Fernsehen<br />

(Art. 3a). Mit Blick auf die Entwicklung hin zum<br />

Pay-TV oder anderen codierten Ausstrahlungen von<br />

Programminhalten ist vom Europäischen Parlament<br />

in der dritten Lesung dieser Absatz eingefügt worden,<br />

um weiterhin der breiten Öffentlichkeit den Zugang<br />

zu Übertragungen von wichtigen Ereignissen<br />

sportlicheroderkulturellerArtzugewährleisten.Die<br />

Mitgliedstaaten können jeweils Listen dieser nationalen<br />

oder internationalen Ereignisse erstellen, die<br />

auch in Zukunft unverschlüsselt zu empfangen sein<br />

sollten wie bspw. die Olympischen Spiele und die<br />

Fußball-Welt- und -<strong>Europa</strong>meisterschaften. Wichtig<br />

ist in diesem Zusammenhang, dass die jeweiligen<br />

nationalen Listen von den Mitgliedstaaten gegenseitig<br />

anerkannt werden, da es ansonsten durch die heutige<br />

grenzüberschreitende Ausstrahlung der Programme<br />

zu Streitigkeiten kommen könnte.<br />

Auch im Bereich des Jugendschutzes sind auf Anregung<br />

des Parlaments in die Richtlinie Neuerungen<br />

aufgenommen worden (Art. 22). Es wurde beschlossen,<br />

dass die Mitgliedstaaten verschärfte Maßnahmen<br />

ergreifen sollten, um den Aufsichtspersonen<br />

bessere Kontrollmöglichkeiten über die Sendungen<br />

von Pornographie und Gewalt im Fernsehen, die von<br />

Minderjährigen gesehen werden können, zu ermöglichen.<br />

Die Kommission soll innerhalb eines Jahres<br />

nach der Veröffentlichung der revidierten Richtlinie<br />

in Zusammenarbeit mit den nationalen Behörden<br />

zwei unabhängige Gutachten über weitere Maßnahmen<br />

anfertigen, die als Basis für ein zweckmäßiges<br />

Vorgehen dienen werden. So wird z. B. an eine Vorschrift<br />

gedacht, dass neue Fernsehgeräte mit einer<br />

technischen Vorrichtung versehen sein müssen, die<br />

es den Eltern oder Aufsichtspersonen ermöglicht,<br />

bestimmte Programme herauszufiltern. Dieser sogenannte<br />

V-Chip blockiert nach einer vorherigen Codierung<br />

der abzuschaltenden Inhalte mit seiner Aktivierung<br />

den Empfang und verhilft damit zu einer selektiven<br />

Kontrolle des Fernsehprogramms (Jugendschutz).<br />

Weiterhin wird die Kommission unter anderem<br />

die Festlegung geeigneter Bewertungssysteme<br />

für die Grundmaßstäbe bezüglich Gewalt und Pornographie<br />

in <strong>Europa</strong> prüfen.


Die schon oben angesprochene Quotenregelung bot<br />

bei der Revision erneut Anlass zur Kontroverse und<br />

wurde schließlich in der dritten Lesung im EP unverändert<br />

übernommen. Wie schon 1989 sind auch diesmal<br />

keine rechtlich verbindlichen Regelungen geschaffen<br />

worden, sondern man hat sich auf die Verpflichtung<br />

geeinigt, europäische Werke „wann immer<br />

möglich“ auszustrahlen. Das Beibehalten der<br />

unverbindlichen Quotenregelung hat auch aus rechtlicher<br />

Sicht eine gewisse Bedeutung. 1989 hatte bereits<br />

die Annahme der Richtlinie erhebliche Debatten<br />

über die Rechtsetzungskompetenzen der Gemeinschaft<br />

im Bereich der Kulturpolitik ausgelöst.<br />

Im deutschen Falle führte die Zustimmung der Bundesregierung<br />

zur Richtlinie zu einer Klage Bayerns<br />

und der Länder vor dem Bundesverfassungsgericht,<br />

die in der Annahme der Richtlinie einen Eingriff in<br />

den Kernbereich der Rundfunkhoheit sahen. Die<br />

Klage wurde zumindest teilweise im Sinne der Länder<br />

entschieden (Urteil des Zweiten Senats vom 22.<br />

3. 1995, 2BvG1/89, BVerfGE 92/203).<br />

EineweitereModernisierungderRegelnfüraudiovisuelle<br />

Dienste sowie einen Zeitplan für künftige<br />

Maßnahmen schlug die Kommission in ihrem Vierten<br />

Bericht über die Anwendung der Richtlinie<br />

89/522 vor (KOM 2002/778 endg.). Die Ergebnisse<br />

des damit eingeleiteten Konsultationsprozesses<br />

fasste die Kommission in ihrer Mitteilung über die<br />

Zukunft der europäischen Regulierungspolitik im<br />

audiovisuellen Bereich zusammen (KOM 2003/784<br />

endg.). Kurzfristig und ohne Änderung der Fernsehrichtlinie<br />

könnten Auslegungsfragen im Bereich<br />

Fernsehwerbung geklärt werden, ebenso ist eine Aktualisierung<br />

der Empfehlungen über Jugendschutz<br />

undSchutzderMenschenwürdemöglich.ZuFragen,<br />

die eine Änderung der Fernsehrichtlinie nötig machen<br />

(Regulierung audiovisueller Inhalte, Werbung,<br />

Recht auf Information) wurden Studien in Auftrag<br />

gegeben und Anhörungen von Sachverständigen angesetzt.<br />

Die Ergebnisse veröffentlichte die Kommission<br />

in Positionspapieren im Juli 2005. Erstmals bekennt<br />

sich die Kommission in ihnen zu einem integrierten<br />

Ansatz einer „Content-Richtlinie“ für alle<br />

an die Allgemeinheit gerichteten audiovisuellen<br />

Dienstleitungen. Es gilt als gesichert, dass sich der<br />

für Ende 2005 erwartete (zweite) Richtlinienänderungsvorschlag<br />

in diesem Sinne an dem deutschen<br />

Modell der „abgestuften Regulierungsdichte“ orientieren<br />

wird.<br />

Medienpolitik<br />

Am 1. 6. 2005 verabschiedete die Kommission im<br />

gleichen Geiste der Antwort an die Herausforderung<br />

der technologischen Konvergenz ihre Initiative<br />

„i2010: Europäische Informationsgesellschaft<br />

2010“, in der 3 Schwerpunkte genannt werden:<br />

– Schaffung eines offenen und wettbewerbsfähigen<br />

EU-Binnenmarkts für die Dienste der Informationsgesellschaft<br />

und der Medien. Zur Förderung der<br />

Konvergenz zwischen Technologie und Politik wird<br />

die Kommission eine Strategie für eine effiziente<br />

Frequenzverwaltung in <strong>Europa</strong> (2005) vorschlagen:<br />

eine Modernisierung der Vorschriften für die audiovisuellen<br />

Mediendienste (Ende 2005), eine Aktualisierung<br />

des Rechtsrahmens für elektronische Kommunikation<br />

(2006), eine Strategie für eine sichere Informationsgesellschaft<br />

(2006) und ein umfassendes<br />

Konzept für die effektive und interoperable Verwaltung<br />

digitaler Rechte (2006/2007).<br />

– Erhöhung der EU-Investitionen in die Forschung<br />

auf dem Gebiet der Informations- und Kommunikationstechnologien<br />

(IKT) auf 80 %. <strong>Europa</strong> investiert<br />

pro Kopf nur 80 Euro in die IKT-Forschung und liegt<br />

damit hinter Japan (350 Euro) und den USA (400<br />

Euro) zurück. In der Strategie „i2010“ werden<br />

Schritte aufgezeigt, wie die Investitionen in die<br />

IKT-ForschungundderenpraktischerNutzenerhöht<br />

werden können, etwa durch Demonstrationsprojekte,<br />

mit denen vielversprechende Forschungsergebnisse<br />

gestestet werden, sowie durch die stärkere Einbeziehung<br />

kleiner und mittlerer Unternehmen in europäische<br />

Forschungsprojekte.<br />

– Förderung einer Informationsgesellschaft, die alle<br />

Menschen einbezieht. Um die Lücke zu schließen<br />

zwischen denen, die die Informationsgesellschaft<br />

nutzen können und denen, die noch keinen Zugang<br />

haben, wird die Kommission einen Aktionsplan für<br />

elektronische, bürgernahe Behördendienste vorschlagen,<br />

drei IKT-Initiativen auf dem Gebiet „Lebensqualität“<br />

– (1) Technologien für eine alternde<br />

Bevölkerung,(2)intelligentere,sicherereundsauberere<br />

Fahrzeuge sowie (3) digitale Bibliotheken, über<br />

die alle Zugang zu Multimedia und zur multilingualen<br />

europäischen Kultur haben – (2007) sowie Maßnahmen<br />

zur Überwindung der geographischen und<br />

gesellschaftlichen Unterschiede, die in eine europäische<br />

Initiative für die digitale Integration münden<br />

werden (2008).<br />

„i2010“ ist die erste Initiative der Kommission, die<br />

im Rahmen der erneuerten Lissabon-Strategie der<br />

533


Medienpolitik<br />

EU verabschiedet wird. Es geht um den vielversprechendsten<br />

Wirtschaftssektor der EU: IKT hat einen<br />

Anteil von 40 % am Produktivitätswachstum und<br />

25 % am BIP-Wachstum in <strong>Europa</strong>. Die Mitgliedstaaten<br />

sind aufgefordert, in ihren nationalen ReformprogrammenbisMitteOktober2005Prioritäten<br />

im Bereich der Informationsgesellschaft festzulegen,<br />

um so zu den Zielen der i2010-Strategie beizutragen<br />

Alternativ zur Quotenregelung der Fernsehrichtlinie<br />

wird die europäische Filmindustrie auch durch andere<br />

Instrumente gefördert. So verlässt der weitaus<br />

größte Teil der europäischen Produktionen wegen<br />

der nationalen Produktions- und Vertriebsstrukturen,<br />

aber auch wegen der Sprachbarrieren sein Ursprungsland<br />

nicht. Hier hat die Gemeinschaft mit ihrem<br />

im Dezember 1990 auf fünf Jahre beschlossenen<br />

MEDIA-Programm eingehakt, das sich nun schon in<br />

seiner dritten Umsetzungsphase befindet (MEDIA<br />

Plus 2001 – 2006). Über eine Laufzeit von 1991 bis<br />

1995 hinweg förderte MEDIA I mit einem Budget<br />

von ungefähr 250 Mio. ECU die europäische Filmindustrie.<br />

Das in etwa 20 Einzelprogramme unterteilte<br />

Programm richtete sich an die kleineren und mittleren<br />

Unternehmen der unabhängigen Kino- und TV-<br />

Produzenten und wurde auch von ihnen geführt. Das<br />

Konzept ist darauf ausgelegt, zur Überwindung der<br />

Schwachstellen ein Netzwerk zu schaffen, das die<br />

europäische Industrie ökonomisch stärkt und somit<br />

die kulturelle Diversität garantieren hilft. Die Priorität<br />

liegt folglich bei der Ausbildung, den Finanzierungs-<br />

und Vertriebsmechanismen und den Übersetzungen.<br />

MEDIA I subventionierte nicht die Produktionen<br />

als solche, sondern bot nur in den ihnen vorund<br />

nachgeschalteten Prozessen seine strukturelle<br />

Hilfean;gefördertwurdenachdemPrinzipdes„seed<br />

money“. Der Erfolg solcher Unterstützung der audiovisuellen<br />

Produktion und des Vertriebs veranlasste<br />

die Neuausschreibung des Programms als<br />

MEDIA II von 1996 –2000. Das Konzept ist vom<br />

Prinzip her das gleiche geblieben, jedoch ist die Verwaltung<br />

der Programme durch deren Verringerung<br />

von 20 auf 3 Schwerpunkte erheblich einfacher gestaltet<br />

worden. Das Budget für diesen Zeitraum ist<br />

mit 310 Mio. ECU veranschlagt worden, das durch<br />

die Zurückzahlung der unter MEDIA I bewilligten<br />

Anleihen noch angereichert wurde.<br />

Media Plus ist durch Beschluss 2000/821 (ABl. L<br />

336/2000) als Programm zur Förderung von Ent-<br />

534<br />

wicklung, Vertrieb und Öffentlichkeitsarbeit europäischer<br />

Werke als Verlängerung der bisherigen Media-Programme<br />

präsentiert worden. Es ist mit einem<br />

Budget von 453,6 Mio. Euro ausgestattet (Laufzeit<br />

1. 1. 2001 – 31. 12. 2006). Im Bereich Entwicklung<br />

werdenunabhängigeUnternehmen,vorallemKMU,<br />

gefördert, die allein oder gemeinsam Produktionen<br />

für den europäischen Markt durchführen, auch unter<br />

Nutzung neuer Informationstechnologien. Im Bereich<br />

Vertrieb werden Vertriebsfirmen unterstützt,<br />

die Werke aus anderen europäischen Staaten für den<br />

öffentlichen oder privaten Gebrauch oder von unabhängigen<br />

Unternehmen produzierte Fernsehprogramme<br />

vertreiben. Im Bereich Öffentlichkeitsarbeit<br />

sollen europäische Werke durch Veranstaltung<br />

von Fachmärkten, Handelsmessen oder Festspielen<br />

europa- und weltweit gefördert werden. Eine Ergänzung<br />

zu Media Plus bildet die von der EIB finanzierte<br />

Initiative „i2i Audiovisual“, die Filmschaffenden<br />

dabei hilft, ihre Kapitalbasis zu stärken, u. a. durch<br />

Bezuschussung von Bürgschaften.<br />

Für eine Fortsetzung des Media-Programms für die<br />

Zeit von 2007 bis 2013 (Media 2007) hat die Kommission<br />

im Juli 2004 einen Vorschlag vorgelegt<br />

(KOM 2004/470 endg.).<br />

3. Die (Medien-)Technologiepolitik: Sie bildet das<br />

dritte Standbein der EU-Medienpolitik. Die Strategie<br />

zur Öffnung der Märkte für Satellitenkommunikation<br />

und Kabelnetze und der schrittweisen Einführung<br />

des hochentwickelten Fernsehens – von der Gemeinschaft,<br />

aber auch von dem paneuropäischen<br />

EUREKA-95-Projekt vorangebracht – hat von allen<br />

Bestandteilen der EU-Medienpolitik eine bewegte<br />

Geschichte.<br />

Bereits 1986 erließ der Rat die erste sog. „MAC-<br />

Richtlinie“(MAC=MultipleAnalogueComponent)<br />

zur Einführung eines europäischen, fortgeschrittenen<br />

Satellitenfernsehens als Vorstufensystem zum<br />

hochauflösenden Fernsehen. Die Grundidee des<br />

MAC-Konzepts war, einen pragmatischen und graduellen<br />

Weg in Richtung HDTV (High Definition<br />

Television = hochauflösendes Fernsehen) einzuschlagen,<br />

um zu verhindern, dass die Europäer ein<br />

weiteres Mal durch Normen getrennt würden, zum<br />

Beispiel durch PAL/SECAM Farbfernsehtechnologien.<br />

MAC (aus einer D2-MAC-Vorstufe und einer<br />

HD-MAC-Endstufe bestehend) war als kompatibles<br />

System ausgelegt für den Empfang von breitformatigen,<br />

aber noch analog gesendeten Bildern. Nach und


nach sollten die Europäer, vorerst über den Satellitenempfang,<br />

an das HDTV herangeführt werden. Im<br />

Juni 1994 haben die Fachminister der EUREKA-<br />

Initiative und die Europäische Kommission grünes<br />

Licht für die Entwicklung des digitalen Systems<br />

ADTT (Advanced Digital Television Techniques)<br />

gegeben,dasaufzweieinhalbJahreveranschlagtund<br />

mit250Mio.ECUausgestattetwar.Damitwurdedas<br />

HDTV-Projekt beendet.<br />

4. Ausblick: Die Medienlandschaft hat sich über die<br />

„Multimediatisierung“ immer komplexer gestaltet;<br />

die Digitalisierung ermöglicht eine Vielzahl neuer<br />

Übertragungswege und hatte neue Formen des ZusammenwachsensderSektorenTelekommunikation<br />

und des audiovisuellen Bereichs zur Folge. Eine Reihe<br />

von möglichen ordnungspolitischen Problemfeldern,<br />

die sich aus dieser Entwicklung ergeben, werden<br />

in dem oben erwähnten Grünbuch der Kommission<br />

zur Konvergenz dargelegt. Der Schwerpunkt<br />

liegtaufderForderungnacheinemklarenRechtsrahmen,<br />

der sowohl den Vertreibern als auch den Nutzern<br />

Vertrauen in die neuen Dienste vermittelt.<br />

Grundlegend achtet die Kommission darauf, dass die<br />

Konvergenz nicht zu weiteren Rechtsvorschriften<br />

führt,sondernsoweitwiemöglichdiealtenRegelungen<br />

den neuen Gegebenheiten angepasst werden.<br />

Eine weitere Fragmentierung des europäischen<br />

Marktes durch nationale Vorschriften würde die<br />

Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Medienpolitik<br />

in der Zukunft empfindlich beeinträchtigen.<br />

Eine entscheidende Frage ist auch, wie die gesamte<br />

Wettbewerbsfähigkeit der europäischen audiovisuellen<br />

Industrie gestärkt werden (sprich: das Handelsdefizit<br />

mit dem größten Konkurrenten, den USA, abgebaut)<br />

und den neuen globalen Herausforderungen<br />

angepasstwerdenkann.Dabeiwirdmanimbesonderen<br />

Maße darauf achten müssen, dass die spezifischen<br />

Regelungen aufeinander abgestimmt werden.<br />

<strong>Europa</strong>s Medienpolitiker, die nationalen und die gemeinschaftlichen,<br />

werden einen subsidiären Weg<br />

(Subsidiarität) des ordnungspolitischen Miteinandersfindenmüssen.<br />

K. H.<br />

Mehrebenenstruktur, Mehrebenensystem<br />

1. Begriff: Zur Beschreibung und Erklärung des politischen<br />

Systems der EU/EG haben sich in der Politikwissenschaft<br />

an den deutschen Föderalismus angelehnte<br />

Bezeichnungen wie Mehrebenenstruktur<br />

bzw. Mehrebenensystem oder europäische Politik-<br />

Mehrebenenstruktur<br />

verflechtung durchgesetzt. Der in diesen Begrifflichkeiten<br />

zum Ausdruck kommende Mehrebenenansatz<br />

versucht die Bedeutung der unterschiedlichen<br />

staatlichen Ebenen im politischen Prozess sowie die<br />

unterschiedlichen Steuerungsmechanismen, die auf<br />

und zwischen diesen Ebenen eine Rolle spielen, zu<br />

erfassen. Er geht von einem modernen Staatsverständnis<br />

aus, nach dem eine effektive politische<br />

Steuerung nur erreicht werden kann, wenn die Grenzen<br />

des rein nationalstaatlichen Denkens überwunden<br />

und nicht-staatliche Akteure (z. B. Verbände,<br />

Regionen) stärker in die Politikformulierung eingebunden<br />

werden (�Governance). Die politischen Prozesse<br />

innerhalb der EU/EG können danach nicht nur<br />

als Resultat des simplen Hinzutretens einer zusätzlichen<br />

Ebene betrachtet werden, die bspw. die bundesdeutsche<br />

Politikverflechtung zwischen Bund und<br />

Ländern lediglich um eine weitere Ebene ergänzt.<br />

Vielmehr führt die europäische Mehrebenenstruktur<br />

zu einem neuartigen Entscheidungssystem „sui generis“,<br />

in der flexible Kooperations- und Interaktionsformen<br />

größere Bedeutung erlangen.<br />

2. Forschungsstand: Der Komplexität der Steuerungsanforderungen<br />

im Mehrebenensystem der EU/<br />

EG hat sich die Politikwissenschaft in erster Linie im<br />

Rahmen von Politikfeld-Analysen versucht zu nähern<br />

(Policy-Analysen). Diese Arbeiten bestätigen<br />

die Annahme, dass es sich bei der Mehrebenenstruktur<br />

nicht um ein festgefügtes Verflechtungsmuster<br />

im Rahmen formalisierter internationaler Verfahren<br />

handelt, sondern um eine vergleichsweise variable<br />

Struktur, innerhalb derer Verhandlungen und der<br />

Austausch von Informationen eine zentrale Rolle<br />

spielen. Angesichts dieser Ergebnisse wird das<br />

Mehrebenensystem auch als „lose gekoppeltes System“<br />

eingestuft, bei dem eine Vielzahl von Akteuren<br />

ihren Einfluss im Rahmen von Verhandlungen und<br />

informellen Verfahren geltend machen können.<br />

Stärker noch als im korporatistischen System<br />

Deutschlands werden auf europäischer Ebene nationale<br />

Experten aus Verwaltung, Verbänden, Unternehmen<br />

oder Gewerkschaften im Vorfeld der Entscheidungen<br />

beteiligt. Die der bundesdeutschen Politikverflechtung<br />

dabei zugeschriebene Blockadeanfälligkeit<br />

aufgrund eines dominierenden Parteienwettbewerbskanndamitumgangenwerden.Diesgilt<br />

vor allem für Expertennetzwerke, die sich innerhalb<br />

bestimmter Politikfelder bilden und durch eine vergleichsweise<br />

homogene Handlungsorientierung und<br />

535


Mehrheiten<br />

eine gewisse Überparteilichkeit charakterisiert werden<br />

können. Innerhalb dieser Netzwerke steigen die<br />

Chancen für Verhandlungslösungen, die auch durch<br />

die auf europäischer Ebene vorhandenen konkurrierenden<br />

Konzepte und den dadurch ausgelösten Anpassungsdruck<br />

Auftrieb erhalten. Zudem werden der<br />

Europäischen Kommission und zunehmend auch<br />

dem EP eine entscheidende Initiatoren- und Koordinatorenrolle<br />

zugesprochen, mit der zustimmungsfähige<br />

Politiken formuliert und den Interessen der Mitgliedstaaten<br />

sowie der Bürger angepasst werden<br />

können.<br />

GleichzeitigwerdenaberauchEntflechtungstendenzeninsolchenBereichensichtbar,indenendiepolitischen<br />

Akteure einer stärkeren Kontrolle durch Parlamente<br />

und Parteien unterliegen. So kann es aufgrund<br />

der Konkurrenz von nationalen und regionalen Regierungen<br />

um Macht und Einfluss in der europäischen<br />

Politik zu strukturellen Spannungen kommen,<br />

die in Richtung einer Entflechtung wirken können.<br />

Dies ist etwa der Fall, wenn Regionen unter Umgehung<br />

der nationalen Regierung direkt mit europäischen<br />

Institutionen über die Vergabe der Strukturfondsmittel<br />

verhandeln.<br />

3. Kritische Wertung: Trotz der mittlerweile vorliegenden<br />

umfassenden Arbeiten zur europäischen Politikverflechtung<br />

ist es der Politikwissenschaft bislang<br />

nicht gelungen, einen konkreten Analyserahmen<br />

zur Beurteilung der Mehrebenenstruktur zu liefern.<br />

Zusammenfassend führt der Mehrebenenansatz<br />

bislang lediglich zu der Einsicht, dass staatlich<br />

dominierte Verhandlungssysteme mit hierarchischen<br />

Strukturen in der politischen Realität der<br />

EU/EG eher die Ausnahme darstellen. Forschungsbedarf<br />

besteht insbes. hinsichtlich der Art und Funktion<br />

der Beziehungen zwischen den Ebenen sowie<br />

der Anpassungsreaktionen, mit denen die Mitgliedstaaten<br />

auf den gestiegenen Koordinationsbedarf<br />

reagieren. S. A.<br />

Literatur:<br />

Benz, A.: Governance – Regieren in komplexen<br />

Regelsystemen. Wiesbaden 2004<br />

Grande, E./Jachtenfuchs, M.: Wie problemlösungsfähig ist die<br />

EU? Baden-Baden 2000<br />

Jachtenfuchs, M./Kohler-Koch, B. (Hg.): Europäische<br />

Integration. 1996<br />

Kohler-Koch, B. et al. (Hg.): Europäische Integration –<br />

europäisches Regieren. Wiesbaden 2004<br />

Marks, G./Scharpf, F. et al. (Hg.): Governance in the European<br />

Union. London 1996<br />

536<br />

Mehrheiten �Organe (allgemein)<br />

Mehrsprachigkeit. Rechtsgrundlage für die Mehrsprachigkeit<br />

in der EU ist zum einen Art. 21 EGV,<br />

zum anderen die Verordnung Nr. 1 des Rats von<br />

1958.Letzteresiehtvor,dassalleRechtsvorschriften<br />

in allen Amtssprachen abgefasst werden. Das entspricht<br />

der Anforderung des Art. 1 EUV, alle Entscheidungen<br />

möglichst bürgernah zu treffen. Sowohl<br />

der Vertrag als auch die Verordnung schreiben<br />

fest, dass die Unionsbürger sich in einer beliebigen<br />

�Amtssprache der EU an die Organe der Gemeinschaftwendenkönnenunddassdieseihneninderselben<br />

Sprache antworten müssen. Damit kommt die<br />

EU ihrer Pflicht gem. Art. 3 EUV nach, die Identität<br />

der Mitgliedstaaten zu achten.<br />

Nach Art. 6 der Verordnung Nr. 1 von 1958 können<br />

die Organe der Gemeinschaft in ihren Geschäftsordnungen<br />

festlegen, wie sie die Sprachenfrage im Einzelnenregeln.�Amts-undArbeitssprachenderEU<br />

Im privaten bzw. beruflichen Bereich gehört Mehrsprachigkeitzur<strong>Europa</strong>kompetenz.Dabeigenügtim<br />

Alltag häufig eine sog. „rezessive Mehrsprachigkeit“,<br />

bei der die Fähigkeit „Verstehen“ (Lesen und<br />

Hören) ausgeprägter ist als die Fähigkeit „Sprechen“.<br />

Mehrwert �Europäischer Mehrwert<br />

Mehrwertsteuer,<br />

Mehrwertsteuerharmonisierung �Steuerrecht<br />

Meistbegünstigungsklausel. Regelung im Rahmen<br />

mehrpoliger Verhältnisse zwischen Staaten<br />

oder anderen Körperschaften, nach der ein im bilateralen<br />

Verhältnis gewährter Vorteil auch auf alle anderen<br />

Beteiligten auszudehnen ist. Meistbegünstigungsklauseln<br />

(most-favoured-nation clause; clause<br />

de la nation la plus favorisée) werden insbes. in internationalen<br />

Handelsverträgen verwendet, um eine<br />

Differenzierung bei den Einfuhrbedingungen für<br />

ausländische Waren zu verhindern.<br />

Die Klausel wird aber auch in anderen Verträgen,<br />

etwa solchen über diplomatische und konsularische<br />

Vorrechte oder im Bereich des Investitionsschutzes,<br />

verwendet. Maßstab für die Beurteilung ist jeweils<br />

die günstigste Behandlung, die einem Beteiligten gewährt<br />

wird.<br />

Die Meistbegünstigung kann einseitig oder gegen-


seitig, entweder uneingeschränkt oder unter der Voraussetzungeingeräumtwerden,dassderandereStaat<br />

dieselbe Vergünstigung wie der meistbegünstigte<br />

Staat gewährt. In der Praxis stehen heute die gegenseitige<br />

und unbedingte Gewährung der Meistbegünstigung<br />

im Vordergrund.<br />

Mit der Meistbegünstigung wird die Gewährung eines<br />

Vorteils mit einem Differenzierungsverbot im<br />

Hinblick auf vergleichbare Rechtsträger oder Sachverhalte<br />

verbunden, so dass die Meistbegünstigung<br />

sich als Ausprägung des allgemeinen Grundsatzes<br />

der Nichtdiskriminierung verstehen lässt. Die Klausel<br />

räumt dem Begünstigten keinen Anspruch auf<br />

eine bestimmte Behandlung im internationalen<br />

Rechtsverkehr ein, sondern erlaubt die Abwehr einer<br />

im Vergleich zu einem Dritten schlechteren Behandlung.<br />

Auf Grund ihrer Zielrichtung hat die Meistbegünstigungsklausel<br />

– bezogen auf ihren jeweiligen<br />

Anwendungsbereich – eine unitarisierende Wirkung.<br />

Vom Grundsatz der Meistbegünstigung werden<br />

häufig Ausnahmen zugunsten von �Freihandelszonen<br />

und Zollunionen sowie Präferenzsystemen<br />

zugelassen.<br />

Die Meistbegünstigung ist neben dem Gebot der Inländergleichbehandlung<br />

der tragende Rechtsgrundsatz<br />

des �WTO-Rechts. Jedes WTO-Mitglied ist<br />

nach dem allgemeinen Meistbegünstigungsgrundsatz<br />

verpflichtet, die Erzeugnisse eines anderen Mitglieds<br />

nicht weniger günstig zu behandeln als vergleichbare<br />

Erzeugnisse anderer Länder. Die Pflicht<br />

erstreckt sich im Warenverkehr nach dem �GATT<br />

1994 auf Zölle und andere Abgaben sowie belastende<br />

Regelungen (Art. I:1 GATT 1994), auf den Handel<br />

mit Dienstleistungen nach dem �GATS (Art. II)<br />

und den Schutz des geistigen Eigentums nach dem<br />

�TRIPS (Art. 4). Die Auslegung des Schlüsselbegriffs<br />

der „vergleichbaren Erzeugnisse“ (like products)<br />

ist dabei häufig ein Anlass für handelspolitische<br />

Streitigkeiten.<br />

Vom Grundsatz der Meistbegünstigung sind Ausnahmen<br />

zugelassen für Freihandelszonen und Zollunionen<br />

(Art. XXIV GATT 1994), bei Störungen des<br />

wirtschaftlichen Gleichgewichts (Art. XIV GATT<br />

1994) oder bei einer gezielten Freistellung von der<br />

Pflicht zur Meistbegünstigung (Art. XXV:5 GATT<br />

1994, sog. „waiver“). Eine solche Freistellung ist die<br />

Grundlage für allgemeine Präferenzsysteme, mit denen<br />

entwicklungspolitische Ziele verfolgt werden.<br />

F. Sch.<br />

Literatur:<br />

Kewenig, W.: Der Grundsatz der Nichtdiskriminierung im<br />

Völkerrecht der internationalen Handelsbeziehungen.<br />

Frankfurt a. M. 1972<br />

Rösner, P.: Die Meistbegünstigungsklausel in den bilateralen<br />

Handelsverträgen der Bundesrepublik Deutschland. 1964<br />

Tietje, C.: Die Meistbegünstigungsverpflichtung im<br />

Gemeinschaftsrecht. <strong>Europa</strong>recht 1995, S. 398 – 415<br />

Mengenbegrenzung �Gemeinsame Agrarpolitik<br />

Mengenmäßige Beschränkungen �Nichttarifäre<br />

Handelshemmnisse<br />

Menschenhandel �Europol<br />

Menschenrechte<br />

Menschenrechte<br />

1.Bedeutung:DieMenschenrechtesindTeilder�europäischen<br />

Identität und ermöglichen ein humanes<br />

Zusammenleben. Sie schließen ein: die Beseitigung<br />

von Hunger und Armut, die Hebung des Wohlstandes,<br />

die Garantie des Rechts auf Leben, die Abschaffung<br />

von Unterdrückung und Unterprivilegierung,<br />

die Herstellung und Erhaltung politischer und persönlicher<br />

Freiheit, die Durchsetzung von Recht und<br />

Gerechtigkeit auch für Minderheiten. Zum erstenmal<br />

in der Geschichte der Menschheit ist der Zeitpunkt<br />

erreicht, an dem die politischen und sozialen<br />

Voraussetzungen für die Verwirklichung der Menschenrechtein<strong>Europa</strong>gegebensind:dasVorhandensein<br />

ausreichender Ressourcen zur Verwirklichung<br />

allgemeiner Wohlfahrt, die freie Entfaltung kultureller<br />

Aktivitäten, die Verbreitung des demokratischen<br />

Gedankens im Sinne einer Einführung bzw. Optimierung<br />

freiheitlicher und partizipativer Rechte der<br />

Individuen u. dgl.<br />

Die Verweigerung bzw. Nichtachtung von Menschenrechten<br />

wird heute nicht mehr überall mit Verfolgung,<br />

Folter und Mord, äußerer Bedrohung und<br />

UnterdrückungjederArtgleichgesetzt,sondernvielfach<br />

als ein strukturelles Problem angesehen. Dabei<br />

entstehen Abgrenzungsfragen wie: Ist das Asylrecht<br />

ein allgemeines Menschenrecht? Ist Umweltschutz<br />

einMenschenrecht?WieweitreichendieMenschenrechte<br />

bei humangenetischen Experimenten? Ist das<br />

(Kommunal-)Wahlrecht für Nicht-EU-Ausländer in<br />

der Bundesrepublik Deutschland mit dem Menschenrechtsargument<br />

zu vertreten? usw.<br />

2. Grundlagen und Gültigkeit: Die Rechtsprechung<br />

des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte<br />

(EGMR)inStraßburgbeziehtsichausschließlichauf<br />

537


Menschenrechte<br />

die Vertragsstaaten des <strong>Europa</strong>rats, soweit sie die<br />

Menschenrechtskonvention von 1950 ratifiziert haben.Darüberhinausgibtes–außerdemEuGH(ingewissen<br />

Grenzen) – noch keine internationale Instanz<br />

zur Durchsetzung der Menschenrechte.<br />

Die Menschenrechte selbst sind inhaltlich nicht fest<br />

umrissen und hängen von den Kulturkreisen, Staatsverfassungen,<br />

herrschenden Ideologien usw. ab. Sie<br />

müssen sich auf einen breiten nationalen bzw. internationalen<br />

Konsens als Legitimationsbasis stützen<br />

können.InDeutschlandhat–inAnlehnungandienaturrechtliche<br />

Tradition der Aufklärung und nach den<br />

Erfahrungen in der NS-Zeit – die Menschenwürde<br />

Verfassungsrang. Sie ist „unantastbar“, muss vor<br />

„aller staatlichen Gewalt“ geschützt werden; die<br />

Grund- und Menschenrechte binden die drei Gewalten<br />

im Staate direkt. Als politische Maxime gilt die<br />

Bindung an die „unverletzlichen und unveräußerlichen<br />

Menschenrechte als Grundlage jeder menschlichen<br />

Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit<br />

in der Welt“ (Art. 1 GG). Es handelt sich dabei –<br />

schon angesichts der vorrangigen Positionierung im<br />

Grundgesetz, konkretisiert in den Grundrechten<br />

(Art. 1–19 GG) – um den höchsten Wert mit universaler<br />

Geltung für Individuen und Staaten. Dies wird<br />

nicht zuletzt durch die Tatsache bestätigt, dass die internationalenKonventionenvondenmeistenStaaten<br />

akzeptiert werden. Viele Beschwerden richten sich<br />

gegen die Länge der Gerichtsverfahren in den Mitgliedstaaten.<br />

Spektakulär entschied der EGMR z. B.<br />

gegen Niedersachsen wegen der Verhängung eines<br />

zeitweiligen Berufsverbots gegen eine kommunistische<br />

Lehrerin. Es sei hier nur an die westliche Traditionslinie<br />

der Menschenrechte in der neuesten Zeit –<br />

von der „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“<br />

der Generalversammlung der Vereinten Nationen<br />

(10. 12. 1948) bis zur „Konvention zum Schutze<br />

der Menschenrechte und Grundfreiheiten“ des <strong>Europa</strong>rats<br />

(4. 11. 1950) sowie an das Abschlussdokument<br />

der KSZE (1975) erinnert, in der die natürlichen,<br />

überstaatlichen Rechte des Menschen und ihre<br />

verfassungsmäßige Ausgestaltung gekoppelt werden.<br />

3. Inhalte: Praktisch geht es bei der Herstellung und<br />

Bewahrung der Menschenrechte um die Sicherstellung<br />

der Autonomie der Person (in sozialer Einbindung),<br />

denn „nur der Mensch ... ist Zweck an sich<br />

selbst“ (Kant). Karl Marx hat besonders den Zusammenhang<br />

von der Würde der Person und ihren mate-<br />

538<br />

riellen Voraussetzungen erkannt, die infolge ihrer<br />

ökonomischen Bedingtheit von ihm als Widerspiegelung<br />

von Klasseninteressen interpretiert werden.<br />

Daraus entstand das Eintreten für wirtschaftliche,<br />

kulturelleundsozialeMenschenrechte(Europäische<br />

Sozialcharta des <strong>Europa</strong>rats, 1961), die infolge ihrer<br />

Interessen- und Standpunktbedingtheit sich definitorischnichtfestlegenlassen(s.o.).Siebewegensich<br />

begrifflich von der Selbsthilfe über die subsidiäre<br />

staatlicheHilfeinNotfällen,vonderVertragsfreiheit<br />

am Arbeitsmarkt bis zum geforderten verfassungsmäßigen<br />

„Recht auf Arbeit“, von der sozialen<br />

Gleichheit bis zur gesellschaftlichen Differenzierung,<br />

von der ökonomischen Ausbeutung bis zum<br />

„gerechten Lohn“, von der sozialen Gleichberechtigung<br />

bis zur (lohn-, arbeitsmarktpolitischen) Diskriminierung<br />

von Frauen u. dgl.<br />

In diesem Zusammenhang der (Nicht-)Gewährung<br />

von sozialen Rechten bestehen noch erhebliche Unterschiede<br />

zwischen den EU-Staaten. Der Europäische<br />

Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg hat mit seiner<br />

Rechtsprechung punktuell einiges zur Einebnung<br />

der nationalen Unterschiede beigetragen. Er<br />

hat die internationalen Verträge und Deklarationen<br />

zumSchutzederMenschenrechtesowiedieGemeinsame<br />

Grundrechtserklärung von 1977 (Grund- und<br />

Menschenrechte in der EU) interpretiert.<br />

4. Menschenrechte in den europäischen Verträgen:<br />

In den Pariser Verträgen und den Römischen Verträgen<br />

werden die Menschenrechte explizit nicht erwähnt,<br />

jedoch sind sie zweifellos implizit in den Absichten<br />

der EU-Mitgliedstaaten, Frieden und Freiheit<br />

zu wahren, rechtliche und soziale Diskriminierungen<br />

der Menschen zu beseitigen u. dgl. enthalten.<br />

Nach der Präambel der �Einheitlichen Europäischen<br />

Akte von 1986 („... entschlossen, gemeinsam für die<br />

Demokratie einzutreten, wobei sie sich auf die in den<br />

Verfassungen und Gesetzen der Mitgliedstaaten, in<br />

derEuropäischenKonventionzumSchutzederMenschenrechte<br />

und Grundfreiheiten und der Europäischen<br />

Sozialcharta anerkannten Grundrechte, insbes.<br />

Freiheit, Gleichheit und soziale Gerechtigkeit<br />

stützen ...“) sehen die (damals) Fünfzehn eine wesentliche<br />

Aufgabe ihrer Politik in der Verteidigung<br />

der Freiheitsrechte auf internationaler Ebene.<br />

Die Organe der Europäischen Union haben aktiv<br />

Stellung bezogen zu Fragen des Rassismus, der<br />

Fremdenfeindlichkeit, des Antisemitismus, der<br />

Apartheid, zum Flüchtlingsproblem, zur Einhaltung


der Menschenrechte in zahlreichen Ländern, zum<br />

Bürgerkrieg usw.<br />

Im Europäischen Parlament spielen die Menschenrechte<br />

als Basis der Grundfreiheiten eine eminent<br />

wichtige Rolle, weil sie eine Art Grundrechtskatalog<br />

für die EU-Mitgliedstaaten darstellen. So kam es am<br />

5. 4. 1977 zu einer Gemeinsamen Grundrechtserklärung<br />

des EP, des Rates und der Kommission, worin<br />

sie „die vorrangige Bedeutung, die sie der Achtung<br />

der Grundrechte beimessen, wie sie insbes. aus den<br />

Verfassungen der Mitgliedstaaten sowie aus der Europäischen<br />

Konvention zum Schutz der Menschenrechte<br />

und Grundfreiheiten hervorgehen“ unterstreichen<br />

(ABl. C 103 vom 27. 4. 1977, Zehnter Gesamtbericht,<br />

Ziff. 567). Dieser Erklärung schlossen sich<br />

die Staats- und Regierungschefs auf ihrer Gipfelkonferenz<br />

am 7./8. 4. 1978 in Kopenhagen mit ihrer Deklaration<br />

zur Demokratie an. Beide Dokumente hält<br />

man für geeignet, die Bildung eines identitären europäischen<br />

(Gemeinschafts-)Bewusstseins zu fördern<br />

undihmeinegemeinsameWertgrundlagezugeben.<br />

Obwohl von den <strong>Europa</strong>abgeordneten das Fehlen einer<br />

klar umrissenen Menschenrechtspolitik der EU<br />

gegenüber Drittländern immer wieder beklagt wird,<br />

habensieinvielenFällengegenMenschenrechtsverletzungen<br />

in aller Welt protestiert – z. B. haben sie in<br />

ihrer „Entschließung zu den Menschenrechten in der<br />

Welt“ vom 17. 5. 1983 44 Länder namentlich genannt<br />

– und die EG-Kommission aufgefordert, im<br />

Rahmen der �Europäischen Politischen Zusammenarbeit<br />

Maßnahmen zum Schutz der Menschenrechte<br />

einzubeziehen, weil deren Missachtung die politischeEntspannunginderWeltbeeinträchtigeundden<br />

Frieden gefährde. Das bedeutendste politische Dokument<br />

über die Menschenrechte ist die EntschließungdesEG-MinisterratsüberMenschenrechte,Demokratie<br />

und Entwicklung von 1991, die sich auf die<br />

HilfefürEntwicklungsländerbezieht. W. M.<br />

Literatur:<br />

Bergmann, J.: Das Menschenbild der Europäischen Menschenrechtskonvention.<br />

Baden-Baden 1995<br />

Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): Menschenrechte,<br />

Dokumente und Deklarationen. Bonn, 2. Auflage 1995<br />

Europäische Kommission (Hg.): Die Europäische Union und<br />

die Menschenrechte in der Welt. Bulletin der Europäischen<br />

Union, Beilage 3/95. Luxemburg 1996<br />

Kühnhardt, L.: Die Universalität der Menschenrechte. Bonn,<br />

Auflage 1991 2<br />

Mercosur (Mercado Común del Sur), der gemeinsame<br />

Markt des Südens, wurde am 26. 3. 1991 durch<br />

den Vertrag von Asunción gegründet und hat Argentinien,<br />

Brasilien, Paraguay und Uruguay als Mitglieder,<br />

Chile seit 1996 und Bolivien seit 1997 als assoziierte<br />

Mitglieder. Beim Güterhandel ist die seit 1. 1.<br />

2000 bestehende Freihandelszone bereits weitgehend<br />

verwirklicht, bis 2006 soll die Freihandelszone<br />

vollends realisiert sein. Beabsichtigt sind weitere<br />

Schritte zum Binnenmarkt, u. a. freier Verkehr von<br />

Dienstleistungen, Kapital und Arbeit sowie eine<br />

Harmonisierung der Wirtschaftspolitiken. Mit den<br />

assoziierten Mitgliedern bestehen Präferenzregelungen<br />

für Zölle.<br />

Rund ein Drittel des Exports der Mercosur-Staaten<br />

gehtindieEU-Staaten,dieHälfteallerDirektinvestitionen<br />

im Mercosur kommt aus EU-Staaten. VerhandlungenzwischenEUundMercosurüberLiberalisierung<br />

des Handels und Zusammenarbeit laufen<br />

seit Jahren. Bei einem EU-Lateinamerika-Gipfel am<br />

28./29. 5. 2004 in Guadalajara, an dem Staats- und<br />

Regierungschefs aus 25 EU-Staaten und 33 Staaten<br />

Lateinamerikas und der Karibik teilnahmen, wurden<br />

die Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen<br />

noch nicht abgeschlossen. �Lateinamerikapolitik<br />

Methode der offenen Koordinierung �offene Koordinierungsmethode<br />

Migrationspolitik �Einwanderungspolitik<br />

Milchquote �Gemeinsame Agrarpolitik<br />

Militärausschuss<br />

Militärausschuss (EUMA). Auf der Grundlage der<br />

Beschlüsse des Europäischen Rats von Köln und<br />

Helsinki (1999) am 1. 3. 2000 zunächst als Interimsorgan<br />

aufgestelltes, dann mit Beschluss des Rats<br />

vom 22. 1. 2001 dauerhaft eingerichtetes, höchstes<br />

militärisches Gremium des Rats. Der Militärausschuss<br />

der EU (EUMA) setzt sich aus den Generalstabschefs<br />

der Mitgliedstaaten zusammen, die von<br />

ihren militärischen Delegierten vertreten werden.<br />

Der in Abweichung vom Präsidentschaftsprinzip<br />

(ständige) Vorsitzende des EUMA wird vom Rat für<br />

die Dauer von drei Jahren ernannt. Der Ausschuss ist<br />

das Forum für die militärische Konsultation und Kooperation<br />

zwischen den Mitgliedstaaten der Union<br />

im Bereich der Konfliktverhütung und der Krisenbewältigung.<br />

Wesentliche Aufgabe des Ausschusses<br />

ist es, das �Politische und Sicherheitspolitische Komitee<br />

(PSK) in allen militärischen Angelegenheiten<br />

539


Militärstab<br />

zu beraten und diesem gegenüber einschlägige Empfehlungen<br />

abzugeben. Der EUMA nimmt die militärische<br />

Leitung aller militärischen Aktivitäten im<br />

Rahmen der Union wahr. Er stützt sich in seiner Arbeit<br />

auf den im Generalsekretariat des Rats angesiedelten�MilitärstabderEU.<br />

U. S.<br />

Militärstab (EUMS). Auf der Grundlage der Beschlüsse<br />

des Europäischen Rats von Köln und Helsinki<br />

(1999) am 1. 3. 2000 zunächst interimistisch als<br />

sog. „Nukleus“ aufgestellte, dann mit Beschluss des<br />

Rats vom 22. 1. 2001 dauerhaft eingerichtete, unmittelbar<br />

dem Generalsekretär und �Hohen Vertreter<br />

(HR) unterstellte Abteilung innerhalb des Generalsekretariats<br />

des Rats. Aufgabe des Militärstabs der<br />

EU (EUMS) ist es, für die �GASP einschl. der<br />

�ESVP militärischen Sachverstand und militärische<br />

Unterstützung bereitzustellen, insbes. auch in Bezug<br />

auf die Durchführung EU-geführter militärischer<br />

Krisenbewältigungsoperationen (�zivil-militärischeZelle).DerMilitärstabbefasstsichmitderFrühwarnung,<br />

der Lagebeurteilung und der strategischen<br />

Planung im Hinblick auf die Ausführung der sog.<br />

�Petersberg-Aufgaben und führt Politiken und BeschlüssegemäßdenVorgabendes�Militärausschusses<br />

der EU (EUMA) durch. Der EUMS fungiert als<br />

Bindeglied zwischen dem EUMA und der der Union<br />

zur Verfügung gestellten militärischen Kräfte und<br />

sorgt für die militärische Beratung der Gremien der<br />

Union gemäß den Vorgaben des EUMA. Er entwickelt<br />

im Krisenfall militärstrategische Optionen und<br />

überwacht im Einklang mit den Krisenmanagementverfahren<br />

der EU ständig alle militärischen Aspekte<br />

von laufenden Operationen. Er unterhält gem. den<br />

�EU-NATO-Dauervereinbarungen ständige Beziehungen<br />

zur NATO. Der EUMS setzt sich aus Personalzusammen,dasvondenMitgliedstaatenabgeordnet<br />

wird. Er wird von einem Generaldirektor im Rangeeines3-Sterne-Generalsgeleitet.<br />

U. S.<br />

Ministerrat �Rat der Europäischen Union<br />

MISEP (Mutual Information System on Employment<br />

Policies). System zur gegenseitigen InformationüberdieBeschäftigungspolitikenindenMitgliedstaaten.<br />

1982 von der Europäischen Kommission gegründet.<br />

Es sammelt die in den Mitgliedstaaten verfügbaren<br />

Informationen und stellt sie den nationalen<br />

Entscheidungsträgern für Maßnahmen zugunsten<br />

540<br />

der Beschäftigung zur Verfügung; außerdem fördert<br />

es den direkten Meinungsaustausch zwischen den<br />

Mitgliedern. Seit 1994 ist es auch zuständig für die<br />

Beobachtung der Maßnahmen für eine integrierte<br />

Europäische Beschäftigungsstrategie (EBS, Beschäftigungspolitik).EsarbeitetmitdemNetzderöffentlichen<br />

Arbeitsmarktverwaltungen der Mitgliedstaaten<br />

zusammen. MISEP ist, wie RESNET und<br />

SYSDEM, die beiden anderen Netze im Bereich der<br />

Beschäftigung, dem Europäischen Beschäftigungsobservatorium<br />

(EBO) angegliedert.<br />

Missionen. Ständige Missionen werden die akkreditierten<br />

Vertretungen von Drittstaaten bei der Europäischen<br />

Kommission in Brüssel im Rang von Botschaften<br />

(Gesandtschaften) genannt. In Brüssel sind<br />

rd. 160 Staaten der Welt diplomatisch vertreten.<br />

MISSOC (Mutual Information System on Social<br />

Protection). Gegenseitiges Informationssystem zur<br />

sozialen Sicherheit in den Mitgliedstaaten der EU<br />

und des EWR. Geschaffen auf Initiative der Generaldirektion<br />

Beschäftigung, soziale Angelegenheiten<br />

und Chancengleichheit der Europäischen Kommission.<br />

Es stellt den Dienststellen der Organe der EU,<br />

den Behörden der Mitgliedstaaten, den Tarifpartnern,denOrganisationendersozialenSicherheitund<br />

allen an Fragen der sozialen Sicherheit interessierten<br />

Personen aktuelle und vergleichbare Informationen<br />

aus den Mitgliedstaaten zur Verfügung. Die redaktionelle<br />

Aufbereitung der Daten für die Darstellung<br />

im Internet übernimmt das Institut für Sozialforschung<br />

und Gesellschaftspolitik (ISG) in Köln. Der<br />

Vertrieb erfolgt über das Amt für amtliche Veröffentlichungen<br />

der EU.<br />

Internet: http://europa.eu.int/comm/employment_social/missoc2000/index_de.htm<br />

Misstrauensantrag des Europäischen Parlaments<br />

(EP) gegen die Tätigkeit der Kommission (nach Art.<br />

201 EGV). Die Formalitäten eines Misstrauensantrags<br />

sind in Art. 100 der Geschäftsordnung des EP<br />

festgelegt. Danach kann ein Zehntel der Mitglieder<br />

des EP beim Präsidenten einen Misstrauensantrag<br />

gegen die Kommission einreichen.<br />

Über einen Misstrauensantrag darf erst nach Ablauf<br />

von drei Tagen nach seiner Einbringung und nur in<br />

offener Abstimmung entschieden werden (Art. 201<br />

EGV). Für ein Misstrauensvotum ist die Mehrheit


von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen bei zugleich<br />

absoluter Mehrheit notwendig. In diesem Falle<br />

müssen die Mitglieder der Kommission geschlossen<br />

ihr Amt niederlegen. Sie führen die Geschäfte bis<br />

zur Ernennung ihrer Nachfolger (gem. Art. 214<br />

EGV) weiter. Die Nachfolger amtieren bis zum vorgesehenen<br />

Ende der Amtsperiode der zurückgetretenen<br />

Kommission.<br />

Nach Inkrafttreten der Verfassung muss nach einem<br />

Misstrauensvotum des EP auch der Außenminister<br />

der Union sein im Rahmen der Kommission ausgeübtes<br />

Amt niederlegen (Art. III-340 VVE).<br />

Mister GASP �Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik<br />

Mitbestimmungsmodelle. Die Mitbestimmung ist<br />

in den EU-Staaten unterschiedlich geregelt. Eine<br />

Vertretung von Arbeitnehmern in Unternehmensorganen<br />

gibt es nur in den Niederlanden, in Deutschland,Frankreich,Luxemburg,DänemarkundIrland.<br />

Im europäischen �Arbeitsrecht enthalten einige<br />

Richtlinien Bestimmungen über Mitwirkungsrechte<br />

der Arbeitnehmervertreter, so die Richtlinien zur<br />

Angleichung der Rechtsvorschriften bei Massenentlassungen<br />

und beim Übergang von Unternehmen,<br />

Betrieben und Betriebsteilen.<br />

EinerstesumfassendesMitbestimmungsmodell–allerdingsnurbetriebsverfassungsrechtlich–aufeuropäischer<br />

Ebene gelang 1994 mit der Verabschiedung<br />

einer Richtlinie zur Einsetzung eines Europäischen<br />

�Betriebsrats (94/45, ABl. L 254/1994).<br />

Mitbestimmungsmodelle für die Angleichung des<br />

Rechts der Aktiengesellschaften und für eine �Europäische<br />

Aktiengesellschaft (SE, �Gesellschaftsrecht):<br />

Bereits 1972 machte die Kommission in ihrer 5. gesellschaftsrechtlichen<br />

Richtlinie zur Struktur der<br />

Aktiengesellschaft (�Gesellschaftsrecht) einen Vorschlag<br />

zu Mitbestimmungsmodellen im nationalen<br />

Recht der AGs. Wegen der großen Unterschiede in<br />

der Frage der Unternehmensmitbestimmung durch<br />

die Arbeitnehmer in den Mitgliedstaaten der EU<br />

konnte diese Richtlinie bisher nicht verabschiedet<br />

werden.<br />

Dagegen konnte bei Schaffung des Statuts der EuropäischenAktiengesellschaft(SE)sowiederEuropäischen<br />

Genossenschaft auch in Sachen Mitbestimmung<br />

ein Erfolg verbucht werden: Jeweils parallel<br />

Mitbestimmungsmodelle<br />

verabschiedete Richtlinien zur Beteiligung der Arbeitnehmer<br />

sehen ein Mitbestimmungsmodell als<br />

Bestandteil einer solchen Gesellschaft an. So regeln<br />

die jeweiligen Arbeitnehmer-Beteiligungsrichtlinien,<br />

dass vor Gründung der Gesellschaft Verhandlungen<br />

zwischen der (den) Unternehmungsleitung(en)<br />

mit einem zu diesem Zweck gegründeten<br />

„besonderen Verhandlungsgremium“ der ArbeitnehmergeführtwerdenmitdemZiel,Regelnüberdie<br />

Beteiligung der Arbeitnehmer, und zwar einerseits<br />

auf Betriebsebene (insbes. über den SE-Betriebsrat)<br />

und andererseits im Rahmen der Unternehmensmitbestimmung<br />

zu vereinbaren. Dies soll innerhalb von<br />

sechs bzw. (falls einvernehmlich verlängert) zwölf<br />

Monaten geschehen sein. Gelingt dies nicht oder<br />

bleibt ihr Modell hinter dem Mitbestimmungsniveau<br />

eines der Gründungsunternehmen zurück, bedarf es<br />

– je nach Grad der Abweichung – einer bestimmten<br />

qualifizierten Zustimmungsmehrheit der Arbeitnehmer.DieVerhandlungspositionderArbeitnehmerist<br />

dabei stark ausgestaltet. So greift etwa im Verschmelzungsfall<br />

bei einem Scheitern der Verhandlungen<br />

automatisch die weitestgehende Mitbestimmung<br />

für die gesamte SE, wenn nur 25 Prozent ihrer<br />

späteren Arbeitnehmer einer Mitbestimmung unterliegen.<br />

Die Mitbestimmung in der SE wie auch der Europäischen<br />

Genossenschaft war während des Gesetzgebungsverfahrens<br />

eine der umstrittensten Regelungsbereiche.<br />

Besonders im Hinblick auf die Arbeitnehmermitbestimmung<br />

in einer SE, welche dem monistischen<br />

System folgt, bestehen offene Fragen. Denn<br />

anders als im dualistischen System, in dem die Arbeitnehmer<br />

im Aufsichtsrat ihre Mitbestimmungsrechte<br />

ausüben, ist im monistischen System die Mitbestimmung<br />

direkt im Verwaltungsrat – und somit<br />

zugleich auch im Management – integriert.<br />

Jeder Mitgliedstaat ist zudem verpflichtet, eine Auffangregelung<br />

zu schaffen, die zumindest Wahl und<br />

Zusammensetzung des Vertretungsorgans festlegt.<br />

Festgelegt werden muss auch, dass dieses mindestens<br />

einmal jährlich zusammentritt und von der Leitung<br />

über transnationale Sachverhalte unterrichtet<br />

und angehört wird. Bei Betriebsverlegungen, Verlagerungen,<br />

Schließungen und anderen außergewöhnlichen<br />

Maßnahmen, die Auswirkungen auf die Arbeitnehmer<br />

haben, besteht ein besonderes Unterrichtungsrecht,<br />

die Letzt-Entscheidung verbleibt allerdings<br />

bei der Unternehmensleitung.<br />

541


Mitentscheidung<br />

Folge dieser vielen unterschiedlichen Möglichkeiten,<br />

die sich sowohl nach den beteiligten Unternehmen<br />

als auch nach den Rechtsordnungen der Sitze<br />

der SEs und Genossenschaften richten, wird eine<br />

Zersplitterung der Mitbestimmungsformen in <strong>Europa</strong>,<br />

ja, sogar innerhalb eines Staates werden.<br />

Daneben regelt eine Richtlinie von 2002 ein allgemeines,<br />

von der Unternehmensform unabhängiges<br />

Unterrichtungs- und Anhörungsrecht für Arbeitnehmervertretungen<br />

in allen Betrieben ab einer Größe<br />

von 50 Arbeitnehmern oder 20 Arbeitnehmern in einem<br />

Mitgliedstaat (RL 2002/14, ABl. L 80/2002).<br />

Wie diese Unterrichtung gestaltet wird, ist Sache des<br />

jeweiligen Sitz-Staats. Inhaltlich muss die Arbeitnehmervertretung<br />

über die jüngste Entwicklung und<br />

die wahrscheinliche Weiterentwicklung des Unternehmens,<br />

die Beschäftigungssituation und über Entwicklungen,<br />

die Folgen für die Beschäftigungssituation<br />

oder die einzelnen Arbeitsverträge haben könnte,informiertundangehörtwerden.<br />

M. K.<br />

Literatur:<br />

Mävers, G.: Die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in der<br />

Europäischen Aktiengesellschaft. Baden-Baden 1999<br />

Mitentscheidung �Gesetzgebungsverfahren<br />

Mitgliedstaaten. Gründungsmitglieder der EGKS<br />

(Vertragsunterzeichnung 18. 4. 1951, in Kraft getreten<br />

am 23. 7. 1951) waren Belgien, Bundesrepublik<br />

Deutschland, Frankreich, Italien, Niederlande, Luxemburg.<br />

Gründungsmitglieder der EWG und der EAG (Euratom)<br />

waren die selben sechs Staaten (Vertragsunterzeichnung<br />

am 25. 3. 1957, in Kraft getreten am 1. 1.<br />

1958).<br />

Am 1. 1. 1973 traten den drei Gemeinschaften bei:<br />

Dänemark, Großbritannien, Irland (Beitrittsverhandlungen<br />

seit 30. 6. 1970). Am 1. 1. 1981 trat Griechenland<br />

bei (Beitrittsverhandlungen seit 27. 7.<br />

1976). Am 1. 1. 1986 traten Portugal (Beitrittsverhandlungen<br />

seit 6. 6. 1978) und Spanien (Beitrittsverhandlungen<br />

seit 5. 2. 1979) bei. Am 1. 2. 1985 trat<br />

Grönland (Teil des Königreichs Dänemark mit innerer<br />

Autonomie) aus den drei Gemeinschaften aus.<br />

Am 1. 1. 1995 traten Finnland, Österreich und<br />

Schweden der EU bei (Beitrittsverhandlungen am 1.<br />

2. 1993 eröffnet). Am 1. 5. 2004 traten der EU bei:<br />

Estland, Polen, Slowenien, Tschechische Republik,<br />

Ungarn, Zypern (Beschluss der Aufnahme von Bei-<br />

542<br />

trittsverhandlungen am 12./13. 12. 1997, sog. „Luxemburg-Runde“),<br />

Lettland, Litauen, Malta und<br />

Slowakei (Aufnahme von Beitrittsverhandlungen<br />

beschlossen am 10./11. 12. 1999, sog. „Helsinki-<br />

Runde“).<br />

Die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Bulgarien<br />

und Rumänien wurde am 10./11. 12 1999 beschlossen,<br />

die Beitrittsverträge wurden am 25. 4.<br />

2005 unterzeichnet, der Beitritt ist für 1. 1. 2007 vorgesehen,<br />

wenn bis dahin die vereinbarten wirtschaftlichen<br />

und politischen Reformen umgesetzt sind.<br />

Mitteleuropäische Initiative. Die Mitteleuropäische<br />

Initiative entstand aus dem am 11. 11. 1989 geschaffenen<br />

„Vier-Länder-Abkommen“ zwischen<br />

Österreich, Italien, Ungarn und Jugoslawien. 1990<br />

trat die Tschechoslowakei bei (jetzt Tschechien und<br />

Slowakei), 1991 Polen. Nach dem Zerfall Jugoslawiens<br />

wurden 1992 die neuen Staaten Bosnien-Herzegowina,<br />

Kroatien und Slowenien aufgenommen;<br />

die Plattform zur Zusammenarbeit im politischen,<br />

wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und<br />

kulturellen Bereich wurde umbenannt in Mitteleuropäische<br />

Initiative (Central-European Initiative,<br />

CEI). 1993 wurde Makedonien aufgenommen, 1994<br />

Albanien, Bulgarien, Rumänien, die Ukraine und<br />

Weißrussland.<br />

Der Mitteleuropäischen Initiative gehören heute 17<br />

Staaten an, das Sekretariat hat seit 2002 seinen Sitz in<br />

Triest. Jährlich im November findet ein Gipfeltreffen<br />

der Staats- und Regierungschefs statt, zur gleichen<br />

Zeit ein Wirtschaftsgipfel (8. Gipfeltreffen am<br />

23./24. 11. 2005 in Bratislava). Ebenfalls jährlich im<br />

Frühjahr findet ein Treffen der Außenminister statt.<br />

Der Finanzierung von Aktivitäten dienen der 1992<br />

bei der �Europäischen Bank für Wiederaufbau und<br />

Entwicklung in London eingerichtete Treuhandfonds,<br />

der 1998 geschaffene Solidaritätsfonds und<br />

der 2002 gegründete Fonds für Zusammenarbeit.<br />

Mittelmeerpolitik. Im November 1995 wurde auf<br />

Initiative der Europäischen Union (EU) die �Euro-Mediterrane<br />

Partnerschaft (EMP) ins Leben gerufen.<br />

Mit der nach ihrem Gründungsort auch als<br />

�„Barcelona Prozess“ bezeichneten EMP reagierte<br />

die EU auf Destabilisierungstendenzen im südlichen<br />

Mittelmeerraum, von denen sie ihre eigenen Wohlfahrts-<br />

und Sicherheitsinteressen zunehmend bedroht<br />

sah. Ganz unterschiedliche Phänomene wur-


den in ihrer Summe als qualitativ neues Bedrohungspotential<br />

wahrgenommen, das nicht mehr von Staaten<br />

ausgeht und auch nicht mehr militärisch definiert<br />

werden kann: Drogenhandel und organisierte Kriminalität,latenteundakuteRegionalkonflikte,eineGefährdung<br />

der Energiezufuhr, Umweltprobleme, illegale<br />

Migration, antiwestliche islamistische Bewegungen<br />

und nicht zuletzt der im politischen und religiösen<br />

Extremismus zu verortende internationale<br />

Terrorismus. Als gemeinsame Wurzel dieser verschiedenen,<br />

zum Teil aber interdependenten Phänomene<br />

wurde die Abwesenheit von Demokratie identifiziert<br />

sowie die wirtschaftliche Unterentwicklung<br />

der meisten Mittelmeer-Drittländer (MDL) bzw. das<br />

wachsende Wohlstandsgefälle zwischen südlichen<br />

und nördlichen Küstenanrainern. Um die Probleme<br />

von diesen Wurzeln her lösen zu können, waren<br />

grundlegend neue Problemlösungsstrategien notwendig<br />

geworden: Dem gleichermaßen innovativen<br />

wie umfassenden Konzept der EMP liegt ein weit gefasster<br />

Sicherheitsbegriff zugrunde, der nicht auf<br />

Konfrontation, sondern auf Kooperation setzt, um<br />

eine Region des Wohlstandes und der Stabilität diesseits<br />

und jenseits des Mittelmeeres zu schaffen. Dieser<br />

partnerschaftliche Ansatz darf allerdings nicht<br />

darüberhinwegtäuschen,dassdieEMPeineeuropäische<br />

Initiative ist, der eine Perzeption des südlichen<br />

MittelmeerraumesalsKrisenregionzugrundeliegt.<br />

Mit Gründung der EMP wurde gleichzeitig der Begriff<br />

„Mittelmeerregion“ zu einer neuen geopolitischen<br />

Kategorie, die außerhalb der EU allerdings<br />

nicht übernommen wurde. Folgende Staaten wurden<br />

zu Partnerländern der EU: Marokko, Algerien Tunesien,<br />

Ägypten, Israel, Libanon, Syrien, Jordanien,<br />

die palästinensischen Autonomiegebiete sowie die<br />

Türkei, Zypern und Malta. Libyen war anfangs nicht<br />

dabei, hat heute aber einen Beobachterstatus mit<br />

EMP-Beitrittsperspektive. Bemerkenswert ist, dass<br />

die EMP auch als anti-westlich eingestufte Länder<br />

wie Syrien und den Libanon einbezieht. Dahinter<br />

steht die Überlegung, dass politische Einbindung<br />

und wirtschaftliche Verflechtung mehr politische<br />

Einflussmöglichkeiten schaffen als Isolation oder<br />

gar Konfrontation.<br />

Gründungsdokument der EMP ist die Deklaration<br />

von Barcelona, in der sowohl die Ziele der Partnerschaft<br />

als auch die Mittel, mit denen diese Ziele erreicht<br />

werden sollen, explizit festgeschrieben wurden.<br />

In Analogie zur Deklaration von Helsinki, dem<br />

Mittelmeerpolitik<br />

Gründungsdokument der Konferenz für Sicherheit<br />

und Zusammenarbeit in <strong>Europa</strong>, besteht auch die Deklaration<br />

von Barcelona aus einer Präambel und drei<br />

Körben, die durch eine linkage-Politik miteinander<br />

verbunden sind: Korb (1) Politische- und Sicherheitspartnerschaft,<br />

Korb (2) Wirtschafts- und FinanzpartnerschaftundKorb(3)Partnerschaftimkulturellen,<br />

sozialen und menschlichen Bereich. Während<br />

Korb (2) als Reform der traditionellen Wirtschafts-<br />

und Handelsbeziehungen zwischen der EU<br />

und ihren südlichen Nachbarn bezeichnet werden<br />

kann, sind Korb (1) und Korb (3) Innovationen, mit<br />

denen die euro-mediterranen Beziehungen eine politische<br />

Dimension erhalten haben. Manifest wird diese<br />

Politisierung insbes. in der Selbstverpflichtung<br />

zur Demokratisierung und zur Achtung der Menschenrechte,<br />

die alle Partnerländer der EMP in der<br />

Deklaration von Barcelona explizit eingegangen<br />

sind und für deren Umsetzung in allen drei Körben –<br />

mehr oder minder effiziente – Instrumente geschaffen<br />

wurden. So baut die für das Jahr 2010 anvisierte<br />

Freihandelszone auf politisch konditionalisierten<br />

pluri-bilateralen Assoziierungsabkommen auf, die<br />

die EU und ihre Mitgliedstaaten mit jedem einzelnen<br />

Partnerland abschließen.<br />

FinanziertwirddieEMPüberdasMEDA-Programm<br />

das, PHARE und TACIS vergleichbar, über Programme<br />

traditioneller Entwicklungshilfe hinausgeht.<br />

Ca. 86 % des MEDA-Budgets werden dazu verwendet,diePartnerländerimwirtschaftlichenTransformationsprozess<br />

und bei der Vorbereitung der anvisierten<br />

euro-mediterrane Freihandelszone zu unterstützen.<br />

Nur 14 % kommen der regionalen Kooperation<br />

zugute, die vorwiegend dem dritten Korb zugerechnet<br />

werden kann. Alle im Rahmen von Korb<br />

(1) anfallenden Kosten werden außerhalb des<br />

MEDA-Budgets über die GASP finanziert. Aus diesem<br />

Zahlenverhältnis wird ersichtlich, dass die Wirtschafts-<br />

und Finanzpartnerschaft eine hervorgehobene<br />

Stellung innerhalb der EMP einnimmt. Ihr gilt<br />

das primäre Interesse der Partnerländer. Für die EU<br />

ist die EMP jedoch ein primär politisches Projekt zur<br />

nachhaltigen Stabilisierung ihrer südlichen Peripherie.<br />

Die Wirtschafts- und Finanzkooperation ist aus<br />

dieser Perspektive vor allem ein Mittel zum – vornehmlich<br />

politischen – Zweck. Die EMP ist somit<br />

auch ein Beispiel für die außen- und sicherheitspolitischen<br />

Gestaltungsmöglichkeiten der EU als Handels-<br />

oder Zivilmacht.<br />

543


Mittelmeerpolitik<br />

Insgesamt gesehen stellt das Konzept der EMP einen<br />

qualitativen Fortschritt für die Gestaltung der bis dahin<br />

wenig strukturierten euro-mediterranen Beziehungen<br />

dar:<br />

– Die Komplexität des Ansatzes trägt den Interdependenzen<br />

zwischen ökonomischen und politischen<br />

Stabilitätsproblemen in der Region Rechnung;<br />

– Die aus Helsinki übernommene langfristige Perspektive<br />

erlaubt die Schaffung eines stabilen Rahmens<br />

für die Entwicklung nachhaltiger Problemlösungsstrategien;<br />

– Mit dem Bekenntnis zu Demokratie und Menschenrechten<br />

wurde ein normativer Bezugspunkt<br />

verankert, auf den sich nunmehr alle Teilnehmer der<br />

EMP berufen können, die sich für die Umsetzung<br />

dieser Prinzipien einsetzen;<br />

– Der ebenfalls verbriefte Partnerschaftsgeist zielt<br />

auf einen fairen Interessenausgleich, ungeachtet der<br />

machtpolitischenUngleichgewichtezwischensüdlichen<br />

und nördlichen Küstenanrainern.<br />

Probleme bei der praktischen Umsetzung der EMP.<br />

Das Konzept der EMP enthält zwei strukturelle Probleme,<br />

die eine konsequente Umsetzung erschweren:<br />

Zum einen besteht ein Interessenkonflikt zwischen<br />

den Zielen Demokratisierung und Stabilisierung,<br />

und zum anderen befindet sich die EMP in einem<br />

ungelösten Spannungsverhältnis zwischen<br />

Partnerschaft und Dominanz.<br />

Der These vom (zumindest temporären) Interessenkonflikt<br />

zwischen Demokratisierung und Stabilisierung<br />

liegt die Annahme zugrunde, dass demokratische<br />

Reformen in den meisten Partnerländern mit<br />

großer Wahrscheinlichkeit schwer berechenbare<br />

Transformationsprozesse auslösen werden. Die jetzt<br />

schon von den Europäern als bedrohlich wahrgenommenen<br />

Destabilisierungstendenzen, die immerhin<br />

den Impuls für die Initiierung der EMP gegeben<br />

haben, könnten sich während der Umbruchphase<br />

verstärken. Eine forcierte Demokratisierungspolitik<br />

wäre damit für die Stabilisierung des Landes zunächst<br />

einmal kontraproduktiv. Hinzu kommt, dass<br />

das Bekenntnis zu Demokratie und Menschenrechten<br />

den autoritär verfassten Regimes unter den Partnerländern<br />

mehr oder minder aufgezwungen wurde,<br />

indem die EU es zur Voraussetzung einer vertieften<br />

wirtschaftlichen Zusammenarbeit machte. Das Bekenntnis<br />

zur normativen Dimension der EMP haben<br />

einige Partnerländer lediglich als „Eintrittsticket“<br />

für den Zugang zum begehrten europäischen Markt<br />

544<br />

geleistet. Einer konsequenteren Implementierung<br />

der EMP steht somit nicht nur der Interessenkonflikt<br />

zwischen Demokratisierung und Stabilisierung entgegen,<br />

sondern auch der Souveränitätsanspruch der<br />

Partnerländer und der – ebenfalls in der Deklaration<br />

von Barcelona verbriefte – Anspruch auf gleichberechtigte<br />

Partnerschaft. Vor diesem Hintergrund<br />

verwundert es nicht, dass sich die EU bei der Implementierung<br />

ihrer Demokratisierungspolitik merklich<br />

zurückhält. Neuere Ansätze, die Partnerländer<br />

mit verbesserten Anreizen zu freiwilligen Reformschritten<br />

zu motivieren, kann die aufgezeigten Dilemmatazwarnichtauflösen,wohlaberentschärfen.<br />

Als nicht minder problematisch für die praktische<br />

UmsetzungderEMPhatsichderVerlaufdesNahostkonflikts<br />

erwiesen. In der EU war man Anfang der<br />

1990er Jahre davon ausgegangen, dass nach „Oslo“<br />

der Friedensprozess bereits ein Selbstläufer sei und<br />

dass es Aufgabe der EMP werden würde, die Konsolidierungsphase<br />

des Friedensprozesses politisch und<br />

ökonomisch abzusichern. Israel sollte die Chance erhalten,<br />

seine Isolation innerhalb der arabischen Welt<br />

zu überwinden, und die Palästinenser sollten die<br />

Möglichkeit erhalten, sich durch die Integration in<br />

eine größere Gemeinschaft aus ihrer einseitigen Abhängigkeit<br />

von Israel zu lösen. Von der sektoralen<br />

Zusammenarbeit aller am Konflikt beteiligten Länder<br />

erhoffte man sich den langfristigen Abbau wechselseitiger<br />

Fehl- und Feindwahrnehmungen. Darüber<br />

hinaus erwartete man von der ökonomischen<br />

Verflechtung den für die Friedenskonsolidierung so<br />

nötigen wirtschaftlichen Aufschwung der Region.<br />

InsgesamtzieltedieEinbettungderFriedenskonsolidierungindenRahmenderEMPaufdieSchaffungso<br />

vieler wirtschaftlicher und politischer Interdependenzen,<br />

dass sich die Wahrscheinlichkeit eines Wiederausbruchs<br />

des Konflikts entscheidend verringern<br />

würde. Der unerwartete Zusammenbruch des nahöstlichen<br />

Friedensprozesses schon Mitte der 1990er<br />

Jahre machte diese Konzeption zur Makulatur und<br />

führte zu einer Umkehrung der erhofften Dynamik:<br />

Die EMP beflügelte nicht die Konsolidierung des<br />

Friedensprozesses, sondern der gescheiterte FriedensprozessbremstedieEntfaltungderEMP,insbes.<br />

in Korb (1), der Politischen und Sicherheits-Partnerschaft.<br />

Dessen ungeachtet ist die EMP (trotz kurzerUnterbrechungen)daseinzigeForum,indemalle<br />

Konfliktparteien regelmäßig an einem Tisch zusammen<br />

kommen. Die Aufrechterhaltung des Dialogs ist


ein nicht zu unterschätzender Beitrag jeglicher Konfliktbearbeitung.<br />

Herausforderungen der EMP. Zwei Faktoren determinieren<br />

die künftige Entwicklung der EMP. Zum<br />

einen die vollzogene EU-Erweiterung um zehn neue<br />

Mitgliedstaaten im Mai 2004, zu denen auch die beiden<br />

Mittelmeerpartner Zypern und Malta gehören.<br />

Und zum anderen das veränderte Koordinatensystem<br />

westlicher Regionalpolitik nach den Terroranschlägen<br />

auf die USA vom 11. 9. 2001.<br />

Mit der EU Erweiterung ist zumindest zahlenmäßig<br />

eine Schieflage in der EMP entstanden: 25 EU-<br />

Mitgliedstaaten stehen nur mehr neun Mittelmeerpartnerngegenüber,vondenensicheiner,dieTürkei,<br />

heute schon eher der europäischen Seite zugehörig<br />

fühlt. Die EU reagierte auf diese Veränderung, indem<br />

sie die Mittelmeerpartner zusätzlich zur EMP in<br />

ihre �NeueNachbarschaftspolitikintegrierte.Dieser<br />

regionalpolitische Ansatz dient der Stabilisierung<br />

derjenigen Länder, die nach der Osterweiterung direkte<br />

Nachbarn der EU geworden sind. Die Neue<br />

Nachbarschaftspolitik enthält starke Anreize zur politischen<br />

und ökonomischen Reform, indem es den<br />

Partnerländern eine weitgehende Annäherung an die<br />

EU anbietet, die allerdings unterhalb der Beitrittsperspektive<br />

liegt. Des Weiteren initiierte die EU<br />

eine „Strategische Partnerschaft mit dem Mittelmeer<br />

und dem Mittleren Osten“, mit der auch die Staaten<br />

des Golfkooperationsrates, der Iran, Jemen und der<br />

Irak in die inter-regionale Zusammenarbeit integriert<br />

werden sollen. Fraglich ist, ob sich daraus eine<br />

„EMP+“ entwickeln wird, oder ob ein inhaltlicher<br />

Paradigmenwechsel in Anlehnung an die amerikanische<br />

Regionalpolitik ansteht.<br />

Allen Divergenzen mit der Bush-Administration<br />

zum Trotz herrscht ein transatlantischer Konsens darüber,<br />

dass Frieden und Stabilität in der Region nur<br />

zu erreichen sind, wenn sich die autoritären Regime<br />

liberalisieren und demokratisieren. Über die Frage,<br />

wieeinesolcheEntwicklungvonaußenzubeeinflussen<br />

sei, besteht jedoch Uneinigkeit. Ankündigungen<br />

der USA, Regimewechsel gegebenenfalls gewaltsam<br />

herbeizuführen, erteilte die EU nach dem Irak-<br />

Debakel eine eindeutige Absage. Dessen ungeachtet<br />

stellt aber auch die EU ihre Mittelmeerpolitik zunehmend<br />

unter den Primat des Kampfes gegen den internationalen<br />

Terrorismus. Das Ursprungskonzepts der<br />

EMP, das auf einen langfristigen und nachhaltigen<br />

Wandel in der Region zielt, gerät zunehmend in Wi-<br />

Mitwirkungsrechte der deutschen Länder<br />

derspruch zu einer regionalen Außen- und Sicherheitspolitik,<br />

die angesichts der Herausforderungen<br />

durch den internationalen Terrorismus auf kurzfristige<br />

Strategien zurückgreift, die der Komplexität der<br />

regionalen Problemfelder nicht gerecht werden und<br />

vor allem deren Ursachen aus den Blick verlieren. So<br />

bleibt es wünschenswert, dass die EU – auch und gerade<br />

in der regionalpolitischen Kooperation mit den<br />

USA–amzivilenGeistderEMPfesthält. A. J.<br />

Literatur:<br />

Schlusserklärung der <strong>Europa</strong>-Mittelmeer-Konferenz von<br />

Barcelona (27./28. 11. 1995). In: Agence Europe,<br />

6. 12. 1995, S. 1–6<br />

Schumacher, T.: Die Europäische Union als internationaler<br />

Akteur im südl. Mittelmeerraum. Zum Verhältnis von „Actor<br />

Capability“ und EU-Mittelmeerpolitik. Baden-Baden 2005<br />

Jünemann, A. (Ed.): Euro-Mediterranean Relations after<br />

September 11. International, Regional and Domestic<br />

Dynamics. Franc Cass, London, Portland, Or 2003. Auch erschienen<br />

als Special Issue of Mediterranean Politics, Vol. 8<br />

(November 2003) No 2/3<br />

Harders, C./ Jünemann, A. (Hg.): 10 Jahre Euro-Mediterrane<br />

Partnerschaft – Bilanz und Perspektiven. Sonderheft in: Orient,<br />

Herbst 2005 (im Erscheinen)<br />

Mittel- und osteuropäische Staaten, mittelosteuropäische<br />

Staaten (MOE-Länder, MOEL). Darunter<br />

versteht man die Staaten östlich der EU-15, die sich<br />

nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion als<br />

�Transformationsländer dem Westen <strong>Europa</strong>s zugewandt<br />

haben („Rückkehr nach <strong>Europa</strong>“), im weitesten<br />

Sinne einschl. Russlands. Im engeren Sinne sind<br />

darunter die zehn MOEL bzw. südosteuropäischen<br />

Länder (SOEL) gemeint, die als Beitrittskandidaten<br />

mit der EU <strong>Europa</strong>abkommen (erste 1991, letzte<br />

1996) abgeschlossen haben: die drei Baltenstaaten<br />

Estland, Lettland und Litauen, Polen und die Tschechoslowakei<br />

(ab 1993: Tschechische Republik und<br />

Slowakei), Bulgarien, Rumänien und Ungarn sowie<br />

Slowenien. Sie verhandelten ab 1998 bzw. 2000 über<br />

den Beitritt zur EU. Acht dieser MOE-Staaten sind<br />

am 1. 5. 2004 der EU beigetreten, zwei weitere<br />

(Bulgarien und Rumänien) werden ihr 2007 bzw.<br />

2008 beitreten.<br />

Mittelstand in der EU �KMU (Kleine und mittlere<br />

Unternehmen)<br />

Mitwirkungsrechte der deutschen Länder in<br />

EU-Angelegenheiten<br />

1. Begriff: Das Fortschreiten des europäischen Integrationsprozesses<br />

hat in wachsendem Maße dazu ge-<br />

545


Mitwirkungsrechte der deutschen Länder<br />

führt, das die Europäische Union in Bereiche eingreift,<br />

die innerstaatlich in der Zuständigkeit der<br />

deutschen Länder liegen, ohne dass diese an den entsprechenden<br />

Gesetzgebungsverfahren auf EU-Ebene<br />

beteiligt sind. Aus diesem Grund forderten die<br />

Länder eine innerstaatliche Kompensation für die<br />

schleichende Erosion ihrer Befugnisse. Die innerstaatliche<br />

Mitwirkung in EU-Angelegenheiten ist<br />

seit Ende 1993 neu geregelt und hat durch eine<br />

Grundrechtsänderung Verfassungsrang erhalten.<br />

Artikel 23 GG, das Gesetz über die �Zusammenarbeit<br />

von Bund und Ländern in Angelegenheiten der<br />

Europäischen Union (EUZBLG) als Ausführungsgesetz<br />

sowie eine ergänzende �Bund-Länder-Vereinbarung<br />

regeln die Verfahren der Ländermitwirkung<br />

in EU-Angelegenheiten. Dabei ist – je nach Zuständigkeit<br />

– ein abgestuftes Verfahren der Ländermitwirkung<br />

vorgesehen. In den Fällen, in denen ausschließliche<br />

Länderkompetenzen (insbes. Bildung,<br />

Kultur), die Verwaltungsstrukturen oder -verfahren<br />

der Länder schwerpunktmäßig betroffen sind, ist die<br />

Stellungnahme des Deutschen Bundesrates für die<br />

Bundesregierung bindend. Sie kann von dieser Position<br />

nur aus unabweisbaren integrationspolitischen<br />

Gründen abweichen. In den übrigen Fällen kann die<br />

Bundesregierung bei den Verhandlungen in Brüssel<br />

die Position des Bundesrats berücksichtigen, sie ist<br />

jedoch nicht dazu verpflichtet.<br />

2. Entstehungsgeschichte: Die Sorge vor einer Aushöhlung<br />

der Eigenstaatlichkeit der Bundesländer<br />

durch wachsende Kompetenzverlagerungen auf<br />

EU-Ebene hat die Länder veranlasst, seit Gründung<br />

der EWG auf Beteiligungsmechanismen zu drängen,<br />

die eine ausreichende Berücksichtigung der LänderinteressenbeiEU-Entscheidungensicherstellen.Zunächst<br />

wurden die Länder durch die Bundesregierung<br />

über anhängige Gesetzgebungsverfahren lediglich<br />

unterrichtet (�Länderbeobachter). In der Zwischenzeit<br />

sind die Mitwirkungsformen schrittweise<br />

zu echten Mitentscheidungsbefugnissen ausgebaut<br />

worden. Im Zuge der innerstaatlichen Ratifizierung<br />

des Vertrages über die Europäische Union von Dezember<br />

1992 ist – auf politischen Druck der Länder –<br />

zugleich auch ein umfangreiches Gesetzgebungspaket<br />

verabschiedet worden, das die Ländermitwirkung<br />

regelt. Durch einen eigenen „<strong>Europa</strong>-Artikel“<br />

im Grundgesetz (Art. 23) haben die Mitwirkungsrechte<br />

der Länder Verfassungsrang erhalten. Ein<br />

Ausführungsgesetz sowie eine Bund-Länder-Ver-<br />

546<br />

einbarung regeln weitere Details der praktischen<br />

Mitwirkungsverfahren. Politisches Ziel der Länder<br />

ist, einer Entwicklung entgegenzutreten, die innerstaatlich<br />

im Verhältnis Bund–Länder dazu führt,<br />

dass – mit Ausnahme weniger Sachgebiete – die Gesetzgebungstätigkeit<br />

weitgehend auf den Bund übergeht.<br />

Zentralisierungstendenzen werden weiter dadurch<br />

begünstigt, dass die überwiegende Zahl der<br />

EU-Mitgliedstaten nicht föderal organisiert ist und<br />

EU-weite Regelungen von Verwaltungsverfahren<br />

somit nicht als Eingriffe in das innerstaatliche Kompetenzgefüge<br />

wahrgenommen werden.<br />

3. Arbeitsweise: Die Mitwirkung der Länder in EU-<br />

Angelegenheiten erfolgt durch den Bundesrat. Gesetzgebungsvorhaben<br />

der EU werden dem Bundesrat<br />

zugeleitet, in den sachlich betroffenen Fachausschüssen<br />

beraten und anschließend vom Bundesratsplenum<br />

beschlossen. In Eilfällen, in denen eine<br />

rechtzeitige Beschlussfassung wegen des Verhandlungsgangs<br />

in Brüssel nicht durch das Bundesratsplenum<br />

erfolgen kann, wird durch die Einberufung<br />

der �<strong>Europa</strong>kammer ein verkürztes Bundesratsverfahren<br />

möglich. Durch die neuen Mitwirkungsrechte,<br />

insbes. in den Bereichen der ausschließlichen Gesetzgebungszuständigkeit<br />

der Länder, ist ein Vertreter<br />

des Bundesrates auf Ministerebene in den entsprechenden<br />

Ratstagungen der EU vertreten. Sie haben<br />

den Auftrag, dort zu verhandeln, den Bundesrat<br />

über die aktuellen Entwicklungen zu unterrichten<br />

und ggf. eine erneute Bundesratsbefassung anzuregen.<br />

Weiterhin nehmen Vertreter der Länder an den<br />

wöchentlichen Weisungssitzungen der Bundesressorts<br />

teil, in denen die deutschen Verhandlungspositionen<br />

für Brüssel abgestimmt werden. Weitere Instrumente<br />

der Ländermitwirkung – unterhalb der<br />

Schwelle gesetzlicher Mitentscheidungsrechte –<br />

sind der �Ausschuss der Regionen sowie die in BrüsselansässigenVertretungenbzw.Verbindungsbüros<br />

der deutschen Länder bei der EU. Nach den ursprünglichen<br />

Vorstellungen der Länder sollte der<br />

Ausschuss der Regionen schrittweise zu einem echten<br />

Mitentscheidungsorgan im EU-Institutionengefüge<br />

ausgebaut werden. Im �Vertrag von Amsterdam<br />

sowie dem Vertrag von Nizza ist es gelungen,<br />

partielle Verbesserungen – etwa die Ausweitung der<br />

obligatorischen Befassung und die Schaffung eines<br />

eigenständigen administrativen Unterbaus – zu erreichen.<br />

Mit dem Nizza-Vertrag ist insbes. auch der<br />

politische Charakter des AdR gestärkt worden. Seit-


her müssen die Mitglieder des AdR entweder ein<br />

Wahlmandat in einer regionalen oder lokalen Gebietskörperschaft<br />

innehaben oder gegenüber einer<br />

gewählten Versammlung politisch verantwortlich<br />

sein. Ein Mitentscheidungsrecht konnte jedoch bislang<br />

nicht verankert werden. Die Ländervertretungen<br />

in Brüssel haben die Aufgabe eines „Frühwarnsystems“<br />

indem sie die Landesregierungen in der<br />

Vorbereitungsphase von EU-Rechtsetzungsverfahren<br />

über wichtige Vorhaben unterrichten.<br />

4. Bewertung: Die Neuregelung der Ländermitwirkung<br />

in EU-Angelegenheiten hat die Position der<br />

Länder auf diesem Gebiet deutlich gestärkt. Mittlerweile<br />

verfügen sie über ein feingefächertes Instrumentarium<br />

an Einfluss- und Mitwirkungsmöglichkeiten<br />

auf EU-Ebene. Während der Ausschuss der<br />

Regionen sich als Säule der interregionalen Zusammenarbeit<br />

in der EU fest etabliert hat, liegt der<br />

Schwerpunkt der Ländervertretungen in Brüssel auf<br />

Lobby- und Repräsentationsaktivitäten.<br />

Mit den im Grundgesetz verankerten Mitwirkungsrechten<br />

in EU-Angelegenheiten sind die Länder über<br />

den Bundesrat in den EU-Gesetzgebungsprozess<br />

eingebunden. Aus Sicht der Bundes mag diese Länderpräsenz<br />

als zu massiv empfunden werden. Im<br />

RahmenderFöderalismusdiskussionzurReformder<br />

bundesstaatlichen Ordnung ist von Vertretern des<br />

Bundes gefordert worden, den <strong>Europa</strong>artikel des GG<br />

abzuschaffen, als Ausgleich für Kompetenzrückübertragungen<br />

vom Bund auf die Länder. Begründet<br />

wurde dies damit, dass die Mitwirkung der Länder in<br />

EU-Angelegenheiten die Handlungsfähigkeit der<br />

Bundesregierung und die EU-Entscheidungsprozesse<br />

behindere. Die Erfahrungen der vergangenen<br />

Jahre können dies jedoch nicht bestätigen. In der Praxis<br />

läuft die Ländermitwirkung geräuschlos und zumeist<br />

konfliktfrei. Gelegentlich gibt es zwischen<br />

Bund und Ländern Meinungsverschiedenheiten da-<br />

rüber, ob ein EU-Vorhaben im Schwerpunkt LänderbelangebetreffeunddieHaltungdesBundesratessomit<br />

für die Bundesregierung in Brüssel bindend sei.<br />

Auch von Länderseite gibt es Wünsche, in Teilbereichen<br />

Präzisierungen vorzunehmen. Gründe dafür<br />

sind im Wesentlichen die neuen Bestimmungen des<br />

�Verfassungsvertrags 2004 zur Mitwirkung der nationalen<br />

Parlamente, zur Subsidiaritätsprüfung, zum<br />

eigenständigen Klagerecht vor dem EuGH sowie der<br />

Anwendung der vereinfachten Vertragsänderung<br />

(sog.�Passerelle-Klausel). Ch. H.<br />

Mobilität �Freizügigkeit<br />

Multinationales Korps<br />

MOEL �Mittelosteuropäische Länder, �Transformationsstaaten<br />

Monnet, Jean (1888 – 1979), französischer Politiker.<br />

Stellvertretender Generalsekretär des Völkerbundes<br />

(1919 – 1923), Präsident der Schuman-<br />

Plan-Konferenz (1950 – 1952) zur Gründung der<br />

Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl<br />

(EGKS)undPräsidentderHohenBehördederEGKS<br />

(1952 – 1955). 1976 von den Staats- und Regierungschefs<br />

der EG zum ersten „Ehrenbürger von <strong>Europa</strong>“<br />

ernannt.<br />

Montanunion �Europäische Gemeinschaft für<br />

Kohle und Stahl (EGKS)<br />

Multinationales Korps Nord-Ost, aufgrund eines<br />

1997 zwischen Dänemark, Deutschland und Polen<br />

gefassten Beschlusses aufgestellter Großverband,<br />

seit Ende 2000 einsatzbereit. Das Korps ist nicht in<br />

die NATO-Struktur eingebunden. Die einzelnen<br />

Truppenteile unterstehen nur im Bedarfsfall dem internationalen<br />

Korpskommando. Hauptquartier:<br />

Stettin.<br />

547


NACE<br />

NACE (Nomenclature générale des activités économiquesdanslesCommunautésEuropéennes).Allgemeine<br />

Systematik der Wirtschaftszweige in der EU<br />

(für statistische Zwecke von eurostat). NACE wurde<br />

1970 aufgestellt. Eine Revision 1986 (NACE Rev. 1)<br />

passte die Klassifikation der revidierten International<br />

Standard Industrial Classification of all Economic<br />

Activities (ISIC Rev. 3) der Vereinten Nationen<br />

an. Gemäß Verordnung (EWG) Nr. 3037/90 muss<br />

NACERev1seit1.1.1993inallenEU-Staatenangewendet<br />

werden.<br />

Nachbarschaftspolitik �Europäische Nachbarschaftspolitik<br />

Nachhaltigkeit,NachhaltigeEntwicklung(sustainabledevelopment)bezeichneteinLeitbild,nachdem<br />

stabile wirtschaftliche Entwicklung (Wachstum der<br />

Lebensqualität, hoher Beschäftigungsgrad, Preisniveaustabilisierung,außenwirtschaftlichesGleichgewicht),<br />

Schutz der Ökosphäre (Erhaltung der Pufferkapazität<br />

der Natur, nachhaltige Nutzung erneuerbarer<br />

Ressourcen, minimale Nutzung nicht-erneuerbarer<br />

Ressourcen) und gerechte Verteilung der Lebenschancen<br />

(zwischen Individuen, Generationen,<br />

Nord und Süd, Ost und West) in Einklang gebracht<br />

werden sollen. Als gängigste deutsche Übersetzung<br />

des englischen Begriffs „sustainable development“<br />

gelten „nachhaltige“, „dauerhafte“ oder „zukunftsfähige<br />

Entwicklung“. Im „Brundtland-Bericht“ der<br />

UN-Kommission für Umwelt und Entwicklung<br />

(1967) wird sustainable development definiert als<br />

eine „Entwicklung, die den Bedürfnissen der heutigen<br />

Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten<br />

künftiger Generationen zu gefährden“.<br />

Spätestens seit der UN-Konferenz für Umwelt und<br />

EntwicklunginRiodeJaneiro(1992)giltsustainable<br />

development als verbindliche Zielsetzung für die internationaleStaatengemeinschaftunddamitauchfür<br />

die Mitgliedstaaten der EU. Mit der „Agenda 21“<br />

wurde auf dieser Konferenz ein umfassendes, dynamisches<br />

Aktionsprogramm verabschiedet, das detaillierte<br />

umwelt- und entwicklungspolitische Handlungsanweisungen<br />

enthält.<br />

548<br />

N<br />

Der Begriff „Nachhaltige Entwicklung“ legt die BetonungaufEntwicklunganstellevonWachstum.Das<br />

Nachhaltigkeitsprinzip entstammt der Forstwirtschaft;<br />

dort kennzeichnet es eine Waldbewirtschaftung,<br />

bei der der Holzeinschlag im Rahmen eines bestimmten<br />

Zeitabschnitts die Regenerationsfähigkeit<br />

des Baumbestandes nicht übersteigt, so dass dauerhaft<br />

ein optimaler Holzertrag gewährleistet ist und<br />

die Bodenqualität nicht beeinträchtigt wird. Entwicklungs-<br />

und umweltpolitisch zielt Nachhaltigkeit<br />

bzw. nachhaltige Entwicklung auf Anpassung<br />

der Wirtschaftstätigkeit und des sozialen Verhaltens<br />

an die ökologische Tragfähigkeit des Planeten Erde.<br />

Weder sein Potential an regenerierbaren und nichtregenerierbaren<br />

Rohstoffen noch seine Fähigkeit,<br />

Schadstoffe aufzunehmen, sollen überbeansprucht<br />

werden, damit das natürliche Fließgleichgewicht des<br />

globalen Ökosystems nicht gefährdet wird. Als globales<br />

Konzept trägt sustainable development sowohl<br />

den Umweltproblemen, die durch die vorwiegend an<br />

wirtschaftlichem Wachstum orientierte Lebensweise<br />

in den Industrieländern verursacht wurden und<br />

werden als auch der Unterentwicklung in den Entwicklungsländern<br />

und den daraus resultierenden armutsbedingten<br />

Umweltzerstörungen Rechnung.<br />

Aufgrund der fehlenden Präzision des Begriffes ist<br />

ein breites Spektrum an Interpretationsmöglichkeiten<br />

gegeben, so dass die Schwäche des Konzepts in<br />

seiner mangelnden Operationalisierungsfähigkeit<br />

liegt. Dank seiner umfassenden Zielsetzung genießt<br />

das Konzept aber eine breite Akzeptanz, im Norden<br />

wie im Süden. Aufgrund der Einbindung des Nordens<br />

(als Mitverursacher und -betroffener der Entwicklungsproblematik)<br />

erscheint das Konzept geeignet,<br />

der Entwicklungsdiskussion eine neue Richtung<br />

und Qualität zu geben.<br />

Das Prinzip Nachhaltigkeit in der Politik der EU:<br />

Nach Art. 2 EGV ist es Aufgabe der Gemeinschaft,<br />

eine nachhaltige Entwicklung des Wirtschaftslebens<br />

zu fördern. Dabei müssen gem. Art. 6 EGV die Erfordernisse<br />

des Umweltschutzes bei der Festlegung und<br />

Durchführung aller Politiken und Maßnahmen der<br />

Gemeinschaft einbezogen werden. Auch durch die<br />

Entwicklungszusammenarbeit (�Entwicklungspoli-


tik) soll nach Art. 177 EGV die nachhaltige wirtschaftliche<br />

und soziale Entwicklung in Drittstaaten<br />

gefördert werden. In einer Erklärung der Regierungskonferenz<br />

1997 (Amsterdam) wird die Zusage<br />

der Kommission zur Kenntnis genommen, Umweltverträglichkeitsprüfungen<br />

zu erstellen, wenn ihre<br />

Vorschläge erhebliche Auswirkungen auf die Umwelt<br />

haben können. In einer Erklärung der Regierungskonferenz<br />

2000 (Nizza) bekräftigen die Mitgliedstaaten<br />

ihre Entschlossenheit, eine führende<br />

Rolle bei der Förderung des Umweltschutzes in der<br />

Union und auf internationaler Ebene zu übernehmen<br />

und dabei auf marktorientierte Anreize und Instrumente<br />

zurückzugreifen, die einer nachhaltigen Entwicklung<br />

dienen. Die Kommission hat am 15. 5.<br />

2001 ihre Strategie zur nachhaltigen Entwicklung<br />

vorgestellt: „Nachhaltige Entwicklung für <strong>Europa</strong><br />

für eine bessere Welt: Strategie der Europäischen<br />

Union für die nachhaltige Entwicklung“. Der Europäische<br />

Rat in Göteborg hat diese Strategie im Juni<br />

2001 in ihren Grundzügen gebilligt. Erstes Ziel der<br />

Strategie ist der Kampf gegen die Klimaänderung<br />

durch Einhaltung der durch Unterzeichnung des<br />

Kyoto-Protokolls eingegangenen Verpflichtung der<br />

EU zur Reduzierung der Treibhausgase. Weitere<br />

Ziele sind: Beherrschung der für die öffentliche Gesundheit<br />

– insbes. von Chemikalien – ausgehenden<br />

Gefahren; nachhaltige Bewirtschaftung der natürlichen<br />

Ressourcen; Begrenzung der negativen AuswirkungendesStraßenverkehrs.<br />

K. E.<br />

Internet: www.nachhaltigkeit.info<br />

Literatur:<br />

Klemmer, P.: Nachhaltige Entwicklung – aus ökonomischer<br />

Sicht. In: Zeitschrift für angewandte Umweltforschung.<br />

H. 1/1994, S. 14 – 19<br />

Meyers, R./Waldmann, J.: Der Begriff „Sustainable Development“,<br />

seine Tauglichkeit als Leitfigur der Entwicklung von<br />

Problembearbeitungskonzepten im ökologischen Krisenkontext<br />

und im sozioökonomischen Verteilungszusammenhang.<br />

In: Engelhard, K. (Hg.), Umwelt und Entwicklung.<br />

Ein Beitrag zur lokalen Agenda 21. Münster 1998<br />

Der Binnenmarkt nach 1992 – Die Herausforderung aufnehmen.<br />

Bericht der hochrangigen „Beratergruppe Binnenmarkt“<br />

an die Kommission der Europäischen Gemeinschaften.<br />

Brüssel 1992 (Sutherland-Bericht)<br />

Nachhaltigkeitsstrategie, nationale. Auf der<br />

WeltkonferenzfürUmweltundEntwicklung1992in<br />

Rio de Janeiro haben sich die Staaten, die die Agenda<br />

21 unterschrieben haben, dazu verpflichtet, nationale<br />

Nachhaltigkeitsstrategien aufzustellen. Die Strategien<br />

sollen dazu führen, dass alle Politikbereiche<br />

Nahrungsmittelhilfe<br />

unter das Leitbild �Nachhaltigkeit gestellt werden<br />

unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen, ökologischen<br />

und sozialen Aspekte.<br />

Nahrungsmittelhilfe / Soforthilfe / Katastrophenhilfe<br />

(Humanitäre Hilfe)<br />

1. Begriffe und rechtliche Grundlagen. Mit „Nahrungsmittelhilfe“<br />

bezeichnet man die Lieferung von<br />

Nahrungsgütern, die ein Empfängerland aufgrund<br />

von Förderungsmaßnahmen eines Geberlandes/einer<br />

Geberorganisation zu Vorzugsbedingungen erhält.<br />

Es handelt sich hauptsächlich um einen in der<br />

�Entwicklungspolitik anzusiedelnden Vorgang.<br />

Im Jahr 2002/03 machte Nahrungsmittelhilfe etwa<br />

die Hälfte aller Hilfslieferungen der EU aus. Sie wird<br />

in der Regel als Geschenk, häufig in Form von Warenhilfe<br />

gegeben und vielfach von Hilfsorganisationen<br />

wie z. B. dem Roten Kreuz durchgeführt. Nahrungsmittelhilfe<br />

zur Linderung akuter Notlagen und<br />

Katastrophen- und Soforthilfe wird unter dem Begriff<br />

„Humanitäre Hilfe“ subsummiert: Sie umfasst<br />

neben Nahrungsmittellieferungen je nach Lage des<br />

Einzelfalls Warenlieferungen verschiedenster Art<br />

(Medikamente, Zelte, Decken, Notunterkünfte<br />

usw.), personelle Hilfe und zweckgebundene finanzielle<br />

Hilfe.<br />

Während die humanitäre Hilfe auf die Behebung<br />

akuter Notlagen ausgerichtet ist und dementsprechend<br />

rasch und flexibel einsetzbar sein muss, um<br />

kurzfristig Not lindern zu können, steht die Nahrungsmittelhilfe,<br />

soweit sie nicht zur Katastrophenhilfe<br />

eingesetzt wird, unter der entwicklungspolitischen<br />

Zielsetzung, durch Unterstützung wirtschaftlichen<br />

und sozialen Fortschritts die Lebensbedingungen<br />

der betroffenen Menschen dauerhaft zu verbessern.<br />

Sie ist sowohl in die entwicklungspolitische<br />

Gesamtkonzeption der Geberländer als auch in den<br />

gesamtwirtschaftlichenundsozialenZielrahmender<br />

Empfängerländer eingebettet.<br />

Erst mit Inkrafttreten des Maastrichter Vertrages am<br />

1. 11. 1993 haben Nahrungsmittel- und Katastrophenhilfe<br />

der EU eine einwandfreie Rechtsgrundlage<br />

erhalten. Vorher stützten sie sich – rechtlich umstritten<br />

– auf die Art. 43 und 113 bzw. 235 EWGV,<br />

außerdemaufdas �Lomé-Abkommen(nachArt.238<br />

EWGV).<br />

Nach Art. 177 bis 181 EGV fördert die Europäische<br />

Union, ergänzend zur entsprechenden Politik der<br />

Mitgliedstaaten,<br />

549


Nahrungsmittelhilfe<br />

– „die nachhaltige wirtschaftliche und soziale Entwicklung<br />

der Entwicklungsländer, insbes. der am<br />

meisten benachteiligten Entwicklungsländer;<br />

– die harmonische, schrittweise Eingliederung der<br />

Entwicklungsländer in die Weltwirtschaft;<br />

– die Bekämpfung der Armut in den Entwicklungsländern“.<br />

Damit sind Nahrungsmittel- und Katastrophenhilfe<br />

eindeutig Bestandteile der Entwicklungspolitik.<br />

Während die Nahrungsmittelhilfe der EG ursprünglich<br />

der Agrar- und Handelspolitik zugeordnet war,<br />

ist die Katastrophenhilfe als humanitäre Verpflichtung<br />

ein besonderes Instrument, das sich nicht in herkömmliche<br />

Politikbereiche einordnen lässt. Mit dem<br />

Nahrungsmittelhilfe-Abkommen von 1967 im Rahmen<br />

der UN, dem die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten<br />

beitraten, gründet sich die NahrungsmittelhilfeaußerdemaufinternationaleVertragsverpflichtungen.<br />

2. Nahrungsmittel- und Katastrophenhilfe der EG.<br />

Ähnlich wie in den USA war auch für die EG die<br />

Überschussproduktion von Getreide, später auch<br />

von anderen Produkten (Milcherzeugnisse, Magermilchpulver,Butterfett)derAnstoßfürihreAktivitäten<br />

auf dem Gebiet der Nahrungsmittelhilfe. Bis<br />

1972 wurden alle Hilfsmaßnahmen mit Milcherzeugnissen<br />

aus dem Europäischen Ausrichtungsund<br />

Garantiefonds für die Landwirtschaft (EAGFL,<br />

�Fonds der EU) finanziert.<br />

Unter maßgeblicher Beteiligung des Europäischen<br />

Parlamentshatsichinden1970erJahrendieKonzeptionundDurchführungderNahrungsmittelhilfekontinuierlich<br />

zu einem Bestandteil der Entwicklungspolitik<br />

weiterentwickelt. Während die Hilfe mit<br />

Milcherzeugnissen usw. autonom von der Gemeinschaft<br />

durchgeführt wird, bestehen bei der Getreidehilfe<br />

geteilte Zuständigkeiten zwischen Gemeinschaft<br />

und Mitgliedstaaten.<br />

Am 1. 3. 1992 wurde ein Europäisches Amt für humanitäre<br />

Hilfe (�ECHO) eingerichtet. Es ist zuständig<br />

für den Bereich der Nahrungsmittelhilfe, für reguläre<br />

Soforthilfe, Nahrungsmittelsoforthilfe,<br />

Flüchtlingshilfe für Entwicklungsländer, für osteuropäische<br />

Länder und für andere Staaten. Das Amt<br />

soll über einen Lagervorrat verfügen, um in Katastrophenfällen<br />

sofort handeln zu können. Damit<br />

Haushaltsmittelschnellverfügbarsind,solleinespezielle<br />

Reserve im Haushalt der Gemeinschaft<br />

eingerichtet werden. Damit ist ein Instrument ge-<br />

550<br />

schaffen worden, das entsprechende Hilfsprogramme<br />

effizienter macht.<br />

3. Entwicklungspolitische Aspekte der Nahrungsmittelhilfe.<br />

Obwohl Nahrungsmittelhilfe zur Bekämpfung<br />

des Hungers in der Welt eingesetzt wird,<br />

ist sie nicht unumstritten. Mit Ratsbeschluss vom<br />

Dezember 1986 wurde sie in einen entwicklungspolitischen<br />

Gesamtrahmen gestellt und der Bezug zur<br />

�Gemeinsamen Agrarpolitik gestrichen. Angesichts<br />

der geteilten Zuständigkeit zwischen Gemeinschaft<br />

und Mitgliedstaaten besteht die latente Gefahr, dass<br />

Nahrungsmittelhilfe zum Abbau von Agrarüberschüssen<br />

verwendet wird. Größer sind jedoch andere<br />

Risiken:<br />

– Im Übermaß und als Dauerhilfe angewendet, wirkt<br />

sie sich nachteilig auf die eigene Agrarproduktion im<br />

Empfängerland aus, weil sie die dortigen Erzeugerpreise<br />

drückt und damit Anreize für eine Intensivierung<br />

und Steigerung der landwirtschaftlichen Eigenerzeugung<br />

nimmt.<br />

– Nahrungsmittelhilfe kann ohne Berücksichtigung<br />

der Ernährungsweise der Empfänger Verbrauchergewohnheiten<br />

ändern und zu Abhängigkeiten führen,<br />

die sich nicht beheben lassen, sofern natürliche<br />

Schranken, Kapitalmangel usw. eine entsprechende<br />

Anpassung der eigenen Landwirtschaft nicht zulassen.<br />

– Langfristig kann Nahrungsmittelhilfe zu einer<br />

Nehmermentalität führen, die jede Motivation zur<br />

Produktivitätssteigerung der Eigenproduktion im<br />

Nehmerland erstickt.<br />

– Ein aktuell diskutiertes Problem im Zusammenhang<br />

mit Nahrungsmittelhilfe ist die Lieferung von<br />

genetisch modifizierten Produkten. Die Kontroverse<br />

um die US-Lieferung von gentechnisch verändertem<br />

Mais ins südliche Afrika im Jahr 2002 hat deutlich<br />

gezeigt, welche politischen Empfindlichkeiten und<br />

Probleme dadurch entstehen können.<br />

Deshalb hat die EU ihre Politik der Nahrungsmittelhilfe<br />

geändert. Die Hilfe wird in langfristige Strategien<br />

zur Armutsbekämpfung und Stärkung der landwirtschaftlichen<br />

Produktion eingebunden, um die<br />

selbständige Versorgung der betroffenen Regionen<br />

zu fördern. Wo Nahrungsmittelhilfe notwendig ist,<br />

werden die Lebensmittel möglichst in benachbarten<br />

Regionen eingekauft, um die dortige Agrarwirtschaft<br />

und die Märkte zu stärken. Zudem wird ein<br />

Frühwarnsystem eingerichtet, um Hungersnöte im<br />

Vorfeld erkennen und bekämpfen zu können. Die


Mitgliedstaaten und die Kommission der EU haben<br />

sichimRahmenderInternationalenNahrungsmittelhilfe-Übereinkunft<br />

(FAC) 1999 verpflichtet, 1,32<br />

Mio. t Getreide oder vergleichbare Produkte an Entwicklungsländer<br />

zu liefern. Zusätzlich stellen sie<br />

130 Mio. Euro für Nahrungsmittelhilfe zur Verfügung.<br />

Im Jahr 2004 hatte das Nahrungsmittelhilfe-<br />

Programm der EU einen Umfang von 436 Mio. Euro.<br />

K.-H. O<br />

Literatur:<br />

Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und<br />

Entwicklung: Materialien Entwicklungspolitik Nr. 82, Lomé<br />

IV. Bonn 1991<br />

Dass.: Medienhandbuch Entwicklungspolitik, Berlin 2002<br />

E+Z, Zeitschrift für Entwicklung und Zusammenarbeit:<br />

Nahrungsmittelhilfe (Themenheft). 45. Jg., 6/2004<br />

NARIC (National Academic Recognition Information<br />

Centres). Ein 1984 geschaffenes Netz von nationalen<br />

Zentren, die über die akademische Anerkennung<br />

von ausländischen Hochschulabschlüssen und<br />

im Ausland absolvierten Studienzeiten informieren<br />

und beraten. Die Kommission unterstützt das<br />

NARIC-Netz im Rahmen des �Sokrates-Programms.<br />

NARIC-Zentren gibt es in allen EU-Staaten,<br />

den Beitrittskandidaten Bulgarien und Rumänien<br />

und den zum EWR gehörenden EFTA-Staaten<br />

Island, Liechtenstein und Norwegen.<br />

Die NARIC-Zentren sind auch zuständig für die Information<br />

und Beratung in Fällen, die das gemeinsame<br />

Übereinkommen von <strong>Europa</strong>rat und Unesco betreffen<br />

und arbeiten mit deren �ENIC-Netz zusammen.ENIC(EuropeanNetworkofNationalInformation<br />

Centres on academic recognition and mobility)<br />

und NARIC haben eine gemeinsame Website unter<br />

www.enic-naric.net.<br />

Nationale Aktionspläne Beschäftigung �Beschäftigungspolitik<br />

Ziff. 3, �Luxemburg-Prozess<br />

Ziff. 2, Ziff. 3<br />

Nationaler Alleingang. Insbesondere im Bereich<br />

deseuropäischenArbeits-undSozialrechts(Art.137<br />

Abs. 5 EGV) und der Umweltpolitik (Art. 176 EGV),<br />

aberauchimBereichderRechtsangleichung(Art.95<br />

Abs. 4–7 EGV) sieht der EG-Vertrag heute vor, dass<br />

die Mitgliedstaaten verstärkte Schutzmaßnahmen<br />

ergreifenoderbeibehaltendürfen.DerVertragräumt<br />

hier mithin (unter bestimmten Umständen) ausdrücklich<br />

das Recht zum nationalen Alleingang ein.<br />

Natura 2000<br />

Damit wird den Mitgliedstaaten die Gelegenheit gegeben,<br />

die oftmals systemimmanente Tendenz zur<br />

Harmonisierung auf niedrigem oder nur mittlerem<br />

Schutzniveau („Geleitzugprinzip“) zu durchbrechen.<br />

(Siehe allgemein auch unter �Vorrangfrage<br />

Gemeinschaftsrecht–NationalesRecht.) J. M. B.<br />

Nationale Zentralbanken �Zentralbanken, nationale<br />

NATO (North Atlantic Treaty Organization/Nordatlantikpakt),<br />

wurde am 4. 4. 1949 als Verteidigungsbündnis<br />

von den fünf Staaten des Brüsseler Pakts<br />

(�Westeuropäische Union), den USA und Kanada<br />

sowie Dänemark, Norwegen, Island, Portugal und<br />

Italien auf Grundlage des Nordatlantikvertrags gegründet.<br />

Griechenland und die Türkei traten 1952,<br />

die Bundesrepublik Deutschland 1955 und Spanien<br />

1982 bei.<br />

1999 wurde die NATO um Polen, die Tschechische<br />

Republik und Ungarn erweitert. 2004 wurden Bulgarien,<br />

Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, die Slowakei<br />

und Slowenien aufgenommen; damit wuchs<br />

die NATO auf 26 Mitglieder.<br />

Griechenland verließ 1974 die NATO, trat ihr 1981<br />

aberwiederbei.Frankreichzogsich1966ausdenmilitärischen<br />

Strukturen der NATO zurück, blieb aber<br />

politisches Mitglied. 1996 kündigte Frankreich die<br />

Wiederaufnahme seiner militärischen Beteiligung<br />

an. Spanien verließ 1986 die militärischen Strukturen<br />

und gliederte 1999 seine Streitkräfte wieder ein.<br />

Sitz der NATO ist Brüssel.<br />

1997 wurde der Euro-Atlantische Partnerschaftsrat<br />

(EAPC) gegründet. Er dient der Zusammenarbeit<br />

zwischen der NATO und den 20 Staaten des 1991 gegründeten<br />

Nordatlantischen Kooperationsrats (1997<br />

aufgelöst) und der 1994 initiierten „Partnerschaft für<br />

den Frieden“: die EU-Staaten Finnland, Irland,<br />

Schweden und Österreich, ferner die Schweiz sowie<br />

Albanien, Armenien, Aserbeidschan, Georgien, Kasachstan,<br />

Kirgisistan, Kroatien, Makedonien, Moldawien,<br />

Russland, Tadschikistan, Turkmenistan, die<br />

Ukraine, Usbekistan und Weißrussland.<br />

Zur Zusammenarbeit EU – NATO �EU-NATO-<br />

Dauervereinbarungen, �ESVP<br />

Natura 2000. EU-Schutzgebietssystem zur Bewahrung<br />

der freilebenden Tier- und Pflanzenwelt und ihrer<br />

Lebensräume. Die „Special Area of Conservati-<br />

551


Natura 2000<br />

on“ (SAC) der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie<br />

(�FFH-Richtlinie) bilden zusammen mit den auf der<br />

Basis der Vogelschutzrichtlinie ausgewiesenen<br />

„Special Protected Areas“ (SPA) das europäische<br />

Schutzgebietssystem Natura 2000. Ziel bei der Ausweisung<br />

dieses Netzes in seiner Gesamtheit ist die<br />

Gewährleistung des Erhaltes der in den jeweiligen<br />

Anhängen zur FFH-Richtlinie und zur Vogelschutzrichtlinie<br />

aufgeführten Arten und Lebensraumtypen.<br />

Hierunter wird sowohl die Bewahrung als auch die<br />

Wiederherstellung eines „günstigen Erhaltungszustands<br />

der natürlichen Lebensräume und wildlebenden<br />

Tier- und Pflanzenarten von gemeinschaftlichem<br />

Interesse“ verstanden. Das Natura 2000-Programm<br />

ist die wichtigste Initiative der EU zur Erreichung<br />

der Ziele des Naturschutzes. Zur Schaffung<br />

dieses europäischen ökologischen Netzes ist jeder<br />

Mitgliedstaat dazu verpflichtet, Standorte, welche<br />

für den Schutz der unter die FFH-Richtlinie und die<br />

Vogelschutzrichtlinie fallenden Arten und Habitate<br />

von Bedeutung sind, zu erfassen und als besondere<br />

Schutzgebiete vorzuschlagen. Die Staaten haben dabei<br />

zur langfristigen Erhaltung dieser Gebiete für die<br />

nötigen Verwaltungsakte und Verträge sowie evtl.<br />

notwendigen Bewirtschaftungspläne zu sorgen. Dadurch<br />

sollen die menschlichen Einwirkungen in eine<br />

nachhaltige Entwicklungsstrategie (�Nachhaltigkeit)<br />

eingebunden werden. Es ist jedoch den Mitgliedstaaten<br />

überlassen, in welcher Art und Weise –<br />

und mit welchen Schutzgebietstypen – sie an diesem<br />

Netzwerk mitwirken. Jedenfalls müssen die aufgrund<br />

der landschaftsökologischen, faunistischen<br />

und floristischen Ausstattung relevanten FFH-Gebiete<br />

der EU gemeldet werden. Als Schutzgebietstypen<br />

kommen in Deutschland u. a. Nationalparks, Biosphärenreservate,<br />

Naturparks, großflächige Landschaftsschutzgebiete<br />

und Naturschutzgebiete in Frage.<br />

Die Ausweisung solcher besonderer Schutzgebiete<br />

erfolgt in drei Phasen. Zunächst legt jeder Mitgliedstaat<br />

anhand der in den Anhängen zur Vogelschutzrichtlinie<br />

und zur FFH-Richtlinie festgelegten Kriterien<br />

eine Liste der Gebiete mit natürlichen Lebensräumen<br />

und wildlebenden Tier- und Pflanzenarten<br />

vor. Als nächsten Schritt erstellt die Kommission aus<br />

diesen Listen und im Einvernehmen mit den Mitgliedstaaten<br />

eine Liste der Gebiete von gemeinschaftlicher<br />

– also über den Mitgliedstaat hinausgehender<br />

– Bedeutung. Dafür kommen etwa Gebiete<br />

552<br />

mit dem Vorkommen einer gefährdeten, vor allem<br />

dort beheimateten und nur durch den konsequenten<br />

Schutz des Gebietes überlebensfähigen Art oder<br />

mehrerer solcher Arten in Frage oder Gebiete, die<br />

aufgrund ihrer Bedeutung als Rast- und Überwinterungsplatz<br />

internationale Bedeutung haben. Ist ein<br />

solches Gebiet von gemeinschaftlicher Bedeutung<br />

ausgewählt worden, weist der betreffende Mitgliedstaat<br />

dieses Gebiet im Laufe von spätestens sechs<br />

Jahren als besonderes Schutzgebiet aus.<br />

Ist nach Ansicht der Kommission ein Gebiet mit einem<br />

prioritären natürlichen Lebensraumtyp oder einer<br />

prioritären Art in einer nationalen Liste nicht aufgeführt,<br />

sieht die Richtlinie die Einleitung eines sog.<br />

Konzertierungsverfahrens zwischen dem betreffenden<br />

Mitgliedstaat und der Kommission vor. Führt<br />

dieses nicht zu einem zufriedenstellenden Ergebnis,<br />

kann die Kommission dem Rat vorschlagen, das Gebiet<br />

als Gebiet von gemeinschaftlicher Bedeutung<br />

auszuwählen.<br />

Die Mitgliedstaaten haben in den besonderen<br />

Schutzgebieten alle erforderlichen Maßnahmen zu<br />

treffen, um die Erhaltung der Lebensräume zu garantieren<br />

und ihre Verschlechterung zu vermeiden. Die<br />

Richtlinie sieht auch die Möglichkeit einer Mitfinanzierung<br />

der Erhaltungsmaßnahmen durch die Gemeinschaft<br />

vor.<br />

Zur langfristigen Sicherung wertvoller Lebensräume<br />

– insbes. in Kulturlandschaftsbiotopen – reichen<br />

jedochdieMittelnachAnsichtvonNaturschutzfachleuten<br />

bei weitem nicht aus.<br />

Die Mitgliedstaaten haben bei der Umsetzung des<br />

Natura 2000-Programms u. a. folgende Aufgaben:<br />

– Förderung der Verwaltung von Landschaftselementen,<br />

welche sie für die Migration, die Verbreitung<br />

und den genetischen Austausch von wildlebenden<br />

Arten für wesentlich halten;<br />

– Einführung eines strengen Schutzsystems für bestimmte<br />

bedrohte Tier- und Pflanzenarten (Anhang<br />

IV FFH-Richtlinie) und Prüfung der Möglichkeiten,<br />

diese Arten auf ihrem Gebiet neu einzuführen (Wiederansiedlung);<br />

– VerbotderAnwendungnicht-selektiverMethoden<br />

der Entnahme aus der Natur, des Fangs und der Tötung<br />

bestimmter Tier- und Pflanzenarten (Anhang V<br />

FFH-Richtlinie);<br />

– Die Mitgliedstaaten sollen die Forschungen und<br />

wissenschaftlichen Arbeiten, die zu den Zielen der<br />

Richtlinie beitragen können, fördern.


Alle sechs Jahre berichten die Mitgliedstaaten über<br />

die durch Anwendung der Richtlinie getroffenen<br />

Maßnahmen. Auf der Grundlage dieser Berichte erstellt<br />

die Kommission einen Synthesebericht. (Ändernder<br />

Rechtsakt mit Termin für die Umsetzung in<br />

den Mitgliedstaaten: Richtlinie 97/62, ABl. L 305/<br />

1997.) Mit der EU-Osterweiterung zum 1. 5. 2004<br />

wurden die Anhänge der FFH Richtlinie geändert,<br />

um auch die biologische Vielfalt in diesen Ländern<br />

zu berücksichtigen. Die 10 neuen Mitgliedstaaten<br />

mussten ihre Schutzgebietslisten bis zum 1. 5. 2004<br />

einreichen (ABl. L 236/2003).<br />

Dass die FFH-Richtlinie nur mit erheblichen Verzögerungen<br />

umgesetzt wird, kritisieren nicht nur Wissenschaftler<br />

und Non-Governmental-Organizations<br />

(NGOs), sondern wird auch von der EU-Kommission<br />

im Bericht vom 5. 1. 2004 über die Umsetzung der<br />

Richtlinie 92/43 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume<br />

sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen<br />

eingeräumt (KOM 2003/845 endg. – nicht im<br />

ABl. veröffentlicht).<br />

Mit diesem Bericht, welcher den Zeitraum von 1994<br />

bis Ende 2000 umfasst, werden erhebliche Verzögerungen<br />

bei der Umsetzung der Habitatrichtlinie festgestellt.<br />

Die Auswahl der ausgewiesenen Gebiete<br />

kommt in den meisten Ländern nur schleppend voran,<br />

es gibt noch immer Lücken in sämtlichen einzelstaatlichen<br />

Listen. Dennoch spricht die Kommission<br />

von erheblichen Fortschritten beim Aufbau des Netzes<br />

Natura 2000 zwischen der Abfassung des Berichts<br />

und dem Ende des Berichtszeitraums.<br />

Bei der Erhaltung von Gebieten teilt der Bericht die<br />

Länder bzw. Regionen in drei Gruppen auf:<br />

– Länder bzw. Regionen, welche für alle vorgeschlagenen<br />

Gebiete einen umfassenden Rechtsschutz eingerichtet<br />

haben (insbes. Großbritannien, Irland und<br />

Galizien).<br />

– Länder bzw. Regionen, die bestimmte administrative<br />

Maßnahmen zur Erhaltung aller ihrer vorgeschlagenen<br />

Gebiete eingeführt haben.<br />

– Länder bzw. Regionen, welche die Erhaltung der<br />

vorgeschlagenen Gebiete innerhalb bereits bestehender<br />

Gebiete gewährleisten und somit keine neuen<br />

Gebiete auswählen.<br />

In Deutschland sind nach gegenwärtigem Recht<br />

(2004) die Bundesländer für die Umsetzung von Natura<br />

2000 zuständig. Für die ausschließliche deutsche<br />

Wirtschaftszone der Nord- und Ostsee ist das<br />

BundesamtfürNaturschutz(BfN,Bonn)fürdieAus-<br />

Naturschutz<br />

wahl der Natura 2000 Flächen zuständig; (Neuregelungsgesetz<br />

zum Bundesnaturschutzgesetz v. 4. 4.<br />

2002).DieAusweisungderSchutzgebietsflächenerfolgt<br />

dann durch das Bundesministerium für Umwelt,<br />

Naturschutz und Reaktorsicherheit.<br />

Mit dem Beitritt der 10 neuen Mitgliedstaaten zum<br />

1. 5. 2004 wurde das zukünftige Schutzgebietsnetz<br />

Natura 2000 um wertvollste Lebensräume sowie<br />

Tier- und Pflanzenarten bereichert. Die Anhänge der<br />

FFH-Richtlinie wurden entsprechend überarbeitet<br />

und um 20 neue Lebensraumtypen (6 davon prioritär)<br />

und neue Arten ergänzt. Damit wird zumindest<br />

aufrechtlicherEbenederSchutzstatusvonHabitaten<br />

undArtenindenneubeigetretenenLändernganzwesentlich<br />

verbessert. Jetzt kommt es darauf an, dies<br />

nicht durch eine fehlgeleitete Subventionspolitik zu<br />

konterkarieren. C.-P. H.<br />

Naturschutz<br />

1. Begriff, Bedeutung. Unter Naturschutz – als einem<br />

wichtigen Teilgebiet des �Umweltschutzes – ist<br />

(nach Jedicke, 1995) die gleichberechtigte Erfüllung<br />

der sich gegenseitig durchdringenden Aufgabenbereiche<br />

Artenschutz, Biotopschutz, Ressourcenschutz,<br />

Prozessschutz und Ästhetischer Landschaftsschutz<br />

zu verstehen. Seit der Umweltkonferenz<br />

der Vereinten Nationen 1992 in Rio de Janeiro<br />

wird Naturschutz zunehmend als integrativer Teil<br />

der Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen<br />

auch als Beitrag für eine nachhaltige Entwicklung<br />

(�Nachhaltigkeit) verstanden. Naturschutz ist damit<br />

letztlich für die EU ein ressortübergreifendes Thema,<br />

welches – wie überhaupt der gesamte Umweltschutz<br />

– in alle Politikbereiche Eingang finden muss,<br />

um das Naturerbe auf dem Gebiet der EU ungeschmälert<br />

an künftige Generationen weiterreichen<br />

zu können.<br />

Heute ist die Bewahrung des Naturerbes in der EU<br />

eine der größten Herausforderungen für die einzelnen<br />

Mitgliedstaaten wie für die EU selbst. Denn der<br />

Verlust der biologischen Vielfalt hat bedrohliche<br />

Ausmaße angenommen.<br />

2. Situation. Auf dem europäischen Kontinent sind<br />

42 % der Säugetiere, 15 % der Vögel, 45 % der<br />

Schmetterlinge, 30 % der Amphibien, 45 % der Reptilien<br />

und 52 % der Süßwasserfische gefährdet oder<br />

vom Aussterben bedroht. Bei einer Gruppe von 23<br />

heimischen Feldvogelarten und 24 heimischen<br />

Waldvogelarten,welchein18europäischenLändern<br />

553


Naturschutz<br />

beobachtet wurden, musste zwischen 1980 und 2002<br />

ein Rückgang von 71 Prozent festgestellt werden. Zu<br />

den hoch bedrohten Arten in der EU gehört u. a. der<br />

Iberische Luchs. Von der einst in Spanien und Portugal<br />

weit verbreiteten Großkatze gibt es nur noch einige<br />

hundert Exemplare in wenigen isolierten Gebieten<br />

in Spanien. Damit gehört der Iberische Luchs zu<br />

den weltweit am stärksten gefährdeten Großkatzen.<br />

Das Beispiel zeigt deutlich, dass nicht nur in sog.<br />

Dritte-Welt-Ländern Natur bedroht ist und die wirtschaftlich<br />

starke EU ihre „Hausaufgaben“ beim Naturschutz<br />

noch lange nicht erledigt hat. Dies gilt auch<br />

für andere Großsäuger wie Braunbär, Wolf, Europäischer<br />

Luchs und Wildkatze. Noch immer sterben<br />

Wildtiere und alte, an die jeweiligen Landschaftsformen<br />

angepasste Haustierrassen aus.<br />

Die Ursachen für die Bedrohung der Fauna und Flora<br />

in <strong>Europa</strong> sind vielfältig, die Hauptursache liegt aber<br />

eindeutigimrapidenVerlustderLebensräume.Dazu<br />

gehört sowohl die immer weitere Zurückdrängung<br />

unberührter Naturlandschaften wie auch die Veränderung<br />

besonders der landwirtschaftlichen Praktiken<br />

in genutzten Kulturlandschaften. So wurden<br />

zahlreiche Feuchtgebiete – etwa in Griechenland,<br />

Italien, Spanien, Portugal oder in Südfrankreich –<br />

durchEntwässerung,AuffüllungundandereFormen<br />

der Urbarmachung ganz oder teilweise zerstört. Damit<br />

fehlen wichtige Brutgebiete für Vogelarten, die<br />

auf Feuchtlebensräume angewiesen sind. Zugleich<br />

fehlen Rast- Nahrungs- und Überwinterungsflächen<br />

für Watvögel, Enten, Gänse, Taucher, Reiher, Störche,<br />

Kraniche und andere Arten. In vielen ursprünglichen,<br />

noch wenig vom Menschen veränderten Gebirgslagen<br />

erfolgte vor allem in den 1970er und<br />

1980er Jahren die Erschließung mit Wegen und Straßen<br />

sowie die Anlage touristischer Einrichtungen<br />

wie etwa Skilifte und dergleichen. Viele naturnahe<br />

Waldbereiche gingen in den vergangenen Jahrzehnten<br />

durch die Anlage von Wohn- und Gewerbegebieten,<br />

Brandstiftung und anschließende Überweidung,<br />

Rodung und spätere Umwandlung in forstliche Intensivkulturen<br />

verloren. In der spanischen Extremadura<br />

wurden in den 1980er Jahren mediterrane Hartlaubwälder<br />

in monotone und – in <strong>Europa</strong> lebensfeindliche<br />

– Eukalyptuskulturen umgewandelt. Solche<br />

finden sich großflächig auch in Asturien und Galizien<br />

im Norden Spaniens, wo urwüchsige Bergwälder<br />

den schnellwachsenden Baumarten weichen<br />

mussten. In der Folge verloren viele Tierarten – unter<br />

554<br />

ihnen der Iberische Braunbär – einen Teil ihrer angestammten<br />

Lebensräume. Viele Tierarten sind auch<br />

durch direkte Verfolgung – etwa im Rahmen illegaler<br />

Jagd und Wilderei – gefährdet. Ein Beispiel ist die<br />

heute noch viel zu wenig kontrollierte Tötung von<br />

Zugvögeln durch Abschuss und den Fang mit Netzen<br />

und Leimruten, z. B. auf Malta oder in Süditalien.<br />

Viele Tier- und Pflanzenarten verlieren ihre Lebensgrundlage<br />

durch die immer stärkere Fragmentierung<br />

und Zerschneidung von Lebensräumen, den Bau von<br />

Straßen und andere Verkehrswege. Die Bedrohung<br />

des Naturerbes erfolgt jedoch auch durch die Vernichtung<br />

von Lebensräumen der Kulturlandschaft.<br />

Hauptursache ist der Strukturwandel in der Landwirtschaft<br />

und deren stetige Intensivierung durch<br />

großflächigen Ackerbau, den Einsatz von Pestiziden<br />

und die damit verbundene Beeinträchtigung bzw.<br />

Vernichtung vieler Biotopelemente wie Hecken,<br />

Feldgehölze, Raine bzw. die Aufgabe traditioneller<br />

Nutzungen. Dazu hat zum Großteil die EU durch ihre<br />

Förderpolitik im Rahmen der �Gemeinsamen Agrarpolitik(GAP)sowieder<br />

�Strukturfondsbeigetragen.<br />

Umweltverbände kritisierten jahrelang, dass viele<br />

Milliarden Subventionsgelder Natur und Landschaft<br />

sowie die Lebens- und Umweltqualität der Bürger<br />

vernichten. Auch der Europäische Rechnungshof<br />

wies mit verschiedenen Sonderberichten auf Fehlsubventionen<br />

bzw. Subventionsmissbrauch zu Lasten<br />

der natürlichen Lebensgrundlagen hin. Nicht<br />

besser steht es um die Meeresbiotope der EU. Durch<br />

Schadstoffeinleitungen, Überfischung, Zerstörung<br />

von Laichgebieten u. a. Einflüsse stehen nach Angaben<br />

der EU 80 Prozent der Fischbestände der EU vor<br />

dem Zusammenbruch oder es ist ihr Zustand unbekannt.<br />

40 Prozent der Fischfänge in der EU wurden<br />

(2001) aus Beständen erzielt, welche die sichere biologische<br />

Grenze bereits unterschritten hatten. Und<br />

für verschiedene Fischarten – vor allem bei Kabeljau,<br />

Schellfisch, Seehecht und andere Rundfische,<br />

sowie für Lachs und Meeresforelle – lag der Anteil<br />

schon bei 60 Prozent (�Fischereipolitik). Ein zunehmendes<br />

Problem für den Naturschutz ist auch das<br />

Vordringen invasiver – also ursprünglich nicht heimischer–Arten,welcheandereArtenundLebensgemeinschaften<br />

gefährden können. Dazu gehört u. a.<br />

der Amerikanische Ochsenfrosch, welcher z. B. für<br />

heimische Amphibien eine große Gefahr darstellt,<br />

weil er deren Bestände vernichtet.<br />

3. Geschichte, Entwicklung. Eine der ersten umfas-


senderen Maßnahmen der EU gegen den Artenschwund<br />

und die Lebensraumvernichtung war 1979<br />

die �Vogelschutz-Richtlinie. 1992 folgte die Fauna-Flora-Habitatrichtlinie<br />

(�FFH-Richtlinie), quasi<br />

das moderne Naturschutzgesetz der EU. Aus den<br />

nach der FFH-Richtlinie und der Vogelschutzrichtlinie<br />

ausgewiesenen Gebiete wird das �Natura-2000<br />

Netz entwickelt. So soll ein Verbund von Lebensräumen<br />

geschaffen und gesichert werden, mit dem die<br />

Bewahrung des Naturerbes gelingen und das vom<br />

Europäischen Rat festgelegte Ziel, den Verlust an<br />

Biodiversität bis zum Jahr 2010 zu stoppen, erreicht<br />

werden soll.<br />

Zur Unterstützung der Naturschutzziele hat die EU<br />

1992 innerhalb des Programms �LIFE die Initiative<br />

LIFE-NATURE aufgelegt. Es soll zur Kofinanzierung<br />

von Projekten dienen, welche der Erhaltung der<br />

natürlichen Umwelt und der Umsetzung der Vogelschutz-<br />

und der FFH-Richtlinie dienen. Die hierfür<br />

aufgewandten Mittel sind jedoch nur ein Bruchteil<br />

der Mittel, die letztlich für umweltschädliche Investitionen<br />

ausgegeben wurden, und stehen so in krassem<br />

Gegensatz zu den erheblichen Finanzmitteln,<br />

deren Einsatz direkt oder indirekt zum Artenschwund<br />

und zur Habitatzerstörung führten und führen.AußerdemhatdieEU1992dasaufdemWeltgipfel<br />

von Rio verabschiedete Übereinkommen über die<br />

Biologische Vielfalt unterzeichnet. Hauptziele sind<br />

Schutz und Erhalt der biologischen Vielfalt, die<br />

nachhaltige Nutzung ihrer Bestandteile und die ausgewogene<br />

und gerechte Aufteilung der sich aus der<br />

Nutzung der genetischen Ressourcen ergebenden<br />

Vorteile. Hierzu wurden 2001 vier Aktionspläne zur<br />

Biologischen Vielfalt aufgelegt. Sie legen die Einzelheiten<br />

der Umsetzung der Strategie zur Biologischen<br />

Vielfalt fest und behandeln Fragen zur Landwirtschaft,<br />

Fischerei, Nutzung natürlicher Ressourcen<br />

und die Wirtschafts- und Entwicklungszusammenarbeit.<br />

Damit soll sichergestellt werden, dass die<br />

Maßnahmen auf diesen Politikfelder nicht die Erhaltungsanstrengungen<br />

unterlaufen.<br />

4. Ausblick. Eine Verbesserung der Situation erhoffen<br />

sich viele Naturschützer durch die Agrarreform.<br />

2003 erfolgte eine Halbzeitbewertung der �Gemeinsamen<br />

Agrarpolitik (GAP), in deren Folge die frühere(undinihrenAuswirkungenaufdenNaturhaushalt<br />

so katastrophale) Verknüpfung von Subventionen<br />

undProduktionsmengengekapptwird.ImGegenzug<br />

sollen die nachhaltige Entwicklung des ländlichen<br />

Naturschutz<br />

Raums und die Agrarumweltmaßnahmen stärker unterstützt<br />

werden. Damit werden Subventionen nicht<br />

längerandieproduzierteMenge,sondernandie(umweltgerecht)<br />

bewirtschaftete Fläche geknüpft.<br />

Verbesserungen für den Schutz der Natur sind auch<br />

durch die im Jahr 2000 verabschiedete EU-Wasserrahmenrichtlinie<br />

zu erwarten. Ziel ist es, mit Hilfe einer<br />

grenzübergreifenden nachhaltigen Wasserbewirtschaftung<br />

Gewässer zu schützen und eine gute<br />

Qualität aller Wasserressourcen in der EU bis 2015<br />

zuerreichen.DieswirdauchdieLebensbedingungen<br />

vieler wasserbewohnenden Tierarten wie Fische,<br />

Krebse und Muscheln sowie auf Gewässer angewiesene<br />

Arten wie Eisvogel, Wasseramsel verschiedene<br />

Enten- und Gänsearten sowie Gänsesäger, Flussuferläufer<br />

u. a. verbessern helfen bzw. der Verschlechterung<br />

der Gewässerhabitate entgegenwirken.<br />

Trotz der bedenklichen Situation der Natur in der EU<br />

gibt es auch Erfolge zu verzeichnen: So führten artenspezifische<br />

Aktionspläne der EU sowie regionale<br />

Maßnahmen dazu, dass etwa der Bestand des SpanischenKaiseradlersvon50Paaren1974auf175Paare<br />

2002 und die Population des Mönchsgeiers von 270<br />

Paaren 1984 auf 1 300 Paare 2002 angestiegen sind.<br />

Auch Kranich, Weißstorch, Fischotter und Biber<br />

sind wieder weiter verbreitet.<br />

Das Gebiet der Europäischen Union umfasst folgende<br />

Biogeographische Regionen: Mediterran, Makronesisch,<br />

Alpin, Atlantisch, Kontinental, Boreal<br />

(entspr. FFH-Richtlinie 92/43) Mit der EU-OsterweiterungkamdiePannonischeBiogeographische<br />

Region hinzu. Vor der EU-Erweiterung waren 218<br />

Lebensraumtypen (Anhang I FFH-Richtlinie), annähernd<br />

900 Arten (Anhang II FFH-Richtlinie, ohne<br />

Vögel) und 182 Vogelarten (Anhang I Vogelschutzrichtlinie)<br />

in den EU-Bestimmungen für den Naturschutz<br />

aufgelistet. Mit der EU-Osterweiterung kamen<br />

zahlreiche „neue“ gefährdete Arten und Lebensräume<br />

hinzu. Die neuen Mitgliedstaaten beherbergen<br />

vielfach Arten und Habitatstrukturen, die im<br />

westlichen <strong>Europa</strong> schon verschwunden sind bzw.<br />

zerstört wurden. Damit ist die große Herausforderung<br />

verbunden, die in den westlichen EU-Staaten<br />

gemachtenFehlervonFehlsubventionen,welchezur<br />

Landschafts- und Naturvernichtung führten, nicht<br />

auf den Osten zu übertragen bzw. dort zu wiederholen.<br />

Statt dessen sollte das Hinzukommen der 2004<br />

beigetretenen Länder als Chance für konsequenten<br />

555


NET<br />

Naturschutz und die Wiederausbreitung gefährdeter<br />

Arten gesehen werden. Denn nicht nur im großgeographischen<br />

Sinne, sondern auch im Hinblick auf die<br />

unterschiedlichstenKulturlandschaftengibtesinder<br />

EU eine überaus große ökologische und kulturelle<br />

Vielfalt, welche es für kommende Generationen zu<br />

erhalten gilt. Die Vielfalt der Regionen kann nur erhalten<br />

werden, wenn von der früher zu beobachtenden<br />

Entwicklung einer „Gleichmachung“ Abstand<br />

genommen wird. Ansätze hierfür sind durchaus erkennbar.<br />

Doch es fehlt u. a. an der schlüssigen Finanzierung.<br />

So hat der �Wirtschafts- und Sozialausschuss<br />

(NAT 261 – R/CESE 1350/20004 [DE] av)<br />

deutlich gemacht, dass die Gründe für erforderliche<br />

Naturschutzmaßnahmen nicht nur im rein naturschützerischen/kulturellen<br />

Bereich, sondern durchaus<br />

auch im ökonomischen und gesellschaftlichen<br />

Sektor zu suchen sind. Von der Kommission wird der<br />

jährliche Mittelbedarf für die Schaffung und Aufrechterhaltung<br />

der NATURA 2000 Gebiete mit<br />

6,1 Mrd. Euro pro Jahr beziffert, wobei es sich um<br />

eine erste grobe Schätzung handelt. Letztlich wird es<br />

eine Zielerfüllung des Naturschutzes auf EU-Ebene<br />

nach Auffassung des EWSA nur geben, wenn es gelingt,<br />

eine echte Partnerschaft zwischen Naturschutz<br />

und Landwirtschaft zu entwickeln und klarere Vorgaben<br />

für den Einsatz der Naturschutzmittel zu kontrollieren.<br />

Dabei bezweifelt der EWSA den von der<br />

EU-Kommission geschätzten Mittelbedarf als zu gering,<br />

allein deshalb, weil für die 10 neuen Mitgliedstaaten<br />

nur 300 Mio. Euro „eingeplant“ sind<br />

(5,8 Mrd. Euro für die alten Mitgliedstaaten).<br />

Informationen zur Situation des Naturschutzes auf<br />

dem Gebiet der EU werden ebenso wie entspr. Vorschläge<br />

für konkrete Maßnahmen durch die europäische<br />

�Umweltagentur aufbereitet.<br />

Die Kommission informiert regelmäßig auf ihrer<br />

Homepage über den Status der Umsetzung der Habitat-Richtlinie<br />

sowie zur Situation des Schutzes verschiedener,<br />

gefährdeter Tier- und Pflanzenarten:<br />

http://europa.eu.int/comm/environment/nature<br />

Übereinkommen zur Biologischen Vielfalt (eine Initiative<br />

des Umweltprogramms der Vereinten Nationen,<br />

UNEP): www.biodiv.org/default.shtml<br />

Große international tätige Non-Governmental-Organizations<br />

auf dem Gebiet des Naturschutzes, der<br />

Landschaftspflege sowie der nachhaltigen Entwicklung<br />

sind auf EU-Ebene neben nationalen und regionalen<br />

Verbänden tätig, z. B.: Bird Life, Friends of the<br />

556<br />

Earth, International Union for conservation of Nature<br />

(IUCN), World Wide Fund for Nature (WWF),<br />

Umweltstiftung Euronatur, European Nature Heritage<br />

Fund (Euronatur), Europäisches Umweltbüro,<br />

EuropeanEnvironmentalBureau(EEP). C.-P. H.<br />

Internet:<br />

www.birdlife.net; www.foei.org; www.iucn.org;<br />

www.panda.org; www.euronatur.org; www.eeb. org<br />

Literatur:<br />

Gleich, M./Maxeiner, D./Miersch, M./Nicolay, F.: Life Counts<br />

– Eine globale Bilanz des Lebens. Berlin 2000<br />

Hutter, C.-P./Keller, H.,/Ribbe, L./Wohlers, R.: Die Ökobremser<br />

– Schwarzbuch Umwelt <strong>Europa</strong>. Stuttgart 1993<br />

Jedicke, E.: Ressourcenschutz und Prozessschutz – erforderliche<br />

Ansätze zu einem ganzheitlichen Naturschutz. Bonn 1995<br />

NET Next European Torus �JET<br />

Nettozahler/Nettoempfänger. Als Nettobeitrag<br />

an den EU-Haushalt wird der Saldo zwischen den<br />

Mitteln, die ein Mitgliedstaat insgesamt in einem<br />

Jahr an die Gemeinschaft abführt, und sämtlichen<br />

Rückflüssen aus verschiedenen Haushaltstiteln im<br />

gleichen Zeitraum bezeichnet. Ist der Saldo positiv,<br />

zählt der Staat zu den Nettoempfängern, ist er negativ,<br />

gilt das Land als Nettozahler. Eine solche Gegenüberstellung<br />

von Zahlungen an die EU und Rückzahlungen<br />

der EU an die Mitgliedstaaten ergibt sich aus<br />

statistischen Daten der Kommission. Sie veröffentlicht<br />

einerseits die Herkunft ihrer Einnahmen nach<br />

Ländern und andererseits die Aufteilung ihrer operativen<br />

Ausgaben nach Empfängern. Daraus ergibt<br />

sich für das Jahr 2003 das in der Tabelle dargestellte<br />

Bild (S. 554).<br />

Wertet man die Konten buchhalterisch, dann wirkt<br />

ein negativer Saldo als Verlust, ein positiver als Gewinn.<br />

Daraus lassen sich nachweisbare Argumente<br />

für eine Kritik an der europäischen Integration ableiten.<br />

Andererseits sind die Vorteile der Integration<br />

ganzsichernichtalleinnachEuroundCentzubewerten.<br />

Befürworter der europäischen Einigung können<br />

deshalb andere Rechnungen aufstellen, die ebenso<br />

realistisch und beweiskräftig sind und für jeden Staat<br />

positiv ausfallen. Es erweist sich demnach als unsinnig,<br />

aus dem Saldo eines Staates gegenüber dem<br />

EU-Haushalt auf eine Benachteiligung oder eine Bevorzugung<br />

zu schließen. Dies gilt insbes. unter dem<br />

Gesichtspunkt der in Art. 2 EGV geforderten Solidarität<br />

zwischen den Mitgliedstaaten sowie der Zielsetzung,<br />

den Rückstand der am stärksten benachteilig-


ten Gebiete in der EU zu verringern (Art. 158 EGV).<br />

Ein „gerechterer“ Maßstab zur Beurteilung der Lasten<br />

eines Mitgliedstaats durch die EU ergibt sich ohnehin<br />

aus der Gegenüberstellung der Zahlungen pro<br />

Kopf und nicht pro Staat.<br />

Neues Gemeinschaftsinstrument zur Investitionsförderung<br />

in der Gemeinschaft (NGI). Vom<br />

Rat 1978 geschaffenes Finanzierungsinstrument,<br />

das die Kommission ermächtigt, im Namen der<br />

EG/EU Anleihen aufzunehmen; die Ermächtigung<br />

dazu ist jeweils neu vom Rat zu bestätigen. Aus diesen<br />

Mitteln werden Darlehen an ärmere Mitgliedstaaten<br />

gegeben, die von der �Europäischen Investitionsbank<br />

verwaltet werden. Ziel der Darlehensvergabe<br />

ist die Förderung von Investitionen in den Bereichen<br />

Energie, Infrastruktur und Industrie, bei späteren<br />

NGI-Programmen vor allem für kleine und<br />

mittlere Unternehmen (�KMU) sowie für Notprogramme<br />

(z. B. zur Hilfe bei Erdbebenkatastrophen<br />

1981 in Italien und Griechenland).<br />

Neue Transatlantische Agenda. Im Dezember<br />

1995zwischenUSAundEUvereinbarteZusammenarbeit<br />

ergänzend zur �Transatlantischen Erklärung<br />

von 1990. Ausbau der gegenseitigen Beziehungen<br />

unter Einbeziehung gesellschaftlicher Gruppen<br />

Neutralität<br />

Aufteilung der Einnahmen und der operativen Ausgaben der EU nach Mitgliedstaaten 2003 (in Mio. Euro)<br />

Land<br />

Zahlungen an die<br />

EU<br />

Zahlungen der<br />

EU<br />

Saldo<br />

Zahlung an die EU<br />

pro Kopf in Euro<br />

Belgien 3 486,0 1 696,2 - 1 789,8 337<br />

Dänemark 1 777,7 1 448,6 - 329,1 330<br />

Deutschland 19 202,6 10 474,8 - 8 727,8 233<br />

Finnland 1 337,9 1 322,3 - 15,6 257<br />

Frankreich 15 153,7 13 119,6 - 2 034,1 254<br />

Griechenland 1 533,7 4 836,0 + 3 302,3 139<br />

Großbritannien 9 971,2 6 068,4 - 3 902,8 169<br />

Irland 1 127,5 2 653,3 + 1 525,8 287<br />

Italien 11 758,5 10 530,9 - 1 227,6 208<br />

Luxemburg 204,5 148,2 - 56,3 454<br />

Niederlande 4 919,5 1 940,7 - 3359,8 304<br />

Österreich 1 935,9 1 559,7 - 376,2 237<br />

Portugal 1 292,9 4 754,4 + 3 461,5 124<br />

Schweden 2 501,3 1 430,1 - 1 071,2 280<br />

Spanien 7 429,4 15 842,2 + 8 412,8 183<br />

EU 83 632,5 77 825,4 221<br />

Quelle: Europäische Kommission, GD Haushalt, Aufteilung der operativen Ausgaben 2003 nach Mitgliedstaaten, September 2004<br />

Internet: http://europa.eu.int/comm/budget/agenda2000/reports_de.htm<br />

(Umwelt-, Verbraucher-, Arbeitnehmerverbände,<br />

Unternehmen), deren Dialog (people-to-people)<br />

über den Atlantik hinweg gefördert wird. Zusammenarbeit<br />

zwischen EU und USA in regionalen und<br />

globalen politischen Fragen (Terrorismus, Drogenhandel)<br />

sowie in den Bereichen Justiz, Handel und<br />

Wirtschaft. Im Rahmen der Agenda wurde 1998 die<br />

„Transatlantische Wirtschaftspartnerschaft“ (Transatlantic<br />

Economic Partnership TEP) ins Leben gerufen,<br />

die sich für Marktöffnung (Schaffung der Freihandelszone<br />

„Neuer Transatlantischer Markt“ bis<br />

2010) und Abbau von Handelshemmnissen im Bereich<br />

der WTO einsetzt sowie von Handels- und Investitionshindernissen,<br />

die durch die unterschiedlichen<br />

Rechtssysteme entstehen.<br />

Neufassung von Rechtsvorschriften �Kodifizierung,<br />

�Konsolidierung<br />

Neutralität. Irland, Finnland, Österreich und<br />

Schweden sind gem. ihren Verfassungen neutrale<br />

Staaten. Neutralität nach völkerrechtlicher Regelung<br />

verpflichtet ein Land zur Unparteilichkeit,<br />

wenn Staaten gegeneinander Krieg führen, auch im<br />

Falle von Bürgerkriegen, die von anerkannten Kombattanten<br />

geführt werden. Unparteilichkeit bedeutet<br />

Gleichbehandlung (weder Bevorzugung noch Be-<br />

557


NGO<br />

nachteiligung) und das Verbot der Waffenhilfe. Im<br />

Gegenzug darf die territoriale Souveränität eines<br />

neutralen Staates nicht von kriegführenden Parteien<br />

verletzt werden.<br />

Neutralität verlangt von einem Staat, sich in Friedenszeiten<br />

keinem militärischen Bündnis anzuschließen.<br />

Da die EG/EU kein Militärbündnis ist,<br />

steht einem Beitritt eines neutralen Staates nichts<br />

entgegen. Auch Staaten mit immerwährender Neutralität<br />

(Österreich, Schweiz) können Mitglied der<br />

EG/EU sein. Sie können sich uneingeschränkt an gemeinsamen<br />

Aktionen im Rahmen der �GASP oder<br />

an friedenserhaltenden Maßnahmen (�Petersberg-<br />

Aufgaben) im Rahmen der �ESVP beteiligen, da die<br />

völkerrechtlich geregelte Neutralität nur den Kriegszustand<br />

betrifft, die Aktionen der EG/EU sich aber<br />

auf die Zeit vor (friedenerhaltende Maßnahmen)<br />

oder nach Kriegen (friedenschaffende Maßnahmen)<br />

beziehen. Jeder Mitgliedstaat hat zudem das Recht<br />

der �konstruktiven Enthaltung bei sicherheitspolitischen<br />

Beschlüssen des Rats.<br />

Nicht endgültig geklärt ist die Frage der Beteiligung<br />

neutraler Staaten an militärischen Aktionen, die von<br />

den UN bzw. ähnlichen regionalen Organisationen<br />

(wie der �OSZE) beschlossen werden. Allgemeine<br />

Auffassungist,dassessichhierbeinichtumKonflikte<br />

zwischen Staaten oder Militärbündnissen handelt,<br />

sondern um Einsätze der gesamten internationalen<br />

Staatengemeinschaft gegen einen Einzelstaat, der einen<br />

Angriffskrieg begonnen hat oder die Grundsätze<br />

des humanitären Völkerrechts verletzt. Die europäischen<br />

neutralen Staaten sehen in einer Beteiligung<br />

keinen Widerspruch zur Neutralität, weshalb inzwischenauchdieSchweizMitgliedderUNOgeworden<br />

ist.<br />

NGO �Nichtregierungsorganisationen<br />

Nichtigkeitserklärung gem. Art. 231 EGV �Nichtigkeitsklage<br />

Nichtigkeitsklage. Wie das Zivilverfahrensrecht<br />

(z. B. § 579 der deutschen Zivilprozessordnung)<br />

sieht auch das europäische Gemeinschaftsrecht eine<br />

Nichtigkeitsklage vor, die in Art. 230 EGV normiert<br />

und streng von den zivilverfahrensrechtlichen Klagen<br />

bei nationalen Gerichten zu unterscheiden ist.<br />

Mit der – in der Praxis der Gemeinschaftsgerichte<br />

sehr bedeutsamen – Nichtigkeitsklage nach Art. 230<br />

558<br />

EGV kann die Rechtmäßigkeit von Handlungen des<br />

EuropäischenParlaments,desRats,derKommission<br />

und der EZB überprüft werden, mithin jede rechtlich<br />

erhebliche Maßnahme eines Gemeinschaftsorgans.<br />

Klageberechtigt ist sowohl jeder Mitgliedstaat als<br />

auch das Europäische Parlament, die Kommission<br />

und der Rat. Der �Europäische Rechnungshof und<br />

die �EZB sind insoweit zur Klageeinreichung befugt,<br />

als sie geltend machen können, in eigenen<br />

Rechten verletzt zu sein. Die Klagefrist beträgt zwei<br />

Monate ab Bekanntgabe der Entscheidung.<br />

Natürliche und juristische Personen können unter<br />

den gleichen Voraussetzungen Klage einreichen,<br />

wenn sie Adressat der zu beanstandenden Entscheidung<br />

oder unmittelbar und individuell betroffen sind<br />

(vgl.Art.230Abs.4EGV).FürdieseKlagen–häufig<br />

handelt es sich um sog. Konkurrentenklagen – ist erstinstanzlichdas�GerichtErsterInstanz(EuG)zuständig<br />

(Art. 225 Abs. 1 EGV in Verbindung mit § 51 der<br />

EuGH-Satzung). In den letzten Jahren mehrten sich<br />

die Stimmen, die eine Ausweitung der Klagemöglichkeiten<br />

für natürliche und juristische Personen<br />

forderten. Dem ist der EuGH insbes. in der Rechtssache<br />

Jégo-Quéré / Kommission (Rs. C-263/02) unter<br />

HinweisaufdieeindeutigeFassungdesEG-Vertrags<br />

entgegen getreten. Nunmehr sieht der �Verfassungsvertrag<br />

2004 eine Ausweitung der Klagemöglichkeiten<br />

für natürliche und juristische Personen vor (Art.<br />

III-365 VVE).<br />

Sollte die Klage begründet sein, erklärt der EuGH<br />

bzw. das EuG den angefochtenen Rechtsakt mit Wirkung<br />

ex tunc und erga omnes für nichtig (Art. 231<br />

EGV). Dies ist dann der Fall, wenn einer der in Art.<br />

230 Abs. 2 EGV genannten Nichtigkeitsgründe (Unzuständigkeit,<br />

Verletzung wesentlicher Formvorschriften,<br />

Verletzung des EG-Vertrages oder einer<br />

Durchführungsbestimmung sowie Ermessensmissbrauch)<br />

vorliegt. Auf die Verletzung eines subjektiven<br />

Rechtes kommt es dabei nicht an. Der für nichtig<br />

erklärte Rechtsakt wird rückwirkend so angesehen,<br />

als habe er niemals existiert. Alle auf ihm beruhenden<br />

Handlungen sind folglich wegen fehlender gültiger<br />

Rechtsgrundlage als rechtswidrig zu betrachten.<br />

Die Parteien werden in die Lage zurückversetzt, die<br />

vor dem für nichtig erklärten Rechtsakt bestand. Etwaige<br />

Schäden, die auf die Anwendung des für nichtig<br />

erklärten Rechtsaktes zurückzuführen sind, können<br />

mit der Schadensersatzklage geltend gemacht<br />

werden. Ch. S.


Literatur:<br />

Schwarze, J.: Der Rechtsschutz Privater vor dem Europäischen<br />

Gerichtshof, DVBl. 2002, 1297<br />

Daig, H.-W.: Nichtigkeits- und Untätigkeitsklagen im Recht<br />

der Europäischen Gemeinschaften. Baden-Baden 1985<br />

Nichtobligatorische Ausgaben �Obligatorische<br />

Ausgaben<br />

Nichtregierungsorganisationen (NRO, Non-governmental<br />

organizations, NGO) sind lokale, regionale,<br />

nationale oder internationale Zusammenschlüsse<br />

auf freiwilliger Basis von Bürgerinnen und<br />

Bürgern, die mit ihrer Mitgliedschaft gleiche oder<br />

ähnliche Interessen verfolgen. Gemeinsames und<br />

namensgebendes Merkmal ist ihre Unabhängigkeit<br />

von Regierungen oder staatlichen Institutionen. Die<br />

Ziele von NRO sind in der Regel gesellschaftspolitisch<br />

ausgerichtet, überwiegend von karitativer Art<br />

(sog. Dienstleistungs-NRO) oder gegen gesellschaftliche,<br />

wirtschaftliche oder politische Entwicklungen<br />

gerichtet (sog. politische NRO). NRO arbeiten<br />

ohne Gewinnorientierung. Zur Verfolgung ihrer<br />

gesetzten Ziele planen und verwirklichen sie Maßnahmen,<br />

die sie aus Mitgliedsbeiträgen und Spenden,<br />

z. T. auch aus öffentlichen Mitteln finanzieren.<br />

Eine einheitliche Definition der sehr heterogenen<br />

Gruppierungen ist schwierig. Zu ihnen zählen Einrichtungen<br />

der Kirchen (wie Misereor, Brot für die<br />

Welt), Stiftungen der Parteien, karitative Fonds (wie<br />

SOS-Kinderdörfer),weltweitorganisierteOrganisationen<br />

(wie Rotes Kreuz, Greenpeace oder Amnesty<br />

International), im weiteren Sinne aber auch alle Interessenvertretungen,<br />

also z. B. Gewerkschaften<br />

oder Arbeitgeberverbände.<br />

Hauptsächliche Tätigkeitsfelder großer, z. T. internationaler<br />

NRO sind: Hilfe für Entwicklungsländer,<br />

Umwelt- und Tierschutz, �nachhaltige Entwicklung,<br />

Globalisierung, Menschen-/Bürgerrechte und<br />

soziale Rechte, Abrüstung und Konfliktlösung, Gesundheitsschutz<br />

(Drogen, Aids), Technikfolgen<br />

(Kernenergie, Biotechnologie). Lokale NRO bilden<br />

sich häufig mit dem Ziel, große Bauprojekte (Straßen,Flughäfen)inderNachbarschaftzuverhindern.<br />

NRO sind weltweit ein wichtiger, z. T. sogar konstitutiver<br />

Teil der �Zivilgesellschaft. Ihre Anzahl ist<br />

nur schätzungsweise zu erfassen. Der Wirtschaftsund<br />

Sozialrat der UN (�ECOSOC) nannte 1996 eine<br />

Zahl von 29 000 registrierten Organisationen. Der<br />

Begriff „non-governmental organisation“ stammt<br />

Nichttarifäre Handelshemmnisse<br />

aus der Charta der Vereinten Nationen (Art. 71). In<br />

der EU spielen NRO eine Rolle als partizipative oder<br />

kritischeBegleiterderIntegration.NROkönnensich<br />

an zahlreichen EU-Programmen und Gemeinschaftsinitiativen<br />

beteiligen. Viele NRO sind in<br />

Brüssel mit Interessenvertretern präsent (�Verbände/Lobbyismus).<br />

Nichttarifäre Handelshemmnisse. Maßnahmen,<br />

die unmittelbar oder mittelbar den Handel insgesamt<br />

oder speziell die Einfuhr beschränken und bei denen<br />

es sich nicht um Zölle (engl.: tariffs) handelt. Während<br />

Zölle auf Grund ihres begrenzten Anwendungsbereichs<br />

und der begrifflichen Klarheit einer effektiven<br />

Regelung zugänglich sind (�GATT), wird der<br />

Begriff der nichttarifären Handelshemmnisse negativ<br />

definiert und ist deshalb nur mit Schwierigkeiten<br />

inhaltlich bestimmbar.<br />

Handelshemmnisse werden aus ökonomischer Perspektive<br />

generell als negative Faktoren betrachtet,<br />

die einer optimalen Verteilung der Ressourcen und<br />

Entscheidungen der Marktteilnehmer im Wege stehen.<br />

Sie stehen jedoch in einem Spannungsfeld zwischen<br />

dem legitimen nationalen Regelungsinteresse<br />

auf der einen Seite und dem Interesse an Marktzugang<br />

und Nichtdiskriminierung auf der anderen Seite.<br />

Ein Rechtsregime muss deshalb einen Maßstab<br />

entwickeln, der eine Maßnahme danach unterscheiden<br />

kann, ob sie ein legitimes Mittel zum Schutz der<br />

öffentlichen Sicherheit und Ordnung oder aber eine<br />

versteckte Form des Schutzes der nationalen Wirtschaft<br />

vor Wettbewerb ist.<br />

Nichttarifäre Handelshemmnisse lassen sich nach<br />

ihrer Funktion in zwei Gruppen klassifizieren:<br />

a) Maßnahmen mit dem primären Ziel der Handelsbeschränkung,<br />

die an die Herkunft oder das Ziel der<br />

Ware anknüpfen, wie mengenmäßige Beschränkungen<br />

(Kontingente), Einfuhrverbote, Lizenzierungen<br />

sowie Steuervorteile und finanzielle Förderung von<br />

inländischen Unternehmen (trade policy measures);<br />

b) Maßnahmen mit handelsbeschränkender Wirkung<br />

als Begleiterscheinung des primären Regelungsziels<br />

wie staatliche Monopole, Struktur- und<br />

Regionalförderung, nationale Unterschiede bei<br />

Maß- und Gewichtseinheiten, Veterinärkontrollen,<br />

Kennzeichnungspflichten, beschränkte berufliche<br />

Anerkennungen und die Regulierung bestimmter<br />

Märkte (internal measures).<br />

Eine besondere praktische Bedeutung haben techni-<br />

559


Nichtverbreitungs- und Abrüstungspolitik<br />

sche Handelshemmnisse, d. h. staatliche Maßnahmen,<br />

die Anforderungen an die Einfuhr, Vermarktung<br />

oder – sehr umstritten – die Herstellung einer<br />

Ware stellen. Als technische Handelshemmnisse<br />

kommen Maßnahmen im Einzelfall oder, in der Praxis<br />

weit überwiegend, abstrakte technische StandardsundderenAnwendunginBetracht.Technische<br />

StandardsdominierendieEntwicklung,Herstellung,<br />

den Handel und die Vermarktung von Waren und<br />

Dienstleistungen. Sie dienen der Vereinheitlichung<br />

und Orientierung für Industrie, Handel und Verbraucher<br />

und in unterschiedlichem Ausmaß auch dem<br />

Verbraucher-, Arbeits- und Umweltschutz.<br />

Technische Standards können den Handel beschränken,<br />

indem sie uneinheitlich sind und damit Hersteller,<br />

Im- und Exporteure zwingen, die für die einzelnen<br />

Märkte geltenden Standards zu ermitteln, entsprechende<br />

Konformitäts- oder Anerkennungsverfahren<br />

zu betreiben und ihre Waren an verschiedene<br />

Anforderungen anzupassen. Fehlt eine entsprechende<br />

Zertifizierung, mit der die Übereinstimmung des<br />

Produkts mit den technischen Standards im Einfuhrland<br />

nachgewiesen wird, ist es in den meisten Fällen<br />

auf diesem Markt nicht verkehrsfähig. Auf regionalerunduniversellerEbenegibtesdeshalbBestrebungen,<br />

technische Handelshemmnisse im Wege der<br />

�HarmonisierungderStandardsoderdurcheine �gegenseitige<br />

Anerkennung zu überwinden.<br />

In der EG sind mengenmäßige Ein- und Ausfuhrbeschränkungen<br />

sowie Maßnahmen gleicher Wirkung<br />

verboten (Art. 28, 29 EGV). Nach der Rechtsprechung<br />

des EuGH sind Maßnahmen mit gleicher Wirkung<br />

alle staatlichen Maßnahmen, die geeignet sind,<br />

unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentielldenHandelsverkehrzwischendenMitgliedstaaten<br />

zu behindern (sog. �Dassonville-Formel, EuGH,<br />

Rs. 7/74, Slg. 1974, S. 837, 852); diese Grundformel<br />

ist durch zahlreiche Entscheidungen ausdifferenziert<br />

worden. Die Regelungen des Gemeinschaftsrechts<br />

zu den nichttarifären Handelshemmnissen<br />

sind ein tragender Baustein des Binnenmarktes.<br />

Das �GATTsprichteingrundsätzlichesVerbotmengenmäßiger<br />

Beschränkungen aus (Art. XI GATT<br />

1994) und untersagt unilaterale Handelsmaßnahmen<br />

(Art. VI, XIX GATT 1994), lässt jedoch auch Ausnahmen<br />

von diesen Grundsätzen zu (Art. XX, XXI<br />

GATT 1994). Die allgemeinen Regeln werden ergänzt<br />

durch die speziellen, weiterführenden Übereinkommen<br />

über technische Handelshemmnisse<br />

560<br />

(AgreementonTechnicalBarrierstoTrade)undüber<br />

gesundheitspolizeiliche und pflanzenschutz-rechtliche<br />

Maßnahmen (Agreement on Sanitary and Phytosanitary<br />

Measures, SPS).<br />

Die Bedeutung der nichttarifären Handelshemmnisse<br />

als Instrument zur Steuerung oder zumindest Beeinflussung<br />

der Handelsströme nimmt mit dem fortschreitendenAbbauderZölleweiterzu.<br />

F. Sch.<br />

Literatur:<br />

Leible, S.: Art. 28–31 EGV. In: Grabitz/Hilf (Hg.), Recht der<br />

Europäischen Union. (Loseblatt) München<br />

Tietje, C.: Normative Grundstrukturen der Behandlung nichttarifärer<br />

Handelshemmnisse in der WTO-GATT-Rechtsordnung.<br />

Heidelberg 2001<br />

OECD: Indicators of Tariff and Non-tariff Trade Distortions.<br />

Paris 1996<br />

Nichtverbreitungs- und Abrüstungspolitik<br />

1. Problemaufriss. Die Nichtverbreitungs- und Abrüstungspolitik<br />

(Non-proliferation and disarmament<br />

policy, NPP) der EU stellt ein komplexes Puzzle dar:<br />

SiebeziehtsichprimäraufkonventionelleRüstungsgüter<br />

und atomare/biologische/chemische (ABC)<br />

Waffen(WeaponsofMassDestruction,WMD,Massenvernichtungswaffen).<br />

Jedes dieser Güter weist<br />

bestimmte besondere Merkmale auf und bedarf zum<br />

Teil eigener Strategien in der NPP. Zusätzlich<br />

kommt den sog. Dual-use-Gütern (Güter mit ziviler<br />

Anwendung, die jedoch auch zum Bau von Waffen<br />

genutzt werden können) besondere Bedeutung zu.<br />

Das Puzzle wird weiter kompliziert, wenn man Angebots-<br />

und Nachfrageseite betrachtet: Die EU Staaten<br />

unterscheiden sich erheblich in der Größe ihres<br />

Rüstungssektors, weiterhin sind Frankreich und<br />

Großbritannien Atommächte. Auf der Nachfrageseite<br />

hat man es zunehmend auch mit nichtstaatlichen<br />

Akteuren (Terrorismus) zu tun.<br />

Die Zuständigkeit in der EU bezüglich der NPP verteilt<br />

sich vor allem auf die erste Säule (Außenhandel)<br />

und zweite Säule (GASP bzw. ESVP), zunehmend<br />

spielt auch die dritte Säule (Justiz und Inneres) eine<br />

Rolle – Kompetenzstreitigkeiten und Kohärenzprobleme<br />

sind so vorprogrammiert. Neben der Ebene<br />

der EU-Mitgliedstaaten und der EU-Ebene mit drei<br />

betroffenen Säulen spielt auch die internationale<br />

Ebene eine entscheidende Rolle, da die meisten bestehenden<br />

Nichtverbreitungs- bzw. Abrüstungsverträge<br />

hier angesiedelt sind. Einen weiteren Baustein<br />

im NPP-Puzzle bilden die enormen Auswirkungen<br />

des Endes des Kalten Krieges auf das Politikfeld.


Schließlich ist die NPP der EU noch von internen<br />

Zielkonflikten beeinträchtigt: Der Aufbau effektiver<br />

militärischer Kapazitäten der EU im Rahmen der<br />

�Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik<br />

und entsprechende wirtschaftliche Interessen stehen<br />

zumindest teilweise im Widerspruch zur NPP<br />

der EU.<br />

2. Gegenstand, Akteure und Maßnahmen.<br />

2.1. Gegenstände der NPP-Bemühungen. Die verschiedenen<br />

Waffenarten (konventionell, ABC) unterschieden<br />

sich v. a. bzgl. Beschaffbarkeit, Verbreitung,<br />

Einsatzaufwand und Risiko (Produkt aus Eintrittswahrscheinlichkeit<br />

der Benutzung und angerichtetem<br />

Schaden), das von ihnen ausgeht. Der Bereich<br />

konventioneller Waffen kann in Klein- bzw.<br />

leichte Waffen (z. B. Handfeuerwaffen, Maschinengewehre,<br />

Flugabwehr/Mörser unter 100 mm etc. für<br />

Einzelpersonen und Gruppen) und Großgerät (Waffen<br />

mit Kaliber über 100 mm) unterschieden werden.<br />

Die Verbreitung von Kleinwaffen stellt vor allem bei<br />

innerstaatlichen Konflikten (die bei weitem die Masse<br />

der weltweiten Konflikte darstellen) ein enormes<br />

Problem dar, da sie leicht zu beschaffen, einfach zu<br />

benutzen und meist massenhaft verbreitet sind und<br />

damit häufig dauerhaften Frieden verhindern. Für<br />

die EU sind die Folgen gewaltsamer innerstaatlicher<br />

Konflikte an sich problematisch, durch zunehmende<br />

EU-EinsätzeimRahmenderESVP(z.B.ehemaliges<br />

Jugoslawien, Kongo) werden aber auch entsendete<br />

Truppen durch verbreitete Kleinwaffen direkt bedroht.<br />

Folglich gab es z. B. eine �Gemeinsame Aktion<br />

der EU im Rahmen der GASP gegen die Verbreitung<br />

von Kleinwaffen in Albanien.<br />

Während die EU und ihre Bürger durch konventionelle<br />

Waffen in der Regel nur mittelbar betroffen<br />

sind, rückte die Bedrohung durch ABC-Waffen in<br />

den letzten Jahren ins Zentrum der EU-NPP-Bemühungen.<br />

Grundlage bildet die vom �Hohen Vertreter<br />

Javier Solana vorgelegte Sicherheitsstrategie<br />

(2003) der EU, die eine Verminderung der Bedrohung<br />

von ABC-Waffen durch Terroristen und unterstützende<br />

Regime in den Mittelpunkt rückt. Insbesondere<br />

der Einsatz von B- und C-Waffen durch Terroristen<br />

stellt eine erhebliche Bedrohung dar, wie die<br />

Sarin-Anschläge von Tokio (1995) und die Anthrax-Anschläge<br />

in den USA (2001) zeigten. Der erhebliche<br />

Aufwand zum Einsatz von A-Waffen ist dagegen<br />

zur Zeit wohl nur von Staaten zu leisten. Besonderes<br />

Augenmerk der NPP liegt auch auf den not-<br />

Nichtverbreitungs- und Abrüstungspolitik<br />

wendigen Trägerraketen mit ausreichender Reichweite<br />

und Transportkapazität für A-Waffen.<br />

2.2RollederinternationalenEbenebeiderNPP.Die<br />

EU bzw. ihre Mitgliedstaaten wirken im Bereich<br />

NPPbisherzueinemsubstantiellenTeilindirekt,und<br />

zwar als Vertragsparteien in der Vielzahl internationaler<br />

Abkommen, die zu einem großen Teil noch aus<br />

der Zeit des Kalten Krieges stammen. Die Europäische<br />

Kommission spielt neben den EU-Staaten eine<br />

wichtige Rolle in internationalen Regimen zur Überwachung<br />

des Nichtverbreitungsvertrags wie Australia<br />

Group (Exportkontrolle für Chemikalien, die für<br />

C-Waffen verwendet werden können), Zangger<br />

Committee (Exportkontrolle für spaltbares Material),<br />

Nuclear Suppliers‘ group (Exportkontrolle der<br />

Staaten, die Nuklearausrüstungen liefern), Waassenaar<br />

Arrangement (Exportkontrolle für konventionelle<br />

Waffen und Dual-use-Güter sowie Technologien)<br />

und dem Missile Technology Control Regime<br />

(Kontrollregime für Trägertechnologie). Die direkten<br />

Auswirkungen der EU-NPP sind geringer einzuschätzen,<br />

wobei in den letzten Jahren eine deutliche<br />

Zunahme an Bedeutung festzustellen ist bei einer<br />

zeitgleichen Erosion von Teilen der internationalen<br />

Verträge (z. B. durch die Absicht der USA, strategische<br />

Mini-Nuklearwaffen zu entwickeln und zu testen,<br />

aber auch durch Bemühungen Nordkoreas um<br />

ein eigenes Atomwaffenprogramm).<br />

2.3 Entwicklung des rechtlichen Rahmens auf<br />

EU-Ebene. Die Besonderheit der EU-NPP mit ihrer<br />

Aufteilung der Kompetenzen auf zwei Säulen (EG<br />

und GASP) wurde bereits angesprochen. Wie kam es<br />

dazu? Konkreter Handlungsbedarf der EU bzgl. der<br />

NPP ergab sich aus der Gründung des Binnenmarkts<br />

1992. Artikel 296 EGV gibt den Mitgliedstaaten die<br />

Möglichkeit, die Rüstungsproduktion aus dem Gemeinsamen<br />

Markt auszuschließen. Problematisch<br />

war die Regelung bzgl. „Dual-use-Goods“, also Gütern,<br />

die sowohl für zivile als auch militärische Zwecke<br />

einsetzbar sind, da sie als zivile Güter prinzipiell<br />

frei handelbar (und auch exportierbar) wären. Bereits<br />

1989 entschied jedoch der Ministerrat auf Vorschlag<br />

der Kommission, den Export bestimmter chemischerGüterzureglementieren,diefürmilitärische<br />

Zwecke eingesetzt werden können. Es bildete sich<br />

eine charakteristische Arbeitsteilung: Die Kommission<br />

erarbeitete auf Basis des Gemeinschaftsrechts<br />

(es handelt sich ja primär um den Bereich Außenhandel)<br />

einen Vorschlag, der Ministerrat entschied nach<br />

561


Nichtverbreitungs- und Abrüstungspolitik<br />

zwischenstaatlicher Methode einstimmig im Rahmen<br />

der �Europäischen Politischen Zusammenarbeit<br />

(ab Maastricht im Rahmen der zweiten Säule,<br />

d. h. GASP) über eine Liste mit Gütern, auf die sich<br />

die Regulierung bezog. Ab 1995 wurde das „Dualuse-Regime“<br />

der EU in Kraft gesetzt, das der neuen<br />

Säulenarchitektur Rechnung trug. Es blieb bei der<br />

oben beschrieben Mischung aus Kommissionsvorschlag<br />

(EG 1994/3381) nach GemeinschaftsmethodeundzwischenstaatlicherAbstimmungimRahmenderGASP(1994/942/GASP)bzgl.derListeregulierter<br />

Güter.<br />

ZueinergrundsätzlichenÄnderungkamesdurchUrteile<br />

des Europäischen Gerichtshofs, der entschied,<br />

dass „Dual-use-Güter“ in die alleinige (!) Kompetenz<br />

der EG (Initiative und Exekutive bei der Kommission,<br />

Entscheidung beim Ministerrat mit qualifizierter<br />

Mehrheit) fallen. Ab 2000 trat dann die<br />

Verordnung 1334/2000 (ABl. L 159/2000) in Kraft,<br />

die den Handel mit Dual-use-Gütern regelt. Sie hat<br />

vier Anhänge, wobei der erste die Liste der nicht exportierbaren<br />

Güter für EU-Staaten enthält, die Güter<br />

dürfen jedoch frei innerhalb des Binnenmarkts gehandelt<br />

werden mit Ausnahme der unter Anhang IV<br />

genannten Güter. Die Anhänge werden jährlich aktualisiert<br />

(aktuell 1504/2004); es fällt in die Zuständigkeit<br />

der Nationalstaaten (!), die Ausfuhrkontrolle<br />

zu überwachen (Verordnungen, Anhänge, deutsche<br />

Ausfuhrbestimmungen, Liste der EU-Sanktionen im<br />

Internet unter www.ausfuhrkontrolle.info). In diesem<br />

Zusammenhang ist wichtig in Erinnerung zu rufen,<br />

dass die Kompetenzen des EuGH in der ersten<br />

Säule greifen, nicht jedoch in der zweiten (GASP),<br />

d. h., Beschlüsse sind in der GASP gerichtlich nicht<br />

durchsetzbar.<br />

2.4 Inhaltliche Dimension / Maßnahmen der EU im<br />

Bereich konventioneller Waffen. Im Bereich konventioneller<br />

Rüstungsgüter (also Endprodukten im<br />

GegensatzzuDual-Use-Gütern)undderenExportist<br />

der Einfluss der EU auf ihre Mitgliedstaaten relativ<br />

gering, was sich v. a. aus Art. 296 EGV ergibt.<br />

Im Rahmen der GASP wirken in Bezug auf konventionelle<br />

Waffenexporte vor allem der sog. „Code of<br />

Conduct (CoC)“, Waffenembargos und eine Anzahl<br />

weitererInitiativen.DerCoCwurdevomMinisterrat<br />

am 8. 6. 1998 angenommen und beinhaltet Kriterien,<br />

unter denen Nationalstaaten den Export von Gütern<br />

verbieten müssen, zusammen mit Fällen, in denen<br />

die Nationalstaaten im Rahmen eigener Regelungen<br />

562<br />

von Fall zu Fall entscheiden können. Der CoC wird<br />

begleitet von Informationsaustausch und jährlicher<br />

Berichterstattung. Der CoC ist eher politisch als<br />

rechtlich bindend.<br />

Über Waffenembargos für bestimmte Staaten im<br />

Rahmen der GASP entscheidet die EU. Zur Zeit sind<br />

davon etwa zehn Staaten bzw. terroristische Gruppen<br />

betroffen. Zu Kontroversen führten die Äußerungen<br />

des deutschen Bundeskanzlers Schröder<br />

(2005), das EU-Waffenembargo gegen China aufzuheben,<br />

was die Probleme der zwischenstaatlichen<br />

Koordinierung im Rahmen der GASP unterstreicht.<br />

Seit 2003 werden die EU-Bemühungen bzgl. Embargos<br />

von einem gemeinsamen Standpunkt (2003/468<br />

GASP) im Rahmen der GASP flankiert, der das Umgehen<br />

(arms brokering) von UN-, OSZE- und<br />

EU-WaffenembargosdurchAkteureausEU-Staaten<br />

zu verhindern sucht.<br />

Weitere Aktivitäten im Rahmen der GASP betreffen<br />

v. a. die engere Abstimmung der Mitgliedstaaten auf<br />

EU- und internationaler Ebene bzgl. verschiedener<br />

Aspekte der Nichtverbreitung konventioneller Waffen,<br />

die Bekämpfung von arms trafficking (Waffenhandel<br />

durch organisierte Kriminelle zumeist in<br />

Konfliktregionen, z. B. im ehemaligen Jugoslawien)<br />

und diverse Programme bzgl. Verbreitung von<br />

Kleinwaffen (generell: Gemeinsame Aktion (2002/<br />

589/GASP), bzgl. bestimmter Länder wie Albanien<br />

(1999/846/GASP) oder Kambodscha (1999/730/<br />

GASP), bzgl. Land- bzw. Antipersonenminen (generell:<br />

Gemeinsame Aktionen (1997/817 – 819/ GASP)<br />

bzgl. bestimmter Aktionen wie Minenräumung in<br />

Kroatien (2000/231/GASP) und bzgl. Laserwaffen<br />

(95/379/GASP).<br />

Die institutionellen Foren für den Bereich der konventionellen<br />

Waffenkontrolle sind neben Kommission,<br />

Außenministerrat und z. T. dem �Politischen<br />

und sicherheitspolitischen Komitee die dem Ministerrat<br />

unterstehenden Arbeitsgruppen COARM<br />

(Working group on conventional arms, beschäftigt<br />

sichu.a.mitderUmsetzungdesCoC)undPOLARM<br />

(Working group on armaments policy, beschäftigt<br />

sich v. a. mit innereuropäischem Waffenhandel). Bedingt<br />

durch die zwischenstaatliche Arbeitsweise ist<br />

derEinflussvonCOARMundPOLARMbegrenzt.<br />

2.5 Inhaltliche Dimension/Maßnahmen der EU im<br />

Bereich Massenvernichtungswaffen. Ähnlich wie<br />

bei den konventionellen Waffen wird ein Großteil<br />

derRegelungenindiverseninternationalenRegimen


getroffen. Die EU und deren Mitgliedstaaten sind in<br />

fast allen wichtigen Regimen vollständig vertreten.<br />

Ausnahmen betreffen die neuen EU-Mitgliedstaaten,<br />

die in einer Anzahl von Regimen noch nicht<br />

Mitglieder sind.<br />

Die Masse der Maßnahmen auf EU-Ebene im Rahmen<br />

der GASP bezüglich ABC-Waffen bezieht sich<br />

auf Umsetzung und Weiterentwicklung bestehender<br />

internationalerRegime(z.B.1999/346/GASPinBezugaufdieBiologicalandToxinWeaponsConvention,<br />

1998/623/GASP in Bezug auf mehr Transparenz<br />

bei nuklearrelevanten Exportkontrollen oder 2000/<br />

297/GASP in Bezug auf die Haltung der EU zur Konferenz<br />

im Rahmen des Treaty on Non-proliferation<br />

of Nuclear Weapons und zum Haager Verhaltenskodex<br />

der Nichtverbreitung ballistischer Raketen<br />

2002). Die EU engagierte sich neben der Nichtverbreitung<br />

von ABC-Waffen auch in der Abrüstung<br />

von ABC-Beständen in Russland und der Ukraine in<br />

Rahmen der �Gemeinsamen Strategien bzgl. Russland<br />

und Ukraine. Seit 1996 beteiligt sich die EU in<br />

Rahmen von KEDO (Korean Peninsula Energy Development<br />

Organization) am Ausbau der zivil genutzten<br />

Atomenergie in Nordkorea (1996/195/<br />

GASP).<br />

Neue Dynamik der EU-NPP im Bereich ABC-<br />

Waffen. Vor allem die Weigerung des Iraks, mit<br />

UN-Waffenkontrolleuren zusammenzuarbeiten und<br />

die damals bestehende Annahme eines umfassenden<br />

ABC-Waffenprogramms zusammen mit diversen<br />

terroristischen Anschlägen lösten eine neue Dynamik<br />

der EU im Bereich ABC-Waffen ab 2003 aus.<br />

Die Initiative ergriff die damalige schwedische Außenministerin<br />

Anna Lindh, die das Thema Anfang<br />

2003 auf die Agenda des Außenministerrats setzte.<br />

2003 wurden eine Reihe von Schlüsseldokumenten<br />

veröffentlicht, allen voran die vom Hohen Vertreter<br />

Javier Solana vorgelegte EU-Sicherheitsstrategie,<br />

die Terrorismus, Proliferation von Massenvernichtungswaffen,<br />

regionale Konflikte, zusammengebrochene<br />

Staaten und organisierte Kriminalität als<br />

Hauptbedrohung für die EU und ihre Bürger sieht.<br />

Gerade der Bekämpfung von ABC-Waffen und Raketenproliferation<br />

wurde vom Ministerrat höchste<br />

Priorität eingeräumt. Weitere wichtige Dokumente<br />

sind die „Basic principles for an EU strategy against<br />

proliferation of weapons of mass destruction“ und<br />

der „Action Plan for the Implementation of the Basic<br />

Principles for an EU strategy against proliferation of<br />

Nichtverbreitungs- und Abrüstungspolitik<br />

mass destruction“ (beide 2003). Aus den genannten<br />

drei Dokumenten und einer Reihe weiterer ergeben<br />

sich die kurz- und langfristigen Maßnahmen, die die<br />

EU zur Bekämpfung der Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen<br />

eingeleitet hat bzw. einleiten<br />

wird.<br />

Die Kernelemente der EU-Strategie gegen WMD<br />

sind:<br />

– Stärkung multilateraler Übereinkünfte, also der<br />

bereits angesprochenen internationalen Übereinkünfte,<br />

– Stärkung der Exportkontrollregime (u. a. Dualuse),<br />

– Verstärkung internationaler Zusammenarbeit,<br />

z. B. im Zusammenhang mit den Gemeinsamen Strategien<br />

Russland und Ukraine,<br />

– Intensivierung des politischen Dialogs mit Drittstaaten,<br />

z. B. Korea, Iran.<br />

Zu den Softortmaßnahmen im Rahmen des Action<br />

Plans zählten: verstärkte diplomatische Bemühungen,<br />

Stärkung multilateraler Abkommen, Verlängerung<br />

der Zusammenarbeit mit der russischen Föderation<br />

bzgl. Abrüstung/ Non-Proliferation, finanzielle<br />

Unterstützung der internationalen Atomenergiebehörde<br />

und schneller Beitritt v. a. der neuen Mitgliedstaaten<br />

zu den entsprechenden Verträgen, Stärkung<br />

der Chemiewaffenkonvention (CWC), Stärkung der<br />

EU-Rolle bei Exportkontrollregimen.<br />

Die langfristigen Maßnahmen sollen u. a. das Thema<br />

WMDzumQuerschnittsthemaderEU-Politikenmachen,<br />

einen geographischen Fokus auf den Mittelmeerraum<br />

bzw. Nahen Osten bzgl. WMD Proliferation<br />

legen und beinhalten engere Zusammenarbeit<br />

mit den UN, Aufbau institutioneller Kapazitäten im<br />

Bereich Überwachung von WMD-Abrüstung/-Proliferation,<br />

stärkere Kontrolle im Bereich von ABC-<br />

Waffen bzw. relevanten Gütern.<br />

Das Risiko von Massenvernichtungswaffen für die<br />

EU und ihre Bürger und die Effizienz der EU-<br />

Bemühungen zur Senkung des Risikos sind schwer<br />

einzuschätzen. Zum Risiko: Flapsig formuliert ist es<br />

wohl sicher nicht so, dass sich unter jedem Stein ein<br />

bevorzugt islamistischer Terrorist mit Massenvernichtungswaffen<br />

versteckt. Die Beispiele USA, Madrid<br />

und Tokio zeigen jedoch, dass es entsprechend<br />

motivierte Akteure gibt. Weiterhin wären die Konsequenzen<br />

eines effektiv (!) durchgeführten BC-Anschlags<br />

verheerend und die rasche Reaktion seitens<br />

der EU auf die potentielle Bedrohung daher begrü-<br />

563


Niederlassungsfreiheit<br />

ßenswert.Dabeiistnichtauszuschließen,dassQuantität<br />

und Geschwindigkeit der oben beschriebenen<br />

Maßnahmen teilweise zu Lasten ihrer Qualität gehen.<br />

3. Bewertung/Aussichten: Die NPP der EU wurde<br />

eingangs als komplexes Puzzle beschrieben. Die EU<br />

kannnurbegrenzt–seiesdirektoderindirektüberdiverse<br />

Abkommen – auf die internationalen Entwicklungen<br />

Einfluss nehmen. Voranschreitende technische<br />

Entwicklung in ehemaligen Dritte-Welt-<br />

Staaten, Globalisierung und einfach verfügbares<br />

Wissen konterkarieren die Bemühungen der EU im<br />

Bereich Dual-use-Kontrolle zusehends. Intern<br />

kämpftdieEUebenfallsmitWidersprüchen,seienes<br />

Bestrebungen, selbst aufzurüsten und die daraus erwachsenden<br />

ökonomischen Interessen, sei es der Besitz<br />

von Atomwaffen seitens Frankreichs und Großbritanniens.<br />

Die Kompetenzaufteilung auf verschiedene<br />

Säulen zeigt ihre Defizite im Rahmen der NPP<br />

vor allem, wenn z. B. Entwicklungshilfe (der EG)<br />

und Sanktionen (der GASP) nicht ausreichend koordiniert<br />

werden.<br />

Schließlich wird eine effiziente NPP vor allem in Bezug<br />

auf Massenvernichtungswaffen nicht an den<br />

USA vorbeikommen, und zum jetzigen Zeitpunkt<br />

scheint es eher sinnvoll, die EU konzentrierte sich im<br />

Bereich NPP auf den Ausbau diplomatischer Mittel<br />

und einen konsequent multilateralen Ansatz und<br />

überließe den USA die „letzten Mittel“. Da mittelfristig<br />

ein vollkommener Schutz der EU gegen<br />

WMD unrealistisch ist, scheint es angezeigt, sich<br />

parallel zu den oben angesprochenen Maßnahmen<br />

mit aller Kraft an die Ursachenforschung und -bekämpfungzumachen.<br />

Ch. R.<br />

Literatur:<br />

Bundesregierung: Jahresabrüstungsbericht 2003. Im Anhang:<br />

„EU strategy against proliferation of weapons of mass<br />

destruction“<br />

Institute for Security Studies (ISS): div. Chaillot Papers (63,<br />

66, 69, 77), Sammlung von Primärquellen (59, 67, 75),<br />

im Internet: www.iss-eu.org/<br />

Mawdsley, J./Martinelli, M./Remacle, E. (Hg.): Europe and the<br />

Global Arms Agenda: Security, Trade and Accountability.<br />

Baden-Baden 2004<br />

SIPRI: SIPRI Yearbooks<br />

Niederlassungsfreiheit bezeichnet das Recht jedes<br />

EU-Bürgers, an einem beliebigen Ort innerhalb<br />

der EU nach den dort geltenden Bestimmungen selbständig<br />

eine gewerbliche, landwirtschaftliche oder<br />

freiberufliche Erwerbstätigkeit auszuüben oder ein<br />

564<br />

Unternehmen zu gründen bzw. zu leiten (Art. 43 ff.<br />

EGV). Die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates<br />

gegründeten Gesellschaften haben<br />

ebenfalls Niederlassungsrecht innerhalb der EU und<br />

können Agenturen, Zweigniederlassungen oder<br />

Tochtergesellschaften gründen. Das Niederlassungsrecht<br />

gilt auch für Arbeitnehmer aus einem<br />

Mitgliedstaat, die in einem anderen Mitgliedstaat beschäftigt<br />

sind und sich selbständig machen möchten.<br />

Die für eine Niederlassung nötige Nutzung von<br />

Grundstücken oder der Erwerb von Grundstücken<br />

müssen ermöglicht werden. Einschränkungen der<br />

Niederlassungsfreiheit aufgrund unterschiedlicher<br />

nationaler Berufsregelungen oder Zulassungsvoraussetzungen<br />

sind im �Binnenmarkt bereits weitgehend<br />

durch �gegenseitige Anerkennung von Diplomen<br />

und Zeugnissen (nach Art. 47 EGV) aufgehoben.<br />

Die Niederlassungsfreiheit gilt seit 1991 für alle<br />

akademischen Berufe, sofern die betreffenden Personen<br />

ein mindestens dreijähriges wissenschaftliches<br />

Hochschulstudium und eine entsprechende Praxis<br />

vorweisen können sowie den nationalen Vorschriften<br />

des Aufenthaltslandes entsprechen (z. B.<br />

Sprachkenntnisse, Kenntnis der Rechtsordnung, der<br />

Standesvorschriften u. dgl.). Auch Befähigungsnachweise<br />

unterhalb des Hochschulniveaus (z. B.<br />

Meisterprüfungen) werden EU-weit anerkannt.<br />

�Freizügigkeit W. M.<br />

Nomenklaturen. Systematische Klassifizierung<br />

von Begriffen, insbes. für statistische Zwecke oder<br />

zur Normung von Verfahren.<br />

In der EU werden Nomenklaturen im Amtsblatt der<br />

Europäischen Union veröffentlicht. Beispiele: Classification<br />

of Products According to Activities (CPA;<br />

Güterklassifikation in Zusammenhang mit den Wirtschaftszweigen),<br />

veröffentlicht in Abl. L 342 vom<br />

31. 12. 1993; Common Procurement Vocabulary<br />

(CPV; Gemeinsames Vokabular für öffentliche Aufträge).<br />

Nomenklaturen der EU sind in der Regel konform<br />

mit internationalen Nomenklaturen, z. B. der WTO<br />

oder den UN.<br />

Nordischer Rat, seit 1952 ein Forum für regionale<br />

interparlamentarische Zusammenarbeit zwischen<br />

Dänemark, Finnland, Island, Norwegen und Schweden<br />

sowie den drei autonomen Territorien Grönland,<br />

Färöer und Åland. Mitglieder sind 87 aus den natio-


nalen Parlamenten entsandte Abgeordnete: 7 aus Island<br />

und je 20 aus den übrigen vier Staaten, wobei die<br />

dänische Delegation 2 Abgeordnete aus Grönland<br />

und 2 aus Färöer enthält, die finnische 2 aus Åland.<br />

Der Nordische Rat tagt seit 1996 einmal jährlich und<br />

kann sich außerdem zu Sondersitzungen treffen. Die<br />

Arbeit erfolgt im Plenum sowie in 4 Fraktionen und 5<br />

Ständigen Ausschüssen: Kultur/Bildung/Ausbildung/Forschung,<br />

Soziales/Gesundheit, Bürger-/<br />

Verbraucherrechte, Umwelt/natürliche Ressourcen,<br />

Arbeit/Industrie.<br />

Der Nordische Rat kann Empfehlungen an den Nordischen<br />

Ministerrat geben, seit 1971 das Forum für<br />

Zusammenarbeit der Regierungen. Der Ministerrat<br />

tagt auf Ebene der Premierminister und der Fachminister.<br />

Die Premierminister treffen sich stets vor Tagungen<br />

des Europäischen Rats der EU.<br />

Der Nordische Rat hat 1954 einen einheitlichen<br />

skandinavischenArbeitsmarktgeschaffen. W. M.<br />

Anschrift des Sekretariats: Nordic Council, P.O. Box 3043,<br />

Store Strandstræde 18, DK-1021 Kopenhagen.<br />

NORMAPME, Europäisches Büro des Handwerks<br />

und der Klein- und Mittelbetriebe für die Normung.<br />

1996 mit Unterstützung der Europäischen Kommission<br />

gegründet, Sitz in Brüssel. �CEN<br />

Normenhierarchie. Mit dem Begriff der Normenhierarchie<br />

wird die Frage nach der Rangfolge von<br />

Vorschriften beschrieben. Regelmäßig stellt sich bei<br />

zwei oder mehreren sich widersprechenden Vorschriften<br />

die Frage, welcher von ihnen Folge zu leisten<br />

ist.<br />

Für den Bereich des europäischen Gemeinschaftsrechts<br />

lässt sich feststellen, dass das sog. primäre Gemeinschaftsrecht<br />

(Gründungsverträge, Protokolle<br />

zu den Verträgen und allgemeine Rechtsgrundsätze<br />

des Gemeinschaftsrechts) dem sekundären Gemeinschaftsrecht,<br />

also den Verordnungen, Richtlinien<br />

undEntscheidungen(�RechtsaktederEU)vorgeht.<br />

Ungleich bedeutsamer als die Hierarchie gemeinschaftsrechtlicher<br />

Normen untereinander ist jedoch<br />

die Frage der Normenhierarchie des Gemeinschaftsrechts<br />

zum Recht eines Mitgliedstaates. Der EuGH<br />

hat diese Frage in der sog. �Costa/ENEL-Entscheidung<br />

aus dem Jahre 1964 bereits sehr früh dahingehend<br />

entschieden, dass Gemeinschaftsrecht, welches<br />

den Befugnissen der Verträge entsprechend gesetzt<br />

wurde, jedem entgegenstehenden nationalen<br />

Normung<br />

Recht vorgeht. Auch eine Richtlinie oder Entscheidung<br />

auf Gemeinschaftsebene kann deshalb die Anwendbarkeit<br />

nationalen Verfassungsrechts hindern.<br />

Gemeinschaftsrechtlich wird dies mit Art. 10 Abs. 2<br />

EGV begründet, wonach die Mitgliedstaaten alle<br />

Maßnahmen unterlassen, welche die Verwirklichung<br />

der Ziele des Vertrages gefährden können.<br />

Rechtsfolge dieser Vorrangregel im Kollisionsfall<br />

ist, dass dem Gemeinschaftsrecht widersprechendes<br />

nationales Recht zwar nicht nichtig, wohl aber – im<br />

konkretenFall–unanwendbarist. Ch. S.<br />

Normung, technische Normen<br />

1. Begriff und Grundlagen: Normen sind technische<br />

Dokumente, die öffentlich zugänglich sind, deren<br />

Anwendung jedermann freisteht und die auf gesicherten<br />

Ergebnissen von Wissenschaft, Technik und<br />

Erfahrung aufbauen. Sie werden von den interessierten<br />

Kreisen nach konsensorientierten Verfahren unter<br />

der Schirmherrschaft anerkannter Normungsorganisationen<br />

erarbeitet und von Letzteren unter deren<br />

Namen herausgegeben (DIN-Normen, Normes<br />

NF, BS Standards, usw.).<br />

Normen enthalten Festlegungen über technische Erzeugnisse,<br />

Verfahren und Dienstleistungen, über<br />

Verständigung, Produkteigenschaften, Prüfungen,<br />

Lieferbedingungen,Schnittstellenu.a.m.Dabeiwerden<br />

die Verbesserung der Eignung von Erzeugnissen,<br />

Verfahren und Dienstleistungen für ihren geplanten<br />

Zweck, die Vermeidung von HandelshemmnissenunddieErleichterungdertechnischenZusammenarbeit<br />

angestrebt.<br />

Normen sind keine technischen Vorschriften. Letztere<br />

enthalten vielmehr verbindliche rechtliche Festlegungen<br />

und werden von Behörden erstellt. Technische<br />

Vorschriften können aber auf verschiedene<br />

Weisen auf Normen Bezug nehmen und sich so den<br />

darin enthaltenen Sachverstand zu eigen machen.<br />

AufvielenGebietenhatsicheineArbeitsteilungzwischenStaatundprivaterNormungentwickelt,häufig<br />

in dem Sinne, dass durch Gesetz rechtliche Rahmenbedingungen<br />

in Fragen Sicherheit und Gesundheitsschutzvorgegebenwerden.TechnischeEinzelheiten<br />

können dann durch Verweis auf die „Anerkannten<br />

Regeln der Technik“ ausgefüllt werden.<br />

2. Entwicklung der europäischen Normung: Viele<br />

der heute bestehenden Normungsorganisationen<br />

wurdenbereitszuBeginndesvorigenJhs.gegründet.<br />

1917 entstand der Normenausschuss der Deutschen<br />

565


Normung<br />

Industrie (später DIN Deutsches Institut für Normung).<br />

1926 wurde ein internationaler Verband der<br />

nationalen Normungsorganisationen (ISA) gebildet<br />

und 1946 dessen Nachfolgeorganisation, die Internationale<br />

Organisation für Normung (ISO). Besonders<br />

alt sind das Britische Normungsinstitut (BSI,<br />

1901) und die Internationale Elektrotechnische<br />

Kommission (IEC, 1906).<br />

Die Europäischen Komitees für Normung (�CEN)<br />

und Elektrotechnische Normung (�CENELEC) entstanden<br />

Anfang der 1960er Jahre, nachdem 1957<br />

durch die Römischen Verträge die EWG und die<br />

EURATOMgegründetwordenwaren.1987gingdas<br />

Europäische Institut für Telekommunikationsnormen<br />

(ETSI) aus der Normungstätigkeit der Europäischen<br />

Konferenz der Post- und Fernmeldeverwaltungen<br />

hervor.<br />

Ab Mitte der 1980er Jahre entwickelte sich eine<br />

förmliche Zusammenarbeit zwischen den europäischen<br />

Normungsorganisationen und der Europäischen<br />

Kommission, insbes. im Zusammenhang mit<br />

dem europäischen Informationsverfahren für Normen<br />

und Technische Vorschriften (siehe Ziff. 4).<br />

3. Internationale und Europäische Normung: Die Internationale<br />

Organisation für Normung (ISO), die<br />

Internationale Elektrotechnische Kommission<br />

(IEC), die Europäischen Komitees für Normung und<br />

Elektrotechnische Normung (CEN/CENELEC) sowie<br />

das Europäische Institut für Telekommunikationsnormen<br />

(ETSI) sind privatrechtliche Vereinigungen<br />

nach schweizerischem, belgischem bzw.<br />

französischem Recht. Sie haben – ausgenommen<br />

ETSI – je Land nur ein Mitglied (gewöhnlich das nationale<br />

Normeninstitut), das die gesamten Normungsinteressen<br />

dieses Landes zu vertreten hat. Abgesehen<br />

von der „gewichteten Abstimmung“ bei der<br />

Annahme Europäischer Normen hat jedes Mitglied<br />

jeweils eine Stimme.<br />

DerzeitsindinCEN/CENELEC28Ländervertreten,<br />

insbes. die Mitgliedsländer der EU und der EFTA.<br />

International sind es 64 Länder bei der IEC und 148<br />

Länder bei der ISO (die als einzige der genannten OrganisationeneinenhohenAnteilvonMitgliedernaus<br />

der Dritten Welt aufweist). Zwischen ISO und CEN<br />

sowie zwischen IEC und CENELEC gibt es Kooperationsabkommen,<br />

im Rahmen derer die wechselseitige<br />

Übernahme oder Anerkennung von Arbeitsergebnissen<br />

möglich ist. Hauptergebnisse der internationalenundeuropäischenNormungsorganisationen<br />

566<br />

sind Internationale und Europäische Normen. Zu<br />

Einzelthemen, die für eine Normenveröffentlichung<br />

(noch) nicht geeignet sind (z. B. wegen einer noch<br />

nicht in der Praxis erprobten Technologie oder auf<br />

Gebieten mit hohem Innovationsgrad), können vorbereitende<br />

oder vorläufige Dokumente (Technische<br />

Spezifikationen, Fachvereinbarungen [Workshop<br />

Agreements]oderFachberichte[TechnicalReports])<br />

veröffentlicht werden.<br />

Die Internationalen Normen der ISO und IEC werden<br />

als eigenständige Publikationen veröffentlicht<br />

und können direkt (etwa in internationalen Geschäftsverträgen)<br />

angewendet werden. Sie stellen<br />

gleichzeitig Empfehlungen an die ISO- und IEC-<br />

Mitglieder dar, entsprechende nationale Normen herauszugeben;<br />

eine konkrete Verpflichtung hierzu<br />

(etwa durch Satzung) besteht jedoch nicht.<br />

Europäische Normen werden nicht als eigenständige<br />

Dokumente, sondern nur als nationale Fassungen<br />

veröffentlicht. Bis auf wenige Ausnahmefälle sind<br />

alle CEN/CENELEC-Mitglieder verpflichtet, angenommenen<br />

Europäischen Normen – auch mehrheitlich<br />

angenommenen – innerhalb einer bestimmten<br />

Frist den Status einer nationalen Norm zu geben und<br />

abweichende nationale Normen zurückzuziehen.<br />

4. Die Rolle der Normung im Europäischen Binnenmarkt:<br />

Der Europäische Binnenmarkt mit seinem<br />

Ziel des freien Warenverkehrs erfordert die Angleichung<br />

der einzelstaatlichen Vorschriften, nationalen<br />

Normen und Prüf-, Zertifizierungs- und Zulassungsverfahren.<br />

Nationale Normen können zwar keine<br />

förmlichen Handelshemmnisse verursachen, denn<br />

sie sind freiwillig angewandte Empfehlungen und<br />

entstehen hauptsächlich dort, wo der Markt und die<br />

Wirtschaft sie zur Beschreibung des Standes der<br />

Technik als notwendig erachten. Durch Verweisungen<br />

in Rechtsvorschriften und das Kaufverhalten der<br />

Verbraucher können sie sich aber indirekt auf den<br />

Warenverkehr auswirken. Dies gilt um so mehr,<br />

wenn von maßgeblichen Stellen (Kunden, Aufsichtsbehörden)<br />

Konformitätsnachweise verlangt<br />

werden.<br />

Angewandte Mittel zur Beseitigung der durch technische<br />

Vorschriften verursachten Handelsschranken<br />

sind die �gegenseitige Anerkennung von Vorschriften<br />

und Prüfergebnissen einerseits oder die �Harmonisierung<br />

von Vorschriften und Prüfverfahren andererseits.<br />

Die vollständige Harmonisierung der technischen<br />

Vorschriften durch EG-Richtlinien in den


1960er und 1970er Jahren nahm von der Normung<br />

zunächst keine Notiz, vielmehr wurden in „Technischen<br />

Anhängen“ zu den Richtlinien alle erforderlichen<br />

Einzelheiten gesetzlich festgelegt, was sich<br />

bald als schwerfällig und ineffektiv erwies.<br />

Zu einer Änderung dieser Politik kam es durch die<br />

EG-Richtlinie über das Informationsverfahren für<br />

NormenundTechnischeVorschriften(98/34,ABl.L<br />

204/1998, geändert durch RL 98/48, ABl. L 217/<br />

1998). Diese Richtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten<br />

zur Meldung ihrer geplanten nationalen technischen<br />

Rechtsakte sowie die nationalen Normungsorganisationen<br />

zur Offenlegung ihrer Arbeitsprogramme.<br />

In der Praxis hat dies zu einem regen Kommunikationsprozess<br />

zwischen den Beteiligten und<br />

zu einer intensiven Zusammenarbeit geführt. So<br />

werden inzwischen Europäische Normen regelmäßig<br />

im Rahmen des „Neuen Konzepts“ (siehe Ziff. 5)<br />

zur Ausfüllung von Sicherheitsanforderungen in<br />

EG-Richtlinien herangezogen.<br />

5. Neues Konzept der technischen Harmonisierung<br />

und Normung: Dieses 1985 begründete Prinzip ermöglicht<br />

es, durch die Veröffentlichung relativ weniger<br />

Richtlinien eine große Zahl von Produkten zu<br />

erfassen. Die jeweilige Richtlinie enthält die grundlegenden<br />

Anforderungen und gemeinsamen Schutzziele<br />

für einen bestimmten Sektor (z. B. Maschinen,<br />

Bauprodukte, medizinische Geräte). Sie muss von<br />

den Mitgliedstaaten inhaltlich in nationales Recht<br />

umgesetzt werden. Durch Konformitätsbewertungsverfahren<br />

wird die Übereinstimmung mit den grundlegenden<br />

Anforderungen der Richtlinie festgestellt<br />

und bestätigt. Art und Strenge der Bewertungsverfahren<br />

richten sich nach den Risiken der Produkte<br />

undwerdeninderjeweiligenRichtliniefestgelegt.<br />

„Harmonisierte“ Europäische Normen füllen die<br />

grundlegenden Anforderungen aus und geben beispielhafte<br />

technische Lösungen an. Sie müssen von<br />

den europäischen Normungsorganisationen im Rahmen<br />

von Normungsaufträgen der EU („unter Mandat“)<br />

erarbeitet werden und technische Einzelheiten<br />

zur Erfüllung der in der Richtlinie aufgestellten<br />

grundlegenden Anforderungen bieten. Ferner müssen<br />

sie im Amtsblatt angekündigt werden. Ihre Anwendung<br />

bei der Herstellung eines Produktes führt<br />

zur Vermutung der Konformität des Produktes mit<br />

der Richtlinie. Die Normen bleiben jedoch freiwillige<br />

Empfehlungen; die Hersteller behalten die Freiheit,<br />

abweichend von der Norm zu produzieren und<br />

die Konformität mit der Richtlinie mit anderen Mitteln<br />

nachzuweisen.<br />

Im Verlauf der vergangenen Dekade haben die Europäische<br />

Kommission, der Rat der Europäischen<br />

Union und auch das Europäische Parlament wiederholt<br />

die erfolgreiche Rolle der europäischen Normung<br />

im Zusammenhang mit der Vollendung des<br />

Binnenmarktes gewürdigt und Vorschläge zur breiteren<br />

Anwendung der Normung in der Gemeinschaftspolitik<br />

unterbreitet. Hierbei werden neuerdings<br />

auch wesentliche Gesichtspunkte im Zusammenhang<br />

der EU-Erweiterung angesprochen. So<br />

nennt die Kommission in einer aktuellen Mitteilung<br />

an Rat und Parlament über eine verbesserte Umsetzung<br />

der Richtlinien des neuen Konzepts das Letztere<br />

„eine solide Grundlage für Verhandlungen mit<br />

Drittländern über vielfältige Maßnahmen zum Abbau<br />

technischer Handelshemmnisse“. In der Praxis<br />

führt dies dazu, dass Kandidatenländer für einen<br />

EU-Beitritt bei CEN/CENELEC mit einer Art Gaststatus<br />

(als Affiliates) bereits vor einer Vollmitgliedschaft<br />

an der europäischen Normung teilhaben und<br />

geeigneteVorbereitungenfürdieTeilnahmeamBinnenmarkttreffenkönnen.<br />

K. P. Sch.<br />

Dokumente:<br />

Entschließung des Rates vom 7. 5. 1985 über eine neue<br />

Konzeption auf dem Gebiet der technischen Harmonisierung<br />

und der Normung. ABl. C 136/1985<br />

Entschließung des Rates vom 28. 10. 1999 über die Funktion<br />

der Normung in <strong>Europa</strong>; ABl. C 141/2000<br />

Entschließung des Rates vom 10. 11. 2003 zur Mitteilung der<br />

Europäischen Kommission „Verbesserte Umsetzung der<br />

Richtlinien des neuen Konzepts“; ABl. C 282/2003<br />

Nothaushalt �Haushaltsverfahren<br />

Notstandsverfahren<br />

Notruf 112giltinallenStaatenderEUundderEFTA<br />

für Feuerwehr, Polizei und Rettungsdienste neben<br />

evtl. bestehenden anderen nationalen Notrufnummern.<br />

Die Einführung der einheitlichen europäischenNotrufnummergehtaufeineEntscheidungdes<br />

Rates vom 29. 7. 1991 zurück (91/396, ABl. L 217/<br />

1991) sowie auf eine folgende Richtlinie des Europäischen<br />

Parlaments und des Rates vom 7. 3. 2002<br />

(2002/21, ABl. L 208/2002). Um die Kenntnis und<br />

Nutzung der europäischen Notrufnummer zu fördern,<br />

wurde die European Emergency Number Association<br />

(EENA) mit Sitz in Belgien gegründet.<br />

Notstandsverfahren. In den Europäischen VerträgenwarbislangwederdieMöglichkeitdesAustrittes<br />

567


Novel-Food-Verordnung<br />

noch des Ausschlusses eines Mitgliedstaats aus der<br />

EU vorgesehen. Mit Inkrafttreten des Amsterdamer<br />

Vertrags am 1. 5. 1999 wurde jedoch in den Artikeln<br />

7 EUV und 309 EGV / 96 EGKSV / 204 EAGV – aus<br />

Sorge vor großen politischen Veränderungen bzw.<br />

fundamentalen Umstürzen in den noch wenig gefestigten<br />

„jungen Ost-Demokratien“ – ein neuartiges<br />

Notstandsverfahren in die Vertragswerke eingefügt.<br />

Hiernachhätteseitherbei„schwerwiegenderundanhaltender<br />

Verletzung“ der freiheitlich-demokratischen<br />

EU-Grundordnung beschlossen werden können,<br />

für den betreffenden Mitgliedstaat bestimmte<br />

Rechte, die sich aus der Vertragsanwendung herleiten,<br />

einschl. der Stimmrechte des Regierungsvertreters<br />

im Rat, auszusetzen.<br />

Als Reaktion auf die Aktion gegen �Österreich<br />

(2000) weitete der Vertrag von Nizza das Notstandsverfahren<br />

aus. Dessen Einleitung setzt künftig nicht<br />

mehr die schwerwiegende und anhaltende Verletzung<br />

der freiheitlich-demokratischen EU-Grundordnung<br />

voraus. Vielmehr genügt hierfür schon die<br />

„eindeutige Gefahr“. Artikel 7 EUV wurde mithin<br />

umeineArtWarnvorstufeergänzt,dienunmehrauch<br />

vom Parlament mit herbeigeführt und in der das – im<br />

Fall Österreich erprobte – Instrument des „Berichts<br />

der Weisen“ eingesetzt werden kann. Bei allen Sanktionen<br />

sollen immer die möglichen Auswirkungen<br />

auf die Rechte und Pflichten natürlicher und juristischer<br />

Personen Berücksichtigung finden.<br />

Inwieweit das Instrument des EU-Notstandsverfahrens<br />

tatsächlich praktikabel ist, wird die Zukunft<br />

zeigen. Sicher würde schon die Einleitung eines<br />

solchen Verfahrens disziplinierende Wirkung<br />

zeigen.Klarist,dassdieUnioninletzterKonsequenz<br />

nichtübereinschneidendeZwangsmittelverfügt,um<br />

ein dauerhaft gemeinschaftsfeindliches Verhalten –<br />

wie etwa einen faktischen Austritt bzw. eine wiederkehrende<br />

Politik des „leeren Stuhls“ – sicher zu unterbinden.<br />

J. M. B.<br />

Novel-Food-Verordnung. Am 15. 5. 1997 trat die<br />

Verordnung 258/97 des Europäischen Parlaments<br />

und des Rates vom 27. 1. 1997 über neuartige Lebensmittel<br />

und neuartige Lebensmittelzutaten (ABl.<br />

L 43/1997) nach einem langwierigen und sehr kontrovers<br />

verlaufenden Rechtsetzungsverfahren als<br />

unmittelbar geltendes Recht in Kraft.<br />

Die Novel-Food-Verordnung (NF-VO) führt insbes.<br />

ein präventives Kontroll- und Zulassungsverfahren<br />

568<br />

sowie ein Kennzeichnungssystem für „Genprodukte“<br />

ein. Zwar wurde bewusst keine abschließende<br />

Definition der erfassten Produkte vorgenommen,<br />

dennoch lassen sich insoweit drei Kategorien benennen<br />

(Art. 1 Abs. 2 NF-VO): Die erste Kategorie betrifft<br />

alle Lebensmittel und Lebensmittelzutaten, die<br />

genetisch veränderte Organismen (sog. GVO) im<br />

Endprodukt enthalten oder die aus solchen bestehen.<br />

Als bekanntes Beispiel hierfür kann die „Flavr-<br />

Savr“-Tomate genannt werden. Erfasst werden aber<br />

auch Verarbeitungsprodukte wie bspw. Tomatenmark<br />

oder -saft. Die zweite Kategorie betrifft Erzeugnisse,<br />

die aus genetisch veränderten Organismen<br />

hergestellt wurden, solche aber im Endprodukt<br />

selbstnichtmehrenthalten.AlsBeispielhierfürkann<br />

etwa Käse genannt werden, bei dessen Herstellung<br />

das aus GVO gewonnene Enzym Chymosin verwendet<br />

wurde. Bei der dritten Kategorie bildet nicht die<br />

Gentechnik, sondern die Verwendung sonstiger neuartiger<br />

Verfahren den Anknüpfungspunkt. Grundgedanke<br />

hierbei ist, dass ein nicht übliches Herstellungsverfahren<br />

eine bedeutende Veränderung der<br />

Lebensmittelstruktur oder -zusammensetzung (im<br />

Hinblick auf die Menge unerwünschter Stoffe, den<br />

Nährwert oder die Folgen für den menschlichen<br />

Stoffwechsel) herbeiführen kann. Auch die in nicht<br />

üblichen Verfahren produzierten Lebensmittel gelten<br />

als Novel-Food.<br />

Sinn und Zweck der NF-VO ist die Herbeiführung<br />

von Rechtssicherheit sowie insbes. der �Verbraucherschutz.<br />

Nach Art. 3 Abs.1 der Verordnung dürfen<br />

„Novel Food“ für den Verbraucher keine Gefahr<br />

darstellen, keine Irreführung bewirken und sich von<br />

vergleichbaren Lebensmitteln oder Lebensmittelzutaten,<br />

die sie ersetzen sollen, nicht so unterscheiden,<br />

dass ihr normaler Konsum Ernährungsmängel mit<br />

sich brächte.<br />

Der Verbraucherschutz soll durch folgendes – vereinfachtdargestelltes–Genehmigungsprozederegewährleistet<br />

werden: Die Einleitung des Verfahrens<br />

geschieht durch die Stellung eines qualifizierten Antrags<br />

bei der nationalen Zulassungsbehörde. Qualifiziert<br />

bedeutet, dass dem Antrag eine Kopie der<br />

durchgeführten Gefahrstudien, vorangegangene<br />

Entscheidungen nach dem Gentechnikrecht sowie<br />

einangemessenerVorschlagfürdieLebensmitteletikettierung<br />

beigefügt werden muss. Sodann veranlasst<br />

die nationale Lebensmittelprüfstelle eine Erstprüfung.GelangtsiehierbeizueinempositivenPrüf-


ericht, hat dennoch jeder Mitgliedstaat und auch die<br />

Kommission die Möglichkeit, einen begründeten<br />

Einwand gegen die Marktzulassung zu erheben. Nur<br />

wenn kein Einwand erhoben wird, erteilt die zuständige<br />

Behörde eine sog. mitgliedstaatliche Genehmigung<br />

zum Inverkehrbringen des Produkts, die gemeinschaftsweite<br />

Wirkung hat. Das Zulassungsverfahren<br />

ist dann abgeschlossen. Gelangt die nationale<br />

Lebensmittelprüfstelle dagegen zu einem negativen<br />

Prüfbericht oder werden Einwände erhoben, so geht<br />

die Verfahrensherrschaft automatisch auf die EG-<br />

Ebene über. Entscheidungsbefugt ist nunmehr die<br />

Kommission, die vom sog. Ständigen sowie vom<br />

Wissenschaftlichen Lebensmittelausschuss bei der<br />

Prüfung möglicher Gefahren für die öffentliche Gesundheit<br />

unterstützt wird. Die Kommission kann den<br />

Antrag schließlich ablehnen oder eine sog. Gemeinschaftsgenehmigung<br />

erteilen. Es sei noch erwähnt,<br />

dass für die einzelnen Verfahrensabschnitte detaillierte<br />

Fristen gelten. Bei Erteilung einer GenehmigungkönnendemAntragstellerzudemAuflagenund<br />

insbes. rechtsverbindliche Kennzeichnungs- bzw.<br />

Etikettierungsvorgaben gemacht werden. Die Kennzeichnung<br />

ist Pflicht, wenn ein Produkt nicht mehr<br />

den (vergleichbaren) bestehenden Lebensmitteln<br />

„gleichwertig“ ist, wenn vorhandene Stoffe, die in<br />

vergleichbaren Lebensmitteln nicht enthalten sind,<br />

die Gesundheit bestimmter Bevölkerungsgruppen<br />

beeinflussen können, wenn vorhandene Lebensmittelzutaten<br />

„ethische Vorbehalte“ auslösen bzw.<br />

wenn ein Produkt gentechnisch veränderte Organismen<br />

enthält (Art. 8 Abs. 1 NF-VO).<br />

Die NF-VO hat zu kontroversen Diskussionen geführt.<br />

Moniert werden die unter rechtsstaatlichen<br />

Kriterien vielfach als höchst unbestimmt zu bezeichnenden<br />

Rechtsbegriffe der Verordnung. Was bspw.<br />

ist unter „Gefahr“ für den Verbraucher, was unter<br />

„ethischen Vorbehalten“ zu verstehen? Beanstandet<br />

wirdweiterdasFehlendynamischerGrundpflichten,<br />

die den Hersteller auch nach der Zulassung zur Produktbeobachtung,<br />

Aufzeichnung und rechtzeitigen<br />

Nachinformation der Verbraucher verpflichten. Aus<br />

Kreisen der Gentechnik-Gegner wird die Verordnung<br />

meist pauschal als unzureichend abgelehnt.<br />

Nur das Verbot der neuartigen Nahrungsmittel könne<br />

als sinnvolle Lösung akzeptiert werden. Aus Kreisen<br />

der Hersteller, Industrie und Forschung dagegen<br />

wird die NF-VO als unverhältnismäßig bzw. zumindest<br />

in Teilbereichen als überflüssig eingestuft. In<br />

keinem Fall hätten sich bisher die beim Einsatz von<br />

Gentechnik vermuteten Risiken realisiert. Angezweifelt<br />

wird zudem, ob die vorgesehene Einzelfallprüfung<br />

auf Dauer sinnvoll ist (vgl. zur NF-VO umfassend<br />

Wahl/Groß, DVBl. 1998, 2).<br />

Die Amerikaner sind recht großzügig bei der Zulassung<br />

von Gen-Nahrung. Sie sind überzeugt, dass<br />

Gen-Pflanzen ebenso sicher sind wie auf klassische<br />

Weise gekreuzte Gewächse. Deshalb gibt es in den<br />

USA keine Kennzeichnungspflicht und wenig Verständnis<br />

für Vorbehalte besonders der Deutschen gegenüber<br />

der Gen-Technik. Die Zukunft wird zeigen,<br />

ob dem Gemeinschaftsgesetzgeber mit der NF-VO<br />

und den noch erforderlichen konkretisierenden Ausführungsbestimmungen<br />

ein angemessener Ausgleich<br />

der widerstreitenden Interessen gelungen ist.<br />

Auch der EuGH, der sich bisher im Novel-Food-<br />

Bereich nur sehr zurückhaltend geäußert hat (vgl.<br />

Öko-Landbau-Urteil vom 13. 7. 1995, C 156/93,<br />

DVBl. 1995, 1285), wird sicherlich zur Klärung offenerFragenbeitragen.<br />

J. M. B.<br />

NRO �Nichtregierungsorganisation<br />

NTA �Neue Transatlantische Agenda<br />

NRO<br />

NUTS (nomenclature commune des unités territoriales<br />

statistique) ist die Klassifikation der Gebietseinheiten<br />

in der EU für die Statistik. Zu Beginn der<br />

1970er Jahre vom Statistischen Amt der Europäischen<br />

Gemeinschaften (eurostat) geschaffen, durch<br />

Verordnung (EG) Nr. 1059/2003 ersetzt durch die<br />

von der EU geschaffene Klassifikation NUTS (seit<br />

11. 7. 2003 in Kraft). Die NUTS-Klassifikation unterteilt<br />

das Wirtschaftsgebiet der Mitgliedstaaten<br />

hierarchischindreiEbenen,denenbestimmteBevölkerungsgrenzen<br />

entsprechen: NUTS 1 hat eine Untergrenze<br />

von 3 und eine Obergrenze von 7 Mio. Einwohnern,<br />

für NUTS II sind die Werte 800 000 und<br />

3 Mio. bestimmend, für NUTS III 150 000 und<br />

800000.WenndieBevölkerungeinesMitgliedstaats<br />

unter einer der genannten Obergrenzen bleibt, ist der<br />

gesamte Staat eine NUTS-Einheit der entsprechenden<br />

Ebene. �Regionen.<br />

569


Obligatorische Ausgaben<br />

Obligatorische Ausgaben (OA) und nichtobligatorische<br />

Ausgaben (NOA) waren vor 1993 nicht eindeutigvoneinanderzutrennen.DerUnterschiedzwischen<br />

beiden ist politisch definiert, nicht vertraglich.<br />

Das EP kann derzeit nach Art. 272 Abs. 4 EGV bei<br />

den Beratungen der Haushaltsbehörde über den Entwurf<br />

des Haushaltsplans Änderungen in Bezug auf<br />

Ausgaben, die sich zwingend aus dem Vertrag oder<br />

dem daraus abgeleiteten Sekundarrecht ergeben, nur<br />

vorschlagen. Für diese OA hat der Rat das letzte<br />

Wort, während das EP bei den NOA Änderungen<br />

vornehmen kann. Um Konflikte bei der Einstufung<br />

der Ausgaben zu vermeiden, haben EP, Rat und<br />

Kommission in einer Gemeinsamen Erklärung vom<br />

30. 6. 1982 (ABl. C 194 vom 28. 7. 1982) eine (nicht<br />

sehr konkrete) Definition zu geben versucht und in<br />

einer Liste alle damals bestehenden Haushaltslinien<br />

nach OA und NOA eingestuft. Die Kommission sollte<br />

im Vorentwurf des Haushaltsplans bereits eine<br />

Einstufung vornehmen, die anschließend von den<br />

Präsidenten der drei Organe in einem Trilog endgültig<br />

festgelegt wurde. In einer Institutionellen Vereinbarung<br />

vom 29. 10. 1993 (ABl. C 331 vom 7. 12.<br />

1993) kamen die Organe überein, alle Ausgaben für<br />

strukturpolitische Maßnahmen sowie für interne Politikbereiche<br />

als NOA einzustufen. OA sind danach<br />

nur die Ausgaben für den �EAGFL, Abteilung Garantie,<br />

bestimmte externe Ausgaben (z. B. im Rahmen<br />

von Fischereiabkommen) sowie Altersversorgungsausgaben<br />

für Beamte und Bedienstete der<br />

EU-Organe.<br />

Der Vertrag über eine Verfassung für <strong>Europa</strong> will die<br />

Einteilung in OA und NOA aufheben und damit die<br />

Haushaltsrechte des EP weiter stärken.<br />

OBNOVA. Die EU-Kommission hat zur WiederaufbauhilfefürdievomBürgerkriegschwerbetroffenen<br />

Teile des ehemaligen Jugoslawiens (faktisch: Bosnien<br />

und Herzegowina) spezielle Mittel bereitgestellt,dienichtdenherkömmlichenStrukturenbestehender<br />

EU-Programme entsprechen. Für sie wurden<br />

spezifische Haushaltslinien (im Bundeshaushalt wären<br />

diese in etwa Haushaltstiteln vergleichbar), die<br />

mit dem südslawischen Begriff „obnova“ (= Wieder-<br />

570<br />

O<br />

aufbau) bezeichnet wurden, eingerichtet. Rechtsgrundlage<br />

bildet die Verordnung 1628/96 des Rates<br />

(ABl. L 204/1996), die Anfang 1998 überarbeitet<br />

wurde, um eine effizientere, unbürokratischere Verwendung<br />

der Mittel zu gewährleisten.<br />

Auf Basis der OBNOVA-Verordnung leistete die<br />

EUvon1996bis2000HilfenandieLänderdesWestbalkans<br />

(Albanien, Mazedonien, Bosnien und Herzegowina,<br />

Kroatien sowie Serbien und Montenegro).<br />

Über OBNOVA-Programme wurde ein erheblicher<br />

Teil der EU-Hilfen an die Region, die sich im<br />

zurückliegenden Jahrzehnt auf rund 4,5 Mrd. Euro<br />

beliefen, in Projekte umgesetzt. Die für den Wiederaufbau<br />

im Kosovo bestimmten OBNOVA-Mittel<br />

wurden nach Ende der militärischen Auseinandersetzung<br />

über die eigens geschaffene TAFKO/Task<br />

Force Kosovo geleitet. Seit Frühjahr 2000 wird diese<br />

Arbeit von der EU-�Wiederaufbauagentur Kosovo<br />

geleistet. OBNOVA wurde 2001 abgelöst durch das<br />

�CARDS-Programm.<br />

OCIPE (Office Catholique d’Information et<br />

d’Initiative Pour l’Europe) �KASEF<br />

Odysseus-ProgrammwareineGemeinsameMaßnahme<br />

vom 19. 3. 1998 aufgrund Art. K.3 des Maastrichter<br />

Vertrags (98/244/JI) mit dem Ziel, die Zusammenarbeit<br />

der Verwaltungen der EU-Staaten in<br />

der Asylpolitik, der Einwanderungspolitik und der<br />

Überwachung der Außengrenzen zu verbessern.<br />

Laufzeit 1998 bis 2002. Nachfolger ist das Programm<br />

�Argo.<br />

OECD �Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit<br />

und Entwicklung<br />

Offene Koordinierungsmethode,<br />

offene Methode der Koordinierung. Die sog. „offeneKoordinierungsmethode“isteinSteuerungsinstrument<br />

für die Zusammenarbeit der Europäischen<br />

Union mit den Mitgliedstaaten, die Bürgernähe und<br />

Subsidiaritätermöglichensoll.Siewirdauch„offene<br />

Methode der Koordinierung“ oder „offenes Koordinierungsverfahren“<br />

genannt.


1.FestlegungderMethode.DerEuropäischeRatlegte<br />

bei seiner Sondersitzung in Lissabon am 23./24. 3.<br />

2000 das Ziel fest, „die Europäische Union bis zum<br />

Jahr 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten<br />

wissensbasierten Wirtschaftsraum der<br />

Welt zu machen“ (�Lissabonstrategie). Um dieses<br />

Ziel zu erreichen, wurde eine besondere Methode der<br />

Koordinierung eingeführt. Diese Methode war bereits<br />

seit dem Vertrag von Amsterdam in der europäischen<br />

Beschäftigungspolitik festgelegt (Art. 128<br />

EGV) und ist Teil der europäischen Beschäftigungsstrategie<br />

im sog. �„Luxemburg-Prozess“. Der Europäische<br />

Rat legte in Lissabon fest, dass diese Methode<br />

nunmehr für alle Ebenen offen sein sollte – gekoppelt<br />

an eine stärkere Leitungs- und Koordinierungsfunktion<br />

des Europäischen Rates. Damit soll eine kohärentere<br />

strategische Leitung und eine effektive<br />

Überwachung der Fortschritte in den einzelnen Mitgliedstaaten<br />

gewährleistet sein.<br />

2. Inhalt der Methode. Bei der „offenen Koordinierungsmethode“<br />

werden in Leitlinien die kurz-, mittel-<br />

und langfristigen Ziele festgesetzt, die es unionsweit<br />

– unter Berücksichtigung der nationalen Vielfalt<br />

– zu erreichen gilt. Dann wird ein genauer ZeitplanzuderenUmsetzungerstellt.FürdieUmsetzung<br />

werden ggf. quantitative und qualitative Indikatoren<br />

und �Benchmarks festgelegt. Hier soll im Vergleich<br />

mit den Besten in der Union und in Kenntnis bewährterPraktikeninanderenMitgliedstaateneinAnsporn<br />

für die Umsetzung der Leitlinien durch die Mitgliedstaaten<br />

geschaffen werden. Denn die festgelegten<br />

europäischen Leitlinien müssen in die nationale und<br />

regionale Politik umgesetzt werden. Hierzu müssen<br />

unter Berücksichtigung der nationalen und regionalen<br />

Unterschiede in den einzelnen Mitgliedstaaten<br />

jeweils konkrete Ziele entwickelt und entsprechende<br />

Maßnahmen durchgeführt werden. Dieser Prozess<br />

der nationalen Umsetzung wird dann von der Europäischen<br />

Union überwacht und bewertet, wobei alle<br />

Seiten voneinander lernen sollen. Zur Überwachung<br />

wird häufig auf das sog. „peer review“ Verfahren,<br />

d. h. auf externe Expertenberichte gesetzt.<br />

3. Anwendungsbereiche der Methode. Die „offene<br />

Koordinierungsmethode“ anhand von verbindlichen<br />

Leitlinien kann in Bereichen angewandt werden, in<br />

denen die Union auch eine entsprechende Gestaltungskompetenz<br />

nach dem Vertrag hat – sei es, dass<br />

sie die Zuständigkeit hat, Recht zu setzen oder dass<br />

ihr im Vertrag eine Koordinierungskompetenz ein-<br />

Offene Koordinierungsmethode<br />

geräumt ist. Hierzu zählt z. B. die Wirtschaftspolitik<br />

(Art. 99 EGV). Die Aufstellung der Konvergenzkriterien<br />

bei der Schaffung der Wirtschafts- und Währungsunion<br />

war geradezu Vorbild für die Einführung<br />

des „offenen Koordinierungsverfahrens“. Außerdem<br />

kennt der EG- Vertrag die Selbstkoordinierung<br />

der Politiken der einzelnen Mitgliedstaaten, wobei<br />

die Europäische Kommission alle Initiativen ergreifen<br />

kann, die dieser Politik förderlich sind wie z. B.<br />

bei der Gesundheitspolitik (Art. 152 EGV) und der<br />

Industriepolitik (Art. 157 EGV).<br />

In einer Reihe von Bereichen wird die „offene Methode<br />

der Koordinierung“ allerdings angewandt,<br />

ohne dass die entsprechenden Handlungsbefugnisse<br />

der Union im Vertrag gegeben sind. Leitlinien und<br />

Zielvorgaben sowie die regelmäßige Überwachung,<br />

Bewertung und Prüfung des Erreichten und unter<br />

Umständen sogar Sanktionen würden jedoch den<br />

Kompetenzrahmen der Europäischen Union überschreiten.<br />

Aber gleichwohl werden Ziele gesetzt,<br />

Vergleichsindikatoren aufgestellt und Berichte eingefordert.<br />

Angesichts des Drucks der Überwachung<br />

und der Evaluierung entwickelt sich hier eine starke<br />

politische Bindung der Mitgliedstaaten und eine indirekte<br />

„gegenseitige Verantwortlichkeit“ für das<br />

Erreichen der Ziele. Ein großer Anwendungsbereich<br />

ist für die Kommission die digitale Entwicklung der<br />

Europäischen Union in der Initiative �„eEurope“.<br />

Entsprechend wurde diese offene KoordinierungsmethodevonderEuropäischenKommissionauchals<br />

ein Quantensprung in der Zusammenarbeit in den<br />

Politikbereichen, in denen keine Gemeinschaftsvorgaben<br />

möglich sind, wie vor allem der Bildungspolitik,<br />

gewertet.<br />

4. Zur Problematik der „offenen Koordinierung“ im<br />

Bildungsbereich.BeispielhaftfürdieseEntwicklung<br />

der „offenen Koordinierungsmethode“ in einem Bereich<br />

nur gering ausgeprägter Unions- bzw. Gemeinschaftszuständigkeiten<br />

ist der Bereich von Bildung<br />

und Kultur, wo jegliche Harmonisierung der Rechtsund<br />

Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten<br />

durch europäische Vorgaben ausdrücklich untersagt<br />

sind (Artikel 149, 150, 151 EGV). Gerade hier aber<br />

hat der Europäische Rat in Lissabon konkrete und ins<br />

Einzelne gehende Ziele gesetzt (�Lissabon-Strategie<br />

im Bildungsbereich).<br />

Dabei wurde der Bildungsministerrat aufgefordert,<br />

allgemeine Überlegungen über die konkreten künftigen<br />

Ziele der Bildungssysteme anzustellen und sich<br />

571


Offene Koordinierungsmethode<br />

dabei auf gemeinsame Anliegen und Prioritäten zu<br />

konzentrieren,zugleichaberdienationaleVielfaltzu<br />

achten. Auf Grund dieser Vorgabe beschlossen die<br />

Bildungsminister der Mitgliedstaaten im Bildungsministerrat<br />

anhand einer Vorlage der Europäischen<br />

Kommission vom 12. 2. 2001 einen Bericht über die<br />

„strategischen Ziele der Bildungssysteme für die<br />

nächsten 10 Jahre“ und darauf aufbauend am 14. 2.<br />

2002 ein Arbeitsprogramm zur Umsetzung der Ziele<br />

der Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung<br />

(ABl. C 142/2002). Auch hier funktionierte somit<br />

die Europäische Kommission als Initiator und<br />

Katalysator.<br />

Die Anwendung der „offenen Methode der Koordinierung“<br />

für den Bildungsbereich erfuhr im Rat eine<br />

Abschwächung, die der eingeschränkten Zuständigkeit<br />

der Union in diesem Politikfeld entsprach. Im<br />

Mittelpunkt sollen die eigenen Entscheidungen der<br />

Mitgliedstaaten stehen, die im Rahmen eines völlig<br />

dezentralen Ansatzes sowie unterschiedlicher Formen<br />

von Partnerschaften die europäischen Durchschnittswerte<br />

und Beispiele von „best practice“ als<br />

eine Hilfe bei der schrittweisen Entwicklung ihrer eigenen<br />

Politiken betrachten sollen. Die Vorgaben der<br />

europäischenEbenesollenkeineverbindlicheLeitlinienfunktion<br />

haben, sondern nur unterstützend und<br />

ergänzend die mitgliedstaatlichen Politiken begleiten.<br />

Gemeinsame Referenzwerte als �Benchmarks,<br />

die in der Europäischen Union im Ganzen erreicht<br />

werden sollen, werden in der Form von europäischen<br />

Durchschnittsbezugswerten aufgeführt, die keine<br />

sanktionsbewährte Festlegung einzelstaatlicher Ziele<br />

enthalten und keine Entscheidungen vorgeben, die<br />

von den jeweiligen Regierungen getroffen werden<br />

müssen (Ratsschlussfolgerungen vom 5. 5. 2003 in<br />

ABl. C 134/2003). Die der Methode inhärente regelmäßige<br />

Beobachtung, Evaluierung und gegenseitigen<br />

Bewertungen sollen als Lernprozesse aller Beteiligten<br />

gestaltet werden (Beschluss des Rates zum<br />

Arbeitsprogramm „Ziele“ (seit 2004 Arbeitsprogramm<br />

„Bildung und Ausbildung 2010“ vom 14. 2.<br />

2002). Die Frage, ob die eingeschränkten Unions-,<br />

bzw. Gemeinschaftszuständigkeiten eine Verpflichtung<br />

der Mitgliedstaaten zur Berichterstattung über<br />

die Einhaltung und den Fortschritt zur Erreichung<br />

dieser Ziele erlauben, führte im Rat der Bildungsminister<br />

am 26. 2. 2004 zur Zusage einer freiwilligen<br />

Berichtslegung ohne allzu großen bürokratischen<br />

Aufwand (ABl. C 104/2004). Aber auch hier wird<br />

572<br />

das Ausloten weitergehen, wieweit konkrete Vorgaben<br />

der Kommission zu einer Koordinierung der Berichte<br />

an Hand gemeinschaftlicher Durchschnittswerte<br />

akzeptiert werden.<br />

5. Die Koordinierungstätigkeit der Union nach dem<br />

�Verfassungsvertrag 2004. Die Koordinierung der<br />

Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik ist im Verfassungsvertrag<br />

als ausdrücklicher Zuständigkeitsbereich<br />

in Artikel I-15 festgelegt. Darüber hinaus<br />

sieht der Verfassungsvertrag 2004 nunmehr ausdrücklich<br />

eine Koordinierungszuständigkeit der Europäischen<br />

Union auch in anderen Beereichen vor.<br />

Dies gilt für folgende Tätigkeitsfelder mit europäischer<br />

Zielsetzung (Artikel I-17 VVE 2004):<br />

a) Schutz und Verbesserung der menschlichen Gesundheit,<br />

b) Industrie,<br />

c) Kultur,<br />

d) Tourismus,<br />

e) allgemeine Bildung, Jugend, Sport und berufliche<br />

Bildung,<br />

f) Katastrophenschutz,<br />

g) Verwaltungszusammenarbeit.<br />

Das wird dann in den Bestimmungen zu den einzelnen<br />

Politikbereichen näher dargelegt, wie z. B. bei<br />

der Gesundheitspolitik (Art. 152 EGV, Art. III-278<br />

VVE 2004) und der Industriepolitik (Art. III-279<br />

VVE 2004). Die Einzelbestimmungen zu Kultur, allgemeiner<br />

Bildung, Jugend und beruflicher Bildung –<br />

jetzt auch den Sport einschließend – und zur beruflichen<br />

Bildung dagegen enthalten keinen Handlungsrahmen,<br />

der über das bereits Bestehende hinausgeht:<br />

So darf die europäische Ebene nur Fördermaßnahmen<br />

festlegen – die Koordinierung ist gerade nicht<br />

erwähnt. (Art. III-281, 282; Art. III-283 VVE 2004).<br />

EineähnlicheBestimmungbestehtnachdemVerfassungsvertrag<br />

2004 zum Tourismus (Art. III-281<br />

VVE 2004). Da die Beschreibungen der einzelnen<br />

Politikbereiche Spezialnormen gegenüber der allgemeinen<br />

Kompetenzbeschreibung zum Katalog der<br />

Unterstützungs-, Koordinierungs- und Ergänzungsmaßnahmen<br />

des Art. I-17 VVE 2004 darstellen,<br />

muss daraus geschlossen werden, dass die „offene<br />

Methode der Koordinierung“ in Zukunft in den Bereichen<br />

Tourismus, Kultur und Bildung nicht möglich<br />

sein sollte. Dies aber wird der Realität nicht gerecht.DieArbeitenandenZielenzurBildungspolitik<br />

und die entsprechende Berichterstattung werden<br />

weitergehen,dieMitgliedstaatenwerdenauchindie-


sen Bereichen an den Zielen von Lissabon gemessen<br />

werden.<br />

6. Bewertung. Die „offene Koordinierungsmethode“<br />

ist ein flexibles Mittel, um die Politik auf europäischer<br />

Ebene unterhalb der rechtlichen Verbindlichkeiten<br />

gestalten und mit dem Ziel der Konvergenz<br />

handelnzukönnen.DieseMethodegibteineschnelle<br />

Handlungsfähigkeit in den Bereichen, in denen die<br />

Gemeinschaft sogar die Möglichkeit hätte, mit<br />

Rechtsakten verbindliche Vorgaben zu setzen. Sie<br />

stellt somit ein milderes und der Subsidiarität angemesseneres<br />

Handlungsinstrument dar. Insofern wird<br />

die „offene Methode der Koordinierung“ als ein milderes<br />

Mittel gegenüber der Rechtsetzung zu begrüßen<br />

sein.<br />

Auf der anderen Seite ist die Ausweitung der Methode<br />

über die vertraglich festgelegten Bereiche hinaus<br />

auch bedenklich. Denn sie kann dazu führen, dass die<br />

Mitwirkungsrechte des Parlaments umgangen werden,<br />

wenn statt einer Rechtsetzung und der dabei<br />

vom Vertrag vorgesehenen Mitwirkung des Europäischen<br />

Parlaments eine Zielvorgabe durch den Europäischen<br />

Rat oder Rat und Kommission erfolgt.<br />

Damit werden die Vorgaben von den Regierungschefs<br />

der Mitgliedstaaten oder den Fachministern in<br />

Zusammenwirken mit den Beamten der Kommission<br />

festgelegt. Sie werden dann in der Regel von den<br />

Exekutiven der Mitgliedstaaten umgesetzt. Sowohl<br />

das Europäische Parlament als auch die nationalen<br />

ParlamentesindhierinderRegelnichteingeschaltet.<br />

Sie können allenfalls bei der Umsetzung, sofern dies<br />

nachinnerstaatlichemRechtnotwendigundmöglich<br />

ist, mitwirken. Die Zielvorgaben und damit die Ausrichtung<br />

der Politik bleiben ihrem Einfluss und ihrer<br />

Gestaltungvorenthalten.WennineinerStellungnahme<br />

aus dem �Wirtschafts- und Sozialausschuss erklärt<br />

wird, dass mit dieser Methode die Mitwirkung<br />

der gesamten organisierten �Zivilgesellschaft an der<br />

Umsetzung der Strategie von Lissabon impliziert sei<br />

(Stellungnahme zum Weißbuch der Kommission<br />

„Europäisches Regieren“ – ABl. C 287/2001 – CES<br />

535 /2001 Unterausschuss „Governance“), so ändert<br />

dies nichts an der Ausschaltung des Europäischen<br />

Parlaments. Die Stellungnahmen des Wirtschaftsund<br />

Sozialausschusses, der seit den Verträgen von<br />

Amsterdam und von Nizza als institutionelle Vertretung<br />

der Zivilgesellschaft auf Gemeinschaftsebene<br />

auftritt, haben nur beratenden Charakter. Die Mitglieder<br />

dieses Ausschusses vertreten zwar die gesell-<br />

Öffentliches Auftragswesen<br />

schaftlichen Kräfte in der Union, sind aber mit den<br />

frei gewählten Vertretern des Volkes nicht vergleichbarundkönnendieseinkeinerWeiseersetzen.<br />

Außerdem vermischen sich durch diese „offene Methode<br />

der Koordinierung“ die Kompetenzen der Europäischen<br />

Union einerseits und die der Mitgliedstaaten<br />

andererseits. Das beeinträchtigt in der BundesrepublikDeutschlandauchdiedeutschenLänder,<br />

welchegem.Art.23Abs.2GGMitwirkungsrechtein<br />

Angelegenheiten der Europäischen Union besitzen<br />

und diese nicht voll einbringen können. Der Bundesrat,<br />

über den die deutschen Länder an der Meinungsbildung<br />

in europäischen Angelegenheiten mitwirken,<br />

befürwortet in der Festsetzung quantitativer Politikziele<br />

eine neue Qualität der wirtschaftspolitischen<br />

Koordinierung für die Union. Er verweist aber<br />

andererseits auf die Gefahr, dass diese Methode der<br />

Union den Weg für ein Verfahren öffnet, an der vertraglichen<br />

Kompetenzordnung vorbei konkrete Vorgaben<br />

festzulegen, die von den Mitgliedstaaten und<br />

in Deutschland von den Ländern umgesetzt werden<br />

sollen. Der Bundesrat betont, dass aus den Wandlungsprozessen<br />

in Technik, Wirtschaft und Gesellschaft<br />

und den daraus resultierenden Anpassungsnotwendigkeiten<br />

im Bildungsbereich keine KompetenzerweiterungderGemeinschaftbzw.Unionabgeleitet<br />

werden kann. Er lehnt es ab, dass die Union den<br />

Mitgliedstaaten konkrete Maßnahmen bzw. Inhalte<br />

und Formen der Zusammenarbeit vorschreibt. Zentrale<br />

Vorgaben der Europäischen Union in inhaltlichen,<br />

strukturellen und finanziellen Angelegenheiten<br />

gerade des Bildungs- und des Forschungsbereiches<br />

hält der Bundesrat weder zielführend im Sinne<br />

der Sicherung und Steigerung der Qualität noch vereinbar<br />

mit dem EG-Vertrag. (BR.Drs. 274/00 Beschluss<br />

vom 29. 9. 2000, 870/02 Beschluss vom 20.<br />

12. 2002, 856/03 Beschluss vom 19. 12. 2003). Derartige<br />

kritische Stimmen zur „offenen Koordinierungsmethode“<br />

bedeuten nicht, dass die Mitgliedstaaten<br />

nicht zu einer freiwilligen Zusammenarbeit<br />

bereit wären. Diese Zusammenarbeit muss sich auf<br />

den vertieften Informations- und Erfahrungsaustausch(„bestpractice“)beziehen.<br />

I. B.-M.<br />

Öffentliches Auftragswesen.Unter �öffentlichen<br />

Aufträgen ist der Einkauf von Gütern, DienstleistungenundBauleistungendurchdieöffentlicheHandzu<br />

verstehen.<br />

1.WirtschaftlicherundpolitischerHintergrund.Das<br />

573


OISIN<br />

Gesamtvolumen öffentlicher Aufträge in der EU beläuft<br />

sich auf 16 % des Bruttoinlandsprodukts der<br />

Union. Dies entspricht etwa der Hälfte des Bruttoinlandsprodukts<br />

der Bundesrepublik Deutschland.<br />

Vor einem Tätigwerden der Gemeinschaft in diesem<br />

Bereich gingen ca. 2 % der in der Gemeinschaft vergebenen<br />

öffentlichen Aufträge an Unternehmen in<br />

einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem der<br />

Auftrag ausgeschrieben wurde. Vor diesem Hintergrund<br />

eines fehlenden Binnenmarkts (der ehemals<br />

für den Binnenmarkt zuständige Kommissar Mario<br />

Monti sprach von einem „Schattendasein") wurde<br />

die Notwendigkeit eines gemeinschaftlichen Handelns<br />

erkannt. Das öffentliche Auftragswesen stellt<br />

nicht zuletzt deshalb einen sensiblen Bereich dar,<br />

weil öffentliche Gelder im Spiel sind. Damit besteht<br />

über das gemeinschaftliche Interesse an einem funktionierenden<br />

Binnenmarkt hinaus das in jedem Mitgliedstaat<br />

vorhandene Interesse an einer sparsamen<br />

Haushaltsführung. Letzteres wird allerdings seitens<br />

einiger Mitgliedstaaten wieder durch das Anliegen<br />

der indirekten (nationalen) Wirtschaftsförderung<br />

beschränkt, weshalb sich das öffentliche Auftragswesen<br />

sachgegenständlich auch in der Nähe der<br />

staatlichen Beihilfen verorten lässt.<br />

2. Rechtlicher Rahmen. Derzeit gelten sechs Richtlinien.<br />

Sie betreffen die Koordinierung der Verfahren<br />

zur Vergabe öffentlicher Lieferaufträge, die Koordinierung<br />

der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge,<br />

die Koordinierung der Auftragsvergabe<br />

durch Auftraggeber im Bereich der Wasser-, Energie-<br />

und Verkehrsversorgung sowie im Telekommunikationssektor<br />

und die die Koordinierung der Verfahren<br />

zur Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge.<br />

Im Rahmen eines neuen Gesetzgebungspakets<br />

wurden die Richtlinien in jüngster Zeit konsolidiert<br />

und weiterentwickelt. Nach ihrer Umsetzung gelten<br />

nur noch zwei Richtlinien: RL 2004/18 über die Koordinierung<br />

der Verfahren zur Vergabe öffentlicher<br />

Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge<br />

(ABl. L 134/2004) sowie RL 2004/17 zur<br />

Koordinierung der Zuschlagserteilung durch Auftraggeber<br />

im Bereich der Wasser-, Energie- und Verkehrsversorgung<br />

sowie der Postdienste (ABl. L 134/<br />

2004). Die Umsetzungsfrist für die Mitgliedstaaten<br />

läuft am 31. 1. 2006 aus. Die Richtlinien konkretisieren<br />

die primärrechtlichen Marktfreiheiten (�Freier<br />

Warenverkehr Art. 28 EGV, freier �Dienstleistungsverkehr<br />

Art. 49 EGV, �Niederlassungsfreiheit Art.<br />

574<br />

43 EGV), das allgemeine �Diskriminierungsverbot<br />

aus Gründen der Staatsangehörigkeit (Artikel 12<br />

EGV) sowie die gemeinschaftsverfassungsrechtlichen<br />

Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, der gegenseitigen<br />

Anerkennung und der Transparenz. Inhaltlich<br />

stellen die neuen Richtlinien eine Konsolidierung<br />

und Simplifizierung der bestehenden Richtlinien<br />

dar. Ferner erfolgt die Anpassung an den technologischen<br />

Fortschritt durch das Aufführen moderner<br />

Techniken. Die Richtlinien gleichen die nationalen<br />

Verfahren bei der Vergabe öffentlicher Aufträge<br />

an. Sie gelten erst ab bestimmten Schwellenwerten,<br />

die je vom jeweiligen Sachbereich abhängig sind.<br />

Allerdings hat der �Gerichtshof der Europäischen<br />

Gemeinschaftensignalisiert,dassauchunterhalbder<br />

Schwellenwerte das Primärrecht weiterhin Anwendung<br />

findet. Explizit geschah dies in Bezug auf das<br />

Transparenzgebot im Fall „Telaustria“ vom 7. 12.<br />

2000 (C-324/98). Die Kommission ihrerseits plant<br />

für November 2005 eine Mitteilung über Verträge<br />

unterhalb der Schwellenwerte. Von den Bestimmungen<br />

der einschlägigen Richtlinien sind bestimmte<br />

Einkäufe (z. B. Waffen, Munition, Kriegsmaterial)<br />

ausgeschlossen.<br />

Neben den Mitgliedstaaten, die gehalten sind, den<br />

Verpflichtungen aus dem Vertrag und den Richtlinien<br />

nachzukommen, nimmt die Kommission eine<br />

Schlüsselstellung im Politikbereich des öffentlichen<br />

Auftragswesens wahr. Zum einen geht sie repressiv<br />

im Wege des �Vertragsverletzungsverfahrens nach<br />

Art. 226 EGV gegen Mitgliedstaaten, die den gemeinschaftsrechtlichen<br />

Verpflichtungen nicht nachkommen,<br />

vor und kommt damit ihrer Rolle als Hüterin<br />

der Verträge bei der Anwendung des Gemeinschaftsrecht<br />

nach. Dies kann bis zu einem Gerichtsverfahren<br />

vor dem Gerichtshof der Europäischen<br />

Gemeinschaften führen. Zum anderen leistet sie, da<br />

sie im das öffentliche Auftragswesen betreffenden<br />

Gesetzgebungsbereich über ein Initiativmonopol<br />

verfügt, wichtige Vorarbeit. Dies muss nicht zwingend,<br />

wie im Falle der Richtlinien, in ein Gesetz<br />

münden,sondernkannauchandereFormendes �„soft<br />

law“ darstellen (vgl. z. B. Mitteilung der Kommission<br />

zu Auslegungsfragen im Bereich Konzessionen<br />

imGemeinschaftsrecht,ABl.C121/2000). R K.<br />

OISIN wurde eine Gemeinsame Maßnahme der EU<br />

vom 20. 12. 1996 (97/12/JI, ABl. L 7/1997) genannt.<br />

SiedientederVerbesserungderZusammenarbeitder


Strafverfolgungsbehörden bei der Prävention, Aufdeckung<br />

und Bekämpfung von Straftaten und Terrorismus.<br />

Das Programm lief Ende 2000 aus und wurde<br />

erneuert durch OISIN II (Beschluss des Rates vom<br />

28. 6. 2001, ABl. L 186/2001) mit einer Laufzeit bis<br />

Ende 2002.<br />

Öko-Audit �EMAS (Eco-Management and Audit<br />

Scheme)<br />

Ökumenische Begegnungen und Ökumenische<br />

Versammlungen in <strong>Europa</strong> werden organisiert vom<br />

CCEE und KEK.<br />

CCEE (Consilium Conferentiarum Episcoporum<br />

<strong>Europa</strong>e) ist der Rat der Europäischen Bischofskonferenzen,<br />

gegründet 1971, mit 34 Bischofskonferenzen<br />

als Mitgliedern.<br />

KEK ist die Konferenz Europäischer Kirchen, die regionale<br />

ökumenische Organisation von 123 orthodoxen,<br />

anglikanischen, altkatholischen und protestantischen<br />

Kirchen <strong>Europa</strong>s, Mitglied im Ökumenischen<br />

Rat der Kirchen.<br />

CCEE und KEK haben bisher fünf Europäische Ökumenische<br />

Begegnungen (1978, 1981, 1984, 1988,<br />

1991) organisiert und zwei Europäische ÖkumenischeVersammlungen(1989inBasel,1997inGraz).CCEEundKEKtreteneinfüreinsozialverantwortliches,<br />

menschliches <strong>Europa</strong>, für Menschenrechte und<br />

Frieden, für soziale Gerechtigkeit, für angemessene<br />

Arbeits- und Lebensbedingungen; für die Umwelt,<br />

die Familie, die Dritte Welt, für Solidarität, für eine<br />

gerechteWirtschafts-undSozialordnung. W. M.<br />

Anschriften:<br />

CCEE, Gallusstraße 24, CH–9000 St. Gallen<br />

KEK, 150, route de Ferney, CH-1211 Genf 2<br />

Literatur:<br />

Robbers, G. (Hg.): Staat und Kirche in der EU.<br />

Baden-Baden 1995<br />

OLAF – Europäisches Amt für Betrugsbekämpfung.<br />

Aufgabe des Europäischen Amts für Betrugsbekämpfung<br />

(OLAF – Office de lutte anti-fraude) ist<br />

die Verhinderung und Verfolgung von Betrug, Korruption<br />

und anderen illegalen Aktivitäten zum Schaden<br />

der finanziellen Interessen der Europäischen<br />

Union. Das Amt führt alle dazu erforderlichen administrativen<br />

Untersuchungen zur �Betrugsbekämpfung<br />

durch. Strafverfahrensrechtliche Kompetenzen<br />

hat es dabei nicht, sondern muss die Sache bei Anhaltspunkten<br />

für Straftaten an die zuständige natio-<br />

OLAF<br />

nale Justiz weiterleiten (�Europäischer Staatsanwalt).<br />

OLAF untersucht Fälle wie Subventionsbetrug,<br />

Betrügereien im Zollbereich oder bei Ausschreibungen,<br />

aber auch Steuerhinterziehung, soweit<br />

diese sich – wie bei der Mehrwertsteuer – auf<br />

den EU-Haushalt auswirken kann. Über den Schutz<br />

der finanziellen Interessen hinaus ist OLAF allgemein<br />

zuständig für alle Maßnahmen gegen rechtswidrige<br />

Handlungen zu Lasten der EU, die verwaltungs-<br />

oder strafrechtlich geahndet werden können.<br />

Hierzu gehören vor allem Verfehlungen von EU-<br />

Bediensteten bei der Ausübung ihrer Tätigkeit, insbes.<br />

Fälle von Korruption.<br />

OLAFisteingerichtetalsGeneraldirektionderKommission,beiseinenUntersuchungengenießtdasAmt<br />

jedoch volle Unabhängigkeit. Dabei beschränken<br />

sich die Untersuchungskompetenzen des OLAF<br />

nichtaufdieKommission,sondernerfassenalle�Organe,<br />

Einrichtungen, Ämter und �Agenturen der Europäischen<br />

Union. Nach außen kann sich OLAF auf<br />

alle Kompetenzen zur Durchführung von Untersuchungen<br />

stützen, die der Kommission durch das Gemeinschaftsrecht<br />

oder völkerrechtliche Abkommen<br />

mit Drittstaaten eingeräumt sind. Die VO 1073/1999<br />

(ABl. L 136/1999) legt dabei das Verfahren für die<br />

Untersuchungen fest. Rechtsgrundlage für interne<br />

Untersuchungen innerhalb der EU-Einrichtungen ist<br />

eine Interinstitutionelle Vereinbarung vom 25. Mai<br />

1999 (ABl. L 136/1999), hinzu kommen drei Entscheidungen<br />

des EuGH, die klar machen, dass auch<br />

gegen Abgeordnete des Europäischen Parlaments<br />

(Rs. C-167/02 P) sowie in der Europäischen Zentralbank<br />

(Rs. C-11/00) und der Europäischen Investitionsbank<br />

(Rs. C-15/00) ermittelt werden darf. Bei<br />

externen Untersuchungen, Kontrollen und Überprüfungen<br />

vor Ort kann sich OLAF in erster Linie auf<br />

VO 2988/95 (Abl. L 312/1995) und VO 2185/96<br />

(ABl. L 292/1996) stützen. In der Praxis werden Unregelmäßigkeiten<br />

außerhalb der EU-Einrichtungen<br />

fast immer in enger Zusammenarbeit mit den nationalen<br />

Ermittlungsbehörden aufgedeckt und untersucht.<br />

Dabei wird OLAF aber auch im Vorfeld konkreter<br />

Untersuchungen tätig, z. B. mit Risikoanalysen,<br />

die spezielle Gefahren für die finanziellen Interessen<br />

der Union identifizieren sollen.<br />

Abgesehen von seinen unabhängigen Untersuchungsaufgaben<br />

obliegt OLAF insgesamt die Koordinierung<br />

der Aktivitäten der Union und der Mitgliedstaaten<br />

bei der Bekämpfung von Betrug zu Las-<br />

575


Opt-out-Klausel<br />

ten der EU, z. B. durch Betreuung des Betrugsbekämpfungs-Informationssystems(Anti-Fraud-Information<br />

System – AFIS) und des Zollinformationssystems<br />

(CIS). Das Amt ist damit in Fragen der<br />

Amts- und Rechtshilfe direkter Ansprechpartner nationaler<br />

Behörden wie Zoll, Polizei und Justiz sowie<br />

von �Europol und �Eurojust. OLAF ist zudem innerhalb<br />

der Kommission die Generaldirektion, die für<br />

die Ausarbeitung neuer Rechtssetzungsvorschläge<br />

im Bereich Betrugs- und Korruptionsbekämpfung<br />

zuständig ist. In diesem Zusammenhang überprüft<br />

OLAF auch andere sensitive Legislativvorhaben auf<br />

ihre „Betrugsfestigkeit“ („fraud-proofing“). In seinen<br />

nicht unabhängigen Aufgabenbereichen untersteht<br />

das Amt seit 2004 dem Kommissar für Verwaltung,<br />

Audit und Betrugsbekämpfung.<br />

Die Entstehung des OLAF ist eng mit dem Rücktritt<br />

der Kommission Santer 1999 verknüpft. Im Zusammenhang<br />

mit der vorausgegangenen öffentlichen<br />

Debatte über Vorwürfe von Nepotismus und Misswirtschaft<br />

waren die rechtlichen und tatsächlichen<br />

Schwierigkeiten der OLAF-Vorgängereinheit<br />

UCLAF (Unité de Coordination de Lutte Anti-<br />

Fraude, gegründet 1988) zu Tage getreten, die dem<br />

Generalsekretariat der Kommission zugeordnet und<br />

bei ihren Untersuchungen nicht unabhängig war. Ein<br />

Sonderbericht des Europäischen Rechnungshofs<br />

machte 1998 auch alle übrigen Unzulänglichkeiten<br />

von UCLAF deutlich. Unter dem Druck der Öffentlichkeit<br />

und des Europäischen Parlaments (Haushaltskontrollausschuss),<br />

das auf eine effizientere<br />

Korruptionsbekämpfung innerhalb der EU-Behörden<br />

drängte, wurde daher die Gründung von OLAF<br />

zum 1. 6. 1999 betrieben.<br />

In den ersten fünf Jahren seiner Tätigkeit hat das Amt<br />

Fälle mit einer geschätzten Schadenssumme von insgesamt<br />

5,3 Mrd. Euro behandelt. OLAF hat rund 380<br />

Mitarbeiter und einen Jahresetat von 48 Millionen<br />

Euro (2005). Das Amt wird von einem Generaldirektor<br />

geleitet, der insgesamt zwei Mal für jeweils fünf<br />

Jahre amtieren kann. Er wird von der Kommission in<br />

Abstimmung mit dem Europäischen Parlament und<br />

dem Rat nach Konsultation des OLAF-Überwachungsausschusses<br />

ernannt. Dieses fünfköpfige, mit<br />

externen Experten besetzte Gremium soll, zusätzlich<br />

zum Klagerecht des OLAF-Generaldirektors gegen<br />

die Kommission beim Europäischen Gerichtshof,<br />

eine weitere Garantie für die Unabhängigkeit des<br />

OLAF sein. Der Überwachungsausschuss erhält al-<br />

576<br />

lerdings auch Einblick in die laufenden OLAF-Untersuchungen,<br />

wenn diese länger als neun Monate<br />

dauern, sowie bei Befassung der nationalen Justizbehörden.<br />

Im Februar 2004 präsentierte die Kommission<br />

einen Änderungsvorschlag für die OLAF-Verordnung<br />

1073/99. Notwendig dürfte eine Neuordnung<br />

von OLAF in jedem Falle werden, sobald die<br />

�Europäische Staatsanwaltschaft tatsächlich eingerichtetwird.<br />

J. W.<br />

Internet: http://europa.eu.int/olaf<br />

Literatur:<br />

Hallmann-Häber, U./Stiegel, U.: Das Europäische Amt für<br />

Betrugsbekämpfung (OLAF). DRiZ 2003, S. 241 – 245<br />

European Anti-Fraud Office: Fifth Activity Report for the Year<br />

ending June 2004. Brüssel 2004<br />

Opt-out-Klausel (opt out = sich gegen etwas entscheiden,<br />

„aussteigen“ im Sinne von Nichtbeteiligung).<br />

Im Bereich der EU-Politiken hat opt-out unterschiedliche<br />

Bedeutungen.<br />

1. Die Ausnahmeregelung (opting-out-Klausel) erlaubt<br />

es einem Mitgliedstaat, sich in einem bestimmten<br />

Bereich nicht an gemeinschaftlich vereinbarter<br />

Zusammenarbeit zu beteiligen. So nimmt bspw.<br />

Großbritannien nicht an der dritten Stufe der Währungsunion<br />

teil, Dänemark ebenfalls nicht und beteiligt<br />

sich zudem nicht an der Zusammenarbeit in den<br />

Bereichen Justiz und Inneres und an der Verteidigungspolitik<br />

im Rahmen der ESVP.<br />

2. Die Arbeitszeitrichtlinie 2003/88 (ABl. L 299/<br />

2003) erlaubt in Art. 22 Abs. 1 den Mitgliedstaaten<br />

ein opting-out für den Art. 6 der Richtlinie (wöchentliche<br />

Höchstarbeitszeit) unter bestimmten Voraussetzungen,<br />

z. B. wenn Tarifpartner eine entsprechende<br />

Vereinbarung getroffen haben und der einzelne<br />

Arbeitnehmer zugestimmt hat, dass er auf Rechte<br />

verzichtet, die ihm nach der Arbeitszeitrichtlinie zustehen.<br />

Entsprechende Rechtsvorschriften sind inzwischeninmehrerenMitgliedstaatenverabschiedet<br />

worden, auch in Deutschland.<br />

3. Opt-out und opt-in sind zwei Modelle für die Abwehr<br />

von unerwünschten elektronischen Nachrichten(Spam).BeimOpt-out-ModellmussderEmpfänger<br />

sich durch Abmeldung vor weiterer Spam schützen,<br />

beim Opt-in-Modell muss der Empfänger vorherseinEinverständniserteilen.DieRichtlinie2002/<br />

58 (ABl. L 201/2002) zum Datenschutz im Bereich<br />

der elektronischen Kommunikation verfolgt den Ansatz<br />

der Opt-in-Regelung. In Deutschland ist die<br />

Richtlinie im Jahr 2004 durch Novellierung des Ge-


setzes gegen unlauteren Wettbewerb umgesetzt worden.<br />

Organe der EU (allgemein). Juristische Personen<br />

sind künstliche Geschöpfe. Sie haben weder Mund<br />

noch Hände, können also ihren Willen nur durch Organe<br />

bilden und bekunden. Sie brauchen natürliche<br />

Personen als Sprachrohre und Vollstrecker. Das gilt<br />

füreineAktiengesellschaftdesnationalenRechtsgenauso<br />

wie für die EU und die EG als supranationale<br />

Staatenverbünde. Organe im Rechtssinne sind alle<br />

Einheiten, die (1) von einer oder mehreren natürlichen<br />

Personen geführt werden, (2) durch Rechtsnorm<br />

oder Vertrag genau umgrenzte Befugnisse zur<br />

Leitung,AußenvertretungoderKontrolleeinerjuristischen<br />

Person verliehen bekamen und (3) an den außenwirksamen<br />

Entscheidungen dieser Person prägend<br />

mitwirken. Sie sind wie die Organe eines lebenden<br />

Körpers aus der „Organisation“ der juristischen<br />

Personnichthinwegzudenken.FürdieOrganqualität<br />

wesentlich ist – kürzer gefasst – die Befugnis, im Namen<br />

der juristischen Person nach außen rechtsverbindlich<br />

zu handeln. Einheiten oder Gremien hingegen,<br />

die an der Willensbildung der juristischen Person<br />

nur unterstützend – d. h. vorbereitend, beratend<br />

oderempfehlend–undohneGestaltungs-oderSanktionsrechte<br />

mitwirken, entbehren der Organqualität;<br />

sie sind bloße Einrichtungen oder Institutionen, zuweilen<br />

auch als Hilfsorgane bezeichnet.<br />

Die beiden Europäischen Gemeinschaften EG und<br />

EAG sind rechtsfähige Staatenverbünde (Art. 281 f.<br />

EGV und Art. 184 f. EAGV). Um ihren politischen<br />

und rechtlichen Willen bilden, äußern und vollziehen<br />

zu können, müssen sie auf Organe zurückgreifen.<br />

Die fünf in Art. 7 Abs. 1 EGV und Art. 3 Abs. 1<br />

EAGVaufgelisteten,derEGundEAGgemeinsamen<br />

Hauptorgane heißen:<br />

– Europäisches Parlament,<br />

– Rat oder – klarer, aber informell – Ministerrat<br />

(die Bezeichnung Ministerrat verwendet auch<br />

Art. I-19 Abs. 1 VVE 2004),<br />

– Kommission der Europäischen Gemeinschaften,<br />

kurz: Europäische Kommission,<br />

– Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften,<br />

kurz: Europäischer Gerichtshof und<br />

– Rechnungshof der Europäischen Gemeinschaften,<br />

kurz: Europäischer Rechnungshof.<br />

DieAufzählungderfünfvomEG-Vertraggekorenen<br />

Hauptorgane ist abschließend. Diese Organe im en-<br />

Organe der EU<br />

geren Sinne unterliegen einem Numerus clausus.<br />

Neue Hauptorgane – etwa ein EG-Präsident oder<br />

eine zweite Parlamentskammer – können nur durch<br />

eine Vertragsänderung entstehen (Art. 48 EUV).<br />

Die drei Europäischen Gemeinschaften – EGKS,<br />

EWG und EAG – verfügten zunächst über getrennte<br />

Organe. Das Parlament (bis 1962 als Versammlung<br />

bezeichnet) und der Gerichtshof der jeweiligen Gemeinschaft<br />

verschmolzen bereits durch das Fusionsabkommen<br />

vom 25. 3. 1957 zu zwei einheitlichen<br />

Organen aller Gemeinschaften. Auch die drei Kommissionen<br />

(im Rahmen der EGKS Hohe Behörde genannt)<br />

und Räte verbanden sich durch den Fusionsvertrag<br />

vom 8. 4. 1965 zu zwei gemeinsamen Organen<br />

der drei Gemeinschaften. Der Rechnungshof als<br />

fünftes Organ erhielt diese Stellung erst mit Inkrafttreten<br />

des Vertrags von Maastricht am 1. 11. 1993.<br />

Die 1952 gegründete EGKS ging 2002 in der EG auf,<br />

da der auf 50 Jahre befristete EGKS-Vertrag am 23.<br />

7. 2002 auslief.<br />

Der Rat nennt sich selbst seit 8. 11. 1993 „Rat der Europäischen<br />

Union“, was in die Irre führt, weil der Rat<br />

hauptsächlichalsOrganderEG,alsodererstenSäule<br />

der EU fungiert und in der zweiten wie dritten Säule<br />

der EU (GASP und PJZS) als Gremium einer zwar<br />

engen, gleichwohl nur intergouvernementalen Abstimmung<br />

zwischen den Mitgliedstaaten auftritt. Offenbar<br />

meinten die Ratsmitglieder, sich mit Gründung<br />

der EU am 1. 11. 1993 ein vermeintlich aktuelleres<br />

und schickeres Label geben zu müssen. Der Rat<br />

tagt, wenn vom Vertrag so angeordnet, in der Zusammensetzung<br />

der Staats- und Regierungschefs, z. B.<br />

beiderBenennungdeskünftigenPräsidentenderEuropäischen<br />

Kommission, Art. 214 Abs. 2 EGV; er<br />

bleibt auch in dieser Formation Organ der EG und<br />

darf nicht mit dem Europäischen Rat nach Art. 4<br />

EUV, einem Organ der EU, verwechselt werden<br />

(s. u.).<br />

Das Europäische Gericht erster Instanz (EuG) hat<br />

sich durch den Vertrag von Nizza vom EuGH institutionell<br />

abgenabelt; Art. 225 Abs. 1 EGV spricht nicht<br />

mehr von einem dem Gerichtshof „beigeordneten“<br />

Gericht. Dennoch bleibt das EuG im Gerichtsaufbau<br />

derGemeinschaftdemEuGHnachgeordnet,daseine<br />

Entscheidungen durch Rechtsmittel vor dem EuGH<br />

angegriffen werden können (Art. 225 Abs. 1 UAbs. 2<br />

EGV). Zudem erwähnt Art. 7 Abs. 1 EGV nur den<br />

GerichtshofalsOrganderEG.DasEuGbekleidetdaher<br />

die Stellung eines selbständigen Spruchkörpers<br />

577


Organe der EU<br />

im judikativen System der Gemeinschaft, nicht aber<br />

den Rang eines Organs.<br />

Zu den Organen der EG im weiteren Sinne gehören<br />

diejenigen Einrichtungen, die in Art. 7 Abs. 1 EGV<br />

zwarunerwähntbleiben,wegenihrerKompetenzfülle<br />

im Außenverhältnis der Gemeinschaft gleichwohl<br />

unter den Organbegriff zu fassen sind. Dazu zählen<br />

die �Europäische Zentralbank (EZB, Art. 8, 105 –<br />

115 EGV, Art. 3 EZB-Satzung) und die �Europäische<br />

Investitionsbank (EIB, Art. 9, 266 f. EGV). Für<br />

die Zuordnung von EZB und EIB zum Organbegriff<br />

sprechen ihre hervorgehobene Erwähnung in den<br />

ersten Artikeln des EG-Vertrags unmittelbar im Anschluss<br />

an Art. 7 EGV sowie die detaillierte primärrechtliche<br />

Ausformung ihrer Kompetenzen. Beide<br />

haben selbst Rechtspersönlichkeit. EZB und EIB besitzen<br />

jedoch im Gegensatz zu den Hauptorganen<br />

nach Art. 7 Abs. 1 EGV nur sektorielle Kompetenzen<br />

für die Bereiche der Geldpolitik (Art. 105 EGV) und<br />

der Kapitalmobilisierung (Art. 267 EGV); sie sind<br />

daher nur als Neben-(Finanz)Organe der EG zu qualifizieren.<br />

Artikel I-30 Abs. 3 des �Verfassungsvertrags2004tituliertdieEZBausdrücklichalsOrgan.<br />

Keine Organe, sondern bloße Einrichtungen oder Institutionen<br />

(vgl. die begriffliche Gegenüberstellung<br />

in Art. 21 Abs. 3 oder Art. 195 Abs. 1 EGV) sind alle<br />

anderen organisatorisch verselbständigten Einheiten<br />

im institutionellen Gefüge von EG und EAG:<br />

– der �Wirtschafts- und Sozialausschuss (Art. 257<br />

EGV) sowie der Ausschuss der Regionen (Art. 263<br />

EGV), weil sie nur eine beratende Funktion im<br />

Rechtsetzungsprozess der beiden Gemeinschaften<br />

innehaben; diese Einordnung bestätigt Art. 7 Abs. 2<br />

EGV, der die beiden Gremien wegen ihrer bloß unterstützenden<br />

Aufgabe von den fünf Hauptorganen<br />

nach Art. 7 Abs. 1 EGV abstuft;<br />

– der Petitionsausschuss des Europäischen Parlaments<br />

(Art. 21 Abs. 1, 194 EGV), da er nur dem Plenum<br />

des Parlaments zuarbeitet;<br />

– der vom Europäischen Parlament ernannte �Bürgerbeauftragte<br />

(Art. 21 Abs. 2, 195 EGV), weil er<br />

(selbst wenn er Missstände feststellt) gegenüber den<br />

gerügten Organen oder Einrichtungen keine<br />

Zwangsmaßnahmen ergreifen darf (Art. 195 Abs. 1<br />

UAbs. 2 EGV);<br />

– die Euratom-Versorgungsagentur (Art. 52, 54<br />

EAG), die zwar Rechtspersönlichkeit besitzt, aber<br />

einen begrenzten Auftrag hat: Versorgung der Gemeinschaft<br />

mit spaltbaren Stoffen;<br />

578<br />

– sämtliche durch Sekundärrecht, meist auf der<br />

Grundlage des Art. 308 EGV errichteten gemeinschaftseigenen<br />

Behörden, die sich Ämter, �Agenturen,<br />

Zentren oder Stiftungen nennen (z. B. die Europäische<br />

Agentur für Flugsicherheit in Köln), da sie<br />

exekutive Befugnisse nur auf einem sehr engen<br />

Fachgebiet der Gemeinschaftstätigkeit ausüben und<br />

jederzeit von der zuständigen Generaldirektion der<br />

Kommission wieder aufgesaugt werden könnten,<br />

ohne dass dies die innere Struktur der EG wesentlich<br />

verändern würde.<br />

DerEG-VertragselbstverwendetdenTerminus„Organ“<br />

nicht konsequent. Er verweist an zahlreichen<br />

Stellen auf diesen Begriff, z. B. in Art. 21 Abs. 3<br />

EGV: Auskunftsrecht der Unionsbürger gegenüber<br />

jedem Organ in seiner Muttersprache; Art. 288 Abs.<br />

2 EGV: Haftung der Gemeinschaft für deliktisches<br />

Verhalten ihrer Organe; Art. 289 EGV: Sitz der Organe;<br />

Art. 290 EGV: Sprachenfrage. Die Organqualität<br />

berechtigt dazu, vor dem EuGH die Nichtigkeits-<br />

und die Untätigkeitsklage zu erheben (Art.<br />

230, 232 EGV).<br />

Mit der Nennung des Begriffes „Organ“ erfasst der<br />

EG-Vertrag mindestens die fünf Hauptorgane (institutionelle<br />

Sicht); ob er darüber hinaus auch Nebenorgane<br />

und Einrichtungen erfasst, hängt von Sinn und<br />

Zweck der verweisenden Norm ab (funktionelle<br />

Sicht). Während Art. 21 EGV die auskunftspflichtigen<br />

Organe und Einrichtungen einzeln aufzählt,<br />

meint Art. 288 EGV wegen seiner haftungsrechtlichen<br />

Schutzfunktion einen weiten Organbegriff<br />

(EuGH, Rs. C-370/89, Etroy, Slg. 1992, I-6211).<br />

Artikel 288 EGV umfasst auch nachgeordnete Behörden,<br />

z. B. die Europäische Arzneimittelagentur in<br />

London, wenn sie verspätet vor einem gesundheitsschädlichen<br />

Medikament warnt.<br />

Der Sitz der Haupt- und Nebenorgane der Gemeinschaften<br />

folgt aus einem Protokoll im Anhang zum<br />

Vertrag von Amsterdam. Hauptsitze der fünf Kernorgane<br />

sind die Städte Brüssel, Luxemburg und<br />

Straßburg. Während Gerichtshof und Rechnungshof<br />

ihren Sitz unilokal in Luxemburg haben, tagt der Rat<br />

vornehmlich in Brüssel, in drei Monaten des Jahres<br />

jedoch in Luxemburg. Die meisten Dienststellen der<br />

Kommission befinden sich in Brüssel, einige (rund<br />

ein Fünftel) in Luxemburg. Das Parlament schließlich<br />

arbeitet trilokal: das Plenum tagt regelmäßig in<br />

Straßburg, die Ausschüsse in Brüssel, während das<br />

Generalsekretariat in Luxemburg beheimatet ist –


Spötter sprechen vom „europäischen Wanderzirkus“.<br />

Die Europäische Zentralbank hat ihren Sitz in<br />

Frankfurt am Main. Bei der Entscheidung von Sitzfragen<br />

kommen die Eitelkeiten und die Prestigesucht<br />

der Mitgliedstaaten besonders deutlich zum Vorschein<br />

– zum Amüsement der Kenner, zum Kopfschütteln<br />

vieler Laien.<br />

Innerhalb der Gemeinschaftsorgane sind alle 20<br />

�Amtssprachen gleichberechtigt (Art. 21, 314 EGV).<br />

Die Einzelheiten des Sprachregimes sind in der Verordnung<br />

(EWG) Nr. 1 von 1958 aufgrund Art. 290<br />

EGV geregelt. In Praxis der Organe haben sich Englisch,<br />

Französisch und Deutsch (in dieser Reihenfolge)<br />

als informelle interne Arbeitssprachen herausgebildet.<br />

Der Gerichtshof verwendet intern fast ausschließlich<br />

das Französische, die EZB ganz überwiegend<br />

das Englische.<br />

Im institutionellen Gefüge der Europäischen Union<br />

hat nur der Europäische Rat Organstellung. Die<br />

Union ist trotz anders lautender Stimmen rechtsfähig;<br />

ihre Beschlüsse und Maßnahmen zur Strafverfolgung<br />

(Europäischer Haftbefehl, Projekt einer Europäischen<br />

Staatsanwaltschaft) und zur Verteidigungspolitik(FriedensmissioninMazedonien,europäische<br />

Kampfeinheiten zur Krisenprävention) haben<br />

eine solche Dichte erreicht, dass der Union kraft<br />

Faktizität und Übung die Rechtsfähigkeit zuerkannt<br />

werden muss. Nach Art. 4 EUV gibt ihr der Europäische<br />

Rat die erforderlichen Impulse und bestimmt<br />

die allgemeinen politischen Ziele. Zwar trifft er keine<br />

rechtlich nach außen verbindlichen Entscheidungen<br />

und erfüllt deshalb streng genommen nicht die<br />

Definition des Organbegriffes, jedoch erzeugen seine<br />

politischen Schlussfolgerungen – etwa zum Beitritt<br />

neuer Mitgliedstaaten oder zur Finanzierung der<br />

Union – eine derart starke faktische Bindung der umsetzenden<br />

Organe der EG (vor allem des Rates), dass<br />

die Transformation seines Willens in formale Akte<br />

des EG-Rechts einem Automatismus gleicht. Soweit<br />

ersichtlich sind keine Fälle bekannt, in denen die<br />

EG-Organe dem Europäischen Rat die Umsetzungs-Gefolgschaft<br />

verweigert hätten; für das Verhältnis<br />

des EG-Ministerrates zum Europäischen Rat<br />

mag dies kaum verwundern, stehen doch die nationalen<br />

Fachminister politisch im Range unter ihren jeweiligen<br />

Staats- und Regierungschefs.<br />

Das Europäische Polizeiamt (�Europol, Arbeitsaufnahme<br />

am 1. 7. 1999) und die Europäische Stelle für<br />

Justitielle Zusammenarbeit (�Eurojust, Errichtung<br />

Organe der EU<br />

am 28. 2. 2002), beide rechtsfähig, haben innerhalb<br />

derUnion(noch)keineOrganqualität.DieArt.30bis<br />

32 EUV erkennen zwar ihre Existenz an und beschreibenihreKernaufgaben,dochbeschränkensich<br />

die Befugnisse der beiden „Behörden“ (so Art. 32<br />

EUV) auf die wirksamere Koordination der Arbeit<br />

der nationalen Polizeidienststellen und Strafverfolgungsbehörden<br />

durch grenzüberschreitenden automatisierten<br />

Informationsaustausch und Datenabgleich.<br />

Die beiden Stellen verkörpern einen (gewiss<br />

wichtigen) unionseigenen Datenpool mit Abgleichfunktion,<br />

jedoch ohne Vollstreckungskompetenzen.<br />

Das Europol-Übereinkommen von 1995 ermächtigt<br />

den Rat, die Zuständigkeiten von Europol näher festzulegen;<br />

auch diese „Anbindung“ an den Rat spricht<br />

gegen eine Organeigenschaft des Europäischen Polizeiamtes.<br />

Die fünf Hauptorgane der EG sind keine Organe der<br />

EU; soweit sie im Rahmen der zweiten und dritten<br />

Säule der Union agieren, werden sie von der EG lediglich<br />

der sonst handlungsunfähigen Union ausgeliehen(Organleihe).NimmtetwaderRatnachAnhörung<br />

des Parlaments einen Rahmenbeschluss zum<br />

Europäischen Haftbefehl an (Art. 34 II UAbs. 1 S. 2<br />

lit.bundArt.39EUV),bleibenRatundParlamentinstitutionell<br />

Organe der EG, werden funktionell aber<br />

in Organhilfe für die EU tätig. Artikel 5 EUV bestätigt,<br />

ja fordert die Zulässigkeit einer solchen „Organspende“<br />

der EG an die EU im Interesse einer beschlussfähigen<br />

Union.<br />

Die Doppelfunktion der EG-Organe als Repräsentanten<br />

der EG und als Leihorgane der EU veranschaulicht<br />

nachdrücklich den „einheitlichen institutionellen<br />

Rahmen“ (Art. 3 EUV), der die drei Säulen<br />

zu einer Tempelstruktur der Union verbindet. Obwohl<br />

EU und EG als völkerrechtlich getrennte Staatenverbünde<br />

durch zwei separate Gründungsverträge<br />

konzipiert sind, handeln in ihnen und für sie einheitlich<br />

die Organe der EG. Mit Inkrafttreten des<br />

Verfassungsvertrages 2004 würde die EG in der<br />

Union aufgehen, wodurch die bisherigen Tempelund<br />

Säulenmodelle hinfällig werden.<br />

Nach welchen Grundsätzen arbeiten die Organe von<br />

EG und EU zusammen? Ein Rückgriff auf das Verfassungsrecht<br />

der Mitgliedstaaten legte es nahe, die<br />

seit Montesquieu und der US-Bundesverfassung<br />

anerkannte Dreiteilung der Staatsgewalten in Legislative,<br />

Exekutive und Judikative auch auf Gemeinschaft<br />

und Union zu übertragen. Eine solche Extra-<br />

579


Organe der EU<br />

polation vom nationalen auf das supranationale<br />

Recht missachtete aber die fehlende Staatsqualität<br />

und den völkerrechtlichen Ursprung der Staatenverbünde<br />

EG und EU. Das institutionelle Gefüge der EG<br />

beruht nicht auf der klassischen Gewaltenteilung,<br />

sondern auf einer Gewaltenbalance eigener Art, einer<br />

supranationalen Spielart der „checks and balances“.<br />

Die legislative Gewalt etwa liegt in den Händen<br />

von Parlament, Rat und Kommission, die exekutive<br />

Macht verteilt sich auf Rat und Kommission. Da die<br />

EG-Organe keine Staatsgewalt ausüben, erscheint es<br />

treffender, von einer „Funktionsteilung“ oder einem<br />

„Funktionenkonzert“ zu sprechen (vgl. v. Borries<br />

2002).<br />

Der Gerichtshof hat das Zusammenwirken der Organe<br />

bereits in einem Urteil von 1958 als „institutionellesGleichgewicht“bezeichnet(EuGH,Rs.9/56,Meroni<br />

I, Slg. 1958, 1/36 ff.) und dieses Prinzip horizontalerMachtbalanceinspäterenEntscheidungenbetätigt<br />

(EuGH, Rs. 138/79, Roquette Frères/Rat – Isoglucose,<br />

Slg. 1980, 3333 Rn. 33; Rs. C-21/94, Europäisches<br />

Parlament/Rat, Slg. 1995, I-1827 Rn. 17).<br />

In einem Urteil von 1990 (EuGH, Rs. C-70/88, Parlament/Rat<br />

– Tschernobyl, Slg. 1990, I-2041 Rn. 21<br />

ff.) betonte er, dass die Verträge ein institutionelles<br />

Gleichgewicht der Organe wollten, d. h. ein System<br />

der Zuständigkeitsverteilung, das jedem Organ seinen<br />

eigenen Auftrag innerhalb des institutionellen<br />

Gefüges der Gemeinschaft zuweise. Zur Wahrung<br />

dieses Gleichgewichts habe jedes Organ seine Befugnisse<br />

unter Beachtung der Rechte der anderen Organe<br />

auszuüben. Das Rechtsprinzip des Interorgan-<br />

Gleichgewichts legt jedem Organ vier interinstitutionelle<br />

Rechte und Pflichten auf (vgl. Geiger 2000):<br />

(1) es hat seine eigenen Kompetenzen auszuschöpfen,<br />

darf jedoch nicht deren Grenzen übertreten; (2)<br />

es ist gehalten, die Befugnisse der anderen Organe zu<br />

achten; (3) mit den übrigen Organen muss es loyal<br />

und redlich zusammenarbeiten (Organtreue), dazu<br />

falls nötig die wechselseitigen Informations- und<br />

Konsultationspflichten in interinstitutionellen Vereinbarungen<br />

festlegen; (4) eine Verletzung seiner<br />

Kompetenzen oder Mitwirkungsrechte darf es gerichtlich<br />

überprüfen lassen. Das Protokoll über die<br />

Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und<br />

der Verhältnismäßigkeit im Anhang zum Vertrag<br />

vonAmsterdam,dasdurchArt.311EGVBestandteil<br />

desPrimärrechtsist,erwähntinZiffer2ausdrücklich<br />

das Prinzip des institutionellen Gleichgewichts.<br />

580<br />

Auch Art. I-19 Abs. 2 S. 2 VVE ermahnt die Organe<br />

zu loyaler Zusammenarbeit.<br />

Gibt es innerhalb der fünf Hauptorgane der EG eine<br />

Rangfolge, ein „Ranking“? Der Rechnungshof<br />

nimmt die schwächste Position ein, da er nur reaktiv-kontrollierend<br />

die Haushaltsführung der Gemeinschaften<br />

überwacht, ohne rechtsetzend oder politisch<br />

gestaltend tätig zu werden. Unter den drei politischen<br />

Organen, die an der Rechtsetzung beteiligt<br />

sind, – Parlament, Rat und Kommission – besitzt der<br />

Rat das größte Gewicht: er ist Sprachrohr der Mitgliedstaaten<br />

als der „Herren der Verträge“, Ko-<br />

Rechtsetzungsorgan (Art. 251 EGV) und Ko-Haushaltsbehörde<br />

(Art. 272 EGV), jeweils zusammen mit<br />

dem Parlament. Die Kommission rangierte aufgrund<br />

ihres legislativen Initiativmonopols seit Gründung<br />

der Gemeinschaften und der Union auf Platz zwei,<br />

doch dürfte das von Vertragsänderung zu Vertragsänderung<br />

gestärkte und zunehmend mit hochrangigen<br />

nationalen Politikern besetzte Parlament der<br />

Kommission diesen Rang zunehmend streitig machen;<br />

die Krise um die Ernennung der (zweiten) Barroso-Kommissionarsgilde<br />

im November 2004 (Art.<br />

214 Abs. 2 EGV) belegte deutlich das wachsende<br />

SelbstbewusstseindesParlaments.DemGerichtshof<br />

verbleibt trotz seiner mutigen, oft rechtsschöpferischen<br />

Jurisdiktion und seines unverzichtbaren Beitrags<br />

zum �acquis communautaire Rang vier, da er<br />

keinepolitischenInitiativenergreifen,Rechtsetzung<br />

allenfalls mittelbar anstoßen und seine – die Mitgliedstaaten<br />

und deren Gerichte zwar bindenden –<br />

Entscheidungen nur von sachverhaltlich begrenzten<br />

Einzelfällen aus (case law) fällen kann.<br />

Für die konstruktive Atmosphäre zwischen den nun<br />

erwachsenen Organen sprechen die �interinstitutionellen<br />

Vereinbarungen, eine Spezies von Rechtsakten,<br />

die der EG-Vertrag zwar nicht erwähnt, die im<br />

Interesse einer effektiven Funktionsteilung zwischen<br />

den Organen vom EuGH jedoch als zulässig<br />

anerkanntwerden(EuGH,Rs.34/86,Rat/Parlament,<br />

Slg. 1986, 2155 Rn. 50; Rs. 204/86, Griechenland/Rat,<br />

Slg. 1988, 5323 Rn. 16). Diese Vereinbarungen<br />

regeln z. B. die Transparenz der Haushaltsführung<br />

oder die Anwendung des �Subsidiaritätsprinzips<br />

(Art. 5 UAbs. 2 EGV) in der Rechtsetzungspraxis.<br />

Die Erklärung zu Art. 10 EGV im Anhang des<br />

Vertrags von Nizza bestätigt politisch die Zulässigkeit<br />

interinstitutioneller Vereinbarungen, wenn diese<br />

im Rahmen der Verpflichtung zur loyalen Zusam-


menarbeit der Organe die Anwendung des EG-Vertrags<br />

erleichtern.<br />

Vereinbarungen zwischen den Organen sind zudem<br />

Ausfluss ihrer Organisationsgewalt. In den Grenzen<br />

ihren Kompetenzen dürfen die Organe ihre innere<br />

Struktur (Intra-Organisation, z. B. in Gestalt von<br />

Ausschüssen, Arbeitgruppen oder Beauftragten)<br />

und ihre äußere Zusammenarbeit (Inter-Organisation)<br />

eigenverantwortlich regeln. Dies folgt aus ihrer<br />

herausgehobenen Stellung in der institutionellen Architektur<br />

der Gemeinschaften, Art. 7 EGV und Art. 3<br />

EAG.<br />

Die Organisationsgewalt endet – sowohl horizontal<br />

gegenüber den anderen Organen wie vertikal gegenüber<br />

den Mitgliedstaaten – an den Kompetenzgrenzen,<br />

welche die Verträge ziehen. Die Gemeinschaften<br />

und deren Organe besitzen keine „Kompetenz-Kompetenz“,<br />

dürfen sich selbst also keine neuenBefugnisseverschaffen.DasfolgtausdemGrundsatz<br />

der enumerativ begrenzten Einzelkompetenzen,<br />

den die Verträge mehrfach erwähnen oder unterstellen:<br />

Art. 5 EUV, Art. 3 Abs. 1, Art. 5UAbs. 1 und Art.<br />

7 Abs. 1 UAbs. 2 EGV. Dieser Grundsatz ist nur gewahrt,wenndieGemeinschaften(1)eineRegelungsbefugnis<br />

besitzen, die (2) vom richtigen Organ (3) im<br />

notwendigen Umfang ausgeübt wird.<br />

Die Erweiterung der Union um zehn auf 25 Mitgliedstaaten<br />

am 1. 5. 2004 hat die Organe personell erheblich<br />

anschwellen lassen. Seit der letzten Direktwahl<br />

im Juni 2004 umfasst das Parlament 732 Abgeordnete<br />

(Art. 189 EGV). Am Ratstisch sitzen, wenn jede<br />

Delegation einen Minister und zwei Begleiter zählt,<br />

schon 75 Personen. Der Gerichtshof rettete sich in<br />

neue Strukturen (vor allem Kammern). Selbst bei gutem<br />

Willen erscheint die Grenze der Handlungsfähigkeit<br />

der Organe erreicht zu sein. Die zahlenmäßigen<br />

Obergrenzen der Parlaments- (750 Abgeordnete)<br />

und der Kommissionsmitglieder (zwei Drittel der<br />

AnzahlderMitgliedstaatenab2014)inArt.I-20Abs.<br />

2 und Art. I-26 Abs. 6 VVE 2004 sind daher im Interesse<br />

einer überschaubaren, schlagkräftigen Organisation<br />

der künftigen Union zu begrüßen.<br />

Der Verfassungsvertrag 2004 wird nach den ablehnenden<br />

Referenden in Frankreich und den Niederlandenfrühestens2007/08inKrafttretenkönnen.Ob<br />

er das interinstitutionelle Gleichgewicht in der Praxis<br />

verändert, wird erst der künftige Verfassungsalltag<br />

einer auf fast 30 Mitgliedstaaten angewachsenen<br />

Union zeigen. Der Europäische Rat wird zum Haupt-<br />

Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE)<br />

organ aufrücken, Art. I-19 Abs. 1 VVE 2004, der<br />

Rechnungshof zum Nebenorgan absinken, Art. I-31<br />

VVE 2004. Nach dem Willen des Europäischen Rates<br />

vom Juni 2005 sollen auch die Organe der EG ihren<br />

Beitrag zu einem intensivierten öffentlichen Dialog<br />

über den Verfassungsvertrag 2004 leisten.<br />

Dennoch ist schon jetzt abzusehen, dass der einmal<br />

ratifizierte Verfassungsvertrag (1) die Rechte des<br />

Parlaments weiter stärken (Ausdehnung des Mitentscheidungsverfahrens,<br />

Wahl des Präsidenten der<br />

Kommission), (2) die Bedeutung des Europäischen<br />

Rates durch die Einsetzung eines hauptamtlichen<br />

Präsidenten erhöhen und (3) dem Europäischen Außenminister<br />

mit dem Doppelhut des Kommissions-Vizepräsidenten<br />

und des Vorsitzenden des Rates<br />

für Auswärtige Angelegenheiten eine erhebliche<br />

Machtfülleverleihenwird.DiesergewaltigeIntegrationsfortschritt<br />

sollte aber eine mehrjährige „Vertiefungsschnaufpause“<br />

nach sich ziehen, zumal die<br />

mögliche Erweiterung der Union um sieben Balkanstaaten<br />

und die Türkei bis 2015 ein Verweilen und<br />

„Verdauen“ anrät. Klimaveränderungen, Naturkatastrophen<br />

und Flüchtlingsströme werden in unserer<br />

„einen Welt“ die Ressourcen der Union derart zugunsten<br />

von Krisenprävention und �humanitärer<br />

Hilfe beanspruchen, dass für die Betrachtung des<br />

unionseigenen Nabels weniger Zeit und Kraft verbleibendürfte.<br />

P. Sch.<br />

Internet: http://europa.eu.int/institutions/index_de.htm<br />

Literatur:<br />

Bieber, R./Epiney, A./Haag, M.: Die Europäische Union.<br />

<strong>Europa</strong>recht und Politik. Baden-Baden 2005 6 ,S.115–166<br />

Borries, R. v./Zacker, Chr. (Hg.): <strong>Europa</strong>recht von A–Z.<br />

München 2002 3 , S. 292: Stichwort „Gemeinschaftsorgane“<br />

Geiger, R.: Kommentar zum EUV/EGV. München 2000 3 ,<br />

Art. 7 EGV Rn. 18 – 21<br />

Hilf, M.: Die Organisationsstruktur der Europäischen<br />

Gemeinschaften. Berlin/New York 1982<br />

Organisation für Sicherheit und<br />

Zusammenarbeit in <strong>Europa</strong> (OSZE)<br />

1. Begriffserklärung: Die OSZE entwickelte sich<br />

nach dem Ende des Ost-West-Konflikts aus der Konferenz<br />

über Sicherheit und Zusammenarbeit in <strong>Europa</strong><br />

(KSZE, seit 1975) zu einer internationalen Organisation<br />

(Umbenennung zum 1. 1. 1995). Der OSZE<br />

gehören alle Staaten in <strong>Europa</strong>, die Folgestaaten der<br />

Sowjetunion, die USA und Kanada an. Die Mitgliedschaft<br />

der Bundesrepublik Jugoslawien war seit Mai<br />

1992 suspendiert, im November 2000 traten Serbien<br />

und Montenegro der OSZE neu bei. Mit 55 Mitglie-<br />

581


Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE)<br />

dern ist die OSZE die größte Sicherheitsorganisation<br />

in <strong>Europa</strong>, die operative Aufgaben im Bereich von<br />

Krisenfrühwarnung und -prävention, Konfliktregulierung<br />

und -nachsorge erfüllt.<br />

2. Historische Entwicklung: Die KSZE, eine Folge<br />

unregelmäßiger Konferenzen von 35 Staaten (alle<br />

europäischen Staaten außer Albanien sowie die USA<br />

und Kanada), diente in der Zeit der Ost-West-<br />

Konfrontation als wichtiges Forum für den Dialog<br />

zwischen Ost und West und damit als wesentliches<br />

politisches Instrument zur Einhegung und Risikominderung<br />

dieses strategischen Konflikts. Die am<br />

1. 8. 1975 in Helsinki unterzeichnete „Schlussakte“<br />

hat, obgleich kein völkerrechtlicher Vertrag, mit ihrem<br />

Regelwerk politisch verbindlicher Verpflichtungen<br />

normativ-politische Maßstäbe für den weiteren<br />

Prozess der Entspannung, Annäherung und Zusammenarbeit<br />

in <strong>Europa</strong> gesetzt.<br />

Die zehn Prinzipien der Schlussakte von Helsinki<br />

lauten:souveräneGleichheitderStaaten,Enthaltung<br />

der Androhung oder Anwendung von Gewalt, UnverletzlichkeitderGrenzen,territorialeIntegritätder<br />

Staaten, friedliche Regelung von Streitfällen, Nichteinmischung<br />

in innere Angelegenheiten, Achtung<br />

der Menschenrechte und Grundfreiheiten, Gleichberechtigung<br />

und Selbstbestimmungsrecht der Völker,<br />

Zusammenarbeit zwischen den Staaten, Erfüllung<br />

völkerrechtlicher Verpflichtungen nach Treu und<br />

Glauben.<br />

Von diesen Prinzipien erlangten diejenigen, die aus<br />

westlicher Sicht auf die Transformation des Ost-<br />

West-Konflikts zielten, größere Bedeutung als die,<br />

welche aus östlicher Perspektive den politischen und<br />

territorialen Status quo sichern sollten. Insbesondere<br />

das Prinzip der Menschenrechte und Grundfreiheiten<br />

diente Bürgerrechtlern und Dissidenten in den<br />

Ostblockstaaten als Berufungsgrundlage und führte<br />

dazu, dass die Einforderung der Menschenrechte im<br />

KSZE-Rahmen nicht mehr als bloße Einmischung in<br />

innere Angelegenheiten abgewehrt werden konnte.<br />

Das Ende des Sowjetsystems Ende der 1980er, Anfangder1990erJahreführtezueinemgrundlegenden<br />

FunktionswandelderKSZE.Inder„ChartavonParis<br />

für ein Neues <strong>Europa</strong>“ von 1990 bekannten sich alle<br />

Teilnehmerstaaten zu westlichen Werten und Zielvorstellungen<br />

wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit,<br />

Marktwirtschaft und sozialer Gerechtigkeit.<br />

Auf der Grundlage dieser Wertegemeinschaft konnte<br />

die KSZE, ab 1995 die OSZE zu einem regionalen<br />

582<br />

Instrument der Krisenfrühwarnung und -prävention,<br />

Konfliktregulierung und -nachsorge ausgebaut werden.<br />

Seit Helsinki 1992 versteht sich die OSZE als<br />

„regionale Abmachung“ im Sinne von Kapitel VIII<br />

der VN-Charta. Der Sicherheitsbegriff der OSZE<br />

schließt die politisch-militärische, die menschliche<br />

sowie die wirtschaftliche und Umweltdimension ein<br />

und entspricht damit einem modernen multidimensionalen<br />

Sicherheitsverständnis, das die flexible BearbeitungderKonfliktpotentialein<strong>Europa</strong>erlaubt.<br />

3. Aktueller Stand: Die derzeitige Lage der OSZE<br />

wird durch drei grundlegende, teils widersprüchliche<br />

Trends geprägt: Erstens hat sie sich zu einer hoch<br />

operativen Organisation für Krisenprävention und<br />

-regulierung sowie für die Einhaltung von Demokratie-<br />

und Menschenrechtsstandards entwickelt. Zweitens<br />

hat die OSZE durch die Erweiterung der EU auf<br />

25 Mitgliedstaaten und die Entwicklung eigener Instrumente<br />

ziviler Krisenbearbeitung durch die Europäische<br />

Union ihr vormaliges Monopol in diesem<br />

Bereich verloren. Drittens stoßen die Aktivitäten der<br />

OSZE auf wachsende Kritik durch Russland und andere<br />

GUS-Staaten.<br />

3.1 Krisenfrühwarnung und -prävention, Konfliktregulierung<br />

und -nachsorge: Wichtigstes operatives<br />

InstrumentderOSZEsindseit1992ihregegenwärtig<br />

17Feldoperationen,diezuZweckenvonKrisenfrühwarnung<br />

und -prävention, Konfliktlösung und<br />

-nachsorge mit Zustimmung der betreffenden Staaten<br />

eingerichtet wurden. Alle Feldaktivitäten der<br />

OSZE sind in Folgestaaten der Sowjetunion (Armenien,<br />

Aserbaidschan, Belarus, Georgien, Kasachstan,Kirgisistan,Moldau,Tadschikistan,Turkmenistan,<br />

Ukraine, Usbekistan), in Albanien sowie in Folgestaaten<br />

Jugoslawiens bzw. Teilgliederungen desselben<br />

(Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Kroatien,<br />

Mazedonien, Serbien und Montenegro) tätig. Dabei<br />

variieren die Bezeichnungen dieser Feldoperationen<br />

(Mission, Büro, Zentrum etc.) ebenso wie ihr Personalumfang<br />

(von vier bis zu mehreren hundert internationalen<br />

Mitarbeitern). Die Mandate sind der jeweiligen<br />

politischen Situation angepasst und schließen<br />

u. a. Menschenrechtsfragen, Vermittlung zwischen<br />

Konfliktparteien, Integration von Minderheiten,<br />

Aufbau demokratischer Organisationen, Polizeireformen<br />

und Grenzüberwachung ein. Die derzeit<br />

größte OSZE-Mission ist diejenige im Kosovo<br />

(OMIK), die einen der drei Pfeiler der übergreifenden<br />

UN Interim Administration Mission in Kosovo


(UNMIK) darstellt und für Demokratisierung und<br />

Institutionenentwicklung zuständig ist. Mit der Konfliktlösung<br />

befassen sich auch Verhandlungsforen<br />

wie die sog. Minsk-Gruppe (Berg-Karabach-Konflikt).<br />

Besondere Dialoglinien werden durch Persönliche<br />

Vertreter des Amtierenden Vorsitzenden gepflegt.<br />

Seit einigen Jahren sind die Feldoperationen<br />

der OSZE Gegenstand wachsender Kritik seitens<br />

Russlands und anderer GUS-Staaten (vgl. 5. Wertung).<br />

Der Hohe Kommissar für nationale Minderheiten<br />

(HKNM) der OSZE befasst sich präventiv mit Konfliktpotentialen<br />

in Bezug auf nationale Minderheiten<br />

und unterstützt dabei die Umsetzung derer Rechte<br />

und ihre Integration in die jeweiligen Gesellschaften<br />

undStaaten.DerHKNMarbeitetunabhängig,unparteiisch,<br />

vertraulich und kooperativ. Obwohl seine<br />

Empfehlungen an die Regierungen nicht verbindlich<br />

sind, gilt er als effektives Instrument der Krisenprävention<br />

und Konfliktlösung. Der HKNM war/ist in<br />

Albanien, Estland, Georgien, Kasachstan, Kirgisistan,<br />

Kroatien, Lettland, Mazedonien, Moldau, Rumänien,<br />

Russland, der Slowakei, der Türkei, der<br />

Ukraine und Ungarn tätig. Dem ersten Amtsinhaber,<br />

dem früheren niederländischen Außenminister Max<br />

van der Stoel, der das Amt seit 1993 innehatte, folgte<br />

imJuli2001derschwedischeDiplomatRolfEkéus.<br />

Nach Inkrafttreten des Übereinkommens über Vergleichs-<br />

und Schiedsverfahren innerhalb der OSZE<br />

am 5. 12. 1994 wurde am 29. 5. 1995 der OSZE-<br />

Vergleichs- und Schiedsgerichtshof in Genf konstituiert<br />

(Präsident: Robert Badinter, Vizepräsident:<br />

Helmut Steinberger). Bisher wurden dem Gerichtshof<br />

noch keine Fälle vorgelegt.<br />

3.2 Die militärisch-politische Dimension:<br />

Das OSZE-Forum für Sicherheitskooperation (FSK)<br />

wurde durch den Helsinki-Gipfel 1992 eingesetzt.<br />

Sein Mandat sieht drei Aufgabenfelder vor: (a) Maßnahmen<br />

der Rüstungskontrolle, (b) institutionalisierter<br />

Sicherheitsdialog und Zusammenarbeit sowie<br />

(c) Beiträge zur Konfliktverhütung. In den<br />

1990er Jahren stand die Erarbeitung des Verhaltenskodex<br />

zu politisch-militärischen Aspekten der Sicherheit<br />

(1994) und die Weiterentwicklung von vertrauens-<br />

und sicherheitsbildenden Instrumenten<br />

(Wiener Dokument 1999) im Vordergrund. Letzteres<br />

sieht einen umfangreichen Informationsaustausch<br />

vor und ist Gegenstand jährlicher Überprüfungstreffen.<br />

Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE)<br />

Ab 2000 standen praktische Maßnahmen zur Unterstützung<br />

von Teilnehmerstaaten bei der Beseitigung<br />

bzw. sicheren Lagerung überschüssiger Waffen und<br />

Munition im Vordergrund der Tätigkeit des FSK.<br />

Dem dienten das Dokument über Kleinwaffen und<br />

leichte Waffen (2000) und das Dokument über Lagerbestände<br />

konventioneller Munition (2003). Entsprechende<br />

Hilfsersuchen wurden 2003/2004 von<br />

Belarus, Russland, Tadschikistan und der Ukraine<br />

gestellt. Auf der Grundlage u. a. eines Beschlusses<br />

über tragbare Luftabwehrsysteme (Maastricht 2003)<br />

trägt das FSK zu den Anstrengungen der OSZE zur<br />

Terrorismusbekämpfung bei. Das FSK beteiligt sich<br />

ebenfalls an der Durchführung der seit 2003 stattfindenden<br />

Jährlichen Sicherheitsüberprüfungskonferenzen<br />

der OSZE.<br />

3.3 Die menschliche Dimension: In dem für die gesamte<br />

Organisation zentralen Bereich Menschenrechte,<br />

Demokratie und Rechtsstaatlichkeit – genannt<br />

die „menschliche“ Dimension – schuf die<br />

KSZE vor allem auf ihren Treffen in Kopenhagen<br />

1990 und Moskau 1991 weitreichende politisch verbindliche<br />

Verpflichtungen über hohe, die Regelungsniveaus<br />

der UN und des �<strong>Europa</strong>rats teils übersteigende<br />

Standards in den Bereichen Menschenund<br />

Minderheitenrechte, Demokratie, demokratische<br />

Mitwirkungsrechte und Rechtsstaatlichkeit.<br />

Grundlage der Tätigkeit der OSZE in der menschlichen<br />

Dimension ist die im Moskauer Dokument<br />

1991enthalteneFeststellung,dassdieimBereichder<br />

menschlichen Dimension eingegangenen Verpflichtungen<br />

ein unmittelbares und berechtigtes Anliegen<br />

aller Teilnehmerstaaten und eine nicht ausschließlich<br />

innere Angelegenheit des betroffenen Staates<br />

darstellen. Seit einigen Jahren kritisieren Russland<br />

und andere GUS-Staaten ungeachtet der Festlegung<br />

des Moskauer Dokuments die Aktivitäten der OSZE<br />

im Bereich der menschlichen Dimension als EinmischungindieinnerenAngelegenheitenvonStaaten.<br />

Zur Überprüfung der Einhaltung der OSZE-Standards<br />

der menschlichen Dimension finden jährliche<br />

Implementierungstreffen statt, auf denen die Menschenrechtslage<br />

öffentlich kritisch erörtert wird. Die<br />

AktivitätenimBereichdermenschlichenDimension<br />

werden vom OSZE-Büro für Demokratische Institutionen<br />

und Menschenrechte in Warschau koordiniert.<br />

Direktor des Büros ist seit 2003 der österreichische<br />

Botschafter Christian Strohal, der dem Schweizer<br />

Botschafter Gérard Stoudman folgte.<br />

583


Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD)<br />

Das Amt des OSZE-Beauftragten für Medienfreiheit<br />

wurde zum 1. 1. 1998 geschaffen. Gegenstand ist die<br />

Einhaltung der einschlägigen OSZE-Verpflichtungen<br />

im Bereich unabhängiger, pluralistischer Medien<br />

als Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie.<br />

Erster Amtsinhaber war der deutsche Politiker<br />

und Publizist Freimut Duve, ihm folgte 2004<br />

der ungarische Schriftsteller und Journalist Miklos<br />

Haraszti.<br />

3.4 Die wirtschaftliche und Umweltdimension ist das<br />

am schwächsten ausgeprägte Arbeitsfeld der OSZE.<br />

Ein Austausch über Wirtschaftsthemen erfolgt auf<br />

dem jährlichen Wirtschaftsforum in Prag, das Tätigkeitsfeld<br />

wird von einem Koordinator für Wirtschafts-<br />

und Umweltaktivitäten betreut.<br />

4. Organisatorische Struktur<br />

Politische Organe: Höchstes Beschlussgremium,<br />

das politische Leitlinien für die Arbeit der Organisation<br />

formuliert, ist das Gipfeltreffen der Staats- und<br />

Regierungschefs. Es sollte eigentlich alle zwei Jahre<br />

stattfinden, de facto fand seit Istanbul 1999 kein Gipfeltreffen<br />

mehr statt. Jährlich tagt der OSZE-<br />

Ministerrat auf der Ebene der Außenminister. Der<br />

Hohe Rat aus den Politischen Direktoren der Außenministerien<br />

hat mittlerweile jede Bedeutung verloren.<br />

Stattdessen ist der Ständige Rat der Botschafter<br />

in Wien zum regelmäßig tagenden operativen Gremium<br />

für politische Konsultation und Beschlussfassunggeworden.OSZE-OrganefassenihreBeschlüsse<br />

im Konsens, wobei Konsens das Fehlen von Einspruch<br />

bedeutet.<br />

Die Arbeit der OSZE-Organe wird von dem jährlich<br />

wechselnden Amtierenden Vorsitzenden geleitet,<br />

dem Außenminister desjenigen Staates, der den Vorsitz<br />

übernommen hat (2005: Slowenien, 2004: Bulgarien,<br />

2003: Niederlande). Mit seinem Vorgänger<br />

und seinem Nachfolger bildet er die „Troika“. Im<br />

operativen Bereich verfügt der Amtierende Vorsitzende<br />

über weitgehende Initiativrechte und erhebliche<br />

exekutive Befugnisse.<br />

Verwaltungsorgan: Das OSZE-Sekretariat in Wien<br />

unter der Leitung des Generalsekretärs (seit 2005<br />

Marc Perrin de Brichambaut, Frankreich, zuvor Ján<br />

Kubi�, Slowakei) unterstützt den Amtierenden Vorsitzenden<br />

bei der Erfüllung seiner Aufgaben und<br />

übernimmt Managementaufgaben für die OSZE-Institutionen<br />

und -Feldoperationen, u. a. durch ein dem<br />

Sekretariat eingegliedertes Konfliktverhütungszentrum.<br />

584<br />

5. Wertung: Die OSZE hat in den 1990er Jahren im<br />

Konsens hohe normative Standards gesetzt und einen<br />

Handlungsrahmen sowie operative Instrumente<br />

geschaffen, um die Teilnehmerstaaten bei der Umsetzung<br />

dieses normativen Acquis hinsichtlich von<br />

Konfliktlösung, Demokratisierung und Transformation<br />

zu unterstützen. Seit etwa 2000 wird dieser Konsens<br />

von Russland, von Fall zu Fall unterstützt durch<br />

andere GUS-Staaten, zunehmend in Frage gestellt.<br />

Seit2000gelangesmiteinerAusnahme(Porto2002)<br />

nicht mehr, auf OSZE-Ministerratstreffen zu gemeinsamen<br />

Abschlusserklärungen zu kommen. Dabei<br />

unterstützt Russland nach wie vor den am Status<br />

quo orientierten sicherheitspolitischen Acquis der<br />

OSZE, wendet sich aber in wachsendem Maße gegen<br />

die auf Demokratisierung und Transformation und<br />

damit auf Veränderung gerichteten Aktivitäten der<br />

Organisationen im Bereich der menschlichen Dimension<br />

und bei den Feldoperationen. Dies umso<br />

mehr, als OSZE-Wahlbeobachtungen in einigen Fällen<br />

(Georgien 2003, Ukraine 2004) zu Regimewechseln<br />

beigetragen haben, die von Russland als westliche<br />

Einmischung in seine Interessensphäre verstanden<br />

werden. Diese Haltung Russlands und anderer<br />

GUS-Staaten reflektiert den Umstand, dass die Demokratisierungs-<br />

und Transformationsprozesse in<br />

den meisten postsowjetischen Staaten auf mehr oder<br />

minder autoritäre und traditionale Gesellschaftsstrukturen<br />

trafen. Während die weitere Existenz der<br />

OSZE nicht in Frage steht, ist derzeit noch nicht zu<br />

beurteilen, inwieweit die OSZE auch in Zukunft als<br />

Handlungsrahmen für die Unterstützung demokratischerTransformationsprozessedienenkann.<br />

W. Z.<br />

Literatur:<br />

Auswärtiges Amt: Von der KSZE zur OSZE. Grundlagen,<br />

Dokumente und Texte zum deutschen Beitrag. Bonn 1998<br />

Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der<br />

Universität Hamburg/IFSH (Hg.): OSZE-Jahrbuch, Bd. 1<br />

(1995) bis Bd. 10 (2004). Baden-Baden 1995 bis 2005<br />

Schlotter, P.: Die KSZE im Ost-West-Konflikt. Wirkung einer<br />

internationalen Institution. Frankfurt/M./New York 1999<br />

Tudyka, K. P.: Das OSZE-Handbuch. Die Organisation für<br />

Sicherheit und Zusammenarbeit von Vancouver bis<br />

Wladiwostok. Opladen 2002 2<br />

Internet:<br />

www.osce.org (offizielle Website der OSZE);<br />

www.isn.ethz.ch/osce (OSCE Networking Website)<br />

Organisation für wirtschaftliche<br />

Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD)<br />

1.GeneseundZiele:DieOrganisationfürwirtschaftliche<br />

Zusammenarbeit und Entwicklung – Organiza-


tion for Economic Cooperation and Development<br />

(OECD), Organisation de Coopération et de Développement<br />

Economiques (OCDE) – mit Sitz in Paris<br />

ist 1961 hervorgegangen aus der mit der Unterstützung<br />

des Marshallplanes betrauten Organisation für<br />

Europäische Wirtschaftliche Zusammenarbeit<br />

(OEEC). Die ursprünglichen Aufgaben der am 16. 4.<br />

1948 gegründeten OEEC (Organization for EuropeanEconomicCooperation)bestandenimWiederaufbau<br />

der kriegszerstörten Volkswirtschaften <strong>Europa</strong>s<br />

und in der Koordinierung der nationalen Aufbaupläne.<br />

Darüber hinaus strebten die damals 18 westeuropäischen<br />

OEEC-Länder eine weitgehende Liberalisierung<br />

des Handels- und Zahlungsverkehrs an.<br />

Ende der 1950er Jahre hatte die OEEC ihre Ziele im<br />

Wesentlichen erreicht. Da vor allem durch die Gründung<br />

der EWG die Integration in <strong>Europa</strong> noch wirksamer<br />

vorangetrieben werden konnte, wurde 1961<br />

auf Initiative der USA die OEEC durch die OECD,<br />

als ein im Prinzip weltweites Kooperationsgremium<br />

der industrialisierten Staaten, abgelöst.<br />

Die OECD trat am 1. 10. 1961 die Nachfolge der<br />

OEEC an. Ziel der OECD ist es, durch wirtschaftlicheZusammenarbeitihrer30Mitgliedstaaten(Stand<br />

2005) und Dialog mit anderen Ländern einen Beitrag<br />

zur Entwicklung der Weltwirtschaft zu leisten.<br />

Hauptinstrumente der OECD bilden Prüfungen<br />

durch gleichrangige Partner und gegenseitiger Austausch<br />

zur Konzipierung von Wirtschafts- und Sozialpolitiken,<br />

die darauf gerichtet sind, unter Wahrung<br />

der finanziellen Stabilität ein möglichst hohes<br />

und nachhaltiges Wachstum und Beschäftigungsniveau<br />

sowie einen steigenden Lebensstandard zu erreichen.<br />

Damit hat sich die OECD für die Mitgliedstaaten<br />

zwei Ziele gesetzt (Koordinierungsfunktion):<br />

– Förderung einer optimalen Wirtschafts- und Beschäftigungsentwicklung,<br />

steigender Lebensstandard<br />

und Wahrung der finanziellen Stabilität;<br />

– weit gehende Befreiung des Dienstleistungs- und<br />

Kapitalverkehrs von Beschränkungen.<br />

Darüber hinaus fördert sie das Wirtschaftswachstum<br />

der Entwicklungsländer und arbeitet auf eine Ausweitung<br />

des Welthandels hin. Im Zuge der fortschreitenden<br />

weltwirtschaftlichen Vernetzung erhält<br />

auch die OECD eine zunehmend globale Ausrichtung<br />

durch Intensivierung des Dialoges und der<br />

Zusammenarbeit mit Nicht-Mitgliedstaaten in der<br />

ganzen Welt (outreach).<br />

Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD)<br />

2. Struktur der OECD: Oberstes Organ der OECD ist<br />

der regelmäßig tagende Rat der Ständigen Vertreter<br />

der Mitglieder; einmal im Jahr tagt er auf Ministerebene.<br />

Der Exekutivausschuss aus 14 jährlich neu<br />

gewählten Mitgliedern (davon mit ständigem Sitz<br />

dieG-7-StaatenDeutschland,Frankreich,Italien,Japan,<br />

Kanada, USA und Vereinigtes Königreich) bereitet<br />

die Ratssitzungen vor und koordiniert die Aktivitäten.<br />

Über 150 Ausschüsse, Arbeitsgruppen und<br />

Expertengremien befassen sich mit einem breiten<br />

wirtschaftspolitischen und sozialen Themenbereich.<br />

2.1 OECD-Rat: Im Rat sind alle Mitgliedsländer mit<br />

einer Stimme vertreten. Um ihre Ziele zu verwirklichen,<br />

kann die OECD Beschlüsse fassen (grundsätzlich<br />

einstimmig), die für alle Mitglieder verbindlich<br />

sind, und Empfehlungen an die Mitglieder richten.<br />

Mit seinem Veto kann ein Staat nur verhindern, dass<br />

der Beschluss auf ihn angewendet wird. Der Rat setzt<br />

einen Exekutivausschuss und den Generalsekretär<br />

ein, der das Sekretariat (Sitz ist Paris) leitet.<br />

2.2 Ausschüsse: Zur Bewältigung der umfassenden<br />

Arbeiten wurden Ausschüsse gebildet, die sich aus<br />

Vertretern der Mitgliedstaaten zusammensetzen.<br />

Schwerpunkte der Arbeit sind: wirtschaftliche Zusammenarbeit,<br />

Energiepolitik, Handels-, Finanzund<br />

Steuerpolitik, Entwicklungszusammenarbeit,<br />

Währungspolitik, soziale Fragen, Arbeitsmarktprobleme,<br />

Umweltschutz, Städteplanung, Technologie<br />

und Industrie, Wissenschaft, Agrarpolitik und Fischerei.<br />

Im Wirtschaftspolitischen Ausschuss werden<br />

Stellungnahmen, Empfehlungen und Prognosen<br />

zur Konjunktur-, Struktur- und Währungspolitik der<br />

Mitgliedsländer ausgearbeitet. Einzeluntersuchungen<br />

über besondere wirtschaftliche Probleme und<br />

Jahresberichte über die Wirtschaftslage der OECD-<br />

Länder sind Aufgabe des Prüfungsausschusses für<br />

Wirtschafts- und Entwicklungsfragen. Eine wichtige<br />

Bedeutung hat der 1961 eingerichtete Entwicklungshilfeausschuss<br />

(Development Assistance<br />

Committee, DAC) mit 22 Mitgliedern (einschl. der<br />

EU-Kommission). Er koordiniert deren Entwicklungshilfe,<br />

die 95 % der öffentlichen Entwicklungshilfeleistungen<br />

der Industrieländer umfasst.<br />

2.3DasInternationaleSekretariatmitExpertenaller<br />

Sachgebiete untersteht einem Generalsekretär (seit<br />

1996 Donald Johnston, Kanada). Dieser ist RatsvorsitzenderundvertrittdieOECDnachaußen.DemSekretariat<br />

angegliedert ist das Zentrum für die Zusammenarbeit<br />

mit Nichtmitgliedstaaten. Die Finanzie-<br />

585


Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD)<br />

rung der OECD erfolgt durch Mitgliedsbeiträge und<br />

den Verkauf von Publikationen.<br />

2.4 Mitglieder der OECD sind Australien, Belgien,<br />

Deutschland, Dänemark, Finnland, Frankreich,<br />

Griechenland, Irland, Island, Italien, Japan, Kanada,<br />

Republik Korea, Luxemburg, Mexiko, Neuseeland,<br />

Niederlande, Norwegen, Österreich, Polen, Portugal,<br />

Schweden, Schweiz, Spanien, Slowakei, Tschechische<br />

Republik, Türkei, Ungarn, USA und Vereinigtes<br />

Königreich. Die EU-Kommission nimmt an<br />

der Arbeit der OECD teil. Eine Erweiterung ist absehbar.GrundsätzlichwerdennurLänderaufgenommen,<br />

die marktwirtschaftlich organisiert sind, einen<br />

fortgeschrittenen Entwicklungsstand erreicht haben<br />

unddieMenschenrechtesowiedieGrundsätzepluralistischer<br />

Demokratien respektieren. Dadurch kann<br />

die OECD ihrem Anspruch als Kooperationsforum<br />

gerecht werden.<br />

2.5 Institutionen: Mit der OECD sind drei Institutionen<br />

verbunden:<br />

– die Internationale Energie-Agentur (IEA) zur<br />

Koordinierung der Energiepolitik,<br />

– die Kernenergie-Agentur (NEA) zur Förderung<br />

der internationalen Zusammenarbeit der friedlichen<br />

Kernenergienutzung,<br />

– das Zentrum für Forschung und Innovation im<br />

Bildungswesen (CERI).<br />

3. Schwerpunkte der OECD: Zu den gegenwärtigen<br />

Schwerpunkten der OECD-Aktivitäten zählen u. a.<br />

folgende Themen und Politikbereiche: Finanz- und<br />

Geldpolitik, Beschäftigung, Welthandel, Armutsbekämpfung,<br />

Bekämpfung von Bestechung und Korruption,<br />

die Zusammenarbeit mit den Nichtmitgliedstaaten,<br />

Unternehmensführung, Erziehung und Bildung,<br />

alternde Gesellschaften, elektronischer Handel,<br />

Regulierungsreform, multilaterales Investitionsschutzabkommen,<br />

nachhaltige Entwicklung,<br />

Besteuerung.<br />

4. Die OECD und ihre Bedeutung für die EU: Die EU<br />

besitzt in der OECD einen Sonderstatus. Sie ist nicht<br />

Mitglied der Organisation, doch gibt die Europäische<br />

Kommission regelmäßig im Namen der Gemeinschaft<br />

zu Themen Stellungnahmen ab, die in<br />

ihre Zuständigkeit fallen oder zu denen ihre Mitgliedstaaten<br />

zuvor einen �Gemeinsamen Standpunkt<br />

festgelegt haben. Die OECD ist mit ihren makroökonomischen,<br />

handelspolitischen und strukturpolitischen<br />

Empfehlungen sowohl für die nationale<br />

als auch für die internationale wirtschaftspolitische<br />

586<br />

Diskussion für die Union eine der bedeutendsten und<br />

anerkanntesten wirtschaftspolitischen Beratungsorganisationen<br />

im internationalen Bereich. Die OECD<br />

ist auch in Zukunft in der Lage, wichtige, von anderen<br />

internationalen Organisationen nicht zu erbringende<br />

Beiträge bei Analyse und Politikgestaltung im<br />

Rahmen wirtschaftlichen Handelns im globalisierten<br />

Umfeld zu leisten. Für die Union ist wichtig, dass<br />

bei aller Betonung der globalen Ansätze in der<br />

OECD-Arbeit die Wertegemeinschaft der Mitgliedstaaten<br />

und die Verpflichtung zur Aufrechterhaltung<br />

hoher Standards nicht aus den Augen verloren werden.<br />

Die Aktivitäten der OECD in Richtung Nichtmitglieder<br />

(outreach) müssen sich an den gemeinsamen<br />

Interessen der Mitgliedstaaten orientieren. Die<br />

besondere Betonung der Kontakte mit den „Major<br />

Players“ (Russland, China, Brasilien, Indien und Indonesien)<br />

ist ebenso von hoher Bedeutung.<br />

Die OECD befasst sich mit einer breiten Palette makro-<br />

und mikroökonomischer Themen sowie mit<br />

Währungs- und Finanzfragen und seit den 1970er<br />

Jahren zunehmend auch mit energiewirtschaftlichen<br />

Problemstellungen. An diesen Diskussionen nimmt<br />

die Europäische Kommission vollberechtigt teil.<br />

Zentralen wirtschaftspolitischen Aspekt bilden in<br />

den1990erJahrendieStrategienzurFörderungeines<br />

nachhaltigen Wachstums und des sozialen Zusammenhalts<br />

im Kontext der Globalisierung der Wirtschaft,<br />

wobei die durch die hohe Arbeitslosigkeit<br />

ausgelösten und fortbestehenden Probleme in der<br />

OECD besonders im Mittelpunkt stehen.<br />

Die OECD hat zudem ihr Engagement im Handelsbereich<br />

dadurch erhöht, dass sie in der Frage der Exportkredite<br />

ein entscheidendes Wort mitredet. Alle<br />

Mitgliedstaaten der EU akzeptieren den sog. OECD-<br />

Konsens zu öffentlich unterstützten Exportkrediten,<br />

der seit 1978 dazu eingesetzt wird, diese öffentliche<br />

Unterstützung unter Kontrolle zu halten, und der entscheidend<br />

dazu beigetragen hat, dass es gelungen ist,<br />

bei den Kreditzinsen eine größere Marktnähe herzustellen.<br />

Die OECD kann ferner für sich verbuchen,<br />

dass sie in den Reihen ihrer Mitglieder die Diskussion<br />

über Themen wie Dienstleistungsverkehr und<br />

Handel mit Erzeugnissen der Hochtechnologie gefördert<br />

hat, und zwar häufig im Vorgriff auf die formellen<br />

und verbindlichen Verhandlungen im größerenRahmender�WTO.<br />

L. U.<br />

Literatur:<br />

Czempiel, E.: Weltpolitik im Umbruch. Das internationale Sys-


tem nach dem Ende des Ost-West-Konflikts. München 1991<br />

Deutsche Bundesbank (Hg.): Weltweite Organisationen und<br />

Gremien im Bereich von Währung und Wirtschaft.<br />

Frankfurt/M. 1997<br />

OECD (Hg.): Activities of OECD. Paris (jährlich)<br />

Ostasienpolitik der EU<br />

1. Die Ostasienpolitik der EU wird hier als die Beziehungen<br />

der EU mit den Staaten des Asiatisch-<br />

Pazifischen Raums, der sich zunehmend als regionale<br />

Einheit versteht, definiert. Dieser Politikbereich<br />

umfasst vier Komponenten:<br />

– bilaterale Beziehungen, wie insbes. EU – Japan sowie<br />

EU – Volksrepublik China,<br />

– biregionale Beziehungen, wie in erster Linie zwischen<br />

EU und ASEAN,<br />

– Mitarbeit in gemeinsamen Organisationen der Region,<br />

wie z. B. ASEM<br />

– Mitarbeit in multilateralen Initiativen, wie z. B. in<br />

Bezug auf die Kontrolle des Nuklearpotentials von<br />

Nordkorea.<br />

Die EU-Ostasien-Beziehungen gehören neben den<br />

EU-USA- und den EU-Lateinamerika-Beziehungen<br />

zu den politisch wichtigsten und ökonomisch attraktivsten<br />

„far-abroad“-Politiken der EU und haben für<br />

den Ausbau einer globalen Machtposition der EU<br />

zentrale Bedeutung. Wie in allen derartigen Beziehungen<br />

bzw. im Grundmuster von �GASP und<br />

�ESVP angelegt, ist auch die Ostasienpolitik der EU<br />

durch eine doppelte kooperative Konkurrenz, institutionelle<br />

Widersprüche und Interessen- wie Machtkonflikte<br />

zwischen EU und Mitgliedstaaten auf der<br />

einen Seite und Europäischer Kommission und außenpolitischen<br />

Repräsentanten des Ministerrates<br />

bzw. des zukünftigen Außenministers der EU gekennzeichnet.<br />

Wie auch in der EU-�Lateinamerikapolitik<br />

handelt es sich bei der EU-Ostasienpolitik in<br />

erster Linie um eine von politisch und ökonomischen<br />

Interessen geprägte „weiche“ Machtpolitik unter<br />

Verzicht auf militärische Mittel (mit Ausnahme einer<br />

sehr begrenzten Beteiligung der EU-Mitgliedstaaten<br />

bei peace-keeping-Aktionen im Asiatisch-<br />

Pazifischen Raum), die sowohl aufgrund der Interessenlage<br />

als auch der globalen Positionierung der EU<br />

mit der Politik der USA kooperiert, konkurriert und<br />

konfligiert. Und ähnlich wie bei der Lateinamerikapolitik<br />

der EU sind die Ostasienbeziehungen der Europäischen<br />

Union nicht nur eine Frage gemeinsamer<br />

oder kompatibler Interessen, sondern auch von globalen<br />

Strukturen und der inneren institutionellen wie<br />

Ostasienpolitik<br />

politisch-inhaltlichen Entwicklung der Europäischen<br />

Union.<br />

Die Wahrnehmung Ostasiens in den politischen Eliten<br />

und der Öffentlichkeit <strong>Europa</strong>s und damit auch<br />

die Akzeptanz und Legitimation der EU-Ostasienpolitik<br />

ist wie bei vielen „exotischen“ Themen sowohl<br />

durch positive Mythenbildung als auch durch<br />

Projektion von Ängsten gekennzeichnet. Dies gilt<br />

insbes. für China, das aus kulturellen, ökonomischen<br />

und politischen Gründen häufig im Mittelpunkt des<br />

europäischen Ostasienbildes steht. Die Mythologisierung<br />

Chinas hat eine lange Tradition. Sie reicht<br />

von Marco Polos Bericht über China als fernes wundersames<br />

Land, die Chinoiserie- und Porzellansammelmoden<br />

an den europäischen Höfen bis zur<br />

Mao-Tse-Tung-Begeisterung und Bewunderung der<br />

chinesischen Kulturrevolution unter europäischen<br />

Linksintellektuellen in den 1970er und 1980er Jahren.<br />

Zu den durch negative Projektionen geprägten Vorstellungen<br />

gehören z. B. der Rassismus der Kolonialzeit,<br />

die Beschwörung einer „gelben Gefahr“, die<br />

auch in der heutigen Debatte über die Entwicklung<br />

des chinesischen Militär- und Wirtschaftspotentials<br />

mitschwingt, sowie die in Politik und Publizistik<br />

nach wie vor gepflegten Prognosen eines bevorstehenden<br />

Untergangs des chinesischen Regimes. Die<br />

Wiedervereinigung Hongkongs mit dem chinesischen<br />

Mutterland stellte einen klassischen Fall solcher<br />

Untergangsprognosen dar; der Vergleich der<br />

westlichen Wahrnehmung der inneren Reformpolitik<br />

Gorbatschows und Deng Xiao Pings in der europäischen<br />

Öffentlichkeit ist ein weiteres Beispiel.<br />

Diese Gemengelage aus mangelnder Sachkenntnis,<br />

Projektionen und Eurozentrismus erschweren die<br />

Weiterentwicklung der der EU-Ostasienpolitik zugrundeliegenden<br />

Strategie des konstruktiven Engagements,<br />

eine sinnvolle Verbindung von EU-Interessen<br />

und Wertvorstellungen bei ihrer Umsetzung<br />

sowiedemZieleinerlangfristigenbiregionalenKoalitionsbildung<br />

(ein Ansatz, europäische und chinesische<br />

Menschenrechts- und good-governance-TraditionenmiteinanderinBezugzusetzen,findetsichbei<br />

Roetz, 1992).<br />

2. In der Geschichte der Beziehungen zwischen <strong>Europa</strong><br />

und Ostasien finden sich völlig unterschiedlicheMuster,StrukturenundDynamiken,diesichteils<br />

überlagern und teils miteinander konkurrieren. Der<br />

europäische Kolonialismus vor allem zwischen dem<br />

587


Ostasienpolitik<br />

18. und 20. Jh. in der klassischen Form von Handelsund<br />

später Siedlungskolonialismus bestimmt die politische<br />

wie ökonomische Entwicklung Ostasiens.<br />

Dabei spielen Kooperation, Machtteilung und<br />

MachtkonfliktzwischendeneuropäischenKolonialmächten<br />

eine wichtige Rolle. Hier ist, neben der kooperativ<br />

angelegten portugiesischen Handelsstützpunktpolitik<br />

(z. B. Macao), insbes. die Verbindung<br />

von Handels- und Siedlungspolitik der holländischen<br />

Kolonialpolitik in Indonesien, die mit repressivem<br />

Militäreinsatz abgesichert wird, und der ähnlich<br />

angelegten französischen Politik in Indochina<br />

sowie vor allem der britische Kolonialismus zu nennen.<br />

Dieser verbindet seine Stützpunktpolitik (z. B.<br />

Singapur und Hongkong) mit einer politisch-strategischwieökonomischglobalangelegtenMachtpolitik<br />

von China über das heutige Malaysia und Burma<br />

(Myanmar) bis über Indien, den Nahen Osten und<br />

Malta. Neben diesen kolonialen Beziehungsmustern<br />

bilden sich aber insbes. im Verlaufe des 19. Jhs. Beziehungen<br />

zwischen europäischen und unabhängigen<br />

asiatischen Staaten wie z. B. dem Königreich<br />

Thailand und den Kaiserreichen China und Japan heraus,<br />

die von formaler Unabhängigkeit der Partner<br />

geprägt sind. Diese reichen von einer weitgehenden<br />

Abhängigkeit (wie im Falle Thailands) über eine<br />

durch militärischen Interventionismus geprägte Beziehung<br />

(wie im Falle Chinas) bis zu einem quasigleichberechtigten<br />

Muster (wie im Falle Japans)<br />

nach seiner erzwungenen Öffnung gegenüber dem<br />

Westen. Insgesamt spielen also in dieser Periode europäische<br />

Mächte – und insbes. Großbritannien –<br />

eine zentrale Rolle für die politische und ökonomische<br />

Entwicklung der Region.<br />

Der Zweite Weltkrieg stellt einen dreifachen historischenEinschnittinderGeschichteOstasiensdar.Für<br />

die Region bedeutet die japanische militärische Expansion<br />

und die spätere Befreiung eine doppelte Erfahrung:<br />

erstens mit einer japanischen Besetzung<br />

und zweitens mit der Tatsache, dass die Region von<br />

außen, d. h. im Wesentlichen von den USA befreit<br />

wurde. Dabei etablieren sich die USA nicht nur als<br />

Garant regionaler Sicherheit (dies wurde insbes. im<br />

Korea-Krieg deutlich), sondern gegenüber Ländern<br />

wie Japan und den Philippinen auch als politischökonomische<br />

Seniormacht. Mit dem Ende des Weltkrieges<br />

bzw. mit dem amerikanischen Engagement<br />

in der asiatisch-pazifischen Region beginnt aber<br />

auch das Ende des europäischen Kolonialismus in<br />

588<br />

Ostasien, das in Fällen wie in Indonesien und Indochina<br />

durch Befreiungskriege erreicht wird. Sieht<br />

man von Ausnahmen wie z. B. Hongkong ab, marginalisiert<br />

das amerikanische Engagement und der<br />

Entkolonialisierungsprozess die Rolle europäischer<br />

Staaten in Ostasien auf ein Minimum. Es sind vor allemdieUSA,dieindieserPeriodeeinezentraleRolle<br />

in Ostasien spielen.<br />

Die Rückkehr <strong>Europa</strong>s nach Ostasien in den 1980er<br />

und 1990er Jahren geht auf die beiderseitige politisch-ökonomische<br />

Interessenlage und auf den europäischen<br />

Integrationsprozess und die GlobalisierungsstrategiederEUzurück.Fürdieexportgeleitete<br />

wirtschaftliche Erstarkung zunächst Japans, später<br />

der sog. Tigerstaaten und zuletzt Chinas spielen der<br />

Handel mit der EG/EU bzw. der sich immer mehr<br />

vereinheitlichende und vergrößernde europäische<br />

Markt wie auch die europäische Investitionstätigkeit<br />

in Ostasien eine immer größere Rolle. Die Entstehung<br />

der Währungsunion verstärkt dies noch. Sie<br />

wird schon sehr früh als doppelt bedeutsam angesehen:<br />

erstens in Bezug auf ihre währungspolitische<br />

Qualität und zweitens in Bezug auf die von ihr ausgehende<br />

Relativierung des japanischen Yen und des<br />

amerikanischen Dollars bzw. das dabei entstehende<br />

währungspolitische amerikanisch-europäische Duopol.<br />

Die damit zusammenhängende zunehmende politische<br />

Präsenz der EG/EU bzw. ihrer Mitgliedstaaten<br />

bedeutetet zwar keine Alternative zu den politisch<br />

und militärisch dominanten und ökonomisch wichtigen<br />

USA, eröffnete aber nach dem lateinamerikanischen<br />

Modell die Möglichkeit, die einseitige Abhängigkeit<br />

der Region von den USA durch eine Strategie<br />

der bipolaren Kooperation zu verringern und in der<br />

EU einen Koalitionspartner bei der Neupositionierung<br />

Ostasiens im internationalen Wirtschafts-, Finanz-<br />

und Handelssystem zu finden (dies wird z. B.<br />

durch das Engagement der EU für den Beitritt Chinas<br />

zur WTO illustriert; angesichts der Rolle der WTO in<br />

den vielen Handelskonflikten zwischen EU und<br />

USA haben Allianz- bzw. Koalitionsbildungen innerhalb<br />

der WTO eine wichtige politische Bedeutung).<br />

Dass die EU dabei einen politischen Preis – z. B. stärkeren<br />

Umweltschutz, humane Arbeitsbedingungen,<br />

Fortschritte in der Menschenrechtspolitik – fordert,<br />

erscheint den ostasiatischen Ländern wie auch<br />

ASEAN prinzipiell akzeptabel bzw. für ihre eigene


innere Reformagenda nützlich (die chinesische Führung<br />

bediente sich z. B. der Mitgliedschaft in der<br />

WTO, um die Fortsetzung ökonomischer Reformen<br />

nach innen besser zu legitimieren). Für die EG/EU-<br />

Mitgliedsländer ist dabei der ostasiatische Markt –<br />

oder besser die ostasiatischen Märkte – nicht nur als<br />

high-absorber-Märkte mit Wachstumsraten bis über<br />

10 % besonders interessant, sondern auch wegen der<br />

geringeren Produktionskosten für Investitionen wie<br />

für Produktionsauslagerungen attraktiv. Dieses doppelte<br />

Interesse der Europäer führt dann dazu, dass sie<br />

nicht nur an der Fortsetzung hoher Wachstumsraten,<br />

sonderndanebenauchanökonomischenReformprozessen<br />

wie z. B. in China, an der Verrechtlichung der<br />

ostasiatischen Volkswirtschaften nach westlichem<br />

Modell und an der allgemeinen Durchsetzung des<br />

Freihandelsprinzips – so z. B. auch im Falle protektionistischer<br />

Politiken wie in Japan – interessiert<br />

sind. Die Realisierung eines solchen gemeinsamen<br />

Interesses ist aber nur unter Bedingungen allgemeinpolitischerundinsbes.sicherheitspolitischerStabilität<br />

möglich. Dauerhafte politische Stabilisierung<br />

durch schrittweisen Ausbau von Reformen bzw. von<br />

Demokratisierungsprozessen wie z. B. in China,<br />

Thailand, Indonesien usw. plus ein möglichst geringes<br />

militärisches Konfliktrisiko bzw. ein hohes Maß<br />

an friedlichem Konfliktmanagement und -lösung<br />

sind aber nicht nur notwendige Bedingungen für den<br />

Ausbau der europäisch-asiatischen Wirtschaftsbeziehungen,<br />

sondern auch sinnvoll, um die Abhängigkeit<br />

von dem militärischen Sicherheitsgarantien der<br />

USA zu verringern.<br />

Die EG/EU-Ostasienbeziehungen und die entsprechenden<br />

Maßnahmen von EG/EU sind nicht nur für<br />

dieEU-Mitgliedstaaten,sondernauchfürdieEUvon<br />

doppeltem strategischen Interesse. Erstens komplementiert<br />

das ökonomisch-politische Engagement<br />

der EU in Ostasien die EG/EU-Lateinamerika-Politik.<br />

Ähnlich wie Lateinamerika ist Ostasien für die<br />

EU von dreifacher Bedeutung: als Wirtschaftsraum,<br />

als Region mit einsetzenden Regionalisierungsprozessen<br />

und damit als ein möglicher Partner für eine<br />

regionalistische Globalstrategie, und schließlich als<br />

Region, in die die EG/EU ihr politisches Modell in<br />

Konkurrenz zu den USA projiziert. Für eine in erster<br />

Linie auf politisch-wirtschaftlichen Interessen basierende<br />

Globalstrategie kann und will die EU auf<br />

diese Region nicht verzichten; eine strategisch angelegte<br />

Kooperation gerade mit Ostasien ist – unabhän-<br />

Ostasienpolitik<br />

gig von allen inneren Problemen dieser Region – für<br />

eine stärkere globale Rolle der EU unverzichtbar;<br />

zweitens kann dabei gerade in der Verbindung der<br />

vier Komponenten der EU-Ostasienpolitik die Rolle<br />

von Europäischer Kommission bzw. EU gegenüber<br />

den Mitgliedstaaten gestärkt werden. Eine erfolgreiche<br />

Bündelung der Interessen und Machtpotentiale<br />

der Mitgliedstaaten gerade in einer politisch wie<br />

wirtschaftlich so attraktiven Region bringt dabei die<br />

EU nicht nur dem Ziel einer Gemeinsamen AußenundSicherheitspolitiknäher,sondernziehtaucheine<br />

außen- wie wirtschaftspolitische GewichtsverlagerungvondenMitgliedstaatenzurEUnachsich.<br />

Wenn man davon ausgeht, dass die EU-Ostasienpolitik<br />

nicht nur Ostasien betrifft, sondern auch ein<br />

wichtiger Teil der EU-Global- und insbes. EU-<br />

USA-Politik ist, müssen auch ihre aktuellen und<br />

strukturellen Grenzen bestimmt werden. Diese werden<br />

insbes. im Krisenfall deutlich und finden sich in<br />

allen Handlungsbereichen. In der ökonomischen ZusammenarbeitzwischenEUundOstasienmachtedie<br />

asiatische Finanzkrise Ende der 1990er Jahre den<br />

komparativen Machtnachteil der EU gegenüber den<br />

USA deutlich. So konnte und wollte die EU weder direkt<br />

beim Management oder der Lösung der Finanzkrise<br />

eingreifen bzw. helfen noch ihren Einfluss gegenüber<br />

ASEAN nutzen, um statt einer nationalen<br />

eine regionale Lösung zu propagieren; es waren die<br />

USA, die die Lösungsstrategien definierten und die<br />

entscheidenden Finanzhilfen vergaben bzw. organisierten.<br />

Im politischen agenda-setting der Region ist<br />

die EU sowohl aufgrund ihres Machtprofils als auch<br />

ihrer inneren Entscheidungsprobleme zwar präsent<br />

und aufgrund ihres politischen Modells wie ihrer<br />

„weichen“ Machtpolitik durchaus attraktiv; es sind<br />

aber die USA, die die politischen Prioritäten von<br />

Nordkorea bis Indonesien setzen und durchsetzen.<br />

Besitzt die EU im wirtschaftlichen und – in begrenzterem<br />

Maße – im politischen Bereich noch Einfluss,<br />

so ist sie in Bezug auf militärische Sicherheit irrelevant.<br />

Regionale Krisen mit militärischem Eskalationsrisiko<br />

wie die Drohungen Chinas gegenüber<br />

Taiwan oder die nordkoreanische Nuklearpolitik<br />

einschl. ihrer Raketentests revitalisierten das amerikanische<br />

Monopol für die regionale Sicherheit ebenso<br />

wie die Sorgen vor einem chinesisch-japanischen<br />

Rüstungswettlauf. Trotz ihres Engagements für<br />

friedliche Lösungen spielt die EU in Bezug auf die<br />

Militärproblematik in Ostasien keine nennenswerte<br />

589


Ostasienpolitik<br />

Rolle (dies gilt auch für die Waffenexportpolitik der<br />

EU bzw. ihrer Mitgliedstaaten. Waffenimporte aus<br />

den USA bzw. Russland wie die Entwicklung eigener<br />

Waffensysteme spielen für die Modernisierung<br />

von Militärpotentialen in Ostasien eine sehr viel größere<br />

Rolle als die Importe aus der EU).<br />

3. Unter den vier Komponenten der EU-Ostasienpolitik<br />

sind die bilateralen Beziehungen mit Japan<br />

sowie der Volksrepublik China und die biregionale<br />

Kooperation mit ASEAN von besonderer Bedeutung.<br />

Die schon früh einsetzende Zusammenarbeit<br />

mit Japan geht dabei nicht nur auf die dominante<br />

wirtschaftliche Rolle Japans in Ostasien, sondern<br />

auch auf die Bedeutung des EU-japanischen Handelsverkehrs<br />

zurück. Der schrittweise Ausbau der<br />

Außenhandelskompetenzen der EU wie auch bündnispolitischeRücksichtengegenüberdenUSAerforderten<br />

Maßnahmen zum Abbau des japanischen Protektionismus<br />

wie zur besseren Steuerung der Handels-<br />

und Investitionsströme. Die Aufnahme der offiziellen<br />

diplomatischen Beziehungen zu China<br />

1975 wurde durch Initiativen von Mitgliedstaaten<br />

vorbereitet und induziert.<br />

Die nach Einsetzen der Wachstumseffekte der Reformen<br />

Deng Xiao Pings Ende der 1980er Jahre erweiterte<br />

und vertiefte Zusammenarbeit mit China<br />

hatte bzw. hat dagegen nicht nur eine ökonomische,<br />

sondernaucheinepolitischeKomponente.Dieswurde<br />

insbes. durch die in der Madrider Ratssitzung von<br />

1995 verabschiedete Grundsatzerklärung „A long<br />

term policy for Europe-Chinese relations“ deutlich.<br />

Nach den ersten Schritten in Richtung auf eine<br />

�GASP wurde diese 1998 mit der Leitlinie „Building<br />

a comprehensive partnership with China“ insbes. im<br />

politischen Bereich erweitert und vertieft. Die heutige<br />

enge und weitgehend konfliktfreie Kooperation –<br />

und vor allem der bündnisstrategische Aspekt dieser<br />

Zusammenarbeit – zwischen der EU und China wird<br />

insbes. in den fast zeitgleichen Dokumenten der Europäischen<br />

Kommission „A maturing partnership.<br />

Shared interest and challenges in EU-China relations“<br />

(September 2003, KOM 2003/535 endg.) und<br />

der chinesischen Regierung „China‘s EU policy paper“<br />

(13. 10. 2003) deutlich gemacht.<br />

Die politische Komponente der Zusammenarbeit lag<br />

zwar auch im Bereich der Stabilisierung der ökonomisch-politischen<br />

Reformen, der Entwicklung von<br />

Menschenrechten, Rechtsstaatsprinzipien und von<br />

Produktionsstandards (dazu gehören heute insbes.<br />

590<br />

Umweltstandards und – wie in anderen ostasiatischen<br />

Ländern auch – der Schutz geistigen Eigentums);<br />

sie war aber mehr durch die politisch-wirtschaftliche<br />

Konkurrenz zu den USA bzw. durch globale<br />

Koalitionsbildungsinteressen bestimmt. So unterscheiden<br />

sich die EU-japanischen von den EUchinesischen<br />

Beziehungen nicht nur in der wirtschaftspolitischen,<br />

sondern auch der bündnispolitischen<br />

Zielsetzung. Während ein europäisch-japanisch-amerikanischer<br />

Trilateralismus wie auch ein<br />

amerikanisch-japanisches Senior-Junior-Modell<br />

nicht den heutigen Weltordnungsvorstellungen der<br />

EU entsprechen, lässt sich Chinas auf regionale Assoziation<br />

und globale Multipolarität gerichtete Politik<br />

viel eher mit der auf Biregionalismus, kompetitiver<br />

Partnerschaft mit den USA und weicher Machtpolitik<br />

beruhenden Globalpolitik der EU harmonisieren.<br />

Bereits 1977 wurde in Brüssel das EU-ASEAN-Dialogforum<br />

gegründet und 1980 mit einem Kooperationsvertrag<br />

abgesichert. Diese Beziehungen knüpfen<br />

zunächst an den allgemeinen friedenspolitischen<br />

und ökonomischen Zielen der ASEAN-Gründung<br />

von 1967 an und verdeutlichen das Interesse der EU,<br />

nicht nur Beziehungen mit dem wichtigsten Regionalisierungs-<br />

bzw. „pluralen Gemeinschaftsbildungs“-prozess(Pareira,2003,S.45)inAsienaufzunehmen<br />

sondern auch über ASEAN einen leichteren<br />

Zugriff in die weitgehend US-amerikanisch dominierte<br />

asiatisch-pazifische Region zu erhalten. Nach<br />

einer Krise zu Anfang der 1990er Jahre aufgrund von<br />

Differenzen in Bezug auf Menschenrechte und Demokratie<br />

und im Zusammenhang mit den infrastrukturellen<br />

und inhaltlichen Veränderungen der EU-<br />

Außenpolitik werden diese Beziehungen mit dem<br />

1994 eingerichteten Asia(ASEAN)-Europe-Meeting<br />

(�ASEM) institutionell wie inhaltlich revitalisiert<br />

und erhalten auch eine neue Dynamik. Diese<br />

geht zunächst wie bei der EU-Politik gegenüber China<br />

auf die wachsenden Handels- und Investitionsinteressen<br />

in der ASEAN-Region und im gesamten<br />

asiatisch-pazifischen Raum sowie auf Demokratisierungs-,<br />

Stabilisierungs- und umweltpolitische<br />

Fortschritte in den ASEAN-Ländern zurück. Darüber<br />

hinaus wird aber ASEAN trotz seines Versagens<br />

bei der asiatischen Finanz- und Währungskrise in<br />

den 1990er Jahren politisch doppelt interessant. Erstens<br />

verleihen die Gründung des ASEAN Regional<br />

Forums (ARF) von 1994 mit seiner explizit sicher-


heits- und militärpolitischen Zusammenarbeit, die<br />

ASEAN-Erweiterung und die in der ASEAN-plus-<br />

Drei quasi-institutionalisierten Zusammenarbeit mit<br />

China, Südkorea und Japan dieser Regionalorganisation<br />

trotz ihrer inneren Widersprüche neues Gewicht.<br />

Zweitens verstärken sich mit der Gründung<br />

(1989) und den nachfolgenden Aktivitäten des<br />

Asia-Pacific Economic Cooperation (APEC), dem<br />

neuen militärischen Beistandsabkommen zwischen<br />

USA und Japan und den politischen Aktivitäten der<br />

USA in Südostasien, gegenüber China und in Bezug<br />

auf die Nordkoreaproblematik die Bemühungen der<br />

USA, ihre traditionelle Rolle im asiatisch-pazifischen<br />

Raum gegenüber dem Konkurrenten EU –<br />

und EWU – zu verteidigen bzw. dies auch institutionell<br />

abzusichern. Wie in den EU-China-Beziehungen<br />

verbinden sich wirtschafts-, ordnungs- und<br />

bündnispolitische Interessen; im Gegensatz zu den<br />

EU-China- bzw. EU-Japan-Beziehungen handelt es<br />

sich trotz des nur multilateralen Charakters von<br />

ASEAN und ASEAN+3 hierbei aber um einen Biregionalismus,<br />

der sowohl dem grundsätzlichen Charakter<br />

der EU entgegenkommt als auch durch die Zusammenarbeit<br />

vor allem mit China und Japan als regionalen<br />

„Groß“-Mächten ein zusätzliches strategisches<br />

Gewicht für die Globalstrategie der EU erhält.<br />

Ob und wie diese Zusammenarbeit zwischen<br />

ASEAN auf der einen Seite und China und Japan auf<br />

der anderen Seite sich weiter gestalten wird, bleibt<br />

offen. China und Japan sind in der Anlage ihrer Regionalpolitik<br />

noch weniger zu einem fortgeschrittenen<br />

Multilateralismus als die ASEAN-Mitgliedsländer<br />

bereit und fähig. Dem Einbezug von China<br />

und Japan in einen ausgeweiteten und sich vertiefenden<br />

Regionalisierungsprozess stehen sowohl die<br />

Konkurrenzkonflikte zwischen China und Japan als<br />

auch die Befürchtungen der ASEAN-Länder vor einer<br />

chinesischen oder japanischen Dominanz entgegen.<br />

ASEANs Erfahrungen mit der Finanz- und<br />

Währungskrise, dem Nordkorea-Problem und den<br />

Schwierigkeiten zwischen China und Taiwan machen<br />

darüber hinaus auch eine Vertiefung bzw. eine<br />

qualitative Verbesserung der Handlungsfähigkeit<br />

von ASEAN für die absehbare Zukunft nur wenig<br />

wahrscheinlich.<br />

4. Die EU-Ostasienpolitik weist allerdings eine Reihe<br />

von Defiziten bzw. Widersprüchen auf, die auch<br />

noch auf absehbare Zeit sowohl den politischen<br />

Handlungswillen der EU als auch ihre Handlungsfä-<br />

Ostasienpolitik<br />

higkeit in bzw. gegenüber der Region begrenzen<br />

wird. Dabei sind es weniger das Fehlen einer konsistenten<br />

globalen „grand strategy“, die Widersprüche<br />

zwischen interregionalistischem und bilateralistischem<br />

Ansatz oder die mangelnde Harmonisierung<br />

der verschiedenen Sach- und Regionalpolitiken. Es<br />

sind vielmehr die strukturellen Probleme der EU, die<br />

eine gleichberechtigte Partnerschaft oder eine erfolgreiche<br />

Konkurrenz mit Ländern wie den USA<br />

bzw. Japan und China als den „Großmächten“ der<br />

Region erschweren.<br />

Erstens muss hier der klassische Macht- und Interessenkonflikt<br />

zwischen der EU auf der einen Seite und<br />

ihren Mitgliedstaaten auf der anderen Seite genannt<br />

werden, der sich auch im Widerspruch zwischen integrativem<br />

und intergouvernementalem Verständnis<br />

von GASP niederschlägt. Dieser wird auch dann gerade<br />

wegen der involvierten ökonomischen Interessen<br />

an und in Ostasien weiterbestehen, wenn die zur<br />

Zeit noch bestehende institutionelle Konkurrenz<br />

zwischen Europäischer Kommission und ihren<br />

Kompetenzen im Bereich der AußenwirtschaftspolitikunddemHohenRepräsentantendesMinisterrates<br />

und seinen Kompetenzen im außen- und sicherheitspolitischen<br />

Bereich im Rahmen des neuen EU-Verfassungsvertrags<br />

2004 relativiert wird.<br />

Zweitens ist es der unausgewogene Instrumentenkatalog<br />

der EU, der ihrem Einfluss gerade in Ostasien<br />

Grenzen setzt. Im Zusammenhang mit der asiatischen<br />

Finanz- und Währungskrise wurde bereits darauf<br />

hingewiesen, dass der Einfluss der EU als Akteur<br />

im Weltwirtschafts-, Weltwährungs- und Weltfinanzsystem<br />

dort endet, wenn Finanzkrisen gerade<br />

eine aktive Hilfe bzw. einen Steuerungseingriff erfordern.<br />

Darüber hinaus wird gerade im Vergleich<br />

mit den Fähigkeiten der USA zur globalen militärischen<br />

Machtprojektion und ihrer traditionellen Dominanz<br />

im politischen agenda-setting deutlich, dass<br />

die militärischen Machtpotentiale der EU wie auch<br />

ihr außen- bzw. diplomatiepolitisches Gewicht zur<br />

Zeit und gerade gegenüber Ostasien nur als marginal<br />

zu bewerten sind. Worst-case-Szenarien, wie ein<br />

eskalierender Nuklearkonflikt in Nordostasien oder<br />

eine Wiederholung der asiatischen Finanzkrise unter<br />

anderen Vorzeichen und unter Einschluss von Ländern<br />

wie China, machen die Grenzen des Einflusses<br />

der EU in Ostasien und auch ihres Bündniswertes sowohl<br />

gegenüber den ostasiatischen Ländern wie<br />

ASEAN deutlich.<br />

591


Österreich<br />

Drittens muss auf die strukturellen Schwierigkeiten<br />

der EU bei ihrer global- und ostasienpolitischen Willensbildung<br />

hingewiesen werden. Diese liegen nicht<br />

nur im Verhältnis zwischen Mitgliedstaaten und EU<br />

bzw. in der Organisation des Entscheidungsprozesses<br />

im engeren Sinne. Sie liegen ebenso in der durch<br />

Erweiterungen hervorgerufenen bzw. verstärkten<br />

Beschäftigung mit inneren Problemen, in der Unterschiedlichkeit<br />

des Interesses an Ostasien und an den<br />

Schwierigkeiten, auf Dauer eine breite Akzeptanz<br />

für eine substantielle Kooperation mit Ostasien aufzubauen<br />

und zu erhalten und schließlich an der nach<br />

wie vor bestehenden Attraktivität einer amerikanisch-europäischen<br />

Arbeitsteilung, in der die USA<br />

die globale Steuerung und Problemlösung dominieren<br />

und wie bisher eine dominante Rolle in Ostasien<br />

spielen.<br />

Die Rückkehr <strong>Europa</strong>s in Ostasien in Gestalt einer<br />

EU-Ostasienpolitik basiert nicht nur auf gemeinsamen<br />

wirtschaftlichen Interessen und bündnis- oder<br />

konkurrenzorientierten Überlegungen. Auch eine<br />

weiche Machtpolitik gegenüber und mit ostasiatischen<br />

nationalen wie regionalen Akteuren erfordert<br />

– neben einer angemessenen Handlungsfähigkeit<br />

einschl. der nötigen Entscheidungsinfrastrukturen<br />

und Instrumente – einen politischen Handlungswillen,<br />

der mit sachkompetenter Verantwortung eine<br />

langfristig angelegte substantielle und nach innen<br />

wie außen überzeugende Politik betreibt. Insoweit<br />

stehtdieEU-OstasienpolitikerstinihrenAnfängen.<br />

Literatur:<br />

R. S.<br />

Grabendorff, W./Seidelmann, R. (eds.): Relations between the<br />

European Union and Latin America: Biregionalism in a<br />

changing global system. Baden-Baden 2005<br />

Gu, X.: Europe and Asia. Mutual perceptions and expectations<br />

on the way to a new partnership in the twenty-first century.<br />

Baden-Baden 2002<br />

Güssgen, A. et al. (Hrsg.): Hongkong nach 1997. Köln 2002<br />

Pareira, A.: ASEM (Asia-Europe Meeting). Frankfurt 2003<br />

Roetz, H.: Die chinesische Ethik der Achsenzeit.<br />

Frankfurt 1992<br />

Sales Marques, J.: China-EU Relations. Perceptions and<br />

realities. Dissertation University of Macau 2004<br />

Österreich, Sanktionen gegen Österreich<br />

(wegen der Koalition ÖVP-Schüssel/FPÖ-Haider<br />

2000). Nach dem österreichischen Regierungswechsel<br />

im Jahr 2000 wurden rund 8 Monate lang – erstmals<br />

seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs – praktisch<br />

sämtliche bilateralen Beziehungen der (damals)<br />

übrigen 14 EU-Staaten zu Österreich eingefro-<br />

592<br />

ren, Kontakte mit österreichischen Botschaftern<br />

wurden auf ein (technisches) Minimum reduziert,<br />

österreichische Kandidaten wurden für internationale<br />

Ämter nicht mehr unterstützt. Das durch den Amsterdamer<br />

Vertrag eingeführte �Notstandsverfahren<br />

konnte für diese EU-Aktion gegen Haider/Österreich,<br />

die durch einen gemeinsamen Entschluss der<br />

14 europäischen Staats- und Regierungschefs am 31.<br />

1. 2000 begonnen und nach dem „Bericht der drei<br />

Weisen“ Frowein, Ahtisaari und Oreja vom 12. 9.<br />

2000 abgebrochen wurde, nicht herangezogen werden.<br />

Denn die Voraussetzungen der vor Inkrafttreten<br />

desVertragsvonNizzageltendenRegelungenwaren<br />

sichernichterfüllt:Wedervoneiner„schwerwiegenden“<br />

noch von einer „anhaltenden“ Verletzung der<br />

freiheitlich-demokratischen Grundordnung durch<br />

die neue österreichische Regierung konnte die Rede<br />

sein. Haider konnte kaum mit Österreich gleichgesetzt<br />

werden. Trotz der üblen Rhetorik hatten weder<br />

HaidernochseineAnhängerGesetzegebrochen.Das<br />

Programm der österreichischen Regierung war nicht<br />

besonders radikal. Die österreichische Regierung<br />

sollte durch die EU-Isolationsmaßnahmen mithin<br />

nicht für das bestraft werden, was sie getan hat oder<br />

möglicherweise tun könnte; sie wurde vielmehr für<br />

die Rhetorik einer ihrer Regierungsparteien bestraft.<br />

Da <strong>Europa</strong>recht nicht einschlägig war, deuteten die<br />

14 EU-Staaten folgerichtig ihre kollektiven Strafund<br />

Quarantänemaßnahmen als „bilaterale Maßnahmen<br />

von souveränem Staat zu souveränem Staat“ im<br />

Sinne einer „außerjuristischen Einheitsfront zur<br />

Verteidigung der Europäischen Werteordnung“. Ob<br />

diese moralische Ächtung der österreichischen Regierung<br />

Schüssel als „FPÖ-Steigbügelhalter zur<br />

bundespolitischen Macht“ im Sinne von Max Weber<br />

gesinnungsethisch zu rechtfertigen war, kann dahinstehen.<br />

Verantwortungsethisch jedenfalls dürfte<br />

sie kaum legitimiert gewesen sein, stellt man insbes.<br />

in Rechnung, dass sich faktisch ganz Österreich und<br />

alle Österreicher von der „europäischen Keule“ getroffen<br />

fühlten und zudem die meisten EU-Politiker<br />

zwar auf Haider zielten, primär aber wohl die eigenen<br />

Leute zu Hause meinten. Ganz zu schweigen von<br />

der gesteigerten Medienpopularität, die die EU-<br />

AktiondemPolitikerHaiderbescherte. J. M. B.<br />

Osterweiterung der EU<br />

1. Ziel der Osterweiterung. In der Folge des Zusammenbruchs<br />

der kommunistischen Herrschaftssyste-


me richteten die Staaten Mittel-, Ost- und Südosteuropas<br />

ihre Politik verstärkt auf die Europäische<br />

Union aus. Die EU wird von ihnen, wie auch von den<br />

meisten Nachfolgestaaten der UdSSR, zu Recht als<br />

das Gravitationszentrum <strong>Europa</strong>s eingeschätzt.<br />

Nach der Unterzeichnung eines ersten Handels- und<br />

Kooperationsabkommen zwischen Ungarn und der<br />

EG im Jahr 1988 wurden seit 1989 eine Vielzahl von<br />

inhaltlich unterschiedlich weitreichenden bilateralen<br />

Partnerschafts-, Handels- und Kooperationssowie<br />

Assoziierungsabkommen über eine politische<br />

und wirtschaftliche Annäherung dieser Staaten an<br />

die EU vereinbart. In den zwischen 1991 und 1996<br />

geschlossenen �Assoziierungsabkommen (�„<strong>Europa</strong>abkommen“)<br />

wurde von den Vertragsparteien zudem<br />

festgehalten, dass langfristiges Ziel der Assoziierung<br />

„letztlich die (EU-)Mitgliedschaft“ sei.<br />

Zwischen 1994 und 1996 haben die zehn Staaten<br />

Mittel-, Ost- und Südosteuropas, mit denen <strong>Europa</strong>abkommen<br />

bestehen (�„MOE-Staaten“: Polen,<br />

Ungarn, Tschechien, Slowakei, Estland, Lettland,<br />

Litauen, Slowenien, Rumänien, Bulgarien), Beitrittsanträge<br />

bei der EU eingereicht und in der Folge<br />

mit steigendem Nachdruck auf die Aufnahme konkreter<br />

Beitrittsverhandlungen gedrängt. Erst nach<br />

Abschluss der Regierungskonferenz 1996/97, bei<br />

der wichtige EU-interne Reformen beschlossen wurden<br />

(�Vertrag von Amsterdam), setzte die EU das<br />

Thema Osterweiterung zusammen mit der �Agenda<br />

2000 oben auf die EU-Tagesordnung und leitete in<br />

der Folge einen umfassenden Erweiterungsprozess<br />

ein. Ausdrücklich wurde dabei als Ziel die „Ausweitung<br />

des europäischen Integrationsmodells auf den<br />

europäischen Kontinent“ genannt, verbunden mit<br />

der Erwartung von „Stabilität und Wohlstand“<br />

(Schlussfolgerungen Europäischer Rat Luxemburg,<br />

Dezember 1997).<br />

Nach komplizierten Verhandlungen konnten zunächst<br />

acht der zehn Beitrittsbewerber zusammen<br />

mit Malta und Zypern zum 1. 5. 2004 als Vollmitglieder<br />

in die EU aufgenommen werden. Bulgarien und<br />

Rumänien sollen 2007 folgen, Kroatien, das 2003 einen<br />

Antrag auf EU-Mitgliedschaft stellte, ist seit<br />

Ende 2004 Beitrittskandidat.<br />

2. Rahmenbedingungen. Anders als frühere Erweiterungsrunden<br />

stellte und stellt die Erweiterung um zunächst<br />

acht Staaten aus dem ehemals kommunistischen<br />

Herrschaftsbereich allein schon durch die<br />

Zahl, aber auch durch die dabei zu bewältigenden<br />

Osterweiterung<br />

Probleme eine große Herausforderung für die EU<br />

dar. Schon die „stille Erweiterung der EG“ um die<br />

ehemalige DDR (durch deren Beitritt zur Bundesrepublik<br />

Deutschland im Jahre 1990 wurde das frühere<br />

DDR-Territorium zugleich Teil der EG und bis Ende<br />

1992, von wenigen Ausnahmen abgesehen, voll in<br />

den Rechts- und Wirtschaftsraum der Gemeinschaft<br />

eingegliedert) zeigt die Schwierigkeiten bei der Integration<br />

einer kollabierten Planwirtschaft in die weitgehend<br />

marktwirtschaftlichen Strukturen des Binnenmarktes,<br />

wobei die damit verbundene finanzielle<br />

Aufgabe für die EG noch gemildert wurde durch das<br />

primäre Engagement Deutschlands für seine neuen<br />

Bundesländer.<br />

ImFallderMOE-Staatengibteskeinen„großenBruder“,<br />

doch haben die beitrittswilligen Staaten aus eigener<br />

Kraft und mit technischer und finanzieller Hilfe<br />

des Westens (�PHARE-Programm) bereits vor<br />

dem Beitritt erhebliche Transformationsmaßnahmen<br />

eingeleitet.<br />

3. Kopenhagener Beitrittskriterien. Erst nachdem<br />

bereits mit den beitrittswilligen EFTA-Staaten Verhandlungen<br />

über deren EU-Beitritt aufgenommen<br />

worden waren und nachdem auch das Inkrafttreten<br />

des �Maastrichter Vertrages gesichert schien (erfolgreiches<br />

zweites Referendum in Dänemark im<br />

Mai 1993), erklärte der Europäische Rat bei seiner<br />

nachfolgendenTagunginKopenhagenimJuni1993,<br />

dass auch die (MOE-)Staaten mit <strong>Europa</strong>abkommen<br />

EU-Mitgliederwerdenkönnten,sofernsiediesbeantragen<br />

und von ihnen bestimmte politische, wirtschaftliche<br />

und „sonstige“ Kriterien erfüllt würden.<br />

In der Folgezeit wurde aber wiederholt und durchaus<br />

zuRechtkritisiert,dassdieKopenhagener�Beitrittskriterien<br />

noch keine präzisen Kriterien zur Beurteilung<br />

der Beitrittsfähigkeit sind. Zudem ergibt sich<br />

für Beitrittskandidaten die generelle Schwierigkeit,<br />

dassder �acquiscommunautairegegenüberfrüheren<br />

Erweiterungen heute weit umfangreicher ist und sich<br />

zudem bis zu einem Beitritt ständig fortentwickelt<br />

(„moving target“).<br />

4. Heranführungsstrategie 1994. Nach Inkrafttreten<br />

des Maastrichter Vertrages und parallel mit dem Abschluss<br />

der EFTA-Erweiterung (�Beitritt Ziff. 2.4)<br />

entwickelte die EU eine „Heranführungsstrategie“<br />

(„Pre-accession strategy“), die vom Europäischen<br />

Rat in Essen (Dezember 1994) verabschiedet wurde.<br />

Zu ihren Kernpunkten zählen neben der Umsetzung<br />

der <strong>Europa</strong>abkommen der Strukturierte Dialog (vgl.<br />

593


Osterweiterung<br />

Ziff. 4.1), das Weißbuch zur Integration der MOE-<br />

Staaten in den Binnenmarkt (vgl. Ziff. 4.2) und die<br />

Überarbeitung und Ausweitung des PHARE-Programms.<br />

4.1 Strukturierter Dialog. Mit dem „Strukturierten<br />

Dialog“ bot die EU den durch <strong>Europa</strong>abkommen assoziierten<br />

Drittstaaten ein zusätzliches, multilaterales<br />

Forum an. Grundüberlegung der EU war dabei,<br />

die Vielzahl der inhaltlich oft ähnlichen bilateralen<br />

Zusammenkünfte mit den MOE-Staaten besser zu<br />

bündeln. Von 1994 bis 1997 wurde ihnen damit –<br />

wenn auch ohne Beteiligung am EU-internen Entscheidungsprozess<br />

– eine Mitsprache bei nahezu allen<br />

Politikfeldern der EU eröffnet. Da die gemeinsamen<br />

Treffen des Strukturierten Dialogs aber, je nach<br />

Thema, nur ein- oder zweimal jährlich stattfanden,<br />

zudem oftmals unter Zeitdruck und nur unzureichend<br />

vor- und nachbereitet, wurde dieses Instrument<br />

immer mehr als wenig zielführend eingeschätzt.<br />

Im Rahmen ihrer Mitteilung �„Agenda<br />

2000“ schlug die Kommission daher vor, statt des<br />

Strukturierten Dialogs ab 1998 eine multilaterale<br />

„<strong>Europa</strong>-Konferenz“ (vgl. Ziff. 6) durchzuführen.<br />

4.2 Weißbuch 1995. Mit dem Weißbuch zur Integration<br />

der MOE-Staaten in den Binnenmarkt, das die<br />

Kommission im Mai 1995 vorlegte (KOM 1995/163<br />

endg.), wurde den an einem EU-Beitritt interessierten<br />

MOE-Staaten ein thematischer Leitfaden für die<br />

wirtschaftliche Umstrukturierung und die Rechtsangleichung<br />

gegeben. Die konkrete Umsetzung in den<br />

MOE-Staaten erfolgte anschließend durch national<br />

erstellte Programme. Auf dieser Basis wurde die nationale<br />

Rechtsetzung, deren Vollzug und ggf. die<br />

Schaffung bzw. Umstrukturierung von Institutionen<br />

für die Umsetzung der politisch beschlossenen Maßnahmen<br />

vorgenommen.<br />

5. Agenda 2000 und EU-Erweiterung. Nachdem bereits<br />

der Europäische Rat in Madrid (Dezember<br />

1995) die Erweiterung der EU als „politische Notwendigkeit“ausdrücklichbegrüßthatte,wurdenparallel<br />

zur Regierungskonferenz 1996/97 die Vorbereitungen<br />

für die geplante Osterweiterung der EU intensiviert:<br />

Auf der Basis von umfangreichem Datenmaterial,<br />

das die Beitrittsbewerber der Kommission<br />

auf Anfrage kurzfristig zur Verfügung stellten, und<br />

aufgrund von Bewertungen der EU-Mitgliedstaaten,<br />

des Europäischen Parlaments und anderer Einrichtungen<br />

hat die Kommission im Juli 1997 als Anlage<br />

zur Agenda 2000 ihre Stellungnahmen (� Avis) über<br />

594<br />

die Beitrittsanträge vorgelegt. Um eine EU-Mitgliedschaft<br />

der MOE-Staaten zu befördern, sollte deren<br />

Beitrittsfähigkeit mit Unterstützung der EU weiter<br />

vorangetrieben werden; sämtlichen zehn Beitrittsbewerbern<br />

wurde daher seitens der EU (in Fortführung<br />

der Essener Beschlüsse von 1994) eine „intensivierte<br />

Heranführungsstrategie“ angeboten.<br />

Neben der Beitrittsfähigkeit der MOE-Staaten ist ein<br />

weiteres entscheidendes Element für den Erfolg der<br />

Osterweiterung die Sicherstellung der Erweiterungsfähigkeit<br />

der EU. Daher unterstrich die Kommission<br />

bereits 1997, mit der Umsetzung der Agenda<br />

2000 auch die notwendigen EU-internen Voraussetzungen<br />

für die vorgesehene Erweiterung zu schaffen.<br />

Der �Vertrag von Nizza hat hier allerdings nur<br />

sehrbedingtAbhilfegeschaffen,sodassnochvorder<br />

Erweiterung 2004 mit den Verhandlungen zum<br />

�Verfassungsvertrag der EU begonnen wurde. Hieran<br />

konnten die Beitrittsländer als Beobachter teilnehmen.<br />

6. Der Luxemburger Gipfel 1997. Der Vorschlag der<br />

Kommission vom Juli 1997, zunächst nur mit fünf<br />

MOE-Staaten (sowie Zypern) Beitrittsverhandlungen<br />

aufzunehmen, wurde speziell von den dabei<br />

nicht berücksichtigten Staaten mit Skepsis aufgenommen,<br />

fürchtete man doch, dadurch auf ein Abstellgleis<br />

zu geraten.<br />

Wegen dieser Bedenken wurden die Kommissionsvorschläge<br />

zur EU-Erweiterung nach intensiver Diskussion<br />

in der Öffentlichkeit, im Europäischen Parlament<br />

und im Rat während des zweiten Halbjahres<br />

1997 nochmals modifiziert. Um aus der Falle „Startlinienszenario“<br />

vs. „Gruppenmodell“ herauszukommen<br />

(und damit keine allzu harte Trennung entstand<br />

zwischen den Staaten, mit denen bereits über eine<br />

Mitgliedschaft verhandelt werden konnte, und denen,<br />

die dafür noch nicht hinreichend qualifiziert<br />

waren), beschloss der Europäische Rat in Luxemburg<br />

(Dezember 1997), einen umfassenden „Erweiterungsprozess“<br />

zu beginnen, der alle Bewerberstaaten<br />

(u. a. auch die Türkei) (�Türkeipolitik der EU)<br />

einschließt und evolutiven Charakter hat: Je nach<br />

Stand der Qualifikation der Bewerberstaaten können<br />

diese Staaten dann in den „Beitrittsprozess“ überführt<br />

werden, und es kann, darauf weiter aufbauend,<br />

in einer nächsten Stufe mit ihnen auch ein konkreter<br />

„Verhandlungsprozess“beginnen(s.GrafikS.595).<br />

6.1 Der Erweiterungsprozess umfasst alle Bewerberstaaten<br />

und hat evolutiven Charakter. Die EU


ichtete dazu (erstmals im März 1998) eine „<strong>Europa</strong>-Konferenz“<br />

ein, bei der die Staats- und Regierungschefs<br />

der EU bzw. die Außenminister mit ihren<br />

Kollegen aus den assoziierten und an einem Beitritt<br />

interessierten Staaten einen institutionalisierten<br />

multilateralen Dialog führten. Die <strong>Europa</strong>-Konferenz<br />

sollte so den Beitritts- und Verhandlungsprozess<br />

ergänzen und zugleich den wiederholt kritisierten<br />

Strukturierten Dialog ersetzen. Da die �Türkei<br />

sich allerdings nachdrücklich weigerte daran teilzunehmen,<br />

war dem Projekt „<strong>Europa</strong>-Konferenz“ kein<br />

Erfolg beschieden.<br />

6.2 Beitrittsprozess. Zugleich beschloss der Europäische<br />

Rat in Luxemburg, für sämtliche zehn<br />

MOE-Staaten sowie Zypern gem. Art. O EUV (jetzt<br />

Art. 49 EUV) einen Beitrittsprozess einzuleiten (Eröffnung<br />

bei einer gemeinsamen Außenministertagung<br />

am 30. 3. 1998). Da bei jedem der Beitrittsbewerber<br />

noch (unterschiedlich gravierende) Mängel<br />

in der Beitrittsreife festgestellt wurden, wurde den<br />

Bewerberstaaten auf der Grundlage eines einheitlichen<br />

Rahmens eine „intensivierte Heranführungsstrategie“<br />

angeboten: Neben den �<strong>Europa</strong>abkommen<br />

besteht diese gegenüber 1994 veränderte Strategie<br />

(vgl. Ziff. 4.) aus dem neuen Instrument der Beitrittspartnerschaften<br />

sowie einer Intensivierung der<br />

bisherigen finanziellen Heranführungshilfe.<br />

In den Beitrittspartnerschaften zwischen der EU und<br />

Osterweiterung<br />

jedem einzelnen der zehn MOE-Staaten wurden,<br />

nach kurz- und mittelfristigen Prioritäten geordnet,<br />

konkrete politische, wirtschaftliche und sonstige<br />

Maßnahmen genannt, die, beginnend 1998, umzusetzen<br />

bzw. einzuleiten waren. Jeder Beitrittskandidat<br />

stellte dazu ein „Nationales Programm für die<br />

Übernahme des gemeinschaftlichen Besitzstandes“<br />

auf. Von der Erfüllung dieser Vereinbarungen wurde<br />

die Finanzhilfe der EU abhängig gemacht.<br />

Zur intensivierten Heranführungshilfe gehört a) die<br />

Neuausrichtung des PHARE-Programms auf den<br />

künftigen Beitritt (jährl. 1,5 Mrd. Euro; 30 % des FinanzrahmenszurVerstärkungderKapazitäteninden<br />

Bereichen Verwaltung und Justiz; 70 % für Investitionen<br />

zur Übernahme und Umsetzung des �acquis<br />

communautaire) und b) die Teilnahmemöglichkeit<br />

derBewerberstaatenandenGemeinschaftsprogrammen<br />

�ISPA (1 Mrd. Euro jährl. für Investitionshilfen<br />

im Verkehrs- und Umweltbereich) und �SAPARD<br />

(0,5 Mrd. Euro jährl. für die Entwicklung der Landwirtschaft<br />

und des ländlichen Raums). In speziellen<br />

�„Twinning-Partnerschaften“ versuchte die EU zudem,<br />

die osteuropäischen Beitrittsländer für die<br />

Übernahme und Anwendung des gemeinschaftlichen<br />

Besitzstandes fit zu machen. Dazu wurden Experten<br />

aus Ministerien der EU-Mitgliedstaaten, regionalen<br />

Körperschaften oder öffentlichen AgenturenindieInstitutionenderBeitrittsländerentsandt.<br />

595


Ostseerat<br />

Für das wirtschaftlich bereits besser qualifizierte Zypern<br />

wurde eine besondere Heranführungsstrategie<br />

vorgeschlagen.<br />

Ab 1998 erstellte die Europäische Kommission für<br />

jeden der MOE-Staaten einen jährlichen Fortschrittsbericht,<br />

in dem sie bei Vorliegen der Voraussetzungen<br />

auch die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen<br />

empfehlen konnte.<br />

6.3 Verhandlungsprozess. Mit den fünf bereits besser<br />

vorbereiteten MOE-Staaten (Polen, Tschechien,<br />

Ungarn, Estland, Slowenien) sowie mit Zypern wurden<br />

im März 1998 die Beitrittsverhandlungen eröffnet.<br />

Inhaltlich begannen die bilateralen Verhandlungen<br />

mit einer vergleichenden Überprüfung (�„screening“)des�acquiscommunautairemitderGesetzgebung<br />

der Beitrittsanwärter. Der Rechtsbestand wurde<br />

dabei in 31 Kapitel von Agrarpolitik bis Umweltschutz<br />

aufgegliedert.<br />

Mit den übrigen fünf MOE-Beitrittsanwärtern (Lettland,<br />

Litauen, Slowakei, Rumänien und Bulgarien)<br />

sowie mit Malta wurden auf der Grundlage des Beschlusses<br />

des Europäischen Rates von Helsinki (Dezember<br />

1999) Anfang des Jahres 2000 Beitrittsverhandlungen<br />

aufgenommen.<br />

Ausdrücklich offen gelassen wurde, inwieweit die<br />

Verhandlungen mit allen Verhandlungspartnern<br />

gleichzeitig abgeschlossen werden müssten. Die Erweiterung<br />

hing ausdrücklich von der Einhaltung der<br />

Kopenhagener Kriterien ab sowie von der Fähigkeit<br />

der EU, neue Mitgliedstaaten zu assimilieren<br />

(�Agenda 2000).<br />

Ziel beider Seiten war es, die Beitrittsverhandlungen<br />

bis Ende 2002 abzuschließen, damit die Bürger der<br />

neuen Mitglieder bereits an der <strong>Europa</strong>wahl 2004<br />

teilnehmen konnten. Der Kompromiss der EU 15 zur<br />

künftigen EU-Agrarpolitik ebnete im Jahr 2002 den<br />

Weg zum Abschluss der Verhandlungen. Im Rahmen<br />

eines erneuten Kopenhagener Gipfels wurden<br />

im Dezember 2002 die Verhandlungen mit acht<br />

MOE-Beitrittstaaten plus Malta und Zypern abgeschlossen,<br />

wobei bis zuletzt hart um finanzielle Unterstützungen<br />

und Übergangsfristen gestritten wurde.<br />

Um die Folgen des Beitritts bzw. der Erweiterung<br />

abzufedern, wurden verschiedene Schutzklauseln<br />

(bei „unvorhergesehener Entwicklung“) und langjährige,<br />

abgestufte Übergangsfristen vereinbart.<br />

Die Unterzeichnung der Beitrittsverträge fand am<br />

16. 4. 2003 in Athen statt. Nach Referenden in den<br />

Beitrittstaaten und dem Abschluss der Ratifikation<br />

596<br />

in allen beteiligten 25 Staaten konnte die Erweiterungzum1.<br />

5. 2004inKrafttreten. B. K. S.<br />

Literatur:<br />

Europäische Kommission: Agenda 2000. Eine stärkere und<br />

erweiterte Union. In: Bulletin der Europäischen Union,<br />

Beilage 5/97. Luxemburg 1997, S. 43 – 66<br />

Dies.: Stellungnahme der Kommission zum Antrag Ungarns<br />

(Polens, Rumäniens etc.) auf Beitritt zur Europäischen Union.<br />

Dok. KOM (97) 2001 – 2010 endg. In: Bulletin der<br />

Europäischen Union, Beilagen 6–15<br />

Europäischer Rat: Tagung am 12./13. 12. 1997 in Luxemburg,<br />

Schlussfolgerungen des Vorsitzes. In: EU-Nachrichten,<br />

Dokumentation Nr. 7/1997<br />

Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg<br />

(Hg.): Der Bürger im Staat. Themenheft „Die Osterweiterung<br />

der EU“, Jg. 54 (1). Stuttgart 2004<br />

Lippert, B. (Hg.): Bilanz und Folgeprobleme der<br />

EU-Erweiterung. Baden-Baden 2004<br />

Steppacher, B.: Die Erweiterung der Europäischen Union.<br />

Chancen – Bedingungen – Vorgehensweise. Arbeitspapier,<br />

Konrad-Adenauer-Stiftung. Sankt Augustin 1998<br />

Ostseerat (Council of the Baltic Sea States, CBSS),<br />

im März 1992 auf deutsch-dänische Initiative ins Leben<br />

gerufenes Gremium zur Zusammenarbeit und<br />

zum Meinungsaustausch der Anrainerstaaten der<br />

Ostsee nach Ende des Ost-West-Konflikts und Jahrzehnten<br />

der Trennung. Mitglieder sind Dänemark,<br />

Deutschland, Estland, Finnland, Island (seit 1995),<br />

Lettland, Litauen, Norwegen, Polen, Russland,<br />

Schweden sowie die EU, die an den Treffen durch<br />

ihrePräsidentschaftsowieeinMitgliedderKommission<br />

vertreten ist. Seit Mai 2004 sind 8 der 11 Staaten<br />

Mitglieder der EU. Arbeitssprachen sind Deutsch,<br />

Englisch und Russisch. Entscheidungen werden im<br />

Konsens getroffen.<br />

DerOstseeratsolldieZusammenarbeitderStaatenin<br />

allen Bereichen der Politik mit Ausnahme der militärischen<br />

Verteidigung fördern, insbes. in den Bereichen<br />

Wirtschaft und Technologie, Gesundheit, Umweltschutz,<br />

Energie, Transport und Kommunikation<br />

sowie auf den Gebieten der Kultur, der Bildung, des<br />

Tourismus und der Information; er soll außerdem<br />

den Aufbau demokratischer Institutionen unterstützen.DieAußenministertreffensichjährlich(ab2003<br />

zweijährlich) unter rotierendem Vorsitz, außerdem<br />

finden Treffen auf Ebene der Fachminister statt.<br />

Zwischen den Treffen erledigt ein Ausschuss hoher<br />

Beamter der Außenministerien (Committee of Senior<br />

Officials) die laufende Arbeit. Es wurden mehrere<br />

Arbeitsgruppen gebildet.<br />

Seit 1996 finden zweijährliche Treffen der Staatsund<br />

Regierungschefs gemeinsam mit den Präsiden-


ten der Europäischen Kommission und des Rates der<br />

EU statt. Diese Gipfeltreffen haben verschiedene Initiativen<br />

angestoßen: die Agenda 21 für den Ostseeraum(Baltic21)zumUmweltschutz,dieTaskForces<br />

gegenorganisierteKriminalität(seit1998)sowie gegenInfektionskrankheiten(2000–2004).<br />

W. M.<br />

Internet: www.cbss.st<br />

Ostseeregion. Sie umfasst 11 Staaten mit 300 Mio.<br />

Einwohnern. Am 5./6. März 1992 wurde auf einer<br />

Konferenz der Außenminister in Kopenhagen der<br />

Rat der (zunächst 10) Ostseestaaten (Council of the<br />

Baltic Sea States, CBSS) gegründet, Island trat 1995<br />

bei. Der Rat koordiniert die Zusammenarbeit der<br />

OSZE<br />

Staaten auf allen Gebieten mit Ausnahme der Verteidigung.<br />

Ihm gehören die Außenminister der Ostseestaaten<br />

und ein Mitglied der Kommission an. Der<br />

CBSS hat mehrere Arbeitsgruppen gebildet, u. a. für<br />

wirtschaftliche Zusammenarbeit, für Strahlenschutz<br />

nukleare Sicherheit, für demokratische Institutionen,<br />

für Jugend. Seit 1996 finden alle zwei Jahre Gipfeltreffen<br />

der Staats- und Regierungschefs statt unter<br />

Teilnahme des Präsidenten der Kommission und des<br />

Ratsvorsitzenden. Das Ständige Sekretariat hat seinen<br />

Sitz in Stockholm.<br />

Anschrift: Strömsborg, P. O. Box 2010, 103 11 Stockholm.<br />

OSZE �Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit<br />

in <strong>Europa</strong><br />

597


Package deal<br />

Package deal.MethodederEntscheidungsfindung,<br />

speziell in politischen Gremien durch „Paketlösungen“<br />

verschiedene, ursprünglich getrennte Fragen<br />

miteinander zu verknüpfen und durch gegenseitige<br />

Konzessionen – ggf. auch durch Überwälzung des<br />

Problems auf Dritte – einen Kompromiss zu erreichen.<br />

Durch dieses Schnüren von Verhandlungspaketen<br />

(„Gesamteinigungen“) konnte in der EU wiederholt<br />

eine drohende Stagnation überwunden werden.<br />

Langfristig können sich aber die im Rahmen des<br />

„package deals“ gegenseitig in Kauf genommenen<br />

Nachteile auch als Sprengsätze der Integration erweisen.<br />

B. K. S.<br />

Padoa-Schioppa-Bericht. 1986 beauftragte die<br />

Kommission eine Arbeitsgruppe unabhängiger<br />

Wirtschaftswissenschaftler unter der Leitung des<br />

Italieners Tommaso Padoa-Schioppa, einen Bericht<br />

zu erstellen, der die wirtschaftlichen Perspektiven<br />

der europäischen Integration im Hinblick auf die<br />

1986 vollzogene Süderweiterung um Spanien und<br />

Portugal sowie auf den angestrebten �Binnenmarkt<br />

1992 untersucht.<br />

Die 1987 erschienene „Entwicklungsstrategie“ steht<br />

unter dem Motto „Effizienz, Stabilität und Verteilungsgerechtigkeit“.<br />

Effizienz und Stabilität werden<br />

laut Padoa-Schioppa-Bericht durch die stärkere Koordinierung<br />

der makroökonomischen Politik der einzelnen<br />

Mitgliedstaaten, konkret durch die unbedingteRealisierungdesBinnenmarktsunddieSteigerung<br />

der Produktion mittels einer kooperativen Wachstumsstrategie<br />

sowie durch die Weiterentwicklung<br />

des �Europäischen Währungssystems erreicht. Auf<br />

Verteilungsgerechtigkeit zielt die Forderung nach<br />

dem Ausbau der EG-�Strukturfonds und anderer<br />

Darlehensinstrumente ab.<br />

Der Bericht hat Bedeutung erfahren durch seine Entwicklungsprognosen,<br />

voran die Einschätzung eines<br />

jährlichen realen Wirtschaftswachstums von 0,5 %<br />

über einige Jahre hinweg. Die enthaltenen Reformanstöße<br />

wurden in dieser Form allerdings nicht<br />

verwirklicht, da die Kommission ihrerseits 1987 ein<br />

Reformprogramm vorlegte, das als �„Delors-Paket“<br />

1988inBrüsselverabschiedetwurde. B. K. S.<br />

598<br />

P<br />

Dokumente:<br />

Padoa-Schioppa, T. et al.: Effizienz, Stabilität und<br />

Verteilungsgerechtigkeit. Eine Entwicklungsstrategie für das<br />

Wirtschaftssystem der Europäischen Gemeinschaft.<br />

Wiesbaden 1988.<br />

Literatur:<br />

Ziltener, P.: Hat der EU-Binnenmarkt Wachstum und Beschäftigung<br />

gebracht? In: WSI Mitteilungen, 4/2003, S. 221–227<br />

Paneuropa-Union. Nach den leidvollen Erfahrungen<br />

des Ersten Weltkrieges, des Kampfes der europäischen<br />

Nationalstaaten gegeneinander und des<br />

Versäumnisses der Siegermächte, eine europäische<br />

Versöhnung zu schaffen, publizierte der Österreicher<br />

Richard N. Graf �Coudenhove-Kalergi (1894 –<br />

1972) erstmals 1922 aufsehenerregende Zeitungsartikel<br />

(„Paneuropa – ein Vorschlag“, als Alternative<br />

zum Völkerbund ohne die USA, am 17. 11. 1922 in<br />

der Neuen Freien Presse, Wien) über seine Vorstellungen<br />

einer Paneuropäischen (Völker-)Gemeinschaft<br />

„von Portugal bis Polen“. Ihnen folgte 1923<br />

das Buch „Pan-<strong>Europa</strong>“ (Grundgedanke: ein politisch<br />

geeintes <strong>Europa</strong> auf der Grundlage einer<br />

deutsch-französischen Aussöhnung; sonst drohe ein<br />

ZweiterWeltkriegalsgrausamer„Zukunftskrieg“).<br />

Die Paneuropa-Union wurde in demselben Jahr als<br />

erste europäische Einigungsbewegung gegründet.<br />

Ihr traten führende Politiker, Wirtschaftsführer,<br />

(Links-)Intellektuelle aus ganz <strong>Europa</strong> bei. Allerdings<br />

wurde sie nicht zur Massenbewegung. Am ersten<br />

Paneuropa-Kongress 1926 in Wien nahmen ca.<br />

2 000 Teilnehmer aus 24 Nationen teil. Der französische<br />

Außenminister Aristide Briand übernahm das<br />

Ehrenpräsidium (vgl. sein föderal-europapolitisches<br />

Plädoyer auf der Völkerbundstagung 1929, zusammen<br />

mit dem deutschen Außenminister Gustav Stresemann).<br />

Die nach Stresemanns frühem Tod erfolgte<br />

Briand-Initiative zur Schaffung von „einer Art föderativem<br />

Band“ zwischen den europäischen Nationen<br />

scheiterte u. a. an England und den wirtschaftlichen<br />

Verhältnissen (1929: Börsenkrach).<br />

Die deutsche Paneuropa-Union wurde 1933 von Hitler<br />

aufgelöst (der in demselben Jahr aus dem Völkerbundaustrat),dessen–ebensowieStalins–aggressives<br />

Großmachtstreben von Coudenhove frühzeitig


erkannt und öffentlich bekämpft wurde. Die Tätigkeit<br />

der Paneuropa-Union konzentrierte sich von<br />

1933 bis 1938 vor allem auf Frankreich, die Tschechoslowakische<br />

Republik und Österreich.<br />

Nach dem 2. Weltkrieg gründete Coudenhove, aus<br />

amerikanischem Exil zurückgekehrt, die Europäische<br />

Parlamentarier-Union, die auf ihrem Gstaader<br />

Kongress 1947 die Einberufung einer Europäischen<br />

Parlamentarischen Versammlung forderte. Diese<br />

Forderung wurde von der Europäischen Bewegung<br />

auf ihrem Haager Kongress 1948 übernommen und<br />

ein Jahr danach im Rahmen des neugegründeten<br />

�<strong>Europa</strong>rats realisiert. Die 1952 begonnene Neugründung<br />

der Paneuropa-Union wurde auf dem 6.<br />

Paneuropa-Kongress in Baden-Baden vollzogen.<br />

Die Paneuropa-Union war in den 1950er Jahren nicht<br />

innationaleSektionengegliedert.IhrwichtigstesGremium<br />

war der international zusammengesetzte Zentralrat<br />

aus Staatsmännern, Intellektuellen und Wirtschaftsführern.<br />

Die deutsch-französische Freundschaft<br />

wurde von Coudenhove als eine Kernfrage angesehen,<br />

die öffentliche Versöhnung von de �Gaulle<br />

und �Adenauer (1962 in Reims) von ihm begrüßt.<br />

Nicht zuletzt infolge der antigaullistischen und transatlantischen<br />

deutschen Außenpolitik nach Adenauer<br />

zog Coudenhove sich aus dem politischen Tagesgeschehen<br />

zurück. Otto von Habsburg, seit 1973 Nachfolger<br />

im Vorsitz, verfocht Coudenhoves Gedanken<br />

von einem von den Supermächten (UdSSR und USA)<br />

unabhängigen „europäischen <strong>Europa</strong>“, zusätzlich der<br />

Befreiung Mittel- und Osteuropas von der kommunistischen<br />

Unterdrückung als Vorbedingung einer wirklichen<br />

gesamteuropäischen Einigung und zur Verteidigung<br />

der christlichen Werte (vgl. Straßburger<br />

Grundsatzerklärung der Paneuropa-Union 1973, ergänzt<br />

1975) mit dem Ziel einer geistigen Erneuerung<br />

<strong>Europa</strong>s.<br />

Organisatorisch erreichte die Paneuropa-Bewegung<br />

in den Folgejahren eine gewisse Breitenwirkung,<br />

und neben der französischen, italienischen, belgischen,<br />

luxemburgischen oder österreichischen SektionspieltediedeutscheSektionbesondersinBayern<br />

(wo von Habsburg Ende der 1970er Jahre von Ministerpräsident<br />

F. J. Strauß, einem Paneuropäer, eingebürgert<br />

und zum Kandidaten für die erste Direktwahl<br />

zum Europäischen Parlament gemacht wurde) eine<br />

zunehmende Rolle. Bundeskanzler Adenauer hatte<br />

sich schon in den 1920er Jahren angeschlossen, sein<br />

Bundesminister H.-J. von Merkatz, aus dem Osten<br />

Paneuropa-Union<br />

stammend, war Vorsitzender der deutschen Sektion<br />

und unterstützte die Adenauersche Westpolitik. Der<br />

Bund der Vertriebenen und die meisten Landsmannschaften<br />

wurden korporative Mitglieder; Interesse<br />

zeigten die kirchlichen Kreise, Verbände des Mittelstandes<br />

und der Bauern; Paneuropa-Jugendorganisationen<br />

entstanden in mehreren Ländern. Die Paneuropa-Jugend<br />

Deutschland (gegründet 1975) entwickelte<br />

sich zum Motor der Paneuropa-Bewegung<br />

und setzte sich z. B. für Menschenrechte in der DDR<br />

öffentlichein.DemSozialismuswurdedieIdeeeines<br />

christlichen <strong>Europa</strong>s entgegengesetzt; die unterdrückten<br />

ost(mittel)europäischen Völker sollten das<br />

Selbstbestimmungsrecht ausüben dürfen. Die Paneuropa-Union<br />

bemühte sich in jenen Ländern noch<br />

vor dem Systemzusammenbruch um politischen<br />

Einfluss zur Überwindung der Regime.<br />

Im Zusammenhang mit der ersten Direktwahl zum<br />

Europäischen Parlament (1979) stellte sich für die<br />

Paneuropa-Bewegung die Frage nach der inneren<br />

Ausgestaltung <strong>Europa</strong>s: ein rein wirtschaftliches<br />

oder politisches, sozialistisches oder christlich-freiheitliches<br />

<strong>Europa</strong>? Kleineuropa oder Gesamteuropa?ImStraßburgerParlamentkonntesicheinestarke<br />

Paneuropa-Parlamentariergruppe mit über 60 Abgeordneten<br />

bilden. Sie trat für eine europäische AußenundSicherheitspolitikund–nochz.Zt.desbestehenden<br />

Ostblocks (bis 1989) – für die Befreiung der<br />

ost(mittel)europäischen Staaten, ferner für eine Stärkung<br />

des Westens (z. B. NATO-Doppelbeschluss),<br />

fürdiePolitischeUnion,füreinstarkesEuropäisches<br />

Parlament ein. Die Paneuropa-Bewegung hat(te)<br />

sich der Gegnerschaft von links und rechts zu erwehren.<br />

Rechtsradikale beschimpf(t)en sie als antinational<br />

und wenig rassebewusst, Linke bezeichne(te)n<br />

sie als „kalte Krieger“, die die Nachkriegsordnung<br />

nicht anerkennen woll(t)en. Zu den oben genannten<br />

Sektionen sind Organisationen in Schweden, Spanien,<br />

Portugal, Großbritannien, in Slowenien, Kroatien,<br />

Ungarn, Rumänien, der Tschechischen und der<br />

Slowakischen Republik, in Polen und den baltischen<br />

Staaten hinzugekommen. Sie werden über einen eigenen<br />

Verlag in Augsburg mit Schriften versorgt.<br />

DiePaneuropa-UnionDeutschlandveranstaltetjährlich<br />

Paneuropa-Tage, die sich mit Modellen zur gesamteuropäischen<br />

Einigung <strong>Europa</strong>s befassen. FernergehtesumdieBewahrungdereuropäisch-abendländischen<br />

Werte sowie um die Respektierung von<br />

VolksgruppenrechtenimOsten. W. M.<br />

599


Pariser Vertrag<br />

Anschrift: Paneuropa-Union Deutschland, Dachauer Straße 17,<br />

80335 München<br />

Zeitschrift: „Paneuropa Deutschland“, vierteljährlich<br />

Pariser Vertrag �Europäische Gemeinschaft für<br />

Kohle und Stahl (EGKS)<br />

Pariser Verträge. Die Außenminister Belgiens, der<br />

Bundesrepublik Deutschland, Frankreichs, Großbritanniens,<br />

Italiens, Kanadas, Luxemburgs, der Niederlande<br />

und der USA kamen vom 18. bis 24. 10.<br />

1954inPariszusammenundunterzeichnetendievon<br />

der Londoner Neun-Mächte-Konferenz vorbereiteten<br />

Abkommen:<br />

1. das Protokoll über die Beendigung des Besatzungsregimes<br />

in der Bundesrepublik Deutschland;<br />

2. den Vertrag über den Beitritt der Bundesrepublik<br />

Deutschland und Italiens zum Brüsseler Pakt<br />

(�Westeuropäische Union);<br />

3. dieAufnahmederBundesrepublikDeutschlandin<br />

die �NATO;<br />

4. das Saarabkommen (zwischen Frankreich und der<br />

Bundesrepublik Deutschland).<br />

DieVerträgetratenam5.bzw.6.5.1955inKraft.<br />

Paritätische Versammlung ist das beratende gemeinsame<br />

Organ der 78 �AKP- und 25 EU-Staaten.<br />

Sie besteht aus Mitgliedern der AKP-Staaten (meistens<br />

Parlamentarier) und der EU (Mitglieder des EuropäischenParlaments)undtrittzweimaljährlichzusammen.<br />

Jedes Jahr werden sog. Generalberichte zur<br />

Abstimmung gestellt. Als vordringliche Maßnahmen<br />

gelten: Bekämpfung des Analphabetentums,<br />

Förderung der beruflichen Bildung, Unterstützung<br />

des privaten Sektors, Förderung kleinerer landwirtschaftlicher<br />

Projekte, Stärkung der regionalen Gebietskörperschaften<br />

(sie sollen eine größere Rolle<br />

übernehmen für Industrie, Energie, Verkehr, Kommunikation,<br />

Handel usw.).<br />

Parteienstatut �Regelungen für die politischen<br />

Parteien auf europäischer Ebene<br />

Parteienzusammenschlüsse in <strong>Europa</strong> �Europäische<br />

Parteien(föderationen)<br />

Partizipation bezeichnet in gesellschaftspolitischem<br />

Zusammenhang die aktive Teilnahme einzelner<br />

oder organisierter Bürgerinnen und Bürger mit<br />

demZiel,EntscheidungsprozesseundHandlungsab-<br />

600<br />

läufe vor allem staatlicher Organe kennen zu lernen,<br />

zu beeinflussen oder daran mitzuwirken. Die Möglichkeiten<br />

des Einzelnen zur Partizipation reichen<br />

von der passiven Information (u. a. aus Medien) und<br />

der Petition über die Teilnahme an Versammlungen<br />

von Parteien und an Wahlen bis zur Bildung einer organisierten<br />

Interessenvertretung oder zur Mitgliedschaft<br />

in politischen Parteien. Den vielfältigen Möglichkeiten<br />

zur Partizipation steht freilich das Desinteresse<br />

eines großen Teils der Bevölkerung entgegen.<br />

Übergeordnete gesellschaftliche und politische<br />

Organisationen müssen deshalb immer wieder versuchen,<br />

Interesse an Partizipation zu wecken.<br />

Die EU hat gem. Art. 1 EUV die Aufgabe, ihre Entscheidungen<br />

möglichst offen und möglichst bürgernahzutreffen.DieseAufgabeerfülltsiezumindestin<br />

der Wahrnehmung der Mehrzahl der Bürgerinnen<br />

und Bürger nicht oder nur unzureichend. Dagegen<br />

sind die Möglichkeiten der Partizipation in der EU<br />

seit den Verträgen von Maastricht, Amsterdam und<br />

Nizzaständigerweitertwordenundentsprechendem<br />

Standard in Demokratiesystemen.<br />

Artikel 19 EGV bietet jedem Unionsbürger das aktive<br />

und passive Wahlrecht zum Europäischen Parlament,<br />

Art. 21 EGV das Petitionsrecht beim Europäischen<br />

Parlament gem. Art. 194 EGV. Jeder Unionsbürger<br />

kann sich an den nach Art. 195 EGV eingesetzten<br />

Bürgerbeauftragten wenden, jeder kann sich<br />

in seiner Sprache an die europäischen Organe und InstitutionenwendenunderhälteineAntwortinderselben<br />

Sprache. Artikel 255 EGV eröffnet jedem<br />

Unionsbürger den Zugang zu Dokumenten des EP,<br />

des Rats und der Kommission. Nach Art. 230 EGV<br />

kann jeder vor dem Europäischen Gerichtshof klagen<br />

bezüglich Rechtsakten, die ihn unmittelbar und<br />

individuell betreffen.<br />

Der Verfassungsvertrag 2004, dessen Inkrafttreten<br />

noch offen ist, fasst in Art. I-47 den Grundsatz der<br />

partizipativen Demokratie zusammen:<br />

„(1)DieOrganegebendenBürgerinnenundBürgern<br />

und den repräsentativen Verbänden in geeigneter<br />

Weise die Möglichkeit, ihre Ansichten in allen Bereichen<br />

des Handelns der Union öffentlich bekannt<br />

zu geben und auszutauschen.<br />

(2) Die Organe pflegen einen offenen, transparenten<br />

und regelmäßigen Dialog mit den repräsentativen<br />

Verbänden und der Zivilgesellschaft.<br />

(3) Um die Kohärenz und die Transparenz des Handelns<br />

der Union zu gewährleisten, führt die Kommis-


sion umfangreiche Anhörungen der Betroffenen<br />

durch.<br />

(4)UnionsbürgerinnenundUnionsbürger,derenAnzahl<br />

mindestens eine Million betragen und bei denen<br />

es sich um Staatsangehörige einer erheblichen Anzahl<br />

von Mitgliedstaaten handeln muss, können die<br />

Initiative ergreifen und die Kommission auffordern,<br />

im Rahmen ihrer Befugnisse geeignete Vorschläge<br />

zu Themen zu unterbreiten, zu denen es nach Ansicht<br />

jener Bürgerinnen und Bürger eines Rechtsakts der<br />

Union bedarf, um die Verfassung umzusetzen. Die<br />

Bestimmungen über die Verfahren und Bedingungen,<br />

die für eine solche Bürgerinitiative gelten, einschließlichderMindestzahlvonMitgliedstaaten,aus<br />

denen diese Bürgerinnen und Bürger kommen müssen,werdendurchEuropäischesGesetzfestgelegt.“<br />

Partnerschaftsabkommen �Osterweiterung<br />

Passerelle. Die Passerelle-Klausel ist eine Form<br />

der �Evolutivklausel, mit der im Rahmen eines Vertragswerkes<br />

im vereinfachten Verfahren eine Vertragsänderung<br />

herbeigeführt werden kann (frz. passerelle:<br />

Steg, Überweg). Im Bereich der Europäischen<br />

Union wird sich bisweilen solcher Klauseln<br />

bedient, um künftige Integrationsschritte vorzubereiten,<br />

zu denen die Mitgliedstaaten bei Vertragsschluss<br />

noch nicht bereit sind. So sieht bspw.<br />

Art. IV-444 des Verfassungsvertrags 2004 ein vereinfachtes<br />

Vertragsänderungsverfahren vor, um<br />

ohne erneutes langwieriges Vertragsratifikationsverfahren<br />

in bestimmten Politikfeldern von der Einstimmigkeit<br />

zu einer Mehrheitsentscheidung zu gelangen.<br />

J. M. B.<br />

Passunion, Nordische Passunion.Zwischenden<br />

Staaten Dänemark, Finnland, Norwegen, Island und<br />

Schweden 1954 eingerichtete Zone der Freizügigkeit<br />

zwischen den skandinavischen Ländern (zusammen<br />

mit der Schaffung eines gemeinsamen Arbeitsmarkts<br />

1954 und einem Übereinkommen über die<br />

Sozialversicherung 1955).<br />

Der Beitritt der EU-Staaten Dänemark, Finnland und<br />

Norwegen zum �Schengen-Abkommen erforderte<br />

1996 den Abschluss von Kooperationsabkommen<br />

aller Schengenstaaten mit den zwei restlichen Staaten<br />

der Nordischen Passunion Norwegen und Island<br />

zum Erhalt der Passunion. Alle nordischen Staaten<br />

wenden das Schengen-Regelwerk seit 25. 3. 2001 an.<br />

FreierPersonenverkehristauchzuGrönlandundden<br />

Färöer möglich, die diese Bestimmungen der Nordischen<br />

Passunion anwenden.<br />

Patent, europäisches Patent, Gemeinschaftspatent<br />

�Markenrecht, �Europäisches Patentamt<br />

Pauschalreiserichtlinien �Tourismuspolitik<br />

PESCA<br />

PEACE heißt ein 1995 von der EU ins Leben gerufenes<br />

Sonderprogramm für Frieden und Aussöhnung<br />

in Nordirland und angrenzenden nordirischen Grafschaften.<br />

PEACE I (1995–1999) war mit 300 Mio.<br />

ECU ausgestattet. PEACE II (2000–2004) hat ein<br />

Gesamtvolumen von 740 Mi. Euro, wovon 531 Mio.<br />

Euro aus den EU-Strukturfonds bereit gestellt<br />

werden. Die EU unterstützt darüber hinaus den 1989<br />

gegründeten Internationalen Fonds für Irland mit<br />

jährlich 15 Mio. Euro.<br />

Der Europäische Rat vom 18. 6. 2004 in Brüssel hat<br />

eine Ausdehnung des PEACE-Programms bis zum<br />

Auslaufen der Strukturfondsprogramme 2006 empfohlen.<br />

Die Haushaltsorgane der EU haben dem zugestimmt.<br />

Für 2005 stehen 60 Mio. Euro zur Verfügung,<br />

für 2006 sind 48 Mio. Euro eingeplant.<br />

Das operationelle Programm von PEACE II ist eingebettet<br />

in das Community Support Framework<br />

(CFS) für Nordirland (Zeitraum 2000 – 2006).<br />

Perikles-Programm zum Schutz des Euro gegen<br />

�Geldfälschung, vom Rat am 17. 12. 2001 beschlossen<br />

(2001/923, ABl. L 339/2001). Das Programm<br />

förderte die Zusammenarbeit der Euro-Staaten im<br />

Informationsaustausch und in der Ausbildung. Mit<br />

Beschluss 2001/924 vom selben Tag wurde das Programm<br />

auf die EU-Staaten ausgedehnt, die den Euro<br />

nicht als einheitliche Währung eingeführt haben.<br />

PESCA heißt eine am 15. 6. 1994 gestartete Gemeinschaftsinitiative<br />

im Rahmen der �Strukturfonds zur<br />

Unterstützung der von der Fischerei abhängigen Regionen,<br />

z. B. zur Schaffung anderer Arbeitsplätze<br />

oder zur Sanierung von Häfen. Finanzrahmen 1994 –<br />

1999 250 Mio. ECU. PESCA wurde 2000 nicht weitergeführt.<br />

Strukturinvestitionen im Bereich Fischerei<br />

und Aquakultur werden jetzt aus dem Finanzinstrument<br />

für die Ausrichtung der Fischerei (FIAF)<br />

gefördert. Finanzvolumen 2000 – 2006 3,7 Mrd.<br />

Euro. �Fischereipolitik<br />

601


Petersberg-Aufgaben<br />

Petersberg-Aufgaben<br />

a) Begriff: Ursprünglich in der sog. „Petersberg-<br />

Erklärung“ vom 19. 6. 1992 bestimmtes Einsatzspektrumder<br />

�WesteuropäischenUnion(WEU),das<br />

von humanitären Aufgaben und Rettungseinsätzen,<br />

über friedensschaffender Aufgaben bis hin zu<br />

Kampfeinsätzen bei der Krisenbewältigung einschl.<br />

friedenserhaltender Maßnahmen reicht. Diese sog.<br />

„Petersberg-Aufgaben“ wurden mit der vom Europäischen<br />

Rat in Köln 1999 beschlossenen schrittweisen<br />

Übernahme der Rolle und Aufgaben der WEU<br />

durch die EU ohne jede Modifizierung in den<br />

EU-Vertrag (Nizza) aufgenommen (Art. 17 Abs. 2).<br />

Damit steht der EU das gesamte Spektrum militärischer<br />

Einsätze offen. Einsätze zur Verteidigung des<br />

nationalen Hoheitsgebiets der Mitgliedstaaten sind<br />

in Ermangelung einer gemeinsamen europäischen<br />

Verteidigungspolitik allerdings nicht erfasst (vgl.<br />

Art. 17 Abs. 1 EUV). Wichtige Auslegungskriterien<br />

für die inhaltliche Ausrichtung konkreter Operationen<br />

liefern die programmatischen Ziele der �GASP,<br />

wiesieinArt.11EUVfestgeschriebensind(darunter<br />

„die Wahrung des Friedens und die Stärkung der internationalen<br />

Sicherheit“ und „die Entwicklung und<br />

Stärkung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit<br />

sowie die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten“),<br />

sowie die �Europäische Sicherheitsstrategie.<br />

Die „Feierliche Erklärung“ des �Europäischen<br />

Rats (ER) von Sevilla (2002) weist die Richtung<br />

für die erweiterte Interpretation der „Petersberg<br />

Aufgaben“imKampfgegendeninternationalenTerrorismus<br />

(Bsp. Zivilschutz).<br />

b) Ausblick: Der Europäische �Verfassungsvertrag<br />

2004präzisiertdasgeltendeEinsatzspektrumunderweitert<br />

es um gemeinsame Abrüstungsmaßnahmen,<br />

Aufgaben der militärischen Beratung und Unterstützung<br />

sowie Stabilisierungsoperationen in Nach-<br />

Konflikt Situationen (Art. III-309 Abs. 1 VVE). Alle<br />

EinsatzartenkommenausdrücklichauchdafürinBetracht,<br />

im gegebenen Fall einen Beitrag im Kampf<br />

gegen den internationalen Terrorismus zu leisten,<br />

auch durch entsprechende Unterstützungsleistungen<br />

an Drittstaaten. Welche Auswirkungen die im Verfassungsvertrag<br />

2004 enthaltene Beistandsklausel,<br />

die die Mitgliedstaaten zu gegenseitiger Unterstützung<br />

im Falle eines bewaffneten Angriffs gegen einen<br />

Mitgliedstaat der EU verpflichtet, auf das Einsatzspektrum<br />

haben wird, bleibt (sofern der VVE in<br />

Krafttritt) abzuwarten. U. S.<br />

602<br />

Petitionen können in der EU von jedem Unionsbürger<br />

sowie von natürlichen oder juristischen Personen<br />

mit Wohnort oder Sitz in einem EU-Staat an das Europäische<br />

Parlament gerichtet werden (Art. 194<br />

EGV, ggf. künftig Art. II-104 VVE). Jeder UnionsbürgerkannsichüberdiesinjederAmtsspracheanjedesOrganundandieberatendenAusschüsse(�WSA<br />

und �AdR) wenden und erhält Antwort in derselben<br />

Sprache (Art. 21 EGV). Petitionen an das EP sind<br />

schriftlich einzureichen (formlos als Brief oder als<br />

Online-Formular per E-Mail).<br />

Petitionsausschuss des Europäischen Parlaments<br />

(EP): Der Petitionsausschuss des EP – zunächst ohne<br />

Rechtsgrundlage auf Initiative der Abgeordneten<br />

eingerichtet, vom �Maastrichter Vertrag über die<br />

Europäische Union (Art. 21 und 194 EGV) bestätigt<br />

– unterscheidet zwischen Bürgeranfragen (Ersuchen<br />

um Auskunft oder Information) und Petitionen. Beider<br />

Anzahl nimmt ständig zu. In der Sitzungsperiode<br />

2003/2004(11.3.2003–12.3.2004)erhieltderAusschuss<br />

1 313 Petitionen (davon 299 aus Deutschland;<br />

eingroßerTeildavonbetrafdasMonopolderKaminkehrer).<br />

15 Petitionen waren von jeweils mehr als<br />

1 000 Personen unterschrieben, die größte Petition<br />

zur Patentierung von Software trug über 130 000 Unterschriften.<br />

Die Petitionen betreffen vor allem die<br />

Bereiche soziale Sicherheit, Umwelt, Steuerrecht,<br />

Freizügigkeit und Anerkennung von Diplomen. Der<br />

Ausschuss beschäftigt sich nicht mit Klagen gegen<br />

dasHandelnoderUnterlasseneinerdereuropäischen<br />

Institutionen oder eines Mitgliedstaates bei der Vollziehung<br />

des EU-Rechts (dafür ist der �Europäische<br />

Bürgerbeauftragte zuständig), sondern vor allem mit<br />

Anregungen zu neuer europäischer Gesetzgebung<br />

undAufgabeninterpretationderGemeinschaftsinstitutionen<br />

und Organe. Damit wird dem Bürger eine<br />

Partizipationsmöglichkeit an den Aktivitäten der<br />

Gemeinschaft geboten.<br />

Bezüglich der Bitten und der allgemein politischen<br />

Anregungen kann das Parlament über einen Bericht<br />

desPetitionsausschusseseineStellungnahmeannehmen,<br />

in der es zum jeweiligen Gesuch Stellung<br />

nimmt. In diesem Zusammenhang kann es gegenüber<br />

dem Rat, der Kommission oder einem Mitgliedstaat<br />

darauf dringen, geeignete Maßnahmen zu treffen.<br />

Beschwerden werden an den Europäischen Bürgerbeauftragten<br />

weitergeleitet.<br />

Von Petitionen zu unterscheiden sind �Bürgerinitia-


tiven, wie sie nach Inkrafttreten des �Verfassungsvertrags<br />

möglich sein werden (Art. I-47 Abs. 4 VVE<br />

2004). W. M.<br />

Anschriften für Petitionen per Brief: Europäisches Parlament,<br />

Abtlg. Tätigkeit der Mitglieder, B–1047 Brüssel<br />

Per Internet: www.europarl.eu.int/petition/petition_de.htm<br />

Petitionsrecht<br />

1. Begriff der Petition: Das Wort geht auf den lateinischen<br />

Begriff petitio zurück, der mit Bitte, Begehren<br />

oder Anliegen übersetzt werden kann. Auf der Ebene<br />

der EU werden – wie auch auf mitgliedstaatlicher<br />

Ebene – unter Petitionen Bitten und Beschwerden an<br />

bestimmte Stellen verstanden. Nach Art. 194 EGV<br />

könnenjederBürgersowiejedenatürlicheoderjuristische<br />

Person „allein oder zusammen mit anderen<br />

Bürgern oder Personen in Angelegenheiten, die in<br />

die Tätigkeitsbereiche der Gemeinschaft fallen und<br />

dieihnunmittelbarbetreffen,einePetitionandasEuropäische<br />

Parlament richten“. Von den Petitionen,<br />

die den Petenten unmittelbar betreffen, sind Beschwerden<br />

über Missstände bei der Tätigkeit der Organe<br />

oder Institutionen der Gemeinschaft zu unterscheiden,<br />

für die nach Art. 195 Abs. 1 EGV der �Bürgerbeauftragte<br />

zuständig ist.<br />

2.SinnundZweckdesPetitionsrechts:DasPetitionsrecht<br />

wurde wie die Institution des Europäischen<br />

Bürgerbeauftragten mit der Einführung der<br />

�Unionsbürgerschaft durch den Vertrag von Maastricht<br />

rechtlich verankert. Die diesbezüglichen Regelungen<br />

finden sich im Kapitel zur Unionsbürgerschaft<br />

in Art. 21 Abs. 1 EGV und im Abschnitt zum<br />

Europäischen Parlament in Art. 194 EGV. Das Petitionsrecht<br />

soll – wie auch der Zugang zum Bürgerbeauftragten<br />

– es dem Bürger ermöglichen, seine gemeinschaftsrechtlichen<br />

Rechte und Interessen wahrzunehmen<br />

und durchzusetzen. Häufig wenden sich<br />

Personen mit Petitionen an das Europäische Parlament,<br />

weil sie infolge eines Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht<br />

ihre subjektiven Rechte oder Interessen<br />

verletzt sehen. Indem das Parlament dann die<br />

Einhaltung des Gemeinschaftsrechts überprüft,<br />

nimmt es eine außergerichtliche Rechtsschutzfunktion<br />

wahr. Zugleich tragen das Petitionsrecht wie<br />

auch das Beschwerderecht zum Bürgerbeauftragten<br />

dazu bei, dass die Bürger stärker in den europäischen<br />

Integrationsprozess einbezogen sind. Beide mit der<br />

Unionsbürgerschaft verbundenen Rechte tragen zur<br />

Entwicklung eines �„<strong>Europa</strong>s der Bürger“ bei, in<br />

welchemderEinzelnealseinmitRechtenundPflich-<br />

ten ausgestatteter Bürger verstanden wird. Die Bürger<br />

können über das Petitionsrecht auch außerhalb<br />

der Wahlen mit dem EU-Organ in Kontakt treten, das<br />

ihnen am nächsten steht. Sie können nicht nur auf<br />

Missstände oder Unzulänglichkeiten hinweisen,<br />

sondern auch Vorschläge zur weiteren Entwicklung<br />

der Union machen, indem sie neue Problemlösungen<br />

anregen.DemdirektenDialogdesEuropäischenParlamentsmitder�„Zivilgesellschaft“unddem„Mann<br />

auf der Straße“ darüber, „was <strong>Europa</strong> ‚ist‘ und was<br />

<strong>Europa</strong> für jeden Bürger ‚macht‘“ ist eine hohe Bedeutung<br />

zuzumessen (Bericht des Petitionsausschusses<br />

vom 27. 11. 2001, A 5-088/2001 endg.).<br />

Über die eingegangenen Petitionen wird das Parlament<br />

auf bestimmte Entwicklungen aufmerksam gemacht.<br />

Insofern ist das Petitionsrecht auch ein wirksames<br />

Instrument zur Stärkung der parlamentarischen<br />

Kontrolle, zumindest aber liefern die Petitionen<br />

in Form von Beschwerden Anhaltspunkte für die<br />

Wahrnehmung der parlamentarischen Kontrolle.<br />

U. M.<br />

Literatur:<br />

Barth, E.: Bürgerbeauftragter und Petitionsrecht im Prozess<br />

der europäischen Verfassungsgebung.<br />

Diss. Uni Tübingen 2004<br />

Guckelberger, A.: Der Europäische Bürgerbeauftragte und die<br />

Petitionen zum Europäischen Parlament. Schriftenreihe der<br />

Hochschule Speyer, Bd. 162. Berlin 2004<br />

Meese, J. M.: Das Petitionsrecht beim Europäischen<br />

Parlament, das Beschwerderecht beim Bürgerbeauftragten der<br />

Europäischen Union. Frankfurt/Main 2000<br />

Pfeiler �Tempelstruktur<br />

Pflanzenschutz �Naturschutz<br />

Pflimlin, Pierre (geb. 1907 – 2000), französischer<br />

Politiker, Minister in verschiedenen Ressorts. Als<br />

Landwirtschaftsminister (1947 – 1951) ergänzte er<br />

den Schuman-Plan um den Bereich Agrarmarkt<br />

(Pflimlin-Plan). Aus Opposition zur <strong>Europa</strong>politik<br />

de �Gaulleswechselteer1959indieKommunalpolitik<br />

und war von 1959 bis 1983 Oberbürgermeister<br />

von Straßburg, von 1963 bis 1966 Präsident der Parlamentarischen<br />

Versammlung des <strong>Europa</strong>rats. Von<br />

1984 bis 1986 war Pflimlin Präsident des Europäischen<br />

Parlaments.<br />

PHARE �Osterweiterung<br />

Philoxenia �Tourismuspolitik<br />

Philoxenia<br />

603


PJZS<br />

PJZS (Polizeiliche und justitielle Zusammenarbeit<br />

in Strafsachen). Durch den �Maastrichter Vertrag<br />

wurde die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz<br />

und Inneres (ZBJI) als „dritte Säule“ der Politiken<br />

der EU eingefügt (�Tempelstruktur). Sie sieht die<br />

Schaffung eines �Raums der Freiheit, der Sicherheit<br />

und des Rechts vor. Sein Ziel ist die Verhütung und<br />

Bekämpfung der organisierten und nichtorganisierten<br />

Kriminalität, insbes. auf den Gebieten des Terrorismus,<br />

des Menschenhandels und der Straftaten gegenüber<br />

Kindern, des illegalen Drogen- und Waffenhandels,<br />

der Bestechung und Bestechlichkeit sowie<br />

des Betruges. Durch den �Vertrag von Amsterdam<br />

wurde ein Teil der ZBJI in den EG-Vertrag übernommen<br />

(Dritter Teil, Titel IV: Visa, Asyl, Einwanderung...),<br />

so dass die 3. Säule auf die PJZS begrenzt ist<br />

(Art. 29 bis 42 EUV). Im Vordergrund steht der<br />

Schutz der inneren Sicherheit in den EU-Mitgliedstaaten.<br />

Die PJZS umfasst<br />

(1) die Zusammenarbeit der Polizei-, Zoll- und anderer<br />

spezialisierter Strafverfolgungsbehörden, auch<br />

unter Einschaltung des Europäischen Polizeiamtes<br />

(�Europol);<br />

(2) die Zusammenarbeit der Justizbehörden, insbes.<br />

bei gerichtlichen Verfahren, der Vollstreckung von<br />

Entscheidungen, der Vermeidung von Kompetenzkonflikten<br />

zwischen den Mitgliedstaaten sowie der<br />

Auslieferung zwischen ihnen;<br />

(3) gemeinsame Maßnahmen zur Festlegung von<br />

Mindestvorschriften über die Tatbestandsmerkmale<br />

strafbarerHandlungenundüberStrafenindenBereichen<br />

organisierte Kriminalität, Terrorismus und illegaler<br />

Drogenhandel.<br />

Als Institutionen wurde ein Europäisches Polizeiamt<br />

(�Europol) geschaffen, das der Koordination und Informationssammlung<br />

dient. Die �Europäische Polizeiakademie<br />

(EPA) dient der Zusammenarbeit der<br />

Ausbildungsstellen. Die polizeiliche Zusammenarbeit<br />

ist zweigleisig konzipiert: Zum einen beruht sie<br />

auf einer weiteren Verstärkung der Kooperation der<br />

nationalen Polizeibehörden; zum anderen auf einem<br />

AusbauvonEuropol.InbeidenFällengehtessowohl<br />

um die operative Zusammenarbeit als auch um Datenaustausch<br />

und -speicherung sowie um Ausbildung<br />

und Forschung. Auch im justitiellen Bereich<br />

soll die Zusammenarbeit – insbes. mit Hilfe von<br />

�Eurojust bzw. einer Europäischen Staatsanwaltschaft<br />

– sowohl bezüglich der mitgliedstaatlichen<br />

Strafjustiz verbessert werden, als auch im Hinblick<br />

604<br />

auf das materielle Strafrecht, das zumindest bezüglich<br />

grenzüberschreitender bzw. organisierter Kriminalität<br />

vereinheitlicht werden könnte.<br />

Wichtiger Erfolg im Rahmen der PJZS ist die Schaffung<br />

eines �„Europäischen Haftbefehls“ anstelle der<br />

sonst im internationalen Rechtsverkehr üblichen<br />

Auslieferungsverfahren.<br />

Die Maßnahmen der PJZS finden im Rahmen der Regierungszusammenarbeit<br />

statt. Die Entscheidungen<br />

zur PJZS werden vom Rat getroffen. Als Instrumente<br />

stehen ihm neben den gemeinsamen Standpunkten<br />

und völkerrechtlichen Übereinkommen Beschlüsse<br />

und Rahmenbeschlüsse zur Verfügung. Die Rahmenbeschlüsse<br />

sind wie die Richtlinien für die Mitgliedstaaten<br />

hinsichtlich des zu erreichenden Ziels<br />

verbindlich, überlassen diesen jedoch die Wahl der<br />

Form und der Mittel.<br />

Durch Art. I-42, Art. III-257 ff. des �Verfassungsvertrags<br />

2004 soll die PJZS weitgehend „vergemeinschaftet“werden.<br />

J. M. B./M. K.<br />

Pleven, René (1901–1993), französischer Premierminister<br />

(1950 – 1952) und Minister in mehreren<br />

Ressorts. Als Verteidigungsminister schlug er im<br />

Oktober 1950 die Aufstellung einer vereinigten europäischen<br />

Armee vor (�Pleven-Plan) – Grundlage<br />

für eine �Europäische Verteidigungsgemeinschaft.<br />

Pleven-Plan (1950), benannt nach dem damaligen<br />

französischen Ministerpräsidenten René Pleven.<br />

Plan zur Aufstellung einer <strong>Europa</strong>-Armee unter einem<br />

europäischen Verteidigungsminister. Anlass:<br />

Der Koreakrieg, der im Juni 1950 ausgebrochen war,<br />

veranlasste die Westmächte (USA, Großbritannien,<br />

Frankreich), einen Verteidigungsbeitrag der im Mai<br />

1949 gegründeten Bundesrepublik Deutschland zu<br />

fordern. Am 11. 8. 1950 plädierte Winston Churchill<br />

im �<strong>Europa</strong>rat für den Aufbau einer europäischen<br />

Armee, in die auch deutsche Verbände einbezogen<br />

werden sollten. Am 24. 10. 1950 legte Pleven der<br />

französischen Nationalversammlung seinen Plan<br />

vor. Die <strong>Europa</strong>-Armee sollte aus Kontingenten der<br />

Teilnehmerstaaten bestehen, die weitgehend – bis in<br />

kleine Einheiten – integriert waren. Die Verteidigungsminister<br />

der NATO billigten am 19. 12. 1950<br />

die Teilnahme deutscher Kontingente.<br />

Als Konsequenz des Pleven-Plans wurden im Februar<br />

Verhandlungen zwischen den sechs späteren<br />

EWG-Staaten Frankreich, Italien, Beneluxländer


und Bundesrepublik Deutschland eröffnet, die am<br />

27. 5. 1952 zum Abschluss des Vertrags über die<br />

�Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG)<br />

führten, der am 30. 8. 1954 in der französischen Nationalversammlung<br />

scheiterte.<br />

PLOTEUS ist eine Datenbank für Lernangebote in<br />

ganz <strong>Europa</strong> und soll Schülern, Studierenden, Arbeitsuchenden,<br />

Eltern, Berufsberatern und Lehrern<br />

bei der Suche nach Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten<br />

helfen. Das Portal wird von der Generaldirektion<br />

Bildung und Kultur der Europäischen Kommission<br />

in Zusammenarbeit mit dem Nationalen<br />

Ressourcen Zentrum für Bildungs- und Berufsinformation<br />

und -beratung (Euroguidance) verwaltet.<br />

Internet: http://europa.eu.int/ploteus<br />

Point of no return. Stadium, dessen Erreichen einen<br />

Prozess unumkehrbar macht. In Bezug auf die<br />

EU wird der Begriff gebraucht, um Integrationsschritte<br />

oder Ereignisse zu bezeichnen, die den gesamten<br />

Prozess der Einigung oder Schritte zu Teilen<br />

davon (wie die Währungsunion) tatsächlich (rechtlich)<br />

oder nach menschlichem Ermessen (politisch)<br />

unumkehrbar werden ließen. Für Teile der Integration,<br />

z. B. Erweiterungen oder Reformen, setzten häufig<br />

Beschlüsse des Europäischen Rats den point of no<br />

return. Die Frage, ob der mit dem �Verfassungsvertrag<br />

von 2004 erreichbare Stand der Europäischen<br />

UniondenProzessderpolitischenIntegrationbereits<br />

aneinenpointofnoreturnbringenwürde,wirdunterschiedlich<br />

beantwortet, je nachdem, ob eine weitere<br />

Integration der Union zu einer staatsähnlichen Form<br />

gewünscht wird oder eher ihre Rückführung auf eine<br />

reine Wirtschafts- oder Zollunion. Rechtlich gesehen<br />

wäre die Schwelle der Unumkehrbarkeit auch<br />

nach Inkrafttreten des Verfassungsvertrags noch<br />

nicht überschritten.<br />

Politikbereiche der Europäischen Union<br />

1. Die Struktur der EU: Die Europäische Union ist<br />

durch eine differenzierte Ausstattung mit Kompetenzen<br />

gekennzeichnet (Grad der Kompetenzzuordnung),<br />

die von der schwachen Form der Koordination<br />

und �Kooperation bis hin zur Durchführung einer<br />

ausschließlichen Gemeinschaftspolitik reichen.<br />

Ausgangspunkt ist die Drei-Säulen-Theorie (�Tempelstruktur),<br />

die sich in Art. 1 EUV begründet:<br />

Grundlage der Union bilden die Europäischen Ge-<br />

Politikbereiche der EU<br />

meinschaften, ergänzt durch die mit dem EU-<br />

Vertrag eingeführten Politiken und Formen der Zusammenarbeit.<br />

Die erste Säule wird somit von den<br />

drei (seit Ende der �EGKS zwei) Gemeinschaften<br />

gebildet, deren wichtigste wiederum die Europäische<br />

Gemeinschaft darstellt. Der EG-Vertrag benennt<br />

in den Artikeln 3 und 4 die Politikbereiche, in<br />

denen die Gemeinschaft tätig wird. Die zweite Säule<br />

umfasst die �Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik<br />

auf Basis der Zusammenarbeit. Die dritte<br />

Säule beinhaltet die polizeiliche und justitielle Zusammenarbeit<br />

in Strafsachen (�PJZS). Aus der Beschreibung<br />

der Ziele und Tätigkeiten der EU wird die<br />

Bandbreite deutlich, die in einem �einheitlichen institutionellen<br />

Rahmen behandelt werden soll. Obwohl<br />

sich die Union mit allen Themen öffentlicher<br />

Politik befassen kann, verfügt sie nicht über die Allzuständigkeit<br />

(�Einzelermächtigung), wenngleich<br />

die Generalermächtigung des Art. 308 EGV ein Handeln<br />

ohne vertragliche Grundlage im Einzelfall ermöglicht.<br />

2. Gemeinschaftskompetenzsystem: Die Kompetenzabgrenzungen<br />

präsentieren sich differenziert und<br />

ständig im Fluss, da die Union ein komplexes Gebilde<br />

zwischen internationalem Vertrag und supranationalerOrganisation(mitderTendenzzumFöderalstaat)<br />

darstellt. Die Kompetenzabstufung erfolgt<br />

durch Kompetenztransfer der Mitgliedstaaten, die<br />

Souveränitätsrechte(�Souveränität)andieEUabgeben.<br />

Der Grad der Kompetenzzuordnung ist – geknüpft<br />

an die Politikbereiche – unterschiedlich geregelt<br />

(�Integrationsformen). Danach lassen sich unterscheiden:<br />

a) Die Koordinierung (gegenseitige Abstimmung):<br />

EU-Staatenverpflichtensichvertraglich,einanderin<br />

Teilbereichen der Politik zu unterrichten (Konsultation)<br />

und Handlungen aufeinander abzustimmen. Im<br />

Bereich der Koordinierung bleiben die EU-Staaten<br />

Träger der Zuständigkeit und Verantwortung. Die<br />

Kompetenz der EU beschränkt sich<br />

– auf die Koordinierung der Politik der EU-Staaten<br />

(etwas erweiterte Möglichkeiten der Politikgestaltung<br />

bietet die �offene Koordinierungsmethode);<br />

– auf ergänzende Maßnahmen der EU und<br />

– auf die Finanzierung entsprechender Programme<br />

für die EU-Staaten.<br />

b)DieKooperation(zwischenstaatlicheRegierungszusammenarbeit):<br />

EU-Staaten verpflichten sich, in<br />

vertraglich genau benannten Teilbereichen der Poli-<br />

605


Politikbereiche der EU<br />

tik Beschlüsse gemeinsam zu fassen und einzelstaatlich<br />

umzusetzen. Die Kompetenzen werden nicht an<br />

die europäische Ebene bzw. an supranationale Organe<br />

abgetreten, d. h., die EU-Staaten stimmen ihre InteressengemeinsamabundarbeitenaufderGrundlage<br />

von Regierungsübereinkünften zusammenarbeiten<br />

(Vereinbarung gemeinsamer Politik ohne Übertragung<br />

von �Hoheitsrechten an die EU). In der Praxis<br />

findet die Kooperationsform ihre Ausprägung in<br />

einer institutionalisierten Kooperation zwischen der<br />

EU und den Mitgliedstaaten.<br />

c) Die Integration: EU-Staaten übertragen legislative<br />

und exekutive Kompetenzen in vertraglich vereinbarten<br />

Teilbereichen der Politik auf die europäische<br />

Ebene und damit auf die EU-�Organe. Die<br />

EU-Staaten geben ihre Souveränität bzw. Hoheitsrechte<br />

auf diesen Gebieten ab und können einzelstaatlich<br />

nur noch flankierend zur europäischen Ebene<br />

wirken. Die Zuständigkeitsbereiche der EU sind<br />

im primären �Gemeinschaftsrecht fixiert.<br />

3. Politikbereiche in Gemeinschaftskompetenz: Mit<br />

dem �Vertrag von Amsterdam (und durch den �Vertrag<br />

von Nizza nicht grundlegend verändert) stellt<br />

sich die Kompetenzzuordnung der politischen Teilbereiche<br />

wie folgt dar:<br />

3.1 Bei den Gemeinschaftspolitiken ist die volle Zuständigkeit<br />

der EU von den Bereichen zu trennen, bei<br />

denen sie nach dem Prinzip der �Subsidiarität nur<br />

eineergänzendeZuständigkeitbesitzt(Art.5EGV).<br />

a)EinevolleZuständigkeithatdieEUnachdenArt.3<br />

und 4 EGV bei folgenden gemeinsamen Politiken:<br />

gemeinsame Handelspolitik als Folge der Zollunion;<br />

Binnenmarktrealisierung; gemeinsame Politik auf<br />

dem Gebiet der Landwirtschaft und der Fischerei;<br />

gemeinsame Politik auf dem Gebiet des Verkehrs;<br />

Wettbewerbspolitik zum Schutz des �Binnenmarktes;<br />

Festlegung und Durchführung einer einheitlichen<br />

Geld- sowie Wechselkurspolitik, die Angleichung<br />

der innerstaatlichen Rechtsvorschriften (soweit<br />

für das Funktionieren des Gemeinsamen Markteserforderlich);dieAssoziierungderüberseeischen<br />

Länder und Hoheitsgebiete; Kohle- und Stahlpolitik<br />

und Kernenergiepolitik (gem. EAG-Vertrag).<br />

b) Gemeinschaftspolitiken in Form einer<br />

– Sozialpolitik mit einem Europäischen Sozialfonds;<br />

– Politik auf dem Gebiet der Umwelt;<br />

– Politik auf dem Gebiet der Entwicklungszusammenarbeit;<br />

606<br />

– koordinierten Wirtschaftspolitik.<br />

c) Gemeinschaftspolitiken zur Förderung<br />

– der Koordinierung der �Beschäftigungspolitik<br />

der Mitgliedstaaten mitsamt einer koordinierten<br />

Beschäftigungsstrategie;<br />

– derForschungundtechnologischenEntwicklung;<br />

– desAuf-undAusbaus�TranseuropäischerNetze.<br />

d) Gemeinschaftspolitiken als Beitrag<br />

– zur Erreichung eines hohen Gesundheitsschutzniveaus;<br />

– zur Verbesserung des Verbraucherschutzes;<br />

– zu einer qualitativ hochstehenden allgemeinen<br />

und beruflichen Bildung sowie zur Kulturpolitik.<br />

e) Gemeinschaftspolitiken in Form von Maßnahmen<br />

als Tätigwerden der Gemeinschaft<br />

– hinsichtlich der Einreise und des Personenverkehrs<br />

(Visa, Asyl, Einwanderung und andere Politiken<br />

betreffend den �freien Personenverkehr);<br />

– in den Bereichen Energie, Katastrophenschutz<br />

und Fremdenverkehr.<br />

f) Gemeinschaftspolitiken zur Stärkung<br />

– des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts<br />

(Regional- und Strukturpolitik);<br />

– der Wettbewerbsfähigkeit der Industrie.<br />

3.2 Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik<br />

(zweiteSäule)istalsRegierungszusammenarbeitorganisiert.<br />

3.3 Die polizeiliche und justitielle Zusammenarbeit<br />

in Strafsachen (dritte Säule) erstreckt sich auf die<br />

Verhütung und Bekämpfung der (nicht) organisierten<br />

Kriminalität (insbes. Terrorismus, Menschenhandel,<br />

Straftaten gegenüber Kindern, illegaler Drogen-<br />

und Waffenhandel, Korruption und Betrug) sowie<br />

auf die Verhütung und Bekämpfung von Rassismus<br />

und Fremdenfeindlichkeit. Die justitielle Zusammenarbeit<br />

konzentriert sich auf die Festlegung<br />

unionsweit geltender Mindestvorschriften über die<br />

Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und<br />

das Strafmaß in den Bereichen organisierter Kriminalität,<br />

Terrorismus und illegaler Drogenhandel.<br />

3.4 Mit der Währungsunion ist ein veränderter<br />

Wechselkursmechanismus (WKM II) zwischen dem<br />

Euro und den Währungen der EU-Staaten entstanden,<br />

die nicht dem Euro angehören. Die damit verbundenenWährungspolitikerfolgtübereineKoordinierung<br />

zwischen den Nicht-Euro-Ländern und der<br />

�Europäischen Zentralbank.<br />

4.Verfassungsvertrag2004:Mitdem �Verfassungsvertrag<br />

(unterzeichnet am 29. 11. 2004) würde, wenn


er in Kraft tritt, die Aufteilung des Vertragsgefüges<br />

in die drei Säulen durch einen einheitlichen rechtlichen<br />

Rahmen ersetzt. Grundsätzlich hat der Verfassungsvertrag<br />

eine durchgängige Rechtsbasis, die<br />

durch die Verleihung der Rechtspersönlichkeit (Art.<br />

I-7 VVE) dokumentiert wird.<br />

Der Verfassungsvertrag unterscheidet ausschließliche<br />

Zuständigkeiten der Union von Bereichen mit<br />

geteilter Zuständigkeit und spezielle Zuständigkeitsregelungen<br />

für einzelne Politikbereiche. Im<br />

EinzelnenwerdendiePolitikbereichewiefolgtzugeordnet:<br />

a) Ausschließliche Zuständigkeiten (Art. I-13) hat<br />

die Union für<br />

– die Wettbewerbspolitik des Binnenmarktes;<br />

– die Währungspolitik der Mitgliedstaaten, die den<br />

Euro eingeführt haben;<br />

– die Zollunion;<br />

– die Erhaltung der biologischen Meeresschätze im<br />

Rahmen der Fischereipolitik;<br />

– ausgewählte Abschlüsse internationaler Übereinkommen.<br />

b) Hauptbereiche für die geteilte Zuständigkeiten<br />

sind (Art. I-14):<br />

– Binnenmarkt;<br />

– RaumderFreiheit,derSicherheitunddesRechts;<br />

– Landwirtschaft und Fischerei;<br />

– Verkehr und transeuropäische Netze;<br />

– Energie;<br />

– Aspekte der Sozialpolitik;<br />

– wirtschaftlicher, sozialer und territorialer Zusammenhalt;<br />

– Umwelt;<br />

– Verbraucherschutz;<br />

– gemeinsame Sicherheitsanliegen im Bereich des<br />

Gesundheitswesens;<br />

– Forschung, technologische Entwicklung und<br />

Raumfahrt;<br />

– Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre<br />

Hilfe.<br />

c) Maßnahmen der Union zur Koordinierung der<br />

Wirtschafts-undBeschäftigungspolitik(Art.I-15).<br />

d) Zuständigkeiten der Union im Bereich der Gemeinsamen<br />

Außen- und Sicherheitspolitik (Art.<br />

I-16).<br />

e) Bereiche in den die Union Unterstützungs-, Koordinierungs-<br />

und Ergänzungsmaßnahmen<br />

treffen kann (Art. I-17):<br />

– Industrie;<br />

Politik des „leeren Stuhls“<br />

– Schutz und Verbesserung der menschlichen Gesundheit;<br />

– allgemeine und berufliche Bildung, Jugend und<br />

Sport;<br />

– Katastrophen;<br />

– Kultur;<br />

– Tourismus;<br />

– Verwaltungszusammenarbeit.<br />

Nach Art. I-11 VVE gilt für die Abgrenzung der Zuständigkeiten<br />

der Union der Grundsatz der begrenzten<br />

Einzelermächtigung. Für die Ausübung der Zuständigkeiten<br />

der Union gelten die Grundsätze der<br />

Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit.<br />

Mit der Flexibilitätsklausel (Art. I-18) kann der Ministerrat<br />

jedoch einstimmig auf Vorschlag der<br />

Kommission und nach Zustimmung des EP sowie einer<br />

Vorabinformation der nationalen Parlamente<br />

bisher nicht vorgesehene Befugnisse zur Erreichung<br />

von Verfassungszielen beschließen. Damit kann die<br />

Union über die Einzelermächtigungen hinaus handeln,<br />

um auf gegenwärtig nicht gesehene Herausforderungen<br />

reagieren (Ergänzungskompetenz). Die<br />

Flexibilitätsklausel ist die Fortentwicklung der „Generalermächtigung“<br />

des Art. 308 EG-Vertrag.<br />

L. U.<br />

Literatur:<br />

Bogdandy, A. u.a.: Die vertikale Kompetenzzuordnung im<br />

Entwurf des Verfassungsvertrages. In: Integration 4/2003.<br />

S. 414 – 423<br />

Götz, V. u.a. (Hg.): Kompetenzverteilung zwischen der Europäischen<br />

Union und der Mitgliedsstaaten. Baden-Baden 2002<br />

Läufer, Th. (Hg.): Vertrag von Amsterdam. Bonn 1998<br />

Ohr, R. (Hg.): Europäische Integration. Stuttgart 1996<br />

Scheuning, D.-H. (Hg.): Europäische Verfassungsordnung.<br />

Baden-Baden 2003<br />

Vedder, C. (Hg.): EU-Verfassung. Baden-Baden 2005<br />

Politik des „leeren Stuhls“. Frankreich brach am<br />

1. 7. 1965 (Beginn seiner Präsidentschaft im Rat) die<br />

Verhandlungen des Agrarministerrats in Brüssel ab,<br />

dem ein Vorschlag der EWG-Kommission zugrunde<br />

lag, die Finanzierung der Gemeinsamen Agrarpolitik<br />

teilweise aus EWG-Mitteln zu bestreiten, die aus<br />

den Abschöpfungen stammten (Abschöpfungsgelder<br />

flossen bis dahin in die Kassen der Mitgliedsländer<br />

und sollten nun in eine Gemeinschaftskasse umgelenktwerden).ZudiesemZweckehättendieHaushaltsbefugnisse<br />

des Europäischen Parlaments (EP)<br />

erweitert werden müssen. Damit hätte das EP Etatrechteerhalten.DanachdemEWG-VertragbeiRatsbeschlüssen<br />

in der Agrar- und der Handelspolitik<br />

607


Politisches und Sicherheitspolitisches Komitee<br />

nach Ablauf des 2. Drittels der Übergangsfrist (von 3<br />

mal 4 Jahren) ab 1. 1. 1966 die Einstimmigkeit in bestimmten<br />

Fällen aufgehoben werden musste, forderten<br />

am 1. 7. 1965 einige Ratsmitglieder, die anstehende<br />

Frage bereits jetzt mit qualifizierter Mehrheit<br />

zu entscheiden.<br />

Frankreich lehnte dies ab und erklärte überdies, die<br />

Kommission habe ihre Befugnisse überschritten.<br />

DasLand,dasim2.Halbjahr1965denVorsitzimRat<br />

innehatte, nahm an Ratssitzungen nicht mehr teil,<br />

wodurch Beschlüsse nicht mehr möglich waren. Auf<br />

einer Ratssitzung am 29. 1. 1966 in Luxemburg einigte<br />

man sich mit Frankreich: Wenn bei einer anstehenden<br />

Entscheidung des Ministerrats nach dem<br />

EWG-Vertrag ein Mehrheitsbeschluss möglich ist,<br />

kann ein Land, das dem Beschluss nicht zustimmen<br />

möchte, unter Hinweis auf wichtige nationale Interessen<br />

weitere Beratungen verlangen, bis ein Kompromiss<br />

gefunden ist, dem alle zustimmen können<br />

(�Luxemburger Vereinbarung).<br />

Diese Regelung wurde jahrlang praktiziert und in<br />

leicht abgeänderter Form durch den Amsterdamer<br />

Vertrag in das Primärrecht (�GASP, �verstärkte Zusammenarbeit)<br />

übernommen (Art. 23 Abs. 2 und Art.<br />

40 Abs. 2 EUV 1992, Art. 11 EGV 1992), im Vertrag<br />

von Nizza wieder auf den Bereich der GASP beschränkt<br />

(Art. 23 Abs. 2 EUV). Eine entsprechende<br />

Regelung enthält auch der Verfassungsvertrag (Art.<br />

III-300Abs.2VVE). W. M.<br />

Politisches und Sicherheitspolitisches<br />

Komitee (PSK)<br />

1. Rechtsgrundlage: Auf der Grundlage der Beschlüsse<br />

des Europäischen Rats von Köln und Helsinki(1999)am1.3.2000zunächstalsInterimsorgan<br />

aufgestelltes,dannmitBeschlussdesRatsvom22.1.<br />

2001dauerhafteingerichtetes,zentralesBeratungs-,<br />

Vorbereitungs- und in Ausnahmefällen auch Entscheidungsgremium<br />

des Rats im Bereich der �Gemeinsamen<br />

Außen- und Sicherheitspolitik (GASP),<br />

einschl. der �Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik<br />

(ESVP). Das Politische und Sicherheitspolitische<br />

Komitee (PSK) bezeichnet nach inzwischen<br />

herrschendem Sprachgebrauch die in<br />

Brüssel tagende ständige Konfiguration des Komitees<br />

nach Art. 25 EUV (Nizza). Regelmäßig zu Beginn<br />

einer Präsidentschaft sowie in ausgesuchten<br />

Fällen tritt das PSK – dann meist mit perspektivisch-strategischer<br />

Themenstellung – in der an die<br />

608<br />

Zeit der �Europäischen Politischen Zusammenarbeit<br />

(EPZ) erinnernden „klassischen“ Zusammensetzung<br />

der Politischen Direktoren zusammen.<br />

2. Aufgaben: Die wesentliche Aufgabe des PSK besteht<br />

darin, die internationale Lage in allen Bereichen<br />

der �GASP einschließl. der �ESVP zu verfolgen,<br />

den Rat bei der Festlegung geeigneter Politiken<br />

entsprechend zu beraten und ggf. konkrete Beschlüsse<br />

vorzubereiten sowie die Durchführung dieser Politiken<br />

zu überwachen. In diesem Zusammenhang ist<br />

das PSK ausweislich seines Mandats der bevorzugte<br />

Ansprechpartner des �Hohen Vertreters für die<br />

GASP (HR). Das PSK ist das „Scharnier“ zwischen<br />

der „Expertenebene“ in den Ratsarbeitsgruppen, die<br />

es in GASP-Fragen koordiniert, und der politischen<br />

Ebene des Rats. Der �Ausschuss der Ständigen Vertreter<br />

(AStV), der gem. Art. 207 den Rat vorzubereiten<br />

hat, nimmt sich in der Praxis der im PSK behandelten<br />

Fragen regelmäßig nur noch insoweit an, als<br />

sog. „horizontale“ Aspekte betroffen sind. Eine besondere<br />

Rolle kommt dem PSK im Rahmen des Krisenmanagements<br />

und der Fähigkeitsentwicklung in<br />

der �ESVP zu. So nimmt das PSK unter der Verantwortung<br />

des Rats die politische Kontrolle und strategische<br />

Leitung von Operationen zur Krisenbewältigung<br />

wahr und kann vom Rat ermächtigt werden, in<br />

diesem Zusammenhang die geeigneten Beschlüsse<br />

zu fassen. Das PSK ist ausweislich seines Mandats<br />

ermächtigt, nicht nur den Arbeitsgruppen, sondern<br />

auch dem �Militärausschuss der EU (EUMA) und<br />

dem �Ausschuss für die nichtmilitärischen Aspekte<br />

der Krisenbewältigung (CivCom) politische Leitlinien<br />

vorzugeben. Dies gilt ausdrücklich auch für den<br />

Bereich der Entwicklung der Fähigkeitsziele, wodurch<br />

dem PSK auch gegenüber der �Europäischen<br />

Verteidigungsagentur (EVA) eine besondere Rolle<br />

zukommt. Das PSK führt darüber hinaus – regelmäßig<br />

im Format der �Troika – auf seiner Ebene den Politischen<br />

Dialog mit Drittstaaten durch. Durch die regelmäßigen<br />

Treffen mit dem Nordatlantikrat<br />

(NATO) kommt dem PSK darüber hinaus eine herausragende<br />

Bedeutung im Rahmen der strategischen<br />

Partnerschaft zwischen der EU und der NATO<br />

zu(s.�EU-NATODauervereinbarungen). U. S.<br />

Politische Union<br />

1. Begriff. Mit „Politischer Union“ verbanden und<br />

verbinden sich recht unterschiedliche Vorstellungen<br />

einer politischen Einigung <strong>Europa</strong>s oder von Teilen


davon. Gemeinsam ist allen Entwürfen und Plänen,<br />

dass die angestrebte �Integration über wirtschaftliche<br />

Kooperationen oder eine Wirtschaftsgemeinschaft<br />

in Richtung auf eine supranationale europäische<br />

politische Gemeinschaft hinausgehen sollte.<br />

Politische Union ist ein dynamischer Prozess, in dem<br />

auf verschiedenen Stufen Integrationselemente jeweils<br />

zusammengeführt und weiterentwickelt werden<br />

sollen bis hin zu einem voll ausgeprägten<br />

(End-)Stadium. Der Begriff wird auch synonym mit<br />

Europäischer Union verwandt.<br />

2. Pläne und Integrationsstufen<br />

2.1 Vorstufen und Teilintegrationen. Die Gründung<br />

des �<strong>Europa</strong>rates und der �EGKS (Montanunion<br />

oder �Schumanplan) waren erste konkrete Schritte,<br />

um nach dem Zweiten Weltkrieg die Nationalstaaten<br />

zusammenzuschließen. Der <strong>Europa</strong>rat verfolgt seine<br />

Ziele durch Zusammenarbeit der Regierungen der<br />

Mitgliedstaaten; er ist also eine inter-, jedoch keine<br />

supranationale Institution (�Supranationalität), also<br />

keine überstaatliche Organisation, die ihr von den<br />

Mitgliedstaaten übertragene �Hoheitsrechte ausüben<br />

und durch ihre Entscheidungen die Mitgliedstaaten<br />

binden kann.<br />

Die EGKS hingegen war eine erste supranationale<br />

Organisation, die eine partielle wirtschaftliche Integration<br />

der Mitgliedsländer beinhaltet. Darüber hinaus<br />

war mit ihrer Gründung auch die Absicht verbunden,zurIntegrationweitererBereichederWirtschaft<br />

und der Politik hinzuführen. Diese Ziele konnten mit<br />

der Gründung von EWG und EURATOM teilweise<br />

realisiert werden; denn nunmehr wurden weite Bereiche<br />

der Wirtschaft integriert und mit verschiedenen<br />

mit ihr in Zusammenhang stehenden Politiken<br />

verknüpft. Darüber hinausgehende Schritte in Richtung<br />

auf eine voll ausgestaltete Politische Union<br />

konnten zunächst noch nicht realisiert werden; d. h.<br />

eine �Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik,<br />

Innenpolitik und �Sozialpolitik – wie sie im �MaastrichterVertragvorgesehensind–bleibennochweitgehend<br />

in den Anfängen stecken.<br />

2.2 Europäische Politische Gemeinschaft (EPG).<br />

Das Projekt wurde im März 1953 nach der Gründung<br />

der Montanunion entworfen und sollte die geplante<br />

�Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG)<br />

und die EGKS zusammenbinden. Die EPG sollte die<br />

militärische Sicherheit in <strong>Europa</strong> garantieren, die<br />

Außenpolitik der sechs Mitgliedstaaten (identisch<br />

mit denjenigen der Montanunion) koordinieren und<br />

Politische Union<br />

deren Wirtschaft über den Ausbau eines �Gemeinsamen<br />

Marktes weiter entwickeln. Vorgesehen waren<br />

fünf Organe: das Parlament (zusammengesetzt aus<br />

einem von den nationalen Parlamenten gewählten<br />

Senat und einer vom Volk direkt gewählten Volkskammer)<br />

als Gesetzgebungsorgan, der Exekutivrat<br />

als Regierung, der Ministerrat (der die Tätigkeit des<br />

Exekutivrats mit den Regierungstätigkeiten in den<br />

Mitgliedstaaten in Einklang bringen sollte), der Gerichtshof<br />

und der Wirtschafts- und Sozialrat (mit beratender<br />

Funktion). Die EPG sollte sich aus Steuern,<br />

Anleihen und verschiedenen Erlösen der Gemeinschaft<br />

sowie aus Beiträgen der Mitgliedstaaten finanzieren.<br />

Die Arbeiten an der Gründung dieser zwischenstaatlichen<br />

Gemeinschaft wurden nach dem<br />

Scheitern der EVG (1954) eingestellt. Die EPG stellt<br />

ein Modell für alle späteren Bemühungen dar, eine<br />

Politische bzw. Europäische Union zu bilden.<br />

2.3 Fouchet-Pläne. Die nach dem französischen MinisterChristianFouchetbenanntenEntwürfefüreine<br />

Europäische Politische Union wurden 1961/62 vorgelegt,<br />

um im Rahmen der EWG auch die politische<br />

Integration voran zu bringen. Die Impulse gingen<br />

von der französischen Regierung aus. Eine Kommission<br />

sollte ein Statut für eine Europäische Politische<br />

Union ausarbeiten. Fouchet unterbreitete als erste<br />

Arbeitsgrundlage den Entwurf einer Staatenunion.<br />

Dieser baute auf der Intensivierung der �intergouvernementalenZusammenarbeitaufundunterschied<br />

sich insofern von dem mit den Verträgen zu den Europäischen<br />

Gemeinschaften (EWG, EURATOM,<br />

EGKS) eingeschlagenen Weg einer Stärkung der supranationalen<br />

Kräfte. Der Entwurf wurde auf der<br />

Konferenz der Staats- und Regierungschefs in Bonn<br />

im Juli 1961 grundsätzlich angenommen.<br />

Der erste Fouchet-Plan sah eine politische Union mit<br />

regelmäßigen Treffen der Staats- und Regierungschefs<br />

bzw. der Außenminister vor. Entscheidungen<br />

sollten einstimmig gefällt werden. Dem gemeinschaftlichenParlamentwurdennurberatendeBefugnisse<br />

zugewiesen.<br />

Im Januar 1962 legte die französische Regierung einen<br />

zweiten (Fouchet-)Plan vor, der stärker die nationalen<br />

Hoheitsrechte betonte und der angestrebten<br />

Union zu Lasten der EWG wirtschaftspolitische<br />

Kompetenzen übertrug. Die Fouchet-Pläne scheitertenletztlichandenMeinungsverschiedenheitenüber<br />

den Beitritt Großbritanniens.<br />

2.4 Europäische Politische Zusammenarbeit (EPZ).<br />

609


Politische Union<br />

Auf der Konferenz der Staats- und Regierungschefs<br />

in Den Haag im Dezember 1969 (�Gipfeltreffen)<br />

wurden im Abschlusskommuniqué die Außenminister<br />

mit der Prüfung der Frage beauftragt, „wie, in der<br />

Perspektive der Erweiterung, am besten Fortschritte<br />

auf dem Gebiet der politischen Einigung erzielt werden<br />

können“. Hiermit war in erster Linie eine Fortentwicklung<br />

der Gemeinschaft in der Außen- und<br />

Verteidigungspolitik gemeint. Das im �Luxemburger<br />

Bericht veröffentlichte Verfahren wurde dann<br />

unter dem Titel �„Europäische Politische Zusammenarbeit“<br />

eingerichtet. Das Verfahren war im Unterschied<br />

zu den vorherigen Versuchen einer Politischen<br />

Union pragmatisch angelegt. Konstitutionelle<br />

Grundsatzfragen wurden weitgehend vermieden.<br />

Die Entscheidungskompetenz lag bei den Vertretern<br />

der nationalen Regierungen. Alle Entscheidungen<br />

wurden einstimmig getroffen. Die EPZ entwickelte<br />

sich zum wichtigsten Instrument der Außenpolitik<br />

imRahmenderGemeinschaft.1986wurdesieimZusammenhang<br />

mit der �Einheitlichen Europäischen<br />

Akte auch vertraglich institutionalisiert und im Maastrichter<br />

Vertrag (1992) über die Europäische Union<br />

zur �Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik<br />

(GASP) weiterentwickelt.<br />

2.5 Tindemans-Bericht. Der Beschluss auf dem Pariser<br />

Gipfel 1972, „vor dem Ende dieses Jahrzehnts in<br />

absoluter Einhaltung der bereits beschlossenen Verträge<br />

die Gesamtheit der Beziehungen der Mitgliedstaaten<br />

in eine Europäische Union umzuwandeln“,<br />

konnte nicht umgesetzt werden. 1975 legte der belgische<br />

Ministerpräsident Leo Tindemans einen Bericht<br />

über die Verwirklichung der Europäischen<br />

Unionvor,dereineReihekonkreterSchritteaufzeigte.<br />

Der Bericht definierte die Europäische Union<br />

nicht als Endphase der europäischen Entwicklung,<br />

sondern als eine neue Stufe der Integration: Überführung<br />

der intergouvernementalen Zusammenarbeit in<br />

verbindlichereFormengemeinsamerAußen-undSicherheitspolitik,<br />

höherer Integrationsgrad in der<br />

Wirtschaftspolitik, Stärkung des Europäischen Parlaments<br />

durch Direktwahl, Mehrheitsbeschlüsse im<br />

Rat. Die Außenminister bekräftigten in ihrer Stellungnahme<br />

erneut das Ziel der Politischen Union.<br />

Weitere Schritte in diese Richtung waren der �Genscher-Colombo-Plan<br />

1981, die �Feierliche Deklaration<br />

zur Europäischen Union 1983 und die �Einheitliche<br />

Europäische Akte 1986.<br />

2.6 Realisierung der EU. Der Vertrag über die Euro-<br />

610<br />

päische Union (1992) und dessen Weiterführung in<br />

den Vertragsrevisionen von Amsterdam und Nizza<br />

sind die vorläufig letzten Schritte in Richtung auf<br />

eine Politische Union. Der Maastrichter Vertrag enthielt<br />

im Unterschied zum zeitlich und inhaltlich präzisen<br />

Stufenplan zur Schaffung einer Währungsunion<br />

nur Ansätze in Richtung einer Politischen<br />

Union, vor allem durch die Stärkung des EP im Mitentscheidungsverfahren,<br />

den Ausbau der früheren<br />

EPZ zu einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik<br />

(GASP) und die �Zusammenarbeit in den Bereichen<br />

Justiz und Inneres (ZBJI). Deshalb vereinbarten<br />

einige Mitgliedstaaten im Vorfeld der Konferenz<br />

von Amsterdam, dass vor der Realisierung der<br />

Währungsunion ein neuerlicher Anlauf zur Erzielung<br />

von Fortschritten auf dem Weg zur Politischen<br />

Union unternommen werden sollte. Abgesehen von<br />

der Weiterentwicklung der GASP im Amsterdamer<br />

Vertrag blieben diese Bemühungen jedoch bislang<br />

weitgehend erfolglos. Der Vertrag von Nizza hat<br />

vielmehr gezeigt, dass die sog. �Jean-Monnet-<br />

Methode der europäischer Integration, wonach ein<br />

wirtschaftlicher Integrationsschritt immer einen<br />

weiteren Schritt in Richtung auf eine politische Integration<br />

generiert, nicht zielführend ist. Eine durchgreifende<br />

Änderung des politischen Systems ist auf<br />

dem Wege der Regierungskonferenzen nicht zustande<br />

gekommen.<br />

3. Zukunft der EU<br />

3.1 Vom „Kerneuropa“ zur europäischen Föderation?<br />

Nach Maastricht wurde die Diskussion über die<br />

Politische Union wieder aufgenommen. Die Befürworter<br />

eines „Kern-<strong>Europa</strong>s“ (Schäuble/Lamers-<br />

Papier) streben eine vertiefte Integration vor allem<br />

im Bereich der zweiten und dritten Säule an. Sie erhoffen<br />

sich von einer Neuauflage der ersten Kerneuropa-Initiative,<br />

die zur Gründung der EGKS geführt<br />

hatte, neue Impulse für eine europäische Föderation.<br />

Nach den Vorstellungen von Jürgen Habermas sollen<br />

die EU in einen Bundesstaat umgeformt und die<br />

europäischen Verträge in eine politische Verfassung<br />

umgewandelt werden. Nach Jacques Delors soll eine<br />

„Föderation der Nationalstaaten“, bestehend aus den<br />

sechs Gründungsstaaten der EG, einen „Vertrag im<br />

Vertrag“ schließen mit dem Ziel einer tiefgreifenden<br />

Reform der europäischen Institutionen. In die gleiche<br />

Richtung geht der Vorschlag von Helmut<br />

Schmidt mit einem Kerneuropa der 11-Euro-Staaten.JoschkaFischerhatinseinerRedeam12.5.2000


inderHumboldt-UniversitätzuBerlindieVerwirklichung<br />

der Politischen Union über den „Übergang<br />

vomStaatenbundhinzurvollenParlamentarisierung<br />

in einer Europäischen Föderation“ „auf der Grundlage<br />

einer Souveränitätsteilung von <strong>Europa</strong> und Nationalstaat“<br />

vorgeschlagen. <strong>Europa</strong> müsse eine Union<br />

der Nationalstaaten und eine Union der Union verkörpern.HierzuseiendieDemokratisierung<strong>Europa</strong>s<br />

durch eine Repräsentation der Bürger in einer Abgeordnetenkammer<br />

und die Einrichtung einer Staatenkammer<br />

(aus direkten gewählten Senatoren der Mitgliedstaaten<br />

oder aus nationalen Regierungsvertretern)<br />

ebenso erforderlich wie die Schaffung einer europäischen<br />

Regierung als Schritt in Richtung einer<br />

gleichgewichtigen horizontalen Gewaltenteilung<br />

auf EU-Ebene und eine grundlegende Neuordnung<br />

der Kompetenzen zwischen <strong>Europa</strong>, Nationalstaat<br />

und Regionen. Statt des Ansatzes schrittweiser Vergemeinschaftung<br />

nach der Jean-Monnet-Methode<br />

plädiert Fischer für eine Weiterentwicklung im mehreren<br />

Stufen. Zunächst sollte das Instrument der verstärkten<br />

Zusammenarbeit von den Mitgliedstaaten<br />

stärker genutzt werden können, die enger kooperieren<br />

wollen. In der zweiten Stufe sollten diese Staaten<br />

nach dem Vorschlag von Delors einen Vertrag im<br />

Vertrag bilden, um ein offenes „Gravitationszentrum“<br />

zu bilden, das bereits alle Elemente einer späteren<br />

Föderation umfasst.<br />

3.2 Der europäische Verfassungsvertrag 2004. Der<br />

Verfassungsvertrag eröffnet Chancen für eine mögliche,<br />

spätere Realisierung einer Politischen Union.<br />

Der mehrheitlich aus Parlamentariern zusammengesetzte<br />

Konvent, der den Vertragstext entworfen hat,<br />

ist ein deutliches Zeichen für ein demokratisch stärker<br />

legitimiertes Verfahren als es in der VergangenheitbeiVertragsrevisionendieRegierungskonferenzen<br />

waren. Das neue Verfahren breiter Repräsentanz<br />

hat die Möglichkeit eröffnet, weiter gehende Reformvorschläge<br />

zumindest zu erörtern, wenn diese<br />

auch nur in begrenztem Rahmen Niederschlag im<br />

Verfassungsvertrag gefunden haben.<br />

Mit der Entscheidung, die bestehenden Verträge zu<br />

einem Vertrag zusammenzufassen und diesem einen<br />

verfassungsähnlichen Charakter zu geben, knüpft<br />

der Konvent an traditionelle Formen staatlicher, politischer<br />

Ordnungen an. Die Union wird als ein hoch<br />

differenziertes politisches System verstanden, das<br />

faktischStaatsaufgabenerfüllt,ohnejedocheinStaat<br />

zu sein. Der Verfassungsvertrag nennt in seiner Prä-<br />

Polizeimission<br />

ambel ausdrücklich die „Wahrung der Kontinuität<br />

desgemeinschaftlichenBesitzstandes“(Abs.5).Das<br />

„Drei-Säulen-Modell“ mit seinen unterschiedlichen<br />

Stufen der Integration soll faktisch weitgehend weiter<br />

bestehen bleiben, obwohl durch die Verleihung<br />

der „Rechtspersönlichkeit“ (Art. I-7 VVE 2004) im<br />

Unterschied zur jetzigen Struktur eine einheitliche<br />

Rechtsgrundlagevorgesehenist.DieBestimmungen<br />

über die „verstärkte Zusammenarbeit“ führen im<br />

Vergleich zu Nizza prozedurale Erleichterungen ein.<br />

DieHandlungsfähigkeitderUnionsolldurchdieverstärkteZusammenarbeitauchimRahmenderGASP,<br />

das Prinzip der doppelten Mehrheiten bei Entscheidungen<br />

im Rat (Widerspiegelung der EU als Union<br />

der Staaten und der Bürger) und die Ausweitung des<br />

Mehrheitsprinzips bei Entscheidungen erhöht werden.<br />

Es bleibt jedoch abzuwarten, in welche Richtung<br />

sich die EU ggf. nach der Ratifizierung des Verfassungsvertrags<br />

weiter entwickeln wird und ob damit<br />

eine neue Stufe in Richtung auf eine Politische<br />

Union erreicht wird.<br />

In der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion wird<br />

dasVertragswerkkontroverssowohlalsStärkungeiner<br />

intergouvernementalen als auch einer supranationalen<br />

oder föderalen Ausrichtung der Union bewertet.<br />

U. M.<br />

Literatur:<br />

Bieber, R.: Föderalismus in <strong>Europa</strong>. In: Weidenfeld, W. (Hg.),<br />

<strong>Europa</strong>-Handbuch. Gütersloh 2004, S. 125 – 140<br />

Fischer, J.: Vom Staatenverbund zur Föderation – Gedanken<br />

über die Finalität der europäischen Integration. In: integration<br />

3/2000, S. 149 – 156<br />

Ders.: Europäische Identität und universalistisches Handeln –<br />

Nachfragen an Jürgen Habermas. In: Blätter für deutsche und<br />

internationale Politik, 2003, S. 801 – 806<br />

Schneider, H.: Die Zukunft der differenzierten Integration in<br />

der Perspektive des Verfassungsvertrags und der Erweiterung,<br />

in: integration 4/2004, S. 259 – 273<br />

Schäuble, W.: Fusion oder Spaltung? Die Kerneuropa-Initiative<br />

in der Debatte. In: Blätter für deutsche und internationale<br />

Politik, 2003, S. 935 – 945.<br />

Wessels, W.: Die institutionelle Architektur der EU nach der<br />

Europäischen Verfassung: Höhere Entscheidungsdynamik –<br />

neue Koalitionen?. In: integration 3/2004, S.161 – 175<br />

Polizeiliche und justitielle Zusammenarbeit in<br />

Strafsachen �PJZS<br />

Polizeimission. Bezeichnung für den Einsatz von<br />

Polizeikräften, v. a. zur Beratung und Ausbildung,<br />

im Rahmen des zivilen Krisenmanagements der EU.<br />

Der Bereich Polizei ist einer der Schwerpunktberei-<br />

611


Pompidou-Gruppe<br />

che in der nichtmilitärischen �Europäischen Sicherheits-<br />

und Verteidigungspolitik (ESVP). Eine sog.<br />

Polizeieinheit im Generalsekretariat des Rats ist mit<br />

der operativen Durchführung von Polizeimissionen<br />

betraut. Die EU hat bisher drei Polizeimissionen<br />

durchgeführt (2003 – 2005: EUPM in Bosnien und<br />

Herzegowina;2004:PROXIMAinMazedonien;seit<br />

2005: EUJUST LEX für den Irak). Der ursprünglich<br />

französische Vorschlag, im Rahmen der �EuropäischenSicherheits-undVerteidigungspolitik(ESVP)<br />

eine auf Krisenmanagement spezialisierte Polizei<br />

mit militärischem Status für friedensunterstützende<br />

Einsätze der EU zu schaffen, ist in der EU bisher<br />

nicht abschließend beraten worden. Vorwiegend<br />

südeuropäische Länder haben 2003 ihre unter gemeinsamesKommandogestelltennationalenKräfte,<br />

die bis 2005 auf 900 Personen aufwachsen sollen, in<br />

einemerstenSchrittderEUaufAbruffürEinsätzeinnerhalbderESVPzurVerfügunggestellt.<br />

U. S.<br />

Pompidou-Gruppe des �<strong>Europa</strong>rats. 1971 auf Initiative<br />

des damaligen französischen Staatspräsidenten<br />

Georges Pompidou von den 6 EG-Staaten und<br />

Großbritannien als informelles Forum gegründet zur<br />

Zusammenarbeit bei der Bekämpfung des Drogenhandels<br />

und -missbrauchs. 1980 in den institutionellen<br />

Rahmen des <strong>Europa</strong>rats eingebunden. Die Gruppe<br />

umfasst 34 Mitgliedstaaten des <strong>Europa</strong>rats. Die<br />

für Drogenpolitik zuständigen Minister stellen in<br />

Konferenzen alle 3 Jahre Leitlinien zur Drogenpolitik<br />

auf. Die Experten der Gruppe beteiligen sich an<br />

Aus- und Fortbildungsprogrammen zum Thema<br />

Suchtbehandlung, an Studien über die verschiedenen<br />

Justiz-Systeme, an interdisziplinären MaßnahmenzurbesserenZusammenarbeitderFlughäfenbei<br />

der Abwehr des Drogenschmuggels, zur Kenntnis<br />

von Tendenzen und Strukturen des Drogenmissbrauchs,<br />

zur Erstellung von Leitfäden für Gemeinden.<br />

Post-Nizza-Prozess. Beim Europäischen Rat in<br />

Nizza (Dezember 2000) verabschiedeten die Staatsund<br />

Regierungschefs nicht nur Änderungen zum<br />

Vertrag von Amsterdam, um die EU für die bevorstehende<br />

Erweiterung handlungsfähig zu machen. Zugleich<br />

wurden in einer Erklärung zur Zukunft der<br />

Union konkrete Vorgaben für den weiteren sog.<br />

„Post-Nizza-Prozess“ hinsichtlich Inhalt, Methode<br />

und Verfahren gemacht. Darin wurden bereits die<br />

612<br />

grundlegenden Fragen bezeichnet, mit denen sich<br />

später – aufgrund der entsprechenden Erklärung von<br />

Laeken im Dezember 2001 – der Konvent zur Zukunft<br />

<strong>Europa</strong>s befasste:<br />

– Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen EU<br />

und Mitgliedstaaten entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip,<br />

– Status der in Nizza verkündeten Charta der Grundrechte,<br />

– Vereinfachung der Verträge und<br />

– Rolle der nationalen Parlamente in der Architektur<br />

<strong>Europa</strong>s. H. D.-K.<br />

Präferenzabkommen �Allgemeines Präferenzabkommen<br />

(APS)<br />

Präferenzsystem �Allgemeines Präferenzsystem<br />

(APS)<br />

Prager Erklärung (Prager Kommuniqué)<br />

Begriff: Von Bildungsministern und -ministerinnen<br />

aus 33 Ländern (29 Länder der �Bologna-Erklärung<br />

sowie Liechtenstein, Kroatien, Türkei, Zypern) anlässlich<br />

der ersten Bologna-Folgekonferenz unterzeichneteGemeinsameErklärung(„PragerKommuniqué“)vom29.5.2001mitdemTitel„AufdemWeg<br />

zum europäischen Hochschulraum“ (�Bologna-Prozess).<br />

Hintergrund und Beweggründe: Die Prager Konferenz<br />

wurde vom tschechischen Bildungsminister<br />

und der EU-Präsidentschaft (Großbritannien) organisiertundvonderEuropäischenKommissiongefördert.<br />

Zur Vorbereitung der Konferenz wurde der von<br />

der Follow-up-group vorgelegte zweite Fortschrittsbericht<br />

„Förderung des Bologna-Prozesses“ („Lourtie-Bericht“)<br />

und der von der Association of European<br />

Universities (CRE) geförderte Trends II Report<br />

(„Trends in Learning Structures in Higher Education<br />

II“) vorgelegt. Die Unterzeichnerstaaten lieferten<br />

Berichte über die Durchführung des Bolognaprozesses.<br />

Für Deutschland hat die KMK in Zusammenarbeit<br />

mit der Hochschulrektorenkonferenz und dem<br />

Bundesbildungsministerium einen Bericht „Realisierung<br />

der Ziele der ,Bologna-Erklärung in<br />

Deutschland“ vorgelegt (Beschluss der KMK vom<br />

9./10. 11. 2000, Folgeberichte vom 25. 4. 2002 und<br />

30. 1. 2003) und darin den Themen<br />

– Einführung eines international kompatiblen Systems<br />

von Abschlüssen (Bachelor / Master),


– Abbau von Mobilitätshemmnissen,<br />

– Förderung der europäischen Qualitätssicherung in<br />

einem„NetzwerkeuropäischerQualitätssicherungsagenturen“<br />

(ENQA),<br />

besondere Bedeutung innerhalb des Bologna-Prozesses<br />

beigemessen.<br />

Zielsetzung und Inhalt: In dem Prager Kommuniqué<br />

wurdendiesechsZieledesBologna-Prozessesbestätigt<br />

und durch drei weitere ergänzt:<br />

– Ausbau der lebenslangen Weiterbildung als Bestandteil<br />

des europäischen Hochschulraums;<br />

– enge Einbeziehung der Hochschulen und der Studierenden<br />

in den Prozess zur Entwicklung des europäischen<br />

Hochschulraumes;<br />

– Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit<br />

und Attraktivität des europäischen Hochschulraumes.<br />

Zur Vorbereitung der weiteren Konferenzen (Berlin<br />

2003, Bergen 2005) wurden praktische organisatorische<br />

Vorkehrungen getroffen. Der institutionelle<br />

Rahmen besteht nun in einer „follow up group“ und<br />

einer „preparatory group“. In der follow up group<br />

sind alle 32 Mitglieder und die Europäische Kommission<br />

vertreten; den Vorsitz führt das jeweilige<br />

Präsidialland der EU (33 Teilnehmer). Die Vorbereitungsgruppe<br />

sollte aus Vertretern der Gastgeberländer<br />

der vorangegangenen Ministertreffen und des<br />

nächsten Ministertreffens (Italien, Tschechien,<br />

Deutschland), von zwei alten EU-Mitgliedstaaten<br />

und zwei neuen (Polen, Ungarn) bestehen, wobei<br />

diese vier Vertreter von der Follow-up-Gruppe gewählt<br />

werden. Die jeweilige EU-Präsidentschaft und<br />

die Kommission nehmen ebenfalls an der Vorbereitungsgruppe<br />

teil. Den Vorsitz übernimmt der Vertreter<br />

des Gastgeberlandes für das nächste Ministertreffen<br />

(Deutschland). Daneben gibt es 4 Beobachter:<br />

die European University Association (EUA), die European<br />

Association of Institutions in Higher Education(EURASHE),dieNationalUnionsofStudentsin<br />

Europe (ESIB) und der �<strong>Europa</strong>rat.<br />

Es wurde ferner beschlossen, dass die follow-upgroup<br />

für die Nachfolgearbeiten Seminare organisiert,umfolgendeBereicheauszuloten:Kooperation<br />

bezüglich der Akkreditierung und Qualitätssicherung,AnerkennungsfragenunddieNutzungvonLeistungspunktesystemen<br />

im Bologna-Prozess, Entwicklung<br />

gemeinsamer Abschlüsse, soziale Dimension<br />

mit besonderem Schwerpunkt auf Mobilitätshindernissen,<br />

Erweiterung des Bologna-Prozesses,<br />

Präsidentschaft des Rates<br />

lebensbegleitendes Lernen und Beteiligung der Studierenden.<br />

RechtlicheWürdigung:�Bologna-Erklärung. I. H.<br />

Internet:<br />

www.esib.org/prag; www.kmk.org; www.bologna-berlin2003.de<br />

Präsidentschaft des Rates der EU<br />

1. Begriff: Mit dem Begriff „Ratspräsidentschaft“ ist<br />

der Vorsitz im Rat der Europäischen Union gemeint.<br />

Die Ratspräsidentschaft erstreckt sich über einen<br />

Zeitraum von sechs Monaten und beginnt jeweils<br />

zum 1. Januar bzw. 1. Juli eines Jahres. Seit Inkrafttreten<br />

des Nizza-Vertrages (Art. 203 EGV) folgt die<br />

Reihenfolge des Ratsvorsitzes nicht mehr dem Alphabet,<br />

sondern wird einstimmig vom Rat beschlossen.<br />

Bis 2006 sind folgende Ratspräsidentschaften<br />

festgelegt: Luxemburg/Großbritannien für das Jahr<br />

2005 sowie Österreich/Finnland für 2006.<br />

Der �Verfassungsvertrag 2004 sieht für die Ratspräsidentschaft<br />

eine Reihe grundlegender Änderungen<br />

vor. So soll der Europäische Rat für eine Amtszeit<br />

von zweieinhalb Jahren einen Präsidenten wählen,<br />

der den Vorsitz im ER führt und gemeinsam mit dem<br />

Kommissionspräsidenten auf der Grundlage der Arbeiten<br />

des Allgemeinen Rates für die Koordination<br />

und Kontinuität der Arbeiten sorgt. Der ER-Präsident<br />

nimmt auf Ebene der Staats- und Regierungschefs,<br />

unbeschadet der Zuständigkeiten des EU-<br />

Außenministers, die Außenvertretung der EU wahr.<br />

Der Präsident des ER darf kein einzelstaatliches Amt<br />

ausüben. Daneben sieht die Verfassung zusätzlich<br />

die Bildung von sog. „Teampräsidentschaften“ vor.<br />

Diese lösen die bisherige halbjährliche Präsidentschaft<br />

und die �Troika durch ein System gleichberechtigter<br />

Rotation ab. Die Rotationsfolge wird vom<br />

ER mit qualifizierter Mehrheit beschlossen. Zugleich<br />

wird die Arbeit des Rates neu organisiert. Der<br />

Rat „Allgemeine Angelegenheiten“ nimmt für die<br />

Arbeit der verschiedenen Fachräte – mit Ausnahme<br />

des Rates für „Auswärtige Angelegenheiten“ – koordinierende<br />

Aufgaben wahr. Dabei stimmt er sich mit<br />

dem ER-Präsidenten sowie der Kommission ab. Den<br />

Vorsitz im Allgemeinen Rat führt der Mitgliedstaat,<br />

der entsprechend dem ER- Beschluss zur gleichberechtigten<br />

Rotation festgelegt wurde.<br />

Als erstes Team sollen für jeweils eineinhalb Jahre<br />

2007 und 2008 Deutschland, Portugal und Slowenien<br />

die EU führen. Es folgen weiter:<br />

Frankreich, Tschechien, Schweden (2008 – 2009),<br />

613


Präsidentschaft des Rates<br />

Spanien, Belgien, Ungarn (2010 – 2011),<br />

Polen, Dänemark, Zypern (2011 – 2012),<br />

Irland, Litauen, Griechenland (2013 – 2014),<br />

Italien, Lettland, Luxemburg (2013 – 2015)<br />

Niederlande, Slowakei, Malta (2016 – 2017),<br />

Großbritannien,Estland, Bulgarien(2017 – 2018),<br />

Österreich, Rumänien, Finnland (2019 – 2020).<br />

2. Arbeitsweise: Bis zum Inkrafttreten des Verfassungsvertrags<br />

wird das bisherige System beibehalten.<br />

Demzufolge ist während der Ratspräsidentschaft<br />

das Vorsitzland für Einberufung, Vorbereitung<br />

und Leitung aller Sitzungen der EU zuständig.<br />

EsunterzeichnetindieserZeitdieRechtsaktedesRates,<br />

vertritt diesen vor dem Europäischen Parlament<br />

(EP) und nach außen. Höhepunkt und zumeist auch<br />

Abschluss der Ratspräsidentschaft ist die Einberufung<br />

des �Europäischen Rates (ER). Dabei treten die<br />

Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten<br />

zusammen und beraten in der Regel besonders<br />

wichtige EU-Vorlagen bzw. Themen von allgemeiner<br />

politischer Bedeutung für die EU. Der Mitgliedstaat,<br />

der den Vorsitz im Rat innehat, ist gehalten,<br />

während der Zeit der Ratspräsidentschaft bei der<br />

Verfolgung eigener Interessen Zurückhaltung zu<br />

üben und sich statt dessen unparteiisch für Fortschritte<br />

der Gemeinschaftspolitik einzusetzen.<br />

Der Ratsvorsitz bietet die Chance, europapolitische<br />

Akzente zu setzen und für wichtig erachtete Vorhaben<br />

voranzutreiben. Aus diesem Grund ist jedem<br />

Mitgliedstaat daran gelegen, die Zeit seiner Ratspräsidentschaft<br />

zur Durchsetzung bestimmter Prioritäten<br />

zu nutzen. So ist es üblich geworden, dass der<br />

RatsvorsitzseinepolitischenSchwerpunkteineinem<br />

Arbeitsprogramm zusammenfasst, das Ziele und oftmals<br />

auch Termine vorgibt. In den letzten Jahren hat<br />

es sich eingespielt, dass zwei aufeinander folgende<br />

Präsidentschaften jeweils ihr Arbeitsprogramm abstimmen.<br />

Die Ratspräsidentschaft wird von den jeweiligen Regierungen<br />

gezielt genutzt, eine größere Sichtbarkeit<br />

der europäischen Politik im eigenen Land zu erzeugen<br />

und umgekehrt den Bekanntheitsgrad bei den<br />

EU-Partnern zu steigern. So finden zahlreiche Fachministerräte,<br />

Konferenzen und Ausschusssitzungen<br />

im jeweiligen Vorsitzland statt. Die Praxis, die halbjährlichen<br />

Gipfeltreffen der europäischen Staatsund<br />

Regierungschefs im Vorsitzland abzuhalten, ist<br />

eingestellt worden. In einer Erklärung zum Nizza-<br />

Vertrag wurde festgelegt, dass ab dem Jahr 2002 pro<br />

614<br />

Ratspräsidentschaft jeweils eine Tagung des Europäischen<br />

Rates in Brüssel abzuhalten ist. Sobald die<br />

Union achtzehn Mitglieder zählt, sollen alle Tagungen<br />

des Europäischen Rates in Brüssel stattfinden.<br />

Dies ist seit der Erweiterung vom 1. 5. 2004 der Fall,<br />

ausschlaggebend für diese Neuregelungen waren<br />

praktisch-organisatorische Erwägungen sowie Sicherheitskriterien.<br />

Von der guten Vorbereitung der Beratungsvorlagen,<br />

vom Geschick der Verhandlungsführung und der Fähigkeit,<br />

für alle Mitgliedstaaten akzeptable Kompromisslinien<br />

zu entwickeln, hängt in hohem Maße der<br />

Erfolg einer Ratspräsidentschaft ab. Die Arbeitsbelastung<br />

während der Präsidentschaft ist erheblich, da<br />

das Vorsitzland nicht nur auf Ratsebene, sondern<br />

auch im Ausschuss der Ständigen Vertreter und in<br />

den Ratsarbeitsgruppen sowie in der �Gemeinsamen<br />

Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) den Vorsitz<br />

führt.DieserleichtertzwardieVorbereitungundKoordination<br />

der Ratstagungen, da die Verhandlungsführung<br />

bei den Beratungsvorlagen auf allen Arbeitsebenen<br />

in einer Hand liegt, bindet auf der anderen<br />

Seite aber in hohem Maße personelle Kapazitäten.<br />

Aus diesem Grunde erhält das jeweilige Vorsitzland<br />

nicht nur technische Unterstützung vom GeneralsekretariatdesRates,sondernauchinhaltlicheBeratung<br />

durch die sog. �Troika. Sie hat sich zu einer<br />

wichtigen funktionellen Klammer entwickelt, da sie<br />

über die wechselnden Ratsvorsitze hinweg für die<br />

Kontinuität der Arbeit und die optimale Vorbereitung<br />

des Ratsvorsitzes sorgt. Dies gilt in besondere<br />

Weise für die Beratungsvorlagen, die unter den Mitgliedstaaten<br />

kontrovers sind und auf den Tagesordnungen<br />

mehrerer Ratspräsidentschaften stehen, bevor<br />

sie abgeschlossen werden.<br />

3. Perspektiven. Die im Verfassungsvertrag 2004<br />

vorgesehenen Neuerungen für die Ratspräsidentschaft<br />

stehen für den Versuch, die Arbeitsweise der<br />

EU-Institutionen an geänderte Rahmenbedingungen<br />

anzupassen.DieErweiterunghatdieNotwendigkeit,<br />

effiziente und handlungsfähige Strukturen und Verfahren<br />

zu entwickeln, weiter erhöht. Die stetig gewachsenen<br />

Zuständigkeiten in der Außen- und Sicherheitspolitik<br />

haben den Bedarf nach Sichtbarkeit<br />

und personeller Kontinuität steigen lassen.<br />

Der Verfassungsvertrag 2004 sieht eine neue Arbeitsteilung<br />

zwischen dem auf zweieinhalb Jahre gewähltenEU-Präsidentenunddenanderthalbjährigen<br />

Teampräsidentenschaften vor. Während der Präsi-


dent v. a. nach außen wirken soll, ist es Aufgabe der<br />

Teampräsidentschaft, für die Kohärenz der laufenden<br />

Arbeiten zu sorgen.<br />

Die Teampräsidentschaften werden das Prinzip der<br />

Troikafortführen,allerdingsinflexibilisierterForm.<br />

Es steht den Teampräsidentschaften jeweils frei, wie<br />

sie sich in der Zeit ihrer Präsidentschaft abstimmen<br />

und organisieren. Ob sich dieses neue Modell bewährt,wirddiePraxiserweisen.<br />

Ch. H.<br />

Präsidium �Europäisches Parlament<br />

Preisauszeichnung.UmVerbraucherbesserzuinformieren<br />

und ihnen einen Preisvergleich zu erleichtern,<br />

müssen Händler bei sämtlichen Erzeugnissen,<br />

die sie zum Verkauf anbieten, den Verkaufspreis und<br />

den Preis je Maßeinheit (sofern er nicht mit dem Verkaufspreis<br />

identisch ist) unmissverständlich, klar erkennbar<br />

und gut leserlich anbringen. Der Preis je<br />

Maßeinheit ist auch in der Werbung (Anzeigen, Prospekte)<br />

anzugeben.<br />

Werden Erzeugnisse in losem Zustand angeboten<br />

und erst beim Verkauf abgewogen, muss der Preis je<br />

Maßeinheit angegeben sein. Die Pflicht zur Preisangabe<br />

gilt nicht für Erzeugnisse, die in Verbindung<br />

mit einer Dienstleistung geliefert werden, auch nicht<br />

bei Versteigerungen und bei Verkäufen von Kunstgegenständen<br />

und Antiquitäten. Die Mitgliedstaaten<br />

können zusätzlich Erzeugnisse von der Auszeichnungspflicht<br />

ausnehmen, bei denen eine solche Angabenichtsinnvollwäre.GrundlagefürdiePreisauszeichnung<br />

ist die Richtlinie 98/6 (ABl. L 80/1998);<br />

sie hebt die früheren Richtlinien 79/581 und 88/314<br />

zur Preisauszeichnung auf.<br />

Preisstabilität �Geldpolitik, europäische<br />

Pre-Lex ist eine Datenbank der Kommission, die<br />

Auskunft gibt über die einzelnen Etappen aller gemeinschaftlichen<br />

Gesetze vom Vorschlag der KommissionbiszurUnterzeichnungdurchParlamentund<br />

Rat, über den aktuellen Stand laufender Gesetzgebungsprozesse,<br />

über Entscheidungen der Institutionen,<br />

die Namen der beteiligten Personen und der verantwortlichen<br />

Dienste. Pre-Lex enthält Informationen<br />

ab 1976 und wird täglich aktualisiert.<br />

Internet: http://europa.eu.int/prelex/apcnet.cfm?CL=de<br />

Primärrecht �Gemeinschaftsrecht<br />

Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung<br />

PRINCE. Ein Informationsprogramm der Kommission<br />

zur Information der Bürgerinnen und Bürger<br />

über die Erweiterung der EU 2004, mit einem Budget<br />

von 14 Mio. Euro. Gefördert wurden Informationsund<br />

Kommunikationsaktionen (auch der �Zivilgesellschaft)fürbestimmteBevölkerungsgruppen.Die<br />

Ausschreibungumfassteerstmalsalle10Staaten,die<br />

am 1. 5. 2004 der EU beigetreten sind. Die Antragsfrist<br />

lief am 30. 9. 2004 ab, die geförderten Projekte<br />

müssen bis Ende Mai 2006 abgeschlossen sein.<br />

Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung.Da<br />

die EU mit den Gemeinschaften keinen souveränen<br />

Staat bildet, sondern einen (bloßen) Integrationsverbund,<br />

besitzt sie keine Allzuständigkeit und auch<br />

keine „Kompetenz-Kompetenz“, d. h. sie kann nicht<br />

verbindlich über die eigene Zuständigkeit entscheiden.<br />

Zum Erlass des sekundären �Gemeinschaftsrechts<br />

bedürfen die europäischen Rechtsetzungsorgane<br />

so immer einer ausdrücklichen Kompetenzzuweisung<br />

in den Verträgen. Diese beschränkte Verbandskompetenz,<br />

die als Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung<br />

bezeichnet wird, findet sich an verschiedenen<br />

Stellen in den Verträgen (vgl. Art. 5 EUV<br />

oder 5 EGV; vgl. auch �Subsidiarität, �Politikbereiche).<br />

Der EuGH legt die beschränkten Kompetenznormen<br />

oftmals jedoch nach dem Grundsatz des �effet<br />

utile, d. h. der praktischen Wirksamkeit teleologisch<br />

mit dem Ziel aus, alle denkbaren Gemeinschaftsbefugnisse<br />

voll auszuschöpfen. Um einem<br />

auf diese Weise durch die Hintertür eingeführten<br />

Prinzip der „unbegrenzten“ Einzelermächtigung<br />

vorzubeugen, hatte sich das Bundesverfassungsgericht<br />

in seinem �Maastricht-Urteil ein (allerdings<br />

bislang recht theoretisches) Prüfungsrecht vorbehalten,<br />

„ob Rechtsakte der europäischen (...) Organe<br />

sichindenGrenzenderihneneingeräumtenHoheitsrechte<br />

halten oder aus ihnen ausbrechen“. Zudem<br />

prüft auch der EuGH diesen Umstand, wie etwa sein<br />

Tabakwerbung-Urteil (Rs. C-376/98) zeigt.<br />

Das Gemeinschaftsrecht kennt allerdings auch Generalermächtigungen<br />

(wie derzeit insbes. die Kompetenzergänzungs-<br />

bzw. Rechtsangleichungsnormen<br />

der Art. 308, 94 und 95 EG und künftig möglicherweise<br />

in Art. I-18 VVE 2004). Die Nutzung dieser„catch-all-clauses“darfjedochnichtzurAushöhlung<br />

des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung,sondernlediglichzur„Kompetenzabrundung“<br />

genutzt werden und ist immer nur im Rahmen der<br />

615


Prinzip der gegenseitigen Anerkennung<br />

Vertragsziele zulässig. Abgerundet werden die geschriebenen<br />

Ermächtigungsnormen schließlich<br />

noch durch die �„implied powers“, d. h. durch ungeschriebene<br />

Zuständigkeiten kraft Sachzusammenhangs.<br />

Als Beispiel kann die �VertragsschlusskompetenzderEuropäischenGemeinschaftgenanntwerden.<br />

Besteht für den Integrationsverbund weder eine geschriebene<br />

noch eine ungeschriebene Zuständigkeit,<br />

liegt die Kompetenz bei den Mitgliedstaaten. Der<br />

Verfassungsvertrag 2004 bekräftigt im Zusammenhang<br />

mit seinem neuen Kompetenzkatalog noch einmal<br />

das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung<br />

(Art.I-11Abs.1u.2). J. M. B.<br />

Prinzip der gegenseitigen Anerkennung. Das<br />

Prinzip der gegenseitigen Anerkennung wurde im<br />

Bereich des freien Warenverkehrs aufgrund der berühmten<br />

�Cassis de Dijon-Rechtsprechung des Europäischen<br />

Gerichtshofes (Urteil vom 20. 2. 1979 –<br />

Rs.C-120/78)entwickelt.Trotzzahlreichereuropäischer<br />

Richtlinien zur Angleichung der nationalen<br />

Rechte (�Harmonisierung) bezüglich der Zusammensetzung,<br />

Qualität, der Abmessungen und der<br />

Kennzeichnung von Waren, die den freien Verkehr<br />

einer bestimmten Warenart gewährleisten, bestehen<br />

und entstehen immer wieder neu Lücken, in denen<br />

die Mitgliedstaaten für die betreffenden Waren eigene<br />

Regeln aufstellen. Wie einzelstaatliche Vorschriften<br />

anzuwenden sind, richtet sich u. a. nach<br />

dem Grundsatz des �freien Warenverkehrs, der in<br />

den Art. 28 und 30 EGV (Art. III-153 und III-155<br />

VVE 2004) verankert ist. Gegenseitige Anerkennung<br />

bedeutet, dass der Bestimmungsmitgliedstaat<br />

die Vermarktung einer Ware, die in einem anderen<br />

Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellt und/oder auf<br />

den Markt gebracht wurde, zulassen muss, es sei<br />

denn, zum Schutz des Verbrauchers, der Umwelt<br />

oder anderer öffentlicher Interessen wären strengere<br />

innerstaatliche Regelungen erforderlich. Insbesondere<br />

bei technisch komplizierten Waren oder in gesundheitlich<br />

sensiblen Bereichen bestehen die Mitgliedstaaten<br />

darauf, dass ihre – oft ausführlichen und<br />

meist auf nationalen Traditionen beruhenden – Vorschriften<br />

eingehalten werden, auch wenn die eingeführte<br />

Ware vollkommen sicher ist und die erforderliche<br />

Qualität aufweist. Oft gibt es hierfür allerdings<br />

keine anerkennenswerten Gründe, wie der EuGH in<br />

Hunderten von Rechtsfällen herausgearbeitet hat.<br />

616<br />

Herausragende Beispiele sind hier das Reinheitsgebot<br />

für Bier, der Alkoholgehalt von Likören und Genever,<br />

die Verpackungsform von Margarine.<br />

Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung besagt<br />

nun,dassinallenBereichen,dienichtGegenstandeinerHarmonisierungsmaßnahmeaufGemeinschaftsebene<br />

waren oder durch Maßnahmen der Mindestharmonisierung<br />

abgedeckt sind, jeder Mitgliedstaat<br />

verpflichtet ist, Produkte in seinem Hoheitsgebiet zu<br />

akzeptieren,dielegalineinemanderenMitgliedstaat<br />

der Gemeinschaft hergestellt und vermarktet werden.<br />

Er kann von dieser Regel nur unter genau festgelegten<br />

Bedingungen abweichen, wenn zwingende<br />

Erfordernisse des Allgemeininteresses wie Gesundheit,<br />

Verbraucherschutz oder Schutz der Umwelt bestehen.<br />

In jedem Fall müssen die getroffenen Maßnahmen<br />

den Grundsätzen der Notwendigkeit und<br />

Verhältnismäßigkeit entsprechen.<br />

In den vergangenen Jahren hat es eine Reihe von<br />

Maßnahmen gegeben, die insbes. die Durchsetzung<br />

des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung im freien<br />

Warenverkehr zum Inhalt hatte. In ihrem am 1997<br />

angenommenen „Aktionsplan für den Binnenmarkt“<br />

erkannte die Kommission, dass die Anwendung des<br />

Prinzips der gegenseitigen Anerkennung eine der für<br />

das Funktionieren des Binnenmarktes notwendige<br />

Maßnahme ist.<br />

1999 erließ die Kommission eine Mitteilung über die<br />

Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung,<br />

in der sie eine detaillierte Analyse der von<br />

ihr in den zurückliegenden Jahren behandelten Fälle<br />

zugrunde legte, in denen das Prinzip der gegenseitigen<br />

Anerkennung inkorrekt angewendet wurde. Auf<br />

der Grundlage dieser Mitteilung hat der Rat eine Entschließung<br />

zur gegenseitigen Anerkennung angenommen<br />

(ABl. C 141/2000).<br />

Alle zwei Jahre erstattet die Kommission Zweijahresberichte<br />

über die Anwendung des Prinzips der gegenseitigen<br />

Anerkennung, die sich auf Studien zu<br />

einzelnen Sektoren wie Bauprodukte, Nahrungsmittelkonserven,<br />

Autobusse, Babyartikel usw. stützen.<br />

Auch sektorielle Gespräche am Runden Tisch bezüglich<br />

des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung<br />

dienen dazu, Hindernisse des freien Warenverkehrs<br />

in Bereichen, in denen noch keine Harmonisierung<br />

erfolgt ist, besser zu erkennen, die damit verbundenen<br />

Schwierigkeiten herauszustellen und Lösungsansätze<br />

aufzuzeigen.<br />

Als Resümee der Erfahrungen hat die Europäische


Kommission im November 2003 eine Mitteilung zur<br />

Erläuterung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung<br />

veröffentlicht (ABl. C 265/2003). Die<br />

Mitteilung ist ein praktischer Leitfaden für die Bereiche,<br />

in denen keine „harmonisierten“ Bestimmungen<br />

existieren, die den freien Warenverkehr innerhalb<br />

der EU sicherstellen. Neben der Betonung der<br />

EuGH-Rechtsprechungsgrundsätze enthält sie erläuternde<br />

Ausführungen zur Beweislast und fasst die<br />

Möglichkeiten zusammen, wann und wie der freie<br />

Warenverkehr gemeinschaftsrechtskonform beschränkt<br />

werden kann. Diese Mitteilung ist eine Folgemaßnahme<br />

zum Zweiten Zweijahresbericht über<br />

die Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung<br />

im Binnenmarkt, der zu der Schlussfolgerung<br />

gelangt war, dass dessen Anwendung noch sehr<br />

lückenhaft sei.<br />

Auch im Bereich der �Freizügigkeit setzte sich im<br />

Rahmen des Binnenmarkt-Programms die Erkenntnis<br />

durch, dass durch eine europaweite Harmonisierung<br />

der reglementierten Berufe, insbes. der akademischen<br />

Abschlüsse, ein einheitlicher Wirtschaftsraum<br />

nicht zu schaffen ist: Während in Jahrzehnten<br />

die Voraussetzungen für einige Berufe im Gesundheitsbereich<br />

harmonisiert wurden, waren bereits<br />

eine Vielzahl neuer Berufsfelder entstanden. So erließ<br />

der Rat im Jahre 1988 die Richtlinie 89/48 über<br />

eine allgemeine Regelung zur Anerkennung der<br />

Hochschuldiplome (ABl. L 19/1989). Diese stellt<br />

den Grundsatz auf, dass ein Mitgliedstaat, der einen<br />

Beruf reglementiert, die in einem anderen Mitgliedstaat<br />

erworbenen Qualifikationen anerkennen und<br />

dem Diplominhaber erlauben muss, seine Tätigkeit(en)<br />

auf seinem Hoheitsgebiet unter denselben<br />

Voraussetzungen wie die Inländer auszuüben. GenerellgiltdabeiderGrundsatzderautomatischenAnerkennung<br />

durch den Aufnahmestaat. Nur in Ausnahmefällen<br />

kann der Aufnahmestaat einen Anpassungslehrgang<br />

oder eine Eignungsprüfung zur Voraussetzung<br />

für die Anerkennung machen, wenn er<br />

wesentliche Unterschiede zwischen der geforderten<br />

und der tatsächlichen Ausbildung nachweist. Der<br />

Antragsteller hat die Wahl zwischen den beiden<br />

Möglichkeiten des Ausgleichs. Bei RechtspflegeberufenistdieWahldemAufnahmestaatvorbehalten.<br />

Diese Richtlinie wurde geändert durch die Richtlinie<br />

2001/19 (ABl. L 206/2001), die weitere Erleichterungen<br />

für den Antragsteller wie die Anerkennung<br />

praktischer Tätigkeiten oder von Ausbildungsab-<br />

Prinzip der gegenseitigen Anerkennung<br />

schnitten, die in einem Drittland abgeleistet wurden,<br />

vorsieht.<br />

Ergänzt wurde die Regelung durch die Richtlinie<br />

92/51 zur Anerkennung beruflicher Befähigungsnachweise<br />

durch ein Kurzstudium (ABl. L 209/<br />

1992). Diese dehnt die Regelungen der o. a. Richtlinie<br />

auch auf Abschlüsse von Fachhochschulen und<br />

ähnlichen Einrichtungen aus.<br />

Eine weitere Richtlinie 1999/42 (ABl. L 201/1999)<br />

regelt die Anerkennung von Berufsabschlüssen in<br />

bestimmten Bereichen wie der Textil-, der Bekleidungs-,<br />

der Leder-, der Holzindustrie. Sie gilt also<br />

nur für bestimmte, eigens aufgeführte Tätigkeiten,<br />

sieht hierfür allerdings auch den Grundsatz der gegenseitigen<br />

Anerkennung vor. Wegen der enormen<br />

Unterschiede in den Ausbildungsordnungen dieser<br />

Berufe gibt es keine generelle Anerkennung, wohl<br />

aber eine Pflicht des Aufnahmestaats, die Vergleichbarkeit<br />

der im Ausland abgelegten Ausbildung zu<br />

überprüfen. Werden Unterschiede festgestellt, kann<br />

der Antragsteller ebenfalls durch Anpassungslehrgang<br />

oder Eignungsprüfung seine Fähigkeiten nachweisen.<br />

Derzeit wird in den europäischen Institutionen über<br />

einenRichtlinienvorschlagderKommissionüberdie<br />

Anerkennung von Berufsqualifikationen debattiert<br />

(KOM 2002/119 endg., ABl. C 181E/2002, geändert<br />

durch KOM 2004/317 endg.), durch die die bisher<br />

bestehenden Richtlinien zusammengefasst und ein<br />

einheitlicher Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung<br />

für alle Berufsabschlüsse eingeführt werden<br />

soll,umsoeinenoffenen,flexiblenunddynamischen<br />

Arbeitsmarkt in der EU zu schaffen. Dabei wird eine<br />

abgestufte Anerkennung eingeführt: Wer nur vorübergehend<br />

eine Dienstleistung erbringen will, dessen<br />

Qualifikation wird dann automatisch anerkannt,<br />

wennerzweiJahrelangdenBerufimjeweiligenHeimatland<br />

ausgeübt hat. Für Arbeitnehmer, die dauerhaft<br />

in einem anderen EU-Land tätig werden wollen,<br />

gelten höhere Hürden: Hier unterscheidet das neue<br />

Gesetz fünf Qualifikationsniveaus – vom Angelernten<br />

bis zum Hochschulabsolventen. Bei den neuen<br />

Regeln gelten etliche Ausnahmen: Für Notare, Anwälte<br />

oder auch Ärzte sollen Mindeststandards gelten,<br />

die zum Schutz des Verbrauchers notwendig<br />

sind, auch Dienstleistungen in Behörden bleiben<br />

ausgenommen.<br />

Bei Redaktionsschluss war die Richtlinie noch nicht<br />

verabschiedet; das Europäische Parlament hat ihr in<br />

617


Privatrecht<br />

seiner Sitzung vom 11. 5. 2005 grundsätzlich zugestimmt.<br />

M. K.<br />

Privatrecht, Europäisches. Lange Zeit wurde der<br />

Begriff <strong>Europa</strong>recht nahezu ausschließlich dem öffentlichen<br />

Recht zugeordnet. Spätestens seit Beginn<br />

der 1980er Jahre erfährt jedoch auch das Privatrecht<br />

der EU-Mitgliedstaaten ein zunehmende Durchdringung<br />

durch das europäische �Gemeinschaftsrecht.<br />

Die Zersplitterung der EG in – mittlerweile – 25 unterschiedliche<br />

Privatrechtsordnungen hat sich in der<br />

Praxis als ein erhebliches Hindernis für die Verwirklichung<br />

des �Binnenmarkts erwiesen, die damit verbundenen<br />

Rechtsberatungskosten sind gerade für<br />

kleine und mittlere Unternehmen (�KMU) unverhältnismäßig.<br />

Die Kommission strebt daher die<br />

Schaffung eines Gemeinsamen Referenzrahmens<br />

(GRR) für das �Europäische Vertragsrecht an.<br />

Eine einheitliche Definition für den Begriff des „Europäischen<br />

Privatrechts“ hat sich noch nicht herausgebildet.<br />

In der Vergangenheit wurde mit dem Begriff<br />

des Europäischen Privatrechts zumeist noch die<br />

Gesamtheit der Privatrechtsordnungen der Mitgliedstaaten<br />

der Europäischen Gemeinschaften, teilweise<br />

auch diejenige der Mitgliedstaaten des �<strong>Europa</strong>rates<br />

bezeichnet. Seitdem jedoch das innerstaatliche PrivatrechtimmerstärkervondereuropäischenIntegration<br />

erfasst wird, wird der Begriff des Europäischen<br />

Privatrechts – im Gegensatz zu den originär mitgliedstaatlichen<br />

Normen – auf die Gesamtheit derjenigen<br />

Regelungen bezogen, die ihren Ursprung in<br />

völkerrechtlichen Abkommen der europäischen<br />

Staaten haben bzw. auf Initiativen der Europäischen<br />

Gemeinschaften beruhen und darauf abzielen, die<br />

nationalen Privatrechtsordnungen einander anzugleichen,<br />

zumindest aber deren gegenseitige Kompatibilität<br />

zu verbessern. Der Begriff des Europäischen<br />

Privatrechts erstreckt sich dabei sowohl auf<br />

Vorschriften des materiellen Privatrechts als auch<br />

auf das – internationale – Prozessrecht.<br />

Bereits der <strong>Europa</strong>rat hatte sich zugunsten einer Harmonisierung<br />

privatrechtlicher Regelungen eingesetzt.<br />

Seine Bemühungen blieben aber punktuell. Zu<br />

den bekanntesten Beispielen zählen<br />

– das Übereinkommen über die Haftung der Gastwirte<br />

für die von ihren Gästen eingebrachten Sachen<br />

vom 17.12.1962 oder<br />

– das Abkommen über Berechnung von Fristen vom<br />

6. 5. 1974.<br />

618<br />

Daneben hat sich der <strong>Europa</strong>rat vor allem im Bereich<br />

des Familienrechts engagiert (vgl. die umfassenden<br />

Übersichten unter http://conventions.coe.int/Treaty).<br />

Der größte europäische Einfluss auf das nationale<br />

Privatrecht der EU-Mitgliedstaaten geht jedoch von<br />

den Europäischen Gemeinschaften aus. Die wirtschaftliche<br />

Integration erforderte und erfordert als<br />

zwingende Begleiterscheinung eine Anpassung der<br />

verschiedensten zivilrechtlichen und prozessualen<br />

Bestimmungen auch in solchen Bereichen, in denen<br />

zunächstnochkeineKompetenzenderEuropäischen<br />

Gemeinschaft bestanden. Daher erfolgte diese Abstimmung<br />

zunächst überwiegend im Rahmen völkerrechtlicher<br />

Abkommen der EU-Mitgliedstaaten<br />

untereinander und ggf. mit Drittstaaten. Selbst wenn<br />

diese Abkommen zum überwiegenden Teil nicht<br />

dem Gemeinschaftsrecht im eigentlichen Sinne zuzuordnen<br />

sind, stehen sie jedoch in unmittelbarem<br />

Zusammenhang mit dem Europäischem Gemeinschaftsrecht<br />

und räumen teilweise dem �EuGH<br />

Kompetenzen zur vertragsautonomen Auslegung ihrer<br />

Bestimmungen ein wie z. B.<br />

– das Römische EWG-Übereinkommen über das auf<br />

vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende<br />

Recht vom 19. 6. 1980 mit Zusatzprotokollen,<br />

– das Brüsseler EWG-Übereinkommen über die gerichtliche<br />

Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher<br />

Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen<br />

vom 27. 9. 1968 i. d. F. vom 25. 10. 1982 (EuZ-<br />

VÜ), jetzt ersetzt durch die Verordnung 44/2001<br />

überdiegerichtlicheZuständigkeitunddieAnerkennung<br />

und Vollstreckung von gerichtlichen Entscheidungen<br />

in Zivil- und Handelssachen, ABl. L 12/<br />

2001),<br />

– das Luxemburger Protokoll vom 3. 6. 1971 betreffend<br />

die Auslegung des Brüsseler EWG-Übereinkommens<br />

vom 27. 9. 1968 durch den Europäischen<br />

Gerichtshof,<br />

– das Luganer Abkommen über die gerichtliche Zuständigkeit<br />

und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen<br />

in Zivil- und Handelssachen vom 16. 9.<br />

1988,<br />

– das Pariser Abkommen über die Haftung gegenüberDrittenaufdemGebietderKernenergievom29.<br />

7. 1960.<br />

Den eigentlichen Kern des „Europäischen Privatrechts“<br />

machen jedoch �Verordnungen, vor allem<br />

die �Richtlinien des Europäischen Gemeinschafts-


echts zum Privatrecht aus. Diese greifen teilweise<br />

tief in die heterogenen Zivilrechtstraditionen der<br />

Mitgliedstaaten ein. Mitunter beruhen sie auf nationalen<br />

Regelungen, die mit der dogmatischen Struktur<br />

des Zivilrechts anderer EU-Mitgliedstaaten nur<br />

schwer zu vereinen sind (z. B. im Rahmen des Verbraucherschutzrechts),<br />

was z. B. im deutschen BGB<br />

zu Systembrüchen geführt hat und mitursächlich für<br />

die deutsche Schuldrechtsreform war. De facto hat<br />

dies zu einer dualen Struktur geführt, in der das früher<br />

allein nationale Privatrecht der EU-Mitgliedstaaten<br />

durch abgeleitetes Gemeinschaftsrecht immer<br />

stärker überlagert und durchdrungen wird. Für<br />

den Rechtsanwender bedeutet dies insbes., dass Normen<br />

nicht nur in ihrem nationalen Kontext, sondern<br />

auch im europäischen Zusammenhang auszulegen<br />

sind (richtlinienkonforme �Auslegung des Gemeinschaftsrechts):<br />

Unter den möglichen Interpretationen<br />

einer Norm des mitgliedstaatlichen Rechts ist<br />

also derjenigen der Vorzug zu geben, die zugleich<br />

dem Inhalt und den Zielsetzungen der Richtlinie –<br />

unter der Berücksichtigung der hierzu im Wege des<br />

�Vorabentscheidungsverfahrens gem. Art. 234 EG<br />

ergangenen Rechtsprechung des EuGH – am besten<br />

entspricht. Als wichtige Beispiele für die europäische<br />

Privatrechtsintegration durch Richtlinien im<br />

BereichdesallgemeinenZivilrechtsseiengenannt:<br />

– die RL vom 25. 7. 1985 zur Angleichung der<br />

Rechts- und Verwaltungvorschriften der Mitgliedstaaten<br />

über die Haftung für fehlerhafte Produkte<br />

(ProdukthaftungsRL), ABl. L 210/1985,<br />

– die RL vom 20. 12. 1985 betreffend den Verbraucherschutz<br />

im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen<br />

geschlossenen Verträgen (HaustürwiderrufsRL),<br />

ABl. L 372/1985,<br />

– die RL vom 22. 12. 1986 zur Koordinierung der<br />

Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den<br />

Verbraucherkredit (VerbraucherkreditRL), ABl. L<br />

42/1987,<br />

– die RL vom 13. 6. 1990 über Pauschalreisen (PauschalreiseRL),<br />

ABl. L 158/1990,<br />

– die RL vom 5. 4. 1993 über missbräuchliche Klauseln<br />

in Verbraucherverträgen (AGB-Richtlinie),<br />

ABl. L 95/1993,<br />

– die RL vom 26. 10. 1994 zum Schutz der Erwerber<br />

von Teilzeitnutzungsrechten an Immobilien (Teilzeitwohnrechte-Richtlinie),<br />

ABl. L 280/1994,<br />

– die RL vom 27. 1. 1997 über grenzüberschreitende<br />

Überweisungen, ABl. L 43/1997,<br />

Privatrecht<br />

– die RL vom 20. 5. 1997 über den VerbraucherschutzbeiVertragsabschlüssenimFernabsatz(FernabsatzRL),<br />

ABl. L 144/1997,<br />

– die RL vom 25. 5. 1999 zum Verbrauchsgüterkauf<br />

(VerbrauchsgüterkaufRL), ABl. L 171/1999,<br />

– die RL über den elektronischen Geschäftsverkehr<br />

vom8.6.2000(E-Commerce-RL),ABl.L178/2000,<br />

– die RL vom 29. 6. 2000 zur Bekämpfung des Zahlungsverzug,<br />

ABl. L 200/2000.<br />

Als Beispiele im Bereich des Arbeitsrechts seien genannt:<br />

– die RL vom 9. 12. 1976 zur Verwirklichung des<br />

Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern<br />

und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung,<br />

zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg<br />

sowie in bezug auf die Arbeitsbedingungen<br />

(GleichbehandlungsRL), ABl. L 39/1976,<br />

– die RL vom 14. 2. 1977 zur Angleichung der<br />

Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die<br />

Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim<br />

Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen,(BetriebsübergangRL)Abl.L61/1977.<br />

Daneben hat die Europäische Gemeinschaft zahlreiche<br />

weitere dem Privatrechtsbereich zuzuordnende<br />

Richtlinien in Bereichen wie z. B. dem �Gesellschaftsrecht<br />

oder dem Kapitalmarktrecht erlassen<br />

(Europäisches �Wirtschaftsrecht).<br />

Das Europäische Parlament hat sich darüber hinaus<br />

bereits für ein „Europäisches Zivilgesetzbuch“ ausgesprochen<br />

(Entschließung vom 26. 5. 1989, ABl. C<br />

158/1989 und vom 6. 5. 1994, ABl. C 205/1994).<br />

Dieses Vorhaben dürfte jedoch auf absehbare Zeit<br />

kaum realisiert werden. Denn bislang beinhaltet der<br />

EGV keine hinreichende Kompetenznorm für ein<br />

solches Vorhaben – und der EuGH zeigt überdies<br />

eine Tendenz, die Frage, ob eine Gemeinschaftskompetenz<br />

gegeben ist, an einem strengeren<br />

Maßstab zu prüfen (Europäisches �Vertragsrecht).<br />

Bisherige Gemeinschaftsnormen auf dem Gebiet des<br />

Europäischen Privatrechts konnten überwiegend auf<br />

den Binnenmarktartikel Art. 95 EGV und die<br />

„Rechtsangleichungs-Grundnorm“ Art. 94 EGV gestützt<br />

werden, daneben ist hinsichtlich der justitiellen<br />

Zusammenarbeit in Zivilsachen insbes. der mit<br />

demVertragvonAmsterdamneugeschaffeneArt.65<br />

EGV zu nennen. Einschränkend wirken demgegenüber<br />

das in Art. 5 EGV normierte �Subsidiaritätsprinzip<br />

und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.<br />

Letzteres bedeutet, dass der Gemeinschaftsgesetz-<br />

619


Privilegierte Partnerschaft<br />

geber auch im Bereich des Europäischen Privatrechts<br />

stets zu prüfen gehalten ist, ob anstatt einer<br />

Harmonisierung zivilrechtlicher Normen z. B. lediglich<br />

eine Richtlinie über deren gegenseitige Anerkennung<br />

als eine ebenso wirksame, aber weniger in<br />

die Rechte der Mitgliedstaaten einschneidende Lösung<br />

vorzuziehen ist.<br />

Europäische Richtlinien auf dem Gebiet des Privatrechts<br />

unterscheiden sich in ihren Rechtsfolgen von<br />

anderen Gemeinschaftsrichtlinien insofern, als ihnen<br />

auch dann, wenn sie inhaltlich unbedingt und<br />

hinreichend genau sind, bei verspäteter oder fehlerhafter<br />

Umsetzung durch einen Mitgliedstaat keine<br />

�unmittelbare Wirkung im Verhältnis Bürger – Bürger<br />

entfalten. Das heißt, ohne Tätigwerden des nationalen<br />

Gesetzgebers können EG-Richtlinien grundsätzlich<br />

keine unmittelbaren Verpflichtungen zu<br />

Lasten Privater herbeiführen (EuGH, Urteil vom 26.<br />

2. 1986, Marshall I, Slg. 1986, S. 723; Urteil vom 14.<br />

7. 1994, Faccini Dori, Slg. 1994, I-3325). Allerdings<br />

kann die verspätete oder unvollständige Umsetzung<br />

von Richtlinien Haftungsansprüche des Bürgers gegen<br />

den Mitgliedstaat auslösen, der seine Umsetzungspflichten<br />

verletzt hat (EuGH, Urteil vom 19.<br />

11. 1991, Francovich, Slg. 1991, I-5357; Urteil vom<br />

8. 10. 1996, Dillenkofer, Slg. 1996, I-4848 zur Pauschalreiserichtlinie;<br />

als Folge musste der Bund an<br />

zahlreiche Betroffene Ersatz in Höhe von insgesamt<br />

rund10Mio.Euroleisten). S. W.<br />

Literatur:<br />

Europäische Kommission: Mitteilung an das Europäische<br />

Parlament und den Rat, Europäisches Vertragsrecht und<br />

Überarbeitung des gemeinschaftlichen Besitzstands – weiteres<br />

Vorgehen vom 11. 10. 2004 ( KOM(2004) 651 endg.)<br />

Schulze, R./Zimmermann, R. (Hg.): Basistexte zum<br />

Europäischen Privatrecht. Baden-Baden 2002 2<br />

Möllers, Th. M. J.: Europäische Richtlinien zum Europäischen<br />

Recht. JZ 2002, 121<br />

Privilegierte Partnerschaft. Im Zusammenhang<br />

mit den Vorbereitungen von Verhandlungen der EU<br />

mit der Türkei über deren Beitritt wurde statt einer<br />

Vollmitgliedschaft auch eine Privilegierte Partnerschaft<br />

als mögliches Ergebnis ins Gespräch gebracht.<br />

Politiker und Abgeordnete europäischer Parteien,dieineinemBeitrittderTürkeieineÜberforderung<br />

der EU mit der Gefahr einer Rückentwicklung<br />

zur Freihandelszone sehen oder die den Beitritt eines<br />

Staats, dessen Territorium überwiegend nicht in <strong>Europa</strong><br />

liegt und deren Bevölkerung zu mehr als 90 %<br />

islamischen Glaubens ist, grundsätzlich ablehnen,<br />

620<br />

sehen eine Privilegierte Partnerschaft als wünschenswerte<br />

Alternative zur EU-Mitgliedschaft.<br />

Was unter Privilegierter Partnerschaft zu verstehen<br />

ist, hat u. a. das Präsidium der CDU in einem Beschluss<br />

vom 7. 3. 2004 näher ausgeführt:<br />

„Die ‚Privilegierte Partnerschaft‘ geht weit über die<br />

zwischen der EU und der Türkei eingegangene Zollunion<br />

hinaus: So könnte eine alle Gütergruppen umfassende<br />

Freihandelszone geschaffen werden. Weiterhin<br />

könnte die Zusammenarbeit vertieft werden –<br />

insbes. zur Stärkung der Zivilgesellschaft, des Umweltschutzes,zurFörderungvonKleinenundMittleren<br />

Unternehmen, im Gesundheits- sowie im Bildungsbereich.<br />

Zudem könnte die Türkei verstärkt in<br />

die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und<br />

in die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik<br />

einbezogen werden. Schließlich könnte zur<br />

Bekämpfung von Terrorismus, Extremismus und<br />

Organisiertem Verbrechen die Zusammenarbeit der<br />

Behörden und Institutionen im Innen- und Justizbereich<br />

sowie der Geheimdienste deutlich intensiviert<br />

werden.“<br />

Die türkische Regierung hat eine Privilegierte Partnerschaft<br />

statt einer Vollmitgliedschaft bisher strikt<br />

abgelehnt.<br />

Privilegierte Partnerschaft wird von Politikern der<br />

EU auch als Möglichkeit einer Zusammenarbeit mit<br />

anderen Staaten angesehen, u. a. mit der Ukraine und<br />

mit Russland.<br />

PROMISE-Arbeitsprogramm �eEurope<br />

Protektionismus<br />

1. Begriff: Für die internationalen Wirtschaftsbeziehungen<br />

sind von jeher zwei einander entgegengesetzte<br />

Ordnungsprinzipien wirksam: Freihandel und<br />

Protektionismus. Die gegenwärtigen Auseinandersetzungen<br />

um die Neuordnung der Weltwirtschaft<br />

(�GATT, �WTO) sind durch das Spannungsfeld<br />

zwischen diesen beiden Prinzipien gekennzeichnet.<br />

Freihandel strebt von staatlichen Eingriffen freie<br />

zwischenstaatliche Austauschbeziehungen an. Der<br />

Handels- und Zahlungsverkehr wird ausschließlich<br />

vondenMechanismendesMarktes(vorallem:Preisbildung<br />

durch Angebot und Nachfrage) bestimmt.<br />

ProtektionismusistdieBezeichnungfüreineAußenhandelspolitik,<br />

bei der der Staat die inländischen<br />

Produzenten vor ausländischen Konkurrenten<br />

schützt, indem er Ausfuhren begünstigt (z. B. durch


Subventionen, Steuerbegünstigungen, Beihilfen<br />

usw.) und Einfuhren erschwert (z. B. durch Zölle,<br />

Verbote,Kontingentebzw.Mengenbeschränkungen<br />

usw.).<br />

In der Vergangenheit wurden Einfuhrbeschränkungen<br />

zum Schutz der eigenen Wirtschaft durch Zölle<br />

(engl.: tariffs) getroffen. Mit dem allgemeinen Zollabbau<br />

nach dem Zweiten Weltkrieg (�GATT) haben<br />

sie jedoch an Bedeutung verloren. An ihre Stelle sind<br />

mehr und mehr sog. nichttarifäre Handelshemmnisse<br />

getreten. Nichttarifäre (d. h. außerhalb des Zolltarifs<br />

liegende) Handelshemmnisse sind z. B. Kontingente,<br />

Subventionen, Selbstbeschränkungen, besondere<br />

Normen oder Sicherheitsbestimmungen, Verwaltungsvorschriften,<br />

Vorschriften des Lebensmittelrechts<br />

usw. Die Ausweitung nichttarifärer Handelshemmnisse<br />

erklärt sich aus den Interessen betroffener<br />

Wirtschaftssubjekte: Inländische Unternehmen,<br />

die darin beschäftigten Arbeitnehmer, nationale<br />

Zulieferbetriebe und auch die Gemeinden, in<br />

denen die Unternehmen ansässig sind, haben ein<br />

starkes Interesse an einem besonderen Schutz vor<br />

ausländischerKonkurrenz.DagegenhabenVerbraucher<br />

und Unternehmen, die entsprechende Vorprodukte<br />

aus dem Ausland beziehen, ein gegengerichtetes<br />

Interesse. Auch Exporteure und die bei ihnen BeschäftigtenhabeneinInteresseanoffenenMärkten.<br />

2. Zum Spannungsverhältnis von Freihandel und<br />

Protektionismus: Dem Streben eines Staates nach<br />

wirtschaftlicher Unabhängigkeit (Autarkie) steht<br />

der Verzicht auf die Vorteile der internationalen Arbeitsteilung<br />

(Nutzung absoluter und komparativer<br />

Kostenvorteile) gegenüber. Es müssen aber auch die<br />

Risiken des Freihandels gesehen werden: Gefährdung<br />

der Sicherheit der Arbeitsplätze, denn internationale<br />

Arbeitsteilung führt zu Veränderungen der<br />

Produktionsstruktur; die Sicherheit der Einnahmen<br />

ausExportenkannbeieinseitigerSpezialisierunggefährdet<br />

werden, weil damit eine starke Abhängigkeit<br />

von der Preisentwicklung auf internationalen Märktenverbundenist;GefährdungderVersorgungdurch<br />

den Verzicht auf einheimische Produktion lebenswichtiger<br />

Güter (z. B. landwirtschaftlicher Produkte).<br />

Deshalb besteht die Neigung, aus Sicherheitsgründen<br />

ein gewisses Maß an Autarkie durch Beschränkung<br />

oder Verbot von Einfuhren anzustreben.<br />

Wenn sich aber die heimische Wirtschaft gegen ausländische<br />

Konkurrenz durch protektionistische<br />

Maßnahmen abschirmt, sind auch damit Risiken ver-<br />

Protektionismus<br />

bunden: Andere Länder können zu Vergeltungsmaßnahmen<br />

(Handelskrieg, Strafzölle) schreiten; der<br />

Verbraucher muss die Unterstützung der heimischen<br />

WirtschaftmithöherenSteuernoderhöherenPreisen<br />

bezahlen; die Einnahmen der ausländischen Handelspartner<br />

aus ihren Exporten werden geschmälert<br />

und damit ebenso die Finanzmittel für Importe aus<br />

dem sich abschirmenden Land. Daraus ergibt sich<br />

ein latentes Spannungsverhältnis zwischen Liberalisierung<br />

und Protektionismus, dem auch die E(W)G<br />

seit ihrer Gründung ausgesetzt ist. Aufgabe der Außenhandelspolitik<br />

ist es daher, zwischen Sicherheit<br />

undUnabhängigkeiteinerseitsundNutzungderVorteile<br />

der internationalen Arbeitsteilung andererseits<br />

einen Kompromiss zu finden.<br />

3. Europäische Union und Protektionismus: Die EU<br />

hat mit der Errichtung des Binnenmarktes (Anfang<br />

1993) nach innen das Freihandelsprinzip (beinahe)<br />

uneingeschränkt verwirklicht. Einer der Wegbereiter<br />

war der berühmte Fall �„Cassis de Dijon“.<br />

Die Situation auf der Außenhandelsebene ist zwiespältig.<br />

Sowohl die Gemeinschaft als auch die Mitgliedstaaten<br />

haben im Rahmen der verschiedenen<br />

Abkommen des GATT wesentlich zum Abbau der<br />

Zölle beigetragen, so dass im Bereich der Industrieländer<br />

zollmäßig eine weitgehende Liberalisierung<br />

erreicht wurde. Jedoch hat sich in gleichem Zuge der<br />

Protektionismus sowohl bei der Abwehr von Importen<br />

als auch bei der Begünstigung von Exporten in<br />

Form nichttarifärer Handelshemmnisse ausgebreitet.<br />

Bei der Abwehr von Industriegüter-Importen<br />

sind vor allem freiwillige Mengenbeschränkungen<br />

üblich, in erster Linie mit Japan (Autos bis 1999), das<br />

seinen heimischen Markt gegen Einfuhren aus<br />

EU-Ländern abschottet. Bei der Begünstigung des<br />

Exports verschaffen EU-Staaten ihren Unternehmen<br />

z. T. erhebliche Wettbewerbsvorteile durch günstige<br />

Exportfinanzierungen (Zinserleichterungen, günstige<br />

Tilgungen, Exportversicherungen usw.) und Subventionen<br />

für strukturschwache Branchen (Kohlebergbau,<br />

Eisen- und Stahl-, Schiffbau- und Textilindustrie).<br />

Am ausgeprägtesten ist jedoch der Agrarprotektionismus<br />

der EU (�Gemeinsame Agrarpolitik), der<br />

insbes. den Entwicklungsländern schadet, indem er<br />

deren Exportchancen stark einengt. Ursprünglich<br />

zurStärkungderErnährungssicherheitundzurstrukturellen<br />

Anpassung der EWG-Landwirtschaft an die<br />

Wettbewerbsbedingungen des Weltmarktes ge-<br />

621


Protokolle<br />

dacht,hatderAgrarhaushaltderEG/EUsichzeitweiligfinanziellsoaufgebläht,dassnotwendigestrukturelle<br />

Veränderungen und Entwicklungen in anderen<br />

Bereichen (�Strukturpolitik, �Regionalpolitik) aus<br />

Mangel an Finanzmitteln nicht im erforderlichen<br />

Maßeangegangenwerdenkonnten.DieUrsachedieser<br />

Fehlentwicklung liegt darin, dass Erhaltungsund<br />

Umstrukturierungssubventionen (�Subventionen)wederzeitlichbefristetnochinzeitlicherStaffelung<br />

abgebaut worden sind. Protektionistische MaßnahmendieserArtsindnurzurechtfertigen,wennsie<br />

dazu beitragen, Strukturwandlungen zu unterstützen<br />

und zu beschleunigen bzw. als zeitlich begrenzte<br />

Schutzmaßnahmen (z. B. in Form von Schutzzöllen,<br />

Erziehungszöllen) neue Branchen bei ihrem Entwicklungsprozess<br />

abzuschirmen.<br />

Aus den negativen Erfahrungen hat die Gemeinschaft<br />

inzwischen Konsequenzen gezogen, indem<br />

sie im Rahmen der 1992 und in der �Agenda 2000<br />

verabschiedeten Agrarreformen ein neues Agrarpreissystem<br />

beschloss, das mit den Bestimmungen<br />

der WTO konform ist. Außerdem legen die<br />

Fonds-Verordnungen vom August 1993 (�Fonds der<br />

EU) fest, dass Subventionsbeschlüsse auf einer zeitlichen<br />

Befristung basieren müssen. Die schwierigen<br />

Verhandlungen zum Abbau des Protektionismus in<br />

der Uruguay-Runde des GATT, die insbes. den Abbau<br />

nichttarifärer Handelshemmnisse und die Liberalisierung<br />

des Agrarhandels zum Ziel hatte, haben<br />

zwar zu einem positiven Ergebnis geführt, dennoch<br />

bleiben gravierende Probleme ungelöst, insbes. für<br />

Entwicklungsländer. Sie fordern im Rahmen der Doha-Runde<br />

den Abbau von Handelsschranken, d. h.<br />

die Senkung hoher Zolltarife für verarbeitete Produkte<br />

aus ihren Ländern (Zolleskalation) und vor allem<br />

die endgültige Abschaffung aller Agrarsubventionen<br />

in den Industrieländern. Ein wichtiger Stein<br />

des Anstoßes für das Scheitern der Ministerkonferenz<br />

der WTO 2003 in Cancún war die Baumwollinitiative<br />

der west- und zentralafrikanischen Staaten<br />

Benin, Burkina Faso, Mali und Tschad. Sie forderten<br />

dieIndustrieländer,insbes.dieUSAauf,dieSubventionierung<br />

ihrer Baumwollfarmer abzubauen und bis<br />

zu ihrem endgültigen Auslaufen die afrikanischen<br />

Baumwollbauern zu „entschädigen“. Darüber hinaus<br />

fordern die Entwicklungsländer das Zugeständnis,<br />

einheimische Unternehmen befristet zu subventionieren<br />

(Erziehungszölle), um neue Industrien aufbauen<br />

zu können.<br />

622<br />

Ein versteckter, dennoch aber wichtiger Protektionsbefund<br />

ist u. a. auch der enorme EntwicklungsabstandzwischenIndustrie-undEntwicklungsländern,<br />

der aufgrund fehlender oder unzureichender VerhandlungskapazitätenunddamitfehlenderVerhandlungsmacht<br />

die Entwicklungsländer in eine Abseitsposition<br />

drängt. Die Realisierung freien internationalen<br />

Handels und freier Handelschancen setzt<br />

gleichwertige Partner voraus. Wenn die Industrieländer<br />

den Anspruch, die Doha-Runde zu einer Entwicklungsrunde<br />

werden zu lassen ernst nehmen,<br />

werdensienichtumhinkommen,denarmenLändern<br />

ein faires Angebot zur Stärkung ihrer Kapazitäten zu<br />

unterbreiten, das es ihnen erlaubt, messbare Entwicklungsfortschritte<br />

zu machen. Dazu zählen finanzielle,<br />

technische und personelle Unterstützung<br />

bei der Entwicklung handelnsfördernder Kapazitäten,<br />

schrittweiser Abbau von Agrarsubventionen sowie<br />

von Zöllen für weiterverarbeitete Industrie- und<br />

Agrargüter in den OECD-Ländern, Einräumung<br />

zeitlich befristeter Handelspräferenzen usw. Der<br />

Anfang 2001 von der EU gefasste Beschluss, den<br />

ärmsten Entwicklungsländern im Rahmen der<br />

„Everything but arms“-Initiative (�Außenhandelspolitik)<br />

für deren (Agrar-)Produkte quoten- und zollfreien<br />

Marktzugang zu gewähren, könnte wegweisendfüralleEntwicklungsländersein.<br />

K. E.<br />

Literatur:<br />

Großmann, H.: Einseitige Schutzmaßnahmen der EG<br />

gegenüber unfairen Handelspraktiken.<br />

In: Wirtschaftsdienst IX / 1993, S. 487–492<br />

E+Z (Entwicklung und Zusammenarbeit), Heft 8/9 2003, mit<br />

Beiträgen von H. Wieczorek-Zeul, R. Engels, K. Liebig u. a.<br />

Protokolle / Erklärungen (als Anhänge zu Verträgen)<br />

Protokolle, die dem EG-Vertrag im gegenseitigen<br />

Einvernehmen der Mitgliedstaaten beigefügt werden,<br />

sind nach Art. 311 EGV Bestandteil des Vertrags.<br />

Protokolle sind Nebenurkunden zum Vertrag<br />

und werden regelmäßig in den Schlussakten von Regierungskonferenzen<br />

aufgenommen. Da sie zum primären<br />

�Gemeinschaftsrecht gehören, gelten für sie<br />

grundsätzlichdieselbenAuslegungs-,AnwendungsundAbänderungsregelnwiefürdenVertragselbst.<br />

Die Protokolle zum EU-Vertrag sind ebenfalls Vertragsbestandteile,<br />

auch wenn der EUV keine dem<br />

Art. 311 EGV entsprechende Norm enthält. Denn<br />

nach Art. 2 Abs. 1 lit. a der �Wiener Vertragsrechtskonvention<br />

(WVRK) wird vermutet, dass Protokolle


zu einem internationalen Vertrag selbst Vertragsbestandteil<br />

sind.<br />

Die Aufspaltung in Vertragstext und Protokolltext<br />

kann sinnvoll sein, um den Vertrag von institutionellen<br />

Regelungen zu entlasten (Beispiele: Protokoll<br />

über die Satzung des Gerichtshofes, Protokoll über<br />

die Satzung der Europäischen Zentralbank, Protokoll<br />

Nr. 7 über die Erweiterung der Europäischen<br />

Union).DieRegelungineinemProtokollistdesWeiteren<br />

zweckmäßig, wenn ein Mitgliedstaat hinsichtlich<br />

bestimmter Vertragsregelungen Sonderpositionen<br />

bezieht (Beispiel: Protokolle Nr. 3 bis 5 zum<br />

Amsterdamer Vertrag über die Einbeziehung des<br />

Schengen-Besitzstandes und die Positionen des Vereinigten<br />

Königreichs, Irlands und Dänemarks).<br />

SchließlichkönnenProtokolledenWortlautdesVertrages<br />

ergänzen (Beispiele: Protokoll Nr. 20 über das<br />

Verfahren bei übermäßigem Defizit, Protokoll Nr.<br />

21 über die Konvergenzkriterien nach Art. 121 des<br />

Protokoll über Vorrechte<br />

EGV) oder die Rechtsprechung des EuGH kodifizieren<br />

(Beispiel: Protokoll Nr. 17 zu Art. 141 EGV).<br />

Die angehängten Erklärungen sind dagegen keine<br />

Vertragsbestandteile,dasiewedervonArt.311EGV<br />

nochvonArt.2WVRKinBezuggenommenwerden.<br />

Sie gehören aber zum Zusammenhang des Vertrages<br />

und sind daher gem. Art. 31 Abs. 2 WVRK für dessen<br />

Auslegung heranzuziehen. Dies gilt sowohl für gemeinsame<br />

Erklärungen aller Mitgliedstaaten als<br />

auch für die Erklärungen einzelner Mitgliedstaaten,<br />

die anlässlich des Vertragsschlusses abgegeben werden.<br />

J. I.<br />

Protokoll über die Sozialpolitik �Sozialpolitik<br />

Protokoll über Vorrechte und Befreiungen der<br />

Europäischen Gemeinschaften (Anlage zum<br />

�Fusionsvertrag vom 8. 4. 1965) �Statut der Abgeordneten<br />

des EP<br />

623


Qualifizierte Mehrheit<br />

Qualifikationsrahmen >Europäischer Qualifikationsrahmen.<br />

Qualifizierte Mehrheit. Ist für einen Beschluss des<br />

Rates nach dem EG-Vertrag oder dem EU-Vertrag<br />

(gemeinsame Aktion im Rahmen der �Gemeinsamen<br />

Außen- und Sicherheitspolitik) qualifizierte<br />

Mehrheit vorgeschrieben, so werden die Stimmen<br />

der Mitgliedstaaten gewichtet bzw. (nach inzwischen<br />

gängiger Übersetzung ins Deutsche) gewogen.<br />

Das Stimmengewicht der Staaten hat sich im<br />

Laufe der Erweiterungen der EG/EU verändert (sie-<br />

624<br />

12<br />

Q<br />

he Tabelle). Um eine bessere Feinabstimmung zwischen<br />

der Größe eines Mitgliedstaates (Einwohnerzahl)<br />

und der Anzahl seiner Stimmen zu ermöglichen,wurdendurchdas3.ProtokollzumVertragvon<br />

Nizza (Protokoll über die Erweiterung der Europäischen<br />

Union) die Gesamtstimmen der 15 Mitgliedstaaten<br />

von 87 auf 237 erhöht (EU-25: 321). Somit<br />

kann zwischen Kleinstaaten wie Malta (397 000 Einwohner)<br />

und großen Staaten wie Deutschland (82,5<br />

Mio. Einwohner) eine genauere Gewichtung der<br />

Stimmen vorgenommen werden. Dennoch entsprechen<br />

die Stimmen nicht dem tatsächlichen Gewicht<br />

3


der Staaten, gemessen an den Einwohnerzahlen. So<br />

entspricht eine Stimme für Deutschland 2,85 Mio.<br />

Einwohnern, eine Stimme für Österreich 800 000<br />

Einwohnern, eine Stimme für Malta 135 000 Einwohnern.<br />

Die Verteilung der Stimmenanteile folgt<br />

also nicht bevölkerungsmathematischen, sondern<br />

primär politischen Prinzipien. Das ist pragmatisch<br />

gesehen sinnvoll, im Hinblick auf die �Legitimation<br />

von Ratsentscheidungen aber nicht unproblematisch.<br />

Eine qualifizierte Mehrheit kommt mit 232 der 321<br />

Stimmen zustande, die von der Mehrheit der Ratsmitglieder<br />

(also mindestens 13) stammen müssen.<br />

FürBeschlüsseimRahmenderGASP/ESVPmüssen<br />

bei gleicher Stimmenzahl mindestens zwei Drittel<br />

der Staaten (also 17 oder mehr) zustimmen.<br />

Auf Antrag eines Ratsmitglieds muss geprüft werden,obdieMitgliedstaaten,derenStimmeneinequalifizierte<br />

Mehrheit gebildet haben, mindestens 62 %<br />

der Unionsbevölkerung repräsentieren. Ist das nicht<br />

der Fall, kommt der Beschluss nicht zustande.<br />

Doppelte Mehrheit: Wenn der Verfassungsvertrag<br />

für <strong>Europa</strong> in Kraft treten kann, wird das System der<br />

Stimmengewichtung abgeschafft. Jeder Mitgliedstaat<br />

verfügt dann über eine Stimme. Die qualifizierte<br />

Mehrheit ist erreicht, wenn mindestens 55 % der<br />

Mitglieder des Rates (mindestens 15) zustimmen,<br />

sofern die von diesen vertretenen Mitgliedstaaten<br />

mindestens 65 % der Bevölkerung der Union ausmachen<br />

(„doppelte Mehrheit“, Art. I-25 Abs. 1 VVE<br />

2004). Wenn ein Beschluss im Rahmen der GASP/<br />

ESVP ansteht, müssen mindestens 72 % der Ratsmitglieder<br />

zustimmen, um eine qualifizierte Mehrheit<br />

zu bilden. Das Bevölkerungsquorum von 65 % bleibt<br />

gleich. Auch der Europäische Rat wird dann mit qualifizierter<br />

Mehrheit beschließen können, wobei die<br />

selben Quoren gelten.<br />

Quasi-Richtlinie �Rahmenbeschlüsse<br />

Quästoren. Dem Präsidium des Europäischen Parlaments<br />

gehören neben dem Präsidenten und 14 Vizepräsidenten<br />

auch fünf Quästoren an. Nach Art. 25<br />

der Geschäftsordnung des EP sind sie „gemäß vom<br />

Präsidium erlassenen Leitlinien mit Verwaltungsund<br />

Finanzaufgaben betraut, die die Mitglieder [des<br />

EP, Red.] direkt betreffen“. Sie haben im Präsidium<br />

nur beratende Stimme (Art. 21 der GO des EP). Sie<br />

werden in der Eröffnungssitzung des EP nach der<br />

Wahl des Präsidenten und der Vizepräsidenten für<br />

eine Amtszeit von zweieinhalb Jahren gewählt.<br />

Quellensteuer �Steuerrecht<br />

Quoten<br />

Querschnittsaufgaben sind im EG-Vertrag genannte<br />

Verpflichtungen, bestimmte Ziele (wie<br />

Gleichstellung von Frau und Mann Art. 3 Abs. 2,<br />

Kultur Art. 151 Abs. 4, Verbraucherschutz Art. 153<br />

Abs. 2, Kohäsion Art. 159 Abs. 1) bei allen Tätigkeiten<br />

aufgrund anderer Bestimmungen des Vertrages<br />

und bei der Festlegung und Durchführung aller anderen<br />

Gemeinschaftspolitiken mit zu verfolgen.<br />

Quorum. Zur Beschlussfähigkeit von Gremien<br />

(z. B. einer Körperschaft, eines gesetzgebenden Organs)<br />

kann laut Statut, Satzung, Gesetz oder (in der<br />

Europäischen Union) Vertrag bzw. Geschäftsordnung<br />

eine erforderliche Anzahl anwesender Mitglieder<br />

zwingend vorgeschrieben sein. Ein Quorum ist<br />

bspw. vorgeschrieben, wenn für einen Beschluss die<br />

absolute Mehrheit (Stimmen der Mehrheit der Mitglieder)<br />

erforderlich ist (Beispiele: Ablehnung oder<br />

Abänderung von Gesetzentwürfen im Europäischen<br />

Parlament nach Art. 251 EGV; Beschlussfassung der<br />

Europäischen Kommission nach Art. 219 EGV, qualifizierte<br />

Mehrheit im Rat).<br />

Quoten. Mengenbegrenzungen bestimmter Agrarprodukte<br />

mit dem Ziel, Überschüsse einzudämmen<br />

und die daraus entstehenden Belastungen des Gemeinschaftshaushalts<br />

zu verringern, werden als<br />

Quotierung bezeichnet. Eine erste Quotierung erfolgte<br />

mit der Garantiemengenregelung für Milch ab<br />

2. 4. 1984: Für jedes Mitgliedsland wurden Höchstmengen<br />

festgesetzt, die in der Bundesrepublik<br />

Deutschland in Quoten für den einzelnen Hof aufgeteilt<br />

wurden. Wer seine Quote überschritt, musste für<br />

jeden überschüssigen Liter eine Mitverantwortungsabgabe<br />

zahlen. Das Quotensystem war zunächst bis<br />

1992 befristet, wurde aber bei der Agrarreform 1992<br />

ebenso beibehalten wie bei den durch die Agenda<br />

2000 eingeleiteten Maßnahmen und sollte bis 2008<br />

gelten. Durch Beschluss der Landwirtschaftsminister<br />

vom 26. 6. 2003 wurde es bis 31. 3 2015 verlängert.EineimRahmenderAgenda2000beschlossene<br />

Aufstockung der Quoten um 1,5 % in den Wirtschaftsjahren<br />

2006/07, 2007/08 und 2008/09 wurde<br />

verschoben. �Gemeinsame Agrarpolitik<br />

625


Rahmenbeschlüsse<br />

Rahmenbeschlüsse („Quasi-Richtlinien“) kann<br />

der Rat im Bereich der �PJZS zur Angleichung von<br />

Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten<br />

annehmen (Art. 34 Abs. 2 lit. b); sie sind nicht<br />

unmittelbar wirksam, aber (wie Richtlinien) hinsichtlich<br />

des im Beschluss genannten Ziels für die<br />

Mitgliedstaaten verbindlich.<br />

Rahmenprogramme für die Forschung �Forschungspolitik<br />

Rahmenrichtlinien werden im Sprachgebrauch der<br />

EU Richtlinien genannt, deren detaillierte Regelungen<br />

früheren oder nachfolgenden Richtlinien vorbehalten<br />

sind oder den Rechtsetzungsorganen der Mitgliedstaaten<br />

überlassen bleiben. Nach einen Beschluss<br />

des Rates aus dem Jahr 1985 ersetzen Rahmenrichtlinien<br />

die Verabschiedung detaillierter<br />

technischer Einzelregelungen. Sie erleichterten so<br />

die gesetzgeberischen Vorbereitungen zur VerwirklichungdesBinnenmarkteszum1.1.1993erheblich.<br />

Eine Voraussetzung dafür war die Ablösung des<br />

Prinzips der Rechtsangleichung (�Harmonisierung)<br />

durch das �Prinzip der gegenseitigen Anerkennung<br />

in der �Einheitlichen Europäischen Akte (Art. 100 b<br />

EWGV).<br />

So setzt bspw. die sog. „Luftqualitäts-Rahmenrichtlinie“<br />

von 1996 (96/62, ABl. L 296/1996) keine bestimmten<br />

Ziele, kündigt aber die spätere Festlegung<br />

von Grenzwerten für Schadstoffe an. Diese wurden<br />

in nachfolgenden Richtlinien („Tochterrichtlinien“)<br />

präzisiert, z. B. in der „Richtlinie über die Grenzwerte<br />

für Benzol und Kohlenmonoxid“ (2000/69). Als<br />

„Rahmenrichtlinie Wasserpolitik“ oder „Wasser-<br />

Rahmenrichtlinie“ wird eine RL aus dem Jahr 2000<br />

bezeichnet (2000/60, ABl. L 327/2000), die frühere<br />

Richtlinien mit detaillierten Regelungen wie die<br />

TrinkwasserRL von 1996 oder die NitratRL von<br />

1991 an sich bindet, andererseits andere Richtlinien<br />

wie die GrundwasserRL von 1980 oder die OberflächenwasserRL<br />

von 1975 ersetzt.<br />

RAMON ist der Klassifikationsserver von Eurostat.<br />

Er enthält alle verfügbaren Informationen über inter-<br />

626<br />

R<br />

nationale statistische Systematiken, u. a. methodische<br />

Grundsätze für Aufbau, Struktur, Verbindungen<br />

zu anderen internationalen Systematiken.<br />

Internet: http://europa.eu.int/comm/eurostat/ramon<br />

RAPEX(RapidExchangeofInformationSystem)ist<br />

ein von der Kommission verwaltetes Produktsicherheits-Notfallsystem.<br />

Rechtsgrundlage ist Art. 11 der<br />

Richtlinie über die allgemeine Produktsicherheit<br />

(2001/95). Über RAPEX können zwischen den Mitgliedstaaten<br />

und der Kommission rasch Informationen<br />

ausgetauscht werden über Maßnahmen (z. B.<br />

Rückrufe) und Aktionen gegen Stoffe in Verbraucherprodukten<br />

(Non-Food-Artikeln), die eine ernste<br />

Gefahr für die Gesundheit oder Sicherheit darstellen<br />

(Ausnahme: medizinische oder pharmazeutische<br />

Produkte).<br />

RAPHAEL.Einesvon3EU-ProgrammenzurFörderung<br />

eines gemeinsamen Kulturraums mit dem<br />

Schwerpunkt Kulturerbe, neben Ariane (Literatur)<br />

und Kaleidoskop (künstlerische Tätigkeit). Budget<br />

im Zeitraum 1997 bis 2000: 30 Mio. ECU. Die ProgrammewurdenabgelöstdurchdasProgramm�Kultur<br />

2000.<br />

Rassismus �Europäische Stelle zur Beobachtung<br />

von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit<br />

Rat, Rat der Europäischen Union (Ministerrat).<br />

Der Ministerrat – in den Verträgen nur als Rat bezeichnet<br />

– ist seit 1967 (�Fusionsvertrag) eines der<br />

GemeinschaftsorganederEG.SeitGründungderEU<br />

nennt er sich selbst Rat der Europäischen Union. Er<br />

unterscheidet sich vom Deutschen Bundesrat oder<br />

ähnlichen Gremien föderaler Staaten dadurch, dass<br />

er einerseits ein wichtiges Entscheidungsorgan für<br />

Rechtsakte der EU ist, andererseits die Interessen der<br />

Mitgliedstaaten einbringt (Art. 202 – 210 EGV). Der<br />

Rat stellt eine direkte Verbindung zwischen der<br />

EU-Ebene und den Mitgliedstaaten her.<br />

1. Entwicklung.<br />

1.1Ausgangslage.BereitsdieMontanunion(EGKS)<br />

führte die Institution eines Rats aus je einem Regie-


ungsmitglied der sechs Mitgliedstaaten ein. Dieser<br />

vertrittdieMitgliedstaatenundstimmt„dieTätigkeit<br />

der Hohen Behörde und der ... Regierungen aufeinander“<br />

ab (Art. 26 EGKSV). Im Rahmen der EGKS<br />

besaß der Rat im Wesentlichen Anhörungs- und Mitwirkungsrechte.<br />

Für die Europäischen Gemeinschaften<br />

Euratom und EWG hingegen trägt er nach<br />

den jeweiligen Gründungsverträgen die Verantwortung<br />

für die „Verwirklichung der Ziele nach Maßgabe<br />

dieses Vertrages“. Diese Verträge weisen jeweils<br />

dem Rat Funktionen eines „Legislativorgans“ und<br />

zusätzliche exekutive Befugnisse zu.<br />

Vor allem der Rat der E(W)G tritt als das Organ, in<br />

demdieMitgliedstaatendurchihreRegierungenvertreten<br />

sind, von Anfang an im Rahmen der vielfältigen<br />

Rechtsetzungsbefugnisse der Gemeinschaft dominierend<br />

in Erscheinung; denn der Rat, mithin die<br />

nationalen Regierungen, besitzt die Legitimation<br />

zum Erlass von Rechtsvorschriften. Ein Gegengewicht<br />

innerhalb des Institutionengefüges bildete zunächst<br />

nur die Kommission, deren Vorschläge nur<br />

einstimmig vom Rat geändert werden konnten. Die<br />

rasch wachsenden Aktivitäten der EWG führten zur<br />

hohen Arbeitsbelastung des Rates, der in unterschiedlichen<br />

Zusammensetzungen tagt. Bereits seit<br />

1958 unterstützt der �Ausschuss der Ständigen Vertreter<br />

(Coreper) mit seinen Arbeitsgruppen den Ministerrat.<br />

Der Gründungsvertrag der EWG (1957) sah in vielen<br />

Politikbereichen zunächst die Einstimmigkeit bei<br />

Entscheidungen des Rates vor, die nach einer Übergangszeit<br />

von dreimal vier Jahren allmählich durch<br />

Mehrheitsentscheidungenabgelöstwerdensollten.<br />

1.2 Entscheidungskrise. Das Verfahren (GesetzesinitiativederKommissionundEntscheidungsbefugnis<br />

sowie Abstimmungsmodi des Rates) führte 1965/66<br />

zur ersten größeren Krise der Europäischen Gemeinschaften,<br />

als Frankreich gegen einen Vorschlag der<br />

Kommission durch die �Politik des „leeren Stuhls“<br />

protestierte und durch seine Nichtteilnahme an den<br />

Sitzungen des Rates die Entscheidungen auf Gemeinschaftsebene<br />

lähmte. Hintergründig ging es<br />

Frankreich um die weitere Entwicklung der Institutionen<br />

(Eindämmung der Rolle der Kommission und<br />

Verhinderung der Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen<br />

im Rat). Die �Luxemburger Vereinbarung<br />

behob diese Krise durch ein rechtlich nicht verbindliches<br />

Übereinkommen, das einen Vertrauenstatbestand<br />

schuf, von dem nicht einseitig abgewi-<br />

Rat<br />

chen werden durfte – und auch in der Praxis bis 1982<br />

nicht abgewichen wurde: „Stehen bei Beschlüssen,<br />

die mit der Mehrheit auf Vorschlag der Kommission<br />

gefasst werden können, sehr wichtige Interessen eines<br />

oder mehrerer Partner auf dem Spiel, so werden<br />

sich die Mitglieder des Rates innerhalb eines angemessenen<br />

Zeitpunktes bemühen, zu Lösungen zu gelangen.“Dieser„LuxemburgerKompromiss“verzögerte<br />

oder verhinderte Fortschritte im Integrationsprozess,<br />

da jeder Mitgliedstaat selbst entschied,<br />

wann wichtige nationale Interessen vorliegen bzw.<br />

durch Gemeinschaftserlasse tangiert werden.<br />

1.3 Der gemeinsame Rat. Mit dem Inkrafttreten des<br />

Vertrages über die Fusion der Exekutivorgane der<br />

drei Gemeinschaften am 1. 7. 1967 wurde ein gemeinsamer<br />

Rat eingesetzt. In der Folgezeit bis etwa<br />

1985 ist die Tätigkeit des Rates durch mangelnde<br />

Entscheidungsfähigkeit geprägt, zumal in wichtigen<br />

Fragen die Möglichkeit der Abstimmung mit qualifizierter<br />

Mehrheit nicht angewandt wurde. Die Einrichtung<br />

der �Gipfelkonferenz führte dazu, dass wesentliche<br />

Beschlüsse von den Staats- und Regierungschefs<br />

gefasst wurden. Erst die �Einheitliche<br />

Europäische Akte (1986) beschleunigte die EntscheidungsfindungimRat.DerAnwendungsbereich<br />

qualifizierter Mehrheitsentscheidungen wurde seitdem<br />

stark ausgeweitet und auch in der Regel praktiziert.<br />

Der �Europäische Rat zog sich seit 1988 aus der konkretenEntscheidungsfindungzurück,sodassderRat<br />

seine Funktion als oberstes Entscheidungsgremium<br />

der Gemeinschaft ausfüllt. In der EU hat der Rat im<br />

Bereich der ersten �Säule eine dominante Rolle. Zusammen<br />

mit dem EP nimmt er die Entscheidungsbefugnis<br />

wahr. Mit dem Vertrag von Maastricht wurde<br />

die noch in der Einheitlichen Europäischen Akte<br />

festgeschriebene Trennung von EG-Ministerrat und<br />

den Ministertagungen im Rahmen der Außenbeziehungen<br />

aufgehoben. Seitdem ist der Rat auch in der<br />

�Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik als<br />

ausschließliche Entscheidungsinstanz für die allgemeinen<br />

Leitlinien der Weiterentwicklung und in der<br />

intergouvernementalen polizeilichen und justitiellen<br />

Zusammenarbeit in Strafsachen (�PJZS) für die<br />

Koordinierung zuständig (Art. 3 EUV). In den Verträgen<br />

von Amsterdam und Nizza wurden die Aufgabengebiete<br />

weiter ausgedehnt und die Entscheidungsstrukturen<br />

und Entscheidungsmodalitäten revidiert.<br />

627


Rat<br />

2. Arbeitsweise und Befugnisse<br />

2.1 Rechtsgrundlagen. Rechtsgrundlagen sind die<br />

Gründungsverträge der Europäischen Gemeinschaften,<br />

der 1965 unterzeichnete Vertrag zur Einsetzung<br />

eines gemeinsamen Rates, die Änderungsverträge<br />

von 1970 (gemeinsames �Haushaltsverfahren) und<br />

1975(FinanzvorschriftenundErrichtungdes�Rechnungshofs),<br />

die �Einheitliche Europäische Akte von<br />

1986 (Zusammenarbeit der Organe und Beschlussfassungsverfahren),<br />

der Vertrag über die Europäische<br />

Union von 1992 (�Maastrichter Vertrag) und<br />

die Vertragsrevisionen von Amsterdam und Nizza.<br />

2.2 Aufgaben. Nach Art. 2 des Fusionsvertrags dient<br />

der Rat zur formalisierten Mitwirkung der Regierungen<br />

der Mitgliedstaaten der EG. Er erfüllt eine Vermittlungsfunktion<br />

von der Gemeinschaft in die Exekutiven<br />

der Mitgliedstaaten und in die innerstaatlichen<br />

Bürokratien. Der Rat trägt maßgeblich zum Ineinandergreifen<br />

von gemeinschaftlicher und staatlicher<br />

Willensbildung und damit zur Durchsetzbarkeit<br />

gemeinschaftlicherRechtsaktebei.Artikel202EGV<br />

legt die allgemeinen Aufgaben fest: „Zur VerwirklichungderZieleundnachMaßgabediesesVertrags<br />

– sorgt der Rat für die Abstimmung der Wirtschaftspolitik<br />

der Mitgliedstaaten;<br />

– besitzt der Rat eine Entscheidungsbefugnis;<br />

– überträgt der Rat der Kommission in den von ihm<br />

angenommenen Rechtsakten die Befugnisse zur<br />

Durchführung der Vorschriften, die er erlässt. Der<br />

Rat kann bestimmte Modalitäten für die Ausübung<br />

dieser Befugnisse festlegen. Er kann sich in spezifischen<br />

Fällen außerdem vorbehalten, Durchführungsbefugnisseselbstauszuüben.Dieobengenannten<br />

Modalitäten müssen den Grundsätzen und Regeln<br />

entsprechen, die der Rat auf Vorschlag der<br />

Kommission und nach Stellungnahme des EuropäischenParlamentsvorhereinstimmigfestgelegthat.“<br />

2.3 Stellung des Rates gegenüber anderen Organen<br />

der Gemeinschaft. Mit dem Maastrichter Vertrag ist<br />

in Art. 189b EGV (jetzt Art. 251 EGV) die Zusammenarbeit<br />

der Gemeinschaftsorgane neu geregelt<br />

worden. Dieser Artikel räumt dem Europäischen<br />

Parlament (EP) ein Mitentscheidungsrecht ein, das<br />

ein gleichberechtigtes Zusammenwirken von Rat<br />

und Parlament beinhaltet. Zusammen mit dem Parlament<br />

bildet der Rat die �Haushaltsbehörde der Gemeinschaft.<br />

Nach Art. 272 EGV stellt der Rat den<br />

Entwurf des Haushaltsplans mit qualifizierter Mehrheit<br />

auf, den das Parlament ändern bzw. ablehnen<br />

628<br />

kann (�Haushaltsverfahren). Alle bisher im Verfahren<br />

der Zusammenarbeit von Rat und EP angesiedelten<br />

Materien wurden im Vertrag von Amsterdam in<br />

dasMitentscheidungsverfahren(Ausnahme:WWU)<br />

überführt. Das Verhältnis des Rates zur Kommission<br />

ist weiterhin durch das Initiativrecht der Kommissionbestimmt.JedochkannderRatnachArt.208EGV<br />

„die Kommission auffordern, die nach seiner Ansicht<br />

zur Verwirklichung der gemeinsamen Ziele geeigneten<br />

Untersuchungen vorzunehmen und ihm<br />

entsprechende Vorschläge zu unterbreiten“. Der Rat<br />

ist grundsätzlich gehalten, die Befugnis zur Durchführung<br />

der von ihm erlassenen Vorschriften der<br />

Kommission zu übertragen (Art. 202 EGV). Rat und<br />

Kommission sind in vielen Fällen verpflichtet, den<br />

�Wirtschafts- und Sozialausschuss anzuhören. Im<br />

Bereich der zweiten und dritten Säule teilen sich<br />

Kommission und Mitgliedstaaten und mithin auch<br />

der Rat das Initiativrecht (Art. 22, 34 EUV).<br />

Der Rat übt gegenüber der Kommission und dem Europäischen<br />

�Gerichtshof (EuGH) Kontrollbefugnisse<br />

aus. Er beschließt außerdem über die personelle<br />

Zusammensetzung von Gemeinschaftsorganen und<br />

-institutionen (Beratender Ausschuss der EGKS,<br />

Wirtschafts- und Sozialausschuss, Ausschuss der<br />

Regionen) nach Anhörung des EP.<br />

2.4 Organisation. „Der Rat besteht aus je einem Vertreter<br />

jedes Mitgliedstaats auf Ministerebene, der befugt<br />

ist, für die Regierung des Mitgliedstaats verbindlich<br />

zu handeln“ (Art. 203 EGV). Damit können<br />

auch Vertreter subnationaler Körperschaften, also<br />

eines deutschen Bundeslandes, den Mitgliedstaat im<br />

Rat vertreten. Gemäß dem Prinzip der doppelten Legitimation<br />

sind die stimmberechtigten Mitglieder<br />

des Rates indirekt dadurch legitimiert, dass sie der<br />

nationalen Regierung bzw. einer subnationalen Ebene<br />

in föderalen Staaten der Mitgliedstaaten angehören<br />

und dadurch in ihrem politischen System direkt<br />

legitimiert und politisch verantwortlich sind.<br />

Je nach dem zu behandelnden Gegenstand wird der<br />

Rat durch die zuständigen Ressortminister gebildet.<br />

Bei übergreifenden Fragen können auch die Minister<br />

verschiedenerBereichezusammenkommen.DerRat<br />

ist zwar als einheitliches Organ definiert, er tritt aber<br />

in 9 (früher 16) verschiedenen Formationen zusammen.<br />

Am häufigsten tagen die Räte der Außenminister<br />

(„Allgemeine Angelegenheiten“), der Landwirtschafts-<br />

sowie der Wirtschafts- und Finanzminister<br />

(�Ecofin); sie kommen im Durchschnitt einmal pro


Monat zusammen. An Bedeutung hat seit dem MaastrichterVertragauchderRatderInnen-undJustizminister<br />

gewonnen, zu dem seit Einrichtung der �Europäischen<br />

Sicherheits- und Verteidigungspolitik<br />

Ende der 1990er Jahre auch bei Bedarf die Verteidigungsminister<br />

hinzugezogen werden. Eine besondere<br />

Stellung nimmt die �„Eurogruppe“ ein, der die<br />

Vertreter der zwölf Staaten der Euro-Zone angehören<br />

und der jeweils vor dem Ecofin-Rat tagt.<br />

Der Vorsitz im Ministerrat (�Präsidentschaft des Rates<br />

der EU) wechselt – gleichzeitig mit demjenigen<br />

im Europäischen Rat und in der Gemeinsamen Außen-<br />

und Sicherheitspolitik (GASP) – halbjährlich<br />

nach einem festgelegten Turnus. Der Rat hat seinen<br />

Sitz in Brüssel und tagt nach einer Entscheidung des<br />

Europäischen Rates vom Dezember 1992 während<br />

der Monate April, Juni und Oktober in Luxemburg.<br />

Der Vorsitzende des Rates bereitet die Sitzungen vor<br />

und leitet sie. Er wird dabei von einem Generalsekretär<br />

unterstützt. Die Sitzungen sind „nicht öffentlich,<br />

es sei denn, dass der Rat einstimmig anders beschließt“<br />

(Geschäftsordnung von 1987). Das Generalsekretariatmitetwa2500Bedienstetenunterstützt<br />

die Tätigkeit der etwa 300 Arbeitsgruppen (zusammengesetzt<br />

aus nationalen Beamten der Mitgliedstaaten),<br />

des �Ausschusses der Ständigen Vertreter<br />

und des Rates. Auf der Ebene der Arbeitsgruppen,<br />

der ersten Stufe der Willensbildung im Rat, werden<br />

technischeAspektedervonderKommissionerarbeiteten<br />

Vorschläge diskutiert und bereits wesentliche<br />

Elemente des späteren Ratsbeschlusses erarbeitet.<br />

Der Ausschuss der Ständigen Vertreter (AStV) – in<br />

der französischen Terminologie COREPER – bildet<br />

die zweite Ebene des Willensbildungsprozesses im<br />

Rat. Er hat die Aufgabe, „die Arbeiten des Rates vorzubereiten<br />

und die ihm vom Rat übertragenen Aufträge<br />

auszuführen“ (Art. 4 Fusionsvertrag). Er klärt<br />

noch offene Fragen und Differenzen zwischen den<br />

Mitgliedstaaten und versucht eine einvernehmliche<br />

Beschlusslage herzustellen, die dann von dem Rat<br />

verabschiedet wird. Der Ausschuss hat durch den<br />

Maastrichter Vertrag dadurch an Bedeutung gewonnen,<br />

dass er in verstärktem Maße die Aufgabe wahrnehmen<br />

soll, zur Kohärenz und Kontinuität der verschiedenen<br />

Politikbereiche in den 3 Säulen beizutragen.<br />

Mit dem Amsterdamer Vertrag hat der AStV das<br />

Recht erhalten, in bestimmten Fällen, die in der Geschäftsordnung<br />

des Rates festgelegt sind, Verfahrensbeschlüsse<br />

zu fassen.<br />

Rat<br />

An den Sitzungen des Rates und seiner nachgeordneten<br />

Gremien nehmen Vertreter der Kommission teil,<br />

die das Recht haben, den Vorschlag der Kommission<br />

zu ändern oder zurückzuziehen. Im Bereich der Gemeinschaftspolitiken<br />

unterliegt der Rat nach Art.<br />

230 und 232 EGV der Rechtsprechung der Europäischen<br />

Gerichtshofes, der Ratsentscheidungen für<br />

nichtig erklären oder den Rat wegen Untätigkeit verurteilen<br />

kann.<br />

2.5 Beschlussfassungsverfahren. Die Beschlussfassung<br />

erfolgt, soweit nichts anderes bestimmt ist, mit<br />

einfacher Stimmenmehrheit (Art. 205 Abs. 1 EGV).<br />

Jedoch sind diese Fälle selten und beschränken sich<br />

auf Verfahrensfragen. Die Regel sind Abstimmungen<br />

mit �qualifizierter Mehrheit und Einstimmigkeit<br />

in den Bereichen, die für einzelne Mitgliedstaaten<br />

besonders wichtig sind. Der Rat entscheidet einstimmig<br />

nach Anhörung der Kommission und Zustimmung<br />

des EP über den �Beitritt neuer Mitglieder<br />

(Art. 49 EUV) und Vertragsänderungen. In diesen<br />

Fällen ist auch eine Ratifizierung durch die Mitgliedstaaten<br />

erforderlich. Einstimmig entscheidet der Rat<br />

über steuerliche Vorschriften (Art. 93 EGV) und in<br />

Bereichen der GASP (Art. 23 EUV).<br />

Mit dem Amsterdamer Vertrag wurden 25 neue Fälle<br />

(einschl. der Mitentscheidungsverfahren in Zusammenarbeit<br />

mit dem EP) aufgenommen, in denen der<br />

Rat mehrheitlich entscheidet. Insgesamt entscheidet<br />

der Rat in 105 Fällen mit qualifizierter Mehrheit<br />

gem. Art. 205 EGV.<br />

Bei Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit werden<br />

die Stimmen der Mitgliedstaaten gewichtet.<br />

Nach dem Vertrag von Nizza ist ab 2004 eine Mehrheit<br />

der Mitgliedstaaten (13 von 25 Staaten) notwendig.<br />

Ein zweites Kriterium besteht in einem bestimmten<br />

Prozentsatz von gewichteten Stimmen;<br />

hier haben die bevölkerungsreichsten Mitgliedstaaten<br />

seit Nizza erheblich an Gewicht gewonnen. Für<br />

die Verabschiedung eines Rechtsaktes sind über 70<br />

Prozent der gewichteten Stimmen notwendig. Außerdem<br />

kann ein Mitglied des Rates beantragen, dass<br />

bei Beschlussfassung des Rates mit qualifizierter<br />

Mehrheit überprüft wird, ob diese Mehrheit mindestens<br />

62 Prozent der Gesamtbevölkerung der Union<br />

umfasst. In der EU mit 25 Mitgliedstaaten ist angesichts<br />

dieser drei Schwellen bei qualifizierten Mehrheitsentscheidungen<br />

eine zunehmende Handlungsunfähigkeit<br />

des Rates zu erwarten.<br />

Der �Verfassungsvertrag 2004 sieht deshalb andere<br />

629


Rat der Gemeinden und Regionen<br />

Schwellen vor. Nach Art. I-25 VVE gilt als qualifizierte<br />

Mehrheit „eine Mehrheit von mindestens 55 %<br />

der Mitglieder des Rates, gebildet aus mindestens 15<br />

Mitgliedern, sofern die von diesen vertretenen Mitgliedstaaten<br />

zusammen mindestens 65 % der Bevölkerung<br />

der Union ausmachen. Für eine Sperrminorität<br />

sind mindestens vier Mitglieder des Rates erforderlich,<br />

andernfalls gilt die qualifizierte Mehrheit als<br />

erreicht“. U. M.<br />

Literatur:<br />

Wessels, W.: Das politische System der EU. In: Weidenfeld, W.<br />

(Hg.), <strong>Europa</strong>handbuch, Bd. 1. Gütersloh 2004 3 ,S.83–108<br />

Hayes-Renshaw, F./Wallace, H.: The Council of Ministers.<br />

London 1997<br />

Sabsoud, J. P.: Der Rat der EG – Einführung in seine Struktur<br />

und seine Arbeitsweise. Luxemburg 1992<br />

Westlake, M.: The Coucil of the European Union,<br />

London 1995<br />

Internet: http://ue.eu.int<br />

www.europa.eu.int/institutions/council/index_de.htm<br />

Rat der Gemeinden und Regionen <strong>Europa</strong>s<br />

(RGRE, Conseil des Communes et Regions d’Europe,<br />

CCRE, Council of European Municipalities<br />

and Regions, CEMR). 1951 von Bürgermeistern aus<br />

Deutschland und Frankreich als „Rat der Gemeinden<br />

<strong>Europa</strong>s“ in Genf gegründet, seit 15. 10. 1984 unter<br />

heutigem Namen, Sitz in Paris, seit 1995 Büro in<br />

Brüssel. In der deutschen Sektion (seit 1955) sind rd.<br />

800 deutsche Städte, Gemeinden und Landkreise zusammengeschlossen.<br />

Die kommunalen Spitzenverbände<br />

auf Bundesebene (Deutscher Städtetag, Deutscher<br />

Städte- und Gemeindebund und Deutscher<br />

Landkreistag) sind ebenfalls Mitglied der deutschen<br />

Sektion, deren Geschäftsstelle sich beim Deutschen<br />

Städtetag in Köln befindet.<br />

Der RGRE ist eine Organisation von kommunalen<br />

und regionalen Gebietskörperschaften in <strong>Europa</strong>; in<br />

ihm sind 44 nationale Kommunalverbände aus 31<br />

Ländern zusammengeschlossen, die rd. 100 000 Gemeinden<br />

vertreten. Organe: Politisches Komitee,<br />

Exekutivbüro und Delegiertenversammlung. Der<br />

RGRE ist die europäische Sektion der UCLG (United<br />

Cities and Local Governments), vormals IULA<br />

(International Union of Local Authorities).<br />

Auftrag des RGRE ist die Vertretung kommunaler<br />

Interessen in <strong>Europa</strong> (z. B. im Umweltschutz, Finanzwesen,<br />

Verkehr) als beratendes Gremium bei<br />

der EU, die aktive Teilnahme der kommunalen und<br />

regionalen Gebietskörperschaften an der europäi-<br />

630<br />

schen Integration, das Eintreten für die kommunale<br />

SelbstverwaltungundfürdenErhaltdezentralerVerwaltungsstrukturen,<br />

die Förderung des interregionalen<br />

Erfahrungsaustausches zwischen lokalen und regionalen<br />

Gebietskörperschaften in <strong>Europa</strong> (kommunalrelevante<br />

europäische Probleme), die Vermittlung<br />

von Gemeindepartnerschaften (26 000 Partnerschaften<br />

in <strong>Europa</strong>), die Organisation internationaler<br />

Tagungen und Kongresse (z. B. Europäischer Gemeindetag<br />

alle 3 Jahre, Europäischer Partnerschaftskongress).<br />

Der 22. Europäische Gemeindetag (<strong>Europa</strong>tagdesRGRE)fand2003inPosenstatt,der23.Europäische<br />

Gemeindetag wird 2006 in Innsbruck veranstaltet.<br />

Auf dem ersten Europäischen Gemeindetag 1953 in<br />

Versailles verabschiedete der Rat die „Europäische<br />

ChartaderGemeindefreiheiten“. W. M.<br />

Anschrift der Deutschen Sektion:<br />

Lindenallee 13 – 17, 50968 Köln<br />

Internet: www.rgre.de; www.ccre.org<br />

Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RgW oder<br />

COMECON = Council for Mutual Economic Assistance),<br />

wurde als Gegenstück zur OEEC (Vorläuferin<br />

der �Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit<br />

und Entwicklung, OECD) am 25. 1. 1949<br />

in Moskau gegründet. Gründungsmitglieder: die<br />

UdSSR, Polen, Tschechoslowakei, Ungarn, Bulgarien,<br />

Rumänien. Albanien trat 1949 bei (bis 1961),<br />

die DDR 1950 (bis 1990), die Mongolische Volksrepublik<br />

1962, Kuba 1972, Vietnam 1978. 1991 löste<br />

sich der RgW auf.<br />

Der RgW sollte sich auch als Gegenmodell zur EWG<br />

entwickeln. Er wurde von der Sowjetunion dominiert;<br />

den Mitgliedstaaten waren einzelne Produktionsbereiche<br />

schwerpunktmäßig zugewiesen (was<br />

ihre Abhängigkeit untereinander verstärkte). Eine<br />

Zusammenarbeit zwischen RgW und EWG wurde<br />

vonöstlicherSeiteausideologischenGründen(kommunistische<br />

Zentralverwaltungswirtschaft versus<br />

kapitalistische Marktwirtschaft) Jahrzehnte hindurch<br />

verhindert, bis am 25. 6. 1988 eine „Gemeinsame<br />

Erklärung“ zwischen den beiden europäischen<br />

Wirtschaftsorganisationen in Luxemburg unterzeichnet<br />

werden konnte. In ihr wurde die Grundlage<br />

für die Zusammenarbeit auf den Gebieten Wissenschaft,<br />

Technologie und Umwelt geregelt und der<br />

Rahmen für den Ausbau bilateraler Beziehungen der<br />

EG-StaatenzudenRgW-Ländernabgesteckt. W M.


Ratifizierung (Ratifikation) ist das in den Verfassungen<br />

der Staaten festgelegte Verfahren, um völkerrechtliche<br />

Verträge nach ihrer Unterzeichnung<br />

durch die Regierungen wirksam werden zu lassen.<br />

Die Ratifikation besteht in der Regel aus der Zustimmung<br />

des Gesetzgebers (Parlaments) in Form eines<br />

Gesetzes und der Unterschrift des Staatsoberhaupts<br />

(eigentlicheRatifikation).VerfassungenkönnenRatifikationen<br />

in bestimmten Fällen auch von einem<br />

Referendum des Volkes abhängig machen.<br />

Völkerrechtliche Verträge enthalten Klauseln, die<br />

besagen, dass der Vertrag der Ratifikation bedarf,<br />

und wann er nach der Ratifikation in Kraft tritt. Die<br />

ratifizierten Urkunden werden bei bilateralen Verträgenausgetauscht,beimultilateralenVerträgenbei<br />

einem der Vertragspartner oder beim Generalsekretär<br />

der UN hinterlegt.<br />

Die Gründungsverträge der EU und ihre Änderungsverträge<br />

bedürfen als völkerrechtliche Verträge der<br />

Ratifikation in allen Mitgliedstaaten. Die ratifizierten<br />

Urkunden werden bei der Regierung in Rom hinterlegt.<br />

Ratifizierung des Verfassungsvertrags. Der<br />

Vertrag über eine Verfassung für <strong>Europa</strong> (�Verfassungsvertrag<br />

2004) muss als Änderung des EU-<br />

Vertrags gem. Art. 48 EUV von allen Mitgliedstaaten<br />

nach deren verfassungsrechtlichen Vorschriften<br />

ratifiziert werden, um in Kraft zu treten. Artikel<br />

IV-447 Abs. 2 VVE legt fest, dass der Verfassungsvertragam1.11.2006inKrafttritt,sofernalleRatifikationsurkunden<br />

hinterlegt worden sind, andernfalls<br />

am ersten Tag des zweiten auf die Hinterlegung der<br />

letzten Ratifikationsurkunde folgenden Monats.<br />

Die verfassungsrechtlichen Vorschriften der EU-<br />

Staaten sehen für die Ratifizierung unterschiedliche<br />

Verfahren vor. In 15 Staaten beschließt das Parlament<br />

ohne weiteres über die Annahme des Verfassungsvertrags,<br />

in 10 Staaten geht dem ParlamentsbeschlusseinReferendumvoraus.EskannvonderVerfassung<br />

zwingend vorgeschrieben und bindend sein<br />

(Dänemark, Irland), es kann fakultativ und bindend<br />

sein (Polen, Tschechische Republik), fakultativ und<br />

nur unter bestimmten Bedingungen (hohe Wahlbeteiligung)<br />

bindend sein (Portugal) oder nur konsultativ<br />

sein, wobei die Regierung erklären kann, ob sie<br />

sich an das Votum halten werde oder nicht (Frankreich,<br />

Großbritannien, Luxemburg, Niederlande,<br />

Spanien).<br />

Ratifizierung<br />

Stand der Ratifizierung am 6. 6. 2005: Insgesamt 11<br />

Staaten haben den europäischen Verfassungsvertrag<br />

ratifiziert, in zwei Staaten ist die Gesetzgebung weitgehend<br />

abgeschlossen (Belgien, Deutschland), in<br />

zwei Staaten ist die Ratifizierung vorläufig gescheitert(Frankreich,Niederlande),in10Staatenstehtein<br />

Beschluss noch aus. Im Einzelnen:<br />

Belgien: Die Abgeordnetenkammer hat am 19. 5.<br />

2005 (118 : 18 : 1) und der Senat am 28. 4. 2005 (54 :<br />

9 : 1) für die europäische Verfassung gestimmt. Die<br />

zur Ratifizierung notwendige Zustimmung der Regionalparlamente<br />

(Brüssel, Flandern, Wallonien)<br />

und der Parlamente der Sprachgemeinschaften<br />

(Deutsch, Französisch) ist zum Teil erfolgt (Brüssel<br />

17. 6. 2005, Wallonien 29. 6. 2005, deutsche Sprachgemeinschaft20.6.2005).FüreinvonderRegierung<br />

vorgesehenes (rechtlich nicht bindendes) Referendum<br />

kam die für eine Verfassungsänderung nötige<br />

Zweidrittelmehrheit im Parlament nicht zustande.<br />

Dänemark:ZurRatifizierungistgem.Landesverfassung<br />

ein bindendes Referendum vorgeschrieben.<br />

Die ursprünglich für den 27. 9. 2005 vorgesehene<br />

Volksabstimmung wurde nach den negativen Referenden<br />

in Frankreich (29. 5. 2005) und den Niederlanden<br />

(1. 6. 2005) auf unbestimmte Zeit verschoben.<br />

Deutschland: Der Deutsche Bundestag hat am 12. 5.<br />

2005(569:23:2)undderDeutscheBundesratam27.<br />

5. 2005 (66:0:3)fürdieVerfassung gestimmt. Die<br />

Ratifizierung (Unterschrift des Bundespräsidenten)<br />

steht noch aus, weil ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts<br />

über eine Verfassungsbeschwerde eines<br />

CSU-Bundestagsabgeordneten abgewartet werden<br />

soll.<br />

Estland: Ratifizierung durch Parlamentsbeschluss.<br />

Termin für Sommer oder Herbst 2005 vorgesehen,<br />

auf unbestimmte Zeit verschoben.<br />

Finnland:RatifizierungdurchParlamentsbeschluss,<br />

vorgesehen für Frühjahr 2006, auf unbestimmte Zeit<br />

verschoben.<br />

Frankreich: Nach einer Verfassungsänderung konnte<br />

ein (fakultatives) Referendum abgehalten werden,<br />

bei dem am 29. Mai 2005 54,9 % der abgegebenen<br />

Stimmen mit Nein votierten. Da das Referendum<br />

nicht bindend ist, könnte der Ratifizierungsprozess<br />

fortgesetzt werden. Die Regierung will sich aber an<br />

das Votum der Wähler halten.<br />

Griechenland: Das Parlament hat den Verfassungsvertrag<br />

am 19. 4. 2005 gebilligt (268 : 17 : 15).<br />

631


Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts<br />

Großbritannien:DasUnterhaushatam9.2.2005der<br />

Verfassung zugestimmt (345 : 130 : 0), das Oberhaus<br />

hat noch nicht abgestimmt. Die britische Regierung<br />

hat zusätzlich ein Referendum angekündigt, das in<br />

der ersten Jahreshälfte 2006 abgehalten werden sollte.<br />

Nach den Referenden in Frankreich und den Niederlanden<br />

wurde der Termin auf unbestimmte Zeit<br />

verschoben.<br />

Irland: Für die Ratifizierung schreibt die Landesverfassung<br />

ein bindendes Referendum vor, das für Ende<br />

2005/Anfang 2006 vorgesehen ist. Zusätzlich ist die<br />

Entscheidung des Parlaments geplant.<br />

Italien: Die Landesverfassung sieht für internationale<br />

Verträge keine Volksabstimmung vor. Das Abgeordnetenhaus<br />

hat dem Verfassungsvertrag am 25. 1.<br />

2005 zugestimmt (436 : 28 : 5), der Senat am 6. 4.<br />

2005 (214 : 16 : 0).<br />

Lettland:DieeuropäischeVerfassungwurdeam2.6.<br />

2005 vom Parlament gebilligt (71 :5:6).<br />

Litauen: Das nach der Landesverfassung mögliche<br />

Referendum wurde nicht angesetzt. Das Parlament<br />

hat dem Verfassungsvertrag am 11. 11. 2004 zugestimmt<br />

(84 :4:3).Litauen war damit das erste<br />

EU-Land, das die europäische Verfassung ratifiziert<br />

hat.<br />

Luxemburg: Fakultative Referenden sind möglich.<br />

Ein Referendum über den Verfassungsvertrag wurde<br />

am 10. Juli 2005 abgehalten und fiel mit 56,5 %<br />

Ja-Stimmen positiv aus. Das Parlament hat in einer<br />

ersten Abstimmung am 28. 6. 2005 zugestimmt, es<br />

wirdetwa3MonatenachdemReferenduminzweiter<br />

Abstimmung endgültig die Ratifizierung beschließen.<br />

Malta: Das Parlament hat am 6. Juli 2005 die europäische<br />

Verfassung einstimmig gebilligt.<br />

Niederlande: In einem konsultativen Referendum<br />

am 1. Juni 2005 stimmten 61,6 % mit Nein. Die<br />

Wahlbeteiligung lag bei mehr als 60 %. Die Regierung<br />

hatte angekündigt, sich bei einer Wahlbeteiligung<br />

von mindestens 30 % an das Votum zu halten,<br />

zog ihren Gesetzentwurf zur Ratifizierung zurück<br />

und hat den Parlamentsbeschluss auf unbestimmte<br />

Zeit verschoben.<br />

Österreich: Der Nationalrat stimmte am 11. 5. 2005<br />

für den Verfassungsvertrag (182:1:0),derBundesrat<br />

am 25. 5. 2005 ebenfalls (59 :3:0).<br />

Polen:ZurRatifizierungderEU-Verfassungistnach<br />

Landesverfassung ein Referendum möglich, das<br />

dann aber bindend ist. Das Referendum wird stattfin-<br />

632<br />

den, war auf 25. 9. 2005 vorgesehen und ist auf unbestimmte<br />

Zeit verschoben worden.<br />

Portugal: Ein fakultatives Referendum ist bei einer<br />

Wahlbeteiligung von mehr als 50 % bindend. Es war<br />

ursprünglich für April 2005 vorgesehen, wurde dann<br />

auf Oktober 2005 und schließlich auf unbestimmte<br />

Zeit verschoben.<br />

Schweden: Ein fakultatives und nicht bindendes Referendum<br />

ist möglich, wenn das Parlament es beschließt.<br />

Die Regierung lehnt eine Volksabstimmung<br />

ab. Die Ratifizierung erfolgt durch Parlamentsbeschluss<br />

und war für Dezember 2005 vorgesehen,<br />

ist aber auf unbestimmte Zeit verschoben<br />

worden.<br />

Slowakei: Das Parlament hat dem Verfassungsvertrag<br />

am 11. 5. 2005 zugestimmt (116 : 27 : 4). Das<br />

Verfassungsgericht in Ko�ice hat die Ratifizierung<br />

am 15. 7. 2005 vorläufig ausgesetzt, um zu klären, ob<br />

zur Annahme des Verfassungsvertrags eine Volksabstimmung<br />

durchgeführt werden muss.<br />

Slowenien: Das Parlament hat dem Verfassungsvertrag<br />

am 1. 2. 2005 zugestimmt (90 :4:7).<br />

Spanien: Die Spanier stimmten am 20. 2. 2005 in einem<br />

nicht bindenden Referendum mit 77,3 % für den<br />

Verfassungsvertrag. Das Abgeordnetenhaus hat dem<br />

Gesetz zur Ratifizierung am 28. 4. 2005 zugestimmt<br />

(311:19:0),derSenatam18.5.2005(225:6:1).<br />

Tschechische Republik: Durch Gesetz kann ein bindendes<br />

Referendum abgehalten werden, eine entsprechende<br />

Initiative liegt noch nicht vor. Ein Referendum<br />

wird aber sehr wahrscheinlich stattfinden,<br />

voraussichtlich im Juni 2006, möglicherweise aber<br />

erst Ende 2006.<br />

Ungarn: Als zweites EU-Land nach Lettland hat Ungarn<br />

die europäische Verfassung ratifiziert. Das Parlament<br />

stimmte dem Gesetz am 20. 12. 2004 mit 322 :<br />

12 Stimmen bei 8 Enthaltungen zu.<br />

Zypern: Das Parlament hat den Verfassungsvertrag<br />

am 30. Juni 2005 zugestimmt (30 : 19 : 7).<br />

Raum der Freiheit, der Sicherheit und des<br />

Rechts<br />

1. Begriff und Genese. Artikel 61 EGV umreißt das<br />

Programm für den „Aufbau eines Raums der Freiheit,<br />

der Sicherheit und des Rechts.“ Die Vorschrift<br />

geht auf den �Vertrag von Amsterdam zurück. Sie<br />

proklamiert als Ziele der Gemeinschaft: die Vollendung<br />

des Binnenmarktes durch freien Personenverkehr<br />

(lit. a), gemeinsame Standards in der Asyl-, Ein-


wanderungs- und Ausländerpolitik (lit. b), die Erleichterung<br />

des grenzüberschreitenden Rechtsschutzes<br />

(lit. c), die Zusammenarbeit der nationalen Verwaltungen<br />

(lit. d), schließlich ein hohes Maß an Sicherheit<br />

für die Bürger in der Union (lit. e). Das Programm<br />

des Art. 61 EGV weist über die GemeinschaftspolitikhinausaufdenGesamtzusammenhang<br />

der europäischen Rechts- und Innenpolitik. Diese<br />

umfasst zusätzlich die Verhütung und Bekämpfung<br />

der organisierten Kriminalität, des Terrorismus und<br />

des illegalen Drogenhandels nach Art. 31 lit. e EUV.<br />

Schließlich gehört dazu, dass die Mitgliedstaaten bei<br />

der Strafverfolgung zusammenarbeiten sowie ihre<br />

Straf- und Strafverfahrensvorschriften aufeinander<br />

abstellen (Art. 61 lit. e EGV).<br />

Mit dem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des<br />

Rechts (RFSR) fasste der Vertrag von Amsterdam<br />

nach der Wirtschafts- und Währungsunion eine weitere<br />

spektakuläre Vertiefung der europäischen Integration<br />

ins Auge. Er löste damit ein Versprechen des<br />

Binnenmarktesein:denfreienPersonenverkehr.Auf<br />

Personenkontrollen an den Binnengrenzen konnten<br />

die Mitgliedstaaten solange nicht vollständig verzichten,<br />

als Ausgleich geschaffen wurde durch eine<br />

gemeinsame Visum-, Asyl- und Einwanderungspolitik<br />

sowie durch eine verbesserte Zusammenarbeit<br />

der Strafverfolgungsbehörden. In besonderer Weise<br />

hob die Einführung der �Unionsbürgerschaft das<br />

Recht hervor, sich innerhalb der Union frei zu bewegen<br />

und aufzuhalten. Zur Verwirklichung dieses<br />

Rechts bedurfte es indes weiterer Schritte. Insbesondere<br />

erschien es notwendig, durch zivilrechtliche<br />

und zivilprozessuale Maßnahmen die Voraussetzungen<br />

zu schaffen, damit die Bürger Vertrauen in den<br />

grenzüberschreitenden Rechtsverkehr fassen.<br />

2. Aufgaben und Probleme. Nachdem die frühere<br />

„Zusammenarbeit in den Bereichen �Justiz und Inneres“<br />

(ZBJI) nach den Verfahren des EU-Vertrags<br />

nur dürftige Ergebnisse hervorgebracht hatte, übertrug<br />

der Vertrag von Amsterdam ihre Gegenstände<br />

zum großen Teil der Europäischen Gemeinschaft.<br />

Diese sollte mit ihren bewährten Rechtsetzungsinstrumenten<br />

binnen fünf Jahren das anspruchsvolle<br />

rechtspolitische Programm verwirklichen. Allein<br />

die „polizeiliche und justitielle Zusammenarbeit in<br />

Strafsachen“ (PJZS) ist in Titel VI EUV verblieben,<br />

in der sog. dritten �Säule der Union, und vollzieht<br />

sich weiterhin im Wege intergouvernementaler Vereinbarungen<br />

nach den dortigen Maßgaben.<br />

Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts<br />

Der Aufbau eines europäischen Raumes der Freiheit,<br />

der Sicherheit und des Rechts zeitigte insbes. auf<br />

dem Gebiet des Zivilverfahrensrechts erfreuliche<br />

Fortschritte. In anderen Bereichen, wie etwa der<br />

Asyl- und Einwanderungspolitik, gerieten die VorhabendagegenerheblichinVerzug.Nichtnursoweit<br />

die Rechtsetzung noch intergouvernementalen Prozeduren<br />

unterliegt, sondern auch in den meisten<br />

„vergemeinschafteten“ Bereichen regiert vorläufig<br />

noch das Einstimmigkeitsprinzip (Art. 67 EGV). Initiative<br />

und Elan der Kommission wie einiger Mitgliedstaaten<br />

kommen dadurch nicht selten zum Erliegen.<br />

Außerdem unterwirft der Vertrag von Amsterdam<br />

die rechtspolitischen Maßnahmen der Gemeinschaft<br />

ungewöhnlich vielfältigen Kautelen, Bedingungen<br />

und Ausnahmeregelungen. Einige Mitgliedstaaten<br />

nimmt er von einer Beteiligung daran<br />

ausdrücklich aus: Dänemark bleibt von Vertrags wegen<br />

außerhalb des Raums der Freiheit, der Sicherheit<br />

und des Rechts. Die britische und die irische Regierung<br />

können jeweils von Fall zu Fall entscheiden, ob<br />

sie sich an einer Maßnahme nach den Art. 61 ff. EGV<br />

beteiligen oder nicht.<br />

Die Europäisierung sensibler rechts- und innenpolitischer<br />

Fragen stößt in einigen Mitgliedstaaten auf<br />

entschiedenen Widerspruch. Nicht zuletzt das<br />

rechtspolitische Integrationsprogramm, welches der<br />

�Verfassungsvertrag 2004 aufnahm und weiterentwickelte,<br />

bringt die öffentliche Meinung in einigen<br />

Mitgliedstaaten gegen die Europäische Verfassung<br />

auf und gefährdet ihre Ratifizierung. Die hier vorgezeichneten<br />

Schritte verstehen sich nicht mehr von<br />

selbst, folgen nicht mehr ausschließlich der Logik<br />

des Binnenmarktes. Sie bedürfen im Gegenteil besonderer<br />

Rechtfertigung, und aus Sicht einiger Mitgliedstaaten<br />

muss sich erst noch zeigen, ob die zu erwartenden<br />

Vorteile den Verlust an nationaler Souveränität<br />

aufwiegen.<br />

3. Das Tampere-Programm. Der Europäische Rat<br />

hat der Einrichtung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit<br />

und des Rechts von Anfang an große Bedeutung<br />

beigemessen. Im Oktober 1999, ein halbes Jahr<br />

nachdem der Vertrag von Amsterdam der Gemeinschaft<br />

die neuen Zuständigkeiten übertragen hat, traf<br />

er sich zu einer Sondertagung in Tampere (Finnland).<br />

Die Staats- und Regierungschefs verständigten<br />

sich auf das sog. Tampere-Programm mit politischen<br />

Leitlinien und konkreten Zielen, an denen sich<br />

der Aufbau des Raums der Freiheit, der Sicherheit<br />

633


Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts<br />

und des Rechts zu orientieren habe. Zur Verwirklichung<br />

des Programms stellten sie Zeitpläne auf und<br />

verpflichteten die Kommission, halbjährlich über<br />

die Fortschritte zu berichten. Fünf Jahre danach zog<br />

der Europäische Rat Bilanz. Dabei trat zu Tage, dass<br />

trotz Fortschritten auf allen Gebieten die EuropäischeUnionweithinterdengestecktenZielenzurückblieb.<br />

Zwar fehlte es nicht an Initiativen der Kommission<br />

und einiger Mitgliedstaaten. Doch ließ sich<br />

bei der Umsetzung der Tampere-Leitlinien durch<br />

VerordnungenundRichtlinienhäufignichtdieerforderliche<br />

Einstimmigkeit im Rat erzielen. Zahlreiche<br />

Rechtsetzungsverfahren gerieten dadurch ins Stocken.<br />

Indes stiegen die Erwartungen an die europäische Sicherheitspolitik<br />

nach den Terroranschlägen vom 11.<br />

9. 2001 in den Vereinigten Staaten und vom 11. 3.<br />

2004 in Madrid. Außerdem verlangten illegale Einwanderung<br />

sowie grenzüberschreitende Verbrecherbanden<br />

immer dringender europäische Reaktionen.<br />

4. Das Haager Programm. Der Europäische Rat traf<br />

sich darum im November 2004 erneut zu einer Sondertagung<br />

in Den Haag. Er nahm ein neues Mehrjahresprogramm<br />

an: das Haager Programm zur Stärkung<br />

von Freiheit, Sicherheit und Recht in der Europäischen<br />

Union. Dabei gehen die Staats- und RegierungschefsbereitsvondemKompetenzzuwachsaus,<br />

den die künftige Europäische Verfassung vorsieht.<br />

Wieder legten sie Leitlinien fest, erteilten Arbeitsaufträge<br />

an Rat und Kommission, setzten Fristen und<br />

verlangten regelmäßige Fortschrittsberichte.<br />

5. Gegenwärtiger Stand. Der Raum der Freiheit, der<br />

Sicherheit und des Rechts gleicht derzeit einer Baustelle.<br />

Wenige abgeschlossene Projekte ragen hervor<br />

unter einer Vielzahl von begonnenen Vorhaben, die<br />

sich in ganz unterschiedlichen Entwicklungsstadien<br />

befinden, und Brachflächen, für die der Bauherr gerade<br />

erst Planungsaufträge erteilt hat. Im Folgenden<br />

soll ein kurzer Überblick über die wichtigsten Arbeiten<br />

und Planungen erfolgen.<br />

5.1 Visum und Grenzkontrollen. Über den Abbau der<br />

Kontrollen an den Binnengrenzen und eine gemeinsame<br />

Visumpolitik haben sich die meisten Mitgliedstaaten<br />

bereits in den �Schengener Übereinkommen<br />

verständigt. Die Regierungskonferenz von Amsterdam<br />

integrierte den Normenbestand dieser Übereinkommen<br />

in das EU-Recht. Er bildet die Grundlage,<br />

auf der die Europäische Gemeinschaft ihre Visums-<br />

634<br />

und Grenzpolitik fortentwickeln kann. Indes ist die<br />

Gemeinschaft bislang kaum über den Schengener<br />

Normenbestand hinausgekommen. Eine Verordnung<br />

des Rates hat die einheitliche Schengener Visamarke<br />

an neuere Sicherheitsanforderungen angepasst.<br />

Im Mai 2005 hat die Europäische Agentur für<br />

dieoperativeZusammenarbeitandenAußengrenzen<br />

in Warschau ihre Arbeit aufgenommen. Sie wird die<br />

nationalen Grenzbehörden mit Risikoanalysen unterstützen<br />

(�Außengrenzen). Darüber hinaus zieht<br />

das Haager Programm eine Europäische Grenzschutztruppe<br />

in Erwägung. Schließlich ist geplant,<br />

ab 2007, wenn das neue Schengener Informationssystem(SISII)zumEinsatzkommtundauchdieneuen<br />

Mitgliedstaaten erfasst, die Kontrollen an allen<br />

Binnengrenzen der EU abzuschaffen.<br />

5.2AsylundEinwanderung.NachlangwierigenVerhandlungen<br />

nahm der Rat am 27. 1. 2003 eine Richtlinie<br />

an, die Mindestnormen für die Aufnahme von<br />

Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten festlegte (RL<br />

2003/9, ABl. L 31/2003). Die Richtlinie zielt darauf,<br />

europaweit einen menschenwürdigen Lebensstandard<br />

für Asylbewerber sicherzustellen. Am 18. 2.<br />

2003 verabschiedete der Rat eine Verordnung, die<br />

festlegt, welcher Mitgliedstaat für die Prüfung eines<br />

Asylantrags zuständig ist (VO 343/2003, ABl. L<br />

50/2003). Seit 15. 1. 2003 ist EURODAC im Einsatz,<br />

ein unionsweites elektronisches System zur Identifizierung<br />

der Fingerabdrücke von Asylbewerbern.<br />

Andere Projekte hingegen kommen nicht voran.<br />

Schon seit September 2000 erörtert der Rat ohne Ergebnis<br />

etwa einen Richtlinienvorschlag der Kommission<br />

über Mindestnormen für die Verfahren zur<br />

Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Nur wenige<br />

Erfolge sind bislang in der �Einwanderungspolitikzuverzeichnen.UnterEinwanderungverstehtdasGemeinschaftsrechtdieEinreiseindieUnionfürlänger<br />

als drei Monate.<br />

5.3 Justitielle Zusammenarbeit in Zivilsachen. Der<br />

Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts<br />

zielt insbes. auf zivilprozessuale Regelungen: Am 1.<br />

3. 2002 trat die Europäische �Gerichtsstands- und<br />

Vollstreckungsverordnung in Kraft (VO 44/ 2001).<br />

Sie regelt bei Streitfällen mit Auslandsberührung,<br />

welche nationale Gerichtsbarkeit zuständig ist und<br />

unter welchen Bedingungen eine Entscheidung aus<br />

einem anderen Mitgliedstaat zu vollstrecken ist. Die<br />

Europäische Gerichtsstands- und Vollstreckungsverordnung<br />

in Ehesachen und Verfahren betreffend


die elterliche Verantwortung (VO 1347/ 2000, ABl.<br />

L 160/2000) trifft seit 1. 3. 2005 vergleichbare Reglungen<br />

für Ehe- und Familiensachen. Schon seit 29.<br />

5. 2001 in Kraft ist die Europäische Zustellungsverordnung<br />

(VO 1348/2000, ABl. L 160/ 2000), die die<br />

grenzüberschreitende Zustellung gerichtlicher<br />

Schriftstücke gegenüber früheren völkerrechtlichen<br />

Abkommen beschleunigen und vereinfachen soll.<br />

Die Europäische Beweisaufnahmeverordnung (VO<br />

1206/2001, ABl. L 174/2001) vom 28. 5. 2001 bietet<br />

Erleichterungen für die Vernehmung von Zeugen<br />

und für andere Beweisaufnahmen im europäischen<br />

Ausland. Schließlich regelt die Europäische Insolvenzverordnung(1346/2000,ABl.L160/2000)vom<br />

29. 5. 2000 die internationale Zuständigkeit, die Anerkennung<br />

von Entscheidungen und das anwendbare<br />

Recht bei Insolvenzverfahren mit Auslandsberührung.<br />

Schwerpunkte des Haager Programms bilden<br />

Regelungen über die gegenseitige Anerkennung und<br />

Vollstreckung von Unterhaltsentscheidungen sowie<br />

kollisionsrechtliche Regelungen im Erbrecht und in<br />

Scheidungssachen.<br />

Zivilrechtlich bedeutsame Maßnahmen ergriff die<br />

Gemeinschaft im Übrigen im Rahmen ihrer ProgrammezurErrichtungeinesGemeinsamenMarktes<br />

und schließlich des Binnenmarktes. Zu ihnen zählen<br />

die Richtlinien über Produkthaftung, Haustürgeschäfte,<br />

Verbraucherkredit, Pauschalreisen, missbräuchliche<br />

Klauseln, Time-Sharing, Fernabsatzverträge,<br />

Unterlassungsklagen und Verbrauchsgüterkauf.<br />

Seit 2001 strebt die Kommission Maßnahmen<br />

auf dem Gebiet des Europäischen �Vertragsrechts<br />

an. Als gesetzliche Maßnahme erwägt sie ein<br />

sog. optionales Instrument: einheitliche Vertragsregelungen,<br />

die – je nach Ausgestaltung – von den Vertragsparteien<br />

gewählt oder abbedungen werden können.<br />

Schließlich arbeitet die Kommission an einem<br />

sog. Gemeinsamen Referenzrahmen, dem Versuch<br />

einer dogmatischen Aufarbeitung und Durchdringung<br />

des europäischen Privatrechts.<br />

5.4 Justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Im<br />

Rahmen der dritten Säule der Union trafen die Mitgliedstaaten<br />

verschiedene Übereinkommen, um die<br />

Zusammenarbeit der nationalen Strafverfolgungsbehörden<br />

zu erleichtern. Außerdem verständigten<br />

sie sich darauf, organisierte und terroristische Straftaten<br />

einheitlich zu definieren und sie unionsweit mit<br />

vergleichbaren Strafen zu ahnden. Etwas in Vergessenheit<br />

geriet das Projekt eines „Corpus Juris straf-<br />

Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts<br />

rechtlicher Regelungen zum Schutz der finanziellen<br />

Interessen der Europäischen Union“. Das Haager<br />

Programm führt den Vorschlag zur Vereinheitlichung<br />

bestimmter Straf- und Strafverfahrensvorschriften<br />

nicht in seiner Prioritätenliste auf. Im Strafrecht<br />

stoßen die Angleichung und Vereinheitlichung<br />

von Rechtsvorschriften auf größeren Widerstand als<br />

auf jedem anderen Rechtsgebiet. Darum konzentrieren<br />

sich die Bemühungen vor allem auf die gegenseitige<br />

Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen.<br />

Das prominenteste Beispiel ist der sog. �Europäische<br />

Haftbefehl. Darunter versteht man einen nationalen<br />

Haftbefehl, der, weil er aufgrund einer bestimmten<br />

schweren Straftat erlassen worden ist, von<br />

allen anderen Mitgliedstaaten ohne weitere Prüfung<br />

anerkannt und vollstreckt wird und zur Auslieferung<br />

des Gesuchten führt. Gegenseitig anerkannt werden<br />

sollen künftig auch Anordnungen der Strafverfolgungsbehörden<br />

zur Beschlagnahme von Beweismitteln<br />

in anderen Mitgliedstaaten mit der Folge, dass<br />

diese Anordnungen ohne weiteres von den Polizeibehörden<br />

der betreffenden Mitgliedstaaten vollzogen<br />

werden. Um die Zusammenarbeit der Strafverfolgungsbehörden<br />

zu verbessern, fordert das Haager<br />

ProgrammdieMitgliedstaatenauf, �Eurojuststärker<br />

als bislang zu unterstützen. Die Einheit mit Sitz in<br />

Den Haag geht auf einen Ratsbeschluss aus dem Jahr<br />

2000 zurück. Sie soll insbes. in Fällen organisierter<br />

Kriminalität grenzüberschreitende Ermittlungen koordinieren.DerVerfassungsvertrag2004siehtsieals<br />

Keimzelle einer künftigen Europäischen Staatsanwaltschaft<br />

(Art. III-274 VVE).<br />

5.5 Polizeiliche Zusammenarbeit. Zur besseren Bekämpfung<br />

von Terrorismus, Menschenhandel, Fälschung<br />

von Zahlungsmitteln und Geldwäsche kamen<br />

die Mitgliedstaaten 1995 überein, �Europol zu<br />

errichten.DieinDenHaagansässigeBehördehatzur<br />

Aufgabe, den Informationsaustausch unter den nationalen<br />

Polizeibehörden zu fördern. Wie Eurojust<br />

leidet indes auch Europol unter der zögerlichen Unterstützung<br />

durch die mitgliedstaatlichen Behörden.<br />

Die Stärkung der europäischen Polizeieinheit im<br />

Kampf gegen den Terrorismus bildet einen Schwerpunkt<br />

des Haager Programms. Zu seiner Umsetzung<br />

willdieKommissiondieMitgliedstaatenzwingen,in<br />

größerem Umfang als bisher Erkenntnisse ihrer Sicherheitsbehörden<br />

Europol zur Verfügung zu stellen.<br />

Die operativen Polizeiaufgaben bleiben indes<br />

nach wie vor den nationalen Behörden überlassen.<br />

635


REACH<br />

Diese sollen noch stärker als bislang miteinander kooperieren.<br />

Das Haager Programm zielt auf den gegenseitigen<br />

Austausch bewährter Ermittlungstechniken.<br />

Außerdem sieht es vor, dass künftig häufiger<br />

gemeinsame Ermittlungsgruppen zum Einsatz kommen.<br />

Th. W.<br />

Literatur:<br />

Degenhart, Ch.: Europol und Strafprozess – Die<br />

Europäisierung des Ermittlungsverfahrens. Heidelberg 2003<br />

Gebauer, M./Wiedmann, Th. (Hg.): Zivilrecht unter europäischem<br />

Einfluss. Die richtlinienkonforme Auslegung des BGB<br />

und anderer Gesetze – Erläuterung der wichtigsten<br />

EG-Verordnungen. Stuttgart 2005<br />

Kraus-Vonjahr, M.: Der Aufbau eines Raums der Freiheit, der<br />

Sicherheit und des Rechts in <strong>Europa</strong>. Frankfurt a. M., Berlin,<br />

Bern, Wien 2002<br />

Schomburg, W.: Die justizielle Zusammenarbeit im Bereich<br />

des Strafrechts in <strong>Europa</strong>: EURO-JUST neben Europol.<br />

ZRP 1999, 237<br />

Wollenschläger, M.: Das Asyl- und Einwanderungsrecht der<br />

EU. EuGRZ 2001, 354.<br />

REACH (Registration, Evaluation and Authorisation<br />

of Chemicals). Das REACH-System über Registrierung,<br />

Bewertung und Zulassung chemischer<br />

Stoffe soll das Kernstück einer EU-Verordnung werden,<br />

deren Entwurf die Kommission am 29. 10. 2003<br />

verabschiedet hat (KOM 2003/644) und die sich<br />

derzeit noch im Gesetzgebungsverfahren befindet<br />

(�Gemeinsamer Standpunkt des Rats voraussichtlich<br />

Herbst 2005, danach Lesung im EP; mit dem Inkrafttreten<br />

wird 2006 zu rechnen sein). Die Verordnung<br />

soll 42 bestehende Richtlinien und 2 Verordnungen<br />

ersetzen.<br />

Im bisher gelten EU-Recht wird unterschieden zwischen<br />

Stoffen, die vor 1981 auf den Markt gekommen<br />

sind („Altstoffe“) und den danach marktfähig<br />

gewordenen neuen Stoffen. Erst seit 1993 müssen<br />

Altstoffe geprüft werden. Da es sich jedoch um mehr<br />

als 100 000 Stoffe handelt, dauert die aufwändige<br />

Prüfung sehr lange. Neue Stoffe müssen sich seit<br />

1993 einer Prüfung unterziehen, wenn mehr als 10 kg<br />

davon pro Jahr auf den Markt gelangen.<br />

Die REACH-Verordnung würde die Unterscheidung<br />

in Alt- und Neustoffe aufheben. Grundsätzlich<br />

müssen dann sämtliche auf dem Markt befindlichen<br />

chemischen Stoffe registriert und bewertet werden.<br />

Risikoreiche Stoffe bedürfen einer Zulassung.<br />

Die REACH-Verordnung wird die Pflicht zur Gewährleistung<br />

von Sicherheit beim Umgang mit Chemikalien<br />

auf die Wirtschaft übertragen. Mittelpunkt<br />

636<br />

des REACH-Systems ist die Registrierung. Hersteller<br />

oder Importeure müssen alle mit der Verwendung<br />

ihrer Chemikalien verbundenen Risiken prüfen und<br />

bewerten und Maßnahmen treffen, um etwaige Risiken<br />

beherrschen zu können. Sie müssen ihre chemischen<br />

Stoffe mit den sicherheitsrelevanten Daten in<br />

einer Datenbank registrieren lassen, die von einer<br />

neu zu schaffenden europäischen Agentur für chemische<br />

Stoffe verwaltet werden soll. Angaben über Risiken<br />

werden in der Lieferkette weitergegeben, so<br />

dass Weiterverarbeiter und Verbraucher gefahrlos<br />

damit umgehen können, wenn die Sicherheitsvorschriften<br />

eingehalten werden.<br />

Auch die bereits existierenden rd. 100 000 Altstoffe<br />

müssen registriert werden, wobei je nach Jahresmenge<br />

Fristen von 3 Jahren (mehr als 1000 t/a) bis 11 Jahre<br />

(1 – 10 t/a) gesetzt werden. Für Hochrisikostoffe,<br />

die bspw. krebserregend, erbgutverändernd oder<br />

fortpflanzungsschädigend wirken können, soll unabhängig<br />

von der Jahresmenge nur die kurze Frist<br />

von 3 Jahren gelten.<br />

Realignment wurden Neufestsetzungen der Leitkurse<br />

von Währungen der EG-Staaten im �Europäischen<br />

Währungssystem (EWS I) genannt.<br />

RECHAR war eine Gemeinschaftsinitiative der EU<br />

zur Unterstützung des Strukturwandels in Regionen<br />

mit Kohlebergbau. Das mehrmals wiederholte Programm<br />

lief 1999 aus. Gefördert wurden z. B. Haldenrückgewinnung,<br />

Modernisierung ungenutzter Gebäude<br />

für Existenzgründungen kleiner und mittlerer<br />

Unternehmen mit zinsverbilligten EGKS-Darlehen,<br />

Qualifizierung von Arbeitnehmern für andere Berufe.<br />

Ähnliche Programme waren �RESIDER für die<br />

wirtschaftliche Umstellung von Stahlrevieren, �RE-<br />

TEX für Regionen mit Textilindustrie, �KONVER<br />

für Rüstungsfirmen und militärische Standorte.<br />

Rechnungseinheit �Europäische Rechnungseinheit<br />

(ERE)<br />

Rechnungshof der Europäischen Gemeinschaften<br />

(ERH). Der Rechnungshof mit Sitz in Luxemburg ist<br />

das unabhängige Organ der EU, dessen Aufgabe die<br />

Prüfung aller Ausgaben und Einnahmen der Gemeinschaft<br />

ist sowie der von dieser geschaffenen<br />

Einrichtungen, soweit deren Gründungsakt dies<br />

nicht ausschließt (Art. 248 Abs. 1 EGV).


1. Entstehung: In den europäischen Gründungsverträgen<br />

war für die Rechnungsprüfung ein Kontrollausschuss<br />

vorgesehen, der keinen eigenen Organstatus<br />

hatte, sondern eine Behörde der internen Finanzkontrolle<br />

war (Art. 206 EWGV, Art. 180 EAGV und<br />

Art. 78d EGKSV). Dieser Kontrollausschuss war bis<br />

zur Errichtung des Rechnungshofes im Jahre 1977<br />

tätig.<br />

In der Folge der Schaffung von �Eigenmitteln der<br />

EG, verbunden mit der Ausdehnung der kostenwirksamen<br />

Tätigkeiten der Gemeinschaft und damit des<br />

EG-Haushaltsplans, wurde die Errichtung eines unabhängigen<br />

Rechnungshofs erforderlich, der über<br />

größere Kontrollmöglichkeiten verfügt und im Hinblick<br />

auf die Eigenmittel an die Stelle der nationalen<br />

Rechnungshöfe treten kann. Daher wurde in dem<br />

Vertrag vom 22. 7. 1975 zur Änderung bestimmter<br />

Finanzvorschriften der EG-Verträge (in Kraft seit<br />

1.7.1977)dieErrichtungeinesRechnungshofesvorgesehen.<br />

Im Maastrichter Vertrag (1992) wurde der<br />

Rechnungshof in die Gruppe der Hauptorgane der<br />

Gemeinschaft aufgenommen (Art. 7 EGV). Dazu<br />

wurde im Kapitel über die Organe ein neuer Abschnitt<br />

„Der Rechnungshof“ eingefügt; darin sind<br />

die bisherigen Art. 206 – 206a EWGV aufgegangen.<br />

Die Regelungen sind jetzt in den Art. 246 – 248 EGV<br />

(Art. 160a – 160c EAGV) niedergelegt.<br />

Als vollwertiges Gemeinschaftsorgan hat der Rechnungshof<br />

nunmehr auch die Möglichkeit, vor dem<br />

EuGH eine Organklage zu erheben, z. B. gegen einen<br />

Mitgliedstaat, wenn dieser notwendige Prüfungsdaten<br />

nicht herausgibt, oder gegen andere Organe wie<br />

z. B. die Kommission, falls diese dem Rechnungshof<br />

die Einsicht in prüfungserhebliche Unterlagen verweigert.<br />

2. Zusammensetzung: Der Rechnungshof besteht aus<br />

je einem Mitglied pro Mitgliedstaat, also derzeit 25<br />

Mitgliedern, die vom Rat nach Anhörung des Europäischen<br />

Parlaments (EP) mit qualifizierter Mehrheit<br />

(vor dem Vertrag von Nizza einstimmig) auf<br />

sechs Jahre ernannt werden. Zu Mitgliedern des<br />

Rechnungshofs sind Persönlichkeiten auszuwählen,<br />

dieinihrenLändernRechnungsprüfungsorganenangehören<br />

oder angehört haben oder die für dieses Amt<br />

besonders geeignet sind. Abgesehen von den regelmäßigen<br />

Neubesetzungen und von Todesfällen endet<br />

das Amt durch Rücktritt oder durch Amtsenthebung<br />

durch den Gerichtshof. Wiederernennung ist<br />

möglich.<br />

Rechnungshof<br />

3. Aufgaben und Tätigkeit: Der Rechnungshof prüft<br />

die Rechnung über alle Einnahmen und Ausgaben<br />

der Gemeinschaft sowie ggf. einer jeden von der Gemeinschaft<br />

geschaffenen Institution (Haushalt der<br />

EU). Die Prüfung der Mittelverwendung erstreckt<br />

sichaufdieRechtmäßigkeitundOrdnungsmäßigkeit<br />

der Einnahmen und Ausgaben sowie auf die Wirtschaftlichkeit<br />

der Haushaltsführung. Sie wird anhand<br />

der Rechnungsunterlagen und erforderlichenfalls<br />

an Ort und Stelle bei den Organen der Gemeinschaft<br />

und in den Mitgliedstaaten in Verbindung mit<br />

den einzelstaatlichen Rechnungsprüfungsorganen<br />

durchgeführt. Die Organe der Gemeinschaft und die<br />

einzelstaatlichen Organe müssen dem Rechnungshof<br />

auf seinen Antrag hin alle für die Erfüllung seiner<br />

Aufgaben benötigten Unterlagen oder Informationen<br />

übermitteln.<br />

Der Rechnungshof kann Prüfungen vor Abschluss<br />

der Rechnung durchführen. Die Kontrolle besitzt somit<br />

fortlaufenden Charakter und kann in Sonderfällen<br />

in größtmöglicher Nähe zum Eingang der Einnahmen<br />

oder zur Tätigung der Ausgaben vorgenommen<br />

werden. Nach Abschluss eines jeden Haushaltsjahres<br />

legt der Rechnungshof einen Jahresbericht<br />

vor, der den Organen der Gemeinschaft übermittelt<br />

und im Amtsblatt veröffentlicht wird. Die betroffenen<br />

Organe haben die Möglichkeit, zu den einzelnen<br />

BemerkungenStellungzunehmen.DieseAntworten<br />

der Organe werden mit dem Jahresbericht veröffentlicht.<br />

Vor der endgültigen Festlegung der Antworten<br />

der Kommission wird in einem kontradiktorischen<br />

Verfahren versucht, zwischen Kommission und<br />

Rechnungshof etwaige Widersprüche über Tatsachen<br />

auszuräumen und die jeweiligen Standpunkte<br />

zu klären. Der Rechnungshof arbeitet außerdem Jahresberichte<br />

über das Finanzgebaren der Satellitenorgane<br />

der Gemeinschaften (z. B. Kernfusions-Versuchsreaktor<br />

�JET, �<strong>Europa</strong>-Schulen) aus (während<br />

des Bestehens der EGKS auch für diese Gemeinschaft).<br />

Artikel 279 EGV verpflichtet die Organe bei Änderungen<br />

der Haushaltsordnung, in der insbes. die Aufstellung<br />

und Ausführung des Haushaltsplans sowie<br />

die Rechnungslegung und Rechnungsprüfung im<br />

Einzelnen geregelt werden, die Stellungnahme des<br />

Rechnungshofs einzuholen. Gleiches gilt gem. Art.<br />

280 EGV für Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung<br />

von Betrügereien zu Lasten der finanziellen<br />

Interessen der Gemeinschaft. Eine Unterlassung<br />

637


Rechnungsprüfung<br />

der Anhörung würde eine Verletzung des vorgeschriebenen<br />

legislativen Verfahrens bedeuten. Der<br />

Rechnungshof kann ferner jederzeit seine Bemerkungen<br />

zu besonderen Fragen in Form von SonderberichtenvorlegenundaufAntrageinesOrgansStellungnahmen<br />

abgeben.<br />

4. Entlastungsverfahren: Der Rechnungshof übermittelt<br />

den für die Entlastung zuständigen Organen<br />

(EP und Rat) bis spätestens 30. November seinen<br />

Jahresbericht zum vorausgegangenen Haushaltsjahr<br />

mit den Stellungnahmen der Organe zu den einzelnen<br />

Bemerkungen. Der Bericht des Rechnungshofs<br />

wirdvondenpolitischverantwortlichenOrganender<br />

Gemeinschaft,alsodemEPunddemRat,imRahmen<br />

des Entlastungsverfahrens geprüft, mit dem das EP<br />

die Haushaltsführung der Kommission in dem betreffenden<br />

Haushaltsjahr nach Eingang der Stellungnahme<br />

des Rates bewertet. Mit dem Vertrag von<br />

Maastricht wurde eingeführt, dass der Rechnungshof<br />

dem Europäischen Parlament wie dem Rat eine<br />

gesonderte „Erklärung über die Zuverlässigkeit der<br />

Rechnungsprüfung sowie die Rechtmäßigkeit und<br />

Ordnungsmäßigkeit der zugrunde liegenden Vorgänge“<br />

(Art. 248 EGV) vorzulegen hat mit einer<br />

Empfehlung zur Entlastung, vergleichbar dem Testat<br />

der Wirtschaftsprüfer eines Unternehmens. Ein<br />

erstes Testat des Rechnungshofs wurde im Oktober<br />

1995 zum Haushalt 1994 abgegeben.<br />

Das Entlastungsverfahren umfasst eine gründliche<br />

Analyse der Arbeit des Rechnungshofs und bedeutet<br />

für die Kommission, dass sie die Mängel abstellen<br />

muss, auf die der Rechnungshof hingewiesen hat und<br />

die vom Parlament bekräftigt wurden. Der Rechnungshof<br />

ist gehalten, das EP und den Rat bei der<br />

Kontrolle der Ausführung des Haushaltsplans der<br />

Gemeinschaften zu unterstützen. In diesem Rahmen<br />

nehmen die Mitglieder des Rechnungshofes und ihre<br />

Vertreter regelmäßig an den Sitzungen des Ausschusses<br />

für Haushaltskontrolle und des HaushaltsausschussesdesEPteil.<br />

K. H. O.<br />

Anschrift: 12, rue Alcide de Gasperi, L–1615 Luxemburg<br />

Rechnungsprüfung �Rechnungshof der EU<br />

Rechtsakte der EU bilden das sekundäre �Gemeinschaftsrecht,<br />

das nach Art. 249 EGV vom Europäischen<br />

Parlament und vom Rat gemeinsam bzw. vom<br />

Rat oder von der Europäischen Kommission allein<br />

geschaffen wird. Der EGV unterscheidet:<br />

638<br />

Verordnung: Gesetz mit allgemeiner Geltung; sie ist<br />

in allen Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem<br />

Mitgliedstaat; Verordnungen sind überwiegend<br />

Durchführungsbestimmungen.<br />

Richtlinie: Rahmengesetz, das an Mitgliedstaaten<br />

gerichtet ist; sie muss inhaltlich in die nationale Gesetzgebung<br />

umgesetzt werden, wobei das in der<br />

Richtlinie festgelegte Ziel verbindlich ist, die Wahl<br />

von Form und Mitteln aber dem Staat überlassen<br />

bleibt;<br />

Entscheidung: richtet sich nur an einzelne Mitgliedstaaten,<br />

Unternehmen oder Einzelpersonen und ist<br />

für sie in allen Teilen verbindlich.<br />

Empfehlung und Stellungnahme: sind nicht verbindlich.<br />

Im Bereich der EGKS galten z. T. andere Bezeichnungen<br />

bzw. hatten die oben genannten Bezeichnungen<br />

eine andere Bedeutung.<br />

Der �Verfassungsvertrag 2004 würde die Bezeichnungen<br />

der Rechtsakte ändern, wenn er in Kraft treten<br />

kann. Nach Art. I-33 VVE 2004 heißen Verordnungen<br />

dann Europäische Gesetze, Richtlinien werden<br />

Europäische Rahmengesetze genannt. Verordnungen<br />

ohne Gesetzescharakter (Durchführungsbestimmungen)<br />

heißen Europäische Verordnungen;<br />

wenn sie sich auf ein Europäisches Gesetz beziehen,<br />

sind sie in allen Teilen verbindlich und gelten unmittelbar;<br />

beziehen sie sich auf ein Europäisches Rahmengesetz,<br />

sind sie verbindlich hinsichtlich des zu<br />

erreichenden Ziels, die Wahl von Form und Mitteln<br />

bleibt den Staaten überlassen. Entscheidungen heißen<br />

künftig Europäische Beschlüsse. Unverbindlich<br />

bleiben Empfehlungen und Stellungnahmen; ihre<br />

Bezeichnungen ändern sich nicht.<br />

Rechtsangleichung ist nach Art. 3 Abs. 1 lit. h<br />

EGVeinederTätigkeitenderEuropäischenGemeinschaft,<br />

um die in Art. 2 EGV benannten Aufgaben zu<br />

erfüllen. Es handelt sich um Angleichung (�Harmonisierung)<br />

innerstaatlicher Rechtsvorschriften (Gesetze,<br />

Verordnungen, technische Normen usw.) mit<br />

der Einschränkung, „soweit dies für das Funktionieren<br />

des Gemeinsamen Marktes erforderlich ist“.<br />

Zweck der Rechtsangleichung ist es, Wettbewerbsverzerrungen<br />

im Binnenmarkt, die sich aus unterschiedlichen<br />

Rechtsvorschriften ergeben, zu beseitigen<br />

oder zu verringern.<br />

RechtsgrundlagevonRechtsangleichungenistKapitel<br />

3 in Titel VI EGV (Art. 94 – 97).


Rechtsgrundlagen (Rechtsquellen). �Rechtsakte<br />

der Gemeinschaftsorgane müssen auf vertraglich<br />

vereinbarte Bestimmungen (im �Primärrecht) zurückzuführen<br />

sein, die in dem jeweiligen Rechtsakt<br />

zu benennen sind.<br />

Rechtspersönlichkeit ist die mit Rechten und<br />

Pflichten verbundene Eigenschaft, z. B. von juristischen<br />

Personen (Kapitalgesellschaften, Körperschaften),rechts-undgeschäftsfähigzusein.ImVölkerrecht<br />

ist es die Eigenschaft von Völkerrechtssubjekten,<br />

untereinander Verträge schließen zu können.<br />

Völkerrechtssubjekte sind in der Regel Staaten und<br />

internationale Organisationen. Sie sind im Rahmen<br />

ihrer Zuständigkeiten an allgemeine Grundsätze des<br />

Völkerrechts gebunden. Der EG wird in Art. 281<br />

EGV Rechtspersönlichkeit zugesprochen. Eine entsprechende<br />

ausdrückliche Zuweisung der Rechtspersönlichkeit<br />

an die EU fehlt im EUV. Im �Verfassungsvertrag<br />

2004 für <strong>Europa</strong> heißt es dagegen in<br />

Art.I-7:„DieUnionbesitztRechtspersönlichkeit.“<br />

Rechtsstaatlichkeit ist nach Art. 6 Abs. 1 EUV einer<br />

der Grundsätze, auf denen die Europäische<br />

Union beruht und deren Beachtung eine Voraussetzung<br />

für den Beitritt zur EU ist (Art. 49 EUV). Im<br />

Rechtsstaat sind die Legislative an die Verfassung,<br />

die Exekutive und die Judikative an Gesetz und<br />

Rechtgebunden(Legalität).DerformaleRechtsstaat<br />

ist verpflichtet, das von der Legislative gesetzte<br />

Recht zu verwirklichen und es durch seine Tätigkeit<br />

nicht zu beeinträchtigen. Er unterwirft sich dabei der<br />

Kontrolle unabhängiger Richter. Zu den Grundsätzen<br />

des modernen Rechtsstaats gehört darüber hinaus<br />

die Bindung der Staatsgewalt an vorkonstitutionelle<br />

Menschenrechte und die Anerkennung und der<br />

Schutz der Menschenwürde.<br />

REFLEX(RiskEvaluationofPotentialEnvironmental<br />

Hazards from Low Energy Electromagnetic Field<br />

Exposure), Vorhaben im 5. EU-ForschungsrahmenprogrammzurUntersuchungdesGesundheitsrisikos<br />

elektromagnetischer Felder. Beteiligt waren 12 Forschergruppen<br />

aus 7 europäischen Ländern. Laufzeit<br />

von Februar 2000 bis August 2003, Ende der Studie<br />

31. August 2006.<br />

Reflexionsgruppe.SiewurdezurVorbereitungder<br />

�Regierungskonferenz von 1996 vom Europäischen<br />

Regelungen für politische Parteien<br />

Rat von Korfu (24./25. 6. 1994) eingesetzt und setzte<br />

sich aus Vertretern der Außenminister der Mitgliedstaaten,<br />

zwei Vertretern des Europäischen Parlaments<br />

und dem Präsidenten der Kommission zusammen.<br />

Der Europäische Rat von Cannes (26./27. 6.<br />

1995) hat das Mandat der Reflexionsgruppe präzisiert.<br />

Die Reflexionsgruppe hat ihre Arbeit im Juni 1995<br />

aufgenommen. Den Vorsitz führte der Spanier Carlos<br />

Westendorp („Westendorp-Gruppe“). Den Bericht<br />

der Gruppe nahm der Europäische Rat von Madrid<br />

(15./16. 12. 1995) entgegen, der den Beginn der<br />

Regierungskonferenz, deren Arbeit zum AmsterdamerVertragführte,aufden29.März1996festlegte.<br />

Reformen der Agrarpolitik �Gemeinsame Agrarpolitik<br />

(GAP), �Agenda 2000<br />

Reformstaaten sind Staaten Mittel- und Osteuropas<br />

sowie Zentralasiens, die nach dem Zusammenbruch<br />

des Ostblocks 1989 als Nachfolgestaaten der<br />

Sowjetunion bzw. als ehemals kommunistisch regierte<br />

Staaten einen politischen, wirtschaftlichen<br />

und gesellschaftlichen Transformationsprozess eingeleitet<br />

und sich demokratischen, rechtsstaatlichen<br />

und marktwirtschaftlichen Prinzipien genähert haben.AchtLänderausMittel-undOsteuropa(MOEL)<br />

sind am 1. 5. 2004 der EU beigetreten (die baltischen<br />

Staaten Estland, Lettland, Litauen, ferner Polen,<br />

Tschechien, die Slowakei und Ungarn sowie als erster<br />

Balkanstaat Slowenien). Zwei weitere MOEL<br />

werden der EU voraussichtlich 2007 oder 2008 beitreten:<br />

Bulgarien und Rumänien. Kroatien wird ggf.<br />

im gleichen Zeitraum ebenfalls EU-Mitglied.<br />

Von den weiteren Reformstaaten zählen sechs nach<br />

denKriterienderWeltbankzudenStaatenmitniedrigem<br />

Einkommen (BIP pro Kopf bis 735 US-$): Aserbaidschan,<br />

Georgien, Kirgisische Republik, Moldawien,<br />

Tadschikistan, Usbekistan, die übrigen 11 zu<br />

den Staaten mit niedrigem mittleren Einkommen<br />

(BIP pro Kopf 316 – 2 935 US-$): Albanien, Armenien,<br />

Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Kasachstan,<br />

Mazedonien, Russland, Serbien und Montenegro,<br />

Turkmenistan, die Ukraine und Weißrussland.<br />

Regelungen für die politischen Parteien auf europäischer<br />

Ebene und insbes. für ihre Finanzierung<br />

haben Rat und EP in der Verordnung 2004/2003 vom<br />

4. 11. 2003 gem. Art. 191 EGV festgelegt (ABl. L<br />

639


Regelungsausschuss<br />

297/ 2003). Danach muss eine europäische Partei<br />

– Rechtspersönlichkeit besitzen in dem Mitgliedstaat,<br />

in dem sie ihren Sitz hat,<br />

– in mindestens einem Viertel der Mitgliedstaaten<br />

gewählte Mitglieder in Parlamenten (EP, nationale<br />

Parlamente, Regionalparlamente) oder bei der letzten<br />

<strong>Europa</strong>wahl in jedem dieser Staaten einen Stimmenanteilvonmindestens3Prozenterreichthaben,<br />

– in ihrem Programm und in ihrer Tätigkeit die<br />

GrundsätzederEUnachArt.6Abs.1EUVbeachten,<br />

– an <strong>Europa</strong>wahlen teilgenommen haben oder die<br />

Absicht bekunden, dies zu tun.<br />

EuropäischeParteienkönnenaufjährlichneuzustellenden<br />

Antrag beim Europäischen Parlament aus<br />

dem Haushalt der Europäischen Union Finanzmittel<br />

bis zu 75 % ihres Budgets erhalten. Diese Mittel dürfennurfürunmittelbarderParteidienendeAusgaben<br />

verwendet werden, z. B. Verwaltungsausgaben,<br />

Ausgaben für technische Unterstützung, Sitzungen,<br />

Forschung, grenzüberschreitende Veranstaltungen,<br />

Studien, Information und Veröffentlichungen. Mit<br />

diesen Mitteln dürfen keine anderen Parteien unterstützt<br />

werden.<br />

Die Partei muss jährlich ihre Einnahmen und Ausgaben<br />

veröffentlichen sowie ihre Aktiva und Passiva<br />

und muss darin ihre Finanzquellen benennen. Dabei<br />

müssen Spenden über 500 Euro aufgeführt werden.<br />

Verboten sind anonyme Spenden, Spenden aus dem<br />

Budget einer Fraktion des EP, von öffentlichen Unternehmen<br />

sowie in einer Höhe über 12 000 Euro pro<br />

Jahr und Spender. Spenden dürfen 40 % des Jahresbudgets<br />

einer Partei nicht übersteigen.<br />

Regelungsausschuss �Komitologie<br />

Regieren, europäisches �Governance<br />

Regierungskonferenz. Konferenz von Vertretern<br />

der Regierungen der Mitgliedstaaten, die vom Ratspräsidenten<br />

einberufen wird, um Änderungen am<br />

Primärrecht auszuarbeiten und einvernehmlich zu<br />

verabschieden. Der Einberufung einer Regierungskonferenz<br />

geht gem. Art. 48 EUV eine befürwortende<br />

Stellungnahme des Rats voraus, der dazu auch das<br />

Europäische Parlament und ggf. die Kommission anhört.<br />

Regionalfonds �Fonds der EU, �Europäischer<br />

Fonds für regionale Entwicklung (EFRE)<br />

640<br />

Regionalismus/Regionalisierung. Regionalismus<br />

drückt das allgemeine Bestreben einer Region<br />

nach größerer Selbstverantwortung und Autonomie<br />

gegenüber dem Staat oder einer übergeordneten supranationalenEbeneaus.InderEU/EGzielenRegionalisierungsbemühungen<br />

insbes. auf eine stärkere<br />

VerankerungderRegionenindieeuropäischenInstitutionensowieeinegenerelleStärkungundEntwicklung<br />

regionaler Strukturen innerhalb <strong>Europa</strong>s ab.<br />

Innerhalb des Institutionengefüges der EU/EG soll<br />

der durch den Vertrag von Maastricht eingerichtete<br />

�Ausschuss der Regionen (AdR) Zentralisierungstendenzen<br />

entgegenwirken und die Berücksichtigung<br />

regionaler Interessen im Entscheidungsfindungs-undGesetzgebungsprozesssicherstellen.Die<br />

vom EP im Jahr 1988 verabschiedete „Gemeinschaftscharta<br />

der Regionalisierung“ fordert die angemessene<br />

Beteiligung der Regionen an der Erfüllung<br />

staatlicher Aufgaben im Rahmen eines kooperativen<br />

Regionalismus, der an die Stelle traditionell<br />

zentralstaatlicher Konzepte treten soll.<br />

Außerhalb der EU/EG-Institutionen kann die 1985<br />

gegründete �Versammlung der Regionen <strong>Europa</strong>s<br />

(VRE) als wichtigstes Sprachrohr für den Regionalismus<br />

in <strong>Europa</strong> angesehen werden. Die VRE ist<br />

eine jährlich tagende ständige Konferenz, die durch<br />

den �<strong>Europa</strong>rat organisiert wird. Ihr Hauptinteresse<br />

gilt der Stärkung der europäischen Regionen innerhalb<br />

und außerhalb der Europäischen Union, deren<br />

politische Anerkennung und innerstaatliche Mitwirkungsmöglichkeit<br />

noch nicht weit fortgeschritten<br />

sind.InAbgrenzungzumAdRvertrittdieVREdamit<br />

auch Regionen, die über keinerlei Gesetzgebungskompetenzen<br />

und institutionelle Mitwirkungsmöglichkeiten<br />

verfügen. Der VRE kann insofern im Gegensatz<br />

zum AdR als gesamteuropäische Regionalismusbewegung<br />

mit einem sehr weit ausgelegten<br />

Regionenbegriff bezeichnet werden. Als Leitfaden<br />

für die Regionen und zur Stärkung ihrer Befugnisse<br />

dient die „Erklärung zum Regionalismus“, die der<br />

VRE im Jahr 1996 verabschiedet hat. Als Ergänzung<br />

zur „Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung“,<br />

in der die Grundsätze der kommunalen<br />

Selbstverwaltung geregelt werden, begann zudem<br />

der �Kongress der Gemeinden und Regionen <strong>Europa</strong>s<br />

(KGRE), ein beratendes Organ des <strong>Europa</strong>rates,<br />

1993 mit der Ausarbeitung einer „Europäischen<br />

Charta der regionalen Selbstverwaltung“. Kernpunkt<br />

des Entwurfs ist der Grundsatz, die regionale


Selbstverwaltungsoweitwiemöglichindennationalen<br />

Verfassungen anzuerkennen und damit rechtlich<br />

abzusichern.<br />

AntriebdieserRegionalisierungsbemühungenistdie<br />

Überzeugung, dass sich die Bürger aufgrund historischer,<br />

sprachlicher, kultureller, sozialer, wirtschaftlicher<br />

und geographischer Bande in immer größerem<br />

Maß mit ihren Regionen identifizieren. Dem Regionalismusgedanken<br />

liegt zudem die Überzeugung zugrunde,<br />

dass Staaten und Organisationen mit starken<br />

Regionen ihre wirtschaftlichen und sozialen Probleme<br />

besser lösen können. Hieraus wird die Berechtigung<br />

zur Mitentscheidung in staatlichen Organen<br />

und auf internationaler Ebene bzw. eine Komplementarität<br />

supranationaler, nationaler und regionaler<br />

Befugnisse abgeleitet. Zentrale Themen sind insofern<br />

die Formulierung von Mindeststandards bei<br />

der Beteiligung der Regionen am Gesetzgebungsprozess,<br />

die Finanzausstattung der regionalen Ebene,<br />

die Verteilung der Befugnisse im �Mehrebenensystem<br />

sowie die Wahrung des Subsidiaritätsgedankens.<br />

Der europäische Regionalismus wird dabei<br />

abertrotzderBetonungvonDezentralitätundSelbstbestimmung<br />

nicht als Abgrenzung zur nationalen<br />

oder supranationalen Ebene verstanden, sondern als<br />

wesentlicher Bestandteil des europäischen Integrationsprozesses.<br />

Die Erforderlichkeit der Partnerschaft<br />

zwischen den Verwaltungsebenen wird deshalb<br />

genauso betont wie die Notwendigkeit zur politischen,<br />

sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen<br />

Kooperation zwischen den Regionen für den Aufbau<br />

einesgeeinigtenundsolidarischen<strong>Europa</strong>s. S. A.<br />

Literatur:<br />

Döring, D.: Regionalismus in der Europäischen Union.<br />

Berlin 2001<br />

Europäisches Parlament: Gemeinschaftscharta zur<br />

Regionalisierung. Straßburg 1988<br />

Heinemann, T.: Der Regionalismus zwischen innerstaatlicher<br />

Entwicklung und europäischer Beteiligung. Eine<br />

rechtsvergleichende Untersuchung. Berlin 2001<br />

Versammlung der Regionen <strong>Europa</strong>s: Erklärung zum<br />

Regionalismus in <strong>Europa</strong>. Straßburg 1996<br />

Regionalkonzept �Südosteuropapolitik<br />

Regionalpolitik (regionale �Strukturpolitik)<br />

1. Begriff: Die Regionalpolitik der EU umfasst die<br />

Gesamtheit der gemeinsamen Maßnahmen der EU-<br />

Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft zur Verringerung<br />

regionaler wirtschaftlicher und sozialer Unterschiede<br />

im Gebiet der Gemeinschaft. Sie zielt auf die<br />

Regionalpolitik<br />

Stärkung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts<br />

zum Zwecke der „harmonischen Entwicklung<br />

der Gemeinschaft als Ganzes“ (Art. 158 EGV)<br />

durch Verringerung der Unterschiede im Entwicklungsstand<br />

zwischen den verschiedenen Regionen<br />

und des Rückstandes der am stärksten benachteiligten<br />

Gebiete. Die zur Zielerreichung erforderlichen<br />

regional wirksamen wirtschafts- und sozialpolitischen<br />

Maßnahmen umfassen die Zielfindung, die<br />

Mittelauswahl, den Mitteleinsatz und die Wirkungskontrolle.(ZurUnterscheidungvonRegionalpolitik=regionale<br />

Strukturpolitik und Strukturpolitik = sektorale<br />

Strukturpolitik vgl. �Strukturpolitik Ziff. 1).<br />

Die Regionalpolitik kann wachstums- oder/und sozialorientiert<br />

ausgerichtet sein. Sie ist wachstumsorientiert,<br />

wenn sie auf die Verwirklichung einer optimalen<br />

Verteilung der Produktionsfaktoren (Kapital,<br />

Boden, Arbeit, Know-how, Infrastruktur) im<br />

Raum durch Beeinflussung der interregionalen Mobilität<br />

hinwirkt; sie ist sozialorientiert, indem sie<br />

rückständige Regionen mit dem Ziel des regionalen<br />

Ausgleichs der Lebensbedingungen fördert.<br />

2. Rechtliche Grundlagen: Regionale Förderung als<br />

gezielte Wirtschaftspolitik zum Ausgleich regionaler<br />

Entwicklungsunterschiede war im EWG-Vertrag<br />

(1957) ursprünglich nicht ausdrücklich ausgewiesen.<br />

Außer der Präambel wiesen nur einige in anderem<br />

Zusammenhang stehende Vorschriften des<br />

EWG-Vertrages von 1957 regionalpolitische Bezüge<br />

auf (z. B. Art. 39 Abs. 2a; Art. 49 Abs. d; Art. 80<br />

Abs. 2 EWGV); sie reichten aber als Grundlage einer<br />

umfassenden EU-Regionalpolitik nicht aus. Der<br />

Hauptgrund für die relative Bedeutungslosigkeit regionalpolitischer<br />

Gesichtspunkte bei der Abfassung<br />

des Vertrages war die Annahme der vertragschließenden<br />

Parteien, dass bereits die Existenz eines Gemeinsamen<br />

Marktes regionale Unterschiede im Entwicklungsstand<br />

der damals sechs Mitgliedstaaten<br />

beseitigen werde. Erst nach der Erweiterung auf 12<br />

Mitgliedstaaten (Süderweiterung) wurde mit der<br />

EEA (Art. 23; 1986) und dem EGV (Art. 158 – 162)<br />

dieZuständigkeitderGemeinschaftfürregionalpolitische<br />

Maßnahmen ausdrücklich anerkannt und vertraglich<br />

geregelt. Während Art. 158 EGV die Ziele<br />

gemeinschaftlicher Regionalpolitik formuliert (Verringerung<br />

der Unterschiede im Entwicklungsstand<br />

der verschiedenen Regionen und des Rückstands der<br />

am stärksten benachteiligten Gebiete), werden in<br />

641


Regionalpolitik<br />

Art. 159 die Aufgaben der Mitgliedstaaten und der<br />

Gemeinschaft (Ausrichtung und Koordinierung der<br />

nationalen Regionalpolitiken, Festlegung der Zuständigkeiten<br />

der Gemeinschaft) festgelegt. Artikel<br />

160 bis 162 EGV regeln die Aufgaben und Verfahrensweisen<br />

der �Strukturfonds, Art. 161 beschäftigt<br />

sich mit der Einrichtung eines �Kohäsionsfonds. Er<br />

soll zur Finanzierung von Vorhaben in den Bereichen<br />

Umwelt und �Transeuropäische Netze insbes.<br />

in den rückständigen Mitgliedstaaten beitragen.<br />

Dieser Aufgabe, die Wettbewerbspolitik in einer sozial<br />

orientierten Marktwirtschaft allein nicht leisten<br />

kann,stelltsichdieRegionalpolitik(regionaleStrukturpolitik)<br />

seit 1988 in verstärktem Maße. Zwar wird<br />

Regional- bzw. Strukturpolitik in Art. 3 EGV nicht<br />

ausdrücklich als Politikbereich erwähnt, doch lassen<br />

sowohl die Römischen Verträge als auch der Maastrichter<br />

Vertrag über die Europäische Union keinen<br />

Zweifel daran, dass Strukturpolitik als Verklammerung<br />

anderer Politikbereiche ein unverzichtbares<br />

Fundament gemeinschaftlicher Politik ist. Außer<br />

Art. 2 EGV enthalten viele Titel des EG-Vertrags<br />

wichtige strukturpolitische Elemente.<br />

Das Kernstück und die wichtigste rechtliche Grundlage<br />

der EU-Regional- und Strukturpolitik ist der<br />

durch die Einheitliche Europäische Akte (EEA) von<br />

1986 neu in den EG-Vertrag eingefügte Titel „Wirtschaftlicher<br />

und sozialer Zusammenhalt“ (Titel<br />

XVIIEGV).Artikel158EGVverpflichtetdiePolitik<br />

der Gemeinschaft „zur Stärkung ihres wirtschaftlichen<br />

und sozialen Zusammenhalts, um eine harmonische<br />

Entwicklung der Gemeinschaft als Ganzes zu<br />

fördern“. Gemäß dieser Zielsetzung haben die Mitgliedstaaten<br />

ihre Wirtschaftspolitik zu koordinieren;<br />

und die Gemeinschaft berücksichtigt bei der Festlegung<br />

und Durchführung ihrer Politiken und Aktionen<br />

sowie bei der Errichtung des Binnenmarktes die<br />

in Art. 158 EGV formulierten Ziele.<br />

3. Ziele: Artikel 2 EGV formuliert die Ziele gemeinsamer<br />

Politik bzw. gemeinsamer Maßnahmen. Sie<br />

lauten: harmonische und ausgewogene Entwicklung<br />

des Wirtschaftslebens innerhalb der Gemeinschaft,<br />

umweltverträgliches Wachstum, Konvergenz der<br />

Wirtschaftsleistungen, hohes Beschäftigungsniveau,<br />

hohes Maß an sozialem Schutz, Hebung der<br />

Lebenshaltung und der Lebensqualität, wirtschaftlicherundsozialerZusammenhaltundSolidaritätzwischen<br />

den Mitgliedstaaten. Angesichts der erheblichen<br />

Vertiefung des innergemeinschaftlichen Wohl-<br />

642<br />

standsgefälles infolge der �Osterweiterung der EU<br />

und sich verstärkender Globalisierungsprozesse erhalten<br />

die Stärkung der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit,<br />

�nachhaltige Entwicklung (als neue<br />

Zieldimension) und die Überwindung der Kohäsionskluft<br />

erste Priorität. Eine harmonische Entwicklung<br />

sowie wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt<br />

lassen sich nur erreichen, wenn die benachteiligten<br />

Regionen und Bevölkerungsgruppen<br />

vorrangig an einer Verbesserung der Lebensbedingungen<br />

Anteil haben. Ziel der dafür zuständigen regionalen<br />

EU-Strukturpolitik ist es also, bestehende<br />

räumliche Unterschiede abzubauen, das Entstehen<br />

neuer regionaler Ungleichgewichte zu verhindern<br />

und den Problemregionen dafür aus den Strukturfonds<br />

Gemeinschaftsmittel bereitzustellen. Wirtschaftlicher<br />

und sozialer Zusammenhalt sowie solidarisches<br />

Handeln der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft<br />

als Ganzes sind Grundvoraussetzungen<br />

für eine harmonische Entwicklung in der EU. Während<br />

wirtschaftlicher Zusammenhalt auf Verringerung<br />

der regionalen wirtschaftlichen Unterschiede<br />

bei gleichzeitiger Hebung des wirtschaftlichen EntwicklungsniveausindergesamtenEUzielt,erstreckt<br />

sich sozialer Zusammenhalt auf Bereiche wie Arbeitslosigkeit,<br />

angemessene Bildung und Ausbildung,<br />

soziale Absicherung, demographische Entwicklung,<br />

auf Verringerung von Ungleichheiten<br />

zwischen Einzelpersonen usw. Auf wirtschaftlichen<br />

ZusammenhaltgerichteteMaßnahmenundMaßnahmen<br />

des sozialen Zusammenhalts ergänzen einander.<br />

4. Instrumente: Wichtige Instrumente bei der Verwirklichung<br />

dieser Ziele sind die Strukturfonds der<br />

EU sowie der Kohäsionsfonds (�Fonds der EU), die<br />

� Europäische Investitionsbank und sonstige Finanzierungsinstrumente.<br />

Ausdrücklich wird in Art. 161<br />

EGV festgelegt, dass eine „Koordinierung der Fonds<br />

sowohl untereinander als auch mit den anderen vorhandenen<br />

Finanzierungsinstrumenten“ zu erfolgen<br />

hat. Wenn selbst auch in diesem Zusammenhang der<br />

Begriff „Strukturpolitik“ nicht benutzt wird, so liegen<br />

dieser Festlegung doch unverkennbar strukturpolitische<br />

Prinzipien zugrunde, wie es auch die Bezeichnung<br />

„Strukturfonds“ belegt. Weitere strukturpolitische<br />

Elemente und Gesichtspunkte enthalten<br />

fast alle den dritten Teil des EGV bildenden Titel: Titel<br />

II (Landwirtschaft; Art. 33 Abs. 2), Titel V (Verkehr),<br />

Titel VI (Wettbewerb), Titel XI (Sozialpoli-


tik), Titel XV (Transeuropäische Netze), Titel XVI<br />

(Industrie), Titel XVIII (Forschung und technologische<br />

Entwicklung), Titel XIX (Umwelt). Darin<br />

kommt die Klammerfunktion der sektoralen Strukturpolitik<br />

klar zum Ausdruck.<br />

Artikel160 und 162 EGV regeln die Aufgaben und<br />

Verfahrensweisen der Strukturfonds, Art.161 beschäftigt<br />

sich mit der Einrichtung eines Kohäsionsfonds.ErträgtzurFinanzierungvonVorhabeninden<br />

Bereichen Umwelt und �Transeuropäische Netze in<br />

rückständigen Mitgliedstaaten bei.<br />

Der Kohäsionsfonds kann von Mitgliedstaaten in<br />

Anspruch genommen werden, deren BSP pro Kopf<br />

weniger als 90% des EU-Durchschnitts beträgt (bisher<br />

Griechenland, Irland, Spanien, Portugal). Nach<br />

der EU-Erweiterung um 10 neue Mitglieder am 1. 5.<br />

2004 ist eine Umgruppierung unumgänglich geworden.<br />

Der zielangemessene Mitteleinsatz zur Verringerung<br />

regionaler Ungleichgewichte aus den Fonds der<br />

EU erfordert eine Koordinierung der (regionalen)<br />

Strukturpolitik der Mitgliedstaaten untereinander<br />

sowie mit der der Gemeinschaft. Als Koordinierungsinstrumente<br />

dienen:<br />

– der periodische Bericht der Kommission (alle drei<br />

Jahre) „über die Fortschritte bei der Verwirklichung<br />

des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts<br />

und über den Mitteleinsatz“ (Art. 159 EGV);<br />

– die gemeinschaftlichen Förderkonzepte (GFK),<br />

die die Leitlinien für die Gemeinschaftsinterventionen<br />

in Form von Zuschüssen oder Darlehn festlegen<br />

und die in sog. „Operationelle Programme“ umgesetzt<br />

werden. Diese beruhen auf integrierter Planung<br />

und Programmierung, d.h. statt isolierter Probleme<br />

werden Problemzusammenhänge in einer Gesamtstrategie<br />

angegangen (s. u. Ziff. 6);<br />

– die allgemeinen Beihilfesysteme mit regionaler<br />

Zweckbindung.<br />

Eine Präzisierung der Ziele, Aufgaben und Durchführungsmaßnahmen<br />

der Strukturpolitik der Gemeinschaft<br />

nehmen die Verordnungen über die Aufgaben<br />

der verschiedenen Fonds vor. Von besonderer<br />

Bedeutung sind dabei die „Verordnung des Rates<br />

vom 24. 6. 1988 über Aufgaben und Effizienz der<br />

Strukturfonds und über die Koordinierung ihrer Interventionen<br />

untereinander sowie mit denen der Europäischen<br />

Entwicklungsbank und der anderen vorhandenen<br />

Finanzierungsinstrumente“ (2052/88,<br />

ABl. L 185/1988), deren veränderte Fassung von<br />

Regionalpolitik<br />

1994 (3193/94, ABl. L 337/1994) und die im Zusammenhang<br />

mit der Verabschiedung der �Agenda 2000<br />

vollzogenen Reform der Strukturfonds-Verordnungen<br />

von 1999 (1260/1999, ABl. L 161/1999), die zu<br />

einer Straffung ihrer Ziele und Aufgaben geführt hat.<br />

Mit der dadurch erfolgten Konzentration der Mittel<br />

und mit der Vereinfachung der Verfahren wurden<br />

auch die Weichen für die Osterweiterung (2004) gestellt.<br />

Hervorzuheben ist, dass im Rahmen der Reform<br />

von 1999 im � Vertrag von Nizza vereinbart<br />

wurde, dass nunmehr der Rat regionale strukturpolitische<br />

Entscheidungen auf Vorschlag der Kommission<br />

und nach Beteiligung des EP über das Mitentscheidungsverfahren<br />

mit qualifizierter Mehrheit<br />

trifft (Art.162 EGV).<br />

5. Reform der regionalen Strukturpolitik. Einen<br />

wichtigen Anstoß für die Reform der Strukturfonds-<br />

Verordnung von 1999 gab neben dem Streben nach<br />

Steigerung der Effektivität der strukturpolitischen<br />

Maßnahmen die bevorstehende Osterweiterung der<br />

EU, die angesichts des immensen Flächen- und Bevölkerungszuwachses<br />

sowie der starken Zunahme<br />

wirtschaftlicher, sozialer und regionaler Disparitäten<br />

in der erweiterten Gemeinschaft einen effektiveren<br />

Einsatz der zur Verfügung stehenden Strukturfondsmittel<br />

erforderte.<br />

Die strukturellen Disparitäten und Schwächen in der<br />

erweiterten EU-25, die sich vor allem auf die neuen<br />

Beitrittsländer konzentrieren, erstrecken sich auf<br />

folgende Problembereiche:<br />

– unzureichende oder überalterte Infrastrukturen sowohl<br />

im Verkehrswesen, in der Agrarwirtschaft, in<br />

der Wasser- und Energieversorgung als auch im Bereich<br />

der Telekommunikation, vor allem in den<br />

grenznahen Gebieten der Außen- und z. T. auch der<br />

Binnengrenzen;<br />

– schwache oder veraltete Industriestrukturen mit oft<br />

überholten Produktionsverfahren, wenig marktgerechten<br />

Erzeugnissen und ökologischen Belastungen;<br />

– rückständige Wirtschaftsentwicklung, insbes. im<br />

Bereich wissensbasierter Industrien;<br />

– rückständige Agrarregionen mit vielfach überholten<br />

Besitz- und Produktionsstrukturen;<br />

– Verfall der Städte und Entvölkerung vieler ländlicher<br />

Räume mit entsprechenden sozialen, wirtschaftlichen<br />

und ökologischen Folgen;<br />

– hohe Arbeitslosigkeit mit besonders schwerwiegenden<br />

Folgen für Jugendliche, Frauen und Behin-<br />

643


Regionalpolitik<br />

derte sowie für wenig qualifizierte Arbeitskräfte, die<br />

immer länger arbeitslos bleiben.<br />

Vor dem Hintergrund der sich verschärfenden Herausforderungen<br />

war eine grundlegende Reform der<br />

Strukturpolitik der Union unaufschiebbar. Sie konzentriert<br />

sich auf<br />

– die Präzisierung der strukturpolitischen Zielsetzungen<br />

und die Vereinfachung der Verfahren zur<br />

Umsetzung regionalpolitischer Entscheidungen,<br />

– die Vereinfachung und Dezentralisierung der<br />

strukturpolitischen Fördermaßnahmen,<br />

– die Vorbereitung der neuen Beitrittskandidaten für<br />

den EU-Beitritt und<br />

– die Intensivierung der Kohäsionsanstrengungen<br />

für eine gefestigte Union.<br />

6. Neue Ziele nach der Reform: Der entscheidende<br />

Reformschritt bestand in der Neufassung der strukturpolitischen<br />

Grundsätze und Ziele für die Inanspruchnahme<br />

der Strukturfonds und der sonstigen<br />

Förderinstrumente der EU (1999). Mit der Konzentration<br />

auf drei statt bisher sieben strukturpolitische<br />

Ziele (�Fonds der EU) sind die Förderbedingungen<br />

nicht nur übersichtlicher und klarer geworden, sie<br />

haben auch eine Konzentration der Fördermaßnahmen<br />

auf die zentralen regionalen und strukturellen<br />

ProblemederUnionundaucheineStraffungderVergabeverfahren<br />

der angesichts der EU-Erweiterung<br />

um zehn Mitglieder knapper werdenden Fondsmittel<br />

bewirkt. Außerdem wurden die Mittelansätze für die<br />

Strukturfonds auf 0,46 % des EU-Bruttosozialprodukts<br />

eingefroren.<br />

Im Rahmen der Umsetzung der �Agenda 2000 hat<br />

der Rat am 21. 6. 1999 die Verordnung mit allgemeinen<br />

Bestimmungen über die Strukturfonds für den<br />

Programmplanungszeitraum 2000 – 2006 erlassen.<br />

Darin sind die Aufgaben, die vorrangigen Ziele und<br />

die Organisation der Strukturfonds, die für sie geltenden<br />

Regeln sowie die Bestimmungen festgelegt,<br />

die erforderlich sind, um die Wirksamkeit der Fonds<br />

und ihre Koordinierung sowohl untereinander als<br />

auch mit den anderen vorhandenen Finanzinstrumenten<br />

zu gewährleisten. Die drei neuen Ziele:<br />

Ziel 1: Entwicklung und strukturelle Anpassung der<br />

Regionen mit Entwicklungsrückstand, d. h. Regionen,<br />

deren BIP pro Kopf weniger als 75 % des Gemeinschaftsdurchschnitts<br />

beträgt. Die ab 2000 aus<br />

dieser Gruppe herausgefallenen Regionen erhalten<br />

über einen Zeitraum von 6 Jahren eine degressiv gestaffelte<br />

Übergangsunterstützung.<br />

644<br />

Ziel 2: Wirtschaftliche und soziale Umstellung von<br />

Gebieten, die mit Strukturproblemen konfrontiert<br />

sind. Dazu zählen Gebiete mit sozioökonomischem<br />

Strukturwandel in den Bereichen Industrie und<br />

Dienstleistungen,ländlicheGebietemitrückläufiger<br />

Entwicklung, Problemgebiete in Städten sowie von<br />

der Fischerei abhängige Problemräume. Kriterien<br />

für die Bestimmung solcher Gebiete sind hohe Arbeitslosigkeit,<br />

hoher Anteil an Langzeitarbeitslosen<br />

schrumpfende Bevölkerungszahlen, rückläufige Beschäftigung<br />

und zunehmende Armut. Der auf diese<br />

Gebiete insgesamt entfallende Bevölkerungsanteil<br />

darf18%derGesamtbevölkerungnichtübersteigen.<br />

Ziel 3: Anpassung und Modernisierung der Bildungs-,<br />

Ausbildungs- und Beschäftigungspolitiken<br />

und -systeme. Regionen, die unter Ziel 3 gefördert<br />

werden, erfahren keine Förderung unter Ziel 1. Für<br />

den Zeitraum von 2000 – 2006 stehen den Strukturfonds<br />

insgesamt Finanzmittel in Höhe von 195 Mrd.<br />

Euro, dem Kohäsionsfonds18 Mrd. Euro zur Verfügung<br />

(Aufteilung an die einzelnen Fonds vgl.<br />

Tabelle). Aus den Strukturfonds erhalten die unter<br />

Ziel 1 fallenden Regionen 135,9 Mrd. Euro (69,7 %),<br />

die Ziel-2-Gebiete 22,5 Mrd. Euro (11,5 %) und die<br />

unter Ziel 3 geförderten Gebiete 24,03 Mrd. Euro<br />

(12,3 %).<br />

Die strukturpolitischen Maßnahmen der EU werden<br />

in der Regel nach dem �Subsidiaritätsprinzip durchgeführt,<br />

d. h. sie erfolgen immer nur als Ergänzung<br />

zu den nationalen, regionalen oder lokalen Aktivitäten,<br />

jedoch nur dann, wenn die eigenen Mittel dafür<br />

nicht ausreichen. Die EU-Fördermittel werden also<br />

nur zusätzlich eingesetzt. Dementsprechend erfordert<br />

das Verfahren eine enge partnerschaftliche Abstimmung<br />

zwischen allen Beteiligten (EU, nationale<br />

und regionale Institutionen, regionale und lokale Behörden,<br />

Wirtschafts- und Sozialpartner). Die partnerschaftliche<br />

Beteiligung umfasst sowohl Vorbereitung<br />

und Finanzierung als auch Begleitung und<br />

Bewertung der Fördermaßnahmen.<br />

FürdieDurchführungderMaßnahmensindalleindie<br />

beteiligten Institutionen der Mitgliedstaaten verantwortlich.<br />

Mit der Dezentralisierung der Verantwortlichkeiten<br />

ist ein entscheidender kohäsionsfördernder<br />

Schritt erfolgt<br />

StrukturpolitischeFörderkonzeptederEUmüssenin<br />

sog. Gemeinschaftliche Förderkonzepte (GFK) eingebunden<br />

sein. Grundlage dafür sind Entwicklungspläne,<br />

die von den zuständigen Behörden des Mit-


gliedslandes zur Verfolgung der Ziele 1–3 aufgestellt<br />

werden. Die GFK beschreiben Strategien und<br />

Schwerpunkte, benennen (möglichst) quantitative<br />

Ziele und erwartete Auswirkungen und geben Hinweise<br />

über den Einbau der Maßnahmen in die nationale<br />

Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie über die<br />

beabsichtigte Durchführung der Programme. Die<br />

GFK werden von den Mitgliedsländern vorgeschlagenundenthalteneinennachFörderzielengegliederten<br />

Finanzierungsplan, der Höhe und Quelle der Gemeinschaftsmittel<br />

angibt.<br />

Darüber hinaus können auf Anregung der EU-Kommission<br />

sog. ergänzende �Gemeinschaftsinitiativen<br />

ergriffen werden. Im Zuge der Reform der Strukturpolitik<br />

von 1999 wurden die ursprünglich 15 Gemeinschaftsinitiativen<br />

auf 4 reduziert:<br />

INTERREG, die aus dem Europäischen Fonds für regionale<br />

Entwicklung (EFRE) finanzierte Initiative<br />

dient der Entwicklung grenzüberschreitender, interregionaler<br />

und transnationaler Zusammenarbeit<br />

URBAN,ebenfallsausdemEFREfinanziert,zieltauf<br />

wirtschaftliche und soziale Wiederbelebung krisenbetroffenerStädteundVorstädtezurFörderungeiner<br />

dauerhaften Stadtentwicklung.<br />

LEADER, die aus dem Europäischen Ausrichtungsund<br />

Garantiefonds für die Landwirtschaft (EAGFL),<br />

AbteilungLandwirtschaft,finanzierteInitiative,fördert<br />

Maßnahmen zur Entwicklung des ländlichen<br />

Raumes.<br />

EQUAL, aus dem Europäischen Sozialfonds finanziert,<br />

bekämpft Diskriminierungen und Ungleichheiten<br />

jeglicher Art auf dem Arbeitsmarkt.<br />

Regionalpolitik<br />

Auf die Gemeinschaftsinitiativen entfallen 5,35 %<br />

des Haushalts der Strukturfonds. Außerdem werden<br />

Programme für innovative Maßnahmen unterstützt,<br />

die als Ideenlabor für benachteiligte Regionen dienen.<br />

7. Herausforderungen der EU-Osterweiterung. Die<br />

Ost-Erweiterung der EU auf 25 Mitgliedstaaten (am<br />

1. 5. 2004) stellt eine enorme Herausforderung für<br />

die Wettbewerbsfähigkeit und den inneren Zusammenhalt<br />

der Union dar, da die Entwicklungskluft in<br />

derUnionsicherheblichvergrößerthat.DerAbstand<br />

im BIP pro- Kopf zwischen den 10 % der Bevölkerung<br />

in den wohlhabendsten Regionen und dem gleichen<br />

Prozentsatz in den ärmsten Regionen hat sich<br />

im Vergleich zur alten EU verdoppelt. 116 Millionen<br />

Menschen – rd. ein Viertel der Gesamtbevölkerung<br />

derEU–lebeninRegionen,derenPro-Kopf-BIPweniger<br />

als 75 % des EU-Durchschnitts beträgt. Um das<br />

Beschäftigungsniveau der neuen Beitrittsstaaten<br />

dem Niveau der alten EU-Länder anzugleichen,<br />

müssen mindestens 3 Millionen neue Arbeitsplätze<br />

geschaffen werden. Die Anpassung der Infrastruktur<br />

an das Niveau der EU-15 wird erhebliche nationale<br />

und gemeinschaftliche Anstrengungen erfordern.<br />

Nachdem die 10 Beitrittsländer alle Beitrittsbedingungen<br />

erfüllt haben, hat mit dem Beitritt am 1. 5.<br />

2004 die volle Förderung aus Mitteln der Strukturfonds<br />

und des Kohäsionsfonds begonnen. Im Zeitraum2004<br />

– 2006stehenden10neuenMitgliedstaaten<br />

insgesamt über 24 Mrd. Euro gemeinschaftliche<br />

Fördermittel aus diesen Fonds zur Verfügung (s. Tabelle).<br />

645


Regionalpolitik<br />

Ungarn, die 3 baltischen Staaten, Malta, Polen und<br />

Slowenien erfahren eine flächendeckende FörderungnachZiel1,währendZypern,dieRegionenPrag<br />

(Tschechien) und Bratislava (Slowakei) die Förderkriterien<br />

nach Ziel 1 nicht mehr erfüllen; sie werden<br />

nur nach Ziel 2 und 3 gefördert. Alle neuen Mitgliedsländer<br />

nehmen außerdem an den Gemeinschaftsinitiativen<br />

INTERREG und EQUAL teil.<br />

Auf Grund des starken wirtschaftlichen und sozialen<br />

Gefälles zwischen den alten EU-Staaten und den<br />

Beitrittsländern erhalten die Grenzregionen, in denen<br />

dieses Gefälle besonders spürbar wird, eine zusätzliche<br />

Förderung zur Stärkung der grenzüberschreitenden<br />

Zusammenarbeit, z. B. im Rahmen von<br />

INTERREG und PHARE. Im Vordergrund stehen<br />

die Verbesserung der Verkehrssysteme, die Unterstützung<br />

kleiner und mittlerer Unternehmen sowie<br />

Ausbildung und interkulturelle Zusammenarbeit.<br />

8. Bilanz und Perspektive: Mit der Osterweiterung<br />

der EU war die Reform ihrer Strukturpolitik unumgänglich<br />

geworden. Weder die EU-Institutionen<br />

noch deren Instrumentarium wären in der Lage gewesen,<br />

die mit der Erweiterung verbundenen Aufgaben<br />

und Probleme angemessen zu bewältigen. Der<br />

Vertrag von Nizza und die Verabschiedung des Europäischen<br />

�Verfassungsvertrags 2004 haben, das<br />

InkrafttretendesVVEvorausgesetzt,denWegfüreinenQualitätssprunginderEntwicklungderEuropäischen<br />

Union freigemacht. Dieser besteht zum einen<br />

in der Konzentration der bis dahin unübersichtlichen,<br />

sich teilweise überschneidenden Zielbereiche<br />

auf 3 zentrale Zielsetzungen, in der Erweiterung der<br />

Handlungsgrundsätze um die Dimension von Umwelt<br />

und nachhaltiger Entwicklung sowie in der Reduzierung<br />

der Gemeinschaftsinitiativen von 15 auf<br />

4, und zum anderen in umfangreichen institutionellen<br />

und organisationstechnischen Umstrukturierungen<br />

und Vereinfachungen. Hervorzuheben sind insbes.<br />

die Aufwertung des �Subsidiaritätsprinzips, die<br />

Stärkung der regionalen Handlungskomponente, die<br />

Erweiterung der Mitentscheidung des Europäischen<br />

Parlaments und verschiedener anderer Institutionen<br />

(�Vertrag von Nizza, Europäischer �Verfassungsvertrag)<br />

sowie die Ausdehnung von Mehrheitsentscheidungen<br />

im Ministerrat.<br />

Die Lösung der anstehenden Zukunftsaufgaben ist<br />

trotz gründlicher Beitrittsvorbereitung schwieriger<br />

geworden, zumal künftige Entwicklungen mehr und<br />

mehrvonGlobalisierungsprozessenbeeinflusstwer-<br />

646<br />

den und damit komplexer geworden sind. In Anbetracht<br />

der steigenden Heterogenität herrscht Unsicherheit<br />

über die weitere Integrationsentwicklung<br />

im weltweit größten Wirtschaftsraum.<br />

Ob Stillstand oder Fortschritt den künftigen Kurs bestimmen<br />

werden, wird entscheidend davon abhängen,<br />

ob und wie die Ansätze und Weichenstellungen<br />

der Strukturpolitikreform umgesetzt und fortentwickelt<br />

werden. Große Wohlstands- und Entwicklungsunterschiede,<br />

unterschiedliche historisch-politische<br />

Vergangenheiten und politische Kulturen, divergierende<br />

nationale Konzepte zur Modernisierung<br />

der Wirtschafts- und Sozialsysteme, Kapazitätsunterschiede,<br />

uneinheitliche Steuersätze und -systeme,<br />

ein ausgeprägtes Machtgefälle zwischen großen und<br />

kleinen Mitgliedsländern, nationale Egoismen, insbes.<br />

immer stärker in Erscheinung tretende Verteilungskonflikte<br />

bei der Aushandlung des Finanzrahmens<br />

2007–2013 (�Finanzielle Vorausschau) u. v. a.<br />

prägen das Erscheinungsbild der erweiterten EU.<br />

Die derzeitige Konstellation hat sowohl das Potential,<br />

den Integrationsprozess aufzuhalten als auch ihn<br />

zügig voran zu treiben. Für eine fortschrittliche Entwicklung<br />

ist in erster Linie vorrangig, Fehlentwicklungen<br />

der Vergangenheit zu korrigieren und die<br />

zentralen strukturpolitischen Reformaufgaben zügig<br />

anzugehen und neuen Erfordernissen und Erkenntnissen<br />

Rechnung zu tragen, insbes.:<br />

– die Funktionsfähigkeit der Institutionen auf allen<br />

Ebenen zu stärken und ihre Arbeit flexibler zu handhaben;<br />

– das Subsidiaritätsprinzip noch konsequenter und<br />

flexibler anzuwenden und zugleich die Mitbeteiligung<br />

der Bürger einzufordern. Die Stärkung der RegionenistdafüreineunverzichtbareVoraussetzung;<br />

– sektorale und regionale Strukturpolitik noch enger<br />

zu verzahnen und als Einheit zu betrachten. Dabei<br />

gilt es, die verschiedenen Sektorpolitiken konsequenter<br />

in die übergeordneten strukturpolitischen<br />

Zielsetzungen einzubinden. Erst eine StrukturpolitikauseinemGussgewinntanÜberzeugungskraft;<br />

– die auf Integration zielenden strukturpolitischen<br />

Aufgabenfelder noch konsequenter umzusetzen und<br />

zuverzahnen. K. E.<br />

Literatur:<br />

Conzelmann, Th.: Große Räume, kleine Räume. Europäische<br />

Regionalpolitik in Deutschland und in Großbritannien.<br />

Baden-Baden 2002<br />

Conzelmann, Th./Knodt, M. (Hg): Regionales <strong>Europa</strong> –<br />

europäische Regionen. Frankfurt a. M. 2002


Lippert, B.: Erweiterungspolitik der Europäischen Union. In:<br />

Weidenfeld, W./Wessels, W. (Hg), Jahrbuch der Europäischen<br />

Integration 2002/2003. Bonn 2003<br />

Lippert, B. (Hg): Bilanz und Folgeprobleme der EU –<br />

Erweiterung. Berlin 2004<br />

Loth, W. (Hg):Das europäische Projekt zu Beginn des<br />

21. Jahrhunderts. Opladen 2001<br />

Noreisch, B.: Regionalpolitik in der Europäischen<br />

Gemeinschaft. Hamburg 2004<br />

Seidel, B.: Regional-, Struktur- und Kohäsionspolitik. In:<br />

Weidenfeld, W./Wessels, W. (Hg), <strong>Europa</strong> von A–Z.Taschenbuch<br />

der Europäischen Union. Bonn 2002, S. 321– 328<br />

Südekum, J.: Wie sinnvoll ist die Regionalpolitik der Europäischen<br />

Union? In: Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, 51,<br />

2/2002, S.121– 141<br />

Tkaczynski, J. W./Rossmann, G.: Die Fonds der Europäischen<br />

Union. Finanzinstrumente vor dem Hintergrund der Osterweiterung<br />

der Gemeinschaft. Frankfurt/Main 2001<br />

Toepel, K: Regionalpolitik und Infrastruktur. In: Weidenfeld,<br />

W./Wessels, W. (Hg), Jahrbuch der Europäischen Integration<br />

1998/1999–2003/2004. Bonn 1999 ff.<br />

Wiedmann, Th.: Idee und Gestalt der Region in <strong>Europa</strong>.<br />

Baden-Baden 1996<br />

Woyke, W.: Die Agenda der Europäischen Union zu Beginn des<br />

21. Jahrhunderts. In: Loth, W. (Hg), Das europäische Projekt<br />

zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Opladen 2001, S. 9–24<br />

Regionen. Der Begriff der Region wird je nach Themenbezug<br />

nach ökonomischen, räumlichen oder politischen<br />

Gesichtspunkten definiert. So existieren<br />

neben Arbeitsmarktregionen Planungsregionen, administrative<br />

oder kulturell-sprachlich abgrenzbare<br />

Regionen. Der Begriff der Region richtet sich insofern<br />

nach dem Kontext, in dem er eingesetzt wird<br />

oder nach der Funktion, die er erfüllen soll. Eine eindeutige<br />

Definition findet sich deshalb weder in den<br />

Gründungsverträgen noch in den Strukturfondsverordnungen<br />

der EG.<br />

Die einzige offizielle Abgrenzung des Regionenbegriffs<br />

auf europäischer Ebene ist die statistische Einheit<br />

�NUTS (nomenclature des unités territoriales<br />

statistiques), mit der die unterschiedlichen subnationalen<br />

Verwaltungseinheiten grob strukturiert werdensollen.AnhandderNUTSwirdjedesLandindrei<br />

subnationale Ebenen unterteilt, die der Größe nach<br />

abwärts von I bis III beziffert werden und – sofern die<br />

Mitgliedstaaten über einen dreistufigen Verwaltungsaufbau<br />

verfügen – diesen in der Regel widerspiegeln.<br />

Die NUTS-Gebietseinheiten stellen dabei<br />

lediglich ein grobes statistisches Raster dar, das<br />

bspw. bei der Auswahl der Gebiete für die Strukturfondsförderung<br />

eine Rolle spielt. In Deutschland<br />

entspricht die NUTS I-Ebene den Ländern, die<br />

NUTS II-Ebene den Regierungsbezirken (sofern<br />

Regionen<br />

vorhanden) und die Ebene NUTS III den Landkreisen.<br />

Die Gebietsabgrenzungen sind etwa bei der Gegenüberstellung<br />

Deutschlands und Frankreichs, das<br />

mit seinen kleinteiligeren Régions keine den deutschen<br />

Bundesländern entsprechende NUTS I-Ebene<br />

besitzt, nicht wirklich vergleichbar. Weil sich etwa<br />

aufgrund von regionalpolitischen Problemlagen andere<br />

Abgrenzungen als sinnvoller erweisen können,<br />

ist die Kommission bei der Abgrenzung von Fördergebieten<br />

der Strukturfonds flexibel. Auch die Besetzung<br />

des �Ausschusses der Regionen (AdR) zeigt,<br />

wie unterschiedlich die Kompetenzen der Regionen<br />

innerhalb der Mitgliedstaaten verteilt sind: Neben<br />

deutschen Ministerpräsidenten sind hier die deutlich<br />

weniger einflussreichen Präsidenten der französischen<br />

Regionalräte (Conseils Régionaux) oder die<br />

mit noch geringeren Einflussmöglichkeiten ausgestatteten<br />

Repräsentanten der englischen Grafschaften<br />

(Counties) vertreten.<br />

Nach wie vor unterscheiden sich die Regionen in <strong>Europa</strong><br />

hinsichtlich ihrer Gesetzgebungsbefugnisse<br />

und administrativen Aufgaben, ihrer demokratischen<br />

Legitimation, ihrer finanziellen Ausstattung<br />

sowieinihrerGrößeundBevölkerungszahldeutlich.<br />

Die regionale Handlungsfähigkeit wird dabei in erster<br />

Linie von den verfassungsmäßigen Regelungen<br />

und den zugrunde liegenden ordnungspolitischen<br />

KonzeptenderjeweiligenMitgliedstaatenbestimmt,<br />

dieinnerhalb<strong>Europa</strong>snachwiestarkdivergieren.Eigene<br />

Zuständigkeiten besitzen Regionen vielfach im<br />

Bereich der regionalen Wirtschaftspolitik, der<br />

Raumordnung oder der Wohnbaupolitik. Nur in föderalen<br />

Staaten sind die obersten regionalen Ebenen<br />

als fester Bestandteil der Staatsorganisation mit entsprechenden<br />

Gesetzgebungsbefugnissen und finanziellen<br />

Handlungsmöglichkeiten ausgestattet (z. B.<br />

im Fall der deutschen Bundesländer). Auch das<br />

Stichwort des „<strong>Europa</strong>s der Regionen“ bleibt vor<br />

dem Hintergrund der Unterschiedlichkeit europäischer<br />

Staatsorganisationen und regionaler Einflussmöglichkeiten<br />

wenig präzise und dient vor allem als<br />

Leitbild des europäischen �Regionalismus.<br />

In den Stellungnahmen und Beschlüssen zum Regionalismus<br />

wird der Regionenbegriff sehr weit ausgelegt.InderGemeinschaftschartadesEPausdemJahr<br />

1988wirdunterRegionbspw.einGebietverstanden,<br />

„das aus geographischer Sicht eine deutliche Einheit<br />

bildet, oder aber ein gleichartiger Komplex von Gebieten,<br />

die ein in sich geschlossenes Gefüge darstel-<br />

647


RESIDER<br />

len und deren Bevölkerung durch bestimmte gemeinsame<br />

Elemente gekennzeichnet ist, die die daraus<br />

resultierenden Eigenheiten bewahren und weiterentwickeln<br />

möchte, um den kulturellen, sozialen<br />

und wirtschaftlichen Fortschritt voranzutreiben“<br />

(Kap. I, Abs. 1). In der 1996 von der �Versammlung<br />

der Regionen <strong>Europa</strong>s (VRE), einem Kongress im<br />

Rahmen des <strong>Europa</strong>rates, verabschiedeten „Erklärung<br />

zum Regionalismus in <strong>Europa</strong>“ wird die Region<br />

idealtypisch als unmittelbar unter der Ebene des<br />

Staates angeordnete Gebietskörperschaft des öffentlichen<br />

Rechts konzipiert, die durch Verfassung oder<br />

Gesetz anerkannt ist und über eine eigene politische<br />

Identität, eine eigene Verwaltung, eigenes Personal,<br />

eigene Finanzen und eigene Symbole verfügt (Art.<br />

1). Diesen Status haben die meisten Regionen <strong>Europa</strong>sbislangnichterreicht.<br />

S. A.<br />

Literatur:<br />

Ellwein, Th./Mittelstraß, J. (Hg.): Regionen, Regionalismus,<br />

Regionalentwicklung. Oldenburg 1996<br />

Europäisches Parlament: Gemeinschaftscharta zur<br />

Regionalisierung. Straßburg 1988<br />

Versammlung der Regionen <strong>Europa</strong>s: Erklärung zum<br />

Regionalismus in <strong>Europa</strong>. Straßburg 1996<br />

RESIDER war eine mehrfach wiederholte Gemeinschaftsinitiative<br />

zur Unterstützung der Umstellung<br />

der vom Strukturwandel besonders betroffenen ehemaligen<br />

Eisen- und Stahlreviere. Laufzeit bis Ende<br />

1999. Ähnliche Programme �RECHAR, �RETEX,<br />

�KONVER.<br />

RESNET (Research Network). Forschungsnetzwerk,<br />

1997 errichtet zur Beratung des Europäischen<br />

Beschäftigungsobservatoriums (EBO). RESNET ist<br />

derzeit nicht aktiv, es wird künftig die Europäische<br />

Kommission bei der vergleichenden Arbeitsmarktforschung<br />

und -analyse beraten. Weitere Informationsnetze<br />

des EBO sind �MISEP und �SYSDEM.<br />

Ressortabsprache. Vereinbarung zwischen den<br />

Bundesministerien in Bezug auf die Pflicht der Bundesregierung,<br />

vor ihrer gesetzgeberischen Mitwirkung<br />

im Rat der EU Stellungnahmen des Bundestags<br />

und des Bundesrats einzuholen (Art. 23 GG). Das<br />

Nähere regelt u. a. das �„Zusammenarbeitsgesetz<br />

zwischen Bund und Ländern in Angelegenheiten der<br />

Europäischen Union“ (EUZBLG). Um die Unterrichtung<br />

des Bundestags zu organisieren und zu vereinheitlichen,<br />

haben die Bundesministerien in ihrer<br />

648<br />

Vereinbarung vom 26. 1. 1994 (Ressortabsprache<br />

genannt, BGBl. I S. 311) das Verfahren der Unterrichtung<br />

präzisiert.<br />

RETEX. Gemeinschaftsinitiative zur Unterstützung<br />

des Strukturwandels in Regionen mit Textilindustrie,<br />

finanziert aus dem �Fonds für regionale Entwicklung<br />

(EFRE). Ähnliche Förderprogramme waren<br />

�RECHAR (für Regionen mit Kohlebergbau),<br />

�RESIDER (Stahlreviere), �KONVER (Rüstungsbetriebe).<br />

Die Förderprogramme sind 1999 ausgelaufen.<br />

Richtlinien sind �Rechtsakte der Gemeinschaft<br />

nach Art. 249 EGV, die an die Mitgliedstaaten gerichtetsindundsieverpflichten,denInhaltderRichtlinie<br />

innerhalb einer vorgegebenen Zeit so in nationales<br />

Recht umzusetzen, dass das in der Richtlinie<br />

genannte und verbindliche Ziel erreicht wird. Sie<br />

sinddabeifreiinderWahlderFormundderMittel.<br />

Richtlinienkompetenz �Leitlinienkompetenz<br />

Richtpreis. Vor der �Agrarreform der Agenda 2000<br />

aufgrund von Marktordnungen (z. B. für Getreide)<br />

jährlich neu angesetzter Preis, der keine bindende<br />

Wirkung hatte, sondern sozusagen ein erwünschter,<br />

angestrebter Erzeugerpreis war. Er lag höher als der<br />

Schwellenpreis (der Mindesteinfuhrpreis = Richtpreis<br />

abzüglich Transportkosten bis zum Referenzgebiet<br />

Duisburg) und der Interventionspreis, der den<br />

Erzeugern garantiert wurde. Richtpreise gibt es in<br />

der Gemeinsamen Agrarpolitik noch für Milch.<br />

Robert-Schuman-Aktion �Aktion Robert Schuman<br />

Römische Verträge werden die am 25. 3. 1957 von<br />

sechs Staaten in Rom unterzeichneten Verträge zur<br />

Gründung der �Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft<br />

(EWG) und der �Europäischen Atomgemeinschaft<br />

(EAG/EURATOM) genannt. Sie traten am 1.<br />

1. 1958 in Kraft. Der Vertrag zur Gründung der �Europäischen<br />

Gemeinschaft für Kohle und Stahl<br />

(EGKS) wurde 1951 in Paris unterzeichnet und wird<br />

�Pariser Vertrag genannt.<br />

Rougemont, Denis de (1906 – 1985), schweizerischer<br />

Schriftsteller und Philosoph, engagierter Ver-


fechter des Gedankens eines vereinten <strong>Europa</strong>s. Er<br />

gründete 1950 das dem <strong>Europa</strong>rat nahestehende<br />

„Centre européen de la culture“ in Genf, dessen Leiter<br />

er war, und 1954 gemeinsam mit Robert Schuman<br />

die �Europäische Kulturstiftung.<br />

Rücktritt. Primärrechtlich erwähnt ist allein die<br />

Möglichkeit des Rücktritts für Mitglieder der Kommission<br />

(Art. 215 EGV). Der Rat ernennt mit qualifi-<br />

Rüstungspolitik<br />

zierter Mehrheit einen Nachfolger, kann darauf aber<br />

auch verzichten. Für Mitglieder des Europäischen<br />

Parlaments ist der Rücktritt in der Geschäftsordnung<br />

geregelt (Art. 4 GO–EP). Mitglieder des Rats unterliegen<br />

hinsichtlich ihres Rücktritts nationalen Regelungen.<br />

Rüstungspolitik �Nichtverbreitungs- und Abrüstungspolitik<br />

649

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