Gerald Hüther, Die Macht der inneren Bilder2. Bilder, die das Leben zeichnetEin warmer Sommertag am See geht zu Ende. Rotglühendversinkt die Sonne weit draußen im Wasser. Hier <strong>und</strong> dorttanzt ein Mückenschwarm im Schatten der Uferweiden. Vergeblichversuchen einige Wasserläufer die spiegelnde Oberflächedes Sees mit ihrem hektischen Gerenne zu zerkratzen. ImSchilf singt ein Teichrohrsänger sein geschwätziges Lied. DieSeerosen schließen bereits ihre Blütenköpfe <strong>und</strong> machen sichfertig für die Nacht. Auf einem ihrer schwimmenden Blättersitzt ein kleiner Frosch. Er wartet noch auf sein Abendbrot. Obwohlseine großen Augen weit geöffnet sind, sieht er so gut wienichts von alldem, was um ihn herum geschieht. In seinem kleinenSehzentrum im Gehirn entsteht nur dann ein für ihn erkennbaresBild, wenn sich draußen etwas bewegt, am besten direktvor seiner Nase, in Reichweite seiner Zunge. Wenn das auchnoch die richtige Größe hat, gibt sein Gehirn das Kommandozum Zuschnappen. Der Rest geht dann blitzschnell: Zunge raus,Zunge rein <strong>und</strong> weg ist die Fliege.Blind für die bezaubernde Schönheit dieses Sommerabendssind auch die beiden Landvermesser, die eben ihre Karten <strong>und</strong>Gerätschaften zusammenpacken <strong>und</strong> sich auf den Heimwegmachen. Für heute ist Feierabend. Morgen, so hoffen sie, wirddie Kartierung des Ufergeländes abgeschlossen sein. Dann sollendie Erdarbeiten für die Umgestaltung des Geländes zu einemFreizeitpark beginnen. Der staubige Feldweg, der um denSee führt, wird dann mit einer glatten Asphaltdecke bedeckt.Der junge Mann, der hier noch eben in der Abendsonne eineR<strong>und</strong>e mit seinem Fahrrad dreht, wird sich darüber freuen.Keuchend saust er am Ufer entlang. Auch er sieht weder die Fröschenoch die Wasserläufer. Er muss sich beeilen, denn bald21© 2011, <strong>Vandenhoeck</strong> & <strong>Ruprecht</strong> GmbH & Co. KG, GöttingenISBN Print: 9783525462133 — ISBN E-Book: 9783647462134
Gerald Hüther, Die Macht der inneren Bilderwird es dunkel, <strong>und</strong> dann sieht er gar nichts mehr.Verirren wirder sich deshalb nicht, denn diesen Weg ist er schon oft genug gefahren.Hier ist er zu Hause, hier kennt er sich aus. In seinerWohnung angekommen, wird er duschen <strong>und</strong> noch etwas essen,vielleicht noch ein wenig fernsehen <strong>und</strong> dann früh zu Bettgehen, denn morgen erwartet ihn ein anstrengender Tag. Kaumhat er das Licht ausgeschaltet, beginnen die Bilder des vergangenenTages noch einmal an ihm vorbeizuziehen. Er fällt inSchlaf <strong>und</strong> beginnt irgendwann zu träumen. Unbemerkt tauchenin seinem Kopf ganze Bilderwelten auf, mischen sich wilddurcheinander <strong>und</strong> verschwinden wieder, ganz wie es ihnen gefällt.Nur einen letzten Zipfel davon kann er beim Aufwachenam Morgen noch erfassen. Es scheint ihm, als sei er soeben voneiner weiten Reise nach Hause geflogen.2.1 Das Gehirn als Bilder erzeugendes OrganWer Augen hat zum Sehen, Ohren zum Hören, eine Nasezum Riechen, Haut zum Fühlen, für den ist die Welt vollerBilder. Allerdings braucht er dazu noch ein Gehirn, <strong>und</strong> dasmuss möglichst offen sein für alles, was über die Sinnesorganedort, in den sensorischen Arealen der Hirnrinde, ankommt. Dasin diesen Arealen entstehende, für jeden Sinneseindruck charakteristischeErregungsmuster wird anschließend in assoziativeRindenareale weitergeleitet. Dort führt das neu eintreffendeErregungsmuster zur Aktivierung von älteren, bereits durchfrühere Sinneseindrücke herausgeformten <strong>und</strong> stabilisiertenNervenzellverschaltungen. Durch die Überlagerung beider Erregungsmuster,des neu eingetroffenen mit dem bereits vorhandenen,entsteht dann ein neues, für die betreffende Sinneswahrnehmungspezifisches, erweitertes Aktivierungsmuster. Diesescharakteristische Geflimmer der Synapsen repräsentiert nun alsinneres Bild das jeweils neu Wahrgenommene. Aus dem bisherbereits Gesehenen <strong>und</strong> dem nun noch neu Hinzugekommenenwird so ein bestimmtes inneres »Sehbild«, aus dem Gehörten22© 2011, <strong>Vandenhoeck</strong> & <strong>Ruprecht</strong> GmbH & Co. KG, GöttingenISBN Print: 9783525462133 — ISBN E-Book: 9783647462134
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