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Aufstand in Ungarn

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sie darauf bestand, ihn selbst zu Hause »Genosse Berei« zu nennen. Alsdie Aufständischen kamen, um sie zu holen, flüchteten sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong> H<strong>in</strong>terzimmerund tauchten wieder auf, <strong>in</strong>dem sie Pässe schwenkten, die sie alsSowjetbürger auswiesen. Sie wurden zur Sowjetbotschaft gebracht.Rákosis Telephonliste enthielt auch den sowjetischen Botschafter Juri V.Andropow, der jetzt General und Chef des KGB, des sowjetischen Staatssicherheitsdienstes,ist, sowie e<strong>in</strong> halbes Dutzend anderer Personen miteher russischen als ungarischen Namen.Die Namen e<strong>in</strong>iger weniger Glücklicher waren von Rákosi ausgestrichenworden, anderen hatte man lediglich ihre K-Telephoneweggenommen. Das Verzeichnis enthielt auch die Nummern dergeheimen Luxusvillen am Plattensee, der Parteizentrale und derZeitungen.Schmunzelnd wies Jules auf e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>tragung unter dem Buchstaben»S« h<strong>in</strong>. Das riesige Stal<strong>in</strong>-Denkmal <strong>in</strong> Budapest hatte tatsächlich zweiDiensttelephone und die geheime K-Nummer »358«. Der Ober trat an denTisch. Ich bezahlte die Rechnung und fuhr nach Budapest. Überflüssigerweisefragte ich mich, wer wohl antworten würde, wenn ich heute358 wählen würde.7


tischplatten aufgestellt, Munitionskisten hastig aufgebrochen und Vorbereitungenfür e<strong>in</strong>e lange Belagerung getroffen worden. Warum hattensie nicht gekämpft? Khakiuniformen der ehemaligen Sicherheitspolizeiliegen <strong>in</strong> den Zimmern herum; offenbar wurden sie gegen reguläre blauePolizeiuniformen umgetauscht, aber auch blaue Uniformjacken undlederne Polizeistiefel wurden zurückgelassen; wahrsche<strong>in</strong>lich hätten siebei der rachedurstigen Menge, die noch immer die Straßen der Stadtdurchstreifte, Verdacht erregt. Der ganze Häuserblock sche<strong>in</strong>t leer zu se<strong>in</strong>.Die Londoner F<strong>in</strong>anzleute, die dies Riesengebäude aus Ste<strong>in</strong> und Ziegelnvor fünfzig Jahren errichten ließen, hatten sich nicht träumen lassen, wasfür <strong>in</strong>fernalische Masch<strong>in</strong>en und raff<strong>in</strong>ierte elektrische Apparate man hierim Namen von Marx und Engels <strong>in</strong>stalliert hatte. Konnten sie sichvorstellen, was für farblose und undurchschaubare Bürokraten e<strong>in</strong>mal überdiese Parkettböden gehen würden? Über e<strong>in</strong>en Korridor im erstenStockwerk erreicht Szolnoki die Amtsräume der M<strong>in</strong>ister. Er entdeckt e<strong>in</strong>Album mit Momentaufnahmen von westlichen Diplomaten auf e<strong>in</strong>em derSchreibtische. Auf den Photographien s<strong>in</strong>d die besonderen Merkmale unddie persönlichen Verhältnisse der Betroffenen vermerkt. (Unter dem Bilde<strong>in</strong>es britischen Beamten steht: »neigt zum Bevanismus«; se<strong>in</strong>e anderenverzeichneten Schwächen s<strong>in</strong>d <strong>in</strong>timerer Natur.) Was für panikartigeKonferenzen haben diese Zimmer erlebt, als sich e<strong>in</strong> Volk von zehnMillionen <strong>in</strong> heiligem Zorn gegen die ehemaligen Machthaber erhob? Wasfür Projekte wurden an diesen Schreibtischen ausgedacht, wie viele vonihnen s<strong>in</strong>d schon gescheitert? Wie viele entwickeln sich weiter imZusammenhang mit e<strong>in</strong>em machiavellistischen Plan?War dieses M<strong>in</strong>isterium der Masch<strong>in</strong>enraum des Polizeistaats, wardieser Schreibtisch se<strong>in</strong> Schaltpult gewesen? Überall liegen Gewehre undPistolen herum, dazu Reste des Mobiliars der kostbaren F<strong>in</strong>-de-siècle-E<strong>in</strong>richtung. Jemand war schon vor ihm hier. Die Schlösser des Schreibtischss<strong>in</strong>d aufgebrochen. Die Schubladen enthalten nur noch belangloseD<strong>in</strong>ge – Essenbons und Rout<strong>in</strong>enotizen. Auf e<strong>in</strong>mal spürt er, daß ihnjemand anstarrt.Erschrocken fährt er herum. Es s<strong>in</strong>d nur die Augen Stal<strong>in</strong>s unter der9


utalen niedrigen Stirn, die aus e<strong>in</strong>em zerbrochenen, an die Wandgelehnten Bilderrahmen zu ihm aufblicken. Was für e<strong>in</strong>e Ironie desSchicksals: Das Regime, dem diese M<strong>in</strong>ister angehörten, hatte e<strong>in</strong>gestimmt<strong>in</strong> den elementaren Aufschrei gegen Stal<strong>in</strong>; es hatte denstal<strong>in</strong>istischen Tyrannen Mátyás Rákosi im eigenen Land gestürzt; dochdie Photographien der beiden Männer hängen noch immer <strong>in</strong> derAbgeschiedenheit se<strong>in</strong>er Privaträume.Auf e<strong>in</strong>mal hört er h<strong>in</strong>ter sich knirschende Schritte auf denGlasscherben. Szolnoki ist zu überrascht, um nach se<strong>in</strong>er Waffe zugreifen. Aber es ist nur e<strong>in</strong> Heizer, der <strong>in</strong> der Tür steht.»Ich und me<strong>in</strong> Kollege s<strong>in</strong>d die e<strong>in</strong>zigen, die hiergeblieben s<strong>in</strong>d.« DerMann stellt sich selbst vor und wischt sich die ölverschmierten Hände anse<strong>in</strong>em Overall ab. »Diese Eichentäfelung f<strong>in</strong>den Sie auch <strong>in</strong> denZimmern des stellvertretenden M<strong>in</strong>isters«, bemerkt er gr<strong>in</strong>send. »Nachdem 20. Parteitag haben sie alle dieselbe E<strong>in</strong>richtung bekommen. Hiergibt’s ke<strong>in</strong>en Personenkult!«Er versetzt dem Stal<strong>in</strong>bild e<strong>in</strong>en kräftigen Tritt, um se<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ungNachdruck zu verleihen.Drei Tage lang durchsuchen Szolnoki und e<strong>in</strong>ige Helfer das Gebäude.Sie tragen die Armb<strong>in</strong>den der Aufständischen und s<strong>in</strong>d bewaffnet, denn eskursieren Gerüchte, daß sich immer noch Angehörige der Sicherheitspolizeiirgendwo versteckt halten – und zwar oben auf den noch nichtdurchsuchten Dachböden. Außerdem gibt es hier zahlreiche unterirdischeGewölbe und e<strong>in</strong> Labyr<strong>in</strong>th von Innenhöfen. Mehrmals steht Szolnoki vorTüren, die von <strong>in</strong>nen mit Vorhängeschlössern verriegelt s<strong>in</strong>d.Nach und nach kann er sich e<strong>in</strong> schemenhaftes Bild vom Grundriß desGebäudes machen. In e<strong>in</strong>em Flügel bef<strong>in</strong>den sich Hunderte kle<strong>in</strong>ererRäume, wie Kan<strong>in</strong>chenställe von genau gleicher Größe, die durch Treppenund kle<strong>in</strong>e Korridore verbunden s<strong>in</strong>d.Von e<strong>in</strong>em Korridor zum anderen kommt man nur, nachdem man dreioder vier mite<strong>in</strong>ander verbundene Zimmer durchquert hat. Ihre stählernenTrennwände s<strong>in</strong>d neu. Das muß e<strong>in</strong>e Menge Geld gekostet haben! Überall10


Wandteppiche, moderne Schreibtische und unbekannte technische E<strong>in</strong>richtungen.Geradezu unheimlich ist es, daß e<strong>in</strong> Raum genau ausgestattetist wie der andere, bis h<strong>in</strong> zu jedem e<strong>in</strong>zelnen Buch <strong>in</strong> den Regalen.Überall bef<strong>in</strong>den sich Telephone, manchmal vier oder fünf auf e<strong>in</strong>emSchreibtisch. Plötzlich schrillt e<strong>in</strong>es von ihnen, als Szolnoki daranvorbeigeht. Unwillkürlich streckt er die Hand aus, da blitzt plötzlich <strong>in</strong>se<strong>in</strong>er Er<strong>in</strong>nerung e<strong>in</strong>e Szene aus e<strong>in</strong>em sowjetischen Kriegsfilm auf, <strong>in</strong>dem deutsche Offiziere im besetzten Kiew <strong>in</strong> Stücke zerrissen werden, alssie <strong>in</strong> leeren Gebäuden den Hörer von läutenden Telephonen abnehmen.Er läßt es weiterkl<strong>in</strong>geln.In den meisten Zimmern stehen die Safetüren weit offen; <strong>in</strong> ihremInneren lagern Tonbänder und Filme. Überall brennt noch das elektrischeLicht. Und wieder hat Szolnoki das unheimliche Gefühl, daß er beobachtetwird. Das Gebäude sche<strong>in</strong>t nicht leer und verlassen zu se<strong>in</strong>. Er kommt sichvor wie der ahnungslose Mitspieler <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Drama, dessen letzter Aktnoch nicht geschrieben ist.»Sehen Sie diese Stahltüren und Kl<strong>in</strong>geln hier«, ruft der Heizer vomFlur her. »Hier hat me<strong>in</strong> Kollege immer se<strong>in</strong>en Lohn abgeholt. Ihm wurdegenau gesagt, wann er kommen sollte; nirgendwo durfte er ohne Erlaubnish<strong>in</strong>gehen. Immer mußte er auf die Lampen achten. Und wenn e<strong>in</strong>ebesondere Lampe aufleuchtete, mußte er umkehren.«Der Heizungsmann merkt, daß er e<strong>in</strong>en Zuhörer hat. »Und dann warda me<strong>in</strong> Freund, der Elektriker. Der hat mir erzählt, daß dieser Teil desGebäudes <strong>in</strong> viele kle<strong>in</strong>e Räume unterteilt wurde und daß er se<strong>in</strong>enWartungsdienst <strong>in</strong> den e<strong>in</strong>zelnen Sektionen nur zu bestimmten Zeitenmachen durfte. Wenn er wegen e<strong>in</strong>es dr<strong>in</strong>genden Notfalls gerufen wurde,mußte er auch immer auf die Lampen achten.«Er läßt se<strong>in</strong>e Zigarettenkippe fallen und tritt sie aus. »Und wenn e<strong>in</strong>eKl<strong>in</strong>gel schrillte, hatte jeder vom Korridor zu verschw<strong>in</strong>den und <strong>in</strong> dasZimmer zurückzukehren, aus dem er gerade gekommen war.«E<strong>in</strong> Polizist kommt here<strong>in</strong>, nimmt e<strong>in</strong> Buch vom Regal und blättertdar<strong>in</strong>. Es enthält e<strong>in</strong>e Art Tonbandgerät. Das gleiche Buch gibt es <strong>in</strong> allenkle<strong>in</strong>en Zimmern.11


Szolnoki macht e<strong>in</strong>e Skizze von diesem Labyr<strong>in</strong>th. Jedes zwölfte Büroist etwas besser e<strong>in</strong>gerichtet als die anderen, wahrsche<strong>in</strong>lich saßen dar<strong>in</strong>die Sektionschefs. Es hat e<strong>in</strong>en Tresor, zwei Schränke, mehrere Tonbandgeräte,e<strong>in</strong>e Couch, e<strong>in</strong>en Schreibtisch, e<strong>in</strong> Bücherbord und e<strong>in</strong> Bild vonFelix Dsersch<strong>in</strong>skij. Er war der Gründer der sowjetischen Geheimpolizei –und bisher der e<strong>in</strong>zige Chef, der im Bett gestorben ist.Mit e<strong>in</strong>em Stück Kreide numeriert Szolnoki jede Treppe, er kennzeichnetdie e<strong>in</strong>zelnen Korridore. Es ist schon der 2. November, undoffensichtlich wird es noch Monate dauern, bis das ganze Gebäudeüberprüft ist. Er bittet das Hauptarchiv, die Akten zu übemehmen. Aberbei dem bloßen Gedanken, sämtliche Dokumente aus diesem M<strong>in</strong>isteriumherauszuholen, schlägt der Direktor die Hände über dem Kopf zusammen.Also macht sich Szolnoki daran, sie an Ort und Stelle durchzusehen.Die Dokumente s<strong>in</strong>d nicht <strong>in</strong> dem sonst üblichen ledernen Stilgeschrieben, der alle offiziellen Druckerzeugnisse des Regimes kennzeichnet.Die Verfasser s<strong>in</strong>d Fachleute, die für Fachleute schreiben. DerStil dieser Geheimberichte ist nüchtern und sachlich.E<strong>in</strong>ige Abteilungen des M<strong>in</strong>isteriums befanden sich offenbar schonWochen vorher kurz vor de<strong>in</strong> moralischen Zusammenbruch. Überallentdeckt Szolnoki leere Champagner- und Schnapsflaschen. Er muß überden Kontrast zwischen diesem Anblick und den mißbilligenden Mienenvon Len<strong>in</strong>, Stal<strong>in</strong> und Dsersch<strong>in</strong>skij lachen. Hilflos blicken sie aus ihrenzerschmetterten Rahmen auf die vom Schnaps durchweichten Haufenpornographischer Photos, amerikanischer Girls-Magaz<strong>in</strong>e, auf Agentenaufnahmenvon Diplomaten und westlichen Geschäftsleuten.Tausende von Magnetophonbändern, die hier herumliegen, werdenGenerationen von künftigen Historikern Kopfzerbrechen bereiten, me<strong>in</strong>ter.Sämtliche Aktivitäten der Sicherheitspolizei und der Regierungsche<strong>in</strong>en von versteckten Mikrophonen aufgezeichnet zu se<strong>in</strong>. Er spielt e<strong>in</strong>x-beliebiges Band ab – e<strong>in</strong>e ganz alltägliche Bürounterhaltung.Im Schreibmasch<strong>in</strong>enzimmer ertönt noch immer gedämpfte Musik ausden Lautsprechern. Szolnoki holt sich e<strong>in</strong> halbes Dutzend Akten aus12


e<strong>in</strong>em Safe. Schon das erste Dokument ist so fesselnd, daß er e<strong>in</strong>e Stundelang davon nicht loskommt: e<strong>in</strong>e Niederschrift von Telephongesprächen,die, nach dem Papier zu urteilen, erst vor allerkürzester Zeit mit derSchreibmasch<strong>in</strong>e getippt wurde. Aber die Gespräche haben schon vor fastzehn Jahren stattgefunden; und zwar zwischen Mátyás Rákosi, demkommunistischen Vizepremier des Landes, der bereits damals nach derabsoluten Macht strebte, und der ungarischen Gesandtschaft <strong>in</strong> derSchweiz.Der M<strong>in</strong>isterpräsident Ferenc Nagy besuchte damals gerade dieSchweiz. In dem aufgezeichneten Gespräch g<strong>in</strong>g es um die Zahlung von300.000 Schweizer Franken, die der e<strong>in</strong>geschüchterte nicht-kommunistischeRegierungschef als Preis dafür gefordert hatte, nicht wieder nach<strong>Ungarn</strong> zurückzukehren, für se<strong>in</strong>en »Übertritt« <strong>in</strong> den Westen.Der Historiker Szolnoki weiß, daß dieser Übertritt den Weg für Rákosifrei machte. Aber die spannende Frage blieb: Warum wurden dieseAbschriften erst vor so kurzer Zeit angefertigt?Am 3. November ist se<strong>in</strong> Team bis zum dritten Stock vorgedrungen.Dort sieht es aus wie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Fabrikhalle zur Herstellung von Rundfunkgeräten.In der Mitte des niedrigen Saales bef<strong>in</strong>den sich Werkbänkemit etwa fünfundzwanzig Sitzplätzen an beiden Seiten. Auf den Tischenstehen Stahlgehäuse, die e<strong>in</strong>en Geruch nach erwärmtem Kunststoffverbreiten und e<strong>in</strong>en Summton von sich geben. Die farbigen Lämpchen anden Geräten s<strong>in</strong>d immer noch e<strong>in</strong>geschaltet. Andere geheimnisvolleStahlgehäuse mit Ventilatorengittern s<strong>in</strong>d an der Wand angebracht.Computer? Entschlüsselungsmasch<strong>in</strong>en? Telephonabhörgeräte? Morgenwürden Studenten der Technischen Hochschule versuchen, die Apparaturenause<strong>in</strong>anderzunehmen und ihren Zweck herauszuf<strong>in</strong>den.In e<strong>in</strong>em Nebenraum entdeckt Szolnoki noch rätselhaftere Anlagen,zum Beispiel e<strong>in</strong>en langen, niedrigen Wandtisch mit Hebeln, an derenunteren Ende Modellflugzeuge befestigt s<strong>in</strong>d.Im obersten Stockwerk macht er e<strong>in</strong>e Telephonzentrale, von wo manauf die Innenhöfe blickt, ausf<strong>in</strong>dig. Im Inneren e<strong>in</strong>es jeden Stahlgehäusesbef<strong>in</strong>den sich sechs lange, walzenförmige Ständer, die jeweils dreißig13


Tonbänder enthalten. Ihre Spulen drehen sich langsam, sie zeichnenGespräche auf – aber wessen Gespräche? Und wo f<strong>in</strong>den sie statt? Und wos<strong>in</strong>d die Niederschriften, die Aktenablagen?Unten <strong>in</strong> den gemauerten Kellerräumen, wo sich die altenStahlkammern der Bank bef<strong>in</strong>den, entdeckt Szolnoki mehrere hundertMeter lange Regale: Ihre Fächer s<strong>in</strong>d leer. An anderer Stelle stößt er aufzwei große Haufen von Aktenbündeln, die aus Kohlenwagen gekippt s<strong>in</strong>dund verbrannt werden sollen; e<strong>in</strong> Haufen ist bereits mit Keros<strong>in</strong>übergossen. Sie enthalten Aktenordner über Polizei<strong>in</strong>formanten undÜberwachungsaktionen.Am späten Nachmittag will Szolnoki wieder <strong>in</strong> die Stahlkammerngehen, um die Aktenbündel zu sichten. Dabei verlaufen er und se<strong>in</strong>Kollege sich, und als sie denselben Weg durch die Gewölbe zurückgehen,hören sie weitentfernte Schritte, die ihnen die ganze Zeit zu folgensche<strong>in</strong>en. Mehrere Male bemerkt er herumlungernde Leute, die er vorhernie gesehen hat.Gegen 10 Uhr abends kommen die Polytechniker zu ihm und sagen,sie wollten das Gebäude jetzt für die Nacht abschließen. Szolnoki istebenfalls müde. Er geht nach oben zum Straßenausgang. In der vornehmen,säulengeschmückten E<strong>in</strong>gangshalle trifft er wieder auf e<strong>in</strong>enFremden, der dort auf und ab geht, als warte er darauf, daß Szolnoki dasGebäude verlasse. In der Nebenstraße bemerkt er e<strong>in</strong>en dritten Mann, dersich h<strong>in</strong>ter der großen Doppeltreppe aufhält.Der morgige Tag würde e<strong>in</strong>e Menge Antworten br<strong>in</strong>gen. Szolnoki hat<strong>in</strong>zwischen e<strong>in</strong>en Elektriker des Gebäudes ausf<strong>in</strong>dig gemacht. Der Mannhat versprochen zu kommen, um das Leitungsnetz und – soweit er kann –die geheimnisvollen Anlagen zu erklären. Morgen ist der 4. November1956.Für die Revolution wird es e<strong>in</strong> Morgen niemals geben.Als die Russen <strong>in</strong> der Nacht vom 3. auf den 4. November heranrückten,flog Paul Mathias, der hochgewachsene, elegante Auslandskorrespondentdes Paris Match, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er kle<strong>in</strong>en Masch<strong>in</strong>e des Österreich-14


ischen Roten Kreuzes aus der e<strong>in</strong>geschlossenen Hauptstadt. Es war nichte<strong>in</strong>fach gewesen, zum Flugplatz zu kommen.Der französische Gesandte hatte jegliche Hilfe verweigert, aber JeanPaul-Boncour war mit Mausi von Kleist, e<strong>in</strong>er stattlichen, blonden Brünhilde,verheiratet, die ebenso unerschrocken und bee<strong>in</strong>druckend war wieer verbraucht und kraftlos.Mutig drang sie bis zum Krankenhaus vor, um Pedrazz<strong>in</strong>i, dem tödlichverletzten Photoreporter von Paul Mathias, e<strong>in</strong>e Flasche Cognac zubr<strong>in</strong>gen. Der Reporter wußte nicht, wie schwer verwundet er war – erzwang sich zu e<strong>in</strong>em Lächeln und sagte: »Ich werde immer noch e<strong>in</strong> guterPhotoredakteur se<strong>in</strong> können!«Bald darauf flog die E<strong>in</strong>gangstür des Krankenhauses krachend auf,und bewaffnete Aufständische schleppten e<strong>in</strong>en Tresor aus der zerstörtenKP-Zentrale here<strong>in</strong>. Sie hatten die Stahltür mit e<strong>in</strong>er geballten Ladunggesprengt und wollten das dar<strong>in</strong> bef<strong>in</strong>dliche Bargeld unter die Verwundetenverteilen.Es war schon e<strong>in</strong>e ungewöhnliche Revolution. Mausis Ehemann, dertrübs<strong>in</strong>nig aus den Fenstern der Gesandtschaft auf die sich durch dieStraßen wälzenden Menschenmassen starrte, hatte zu Mathias gesagt:»Das ist ke<strong>in</strong>e bürgerliche Revolution! Da, sehen Sie selbst, was füre<strong>in</strong> pöbelhafter Mob das ist – alles nur Ges<strong>in</strong>del!«Ë»Es ist das Volk«, hatte Mathias geantwortet.Nun kamen die Russen zurück. In Begleitung des italienischenVizekonsuls fuhr Mausi mitten <strong>in</strong> der Nacht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>en Konvoi vondrei Fahrzeugen zum Flughafen. Die Krankentrage mit Pedrazz<strong>in</strong>i wurde<strong>in</strong> das Cockpit des Rot-Kreuz-Flugzeugs gezwängt. Er hatte bei denKämpfen um das kommunistische Hauptquartier auf dem Platz derRepublik e<strong>in</strong>en Bauchschuß bekommen. E<strong>in</strong> Mediz<strong>in</strong>student hielt dieFlasche mit Blutplasma hoch, im stillen war er froh, daß dieser Flug auchse<strong>in</strong> Leben rettete.Im Budapester Krankenhaus hatte es anfangs ausgesehen, als wäre erauf dem Wege der Besserung. Besorgt hatte er se<strong>in</strong>en Kollegen PaulMathias gefragt:15


»Wo ist der Wagen? Paris Match wird niemals Schadenersatz leisten,wenn er kaputt ist.«Darauf versank er <strong>in</strong> tiefe Bewußtlosigkeit. E<strong>in</strong>mal murmelte er, ohnedie Augen zu öffnen: »Ist Mathias da?«Er hatte wohl wieder die kultivierte Stimme der Schauspieler<strong>in</strong>Philipp<strong>in</strong>e de Rothschild gehört, die ihn e<strong>in</strong>ige Tage zuvor am Telephonbeschworen hatte:»Laßt Mathias nicht dah<strong>in</strong>!« Sie war Pauls beste Freund<strong>in</strong>. Pedrazz<strong>in</strong>ihatte ihr versichert: »Ke<strong>in</strong>e Sorge, ich br<strong>in</strong>ge Ihnen Paul gesund undmunter zurück.«»Ist Mathias da?« fragte Pedrazz<strong>in</strong>i wieder, und der Student beruhigteihn: Mathias war mit ihm <strong>in</strong> der Masch<strong>in</strong>e. Wieder schwanden Jean-Pierredie S<strong>in</strong>ne; <strong>in</strong> gewisser Weise brachte er tatsächlich se<strong>in</strong>en Freund zurück,wie er versprochen hatte: lebend.Am gleichen Tage, an dem Pedrazz<strong>in</strong>i starb, empf<strong>in</strong>g der französischeStaatspräsident Coty Paul Mathias und fragte ihn: »Monsieur, Sie s<strong>in</strong>djetzt französischer Staatsangehöriger, aber Sie waren doch e<strong>in</strong>mal Ungar.Sagen Sie, was ist geschehen?«Mathias erwiderte: »In Budapest mit se<strong>in</strong>en zwei Millionen Menschenhatte die Bevölkerung e<strong>in</strong>fach vergessen, was Furcht ist.«»Und wie ist jetzt die Stimmung?«»Es wäre falsch, von e<strong>in</strong>em Nervenzusammenbruch zu sprechen, HerrPräsident, es war vielmehr e<strong>in</strong> totaler Zusammenbruch. Sie wurdene<strong>in</strong>fach verrückt. E<strong>in</strong>e ganze Stadt, e<strong>in</strong> ganzes Land wurde wahns<strong>in</strong>nig vorVerzweiflung.«16


2»Befreiung«ARMES UNGARN! Tausend Jahre Monarchie waren zu Ende.Diese zehn Millionen Menschen, die zusammengedrängt auf 93.000Quadratkilometern <strong>in</strong>e<strong>in</strong>ander übergehender Ebenen leben, deren Landnach zwei Weltkriegen von habgierigen Nachbarn amputiert wurde, warenselten und nur für kurze Atempausen frei von Unterdrückung und Versklavung.Sie waren stolz darauf, der äußerste Vorposten des römischenKatholizismus und des Protestantismus <strong>in</strong> Osteuropa zu se<strong>in</strong> undJahrhunderte vor ihren osteuropäischen Nachbarn parlamentarische undkonstitutionelle Regierungsformen e<strong>in</strong>geführt zu haben; ihre Ostgrenzekennzeichnet die traditionelle Scheidel<strong>in</strong>ie zwischen deutschem Materialismus,late<strong>in</strong>ischer Romantik und slawischer Subkultur.Im 20. Jahrhundert schrumpfte <strong>Ungarn</strong> wie e<strong>in</strong>e im Kampf zerfetzteFahne zu e<strong>in</strong>em kläglichen Rest zusammen. 1914 beherrschte Budapestnoch 282.000 Quadratkilometer des riesigen und morschen KaiserreichsÖsterreich-<strong>Ungarn</strong>. Der schmachvolle Vertrag von Trianon ließ <strong>Ungarn</strong>im Jahre 1920 nur noch dreiunddreißig Prozent se<strong>in</strong>es Gebietes mit nurvierundvierzig Prozent se<strong>in</strong>er früheren Bevölkerung.Es war die größte nationale Katastrophe <strong>in</strong> der Geschichte des Landes:An Jugoslawien, die Tschechoslowakei und vor allem an Rumänien fielenriesige Landflächen mit zum Teil recht großen ungarischen Bevölkerungsanteilen.Die <strong>Ungarn</strong> schätzen sich selbst als <strong>in</strong>dividualistisch, heiter, impulsivund sogar unbeherrscht e<strong>in</strong>, sprechen aber ihrem Nationalcharakter e<strong>in</strong>gewisses Beharrungsvermögen nicht ab: Wenn sie sich e<strong>in</strong>mal für e<strong>in</strong>e17


estimmte Sache entschieden haben, lassen sie sich nicht so leicht wiederdavon abbr<strong>in</strong>gen. Sie haben e<strong>in</strong>e ungewöhnliche und schwierige Sprache,die Zeugnis ablegt von ihrer ursprünglichen Abstammung: der fernenf<strong>in</strong>nisch-ugrischen Völkerfamilie. Sie haben mit ihren Nachbarn nichtsgeme<strong>in</strong>sam – mit Ausnahme der Tatsache, daß sie alle <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Bootsitzen: sie alle s<strong>in</strong>d Satelliten der Sowjetunion. Und tatsächlich werden sie<strong>in</strong>folge des Vertrags von Trianon niemals mite<strong>in</strong>ander <strong>in</strong> freundschaftlicherNachbarschaft leben können, was immer die Kommunistenüber die brüderlichen Bande zwischen den Völkern des Sowjetblocksbehaupten.Immer haben sich die <strong>Ungarn</strong> als nicht-slawische und nicht-orthodoxeNation auf die Seite der Gegner russischer Macht gestellt.Seit 1938 hatte <strong>Ungarn</strong>s letzter Verweser, der überhebliche AdmiralMiklós von Horthy, Hitler <strong>in</strong> persönlichen Briefen aufgehetzt, dieSowjetunion zu überfallen. Im Juni 1941 tat die deutsche Wehrmachtgenau das.1944 flutete der Krieg jedoch auf ungarischen Boden zurück, und diee<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>genden Russen machten Debrecen zur vorläufigen Hauptstadt desvon ihnen besetzten Gebiets. Dort errichteten sie am 21. Dezember 1944ihre erste provisorische Regierung.Als der gravitätische M<strong>in</strong>isterpräsident des Landes, Imre Nagy, 1954den zehnten Jahrestag dieser Ereignisse feierte, fand <strong>in</strong> Debrecen e<strong>in</strong>pompöser Festakt statt.Á»Die siegreichen Kämpfe der glorreichen Sowjetarmee haben unserLand aus dem Inferno des Zweiten Weltkrieges gerettet«, rief er aus, »eswar e<strong>in</strong> historischer Augenblick, als wir im Dezember 1944, auf denTrümmern des faschistischen Horthyregimes, unser nationales Banner, dasSymbol unserer Freiheit und Unabhängigkeit, entfalten konnten. Hierflattert es im W<strong>in</strong>d auf den Mauern von Debrecen, von wo aus wir <strong>in</strong>unserem gerechten Kampf für Freiheit, Unabhängigkeit und Volksdemokratieunseren letzten Triumph feierten.«Diese pathetischen Worte mögen für viele sarkastisch geklungen18


haben.Die von Nagy verherrlichte Nationalflagge zeigte jetzt das Sowjetemblem.Aber Nagy, der die Kriegsjahre <strong>in</strong> der Sicherheit Moskausüberstanden hatte, me<strong>in</strong>te es ehrlich.»Was wäre aus unserer Heimat, der Kultur und der Zivilisation <strong>in</strong> derganzen Welt geworden ohne die Sowjetarmee?« rief er, wiederum ohne esironisch zu me<strong>in</strong>en, aus. »Es war die Sowjetarmee, die die Welt und unsvor diesem Schicksal bewahrt hat.«Und unter unaufhörlichem Beifall nahm er wieder Platz, ohne zuahnen, daß er genau zwei Jahre später die Sowjetarmee verfluchen unddaß ihn ke<strong>in</strong>e Rede mehr vor dem Strick des Henkers retten würde.<strong>Ungarn</strong>s »Befreier« zogen nie wieder ab. 110.000 Menschen ausBudapest und e<strong>in</strong>e halbe Million aus anderen Teilen des Landes wurdenvon der Führung der Roten Armee <strong>in</strong> Arbeitslager verschleppt.ËDie Masse der sowjetischen Soldaten war unzivilisiert, sie stammtenaus der russischen Steppe. Mit fassungslosem Staunen sahen die <strong>Ungarn</strong>,wie ihre Besatzer versuchten, Fische <strong>in</strong> Toiletten zu waschen (die Fischeverschwanden beim Spülen, und die verblüfften Russen verprügeltenwutschnaubend die Hauseigentümer).È Raub, Plünderung und Mord warenan der Tagesordnung.Die ersten wichtigen Worte <strong>in</strong> russischer Sprache, die besorgte Elternihre schönen, gutgewachsenen Töchter sprechen lehrten, lauteten: »Ichhabe Syphilis und Tbc.«E<strong>in</strong> ungarischer Kraftfahrzeug-Ingenieur mußte erleben, daß se<strong>in</strong>ehübsche Sekretär<strong>in</strong> und deren Tochter von zwölf Russen vergewaltigtwurden; und im Hause e<strong>in</strong>es Verwandten notzüchtigten sie e<strong>in</strong>e Frau undschossen deren Mutter und K<strong>in</strong>d nieder, die sie beschützen wollten.ÍDiese persönliche Erfahrung e<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>zelnen Mannes mit dem, wasImre Nagy und andere Kommunisten so bedenkenlos die »Befreiung«nannten, wiederholte sich millionenfach im ganzen Land. Unter Arbeiternkursierte der bittere Witz, ihr Land habe drei Katastrophen erlebt: dieNiederlage durch die Tartaren, die Eroberung durch die Türken und dieBefreiung durch die Russen.19


Kommunistischen Karrieremachern fiel es leichter, den Russen zuverzeihen. E<strong>in</strong> begabter Journalist, der für das Parteiorgan Szabad Nép[Freies Volk] arbeitete, me<strong>in</strong>te noch im Jahre 1957: »Man konntevergessen, was die Russen beim E<strong>in</strong>marsch getan hatten. Danach hörteman immer wieder, wie sie uns beim Wiederaufbau geholfen und unsGetreide geschickt hätten. Auch die russischen Folkloresanger warengroßartig, und Künstler, Pianisten und Geiger wie David Oistrach kamenund spielten für uns.«ÎAber alle Viol<strong>in</strong>spieler der Moskauer Konservatorien konnten mitihrer Musik nicht das Leid vertreiben, das die Sowjets über das Landgebracht hatten.E<strong>in</strong> typischer Fall ist die Geschichte der attraktiven, hoch<strong>in</strong>telligentenFrau Bondor, die sie amerikanischen Psychiatern der Cornell Universityim März 1957 berichtete.ÏSie ist das e<strong>in</strong>zige K<strong>in</strong>d, sie ist verwöhnt und glücklich, sie liebt ihrPferd und ihren Hund. Der Vater, e<strong>in</strong> wohlhabender Katholik undBibliophile, hat Masch<strong>in</strong>enbau studiert und ist unzufrieden mit se<strong>in</strong>ermäßig bezahlten Stellung als Werkmeister <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Stahlwerk: Er hatteimmer gehofft, aufgrund se<strong>in</strong>es Studiums e<strong>in</strong>e bessere Position zubekommen. 1944 – sie ist gerade fünfundzwanzig geworden – arbeitet sieim Budapester Amt für Lebensmittel-Bewirtschaftung. Sie verliebt sich <strong>in</strong>e<strong>in</strong>en stattlichen, jungen Armeeoffizier, und am 1. Dezember heiratet sieihn. Nur vier Wochen später verhaften ihn die ungarischen Faschistenwegen Teilnahme an e<strong>in</strong>em Komplott gegen die Deutschen.Kurz vor se<strong>in</strong>er H<strong>in</strong>richtung im Schloß wird die Stadt von den Russenerobert. Er kann fliehen, aber zu Hause warten schon die Russen auf ihn –er hatte <strong>in</strong> Transsylvanien gegen sie gekämpft. Und wieder wird erverhaftet.Elf Jahre wird es diesmal dauern, bevor sie ihren Mann wiedersieht.Amerikanische Soziologen fordern sie später auf, e<strong>in</strong>en Vergleichzwischen den Deutschen und den russischen Besatzungstruppen zu ziehen:»Me<strong>in</strong> erster E<strong>in</strong>druck war, daß die Deutschen sehr arrogant und sehrstreng seien. Irgendwie behandelten sie uns <strong>Ungarn</strong>, als seien wir20


m<strong>in</strong>derwertig.«Sie überlegt und fügt h<strong>in</strong>zu: »Aber ich glaube, das Leben würde unterden Deutschen angenehmer se<strong>in</strong> als unter den Russen. Die Deutschen s<strong>in</strong>dsehr kultiviert und zivilisiert. Sie würden niemals solche barbarischenD<strong>in</strong>ge tun wie die Russen. Die Deutschen wollten den Lebensstandard unddie Kultur des ungarischen Volkes heben. Vielleicht hätten dieungarischen Fabriken für die Deutschen arbeiten müssen, aber dieDeutschen hätten sich nie <strong>in</strong> das Privatleben der ungarischen Bevölkerunge<strong>in</strong>gemischt.«Sie wird gefragt: »Was hatten Sie für e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>druck von denrussischen Soldaten, als sie 1945 <strong>in</strong> Budapest e<strong>in</strong>marschierten?«Ihre Miene verdüstert sich, und mit zorniger Stimme erwidert sie: »Ichfand die Russen unendlich – widerlich.«Langsam wendet sie sich von ihren Befragem ab und vermeidet es, siedirekt anzusehen: »Ich hatte Sachen über sie gehört . . . und sie benahmensich von Anfang an grausam und geme<strong>in</strong>. Ich war erstaunt, daß solcheLeute überhaupt sprechen konnten – sie waren schlimmer als Tiere.«Schaudernd wiederholt sie: »Tiere s<strong>in</strong>d besser als sie!«Offensichtlich verheimlicht sie etwas. Sie preßt ihre Fäuste so heftigzusammen, daß die Knöchel weiß werden. Flüsternd sagt sie: »Als dieRussen kamen, waren ihre Uniformen unbeschreiblich dreckig. Sie selbstwaren schmutzig. Das kam nicht nur vom Krieg, sie waren von Natur ausschmutzig. Sie rochen – sie stanken geradezu. Sie benahmen sich wieTiere. Sie stürmten e<strong>in</strong>fach <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Wohnung und warfen ohneVorwarnung e<strong>in</strong>e Handgranate h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>. Sie konnten nicht sprechen,sondern nur grunzen. Sie richteten ihre Pistolen auf die Leute undschossen sie e<strong>in</strong>fach nieder, wenn sie nicht die gewünschte Antwortbekamen. E<strong>in</strong>ige trugen gestohlene deutsche Uniformen, aber sie sahendamit auch nicht anders aus, sie waren dreckig bis unter die Haut. Schonbeim bloßen Anblick dieser Soldaten mußte man sich übergeben. Siehielten Zahnpasta für e<strong>in</strong>e Art Gelee und schmierten sie sich aufs Brot. Sietranken Eau de Cologne. Vor Telephonen hatten sie Angst und schossensie kaputt. Sie wuschen ihre Wäsche <strong>in</strong> Toilettenbecken. Sie hatten ke<strong>in</strong>e21


Ahnung, wofür Badewannen da waren. Wasser, das aus der Wand floß,erschreckte sie so sehr, daß sie auf die Duschen feuerten.«»Hatten Sie irgendwelche persönlichen Kontakte mit Russen?«Ihre Augen füllen sich mit Tränen, als sie sich den Alptraum desFrühjahrs 1945 <strong>in</strong> die Er<strong>in</strong>nerung zurückruft, jene Wochen, über die siebisher noch niemals zu jemandem gesprochen hatte.Nachdem man ihren Mann verschleppt hatte, werden sie und ihreharmlose Putzfrau, e<strong>in</strong>e Mutter von zwei K<strong>in</strong>dern, von vier russischenPosten vor und <strong>in</strong> der Wohnung bewacht. Drei Wochen halten die Russensie gefangen. Sie durchwühlen die ganze Wohnung und mißbrauchen diebeiden Frauen. Frau Bondor hat Angst, daß diese st<strong>in</strong>kenden, ekelhaftenSoldaten sie angesteckt oder gar geschwängert haben könnten. Sie brautsich aus Des<strong>in</strong>fektionsmitteln e<strong>in</strong>e ätzende Flüssigkeit, mit der sie sichselbst behandelt; die Säure zerfrißt e<strong>in</strong>en Eierstock und beschädigt denanderen – sie wird niemals K<strong>in</strong>der kriegen können, wenn ihr Mann jezurückkehren sollte. E<strong>in</strong>e schmerzhafte Entzündung verschlimmert sich,jedes Jahr ist für sie e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zige Qual.Sie hat Anfälle von Trübs<strong>in</strong>n, haßt alles und jeden und hängt nur nochan ihren Haustieren – drei Enten und drei Katzen. »Tiere s<strong>in</strong>d auch sohilflose Geschöpfe«, sagte sie zum Schluß.Das ist e<strong>in</strong>e Frau <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> <strong>in</strong> der Zeit nach 1945. Sie lebt <strong>in</strong> sichgekehrt und f<strong>in</strong>det Trost <strong>in</strong> klassischer Musik. Sie verkehrt nur mitFrauen, deren Männer ebenfalls verschollen s<strong>in</strong>d, Frauen, die ihr Schicksalteilen. Dreimal <strong>in</strong> der Woche treffen sie sich. Die Regierung ist machtlosoder nicht bereit, sich für sie e<strong>in</strong>zusetzen. Staatspräsident Zoltán Tildy istke<strong>in</strong> Kommunist, aber er ist schwach und wankelmütig. »Tildy hängtese<strong>in</strong> Mäntelchen immer nach dem W<strong>in</strong>d«, berichtet Frau Bondor.»Präsident wurde er nur dank der besonderen Umstände, nicht wegenirgendwelcher Fähigkeiten.«E<strong>in</strong>mal wird sie von M<strong>in</strong>isterpräsident Ferenc Nagy empfangen, aberdiese Begegnung stürzt sie nur noch tiefer <strong>in</strong> Depressionen: »Er hattenicht das Zeug zum M<strong>in</strong>isterpräsidenten, weder war er <strong>in</strong>telligent nochreif genug. Außerdem war er e<strong>in</strong> Feigl<strong>in</strong>g. Er hatte Angst vor den Russen22


und vor dem ungarischen Volk. Sobald er se<strong>in</strong> Schäfchen im trockenenhatte, verließ er das Land.«1950 werden alle verschollenen Gefangenen vom neuen kommunistischenRegime für tot erklärt. Frau Bondor wird ebenfalls offiziell davonbenachrichtigt, will aber nicht daran glauben. Nachts träumt sie nur vone<strong>in</strong>em Mann – von ihrem verschollenen Ehemann, dem gut aussehendenHauptmann, den die Russen verschleppt haben. Immer wieder wird sievon der Vorstellung beherrscht, daß er heimgekehrt und alles so ist, als seier nie weg gewesen. Er kommt <strong>in</strong> ihr Zimmer, legt sich neben sie undverhält sich eher wie e<strong>in</strong> glühender Liebhaber als wie e<strong>in</strong> Ehemann. AmTage, wenn sie unbeschäftigt ist und sich von den Kommunisten verfolgtfühlt, grübelt sie darüber nach, ob ihr Mann noch am Leben ist – irgendwo<strong>in</strong> Sibirien.23


3Mátyás RákosiIM FEBRUAR 1945 hatten die drei alliierten Staatschefs W<strong>in</strong>ston Churchill,Frankl<strong>in</strong> D. Roosevelt und Josef Stal<strong>in</strong> <strong>in</strong> Jalta <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Deklaration überdas befreite Europa feierlich erklärt: »Alle Völker haben das Recht, sichdie Regierungsform, unter der sie leben wollen, selbst zu wählen.«ÁIn <strong>Ungarn</strong> umg<strong>in</strong>gen die Sowjets dieses Versprechen. Vorsitzender derAlliierten Kontrollkommission war e<strong>in</strong> Russe, der Sowjetmarschall KlimentWoroschilow, dem starke Truppenverbände zur Verfügung standen.Stal<strong>in</strong> war jedoch darauf bedacht, die Westmächte nicht gegen sichaufzubr<strong>in</strong>gen, solange diese noch größere Streitkräfte auf europäischemBoden unterhielten. Deshalb verzichtete er darauf, sofort e<strong>in</strong>e »Diktaturdes Proletariats« zu proklamieren.Bei den ersten Wahlen am 4. November 1945 gab es e<strong>in</strong>en regulärenWahlkampf zwischen mehreren Parteien; es fand e<strong>in</strong>e geheime Abstimmungstatt. Das Ergebnis brachte Moskau e<strong>in</strong>e schwere Schlappe; diePartei der Kle<strong>in</strong>landwirte errang Mit 2.700.000 Stimmen über die Hälfte(siebenundfünfzig Prozent) aller abgegebenen Stimmen. Die Sozialdemokratenund die Kommunisten erhielten nur je siebzehn Prozent, derRest entfiel vor allem auf die Nationale Bauernpartei.Stal<strong>in</strong> nahm die Niederlage gelassen h<strong>in</strong>. Er ließ sich Zeit.Aber die wenigen überzeugten Kommunisten im Lande – es gab 1945wahrsche<strong>in</strong>lich kaum mehr als sechshundert Parteimitglieder – warendurch diesen Mißerfolg sehr deprimiert.Gyula Háy, e<strong>in</strong> ungarischer Bühnenautor, der nach zehnjährigerZusammenarbeit mit den Sowjets im April 1945 aus Moskau <strong>in</strong> die24


Heimat zurückkehrte, er<strong>in</strong>nerte sich. »Die Niederlage war vernichtend . . .Wir fielen aus allen Wolken. Wer hätte e<strong>in</strong>e solche Undankbarkeiterwartet? Wie ist es nur möglich, daß sie so wenig von uns halten? Mögensie uns nicht? Wollen sie uns nicht?«ËE<strong>in</strong> anderer l<strong>in</strong>ientreuer Kommunist, der für das KP-Organ schrieb,entrüstete sich: »Ich war entsetzt und empört, als die Partei 1945 nursiebzehn Prozent der Stimmen erhielt!« Und ohne Hemmung fügte erh<strong>in</strong>zu: »Damals sagte ich mir, da kann nur e<strong>in</strong>e ›leichte Diktatur‹ helfen.Ich war davon überzeugt, daß alle Leute, die für die Kle<strong>in</strong>landwirte- unddie Bauernpartei gestimmt hatten, Faschisten, Antisemiten und frühereAnhänger des Horthy-Regimes se<strong>in</strong> müßten . . . Ich dachte, e<strong>in</strong>er derGründe, warum wir nicht mehr Stimmen bekamen, sei die Propagandathese,daß die Kommunistische Partei Kollektive e<strong>in</strong>führen würde. Ich warder festen Me<strong>in</strong>ung, daß es,niemals Kollektive geben würde; warumhätten die Kommunisten denn sonst das Land überhaupt erst aufgeteilt?«È<strong>Ungarn</strong> erhielt mehr als nur e<strong>in</strong>e »leichte Diktatur«.Mit der Unterwerfung <strong>Ungarn</strong>s beauftragte Stal<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en der brutalstenDespoten des 20. Jahrhunderts: Mátyás Rákosi, den gerissenen,rachsüchtigen und boshaften Chef der ungarischen Emigranten <strong>in</strong> Moskau.Er wurde unter dem Namen »Matthias Roth« am 9. März 1892 als Sohne<strong>in</strong>es jüdischen Händlers geboren, hatte <strong>in</strong> Budapest e<strong>in</strong>e Banklehreabsolviert und mit e<strong>in</strong>em Stipendium Hamburg und London besucht. ImErsten Weltkrieg geriet er <strong>in</strong> russische Gefangenschaft und kam <strong>in</strong> e<strong>in</strong>sibirisches Kriegsgefangenenlager, wo er Kommunist wurde. 1918 traf er<strong>in</strong> Petrograd mit Len<strong>in</strong> zusammen. Dieser ließ ihn <strong>in</strong> Moskau zumExperten für die Organisation von Untergrundkadem ausbilden. 1919schickte Len<strong>in</strong> ihn nach <strong>Ungarn</strong> zurück, wo der rattengesichtige Béla Kungerade e<strong>in</strong> kommunistisches Regime errichtete.Das Land sollte die 133 Tage der »Sowjet-Republik« Kuns nicht soschnell vergessen. Organisierte Mordtrupps, »fahrende Sonderkommandos«,auf die später e<strong>in</strong> Re<strong>in</strong>hard Heydrich oder Adolf Eichmann stolzgewesen wären, suchten das Land heim und liquidierten auf Befehl vonOtto Korv<strong>in</strong>-Kle<strong>in</strong> und Tibor Szamuelly ohne Gerichtsverfahren ange-25


liche »Konterrevolutionäre«. Noch im selben Jahr flüchteten Kun undse<strong>in</strong>e Genossen nach Moskau, wo sie sich <strong>in</strong> mehrere rivalisierendeGruppen spalteten. Rákosi, e<strong>in</strong>er der führenden Funktionäre Kuns,entschied sich für Österreich; er blieb dort länger als erwünscht und kehrte1920 nach Moskau zurück. Das neue Regime unter Admiral Horthyliquidierte se<strong>in</strong>erseits die restlichen kommunistischen Funktionäre <strong>in</strong> e<strong>in</strong>erAktion, die dann unter dem Namen »Weißer Terror« zum Begriff wurde.Da Béla Kun und se<strong>in</strong>e Genossen Juden waren, trug das Massakerunverkennbar antisemitische Züge.Und nun begann Rákosis abwechslungsreiche Karriere im Exil. Ermachte weite Reisen als Sekretär der Kom<strong>in</strong>tern. Damit hatte er sich e<strong>in</strong>eklare Machtposition geschaffen. Nach e<strong>in</strong>em Streit mit se<strong>in</strong>em ChefGrigorij S<strong>in</strong>owjew wurde er im Dezember 1924 von der Kom<strong>in</strong>tern wiedernach <strong>Ungarn</strong> abgeschoben, mit dem Auftrag, die zerschlagene KommunistischePartei – diesmal illegal – wiederaufzubauen. Neun Monate späterwurde er verhaftet und diesmal kurzerhand zum Tode verurteilt.E<strong>in</strong>er <strong>in</strong>ternationalen Protestwelle hatte er es zu danken, daß das Urteil<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e achtjährige Gefängnisstrafe umgewandelt wurde.Ebenso wie Anna Pauker und Ernst Thälmann wurde er währendse<strong>in</strong>er Haftzeit zu e<strong>in</strong>er Cause célèbre. Und wie Anton<strong>in</strong> Novotny, derspätere tschechische KP-Chef, und andere <strong>in</strong>haftierte Spitzenfunktionäreüberlebte Rákosi, <strong>in</strong>dem er se<strong>in</strong>e Ergebenheit für die Partei auf dieGefängnisverwaltung übertrug: er wurde »Kalfakter«. Dadurch erhielt erZugang zur Gefängnisbibliothek und konnte sich weiterbilden.Kurz vor se<strong>in</strong>er Entlassung im Jahre 1935 wurde Rákosi wieder vorGericht gestellt. Die Anklage lautete dieses Mal auf Beteiligung an derH<strong>in</strong>richtung von vierzig politischen Gegnern während des Béla-Kun-Regimes.Jahre später er<strong>in</strong>nerte er sich. »Ich war fest entschlossen, diebegrenzten publizistischen Möglichkeiten, die e<strong>in</strong> Prozeß vor e<strong>in</strong>emfaschistischen Gericht bieten würde, voll auszunutzen.« Dadurch wurde er<strong>in</strong> der ganzen Welt bekannt. Rezsö Szántó, se<strong>in</strong>erzeit Sekretär derungarischen KP im Moskauer Exil, startete e<strong>in</strong>e »Rettet-Rákosi«-Kam-26


pagne (hauptsächlich, um von der schädlichen Propagandawirkung derStal<strong>in</strong>schen Schauprozesse von 1937 abzulenken). Während des SpanischenBürgerkrieges wurde e<strong>in</strong> ungarisches Bataillon der InternationalenBrigade nach ihm benannt. Am 30. Oktober 1940 ließ Horthy ihnschließlich frei im Austausch gegen ungarische Kriegsfahnen, dieSoldaten des Zaren 1848 erbeutet hatten. Drei Tage später überschrittRákosi die Ostgrenze zur Sowjetunion. Sechzehn Jahre Gefangenschaftfür die Arbeiterbewegung lagen h<strong>in</strong>ter ihm.Während des Krieges war Rákosi <strong>in</strong> Moskau ke<strong>in</strong> sonderlich beliebterEmigrant. Man warf ihm vor, bei se<strong>in</strong>em Prozeß im Jahre 1935 eigeneGenossen belastet zu haben. Dennoch ernannte ihn Stal<strong>in</strong> zum Chef derungarischen Emigranten. Dies war e<strong>in</strong> durchaus logischer Schritt, denndas Geld, das <strong>in</strong> die Kampagne für se<strong>in</strong>e Entlassung gesteckt worden war,hatte ihn zu e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>ternational bekannten Persönlichkeit gemacht. Die <strong>in</strong>Spanien gekämpft oder illegal gearbeitet hatten, kannte dagegen niemand.Rachsüchtig und voller Haß gegen das Land, das ihn verfolgt unde<strong>in</strong>gekerkert hatte, hetzte er im sowjetischen »Radio Kossuth«, dasPropagandasendungen nach <strong>Ungarn</strong> ausstrahlte. Und beim Siegesbankettim Jahre 1945 sag Rákosi an Stal<strong>in</strong>s rechter Seite.Er war Ende 1944 nach <strong>Ungarn</strong> zurückgekehrt und hatte die Führungder neuen Kommunistischen Partei als Erster Sekretär übernommen,obgleich die w<strong>in</strong>zige Parteizelle, die im Lande geblieben war und dieDeutschen aus dem Untergrund bekämpft hatte, von László Rajk geleitetwurde. Der kahle, dickschädelige und stämmige Emigrant Rákosi warhoffnungslos eitel; mit se<strong>in</strong>en verhangenen, wimperlosen Augen, se<strong>in</strong>en»Segelohren« und den dicken, wulstigen Lippen, die sich zuweilen zue<strong>in</strong>em krampfhaften, nervösen Lächeln öffneten, um e<strong>in</strong>e Reiheunsauberer Zähne zu enthüllen, war er alles andere als e<strong>in</strong>e Schönheit.Se<strong>in</strong> kugelrunder, halsloser Schädel schien direkt auf den Schultern zusitzen. Er war grob und prahlerisch. Den bürgerlichen Parteien, denKle<strong>in</strong>landwirten, Bauern und Sozialdemokraten, drohte er: »Wir werdeneuch Stückchen für Stückchen erledigen, wie man von e<strong>in</strong>er SalamiScheibchen für Scheibchen abschneidet, bis nichts mehr von euch27


übrigbleibt.«Diese Salamitaktik führte er rücksichtslos durch und machte darausauch ke<strong>in</strong> Geheimnis.E<strong>in</strong> Organisationstalent wie Mátyás Rákosi erregt das besondereInteresse von Analytikern der Macht. Er war grausam, aber ke<strong>in</strong>e himloseMarionette, er beherrschte zehn Sprachen, e<strong>in</strong>schließlich mehrererslawischer Dialekte. Er sprach gut englisch und nutzte das, als er 1946 dasTennessee-Valley-Projekt auf E<strong>in</strong>ladung besichtigte. Nachts g<strong>in</strong>g er aufeigene Faust los, um sich mit »amerikanischen Proletariern« zuunterhalten.E<strong>in</strong> Mann, der ihn sehr gut kannte, war György Heltai. 1945, alsSekretär der Budapester Ortsgruppe und später als führender Funktionärim Außenm<strong>in</strong>isterium, sah Heltai ihn täglich; er fand ihn sympathisch undverständnisvoll. Es war charakteristisch für Rákosi, Heltais Vorschlägenzuzustimmen, aber zugleich zu fragen: »Me<strong>in</strong>en Sie, daß unsere Freunde«(geme<strong>in</strong>t waren die Sowjets) »damit e<strong>in</strong>verstanden s<strong>in</strong>d?« Se<strong>in</strong> Verhältniszu Stal<strong>in</strong> war nach wie vor nicht gut.Als Heltai, der jetzt <strong>in</strong> den USA lebt, geme<strong>in</strong>sam mit Rákosi denKreml besuchte, war er erstaunt, daß Rákosi warten mußte, bis ihm e<strong>in</strong>Besucherpaß ausgestellt worden war.28


4SalamitaktikBIS 1948 WÜHLTE und hetzte, konspirierte und <strong>in</strong>trigierte Rákosi gegen dieKoalitionsregierung. Jahrelang hatte er im Exil die Pläne dafür geschmiedet.»Die wesentlichen Voraussetzungen hat die ungarische KP bereitswährend des Zweiten Weltkrieges geschaffen«, prahlte er späterÁ; undschon im Oktober 1944 gelang es den Kommunisten, die Sozialdemokratenzur Bildung e<strong>in</strong>er künftigen Volksfront zu überreden.Vorsichtig, aber systematisch g<strong>in</strong>g er dabei zu Werk. Im erstenKab<strong>in</strong>ett <strong>in</strong> Debrecen gab es nur drei kommunistische M<strong>in</strong>isterposten,aber die Übertragung des Landwirtschaftsm<strong>in</strong>isteriums an Imre Nagymachte es möglich, 1945 die Bodenreform durchzusetzen, um die Bauernzur Unterstützung der Kommunisten zu verleiten. Damals verfügte diekatholische Kirche noch über rund 500.000 Hektar Landbesitz, 303 adligeGroßgrundbesitzer besaßen <strong>in</strong>sgesamt 2 Millionen Hektar, während sich1,6 Millionen Bauern <strong>in</strong> 4,7 Millionen Hektar Land teilen mußten.500.000 Tagelöhner besaßen überhaupt ke<strong>in</strong> Land. Die Bodenreform übtedamit e<strong>in</strong>en entscheidenden E<strong>in</strong>fluß auf das Wahlverhalten der Bauernaus.Trotzdem lagen noch vier Jahre des Planens und Lavierens vor RákosiVon den 409 Parlamentssitzen errangen bei den Wahlen vom November1945 die Kle<strong>in</strong>landwirte 245 Mandate; sie schienen unschlagbar zu se<strong>in</strong>.Rákosi hatte wenig Aussicht, e<strong>in</strong>er Wählerschaft, die sich noch an dieHerrschaft Béla Kuns er<strong>in</strong>nerte, den Kommunismus schmackhaft zumachen. Aber er hatte e<strong>in</strong>en Trumpf <strong>in</strong> der Hand: die Unterstützung derSowjettruppen. »Die sowjetische Armee h<strong>in</strong>derte von Anfang an die29


eaktionären Kräfte <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> daran, uns mit Waffengewalt anzugreifen,so wie Denik<strong>in</strong>, Koltschak und andere Generäle der Weißen Garde eswährend der Russischen Revolution getan hatten«, erklärte er spätertriumphierend.ËJózsef Révai, se<strong>in</strong> Chefideologe, gab <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em im Frühjahr 1949veröffentlichen Artikel offen zu, sie seien nur deshalb an die Machtgekommen, weil sie die »entscheidende Kontrolle über die Polizeikräfte«ausübten und weil »die Macht der Partei und der Arbeiterklassewesentlich dadurch gestärkt wurde, daß die Sowjetunion und diesowjetische Armee jederzeit bereit waren, uns zu Hilfe zu kommen«.ÈRévais E<strong>in</strong>geständnis wurde von den späteren Prahlereien Rákosis nochübertroffen.Tatsächlich konnte Rákosi weite Passagen aus Len<strong>in</strong>s Schriften zitieren;Stal<strong>in</strong>s »Probleme des Len<strong>in</strong>ismus« kannte er auswendig. Er wußtegenau, wie er jetzt handeln mußte, <strong>in</strong>dem er nämlich die Ratschläge undAnweisungen befolgte, die Stal<strong>in</strong> ihm während des Krieges <strong>in</strong> Moskauerteilt hatte.Viele se<strong>in</strong>er Genossen begriffen nicht, was er eigentlich wollte. DieViel-Parteien-Koalition, die ursprünglich aus den Wahlen von 1945hervorg<strong>in</strong>g, war durchaus nicht <strong>in</strong> ihrem S<strong>in</strong>ne. »Warum ergreifen wirnicht die Gelegenheit und stellen die Diktatur des Proletariats wieder her,nachdem uns die Rote Armee befreit hat?« fragten sie.Aber dafür war Rákosi zu schlau. Die Arbeiterklasse mußte erst nochfür die Kommunistische Partei gewonnen werden. In e<strong>in</strong>em ideologischenGrundsatzreferat – e<strong>in</strong>er der wichtigsten und entlarvendsten Reden se<strong>in</strong>erlangen Parteikarriere –, das er am 29. Februar 1952 vor der Parteischulehielt, bekannte er zynisch: »Schon bei der Bodenreform verfolgten wir dieTaktik, unsere Gegner, wo immer wir konnten, zu spalten oder auszuschalten.Deshalb haben wir die M<strong>in</strong>destgrenze auf 200 Joch festgesetzt,wodurch die große Mehrheit der ›Kulaken‹ verschont blieb. Und das warsehr nützlich bei der schnellen und reibungslosen Durchführung derBodenreform.«Alle Forderungen der Partei hielten sich anfänglich <strong>in</strong> bescheidenem30


Rahmen und wurden nur allmählich, mit List und Tücke, höhergeschraubt.»Zuerst verlangten wir nur ›staatliche Kontrolle‹ der Banken«, erklärte erhöhnisch. »Aber später forderten wir die direkte Verstaatlichung der dreigrößten Banken.« Dieselbe h<strong>in</strong>terlistige Taktik wurde beim Bergbau, beider Masch<strong>in</strong>enbau- und der Metall<strong>in</strong>dustrie angewandt.»Erbitterte Kämpfe gab es um die Kontrolle über die Streitkräfte, dasHeer, die Polizei und den Staatssicherheitsdienst«, räumte Rákosi <strong>in</strong> se<strong>in</strong>erGeheimrede e<strong>in</strong>. (Die Staatssicherheitsabteilung, AMT, der Polizei wardie später berüchtigte »Államvédelmi Osztály« oder ÁVO.)Auch die Macht der Kirche mußte gebrochen werden.Am späten Abend des 15. Februar 1946 läutet um 23.15 Uhr dasTelephon im Büro von János Péterfalvy, e<strong>in</strong>em fünfundvierzigjährigenBischof der griechisch-orthodoxen Kirche <strong>in</strong> Budapest.Í E<strong>in</strong>e Frau bittetihn zu kommen, um ihrer sterbenden Mutter die Letzte Ölung zu spenden.»Me<strong>in</strong> Bruder wird Sie mit dem Wagen abholen«, sagte sie we<strong>in</strong>end.Unten am Tor erwartet den Bischof e<strong>in</strong> großer, schwerer russischerWagen. Er br<strong>in</strong>gt ihn zur Andrássy út 60, dem Hauptquartier desStaatssicherheitsdiensts. Die Insassen des Wagens fordern ihn höflich auf,ke<strong>in</strong>en Fluchtversuch zu unternehmen: »Wir haben Befehl, sofort zuschießen.«Bei den folgenden Verhören geht es weniger gesittet zu. Mit e<strong>in</strong>emGummiknüppel werden dem Bischof die l<strong>in</strong>ken unteren Backenzähne ausgeschlagen.Drei Tage später wird er beschuldigt, amerikanischer Spionzu se<strong>in</strong>. Man sperrt ihn <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Zelle, <strong>in</strong> der knöchelhoch Eiswasser steht.Dort verbr<strong>in</strong>gt er mehr Tage, als er sich merken kann.Nach drei Wochen wird der Bischof zusammen mit dreizehn anderenungarischen Gefangenen dem NKWD, der sowjetischen Geheimpolizei,überstellt. Unter se<strong>in</strong>en Mitgefangenen erkennt er den Chef des Telegraphenbüros,Ferenc Szabolcs, und e<strong>in</strong>en höheren Prov<strong>in</strong>zbeamten. DerBischof weigert sich erneut, e<strong>in</strong> Geständnis zu unterschreiben, er seiamerikanischer Spion. Se<strong>in</strong>e Zehennägel werden ausgerissen, psychologischeDruckmittel werden angewandt. »Ihr Vater ist alt und kränklich«,31


flüstert der NKWD-Offizier. »Sie wollen ihm doch wohl ke<strong>in</strong>e Unannehmlichkeitenbereiten?«Als man ihm am nächsten Tage mitteilt, se<strong>in</strong>e beiden alten Eltern seiene<strong>in</strong>gesperrt worden, unterzeichnet er das Geständnis. Er wird zu zwanzigJahren Zwangsarbeit verurteilt.Das letzte, was man von Bischof Péterfalvy für die nächsten zehnJahre weiß, sieht so aus: Er liegt auf dem Boden e<strong>in</strong>es versiegeltenGüterwagens – e<strong>in</strong>er von dreißig Mann e<strong>in</strong>er für die Sowjetunionbestimmten Waggonladung von Gefangenen. Es gibt endlose Aufenthalte.E<strong>in</strong>mal hören sie e<strong>in</strong>en Radklopfer, der an den Schienen entlang geht undleise auf ungarisch vor sich h<strong>in</strong>summt: »S<strong>in</strong>d da irgendwelche <strong>Ungarn</strong>dr<strong>in</strong> – wenn ja, bitte husten und sich melden!« Aber niemand wagt, auchnur e<strong>in</strong>en Laut von sich zu geben, und so rollt der Zug weiter.Er hält beim früheren Ghetto <strong>in</strong> Lwow (Lemberg), aber es ist nur e<strong>in</strong>eZwischenstation. Die Überlebenden müssen nackt Vor dem Arzt aufmarschieren,der ihre Muskeln abtastet, sie <strong>in</strong>s Gesäß kneift, um dieFestigkeit ihres Fleisches zu prüfen; er malt jedem Mann e<strong>in</strong>e Kennzifferauf den Rücken, damit sie wie e<strong>in</strong> Gepäckstück weiterbefördert werdenkönnen – nach dem Ural, nach West- oder Zentralsibirien oder an diemongolische Grenze.So zerbricht und vernichtet Mátyás Rákosi die Opposition.Mit e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>zigen Sitz mehr als die rivalisierende SozialdemokratischePartei waren die Kommunisten nom<strong>in</strong>ell die zweitgrößteFraktion und rissen die Posten des stellvertretenden M<strong>in</strong>isterpräsidentenund des Innenm<strong>in</strong>isters für Rákosi und Imre Nagy an sich. Am 15.November 1945 trat diese Koalition von Wölfen und Schafen ihr Amt an.Die Kle<strong>in</strong>landwirte-Partei übernahm die Hälfte der restlichenM<strong>in</strong>isterien und trat zu e<strong>in</strong>em energischen Angriff gegen das von Moskaudiktierte Bodenreform-Gesetz an. Die Kommunisten g<strong>in</strong>gen lautstark zumGegenangriff über, verlangten die Entfernung der fähigsten Führer derKle<strong>in</strong>landwirte wegen reaktionärer Umtriebe, <strong>in</strong>dem sie ihnen vorwarfen,sie seien Horthys Gefolgsleute gewesen und seien jetzt sogar britischeSpione.32


Das war ihr Ru<strong>in</strong>. Béla Kovács, die prom<strong>in</strong>enteste Persönlichkeit unterden Führern der Kle<strong>in</strong>landwirte, hatte so hart um den wichtigen Posten desInnenm<strong>in</strong>isters im Kab<strong>in</strong>ett von 1945 gekämpft, daß er von den Russen alsFe<strong>in</strong>d Nr. 1 angesehen wurde. Se<strong>in</strong> taktischer Fehler war, Kontakt mite<strong>in</strong>er Untergrundorganisation aufzunehmen, um die Bildung geheimerSicherheitskräfte für die Zeit nach dem »Abzug« der Russen vorzubereiten.Diese Organisation war ursprünglich aus der Ungarischen Volksgeme<strong>in</strong>schaftÎ,e<strong>in</strong>er Widerstandsbewegung aus der Kriegszeit, entstandenund von General Lajos Dálnoki-Veress, e<strong>in</strong>em <strong>in</strong> Transsylvanien geborenenMonarchisten und Antikommunisten, wiedergegründet worden, derim April 1946 aus russischer Gefangenschaft entlassen worden war.Rákosi erklärte später: »Bei der Aufdeckung der Verschwörung wurdedeutlich, daß ihre Fäden bis zu e<strong>in</strong>em der M<strong>in</strong>ister und sogar bis zumGeneralsekretär der Kle<strong>in</strong>landwirte, Béla Kovács, reichten.« Die Folgewar Osteuropas erster Schauprozeß nach dem Krieg. Jeder, der dar<strong>in</strong>verwickelt war, wurde der bewaffneten Konspiration beschuldigt; e<strong>in</strong>erwurde gehängt. Der General wurde begnadigt, nachdem er alle Geständnisseunterzeichnet hatte, die man von ihm verlangte. Damit war imFebruar 1947 der Weg für Rákosi frei, Béla Kovács selbst »abzuschießen«.Das immer noch souveräne Parlament weigerte sich, die Immunitätvon Béla Kovács aufzuheben. Er selbst unternahm e<strong>in</strong>en mutigen undcharakteristischen Schritt: In aller Gemütsruhe begab er sich zur Andrássyút 60, nachdem er fünf Parlamentskollegen gebeten hatte, draugen auf ihnzu warten und das Parlament zu unterrichten, falls er nicht b<strong>in</strong>nen zweiStunden wiederauftauchen sollte. So etwas hatten nur wenige gewagt.Nach e<strong>in</strong>er Stunde kam er wieder heraus. Das Verhör beim Staatssicherheitsdienstsei e<strong>in</strong>e re<strong>in</strong>e Formalität gewesen, sagte er.ÏAber er war sich darüber im klaren, daß se<strong>in</strong>e Freiheit nicht von langerDauer se<strong>in</strong> werde. Nachts schlief er <strong>in</strong> der ste<strong>in</strong>ernen Vorhalle desParlamentsgebäudes, und mit se<strong>in</strong>en Freunden diskutierte er darüber, ob er<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er ausländischen Gesandtschaft um Asyl nachsuchen sollte. Die33


Amerikaner w<strong>in</strong>kten ab. Schließlich resignierte er und g<strong>in</strong>g – selbst aufdie Gefahr h<strong>in</strong>, verhaftet zu werden – nach Hause zu se<strong>in</strong>er Frau.Der sowjetische NKWD nahm ihn sofort fest und beschuldigte ihn,durch se<strong>in</strong>e Aktivitäten die militärische Sicherheit der Sowjets gefährdetzu haben.Für neun Jahre verschwand Béla Kovács der hartnäckigste Opponentder kommunistischen Machtübernahme, <strong>in</strong> der Sowjetunion. Die Amerikanerlegten nur formale Proteste e<strong>in</strong>. Das war e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>deutiger Beweisdafür, daß die Westmächte dieses Land sowjetischer Willkür ausgelieferthatten.Béla Kovács zum Schweigen gebracht zu haben, war die erste Tat desneuen Innenm<strong>in</strong>isters, László Rajk. Er war e<strong>in</strong> hochgewachsener, f<strong>in</strong>sterblickender, gutaussehender junger Mann; mit se<strong>in</strong>en hohen Bakkenknochenund der vorgewölbten Stim sah er Abraham L<strong>in</strong>coln ähnlich.Während des Spanischen Bürgerkrieges hatte er im »Rákosi«-Bataillonmitgekämpft und im Zweiten Weltkrieg die kommunistische Untergrundbewegung<strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> organisiert.ÌFür den »Vater« des Staatssicherheitsdienstes konnte es ke<strong>in</strong> ironischeresund gerechteres Schicksal geben als das, was ihn sehr bald unterder harten Hand Rákosis erwartete. Auf dessen Befehl wurden zahlreicheMitglieder der Kle<strong>in</strong>landwirte-Partei als »Verschwörer« verhaftet undgefoltert. »Aus ihren Geständnissen«, so behauptete Rákosi, »g<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>deutighervor, daß es Ziel der Verschwörung war, das alte kapitalistischeSystem der Großgrundbesitzer wiederherzustellen, das Land se<strong>in</strong>enfrüheren Eigentümern zurückzugeben, die Arbeiter und Bauern ihrerneuerworbenen Rechte zu berauben und diese Pläne mit Hilfe derausländischen Imperialisten durch bewaffneten und blutigen Terror <strong>in</strong> dieTat umzusetzen.«So schrieb Rákosi fortgesetzt die Geschichte um, wie sie für se<strong>in</strong>ePartei opportun schien. Im Mai 1947 spitzte sich die Lage zu, als es denWestmächten gelang, die Kommunisten aus den Regierungen <strong>in</strong> Frankreich,Italien und F<strong>in</strong>nland h<strong>in</strong>auszudrängen. »Um den Weg für diegleiche Entwicklung <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> freizumachen«, erklärte Rákosi »lud man34


M<strong>in</strong>isterpräsident Ferenc Nagy von der Kle<strong>in</strong>landwirte-Partei <strong>in</strong> dieSchweiz e<strong>in</strong>. Während se<strong>in</strong>es Aufenthalts <strong>in</strong> der Schweiz verdichteten sichdie Verdachtsmomente, daß Ferenc Nagy der eigentliche Anführer derVerschwörung war.« Er habe ihn dann – so lautete Rákosis Version weiter– entrüstet zur sofortigen Heimkehr aufgefordert, um sich zu rechtfertigen,aber Ferenc Nagy habe sich entschlossen, als Regierungschef zurückzutretenund im Westen zu bleiben. (In Wahrheit hatte Rákosi M<strong>in</strong>isterpräsidentNagy bestochen, damit er nicht wieder zurückkehre.)Wie der Historiker Szolnoki später den im »Masch<strong>in</strong>enraum« entdecktenTelephon-Niederschriften entnehmen konnte, waren Bestechungsgeldergezahlt worden, und wir wissen jetzt, daß Rákosi außerdemversprochen hatte, Nagys Sohn zu se<strong>in</strong>em Vater <strong>in</strong> die Schweiz ausreisenzu lassen, und daß er den Wagen behalten könne, den ihm Stal<strong>in</strong> e<strong>in</strong>stgeschenkt hatte.Rákosi vermutete völlig zu Recht, daß die offenbare Fahnenfluchtdieser feigen Führer Zwietracht unter den Parteifreunden säen würde.Darüber h<strong>in</strong>aus konnte Rákosi im Frühjahr 1947 behaupten: »DieTatsache, daß er (Nagy) nicht wagte, zurückzukehren, war für jedermanne<strong>in</strong> klarer Beweis dafür, daß die Anschuldigungen gegen ihn auf Wahrheitberuhten.«Drei Tage später, am 3. Juni 1947, folgte der Parlamentspräsident,Béla Varga von der Kle<strong>in</strong>landwirte-Partei, Ferenc Nagy <strong>in</strong> den Westen.Sofort nutzte Rákosi die dadurch <strong>in</strong> den Reihen der Oppositionentstandene Verwirrung aus. »Wir ließen dem Gegner ke<strong>in</strong>e Zeit, sich zureorganisieren und neu zu formieren«, erklärte er befriedigt. »Währendsich die neuen reaktionären Oppositionsparteien <strong>in</strong> größter Verwirrung,Hilflosigkeit und im Streit untere<strong>in</strong>ander befanden, setzten wir Neuwahlenan.«Wahrsche<strong>in</strong>lich manipulierten die Kommunisten das Wahlergebnis.In Györ witterte der örtliche Polizeichef Unrat und ließ alle blauenStimmzettel der Briefwähler durchstreichen.Ó Aus den Wahlergebnissenschloß er, daß die Kommunisten offensichtlich im ganzen Lande mitdiesen blauen Stimmzetteln Wahlfälschungen begangen hatten. Als die35


Auszählung beendet war, konnte sich Rákosi zufrieden die Lippen lecken.Se<strong>in</strong>e Partei hatte die Kle<strong>in</strong>landwirte und die Sozialdemokraten überrundet.Die demoralisierten Kle<strong>in</strong>landwirte reorganisierten sich unter e<strong>in</strong>emneuen Vorsitzenden, dem fünfundfünfzigjährigen István Dobi, e<strong>in</strong>emwillensschwachen Gewohnheitstr<strong>in</strong>ker; und da er und se<strong>in</strong>e Kumpaneschon seit 1945 für e<strong>in</strong> geheimes E<strong>in</strong>verständnis mit den Kommunistene<strong>in</strong>getreten waren, stellten die Kle<strong>in</strong>landwirte ke<strong>in</strong>e Gefahr mehr fürRákosi dar.Aber da waren noch die Sozialdemokraten. Und kaum hatte die neueRegierung im September 1947 ihr Amt angetreten, als Rákosi sich mitganzer Kraft auf die Vernichtung der »verräterischen sozialdemokratischenFührer« konzentrierte.Im Grunde gab es 1945 vier Gruppierungen <strong>in</strong>nerhalb der Partei. Siereichten vom rechten Flügel unter A. Valent<strong>in</strong>i und Károly Peyer, ähnlichder Labour Party, bis zu e<strong>in</strong>em l<strong>in</strong>ken Flügel unter der Leitung vonGyörgy Marosán und Pál Justus, die mit den Kommunisten sympathisierten.Mehr zur Mitte neigte e<strong>in</strong>e Fraktion, die von Anna Kéthly, AntalBán, Ferenc Szeder und József Takács geführt wurde. Szeder und Takácsstarben im Gefängnis. Diese Gruppe versuchte, den Marxismus zureformieren. Und schließlich gab es noch e<strong>in</strong>e korrupte Gruppe unterFührung von Árpád Szakasits, der versuchte, beide Flügel gegene<strong>in</strong>anderauszuspielen – und se<strong>in</strong>en Balanceakt zwischen Rákosis Partei und denanderen L<strong>in</strong>ksgruppen ausführte.Diese unglückseligen Gruppierungen wurden von Rákosi entzweit,gespalten und zermürbt, bis jede e<strong>in</strong>zelne wie Schnee <strong>in</strong> der Sonnedah<strong>in</strong>schmolz. Zuerst verlangte er von den Sozialdemokraten, sich ihrermehr rechtsorientierten Funktionäre wie Anna Kéthly zu entledigen: Ende1947 beschuldigten die Kommunisten mehrere führende Sozialdemokratender Zusammenarbeit »mit faschistischen oder imperialistischen Spionen«.Laut Rákosis späterer Darstellung wuchs das R<strong>in</strong>nsal unzufriedenerMitglieder, die sich von den Sozialdemokraten ab- und se<strong>in</strong>er Partei36


zuwandten, zu e<strong>in</strong>em reißenden Strom an. alle<strong>in</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Februarwochedes Jahres 1947 ersuchten 40.000 Bewerber um Aufnahme <strong>in</strong> die Partei.Die L<strong>in</strong>ken versuchten, ihren Niedergang dadurch aufzuhalten, daß sie am18. Februar e<strong>in</strong>en öffentlichen Parteitag abhielten, auf dem die »Kompromißler«unter den Vorstandsmitgliedern ausgeschlossen wurden.Dadurch verblieben im Parteivorstand nur noch der untersetzte wortkargeMarosán, ehemals Vorsitzender der Bäckergewerkschaft, und der Generalsekretärder Partei Szakasits, e<strong>in</strong> sechzig Jahre alter Ste<strong>in</strong>metz.Es war offensichtlich, daß sie die Partei Rákosi ausliefern wollten. AlsSzakasits im Februar 1948 zur Eröffnung e<strong>in</strong>es neuen Parteigebäudes nachGyör kam, sprach er von »Zusammenarbeit allezeit – Vere<strong>in</strong>igung niemals!«Im Juni 1948 fand dann jedoch die »Mußheirat« statt, und e<strong>in</strong>evere<strong>in</strong>igte »Partei der ungarischen Werktätigen« (wie die SED <strong>in</strong> derDDR) war geboren.ÔMit Unterstützung des Staatssicherheitsdiensts, der Schöpfung desverhaßten László Rajk, säuberten die Kommunisten die sozialdemokratischeMitgliedschaft. In Györ mußten der Bürgermeister und zahlreicheandere zurücktreten, und Hunderte früherer Sozialdemokraten erfuhren ameigenen Leibe die »Segnungen« des Staatssicherheitsdiensts: Folter,Gefängnis oder Galgen.Doch das war <strong>in</strong> Rákosis Augen völlig unwichtig: Im Juni 1948 warunter se<strong>in</strong>er »gütigen Führung« die E<strong>in</strong>heit der Arbeiterklasse Wirklichkeitgeworden.37


5Der große E<strong>in</strong>flußDIE UMGESTALTUNG <strong>Ungarn</strong>s <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en marxistischen Staat durch Rákosiverletzte vor allem die Gefühle der e<strong>in</strong>fachen Leute. Und es waren imwesentlichen diese e<strong>in</strong>fachen Menschen gewesen, die 1956 <strong>in</strong> denStraßenschlachten des <strong>Aufstand</strong>es gekämpft hatten, und nicht dieIntellektuellen oder die unterlegenen Politiker. Deshalb müssen wir unserAugenmerk auch auf sie richten: Was veranlaßte e<strong>in</strong>en Mann, e<strong>in</strong> Gewehr<strong>in</strong> die Hand zu nehmen? Warum trotzte e<strong>in</strong>e Frau dem grausamen Risikoe<strong>in</strong>es Kugelregens? Warum zog e<strong>in</strong> Mann die verhaßte Uniform derSicherheitspolizei an, während e<strong>in</strong> anderer beschloß, zu Hause zu bleibenund sich h<strong>in</strong>ter Mutters Rock zu verstecken? Es wurden so viele Teilnehmeram <strong>Aufstand</strong> von neutraler Seite e<strong>in</strong>er Psychoanalyse unterzogen,daß wir mit Sicherheit feststellen konnten, von welchen Gedanken siebeherrscht wurden, was für Träume und Alpträume sie zu ihrenverzweifelten Handlungen veranlaßten und welchen E<strong>in</strong>fluß ihr Milieu,die elterliche Erziehung, die soziale Stellung und die Art des Berufeshatten, um ihren Wunsch <strong>in</strong> die Tat umzusetzen.Nehmen wir den Fall e<strong>in</strong>es sechsundzwanzigjährigen jüdischenDiplom<strong>in</strong>genieurs.Á Im August 1957 <strong>in</strong> den USA befragt, gibt er zu, mitsechzehn Jahren kommunistischer Aktivist am Gymnasium gewesen zuse<strong>in</strong>. 1945 wurde die Jugendorganisation »Studentenbund« genannt – diePartei hatte <strong>in</strong> jeder Schule und <strong>in</strong> jedem Klassenzimmer Untergruppenerrichtet. Er war Sekretär e<strong>in</strong>er Klassengruppe. »Die meisten me<strong>in</strong>erKlassenkameraden waren Antikommunisten«, sagt er nachdenklich. »Wirhatten viele Diskussionen. Ich mißbrauchte niemals das Vertrauen me<strong>in</strong>er38


Kameraden. Ich war der Kommunist, mit dem man reden konnte. Diskretlobte ich die guten Seiten des Kommunismus. Me<strong>in</strong>e Verb<strong>in</strong>dungen zurPartei halfen mir <strong>in</strong> me<strong>in</strong>en Beziehungen zu me<strong>in</strong>en Kameraden. So g<strong>in</strong>gich, wann immer ich e<strong>in</strong>e Diskussion oder e<strong>in</strong>en Ausflug planen wollte,zum Parteisekretär und bat diesen um f<strong>in</strong>anzielle Unterstützung. Dies ware<strong>in</strong> Weg für mich, um den Kameraden die Kommunistische Parteiattraktiv ersche<strong>in</strong>en zu lassen.«Er wurde gefragt: »Was hatten Sie für E<strong>in</strong>drücke, als die KommunistischePartei <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> zur Macht gelangte?«»Ich war glücklich darüber. Ich dachte, wir würden durch die Übernahmeder Macht <strong>in</strong> der Lage se<strong>in</strong>, Gutes für die Leute zu tun.«»Hat irgend jemand versucht, Ihnen klarzumachen, daß der Kommunismuske<strong>in</strong>e richtige Weltanschauung sei?«»Ja, es gab e<strong>in</strong>en Nachbarn. Aber er war e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>deutiger Klassenfe<strong>in</strong>d.Er war Fabrikbesitzer, und es war offensichtlich, daß er früher oder späterenteignet würde. In allen Ause<strong>in</strong>andersetzungen, die ich mit den Gegnerndes Kommunismus hatte, verfügte ich über alle Argumente, weil ich tief <strong>in</strong>die kommunistische Theorie e<strong>in</strong>gedrungen war, während die anderen nurallgeme<strong>in</strong>e Ideen verfochten. Ich konnte me<strong>in</strong>e Auffassungen stets mitirgendwelchen wissenschaftlichen Beweisen untermauem.«Man fragte ihn, ob er jemals nahe Freunde gehabt habe. Er schütteltden Kopf: »Eigentlich ne<strong>in</strong>. Ich könnte nicht sagen, ich hätte wirklicheFreunde gehabt.«»Können Sie mir sagen, wann sich die erste Enttäuschung e<strong>in</strong>stellte?«»Sie begann, als ich 1948 die Universität bezog«, erklärte er. »DerE<strong>in</strong>fluß me<strong>in</strong>es Vaters war die entscheidende Grundlage me<strong>in</strong>erkommunistischen Überzeugung. Als aber alles immer schlimmer wurde,und ich D<strong>in</strong>ge sah und hörte, die ich mir nicht erklären konnte, wandte ichmich hilfesuchend an me<strong>in</strong>en Vater. Er berichtete mir aber nur noch übermehr D<strong>in</strong>ge, die er entdeckt hatte. Me<strong>in</strong>e Enttäuschung war tatsächlich e<strong>in</strong>schrittweiser Rückzug. Da gab es Verhaftungen und Mißhandlungen vonSozialdemokraten, die der Partei zur Zeit der Verschmelzung so willkommengewesen waren. Die Heuchelei der Kommunistischen Partei39


wurde immer deutlicher. Der russische E<strong>in</strong>fluß war offensichtlich undüberall.«Das Universitätsleben gab ihm den Rest. Se<strong>in</strong>e Kameraden betrachtetenihn als e<strong>in</strong>en Ausgestoßenen. »Ich liebte elegante, moderne Anzüge«,erklärte er, »ich rasierte mich täglich und trug frische Hemden undKrawatten. Aber nach Ansicht me<strong>in</strong>er Kameraden trägt e<strong>in</strong> Proletarierke<strong>in</strong>en eleganten Anzug und vor allem niemals e<strong>in</strong>e Krawatte. Dieseorthodoxen Kommunisten sehen immer ungewaschen aus. Dagegen war esme<strong>in</strong> Bestreben, e<strong>in</strong> sauberer junger Mann zu se<strong>in</strong>. Me<strong>in</strong> Kleidungsstilwar nicht der der Partei. Langsam merkte ich, daß das, was ich suchte, garnicht existierte. Ich war irregeführt worden.«E<strong>in</strong>er ganz bestimmten Gruppe von <strong>Ungarn</strong> fiel die Entscheidung fürdie Kommunistische Partei besonders leicht. Seit Kriegsende 1945 war dieNation <strong>in</strong> unsichtbare religiöse Richtungen gespalten, die eng mit denKampffronten der politischen Parteien übere<strong>in</strong>stimmten.Diese Tatsache, die absichtlich <strong>in</strong> zahlreichen Darstellungen des<strong>Aufstand</strong>s von 1956 verschwiegen wird, gab dem schwelenden Grollgegen das Regime e<strong>in</strong>en rohen Beigeschmack: Von den neun MillionenBürgern waren 1939 über 700.000 Juden. Zeitungskarikaturen zeigten siemit Bart, Ohrlocken und Kaftan: Die lukrativen, freien Berufe waren fest<strong>in</strong> ihrer Hand. Unter der Nazi-Besatzung begann <strong>Ungarn</strong> die Juden aus derProv<strong>in</strong>z <strong>in</strong> Ausrottungslager zu verschicken, während die <strong>in</strong> Budapestlebenden Juden <strong>in</strong> Arbeitslager getrieben wurden. Nur etwa 200.000 Judenüberlebten den Krieg. Es ist verständlich, daß diese Überlebenden diesowjetische Armee als ihre Befreier begrüßten. Doch war es dieseHaltung, die den traditionellen Antisemitismus der Bevölkerung neuentzündete.E<strong>in</strong> Studentenführer, Sohn e<strong>in</strong>es Parteifunktionärs, begründete denEntschluß se<strong>in</strong>es Vaters, sich im Jahre 1945 dem Kommunismus anzuschließen,folgendermaßen: »Er war im Grunde e<strong>in</strong> Kle<strong>in</strong>bürger«, sagte er,als Soziologen ihn <strong>in</strong> Oxford befragten. »Er trat der Sicherheit wegen <strong>in</strong>die Partei e<strong>in</strong>. Dieser Wunsch war sehr stark, genau so stark wie derWunsch, den Tod von Familien und geliebten Menschen an den40


Faschisten zu rächen. Me<strong>in</strong> Vater war der Me<strong>in</strong>ung, daß der Kommunismusdie gesamte jüdische Frage würde lösen können. Dies ist dieTragödie der jüdischen Intellektuellen <strong>in</strong> Osteuropa«, fügte er h<strong>in</strong>zu.»Außerdem glaubte me<strong>in</strong> Vater, daß er befördert würde, wenn dieKommunisten an die Macht kämen.«ËVerschärft wurde die Situation noch dadurch, daß die aus Moskauzurückkehrenden Palad<strong>in</strong>e Rákosis Juden waren. Da war Ernö Gerö, dasschlanke, listige, schwarzhaarige Organisationstalent, e<strong>in</strong> scheues, freudloses,leidenschaftliches Nervenbündel. Geboren als »Ernst S<strong>in</strong>ger« war erunter Béla Kuns Regime tätig und hatte sich im Spanischen Bürgerkrieghervorgetan. Er war es, der Ramön Mercader rekrutierte, den Mann, der1940 Trotzki ermorden sollte. Und es gab den früheren Buchdruckerlehrl<strong>in</strong>gMichael Wolf, den späteren Mihály Farkas, der nach dem9. September 1948 Rákosis Verteidigungsm<strong>in</strong>ister wurde. Auch erkämpfte im Spanischen Bürgerkrieg, verbrachte zehn Jahre <strong>in</strong> der Tschechoslowakei,wo er e<strong>in</strong>e kommunistische Jugendbewegung gründete. InMoskau wurde er regulärer NKWD-Funktionär; se<strong>in</strong>en slowakischjüdischenAkzent legte er nie ganz ab. Der vierte Mann dieses Quartetts,der Journalist József Révai, wurde der »Dr. Goebbels« des DiktatorsRákosi – se<strong>in</strong> Propagandam<strong>in</strong>ister.Der starke E<strong>in</strong>fluß, den das jüdische Element <strong>in</strong>nerhalb des Regimesausübte, führte zu e<strong>in</strong>er allgeme<strong>in</strong>en tiefen Verstimmung. Der amerikanischeSoziologe Dr. Jay Schulman, der dieses Phänomen untersuchte,stellte ausdrücklich fest: »Die Kommunistenführer wurden fast von derganzen Bevölkerung als Juden erkannt.«ÈEs gab genügend Beweise dafür <strong>in</strong> den Interviews. E<strong>in</strong> gebildeterIngenieur erklärte verärgert, die Juden hätten den Kommunismus nach<strong>Ungarn</strong> gebracht, seien aber dabei am wenigsten geschädigt worden. Erme<strong>in</strong>te, die Juden hätten alle guten Jobs bekommen. Fast alle Parteifunktionäre,»funkcionáriusok«, die Bonzen, waren Juden. Noch wichtiger:Die höheren Offiziere der verhaßten Sicherheitspolizei warengleichfalls Juden. Der Ingenieur sagte: »Früher hatten wir ke<strong>in</strong>e Judenfrage;aber nach dem Krieg sahen wir, wie sie die ungarischen Parteien41


zerstörten . . . Dies war der Anfang des wachsenden Widerstandes gegensie.«ÍE<strong>in</strong> anderer, Assistent e<strong>in</strong>es der Wirtschaftsprofessoren an derTechnischen Hochschule, stellte fest: Seitdem Juden das verantwortlicheGremium zu Ernennung von Professoren beherrschten, »wurden diesePositionen stets nur Juden zugesprochen«.ÎEs war paradox, daß der durch die kommunistischen Aktivitätenerzeugte Antisemitismus so heftig war, daß selbst viele Juden von ihmangesteckt wurden. Die »großen Juden« der Parteiführung schikaniertendie vielen kle<strong>in</strong>en jüdischen Geschäftsleute und Handwerker, beraubten,enteigneten und demütigten sie, so daß sie ihr eigenes Judentum vergaßenund <strong>in</strong> den allgeme<strong>in</strong>en Schrei der Entrüstung mit e<strong>in</strong>stimmten. Juden,ehemals wohlhabende Fabrikanten, wurden zu gewöhnlichen Handwerkern,Facharbeitern oder Schneidern degradiert. Den Söhnen derjüdischen Intelligenz wurde die Aufnahme <strong>in</strong> die Universität verweigert.Somit dauerten die jüdischen Flitterwochen mit den Kommunisten nur bisungefähr 1950. Trotzdem blieben viele Juden »Sympathisanten«Ï. Siefanden immer wieder Gründe, selbst die schlimmsten Exzesse desRegimes zu entschuldigen.E<strong>in</strong> dreiundvierzigjähriger jüdischer Schnittmeister war zehn Jahrelang Sozialdemokrat gewesen, bis die Partei sich 1948 mit den Kommunistenverschmolz, was ihn zum Austritt veranlaßte. Er sagte: »Die Tatender jüdischen Kommunisten hafteten im Gedächtnis der Leute. DieMenschen machten die Juden für ihr Elend verantwortlich. Sie sahen nurdie zwanzig Juden unter den hundert kommunistischen Parteimitgliedern,aber nicht die anderen achtzig.«Ì Dieser Mann gab zu, sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en soheftigen Antisemiten verwandelt zu haben, daß er e<strong>in</strong>en jüdischenSicherheitsoffizier während des <strong>Aufstand</strong>s mit se<strong>in</strong>en bloßen Händenerwürgte. Er haßte se<strong>in</strong>e jüdischen Kameraden, die »ihre Stellungen zuRacheakten benutzten«, wie er sich ausdrückte. Er beobachtete, wie derschleichende Antisemitismus das Land eroberte, konnte aber nichtfeststellen, daß Rákosis Kumpane etwas dagegen unternahmen. »Es ware<strong>in</strong>e eigenartige Sache«, bestätigte er 1956, »während der letzten Jahre sah42


man weder e<strong>in</strong>e ÁVO-Uniform noch e<strong>in</strong>en kommunistischen Parteifunktionär– nur Juden.« Er träumte von dem Tag, da e<strong>in</strong>e Flutwelle dieseBedrücker verschl<strong>in</strong>gen würde und er se<strong>in</strong>e eigene private Druckereiwürde wiedereröffnen können.Bis zu e<strong>in</strong>em gewissen Grad waren alle nach dem <strong>Aufstand</strong> befragtenFlüchtl<strong>in</strong>ge antisemitisch. Der grundlegende S<strong>in</strong>neswandel war selbst beiden kultiviertesten Flüchtl<strong>in</strong>gen nicht schwer zu f<strong>in</strong>den. Manchmalmußten die Soziologen etwas tiefer sondieren. Aber der Wurm war stetsda, <strong>in</strong> Erwartung geangelt und auf dem Löschblatt e<strong>in</strong>es Psychoanalytikerszappelnd zur Schau gestellt zu werden.Am 5. Februar 1957 befragte Dr. Richard Stephenson <strong>in</strong> Cornell diejunge Erika Szálay, e<strong>in</strong> frommes und anziehendes Mädchen.»Alle Schlüsselstellungen waren <strong>in</strong> jüdischen Händen«, sagte Erika.»Ich fragte mich immer, warum Katholiken und Lutheraner diese Jobsnicht bekommen konnten. Es gab viele Juden <strong>in</strong> Pápa, aber ke<strong>in</strong>er vonihnen verrichtete e<strong>in</strong>e körperliche Arbeit, und auch ihre Frauen arbeitetennicht.«Sie blickte unsicher umher, als ob sie sich vergewissern wolle, daßke<strong>in</strong>er von Stephensons Stab ihre Bemerkungen mithören könnte. Erfragte: »Warum glauben Sie, daß die Juden im Vorteil waren? Unterstütztendie Juden das Regime mehr?«Erika zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht, aber weil die Juden dieSchlüsselstellungen <strong>in</strong>nehatten.« Ihre Stimme verlor die Überzeugungskraft.Sie begann von neuem: »Der Chef me<strong>in</strong>er Fabrik war e<strong>in</strong> Jude.«Dann: »Sie müssen das Regime unterstützt haben! Wie könnten sie essonst so weit gebracht haben!«Sie fanden viele verschiedene Arten, es auszudrücken, aber derzugrundeliegende Vorwurf war immer der gleiche.E<strong>in</strong> Ingenieur, der die Fabriken mit den Produktionsgenossenschaftennach sowjetischem Muster verglich, sagte: »Die Leiter dieser Kooperativewaren stets ›Cohens‹ und ›Schwarzes‹.« Befragt, ob er ke<strong>in</strong>e jüdischenArbeiter im Geschäftsraum se<strong>in</strong>es pharmazeutischen Werks kannte,antwortete er: »Ne<strong>in</strong>. Die Juden arbeiteten immer im Büro.«Ó43


E<strong>in</strong> anderer Ungar beschreibt ergreifend, wie er we<strong>in</strong>te, als er e<strong>in</strong>male<strong>in</strong>em älteren Juden begegnete, der e<strong>in</strong>em Freund aus der K<strong>in</strong>dheit ähnelteund dessen von den Nazis verschleppter Sohn nie zurückgekehrt war. Bei<strong>in</strong>tensiverer Befragung gab er trotzig zu: »Es ist e<strong>in</strong>e bekannte Tatsache,daß die Juden sich politisch nach vorn drängen.«ÔDer amerikanische Psychoanalytiker blickte fragend zu ihm auf undsah »Pogrome <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Augen«, wie er es <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Aufzeichnung lebhaftschilderte. Der Mann bekräftigte se<strong>in</strong>e Erklärung: »Ich hasse sie wie diePest!«Es war e<strong>in</strong>e Ironie des Schicksals, daß diese allbekannte Auffassungvon dem »begünstigten Juden« oft gar nicht der Wahrheit entsprach. BélaSzász, der im Prüfungsausschuß für Kandidaten <strong>in</strong> Rákosis Außenm<strong>in</strong>isteriumsag, er<strong>in</strong>nerte sich: »Rákosi legte mir 1948 ausdrücklich nahe,ke<strong>in</strong>e Juden zu nehmen!«Die Juden, die von den privilegierten Nischen der neuen kommunistischenGesellschaft ausgeschlossen waren, entwickelten e<strong>in</strong>en starkenSelbsterhaltungstrieb. Sie lernten <strong>in</strong>st<strong>in</strong>ktiv, sich aus Unannehmlichkeitenherauszuhalten.E<strong>in</strong> typischer Fall war der e<strong>in</strong>es zweiunddreigigjährigen Anwalts:Ungarische Faschisten sperrten ihn im November 1944 <strong>in</strong> e<strong>in</strong>Arbeitslager. Sie nahmen auch se<strong>in</strong>e beiden Schwestern mit, wiesen aberse<strong>in</strong>e Mutter als zu alt zum Arbeiten zurück; sie begleitete aus freiemWillen ihre Töchter und starb zusammen mit ihnen 1945 den Hungertod.Als amerikanische Truppen Mauthausen befreiten, war der Anwalt e<strong>in</strong>Skelett und wog zweiundfünfzig Pfund. Er wurde wieder gesund, e<strong>in</strong> 1,85Meter großer Jurastudent und promovierte als Bester se<strong>in</strong>er Klasse. Abersobald die Grenze undicht wurde – während des <strong>Aufstand</strong>es 1956 –,flüchtete er aus se<strong>in</strong>er Heimat. Se<strong>in</strong> dreiundsiebzigjähriger Vater we<strong>in</strong>te,als se<strong>in</strong> Sohn ihn verließ, aber dieser überlegte vernünftig: »Ich kann ihnf<strong>in</strong>anziell besser unterstützen, wenn ich im Ausland b<strong>in</strong>!«Am 22. März 1957 diskutierte e<strong>in</strong>e Gruppe von Fachleuten vertraulichüber se<strong>in</strong>en Fall. Dr. Lawrence E. H<strong>in</strong>kle jr., Experte für kommunistischeGehirnwäsche und außerordentlicher Professor der Kl<strong>in</strong>ischen Mediz<strong>in</strong> an44


der Mediz<strong>in</strong>ischen Hochschule Cornell, berichtet: »E<strong>in</strong>es der bemerkenswertestenD<strong>in</strong>ge sche<strong>in</strong>t mir die Art zu se<strong>in</strong>, wie dieser Mann die Technikdes Überlebens entwickelt hat.« Der Anwalt war nicht dazu zu bewegen,auch über die heikelsten D<strong>in</strong>ge e<strong>in</strong>e gefühlsmäßige Me<strong>in</strong>ung auszudrücken.So sprach er nicht nur völlig leidenschaftslos über die Untatender Deutschen den Juden gegenüber, sondern vermochte e<strong>in</strong>em auch dieGründe zu erklären, die von den Nazis für Antisemitismus vorgebrachtwerden, und ihnen e<strong>in</strong>en Hauch von Glaubwürdigkeit zu verleihen.«45


6Die MachtübernahmeDAS ANFANGSSTADIUM mit se<strong>in</strong>er politischen Praxis des Ellbogengebrauchsund Schienbe<strong>in</strong>tretens dauerte drei Jahre. Während dieser parlamentarischeNahkampf weiterg<strong>in</strong>g, hatte Rákosi den gleichzeitigen Kampfum die Kontrolle der Streitkräfte dadurch entschärft, daß er sie unterhalbder erlaubten Stärke hielt, die der Friedensvertrag von 1947 vorschrieb.Dafür gab es e<strong>in</strong>leuchtende taktische Gründe: Se<strong>in</strong>e Partei hatte bereitsdas wichtige Innenm<strong>in</strong>isterium und dadurch die mächtigen Polizeikräftedes Landes <strong>in</strong> der Hand; aber das Verteidigungsm<strong>in</strong>isterium wurde vonEugene Tornbor von der Kle<strong>in</strong>landwirte-Partei geleitet, weshalb man dieregulären Streitkräfte auf 12.000 anstelle von be<strong>in</strong>ahe 70.000 Mannbegrenzte. Dies verstärkte den kle<strong>in</strong>en kommunistischen Brückenkopf <strong>in</strong>der Armee; und sowjetisch ausgebildete Offiziere nutzten die Möglichkeit,die Armee Moskaus Interessen zu unterwerfen.»Orientierungsoffiziere« wurden erst unter dem früheren Horthy-Obersten István Beleznay (der 1951 gehängt wurde), und dann unterMajor Ferenc Jánosi – e<strong>in</strong>em ehemaligen Militärkaplan, der <strong>in</strong> sowjetischerGefangenschaft zum Kommunismus übergetreten und jetzt ImreNagys Schwiegersohn war – e<strong>in</strong>geführt.Á Außerdem wurden »D«-Offiziereoder Angehörige des Staatssicherheitsdienstes <strong>in</strong> die Armeee<strong>in</strong>geschleust, um Kriegsverbrecher nach dem CIC-Pr<strong>in</strong>zip zur Strecke zubr<strong>in</strong>gen. Niemand war eifriger im E<strong>in</strong>satz dieser E<strong>in</strong>heiten, um dieführenden kriegserfahrenen Offiziere zu beseitigen, die äußerst tapfergegen die Sowjetunion gefochten hatten, als der Chef der »D«-Offiziere,Generalleutnant György Pálffy. Pálffy, als Georg Österreicher am 16.46


September 1909 geboren, war 1940 wegen se<strong>in</strong>er Verlobung mit derNichte Tibor Szamuellys, Kuns berüchtigtem roten Terroranführer, ausHorthys Armee ausgestoßen worden; er war dann <strong>in</strong> den kommunistischenUntergrund gegangen. Mit Hilfe se<strong>in</strong>es Stabschefs Oberst Dezsö Némethund der Generale Gusztav Illy und László Sólyom säuberte er die Armeevon allen fähigen antisowjetischen Offizieren. Tausende wurden e<strong>in</strong>gesperrt,h<strong>in</strong>gerichtet oder den Sowjets ausgeliefert.Die kommunistische Machtübernahme <strong>in</strong> der Armee wurde mitbrutalsten Mitteln durchgeführt. Verteidigungsm<strong>in</strong>ister Eugene Tomborstarb 1946 an se<strong>in</strong>em Schreibtisch; se<strong>in</strong> Nachfolger, General AlbertBartha, floh 1947 <strong>in</strong>s Exil, und dessen Nachfolger, Péter Veres, Schriftstellerund schwächlicher Führer des l<strong>in</strong>ken Flügels der Bauernpartei,unterwarf sich der Zusammenarbeit mit den Kommunisten, als er se<strong>in</strong> Amtantrat.Veres war e<strong>in</strong> schwacher, eitler Verteidigungsm<strong>in</strong>ister, der denSowjets direkt <strong>in</strong> die Hände spielte und sogar Pálffy <strong>in</strong> jenem Sommerzum General<strong>in</strong>spekteur der Armee ernannte. E<strong>in</strong>e Militärakademie nachsowjetischem Vorbild, die »Kossuth Akademie« unter der Leitung vonGeneral Kálmán Révay, wurde eröffnet; Révay war schon immer<strong>in</strong>sgeheim Kommunist gewesen.Nach dem endgültigen Sieg Rákosis im Parlament, am 9. September1948, nahm der l<strong>in</strong>ientreue Kommunist Mihály Farkas als neuerVerteidigungsm<strong>in</strong>ister die erste Militärparade der neuen Volksarmee ab.Die ungarische Armee hatte nie etwas Ähnliches gesehen wie die Männer,die nun <strong>in</strong> die stolzen, alten Offiziersuniformen gesteckt wurden. Derfrühere Trambahnführer István Bata trug die Rangabzeichen e<strong>in</strong>esObersten. Er hatte mit Rákosi <strong>in</strong> Moskau zusammengearbeitet, warsowjetischer Bürger und wurde Stabschef. Der Agitator István Szabó, derArbeiter Károly Janza und Michael Szalvay, früher Maurer, die währenddes Spanischen Bürgerkriegs Offiziere gewesen waren, wurden alleGeneralleutnants. Der Lehrer Béla Székely, der Elektriker Tibor Berczelliund e<strong>in</strong>e pantoffelschlurf ende Schar noch unwahrsche<strong>in</strong>licher wirkenderAnwärter wurden Generalmajore. 1952 er<strong>in</strong>nert sich Rákosi wehmütig:47


»Die Offiziere rekrutierten sich aus Bauern und Arbeitern . . . und wennsie ihre früheren Fabriken oder Heimatdörfer besuchten, bewiesen siedurch ihre bloße Gegenwart, wie sich das Gleichgewicht der Kräftezwischen den Klassen verschoben hatte.«ËAll dies erhöhte nur die Verdrossenheit der Gebildeten. E<strong>in</strong> sechsundzwanzigjährigerIngenieur beschrieb später, was er erlebte, als man ihn1953 für drei Jahre dienstverpflichtet hatte: »Die meisten Offiziere warenBauern- und Arbeitersöhne. Ich mußte die Arbeit der Offiziere machen.Die gesamte Volksarmee wurde von ebenso durchschnittlichen Kerlen wieich selbst anstatt von Offizieren ausgebildet und geführt . . . Die Offiziereunterzeichneten lediglich die Appelle.«ÈFarkas zog die kommunistischen Schrauben <strong>in</strong> dieser Volksarmee an.Der Orientierungsoffizier wurde »Politoffizier« nach dem Vorbild desSowjetkommissars. Diese politischen Offiziere mußten jeden Befehlgegenzeichnen und konnten die regulären Kommandeure ihrer E<strong>in</strong>heitüberstimmen; sie kamen aus bewährten kommunistischen Kadern undwurden an der Petöfi-Militärakademie <strong>in</strong> Budapest ausgebildet. ImNovember 1948 trafen die ersten sowjetischen »Berater« e<strong>in</strong>. SowjetischeDienstvorschriften, Unterkunftsnormen, militärische Ehrenbezeigung,Essensgewohnheiten und – 1951 – die Uniform der Roten Armee wurdenbei den ungarischen Streitkräften e<strong>in</strong>geführt.Auch bei der Polizei wurde das durchgesetzt, was der Diktator als»tollkühnen Kampf« bezeichnete. Rákosi triumphierte: »Es gab e<strong>in</strong>enPunkt auf dem unsere Partei von der ersten M<strong>in</strong>ute an beharrte, und hierwaren wir nicht geneigt, bei irgendwelchen Postenverteilungen oderVere<strong>in</strong>barungen e<strong>in</strong>e angemessene Beteiligung der anderen Parteien derKoalition zu berücksichtigen. Dies war der Staatssicherheitsdienst (AMT),die ÁVO. Wir nahmen diese Organisation vom ersten Tag ihrer Gründungan fest <strong>in</strong> die Hand.«ÍDie unpopuläre Sicherheitspolizei war im Dezember 1944 entstanden,als die provisorische Regierung <strong>in</strong> Debrecen zweiundzwanzig Mannentsandte, die für die Aufgaben e<strong>in</strong>er politischen Polizei ausgebildetwerden sollten. 1947 war aus dieser im Entstehen begriffenen Polizei-48


macht die ÁVO gebildet worden, deren Hauptquartier sich <strong>in</strong> derAndrássy út 60 <strong>in</strong> Budapest befand.Der vierzigjährige frühere Untergrundkommunist Gábor Péter war seitder Geburtsstunde dieser Truppe ihr Chef. Er war es, der im Vorkriegs-Wien den jungen Kim Philby für die <strong>in</strong>ternationale kommunistischeBewegung gewonnen hatte, <strong>in</strong>dem er die junge, geschiedene LitziFriedmann als Köder benutzte.Î Als »Benjám<strong>in</strong> Auschpitz« <strong>in</strong> Ostungarngeboren, wurde dieser Schneidergeselle e<strong>in</strong>er der eifrigsten TerroristenStal<strong>in</strong>s. Er hatte die für Schneider charakteristische gebückte Haltung, waroft charmant, aber immer brutal. Péter forderte, daß die Offiziersstellender ÁVO überwiegend mit Juden besetzt würden. Viele waren <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong>geborene sowjetische Bürger; die meisten waren vom NKWD, Stal<strong>in</strong>seigener Geheimpolizei, ausgebildet worden. NKWD-Offiziere standenstets zur Verfügung, um Neul<strong>in</strong>ge <strong>in</strong> allen Fragen zu beraten. Im Laufe derZeit sollte jeder ungarische Polizeibezirk se<strong>in</strong>e ÁVO-Abteilung besitzenund die ÁVO jedem Bataillon e<strong>in</strong>en Abwehroffizier, »elháritók«, abordnen.Seitdem nahm ÁVO-Chef Péter se<strong>in</strong>e Befehle direkt von GeneralleutnantFedor Bielk<strong>in</strong> entgegen, e<strong>in</strong>em sadistischen NKWD-Häuptl<strong>in</strong>g,der von Wien aus die sowjetischen Sicherheitsmaßnahmen leitete, bisStal<strong>in</strong>, e<strong>in</strong> antisemitistischer Fanatiker, ihn <strong>in</strong> den 50er Jahren liquidierte.ÏDie kurze Zeit, <strong>in</strong> der die ÁVO dem ungarischen Innenm<strong>in</strong>isterium unterstelltwar, endete am 28. Dezember 1949, als sie zu e<strong>in</strong>em unabhängigenAmt auf M<strong>in</strong>isterebene wurde und <strong>in</strong> »Államvédelmi Hatóság« (Staatssicherheitsabteilung)oder ÁVH umbenannt wurde.Ì Die neue Dienststelleüberwachte sowohl die Sicherheitspolizei als auch die militärischenGrenzwachen und erstattete ihre Berichte dem M<strong>in</strong>isterrat, dem Kab<strong>in</strong>ettRákosi. Aber das gemarterte Volk vergaß nie die ursprüngliche Behördeund sprach bis zum Schluß von Sicherheitspolizisten als ÁVOs.Schließlich bestand die ÁVH aus rund 35.000 Mann. Ihr Personalstand unter dem Schutz des NKWD, bekam überhöhte Gehälter undPrämien, hatte freie Verpflegung und billige Unterkunft. In der Andrássyút waren die Nervenzentren von ÁVH und NKWD durch e<strong>in</strong>e schmale49


Eisentür verbunden. Das festungsähnliche Gebäude schien ständig vonBauleuten zu wimmeln, die im Inneren Umbauten vornahmen. Aber dief<strong>in</strong>stere Fassade blieb stets die gleiche.Diese Dienststelle benutzte Methoden von sagenhafter Grausamkeit.Kam es darauf an, wie wahr die Behauptungen waren? Sie wurdenbereitwillig vom Volk geglaubt. »Me<strong>in</strong> Vetter zweiten Grades«, er<strong>in</strong>nertsich e<strong>in</strong> sechzehnjähriger Schüler, »wurde zur ÁVO abkommandiert. Erwar fünfundzwanzig, aber er sagte, se<strong>in</strong>e Nerven seien beim Anblick derÁVO-Methoden zugrunde gerichtet worden. Manchmal machte erBemerkungen wie diese: ›Was ist die Andrássy út 60 doch für e<strong>in</strong> schönerOrt – sehr bequem für die Donau und um Menschen verschw<strong>in</strong>den zulassen.‹ Er erzählte uns, daß sie e<strong>in</strong> Mahlwerk für die Körper benutzten.«ÓDas »Körper-Mahlwerk« der ÁVH wurde <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er großen Anzahl vonInterviews nach dem <strong>Aufstand</strong> erwähnt.Rákosis Büro <strong>in</strong> der Akadémia utca war e<strong>in</strong> Labyr<strong>in</strong>th, <strong>in</strong> dem JolánSimon, die sanfte, junge Frau von Gábor Péter, herrschte. E<strong>in</strong>es Tageswürde auch sie <strong>in</strong> Rákosis Kerker geworfen und gefoltert werden. Rákosiselbst saß lautlos h<strong>in</strong>ter gepolsterten Türen und brütete neue Pläne fürse<strong>in</strong>e Machtübernahme aus. Die Presse wurde gesäubert, und e<strong>in</strong> Netz ausSicherheitspolizei, Internierungslagern und Spitzeln zog sich über derversklavten Bevölkerung dieses Landes zusammen. Das Volk hungerte,zitterte und hatte Angst. Die Kommunisten änderten die Währung undführten e<strong>in</strong>en katastrophalen Dreijahresplan e<strong>in</strong>. Dieser wurde 1949 vom»Molotow-Plan« abgelöst, mit dessen Hilfe Moskau <strong>Ungarn</strong>s Wirtschaftkontrollierte, Produktionsziele und Abgaben diktierte und den sowjetischenAnspruch bekräftigte, <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> unter Weltmarktpreisen zu kaufenund an <strong>Ungarn</strong> über Weltmarktpreisen zu verkaufen. Es war e<strong>in</strong> Wahns<strong>in</strong>nsrezeptfür den Bankrott. Die <strong>Ungarn</strong>, e<strong>in</strong>st <strong>in</strong> landwirtschaftlichemÜberfluß lebend, standen nunmehr zum erstenmal Schlange vor denLebensmittelläden. Konsumgüter waren so gut wie nicht erhältlich.Die Bonzen des Landes hatten dieser Not gegenüber taube Ohren.Imre Nagy, dessen Büro sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em anderen Flügel der Parteizentralebefand, von wo man e<strong>in</strong>e Seitenstraße überblickte, sprach e<strong>in</strong>mal über den50


Beg<strong>in</strong>n dieses schrecklichen Regimes und über die folgenden Jahre von»Experimenten und Irrtümern«. Für die Irrtümer machte er ungenannte<strong>in</strong>nere Fe<strong>in</strong>de verantwortlich, erwähnte aber taktvollerweise die Verantwortlichenfür die Experimente nicht.George Orwell hätte <strong>in</strong> Farm der Tiere se<strong>in</strong>e Figuren ke<strong>in</strong>e beredtereRechtfertigung vorbr<strong>in</strong>gen lassen können, als Nagy es <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Rede tat:»Es war der glühendste Wunsch von Millionen <strong>Ungarn</strong>, den Tag zu sehen,da sie <strong>in</strong> ehrbarer Arbeit leben und sich deren Früchte ungestört erfreuenkönnten. Aber die Fe<strong>in</strong>de des Volkes, die Nachfolger des alten Regimes,führten e<strong>in</strong>en verzweifelten Kampf gegen unsere demokratischen Errungenschaftenund gegen das friedliche Leben der werktätigen Bevölkerung.Anstelle von schöpferischer und aufbauender Arbeit mußte die Kraftunserer neuen Demokratie auf das R<strong>in</strong>gen gegen den <strong>in</strong>neren Fe<strong>in</strong>dgerichtet werden, bis unsere Arbeiterklasse die vollständige Herrschaftgewonnen hatte.«Die gefährlichsten dieser <strong>in</strong>neren Fe<strong>in</strong>de waren die Kirchen. ImFriedensvertrag von 1947 schienen sie unverletzlich: »<strong>Ungarn</strong>«,bestimmte der Vertrag, »soll alle nötigen Maßnahmen ergreifen, um allenMenschen unter ungarischer Rechtsprechung ohne Unterschied der Rasse,des Geschlechts, der Sprache oder der Religion, den Genuß der Menschenrechteund der grundlegenden Freiheiten zu sichern, e<strong>in</strong>schließlichFreiheit der Sprache und Presse, der Ausübung der Religion, der politischenMe<strong>in</strong>ungsäußerung und öffentlicher Versammlungen.«Man konnte Rákosi be<strong>in</strong>ahe kichern hören, als er 1952 über dieseneuen Salamitaktiken sprach: »Die Kirchen kämpften von 1945 bis 1948fast geschlossen gegen uns . . . Als erstes zerstörten wir die reaktionäregeme<strong>in</strong>same Front der Kirchen. Indem wir uns die demokratischenMöglichkeiten der reformierten calv<strong>in</strong>istischen und evangelischlutherischenKirchen zunutze machten, konnten wir die Gläubigen, die mit unssympathisierten, mobilisieren. Aufgrund ihrer Forderung wurde 1948 e<strong>in</strong>eVere<strong>in</strong>barung im Geiste geme<strong>in</strong>samer Duldung und Verständnissesgetroffen, die die friedliche Koexistenz zwischen Volksdemokratie undjenen Kirchen sicherte.«51


Die stärkste Macht war die katholische Kirche. Zwei Drittel desLandes war katholisch. Aber diese Kirche blieb unversöhnlich. Zur Zeitder Bodenreform, die durch Imre Nagy erzwungen wurde, hatte die katholischeKirche ungefähr e<strong>in</strong>e halbe Million Hektar besessen, deren sie nunberaubt wurde. Rákosi verstaatlichte die kirchlichen Schulen, enteignetederen Besitz und befahl der Sicherheitspolizei, Kirchgänger zu verfolgen:Die Teilnahme an e<strong>in</strong>er religiösen Feier hatte die E<strong>in</strong>tragung e<strong>in</strong>es negativenVermerks auf e<strong>in</strong>er Kaderkartei zur Folge.Be<strong>in</strong>ahe alle Klöster wurden geschlossen, ihr Besitz konfisziert,Nonnen und Mönche <strong>in</strong> entfernte Dörfer deportiert, um neuen Haß gegendie Kirchen unter den Bauern zu schüren. Pornographische Literaturwurde gedruckt, die den Klerus als sexuell pervers oder im Konkub<strong>in</strong>atmit se<strong>in</strong>em weiblichen Personal lebend darstellen sollte. Nonnen wurdenlächerlich gemacht, und wenn e<strong>in</strong> Kranker um den Besuch e<strong>in</strong>es Priestersbat, mußte er e<strong>in</strong> schriftliches Gesuch e<strong>in</strong>reichen.E<strong>in</strong>e überragende Persönlichkeit verkörperte die Macht der katholischenKirche <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong>: der Primas, der traditionsmäßig als Zweiternach dem Staatsoberhaupt rangierte. Seit dem 17. September 1945 wardies Kard<strong>in</strong>al M<strong>in</strong>dszenty.Er wurde als Joseph Péhm am 29. März 1892 <strong>in</strong> dem bescheidenenDorf Csehim<strong>in</strong>dszent geboren, dessen Namen er später annahm. DerKard<strong>in</strong>al war e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>drucksvolle Persönlichkeit: willensstark, weltfremd,altmodisch und unpraktisch, mit dunklem Te<strong>in</strong>t und eigenwilligen,adlerähnlichen Gesichtszügen strahlte er vielleicht sogar e<strong>in</strong>en Hauch vonFanatismus aus. Als Bischof von Veszprem war er wegen se<strong>in</strong>erausgesprochen antisemitischen Ansichten bekannt. Auch hatte er 1944nichts gegen die Ausweisung von Juden unternommen – wie es <strong>in</strong> e<strong>in</strong>emvertraulichen Bericht des US-Intelligence Service vom November 1945hieß.Ô Aber er half dem Nazi-Widerstand durch e<strong>in</strong>en Grafen Pálffy, unddieser nutzte se<strong>in</strong>e Verb<strong>in</strong>dungen zum Vatikan, um zu erreichen, daßM<strong>in</strong>dszenty zum Fürstbischof erhoben wurde. »Es besteht kaum e<strong>in</strong>Zweifel, daß er streng antikommunistisch ist«, bestätigt e<strong>in</strong> amerikanischerBericht. »Es wird nicht leicht für ihn se<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>en klugen Kurs für52


den Katholizismus <strong>in</strong> dem auf ke<strong>in</strong>er Karte verzeichneten Meer derungarischen gesellschaftlichen Revolution zu steuern.« In e<strong>in</strong>em Hirtenbriefzwei Tage vor der Wahl im November 1945 beschwor er dieGläubigen, gegen die Arbeiterparteien zu stimmen.Während der nächsten Jahre gewann der Kampf des Regimes gegenihn an Boden. In se<strong>in</strong>er ländlich derben Sprache berichtete Rákosi ohnejede Hemmung, wie er auch diesen mürrischen, alten Gegner elim<strong>in</strong>ierte:»Nachdem die reaktionären Führer der Kle<strong>in</strong>landwirte-Partei als Agentender amerikanischen Imperialisten entlarvt waren und nachdem dieverräterischen sozialdemokratischen Führer und die Pfeiffer-Leutedasselbe Los geteilt hatten, waren nun die anti-demokratischen Führer derKirche an der Reihe. Die ungarische Volksdemokratie war jedoch auf derHut und machte Kard<strong>in</strong>al M<strong>in</strong>dszenty den Prozeß. Dadurch kamen allese<strong>in</strong>e Aktivitäten und die se<strong>in</strong>er Freunde ans Tageslicht. Es stellte sichheraus, daß sie unter dem Deckmantel der Kirche nicht nur die Wiederherstellungder alten gutsherrlich-kapitalistischen Ordnung, sondern auchdie des verhaßten Habsburger Regimes planten.«Der Staatssicherheitsdienst holte den Kard<strong>in</strong>al im Dezember 1948,gerade am heiligen Stephanstag, dem Tag des Schutzheiligen von <strong>Ungarn</strong>,ab. E<strong>in</strong> hoher Parteifunktionär hatte ihm offensichtlich e<strong>in</strong>en W<strong>in</strong>kgegeben, und se<strong>in</strong> Kaplan Béla Ispánky bat ihn e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>glich, alle se<strong>in</strong>ePapiere zu verbrennen; aber der Kard<strong>in</strong>al packte e<strong>in</strong>ige der wertvollerenDokumente <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Metalltrommel und versteckte sie. Diese Trommel ware<strong>in</strong> Beweisstück während des darauffolgenden Prozesses. Am 8. Februar1949 wurde der Kard<strong>in</strong>al wegen Landesverrats, Spionage und Devisenschiebungzu lebenslänglich Kerker verurteilt – größtenteils aufgrundgefälschter Briefe an den US-Gesandten Selden Chap<strong>in</strong>, der aus <strong>Ungarn</strong>ausgewiesen wurde.ÁÊ Rákosi lachte nur über die Proteste der USA undder Vere<strong>in</strong>ten Nationen und verhöhnte den Internationalen Gerichtshof,dessen Entscheidungen <strong>Ungarn</strong> laut Friedensvertrag hätte Folge leistenmüssen.ÁÁZwei Jahre später wurden auch der Erzbischof Dr. József Grösz, derführende überlebende katholische Würdenträger, sowie der lutheranische53


Bischof László Ordass verhaftet, verhört und zu »Geständnissen«gezwungen. F<strong>in</strong>sternis senkte sich unterdessen um Kard<strong>in</strong>al M<strong>in</strong>dszenty,es mußte erst e<strong>in</strong> nationaler <strong>Aufstand</strong> kommen, um ihn und die anderenMärtyrer ans Tageslicht zurückzubr<strong>in</strong>gen.54


7Gequältes SchweigenEINMAL WOLLTE JEMAND den Unterschied zwischen e<strong>in</strong>er Demokratie unde<strong>in</strong>er Volksdemokratie wissen, und er bekam die Antwort: »Es ist derUnterschied zwischen e<strong>in</strong>er Jacke und e<strong>in</strong>er Zwangsjacke.«Rákosi preßte die Demokratie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e solche Zwangsjacke. Am 15.Mai 1949 führte er neue Wahlen durch. Es war nur e<strong>in</strong>e Kandidatenlistevorgesehen – e<strong>in</strong>e Volksfront. Vierundneunzig Prozent der Wählerschaftentschied sich dafür; es gab ke<strong>in</strong>e andere Möglichkeit. Das Land wurde <strong>in</strong>die brutalste Diktatur gestürzt.Rákosi erklärte 1952: »Die Arbeiterschaft hat e<strong>in</strong>mütig die Führungunserer Partei akzeptiert . . . Die Wahl ist mit beispielloser Begeisterungdurchgeführt worden, und der Marsch der fünf Millionen Wähler zu denUrnen war e<strong>in</strong> historisches Schauspiel, e<strong>in</strong>e stürmische Geme<strong>in</strong>schaftsdemonstrationbefreiter Arbeiter, die selbst den Fe<strong>in</strong>d bee<strong>in</strong>druckenmußte.« Und dies war, so spöttelte er, was se<strong>in</strong>e Gegner verleumderischals »tyrannische Diktatur e<strong>in</strong>er M<strong>in</strong>derheit« bezeichneten.ÁNach diesem vorsätzlich geplanten Erdrutsch bei den Wahlen billigtedas neue Parlament e<strong>in</strong>e Verfassung nach sowjetischem Vorbild. Aber diewirkliche Gewalt lag <strong>in</strong> den Händen der Partei – des 120 Mitgliederzählenden Zentralkomitees und des göttergleichen Politbüros. Sogar<strong>in</strong>nerhalb dieser Gremien, so stellten Rákosis Rivalen wie Imre Nagypersönlich fest, war die Macht nicht mehr <strong>in</strong> den Händen der von derPartei gewählten Organe, sondern <strong>in</strong> denen des »f<strong>in</strong>steren jüdischenQuartetts«, wie Rákosi und se<strong>in</strong>e Kumpane Gerö, Farkas und Révaigenannt wurden.55


»Tatsächlich wurde dieses Quartett beherrscht durch die alle<strong>in</strong>igeFührerschaft von Rákosi und Gerö«, schrieb Nagy. »Sie <strong>in</strong>formiertenweder das Sekretariat und noch weniger das Politbüro über wichtigeD<strong>in</strong>ge. Sie trafen Entscheidungen und setzten sie außerhalb ihrerKompetenzen <strong>in</strong> die Tat um. Sie bildeten im voraus Me<strong>in</strong>ungen zuverschiedenen Problemen und verkündeten diese Me<strong>in</strong>ungen dann alsBeschlüsse. Sie betrachteten die anderen Mitglieder der von der Parteigewählten Organe nicht als gleichwertig – sie blickten auf sie herab.«ËAn anderer Stelle <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en geheimen Schriften kritisierte Imre Nagy:»Die Machtkorruption und der Aufstieg des Bonapartismus hätten ohnedie Degeneration des Parteilebens niemals stattf<strong>in</strong>den können, die diktatorischeCliquenwirtschaft der Parteiführer wurde zu e<strong>in</strong>er persönlichenDiktatur. Rákosi stellte sich über den Willen und die Me<strong>in</strong>ungen derParteimitglieder und ignorierte die Parteientscheidungen. Er unterwarf diePartei se<strong>in</strong>em Willen und, mit diktatorischen Methoden – vor allem mitHilfe der Sicherheitspolizei – zwang er sie, nach se<strong>in</strong>er Pfeife zu tanzen.«E<strong>in</strong> gequältes Schweigen lag über Stadt und Land, Friedhofsstille.E<strong>in</strong>heimische und fremde Unternehmen, ob groß oder kle<strong>in</strong>, wurdenvom Staat übernommen, während Rákosi das rückständige Bauernlandzw<strong>in</strong>gen wollte, mit Hilfe e<strong>in</strong>es unrealistischen Sofortprogramms e<strong>in</strong>eIndustriemacht zu werden.È Im Laufe dieses 1950 verkündeten Fünfjahresplanswurden gewaltige und übertriebene Umschichtungen von Arbeit undMenschen erzwungen. Die städtische Arbeitskraft verdoppelte sich fast. Ine<strong>in</strong>igen Gegenden war der Zuwachs der <strong>in</strong>dustriellen Arbeit auf Kostender ländlichen Bevölkerung schw<strong>in</strong>delerregend hoch. 600 ProzentWachstum im Bezirk Komárom, 560 Prozent <strong>in</strong> dem Fejér-Bezirk, 540Prozent <strong>in</strong> Pest-Bács-Kiskun.ÍViele Glieder der staatlichen Geme<strong>in</strong>schaft nahmen Schaden im Verlaufdieses Prozesses. Die Bauern erhielten zwar Land, sahen sich aber umdie Mittel zur Entwicklung geprellt; bald danach wurde die Kollektivierungerzwungen, e<strong>in</strong>e weitere marxistische Errungenschaft, und diesetraf die Bauern noch härter.Die Industriearbeiter wurden unter dem neuen Regime zu Sklaven56


degradiert. Man setzte ihnen Arbeitsnormen, die unerfüllbar waren. Dae<strong>in</strong>e Lohntüte für die Familie nicht mehr ausreichte, mußten nun auch dieFrauen <strong>in</strong> die Fabriken gehen, und die Familien empfanden dies als e<strong>in</strong>epersönliche Demütigung. Auf diese Weise wurden Millionen vonMenschen e<strong>in</strong>ander entfremdet, und das stille Murren begann.»Wie unterscheiden sich Kommunismus und Sklaventum?«»Ganz e<strong>in</strong>fach. Zur Zeit der Sklaverei gab es ke<strong>in</strong> Telephon oderRadio.«Die Er<strong>in</strong>nerung an solche bitteren Scherze verfolgte die Flüchtl<strong>in</strong>gevon 1956. Da ist zum Beispiel e<strong>in</strong> vierzehnjähriger junge aus denElendsvierteln von Köbánya, der masch<strong>in</strong>elles Schablonenschneidenerlernte. Als im Jahr 1950 e<strong>in</strong>e Fabrik auf der Csepel-Insel – <strong>in</strong> Südbudapest– Arbeiter benötigte, entfernte man ihn aus se<strong>in</strong>er Lehre und setzteihn statt dessen an e<strong>in</strong> Fließband. Er hatte bald den S<strong>in</strong>n der marxistischenSchlagworte herausgefunden. Das Werk hatte »Stachanows«, ausgesuchteArbeiter, die angeblich ihre Normen mehrfach übererfüllten.»Schaut den an, er verdient monatlich 3000 For<strong>in</strong>t, er hat e<strong>in</strong> Haus undalles, was er sich wünscht. Du könntest es genauso haben«, sagten dieFunktionäre.Mit übermenschlicher Anstrengung konnte e<strong>in</strong> Arbeiter dann dieNorm von 180 Prozent überschreiten, aber <strong>in</strong> der nächsten Woche würdeer feststellen, daß diese 180 Prozent se<strong>in</strong>e neue Norm geworden waren. Indiesem kommunistischen System der ständig steigenden Normen kamensich die Arbeiter vor wie Ratten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er rasenden Tretmühle, <strong>in</strong> der sieden ganzen Tag rennen mußten.Jeder Bauer <strong>in</strong> diesem riesigen Schachspiel hatte se<strong>in</strong>e eigene, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>ergeheimen Akte vermerkte Kader-E<strong>in</strong>stufung. Unter Rákosis Herrschaftverlor das Wort Kader se<strong>in</strong>e ursprünglich teutonisch-militärischeBedeutung und bekam e<strong>in</strong>en furchterregenden Beiklang. Es bestimmte dieKlassenherkunft e<strong>in</strong>es Menschen und entschied unerbittlich über dessenZukunft – se<strong>in</strong>e Begabung für höhere Bildung, se<strong>in</strong>e Eignung als Offizier,für hochbezahlte Jobs und die Dauer der Haftzeit.Die gesamte ungarische Bevölkerung wurde von der auf jeder Akte57


zuoberst vermerkten Kader-E<strong>in</strong>stufung verfolgt: angefangen bei »M« =»munkas« = Arbeiter und »P« = »paraszt« = Bauer, den beiden höchstenE<strong>in</strong>stufungen, bis h<strong>in</strong>unter zu den scharf differenzierten »E« = »értelmiség«und »egyéb« für stets verdächtige »Intellektuelle«.Niemand konnte e<strong>in</strong>e höhere E<strong>in</strong>stufung als »M-1« erstreben; sowurden die Söhne von Bergleuten, Metallarbeitern, von hohen Parteifunktionärenoder von ÁVO-Funktionären bezeichnet.Aber selbst die »E« konnten auf jemanden herabsehen, denn nachihnen kam etwas noch Niedrigeres, e<strong>in</strong>e Null-Klassen-Kategorie vonSterblichen: Wehe dem Mann oder der Frau, deren Akte mit demBuchstaben X gekennzeichnet war. Dies waren die Deklassierten, die»Klassenfe<strong>in</strong>de«, Söhne früherer Offiziere, Adeliger oder solcher, dieunter Horthy gedient hatten, Mitglieder e<strong>in</strong>st wohlhabender Familien. DerBuchstabe X war e<strong>in</strong> Damoklesschwert, e<strong>in</strong>e ständige Bedrohung ihrerRechte und Freiheiten.Dieser Kaderdossier konnte e<strong>in</strong>en Mann verfolgen und se<strong>in</strong>e Träumeund Sehnsüchte vernichten. Er war e<strong>in</strong> Schatten, über den e<strong>in</strong>er se<strong>in</strong>Lebtag nicht spr<strong>in</strong>gen konnte.Die neue Verfassung nach sowjetischem Stil gab den Kommunistendie Macht, jeden Widerspenstigen zu terrorisieren.Vor Rákosis Machtübernahme gab es die BTK oder »Büntetö TöryényKönyv«, das Grundgesetz von 1878. Es war objektiv und unzweideutig:Die Menschen wußten, woran sie waren. Dies paßte natürlich nicht <strong>in</strong>smarxistische Spiel. Rákosi wollte e<strong>in</strong> flexibles System, durch das e<strong>in</strong>landbesitzender Bauer oder Kulak, der sich auf dem Feld e<strong>in</strong> Stück Speckzum Frühstück braten wollte, unter dem Vorwand, »die Ernte zugefährden«, zum Tode verurteilt werden konnte. Dies war e<strong>in</strong> schnellerWeg, um die Fe<strong>in</strong>de der neuen Gesellschaft zu liquidieren.Zuerst wurde die vollziehende Macht <strong>in</strong> Rákosis neuem Staat vone<strong>in</strong>em Volksankläger ausgeübt. Se<strong>in</strong> Amt stand sogar über dem der ÁVH,wie der Staatssicherheitsdienst jetzt hieß. Während der Wortlaut der neuenGesetze sehr kurz war, wurden die subjektiven Regeln, nach denen die58


Richter sie auszulegen hatten, <strong>in</strong> umfangreichen Geheimvorschriftenfestgelegt. Selbst die Anwälte hatten davon ke<strong>in</strong>e Kenntnis.Der Staatsanwalt konnte e<strong>in</strong>en vom Verteidiger angeforderten Zeugenals »schädlich im Interesse des Staates« zurückweisen. Politische Fällewurden von e<strong>in</strong>er eigenen Abteilung »00«, deren Leiter der ÁVH-Offizierdes Anklägerbüros Pál Bakos war, behandelt. Diesem oblag es, nurJuristen e<strong>in</strong>er anerkannten 00-Liste zur Verfolgung oder Verteidigungzuzulassen. In 00-Fällen war sogar die Anklage, die weder der Gefangenenoch der Anwalt zu sehen bekam, e<strong>in</strong> Staatsgeheimnis.ÎDie Aufsichtsgewalt über die neue ÁVH blieb <strong>in</strong> den Händen desInnenm<strong>in</strong>isters, aber nur theoretisch. Genau wie Stal<strong>in</strong> se<strong>in</strong>en NKWDdirekt kontrollierte, beherrschte Rákosi – und <strong>in</strong> ger<strong>in</strong>gerem Maß Geröund Farkas – über den Kopf des M<strong>in</strong>isters h<strong>in</strong>weg die ÁVH.1949 wurde János Kádár zum Innenm<strong>in</strong>ister ernannt, e<strong>in</strong> unsche<strong>in</strong>barergrauer Mann <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em grauen Anzug, der stets e<strong>in</strong>e Nummer zu großzu se<strong>in</strong> schien.Ï Am 3. August 1948 hatte Kádár se<strong>in</strong>en Freund und se<strong>in</strong>Vorbild László Rajk, e<strong>in</strong>en Widerstandskämpfer des letzten Krieges, alsM<strong>in</strong>ister abgelöst. Rajk war e<strong>in</strong> großer Mann mit schütterem, grauemHaar, braunen Augen und e<strong>in</strong>em lebhaften Gesicht – e<strong>in</strong>e schwermütige,asketische Ersche<strong>in</strong>ung, die die Vorliebe der anderen Bonzen für Essen,Tr<strong>in</strong>ken und teure Kleidung nicht teilte. In Fiume (jetzt Rijeka) im Mai1912 von e<strong>in</strong>em streunenden slowakischen Mädchen nach e<strong>in</strong>er flüchtigenBekanntschaft mit e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>fachen Soldaten geboren, hatte János se<strong>in</strong>Brot mit Zeitungsaustragen <strong>in</strong> Budapest verdient, nachdem er die Schulemit vierzehn Jahren verlassen hatte. Er trat e<strong>in</strong>e Werkzeugmacherlehre an.Se<strong>in</strong>e Abende verbrachte er mit Lesen oder Schachspielen im Lichte e<strong>in</strong>erStraßenlaterne. Mit neunzehn Jahren war er kommunistischer Jungarbeiterund hörte auf den Namen »János Barna«. Als Moskau 1936 dennationalen Kommunistischen Parteien befahl, die anderen Arbeiterbewegungenzu unterwandern, trat er dem Komitee e<strong>in</strong>es BudapesterZweigs der Sozialdemokratischen Partei bei. Er schloß sich während desKrieges dem kommunistischen Untergrund an und kämpfte um dessenZusammenhalt, als die beiden Spitzenfunktionäre 1942 gefangen und59


gehenkt wurden.Unter se<strong>in</strong>em neuen Namen János Kádár übernahm er die gesamtePartei, als Rajk, se<strong>in</strong> Freund und Partner, 1943 verhaftet wurde. Er löstesie auf und gründete statt dessen e<strong>in</strong>e Kriegsfront – die »Friedenspartei«.Im April 1944 beschloß die neue Partei, über Marschall Titos Partisanenim benachbarten Jugoslawien Verb<strong>in</strong>dung mit den Emigrantenführern <strong>in</strong>Moskau aufzunehmen. Kádár wurde bei dem Versuch, den Grenzfluß zuüberqueren, erwischt, entkam jedoch und kehrte nach Budapest zurück.Nach der sowjetischen Besetzung der Stadt arbeitete er Hand <strong>in</strong> Hand mitGábor Péter am Aufbau e<strong>in</strong>er Polizeitruppe, wurde deren stellvertretenderPolizeichef und übernahm den Posten des Ersten Sekretärs der BudapesterParteiorganisation.Die von János Kádár geäußerten Auffassungen waren unmißverständlich.»Macht, Genossen, ist von höchster Wichtigkeit im Klassenkampf«,sagte er zu den Arbeitern von Salgótarján. »Wenn e<strong>in</strong>e Gesellschaftsklassedie Macht besitzt, kann sie alles tun, was sie will. Dahermuß das Ziel im Klassenkampf immer se<strong>in</strong> – Macht!«Ì 1948 gab dieParteizeitung Freies Volk se<strong>in</strong>e Ernennung zum M<strong>in</strong>ister bekannt undbeendete ihre Lobrede auf Kádár mit den Worten: »Unser Volk istglücklich zu schätzen mit e<strong>in</strong>em Innenm<strong>in</strong>ister, der sich von e<strong>in</strong>eme<strong>in</strong>fachen Arbeitersohn auf den stolzen Gipfel der Führung von Partei undLand emporgehoben hat.«Es lag Kádár nicht, um Popularität zu buhlen. Nachdem er 1956 den<strong>Aufstand</strong> mit sowjetischer Militärunterstützung zerschlagen hatte,erschienen heimlich Plakate mit dem Aufruf: »Gesucht: M<strong>in</strong>isterpräsidentfür <strong>Ungarn</strong>. Befähigungen: Ke<strong>in</strong> Schuldbewußtse<strong>in</strong>, ke<strong>in</strong> Rückgrat; Lesenund Schreiben nicht wichtig, muß aber <strong>in</strong> der Lage se<strong>in</strong>, von anderenaufgesetzte Dokumente zu unterzeichnen.«Doch damit wurden die Fähigkeiten dieses Mannes unterschätzt, se<strong>in</strong>efeste Entschlossenheit, den »Revisionismus und bürgerlichen Nationalismusmit der ganzen Intoleranz Len<strong>in</strong>s und der Bolschewisten zubekämpfen«.Se<strong>in</strong> Auftreten war rauh und proletarisch. Er war e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>drucksvoller60


Redner und wirkte durch se<strong>in</strong>e sche<strong>in</strong>bare Aufrichtigkeit sehr überzeugend.Er nahm ke<strong>in</strong> Blatt vor den Mund. E<strong>in</strong>mal, nach der Zerschlagungdes <strong>Aufstand</strong>es, erklärte er: »E<strong>in</strong> Tiger kann nicht durch Köder gezähmtwerden. Er kann nur gezähmt und besänftigt werden, <strong>in</strong>dem man ihntotschlägt.« Wochen später, als die geschlagenen Revolutionäre denGalgen bestiegen, me<strong>in</strong>te Kádár ohne zu erröten, für die proletarischeDiktatur sei die Zeit gekommen, ihre »strafenden Fähigkeiten« zubeweisen.Die Gefängnisse waren überfüllt. Die berüchtigte ÁVH-Untersuchungshaftanstalt<strong>in</strong> Budapests Hoher Straße – Fö utca – wurde die ersteStation zur Hölle für Hunderte und Tausende. In e<strong>in</strong>er Zeit gebaut, alsGefängnisse noch Gefängnisse waren, erfüllte diesen e<strong>in</strong> Jahrhundert altenBau von der Pförtnerloge bis zu dem undurchdr<strong>in</strong>glichen Mauerwerk undse<strong>in</strong>en niedrigen, von farbigen Glühbirnen erhellten Gängen e<strong>in</strong> unvorstellbarerGestank. Schlurfende Gruppen verängstigter Männer wandertenauf Filzpantoffeln umher, während Wärter, um sich wichtig zu machen,bestimmte Signale pfiffen, wer weiterzugehen hatte und wer den plötzlichenBefehl erhielt: »Stopp! Gesicht zur Wand und nicht umdrehen!« Eswar e<strong>in</strong> wichtiges Element dieses Terrors, daß die nächsten Verwandtenniemals erfuhren, was ihren Angehörigen zugestoßen war.ÓEs gab kaum e<strong>in</strong>e Familie <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong>, die nicht durch e<strong>in</strong>e Begegnungmit der verhaßten ÁVO, wie sie immer noch genannt wurde, Narbendavongetragen hätte.Der Generalsekretär der ungarischen UN-Vere<strong>in</strong>igung, GyörgyPálóczi-Horváth, erfuhr die Wahrheit aus erster Hand:Im Sommer 1949 verhaftet und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Eisschrank von e<strong>in</strong>er Zellegeworfen, die Tag und Nacht von e<strong>in</strong>er nackten Glühbirne beleuchtetwurde, hatte man ihn drei Wochen lang brutal wachgehalten, um ihngefügiger zu machen. (Die ÁVH benötigte se<strong>in</strong> Geständnis, daß die UNe<strong>in</strong>e Spionageorganisation sei.) Tausende leerer M<strong>in</strong>uten schleppten sichdah<strong>in</strong>, während man die Schrauben anzog – er ahnte nicht, daß es so vieleFoltermöglichkeiten für Geist und Körper gab.»Schlaflosigkeit Hunger, Erniedrigungen, scheußliche Beleidigungen61


der Menschenwürde, das Bewußtse<strong>in</strong>, der Gnade der ÁVO völlig ausgeliefertzu se<strong>in</strong> – das alles war nicht genug«, schrieb er 1956. »Siesagten, sie würden unsere Frauen und K<strong>in</strong>der vor unseren Augen foltern.Wir hörten Frauen und K<strong>in</strong>der <strong>in</strong> angrenzenden Zimmern schreien. Wurdeuns das nur vorgespielt? Ich weiß es immer noch nicht.«ÔLoyale Kommunisten hofften, daß diese scheußlichen Gerüchte nur»Fe<strong>in</strong>dpropaganda« seien.E<strong>in</strong> früherer Parteijournalist, später Herausgeber der revolutionärenBoulevardzeitung Függetlenség [Unabhängigkeit] machte dies 1956amerikanischen Interviewern klar. E<strong>in</strong> nervöser, drahtiger Mann, siebenunddreißig,ungefähr 1,65 m groß, adrett mit Sportjacke und grauenFlanellhosen gekleidet, lächelte sie an.»Als kommunistischer Journalist«, begann er, »war ich überzeugt, daßich recht hatte; ich debattierte gern mit Journalisten, die anderer Me<strong>in</strong>ungwaren. Aber nach 1949 waren die Sozialdemokratische Partei und dieanderen Parteien aufgelöst worden. Sogar die Uniform des ungarischenHeeres wurde geändert. Ich konnte nicht mehr schreiben über das, was ichwollte . . . In der Zwischenzeit hatte ich e<strong>in</strong>e Freund<strong>in</strong>, die <strong>in</strong> Kriegszeitendem Widerstand angehörte und auch <strong>in</strong> Titos Partisanenverbändenkämpfte. Ich entdeckte erst später, daß sie <strong>in</strong> den Augen der Partei e<strong>in</strong>Kulak war: Sie wurde schlecht behandelt, und zwar nur deshalb, weil ihreFamilie vor dem Krieg sehr reich und sie selbst <strong>in</strong> der Schweiz und <strong>in</strong>Frankreich erzogen worden war. Als sie von den Kommunisten verfolgtwurde, beschloß sie, sofort das Land zu verlassen, aber die ÁVH hatte siegleich erwischt und <strong>in</strong>s Gefängnis geworfen. Sie erzählte mir später, wasman im Gefängnis mit ihr gemacht hatte; zum erstenmal wurde mir klar,was <strong>in</strong> diesem Land vor sich g<strong>in</strong>g.«ÁÊ62


8Prozeß und IrrtumENDE 1949 INSZENIERTE <strong>Ungarn</strong>s Diktator Rákosi se<strong>in</strong>en spektakulärenSchauprozeß, möglicherweise auf Befehl des Kreml. Se<strong>in</strong> Opfer warLászló Rajk, der Architekt des Polizeistaats, den zu fürchten und zubeneiden Rákosi wahrsche<strong>in</strong>lich allen Grund hatte. Stal<strong>in</strong> hatte sichentschlossen, die e<strong>in</strong>heimischen Kommunistenführer aller Länder h<strong>in</strong>terdem Eisernen Vorhang zugunsten derjenigen, die gleich Rákosi <strong>in</strong> Moskau»überw<strong>in</strong>tert« hatten, e<strong>in</strong>er »Säuberungsaktion« zu unterwerfen.In se<strong>in</strong>er kaltblütigen Planung und se<strong>in</strong>em teuflischen Vollzug f<strong>in</strong>detder Rajk-Prozeß noch heute nicht se<strong>in</strong>esgleichen. Beim Fußvolk der Parteiführte er zu e<strong>in</strong>er psychologischen Krise: Se<strong>in</strong>e Freunde konnten kaumglauben, daß Rajk solch schändliche Verbrechen begangen habe; jedochvor Gericht gab er öffentlich alles zu.Als die Geheimpolizei vor Sonnenaufgang <strong>in</strong> Rajks Wohnunge<strong>in</strong>drang und ihn am 30. Mai 1949 festnahm, war er gerade vierzig Jahrealt. Er war 1909 <strong>in</strong> Transsylvanien als Sohn e<strong>in</strong>es Schuhladen<strong>in</strong>habersgeboren worden. 1932 saß er wegen kommunistischer Aufwiegelei imGefängnis. In Spanien wurde er verwundet. 1944 <strong>in</strong>ternierten ihn dieungarischen Faschisten. Se<strong>in</strong>e Papiere schienen daher bei der Entlassungaus dem Konzentrationslager Dachau im Mai 1945 e<strong>in</strong>wandfrei zu se<strong>in</strong>.Aber es gab zwei Makel: Er war ke<strong>in</strong> Jude und ke<strong>in</strong> Emigrant wie Rákosi<strong>in</strong> Moskau. Die Clique um Rákosi behandelte ihn mit Verachtung.Se<strong>in</strong>e Frau Julia wurde gleichzeitig mit ihm verhaftet. Ihr kle<strong>in</strong>er Sohnwurde ihnen weggenommen. Vier Monate lang hörte sie nichts als dasTrampeln der Gefangenen im Budapester Zentralgefängnis. Dann, e<strong>in</strong>es63


Tages, vernahm sie im Gefängnishof e<strong>in</strong>en Tumult, gefolgt von e<strong>in</strong>emernsten Schweigen, das plötzlich von dem markigen Befehl unterbrochenwurde: »Géza, tun Sie der Gerechtigkeit Genüge!« E<strong>in</strong> Stuhl fiel um. Esgab noch e<strong>in</strong>ige gedämpfte Laute, dann meldete e<strong>in</strong>e barsche Stimme:»Der Tod ist e<strong>in</strong>getreten!«ÁDie Räder dieses außergewöhnlichen Intrigenspiels begannen zurollen, als Jugoslawien se<strong>in</strong>e Beziehungen zur Sowjetunion abgebrochenhatte. Marschall Josip Broz Tito bemühte sich um e<strong>in</strong> von Moskauunabhängiges Bündnis mit Bulgarien, <strong>Ungarn</strong> und Rumänien. Rákosibeneidete Tito zutiefst se<strong>in</strong> eigenes Prestige als Vorkriegsheld derKommunistischen Internationale verblaßte, während Titos Ruhm alsPartisanenführer sich weltweit ausbreitete. Als Tito Ende 1947 nachBudapest kam, g<strong>in</strong>g Rákosi nach Moskau, um e<strong>in</strong> Zusammentreffen mitihm zu vermeiden. Danach <strong>in</strong>trigierte er als typischer Agent provocateur.Insgeheim unterstützte er Titos Unabhängigkeitsbestrebungen und sandteihm dann im Mai 1948 e<strong>in</strong>en gehässigen Brief, <strong>in</strong>dem er sich voll h<strong>in</strong>terMoskau stellte. Die Belgrader Kommunisten erteilten Rákosi e<strong>in</strong>e scharfeAbfuhr und verweigerten ihm das Recht, sich <strong>in</strong> ihren privaten Disput mitMoskau e<strong>in</strong>zumischen. Rákosi schäumte vor Wut, nannte Titoverräterisch, böse und abtrünnig. Vier Jahre später griff er ihn <strong>in</strong> e<strong>in</strong>erRede an und sagte: »Wir können beobachten, wie die Not derjugoslawischen Arbeiter wächst, wie die Unabhängigkeit des Landese<strong>in</strong>geschränkt und das Land mehr und mehr zum Satelliten und Sklavender Kriegstreiber wird.«Rajks Verhaftung war Rákosis Rache. Hatte nicht der große Stal<strong>in</strong>vorhergesagt, daß mit dem zunehmenden R<strong>in</strong>gen der geschlageneKlassenfe<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>en gefährlichen Brückenkopf <strong>in</strong> der KommunistischenPartei selbst errichten würde? So begann Rákosis Kreuzzug gegen den»Titoismus« <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> noch im gleichen Jahr, 1948. Tausende vonVerdächtigen wurden verhaftet, verbannt oder h<strong>in</strong>gerichtet.Rajk stand ganz oben auf der Schwarzen Liste.Béla Szász, e<strong>in</strong>er se<strong>in</strong>er Freunde, beschrieb, wie Rákosi das Stück<strong>in</strong>szenierte. Am 1. Mai 1949 stellte sich Rákosi anstatt auf der großen64


Tribüne die Militärparade abzunehmen, neben Rajk, der abseits auf e<strong>in</strong>emkle<strong>in</strong>en Sockel stand, als ob er ihm damit e<strong>in</strong>e besondere Ehrung erweisenwollte. »Es war e<strong>in</strong> dramatischer Kontrast«, sagt Szász, »Rákosi, derhäßliche jüdische Zwerg, und der elegante, gutaussehende junge M<strong>in</strong>isteran se<strong>in</strong>er Seite. Es war typisch für Rákosi <strong>in</strong> den letzten Tagen der Freiheitse<strong>in</strong>er Opfer viel Wesens von ihnen zu machen.«Natürlich war alles nur e<strong>in</strong> Vorwand, um se<strong>in</strong>e wirklichen Absichtenzu verschleiern. Deshalb hatte er schon im August 1948 Rajk zumAußenm<strong>in</strong>ister anstatt zum Innenm<strong>in</strong>ister ernannt – der zum OpferBestimmte wurde auf diese Weise unmittelbar vor se<strong>in</strong>er »Demaskierung«befördert, um das völlig Unerwartete zu betonen.Gleichzeitig brütete Rákosi über e<strong>in</strong>em ausgeklügelten Plan, um Titohere<strong>in</strong>zulegen. In Budapest war e<strong>in</strong> jugoslawischer Student ermordetworden, und die Polizei behauptete, der jugoslawische Presseattaché,Zhivkov Boarov, habe den Mord begangen. Boarov unterzeichnete unterDruck e<strong>in</strong> Geständnis. Offensichtlich wollte man den unglücklichenDiplomaten zw<strong>in</strong>gen, Tito selbst <strong>in</strong> diese Intrige zu verwickeln. DieserPlan wurde jedoch fallengelassen, um statt dessen den Botschafter <strong>in</strong> dieFalle zu locken und schließlich, als dieser zurückberufen wurde, wählteman an se<strong>in</strong>er Stelle den Geschäftsträger als Sündenbock.Dieser Mann, Lazarus Brankov, fünfunddreißig, ehemals serbischerAnwalt, ist Journalist und Partisanenoffizier.Ë Er gibt zu, oft lange undprivate Gespräche mit Rajk <strong>in</strong> dessen Wohnung und auf der Jagd geführtzu haben. Zweifellos waren <strong>in</strong> Rajks Wohnung versteckte Mikrophonee<strong>in</strong>gebaut worden, da man später Brankov Niederschriften dieserGespräche vorlegte.So wird Brankov zum wichtigsten Zeugen für die H<strong>in</strong>tergründe desRajk-Prozesses. Da er während des <strong>Aufstand</strong>s 1956 fliehen kann, f<strong>in</strong>detman se<strong>in</strong>e ausführlichen Aussagen <strong>in</strong> amerikanischen Archiven. Sieliefern e<strong>in</strong>en widerwärtigen, »bandwur<strong>in</strong>artigen« E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> dieE<strong>in</strong>geweide e<strong>in</strong>es Polizeistaates.Im Oktober 1948 ordnet Rákosi die Entführung Brankovs an. Belgradprotestiert nie, da Rákosi Moskauer Zeitungen melden läßt, Brankov sei65


wirklich »übergelaufen«. (Diese Version wird <strong>in</strong> Budapest sogar nochviele Jahre später allgeme<strong>in</strong> geglaubt.) In se<strong>in</strong>er w<strong>in</strong>zigen ÁVO-Zellekann er gerade noch aufrecht sitzen. Die Verhöre werden be<strong>in</strong>ahe e<strong>in</strong> Jahrdauern und sich <strong>in</strong> ihrer Brutalität und Schurkerei steigern wie Szenene<strong>in</strong>es Kafka-Romans. Die ÁVO hegt und pflegt ihn wie e<strong>in</strong>en Kronzeugen– er soll aussagen, Tito selbst habe ihn beauftragt, zusammen mit Rajkauch Rákosi Gerö und Farkas zu ermorden. Nur das wachsame Auge derÁVO behütete die junge Volksdemokratie vor diesem grausamen Verlust.Monate vergehen.Brankovs ganze Welt ist diese enge Zelle. Se<strong>in</strong> Hauptpe<strong>in</strong>iger istÁVO-Oberstleutnant Lajos Lombos, der dem Tod <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em jüdischenArbeitsbataillon entg<strong>in</strong>g, <strong>in</strong>dem er den Wahns<strong>in</strong>nigen spielte. Nun kann eran der Menschheit Rache nehmen. Die ÁVO teilt Brankov mit, sie habeBeweise dafür, daß er dem Presseattaché befohlen habe, den Studenten zutöten. Er wird dem Attaché, dem angeblichen Mörder, gegenübergestellt.Boarov kann ihm nicht <strong>in</strong> die Augen sehen und zieht se<strong>in</strong>e Behauptungzurück.Weitere Verhöre folgen. Die Daumenschrauben werden angezogen.E<strong>in</strong> älterer Krim<strong>in</strong>albeamter sagt vorwurfsvoll: »Wir glauben Ihnen. Siehaben Boarov nicht zu diesem Mord angestiftet. Aber Sie s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> klugerMann. Sie müssen e<strong>in</strong>sehen, daß wir Sie nicht e<strong>in</strong>fach freigeben können –nicht nach alledem.« Und er fügt fast bedauernd h<strong>in</strong>zu: »Wir können dieseganze Angelegenheit auch ohne Sie erledigen. Sie haben e<strong>in</strong> Double, under wird alles tun, was wir wollen. Niemand wird dadurch klüger werden.«Er schnappt mit den F<strong>in</strong>gern, und man läßt das Double e<strong>in</strong>treten. DieÄhlichkeit ist frappierend, obwohl der Mann vielleicht etwas größer ist.Endlich gibt Brankov nach und erklärt, daß er e<strong>in</strong> Überläufer sei.Unter Bewachung muß er sich anderen wirklichen Überläufern anschließenund wird zu Filmen und Vorträgen gebracht und auf Spaziergängegeführt. Man will, daß er gesehen wird. Inzwischen werden andere»Zeugen« aufgeboten: Béla Szász, der Rajk vom Gymnasium her kannte,die Kriegsjahre aber <strong>in</strong> Argent<strong>in</strong>ien zugebracht hatte, wird gezwungen zugestehen, daß er als »imperialistischer Agent« 1946 nach <strong>Ungarn</strong> zurück-66


geschickt worden sei und daß er Rajk, den er als »Horthy-Polizeispitzelkannte« erpreßt habe, die Briten mit Geheimmaterial zu versorgen.Das alles ist re<strong>in</strong>e Erf<strong>in</strong>dung, aber nach und nach nimmt der Fall Rajkfeste Formen an. Die Frage ist, wie wird die ÁVO ihn zum Mitspielenbewegen?Als Lazarus Brankov <strong>in</strong> die Andrássy út 60 zurückgebracht wird,erfährt er, daß man Beweise für Titos Komplott habe und daß derErzverbrecher Rajk verhaftet worden sei. Man sagt ihm, Rajk undFeldmarschallleutnant Pálffy hätten alles gestanden. »Es ist ganz s<strong>in</strong>nlosfür Sie, Ihre Schuld abzuleugnen.« Ihm wird Rajks angebliche schriftlicheAussage vorgelegt, und man fragt ihn, welche Rolle Révai und dessenSchwager Zoltán Szántó, als ungarischer Gesandter <strong>in</strong> Belgrad, gespielthätten.Die Fäden dieser Intrige werden immer verwickelter. Immer neueRollen werden verteilt, Dr. Tibor Szönyi, András Szalai, Béla Korondywerden h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>gezogen, ebenso der Rundfunkchef Pál Justus. Brankov iste<strong>in</strong> schwieriger Gefangener, deshalb verb<strong>in</strong>det man ihm die Augen undfährt ihn über den Fluß zur Varász út, wo sich drei »Spezialvillen«bef<strong>in</strong>den.Hier ist se<strong>in</strong>e Zelle knöcheltief mit eiskaltem Brackwasser gefüllt, umzu verh<strong>in</strong>dern, daß der Gefangene auf der e<strong>in</strong>zigen schmalen Banke<strong>in</strong>zuschlafen versucht. Nach e<strong>in</strong>igen Tagen ist Brankov fast ohnmächtigvor Erschöpfung, aber immer noch lehnt er jede Unterzeichnung von»Geständnissen« ab.»Warum machen Sie sich so kaputt?« sagen die Stimmen. »Alleanderen haben gestanden. Ihr Leugnen wird beim Prozeß niemandglauben, nachdem Rajk und die anderen gestanden haben!«Er möchte bloß schlafen, er kann sich nichts Herrlicheres vorstellen.Aber als sie e<strong>in</strong>e Unterschrift von ihm haben wollen, sagt er aus e<strong>in</strong>emGrund, den er selbst nicht erklären kann, immer wieder ne<strong>in</strong>.Der ÁVO-Chef Gábor Péter und se<strong>in</strong> Stellvertreter, Oberst MiklósSzücs, s<strong>in</strong>d immer dabei. Sie stellen Brankov Rajk gegenüber, der kalt-67


lütig die phantastischsten Verbrechen zugibt. Brankov starrt ihn fassungslosan.»Ich war mit im Komplott, um Rákosi zu ermorden«, sagt Rajk mitmonotoner Stimme. »Als ich jugoslawische Beauftragte im Zug traf,heckten wir die E<strong>in</strong>zelheiten aus.«Zweifel und Panik umwölken Brankovs Hirn.»Was auch immer Sie sagen mögen«, hört er sich erwidern. »Aber esist das erste Mal, daß ich davon höre.«So schleppen sich die Wochen dah<strong>in</strong>. Er verliert an Gewicht, aber dieSchläge sche<strong>in</strong>en ihm nicht mehr weh zu tun.Zu se<strong>in</strong>em Erstaunen trifft er dort Generalleutnant Fedor Bielk<strong>in</strong> – se<strong>in</strong>richtiger Name sche<strong>in</strong>t Abakumov gewesen zu se<strong>in</strong>; er ist Berijas Nummer2. Bielk<strong>in</strong> ist der Chef dieser Foltervillen. Wie oft hatte Brankov mitBielk<strong>in</strong>s Frau getanzt, als der General <strong>in</strong> der Alliierten Kontrollkommissionwar. Jetzt rekelt sich der russische NKWD-General vor ihm,mit schütter werdendem rötlichen Haar, e<strong>in</strong>em Schmerbauch und O-Be<strong>in</strong>en. Er trägt wie Stal<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Tunika aus silberblauem Tuch. Er gibtsich oft verächtlich, zuckt ständig mit den Achseln und bricht <strong>in</strong>hustendes, schrilles Gelächter aus, während se<strong>in</strong> ungarischer ImitatorOberst Szücs mit diskretem, untertänigem Kichern e<strong>in</strong>stimmt.Es ist wie e<strong>in</strong> Alptraum. Bei e<strong>in</strong>em Verhör hat Brankov Halluz<strong>in</strong>ationen– <strong>in</strong> Bielk<strong>in</strong>s geschwollenem, blassem Gesicht wachsen Löwenzähne,er hat e<strong>in</strong>en Löwenschwanz, mit dem er h<strong>in</strong> und her wedelt und aufden Boden drischt, daß der Staub aufwirbelt, und mitten <strong>in</strong> dieserStaubwolke sieht er e<strong>in</strong>e Liliputfigur, sich selbst: Lazarus Brankov.Vielleicht wird er bereits zur Vorbereitung auf den anstehenden Prozeßmit gehirnschädigenden Drogen behandelt. Aber wann wird dieser Prozeßstattf<strong>in</strong>den? Er steht offenbar unmittelbar bevor.Alle Zeugen haben begonnen, ihre Manuskripte auswendig zu lernen.Erst wenn jedes Detail perfekt beherrscht wird, dürfen sie schlafen. DieDrogendosis wechselt, offensichtlich, um festzustellen, wie hoch sie fürden kommenden Tag se<strong>in</strong> muß. Während des M<strong>in</strong>dszenty-Prozesses68


Anfang 1949 leitete Dr. Emil Weil diese Drogenbehandlung; aber dieserArzt ist offenbar sehr vielseitig, denn er war als ungarischer Gesandternach den USA geschickt worden, so daß György Bahnt, e<strong>in</strong> kränklicher,dickbäuchiger Arzt, im Rajk-Prozeß die Drogen verabreicht.E<strong>in</strong>es Tages unternimmt Brankov e<strong>in</strong>en Ausbruchversuch. Er wirdmißhandelt, doch als er das nächste Mal zum WC geht, kratzt er mit denF<strong>in</strong>gernägeln e<strong>in</strong>e Mitteilung an die Wand. Er weiß, daß Rajk, Pálffy undJustus alle Französisch verstehen. So schreibt er auf französisch: »BeimProzeß sagt nur die Wahrheit!«Die Proben beg<strong>in</strong>nen. E<strong>in</strong>mal widersetzt sich Brankov mit großerEntschiedenheit. In der Me<strong>in</strong>ung, daß endlich der richtige Prozeßbegonnen hat, bezeichnet er das Ganze als e<strong>in</strong>e Intrige. Aber es ist wiederumnur e<strong>in</strong>e Probe, obwohl sogar Gerichtspräsident Dr. Péter Janko unddie Anwälte anwesend s<strong>in</strong>d.Manchmal – <strong>in</strong> klaren Augenblicken – lassen auch die anderenGefangenen Anzeichen von Widerstand erkennen. E<strong>in</strong>mal, als die Dosiszu stark ist, beg<strong>in</strong>nen Brankov und Rajk ihre vorbereiteten Antworten zufalschen Fragen herunterzuplappern; dies führt zu e<strong>in</strong>em Durche<strong>in</strong>ander,das unter weniger makabren Umständen komisch gewirkt hätte. Nur Pálffyleistet ke<strong>in</strong>en Widerstand, er schluchzt bloß, während Justus sich von Zeitzu Zeit wie e<strong>in</strong> schlechter Schauspieler auf die Schenkel schlägt, se<strong>in</strong>eSprüche so abscheulich herausbrüllt, daß sogar der ahnungslosesteZuhörer merkt, daß diese auswendig gelernt s<strong>in</strong>d. »Ja, ich b<strong>in</strong> derungarische Trotzki«, dröhnt se<strong>in</strong>e Stimme.Alles verschwimmt <strong>in</strong> Brankovs Hirn. Er kann ke<strong>in</strong>e Gesichter unterscheiden,die Drogen machen ihn schläfrig, als stehe er unter der Narkosee<strong>in</strong>es Zahnarztes. Als man sagt, er habe se<strong>in</strong>en Presseattaché Boarov zue<strong>in</strong>em Mord veranlaßt, fühlt er dunkel e<strong>in</strong>e persönliche Gefahr undversucht zu protestieren; aber er fällt zurück <strong>in</strong> den schwerelosen Zustandgeistiger Abwesenheit, bevor er sprechen kann.»Ne<strong>in</strong>, das ist nicht wahr«, hört er sich sagen, aber er kann nichtweitermachen.Rajk hat e<strong>in</strong>e lange und schwierige Rolle, der Brankov nicht folgen69


kann. Er verliert völlig die Orientierung. Als se<strong>in</strong> eigener Anwalt, e<strong>in</strong>früherer Sowjetpartisan, Vorwürfe gegen Brankov richtet, erhebt sichdieser schwankend und versucht, ihn anzustoßen oder zu antworten, aberals es ihm endlich gel<strong>in</strong>gt, aufrecht zu stehen, hat er bereits vergessen, waser tun wollte, und fällt zurück auf se<strong>in</strong>en Stuhl, während die Wärter ihnfesthalten.Rajk rafft sich zu ke<strong>in</strong>er derartigen Demonstration auf. Er ruft nur:»Wir brauchen ke<strong>in</strong>e Gnade!« Dieses Bruchstück des Drehbuchs treibt <strong>in</strong>Brankovs Hirn wie e<strong>in</strong> Schiff, das im Nebel um e<strong>in</strong>en Felsen kreist.E<strong>in</strong>mal müssen sie für e<strong>in</strong>e Rundfunksendung aus Schriftstücken überden »Prozeß« vorlesen.An e<strong>in</strong>em anderen Tag flüstert Rajk se<strong>in</strong>em Nachbarn Justus zu:»Me<strong>in</strong> Geständnis ist gar nicht wahr!«Brankov ist gespannt, wie Rajk sich verhalten wird, wenn derwirkliche Prozeß beg<strong>in</strong>nt. An diesem Tag will er selbst gegen alle dieseIntrigen offen protestieren.Aber plötzlich ist alles vorbei – e<strong>in</strong> Gefangenenauto br<strong>in</strong>gt ihn <strong>in</strong>sZentralgefängnis. Die »Generalprobe« war bereits der Prozeß, ohne daß eres gemerkt hatte, und Brankov kann sich nicht e<strong>in</strong>mal er<strong>in</strong>nern, welchesUrteil der Richter über ihn gesprochen hat.»Wann s<strong>in</strong>d Sie geboren?« fragte der Gerichtspräsident.Rajk antwortete: »Am 8. März 1909« . . .Der Prozeß hatte begonnen. Es war der 16. September 1949 und dasVolksgericht – diese schwitzende, hemdsärmelige Schreckenskammer derLänder h<strong>in</strong>ter dem Eisernen Vorhang – hielt se<strong>in</strong>e Sitzungen imMarmorsaal der Eisen- und Metallarbeiter-Gewerkschaft <strong>in</strong> Budapest ab.Die acht Angeklagten sagen nebene<strong>in</strong>ander und zwischen ihnen auf demblanken Parkettboden uniformierte Wächter.Der öffentliche Ankläger, Dr. Gyula Alapi, schob se<strong>in</strong>e Akten h<strong>in</strong> undher. »Es s<strong>in</strong>d nicht alle<strong>in</strong> Rajk und Konsorten, die hier auf derAnklagebank sitzen«, begann er, »sondern auch ihre ausländischenAuftraggeber, ihre imperialistischen Anstifter <strong>in</strong> Belgrad und70


Wash<strong>in</strong>gton.«E<strong>in</strong> Murmeln setzte e<strong>in</strong> unter den 300 ausgesuchten Fabrikarbeiternund Funktionären, die h<strong>in</strong>ter der roten Seilabsperrung aufgeboten waren.Die Journalisten der Weltpresse begannen zu kritzeln – Serge Karsky vonLe Monde, L. Erdös von France Soir, Michael Burns von The Times.Joseph K<strong>in</strong>gsbury Smith vom International News Service <strong>in</strong> New York,Richard Clark von United Press und Stephen Wise vom Pariser Büro derNew York Herald Tribune, der neben Wilfred Burchett vom Daily Expresssag. Das war also der raff<strong>in</strong>ierte Zweck des Prozesses!»Es ist die besondere Eigenart dieses Prozesses«, betonte Alapi, »daßeben nicht László Rajk und se<strong>in</strong>e Genossen auf der Anklagebank sitzen –sondern Tito und se<strong>in</strong>e Bande!«In Alapis Anklage spürte man nicht nur das Echo von AndrejWisch<strong>in</strong>skij, Stal<strong>in</strong>s Chefankläger bei den Moskauer Schauprozessen,sondern auch das von Kádárs kompromißlosen Ansichten über Tigerbändigung:»Gegen tollwütige Hunde gibt es nur e<strong>in</strong>e Abwehr«, donnerteAlapi, »man muß sie erschlagen!«Die Gefangenen bekannten sich der Reihe nach zu ihrer Schuld. Rajk,Pálffy, e<strong>in</strong> ausländischer Diplomat, e<strong>in</strong> Polizeioberst, der Rundfunkvizepräsident– alle beschuldigten sich selbst, Agenten Titos und derwestlichen Imperialisten gewesen zu se<strong>in</strong> und baten darum, wegen ihresMordkomplotts gegen Rákosi, Gerö und Farkas zur Verantwortunggezogen zu werden.Rajk behauptete, der kommunistischen Jugendbewegung nur imAuftrag von Horthys Polizei angehört zu haben. Später erklärte er: »Ichfuhr mit e<strong>in</strong>em Doppelauftrag nach Spanien. Ich sollte die Namen derMänner im Rákosi-Bataillon herausf<strong>in</strong>den und darüber h<strong>in</strong>aus dieSchlagkraft des Bataillons durch politische Wühlarbeit verr<strong>in</strong>gern . . . Undich möchte h<strong>in</strong>zufügen, daß ich außerdem trotzkistische Propaganda imRákosi-Bataillon entfaltete.«Und so g<strong>in</strong>g es weiter. Rajks heimliche Zusammenkünfte mitJugoslawen schon 1939 während se<strong>in</strong>er französischen Internierung, dannmit Offizieren des Deuziéme Bureau, danach mit e<strong>in</strong>em Gestapo-Major,71


»dessen Namen ich nicht mehr weiß«; dieser Nazi hatte ihm e<strong>in</strong>e Listese<strong>in</strong>er jugoslawischen Vertrauensmänner vorgelesen, und an diese Namenkonnte Rajk sich ents<strong>in</strong>nen – alle entpuppten sich später, wie es der Zufallwollte, als Marschall Titos engste Mitarbeiter.Vor zwei Jahren, gestand Rajk, nahm Titos Spionagedienst, währender <strong>in</strong> dem jugoslawischen Badeort Abbazia war, Fühlung mit ihm auf:»Hier erkannte ich erstmals, daß nicht nur Rankovic, der damaligejugoslawische Innenm<strong>in</strong>ister, und andere Männer, die <strong>in</strong> Spanien gewesenwaren, trotzkistische Politik trieben und daß sie mit den Organen desamerikanischen Spionagedienstes zusammenarbeiteten, sondern auch Titoselbst, der Staatspräsident von Jugoslawien!«Der Gerichtspräsident blätterte <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Papieren.»Und wie weit s<strong>in</strong>d alle diese Pläne gelungen?« fragte er.Rajk rief aus: »Die Durchführung ist nicht gelungen . . . Es gelangnicht, weil im Laufe des Jahres 1948 <strong>in</strong>folge der Umbildung derRegierung unsere schon e<strong>in</strong>gesetzten Leute von allen Gebieten desstaatlichen Lebens, auch aus den gesellschaftlichen Vere<strong>in</strong>igungen, denStaatsämtern und dem Heer, entfernt wurden. Auch die Tätigkeit derPropaganda der von M<strong>in</strong>dszenty geführten katholischen Reaktion, auf dieTito baute, g<strong>in</strong>g fehl, weil die erstarkte volksdemokratischeZentralregierung der katholischen Reaktion mit der Verstaatlichung derSchulen e<strong>in</strong>es der wichtigsten Mittel aus der Hand nahm. E<strong>in</strong>entscheidender schwerer Schlag gegen den ganzen Plan!«Rajks Vortrag war be<strong>in</strong>ahe perfekt. Nur e<strong>in</strong>mal fiel er aus der Rolle.Nachdem der Präsident Pálffy das E<strong>in</strong>geständnis entlockt hatte, daß diesere<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>en jüdischen Namen, nämlich Österreicher, getragen hatte,wandte er sich Rajk zu. Gereizt antwortete Rajk: »Me<strong>in</strong> Großvater schriebse<strong>in</strong>en Namen als gebürtiger Sachse noch Reich.« Und er fügte, heftigwerdend, h<strong>in</strong>zu: »Ich möchte im Zusammenhang damit bemerken, daßme<strong>in</strong>e Abstammung arisch ist!«Es war fast komisch zu sehen, wie Rajk, der viel schwerwiegendereAnschuldigungen geduldig h<strong>in</strong>genommen hatte, bei dieser vergleichsweiseunwichtigen Nebensache aufbrauste.72


Ke<strong>in</strong>er der anderen Gefangenen hatte aufbegehrt.Dr. Tibor Szönyi rief <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Schlußwort aus: »Tito und se<strong>in</strong>eClique! Bei den Verhandlungen mit uns und ihren Komplizen legten siedie Maske ab, sprachen offen vom Umsturz des volksdemokratischenRegierungssystems und schreckten vor ke<strong>in</strong>em Verbrechen zurück.Geehrter Volksgerichtshof, ich stand auch im Dienste dieser bösen Pläne.Me<strong>in</strong> Verbrechen wird, vor dem H<strong>in</strong>tergrund der Delikte der Hauptverbrecherder schändlichen Titobande gesehen, nicht ger<strong>in</strong>ger.«András Szalai erklärte: »Ich sehe dem schweren Urteil des Volksgerichtshofesentgegen.«Feldmarschalleutnant Pálffy klagte: »Nicht nur mich selbst klage ichan, sondern auch die Tito-Clique und ihre Herren, die US-Imperialisten.«Béla Korondy war nicht weniger unterwürfig: »Me<strong>in</strong>e Aufgabe war es,die Mitglieder der Regierung <strong>in</strong> Gewahrsam zu nehmen, die M<strong>in</strong>isterRákosi, Farkas und Gerö physisch zu vernichten. Ich bitte denVolksgerichtshof, dies bei der Urteilsfällung für mich <strong>in</strong> Betracht zuziehen.«Rajk bezeichnete sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Schlußwort als Werkzeug Titos,»Jenes Tito, der den Spuren Hitlers folgte und auf dem Balkan und <strong>in</strong>Osteuropa Hitlers Politik fortführt«. Dann schluckte er und fuhr fort: »Mitden meisten Feststellungen des Herrn Volksanwalts b<strong>in</strong> ich völlig e<strong>in</strong>verstanden.«Dr. Alapi zuckte zusammen. Den meisten? Was für e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>schränkungwar das! Aber schon war Rajk resigniert zu se<strong>in</strong>em auswendiggelernten Part zurückgekehrt. »Ebendeshalb erkläre ich schon jetzt imvoraus, daß ich das Urteil des Volksgerichts über mich für gerecht halte.«ÈIn e<strong>in</strong>er Nacht, mehrere Wochen später – es ist der 15. Oktober 1949 –, liegt Lazarus Brankov, Rajks jugoslawischer Mitangeklagter, im Zentralgefängniswach und hört e<strong>in</strong>en anschwellenden Lärm im Gefängnishof.Allmählich dämmen ihm, daß e<strong>in</strong>e Massenexekution vorbereitet wird.Um das Schlurfen der Schritte zu übertönen, haben die Wärter Lastwagenmotoreangelassen und knallen mit Blechkannen.73


»Géza, tun sie der Gerechtigkeit genüge!«Man hört e<strong>in</strong> Poltern, als sei e<strong>in</strong> Schemel umgefallen. Er vernimmtSchritte außerhalb se<strong>in</strong>er Zelle, Türen werden auf- und zugeschlagen, unddas Schlurfen geht weiter.Plötzlich wird se<strong>in</strong>e eigene Zellentür aufgerissen. Beide Arme werdenihm auf dem Rücken gefesselt, und er wird mit,anderen im Gänsemarsch<strong>in</strong> den Gefängnishof geführt. Flutlicht liegt über der ganzen Szene.Wenige Schritte von der Ziegelmauer entfernt sieht Brankov wie betäubtgroße, <strong>in</strong> die Erde gerammte Holzpfosten, an deren Spitze Fleischerhakenbefestigt s<strong>in</strong>d. Diesmal gab es ke<strong>in</strong>e Drogen, er kann alles beobachten,was vorgeht, während man ihn zu e<strong>in</strong>em der Pfosten schleppt. In diesenwenigen Sekunden durchlebt er im Geiste se<strong>in</strong>e eigene H<strong>in</strong>richtung.Plötzlich kommt e<strong>in</strong> Offizier herausgerannt und schreit:»Halt! Nicht ihn! Br<strong>in</strong>gt ihn zurück <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e andere Zelle!« Und sobleibt Lazarus Brankov am Leben. Und wenn der <strong>Aufstand</strong> losbricht undsich die armseligen Kreaturen gegen die Bonzen erheben, wird erdabeise<strong>in</strong>.E<strong>in</strong>ige Wochen später erhält Julia, Rajks junge Witwe, E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> dasamtliche Weißbuch über den Prozeß. Als sie ihres Mannes erste Antwortliest, huscht e<strong>in</strong> trauriges Lächeln über ihr schmales, hübsches Gesicht.László Rajk hat trotz allem über das System triumphiert. Trotz derMißhandlungen, der Drogen und der Generalproben hat er gleich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>enersten Worten der Nachwelt e<strong>in</strong>en F<strong>in</strong>gerzeig h<strong>in</strong>terlassen.»Wann wurden Sie geboren?« hatte das Gericht gefragt.Und Rajk hatte geantwortet: »Am 8. März 1909.« Aber das stimmtenicht. Es war am 8. Mai. Wie konnte jemand e<strong>in</strong>en derartigen Irrtumbegehen, es sei denn, er wollte der Außenwelt e<strong>in</strong>e verborgene Botschafth<strong>in</strong>terlassen; alles war nicht so, wie es den Ansche<strong>in</strong> hatte.74


9Der Weg <strong>in</strong> die DunkelheitEINIGE VON IHNEN s<strong>in</strong>d als Relikte aus <strong>Ungarn</strong>s jüngster unrühmlicherVergangenheit noch am Leben. Um sie aufzuspüren, hielt ich mich imLaufe me<strong>in</strong>er fünfjährigen Nachforschungen über diesen <strong>Aufstand</strong> sehrhäufig im Lande selbst auf. Manche ließen sich verleugnen. Andereweigerten sich, ohne schriftliche Erlaubnis der Partei den Mund aufzumachen.Viele hatten Angst oder änderten ihren Entschluß.Während manche von ihnen wie normale Menschen leben und imTelephonbuch stehen, verstecken sich andere, unerkannt von ihrenNachbarn, h<strong>in</strong>ter Türen ohne Namensschild: Ich hätte zum Beispiel gernpersönlich mit Ernö Gerö gesprochen, aber ke<strong>in</strong> Mensch konnte mirsagen, <strong>in</strong> welcher Straße des Budapester Vororts Rózsadomb er wirklichwohnt. Bei e<strong>in</strong>igen Parteifunktionären war die Nervosität förmlichgreifbar, als sie schließlich nach Stunden e<strong>in</strong>er Verabredung zustimmten.Andere blieben ablehnend, obwohl sie <strong>in</strong>zwischen <strong>in</strong> den USA oder <strong>in</strong> derSchweiz leben. Alice, die Witwe Miklós Gimes’, e<strong>in</strong>es der drei Anführerdes <strong>Aufstand</strong>es, die später h<strong>in</strong>gerichtet wurden, lud mich zu sich nachZürich e<strong>in</strong>. Aber als ich dort e<strong>in</strong>traf, weigerte sie sich ohne nähereErklärung, mich zu sehen.Bezeichnend für me<strong>in</strong>e Nachforschungen war e<strong>in</strong> Besuch, der michdurch krumme Gassen zur Orsó utca im Villenvorort der ehemals reichenLeute auf den Hügeln von Buda führte. Buda ist der auf der Westseite derDonau gelegene Stadtteil von Budapest. Ich wollte das legendäre Parteigespann,Frau Professor Erzsébet Andics und ihren Ehemann, den WirtschaftswissenschaftlerAndor Berei, treffen. Mir war bekannt, daß sie zehn75


Jahre getrennt gelebt hatten, als Berei <strong>in</strong> den Westen gegangen war, dannaber wieder zusammenzogen. (Selbst wenn niemand dabei war, soll sieihn »Genosse Berei« genannt haben – wird behauptet.)Als der <strong>Aufstand</strong> se<strong>in</strong>en Höhepunkt erreicht hatte, durchsuchtenbewaffnete Rebellen die Umgegend nach versteckten Angehörigen desStaatssicherheitsdients und stiegen dabei auf dieses Paar, das ungerührt <strong>in</strong>se<strong>in</strong>er Villa geblieben war. Hochmütig präsentierte Frau Andics zweiPässe und wies sie beide damit als Bürger der Sowjetunion aus. Um dieRussen nicht zu provozieren, hielten daraufh<strong>in</strong> die Anführer derAufständischen ihre aufgebrachten Männer von überstürzten Reaktionenab. So wurde das Paar der Sowjetbotschaft übergeben.Dreitausend Fachleute kontrollierten unter Genosse Berei, auf derHöhe se<strong>in</strong>er Macht Vorsitzender des Planungsbüros, die Wirtschaft desLandes. Nun traf ich sie immer noch <strong>in</strong> dem gleichen Hause an, <strong>in</strong> dem siedamals gewohnt hatten. Nicht weit davon liegt die Villa von Imre Nagy,von der aus er sich am 23. Oktober 1956 als neuer Staatschef auf den Wegmachte. Dieser Weg führte ihn schließlich <strong>in</strong>s Gefängnis und <strong>in</strong> den Tod.Weiter oben <strong>in</strong> den Bergen lag das Haus von Rákosi. Die Menschen,an denen ich jetzt vorbeig<strong>in</strong>g, hatten sich als K<strong>in</strong>der <strong>in</strong> die Tornischengedrückt, wenn täglich die Kolonnen der schwarzen Limous<strong>in</strong>en russischerHerkunft mit den zugezogenen Gard<strong>in</strong>en an den Wagenfenstern anihnen vorbeirauschten.Das Gebäude, <strong>in</strong> dem die Andics wohnten, war unbewacht, es hattedr<strong>in</strong>gend e<strong>in</strong>en neuen Anstrich nötig. Im Garten vor dem Haus wucherteUnkraut. E<strong>in</strong>e ältliche Haushälter<strong>in</strong> öffnete die Tür und verständigte dasEhepaar von me<strong>in</strong>er Ankunft.Ich hatte viel über die Macht gelesen, die sie 1945 nach ihrerRückkehr aus Moskau ausübten. Es überraschte mich, daß sie beide sokle<strong>in</strong> waren. Berei mit se<strong>in</strong>en achtundsiebzig Jahren wirkte mißmutig, se<strong>in</strong>Gesicht sah aus wie e<strong>in</strong> verschrumpelter Apfel. Se<strong>in</strong>e Frau machte e<strong>in</strong>enlebhafteren E<strong>in</strong>druck und schien mir mit ihren großen runden Augen dieWorte förmlich von den Lippen zu saugen. Gerade als ich dachte, ich hätte76


sie nun endlich zum Reden gebracht, schnitt sie ihrem Mann mitten imSatz das Wort ab und forderte mich auf, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Monaten wiederzukommen,jedoch nicht, ohne ihnen vorher me<strong>in</strong>e Fragen schriftliche<strong>in</strong>gereicht zu haben. Alte Gewohnheiten legt man nicht so schnell ab.Dann suchte ich Marosán auf.Á György Marosán war so redselig, wiedie zwei alten marxistischen Vögel zugeknöpft gewesen waren. Dieseraußergewöhnliche, siebzigjährige ehemalige Sozialdemokrat ist der Mann,der 1948 se<strong>in</strong>e Partei an Rákosi verkaufte. Was ihn nicht davor bewahrte,e<strong>in</strong>ige Monate später im Gefängnis zu landen. 1956 wurde er wieder <strong>in</strong>sPolitbüro und <strong>in</strong> die Marionettenregierung berufen, unter der dann der<strong>Aufstand</strong> niedergeschlagen wurde. Sechs Jahre später schied er aus, nachdemer das Regime öffentlich der Heuchelei bezichtigt und ihm vorgeworfenhatte, wieder dem Persönlichkeitskult – wie e<strong>in</strong>st unter Rákosi –zu huldigen. »Die Macht haben wir wieder, aber die breite Masse<strong>in</strong>teressiert uns nicht«, sollte er Kádár tadeln.Marosán zur Hälfte rumänischer Abstammung, ist von heftigem,unberechenbarem Temperament. Wenn er voller Feuer und Leidenschaftse<strong>in</strong>e abgehackten Sätze ohne Verben herausstößt, hat der Zuhörer dasunbehagliche Gefühl, e<strong>in</strong>em Mann mit e<strong>in</strong>em offenen Messer <strong>in</strong> derTasche gegenüberzustehen. Se<strong>in</strong> Großvater gehörte noch dem Mittelstandan, aber mit dem Vater kam der Abstieg <strong>in</strong> das Proletariat. Marosán selbstblieb se<strong>in</strong> ganzes Leben lang e<strong>in</strong> Außenseiter. Während des Kriegs trugenviele Sozialdemokraten auf zwei Schultern, denn heimlich gehörten sieauch der Kommunistischen Partei an. Nicht aber Marosán! Damals setztesich außerdem der gesamte l<strong>in</strong>ke Flügel der Sozialdemokratischen Parteiaus Juden zusammen. Marosán war ke<strong>in</strong> Jude.Er erwartete mich im Wohnzimmer se<strong>in</strong>es Vorstadt-Reihenhauses. Erhat e<strong>in</strong>e geheime Telephonnummer und versteckt sich <strong>in</strong> weiserAnonymität h<strong>in</strong>ter e<strong>in</strong>er Tür ohne Namensschild, denn er hat mehrTodesurteile auf dem Gewissen als Richter Jeffries. Die erst kürzlich<strong>in</strong>stand gesetzten Räume haben gebohnertes Parkett, neue Möbel mithellen Baumwollbezügen, grüne Topfpflanzen und gestreifte Tapeten.Er ist gut gewachsen; die leicht gerötete Haut se<strong>in</strong>es zerfurchten77


Gesichts kontrastiert lebhaft mit dem schneeweißen Haar – e<strong>in</strong>emAndenken an Rákosis Gefängnisse. Um vier Uhr morgens steht er auf,macht Konditionstra<strong>in</strong><strong>in</strong>g <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Sporthalle, schwimmt vor dem Frühstück1500 Meter und raucht dann se<strong>in</strong>e erste Zigarre.»Ich empfange sehr selten Besucher wie Sie«, begrüßt er mich, <strong>in</strong>demer me<strong>in</strong>e ausgestreckte Hand fast zerquetscht. »Ich b<strong>in</strong> immer sehrmißtrauisch gegenüber Historikern aus dem Westen. Sie verdrehen mir dieWorte im Munde.«Er trägt e<strong>in</strong>en auffallend karierten grauen Anzug. Auf se<strong>in</strong>en Knienliegen drei Bände se<strong>in</strong>er Memoiren. Der vierte Band, der sich mit denEreignissen von 1956 befaßt, wird wohl nie veröffentlicht werden. »Ichwar immer e<strong>in</strong> schwieriger Mensch«, seufzt er.Drei Stunden hält er e<strong>in</strong>en Monolog über se<strong>in</strong>e Vergangenheit undversucht, se<strong>in</strong>en Werdegang zu rechtfertigen. »Nachdem die antifaschistischeKoalition aufgelöst war, erhob sich die Frage: Was nun? Auf welche<strong>in</strong>neren Kräfte konnte man zurückgreifen, um weitere Fortschritte auf demWege zum demokratischen Sozialismus zu machen? Es gab nur dreiorganisierte Bewegungen: zwei Millionen Gewerkschaftsmitglieder, dieSozialdemokratische Partei und die Kommunistische Partei.«Jedem e<strong>in</strong>zelnen Punkt verleiht er Nachdruck, <strong>in</strong>dem er mit se<strong>in</strong>engroßen klobigen Händen mit den kurzen F<strong>in</strong>gern, aber tadellos gepflegtenNägeln durch die Luft fährt.»Sehen Sie zum Beispiel Ihren Denis Healey. Er kam 1946 hierher,weil die Labour Party <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> e<strong>in</strong>en Vertrauensmann suchte. Ich nahmihn mit nach Hause, und er fragte mich, ob ich so weit gehen würde, e<strong>in</strong>enZusammenschluß mit den Kommunisten <strong>in</strong> Betracht zu ziehen. Darauffragte ich ihn, welche Alternative er anzubieten hätte. Sollten sich dieSozialdemokraten etwa mit Kard<strong>in</strong>al M<strong>in</strong>dszenty zusammentun? Dasnahm ihm den W<strong>in</strong>d aus den Segeln«, sagte Marosán.»Ich hielt mich moralisch für verpflichtet, allen führenden Sozialdemokraten,die sich an der Neuordnung nicht beteiligen wollten, e<strong>in</strong>enPaß ausstellen zu lassen. Sie konnten gehen, woh<strong>in</strong> sie wollten. Sie reistenlegal aus und erhielten alle die für die Ausreise erforderlichen Geldmittel78


. . . So kam also der Zusammenschluß, und die neuentstandene Partei hattee<strong>in</strong>e Million Mitglieder. Zu me<strong>in</strong>er Überraschung f<strong>in</strong>g man an, sie von›unerwünschten Elementen‹ zu säubern. Bis März 1949 waren bereitszweihunderttausend Leute aus der neuen, vere<strong>in</strong>igten Partei ausgeschlossenworden. Die Gewerkschaftsbewegung wurde reorganisiert, um aufdiese Weise die Betriebsrats-Ausschüsse zerschlagen zu können. Dawurde mir klar, daß Rákosi und se<strong>in</strong>e Moskowiter die Organisierung derBetriebsräte auf demokratischer Basis als e<strong>in</strong>e Bedrohung ansahen.Unmittelbar im Anschluß an die Wahl im Mai 1949 wurden dann mit derVerhaftung von Tibor Szönyi und dem sozialdemokratischen SoziologenProfessor Sándor Szalai die Karten offen auf den Tisch gelegt.«Auch Rajk wurde Ende Mai 1949 verhaftet.»Da machte ich e<strong>in</strong>en schweren Fehler«, sagt Marosán. »Heute weißich, daß ich hätte gehen müssen, genau zu diesem Zeitpunkt hätte ichgehen müssen. Wenn Rajk verhaftet werden konnte, war auch ich nichtmehr sicher. Ich b<strong>in</strong> nicht dumm! Ständig dachte ich: ›Du mußt fliehen.‹Dann wieder sagte ich mir: ›Du bist e<strong>in</strong> harter Bursche – e<strong>in</strong> vagány – undkannst entkommen, ohne daß dich die ÁVH erwischt.‹ Von vier Fluchtwegenkannte ich zwei, die absolut sicher waren. Die Frage war nur,welchen man nehmen sollte. In die Sowjetunion oder <strong>in</strong> den Westen?Ke<strong>in</strong>er der beiden wäre für mich der richtige gewesen. Ich wußte, daßme<strong>in</strong>e Verhaftung mit Sicherheit früher oder später bevor.stand. Viermalbot ich Rákosi mündlich me<strong>in</strong>en Rücktritt als M<strong>in</strong>ister für die Leicht<strong>in</strong>dustriean. Rákosi lehnte me<strong>in</strong>en Rücktritt jedoch ab, So daß ich aufme<strong>in</strong>em Posten bleiben mußte. Am 5. August 1950 wurde ich verhaftet.«Den ganzen restlichen Sonntagmorgen redet Marosán nur noch überse<strong>in</strong>e Rolle bei der Zerschlagung des <strong>Aufstand</strong>es. Mäßigung hielt er nichtfür angebracht, und wenn man heute e<strong>in</strong>en Durchschnitts-<strong>Ungarn</strong> auf ihnanspricht, reagiert er, als sei von Dsch<strong>in</strong>gis-Khan die Rede.»Me<strong>in</strong> Leben lang habe ich die fe<strong>in</strong>en Leute und die Studiertengehaßt«, zitierte ihn Newsweek, »weil sie alle mite<strong>in</strong>ander verkommene,üble Reaktionäre s<strong>in</strong>d und ich sie am liebsten an e<strong>in</strong>em aus ihrem eigenenGedärm zusammengedrehten Strick am nächsten Baum aufhängen79


würde.«Er nimmt auch heute noch ke<strong>in</strong> Blatt vor den Mund und fühlt sichgeschmeichelt, wenn er e<strong>in</strong> »vagány« genannt wird. Als wir zur Türgehen, kommt se<strong>in</strong>e Frau, e<strong>in</strong> zäher Bäuer<strong>in</strong>nentyp, aus der Küche.(Reporter berichteten im Dezember 1956, Marosán habe geschnauzt:»Was erwarten Sie, sie ist genauso e<strong>in</strong>e Hure wie alle anderen auch«,nachdem sie sich an e<strong>in</strong>er Massendemonstration gegen dieNiederschlagung des <strong>Aufstand</strong>s durch die Sowjets beteiligt hatte.) Jetztdeutet er mit dem Daumen auf sie und witzelt auf ungarisch: »Sehen Sie,<strong>in</strong> diesem Haus b<strong>in</strong> ich noch immer unter der Diktatur des Proletariats.«Auch Zoltán Vas, den ich e<strong>in</strong> Jahr später aufsuchte, hatte mit derPartei gebrochen. Obwohl er e<strong>in</strong>er ihrer großen alten Männer gewesenwar, ließ ihn Rákosi sechzehn Jahre e<strong>in</strong>sperren. Mit ihm teilte er die Ehre,von der Sowjetunion 1940 gegen ungarische Kriegsfahnen, die zaristischeTruppen erbeutet hatten, ausgetauscht zu werden.Drei Jahre klopfte ich vergeblich an se<strong>in</strong>e Türe, bis ich ihn endlicherwischte. Ich me<strong>in</strong>te im Scherz, er und Rákosi hätten doch sicherlich1944 nach ihrer triumphalen Rückkehr aus dem Moskauer Exil denAnstand besessen, die Fahnen wieder zurückzugeben. Vas – e<strong>in</strong> schwerer,untersetzter Mann, der vor siebenundsiebzig Jahren als We<strong>in</strong>bergergeboren worden war – hielt die Hand h<strong>in</strong>ter e<strong>in</strong> Ohr, um me<strong>in</strong>eBemerkung besser verstehen zu können, und brach dann <strong>in</strong> schallendesGelächter aus, das von Hustenanfällen unterbrochen wurde.Auch er hat se<strong>in</strong>e Memoiren verfaßt, die voraussichtlich ebensowenigwie die von Marosán veröffentlicht werden. Das getippte Manuskript, dasse<strong>in</strong>em außergewöhnlichen Leben gewidmet ist, liegt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em unordentlichenHaufen auf dem Fensterbrett; es wurde unter den E<strong>in</strong>geweihten <strong>in</strong>Budapest von Hand zu Hand weitergegeben, aber vermutlich enthält es zuviele Enthüllungen, um heute noch erfreulich zu se<strong>in</strong>. Es gab e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>eZeit, als Vas für den jetzigen M<strong>in</strong>isterpräsidenten János Kádár e<strong>in</strong> leuchtendesBeispiel war, aber kürzlich schrieb ihm Kádár er sei von ihmenttäuscht.»Ich halte nicht sehr viel von Marosán«, sagt Vas e<strong>in</strong>mal. Dann macht80


er ohne Übergang e<strong>in</strong>en Gedankensprung zurück <strong>in</strong> das Jahr 1922, als ermit zwanzig Jahren e<strong>in</strong>e Rede Len<strong>in</strong>s <strong>in</strong> Moskau miterlebte, und dann zuStal<strong>in</strong>s siebzigstem Geburtstag. Er war als Überbr<strong>in</strong>ger des ungarischenGeschenks für den sowjetischen Diktator ausersehen worden.Zoltán Vas war es auch, der während des Kriegs <strong>in</strong> Moskau als Leiterder Partisanenausbildung die Uniform e<strong>in</strong>es Sowjetobersten trug. Dortwurden gefangene ungarische Offiziere für ihren E<strong>in</strong>satz h<strong>in</strong>ter deneigenen L<strong>in</strong>ien umgeschult. Vas, begleitet von Gerö oder demSchriftsteller Gyula Háy und »General« Béla Illés, alle <strong>in</strong> der Uniform derSowjetarmee, machten regelmäßig die Runde durch die Gefangenenlager.ËDort erzählten sie zum Beispiel zwei gefangenen Offizieren – GeneralLászló Zsedényi und dem Reserveoffizier Miklós Répási – folgendes:»Die Sowjetunion hat die Absicht, e<strong>in</strong>e ungarische Regierung e<strong>in</strong>zusetzen,die aus gefangenen Offizieren hohen Ranges gebildet werden soll.«Zsedényi und etwa hundert weitere Offiziere wurden zur Umerziehung <strong>in</strong>e<strong>in</strong>e marxistische Schule <strong>in</strong> Moskau gebracht. (Répási und andere, die sichweigerten, kamen <strong>in</strong> das berüchtigte Moskauer Gefängnis, die Lubjanka.)Doch nach Stal<strong>in</strong>grad wurde dieser Plan fallengelassen.Ebenfalls <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Gefangenenlager begegnete Vas zum erstenmaldem hünenhaften jungen Oberleutnant Pál Maléter, der 1944 gefangengenommenworden war. »Maléter hatte Charakter«, er<strong>in</strong>nert er sich vage.»Er war auch e<strong>in</strong> guter Sozialist und, ich möchte behaupten, außerdemsogar be<strong>in</strong>ahe e<strong>in</strong> Kommunist.«È Maléter wurde nach dem <strong>Aufstand</strong> alse<strong>in</strong>er se<strong>in</strong>er Anführer h<strong>in</strong>gerichtet.Se<strong>in</strong>e erste Frau, Maria, lebt <strong>in</strong> den Vere<strong>in</strong>igten Staaten, se<strong>in</strong>e Witweist <strong>in</strong> Budapest mit dem Geschäftsführer e<strong>in</strong>er ausländischen Fluggesellschaftverheiratet. In den Akten der CIA über Maléter ist die Geschichtee<strong>in</strong>er Ehetragödie festgehalten, die sicherlich tausendmal <strong>in</strong> den Ostblockstaatenweitererzählt worden ist.»Maléter«, sagte e<strong>in</strong> sechsundzwanzigjähriger Ingenieur im August1957 aus, »war geschieden. Se<strong>in</strong>e erste Frau war mit me<strong>in</strong>er Mutterzusammen angestellt. Sie war sehr kultiviert und deshalb bei den81


Kommunisten schlecht angeschrieben. Maléter wurde ständig von se<strong>in</strong>enVorgesetzten angegriffen, weil se<strong>in</strong>e Frau anders als die anderenOffiziersfrauen sei. Sie war zu elegant, und er wagte es nicht, sie zu denOffiziersfesten mitzubr<strong>in</strong>gen.«ÍAber diese Scheidung hatte noch andere H<strong>in</strong>tergründe.Maléter wußte, welche Bedeutung der Nationalismus hatte, da erhugenottischer Abstammung war. Er wurde im September 1917 <strong>in</strong> Eperjesgeboren, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Teil <strong>Ungarn</strong>s, der drei Jahre später zur Tschechoslowakeikam, aber 1940 durch Hitler wieder an <strong>Ungarn</strong> angegliedertwurde. Se<strong>in</strong>e Familie gehörte dem gehobenen Bürgertum an. Se<strong>in</strong> Vaterwar Juraprofessor, und er heiratete Maria, die anziehende, dunkelhaarigeTochter e<strong>in</strong>es Hotelbesitzers, die sechs Jahre jünger war als er. Aber ohneZweifel träumte er seit se<strong>in</strong>er Jugend von e<strong>in</strong>er Karriere <strong>in</strong> der Armee –se<strong>in</strong> letzter Adjutant, Hauptmann Lajos Csiba, entdeckte e<strong>in</strong>es Tages unterse<strong>in</strong>en Habseligkeiten e<strong>in</strong> Spielzeugschwert, das er offensichtlich als K<strong>in</strong>dgeschenkt bekommen hatte. 1940 trat er als Kadett <strong>in</strong> die berühmteMilitärakademie Ludovika e<strong>in</strong>, die er zwei Jahre später absolviert hatte,erhielt se<strong>in</strong> Patent als Panzerleutnant und im April 1944 se<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>satzbefehlbei der 1. Armee an der Ostfront, wo er am 2. Mai im Kolomea-Abschnitt <strong>in</strong> Gefangenschaft geriet.Aus welchen Gründen Maléter das Angebot von »Oberst« Vasannahm, als dieser im Gefangenenlager Überläufer anwarb, wird nie ganzgeklärt werden können. Vas er<strong>in</strong>nert sich, daß er den schlaksigen Oberleutnantfragte, warum er immer noch se<strong>in</strong>e Kriegsauszeichnungen ausdem Rußlandfeldzug trage, und Maléter ihm trotzig antwortete: »Ich b<strong>in</strong>ungarischer Offizier. Selbstverständlich habe ich bis zur letzten Patronegekämpft, und wenn ich e<strong>in</strong> Gewehr hätte, würde ich sogar jetzt nochweiterkämpfen.«Vas war bee<strong>in</strong>druckt und lud den Offizier e<strong>in</strong>, an der antifaschistischenSchulung <strong>in</strong> Krasnogorsk bei Moskau teilzunehmen. Verpflegung undUnterkunft waren dort besser. Maléter beendete den Kurs im Juli undwurde im September <strong>in</strong> Transsylvanien h<strong>in</strong>ter den deutschen L<strong>in</strong>ien mit82


dem Fallschirm abgesetzt. Damit gehörte er zu e<strong>in</strong>er Elite, denn <strong>in</strong> derkommunistischen Geschichtsschreibung werden nur neun Partisanenführererwähnt, die 1944 über <strong>Ungarn</strong> mit dem Fallschirm absprangen.Inzwischen fanden dort ke<strong>in</strong>e schweren Kämpfe mehr statt, dochwurde ihm von Marschall Rodion Mal<strong>in</strong>owski persönlich e<strong>in</strong>e Kriegsauszeichnungüberreicht; er trat der Kommunistischen Partei bei undprofitierte von der Reorganisation der Armee unter dem Debrecen-Regime, das ihn zum Hauptmann der Grenztruppen <strong>in</strong> Balassagyarmatbeförderte. Im Mai 1945 ersche<strong>in</strong>t se<strong>in</strong> Name unter den Mitgliedern desPräsidialrats des Zentralverbandes ungarischer Partisanen neben SándorNógrádi, Zoltán Vas, Mihály Farkas und Géza Révész. Als der calv<strong>in</strong>istischePastor und Parteipolitiker der Kle<strong>in</strong>landwirte-Partei Zoltán 1948<strong>Ungarn</strong>s Präsident wurde, war Maléter Kommandant se<strong>in</strong>er Elitetruppe.ÎDamit begannen Maléters Schwierigkeiten. Als Rákosi diese Elitee<strong>in</strong>heitenauflöste, erhielt Maléter unter Mihály Farkas e<strong>in</strong>en Posten beimVerteidigungsm<strong>in</strong>isterium. Se<strong>in</strong>e Stimmung war gedrückt, und erfürchtete, auf der schwarzen Liste zu stehen. Andere Partisanenführerwurden vor ihm befördert, mehrere von ihnen zum General.Auch die Schatten der kommunistischen Weltanschauung lastetenimmer schwerer auf der Ehe. Maléter hatte Maria, e<strong>in</strong>er strengenKatholik<strong>in</strong>, versprochen, niemals <strong>in</strong> die Partei e<strong>in</strong>zutreten. Als sieherausfand, daß er heimlich doch Mitglied geworden war, bekam erSchwierigkeiten mit se<strong>in</strong>er Frau. Er f<strong>in</strong>g sogar an, vor ihr kommunistischePropagandathesen zu wiederholen: »Jedermann wird se<strong>in</strong>en Anteil an denguten D<strong>in</strong>gen erhalten. Das wird manche Härten mit sich br<strong>in</strong>gen, aberwas die Betroffenen erdulden müssen, kommt der Masse zugute.«Nach Rákosis endgültiger Machtübernahme mußte Maria erleben, wieihr Mann immer gereizter wurde, ruhelos auf und ab lief und ständiggrundlos auf se<strong>in</strong>e Uhr sah. Er zuckte zusammen, wenn es auch nur leisean die Tür klopfte.ÏWie bei tausend anderen, die nicht <strong>in</strong> die Schablone der Parteih<strong>in</strong>e<strong>in</strong>paßten, wurden nun auch bei Maléter die Schrauben stärkerangezogen. Er wurde beschattet, und Spitzel wurden auf ihn angesetzt, um83


se<strong>in</strong>e Loyalität zu überprüfen. Als se<strong>in</strong> eigener Adjutant andeutete, er habeden Auftrag, ihn zu überwachen, reagierte Maléter äußerst geschickt: Erzeigte se<strong>in</strong>en Adjutanten an.E<strong>in</strong>es Tages kl<strong>in</strong>gelte es an der Türe, und e<strong>in</strong> Fremder überreichte ihme<strong>in</strong>en Brief von e<strong>in</strong>em alten Kameraden aus der Ludovika-Akademie: »PálMaléter wir haben Dich nicht vergessen. Wir s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> der Freien Welt undkämpfen für <strong>Ungarn</strong>s Freiheit.« Auch enthielt der Brief die Aufforderung,er solle als Spion mitarbeiten. Maléter zog se<strong>in</strong>en Dienstrevolver undzwang den Fremden, mit ihm zur Polizei zu gehen. Am nächsten Tagerschien der Mann wieder bei ihm, diesmal <strong>in</strong> ÁVH-Uniform, undbeglückwünschte ihn. Man hatte ihm e<strong>in</strong>e Falle gestellt.Maria, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em katholischen Kloster erzogen wurde, hielt dieseMethoden für unwürdig. Dennoch versuchte sie, ihre Ehe zu retten, <strong>in</strong> demsie die kommunistische Lehre studierte. Aber ihr Magen rebellierte beim»Dialektischen Materialismus« und der Doppelmoral, die er stillschweigendgutheißt. Sie verließ den Kurs und weigerte sich, <strong>in</strong> die Parteie<strong>in</strong>zutreten. Es gelang ihrem Mann nicht, sie zum Übertritt zu bewegen.Bei e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>ladung zum Abendessen entschuldigte sie sich bei ihrenGästen wegen der alten Kartoffeln. Maléter sprang von se<strong>in</strong>em Stuhl aufund schrie sie an: »Du sagst das bloß, weil du e<strong>in</strong>e Reaktionär<strong>in</strong> bist, duwillst nur unsere kommunistische Lebensweise diffamieren.« Als dieGäste gegangen waren, wurde sie hysterisch: »In dieser Atmosphäreersticke ich«, rief sie.E<strong>in</strong>ige Zeit danach zog er aus der geme<strong>in</strong>samen Wohnung aus. Daswar im Frühl<strong>in</strong>g 1953. Man forderte Maria mehrere Male auf, <strong>in</strong>sM<strong>in</strong>isterium zu kommen – <strong>in</strong>zwischen arbeitete sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Photostudio –, und dort wurde sie auf ihre »unbefriedigende« politische Führungsakteund ihre Weigerung, <strong>in</strong> die Partei e<strong>in</strong>zutreten, angesprochen. Sie übe e<strong>in</strong>enschädlichen E<strong>in</strong>fluß auf die Karriere ihres Mannes aus. »Genosse Maléter,Ihr Mann, lebt <strong>in</strong> ungeordneten Verhältnissen, die wir bei e<strong>in</strong>emkommunistischen Oberst nicht dulden können. Entweder kehrt er zu se<strong>in</strong>erFamilie zurück, oder er muß wieder heiraten.«84


Tief verzweifelt verbrachte Maria im September 1953 alle<strong>in</strong> e<strong>in</strong>enfreudlosen Urlaub im Mátragebirge, wo sie und Pál ihre Flitterwochenverbracht hatten. Dort erhielt sie e<strong>in</strong>en Brief von se<strong>in</strong>em Anwalt: Da sieihre K<strong>in</strong>der nicht im volksdemokratischen S<strong>in</strong>ne erziehe, werde ihr Manndie Scheidung e<strong>in</strong>reichen. Doch schon am nächsten Tag rief Maléter siean, besuchte sie, und se<strong>in</strong>e blaugrauen Augen funkelten vor Zorn, als ergleich nach se<strong>in</strong>er Ankunft den Brief zerriß.Sie beschlossen, es noch e<strong>in</strong>mal mite<strong>in</strong>ander zu, versuchen, undfanden e<strong>in</strong>e neue Wohnung, die Pál mit Farbe aus Armeebeständen frischstreichen ließ. Aber bereits im November 1953 verlangte die Partei,Marias Mutter müsse ausziehen, sonst könne er nicht weiter mit ihrzusammenleben. Das politische Führungszeugnis der Mutter sei untragbar,auch sei sie dafür verantwortlich, daß Maria nicht der Partei beitrete.Maria weigerte sich, ihre zweiundsiebzigjährige Mutter auf die Straße zusetzen. Und das war das Ende der zerrütteten Ehe.Nach der Scheidung verhielt sich der Oberst so gefühlskalt, daß ese<strong>in</strong>e Schande war. Er entführte den siebenjährigen Sohn Pál aus derWohnung, während Maria arbeitete, und steckte ihn <strong>in</strong> e<strong>in</strong>Durchgangslager für entlaufene und verwaiste K<strong>in</strong>der, wo ihn Maria,außer sich vor Verzweiflung, erst fand, nachdem sie ganz Budapest aufden Kopf gestellt hatte. Sie erhob sofort E<strong>in</strong>spruch beimVormundschaftsgericht. Ihr Mann erschien bei der Verhandlungpersönlich, aber sie erkannte ihn fast nicht wieder. Mit haßerfüllterStimme verteidigte er se<strong>in</strong>e Tat: »Ich habe me<strong>in</strong>en Sohn <strong>in</strong> das Lagergebracht«, sagte er schroff, »um ihn dem bourgeoisen E<strong>in</strong>fluß se<strong>in</strong>erMutter zu entziehen.«Am nächsten Tag rief er sie an und sprach zu ihr so sanft und zärtlich,wie zur Zeit ihrer ersten Liebe. Vielleicht schauspielerte er vor Gerichtnur, um damit die Beurteilung <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Parteiakte zu verbessern.Das war ihre letzte Begegnung. Er heiratete zum zweitenmal: Judith –e<strong>in</strong> Mädchen, das der Partei genehm war. Sie lebt heute <strong>in</strong> Budapest. Ichkonnte nicht mit ihr sprechen, weil sie zu große Angst hatte.85


In den ersten Jahren nahmen die l<strong>in</strong>ientreuen Kommunisten alles <strong>in</strong>Kauf. E<strong>in</strong>er dieser Leute war 1949 e<strong>in</strong> dreißigjähriger Journalist von derParteizeitung Freies VolkÌ, e<strong>in</strong> magerer, nervös wirkender Mann, der essich aber nicht anmerken ließ, daß er mit den Verhältnissen nichte<strong>in</strong>verstanden war. Wenn er se<strong>in</strong> Land auch für e<strong>in</strong> großes Gefängnis hielt,so verlief das Leben für ihn persönlich trotz gewisser E<strong>in</strong>schränkungenrecht angenehm. Er verdiente 3000 For<strong>in</strong>t monatlich und konnte wegense<strong>in</strong>er Parteizugehörigkeit mit e<strong>in</strong>em staatlichen Darlehen e<strong>in</strong>en Wagenkaufen. An se<strong>in</strong>er Zeitung waren nur überzeugte Kommunisten, wie erselbst, beschäftigt. Aber im Namen der Partei begangene Verbrechenwurden bereits unterschwellig von ihm registriert.»Die Gerichte begannen schwere Strafen zu verhängen: E<strong>in</strong> Metzgerwurde zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt, weil er e<strong>in</strong> Schwe<strong>in</strong>geschlachtet hatte«, er<strong>in</strong>nert er sich. »Die Verhältnisse wurden immerentwürdigender. Die Teilnahme an Parteitagen und Sem<strong>in</strong>aren war Pflicht,und bei jeder e<strong>in</strong>zelnen Veranstaltung dieser Art mußten wir Stal<strong>in</strong>m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong> Dutzend Mal hochleben lassen. Zu me<strong>in</strong>em Chefredakteurwurde e<strong>in</strong> Mann ernannt, der drei oder vier Jahre vorher wegenUnfähigkeit entlassen worden war, und er wurde nur deshalb befördert,weil er als der bessere Kommunist galt. (Ich war der beste Reporter dieserZeitung.) Auch durfte ich mir me<strong>in</strong>e Themen nicht mehr selbst aussuchen.Ich konnte nur noch über Statistiken und Parteiveranstaltungen schreiben.Nach 1949 war es mir fast nicht mehr möglich, me<strong>in</strong>e eigene Zeitung zulesen, so unerträglich langweilig und geisttötend war sie geworden.«1949 wechselte er zu e<strong>in</strong>er anderen Zeitung über. Dort traf er mitrichtigen Journalisten zusammen, für die prokommunistische Äußerungennur Lippenbekenntnisse waren. Der Chefredakteur war e<strong>in</strong> bekannterZeitungsmann alter Schule, se<strong>in</strong>e Frau war die beliebteste Schauspieler<strong>in</strong><strong>Ungarn</strong>s. Er strahlte noch den typischen Charme der alten Schule aus.»E<strong>in</strong>es Tages«, entsann sich der Journalist später, »g<strong>in</strong>gen wirzusammen auf die Jagd. Ich hatte ihn e<strong>in</strong>geladen, <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Wagenmitzufahren. Unterwegs sagte er mir: ›Auf uns kommt etwas sehr86


Unangenehmes zu, weil e<strong>in</strong>e zehnprozentige Gehaltskürzung geplant ist!‹Ich erwiderte: ›Das ist doch unmöglich! Das würde die KommunistischePartei niemals tun!‹ Er schüttelte den Kopf: ›Oh, doch – nur daß dieseMaßnahme nicht als Gehaltskürzung, sondern offiziell als Staatsanleihebezeichnet wird.‹ Bei der nächsten Redaktionsbesprechung stand er aufund erklärte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er kle<strong>in</strong>en Ansprache, wie glücklich er über diegroßartige Chance sei, Staatspapiere erwerben zu können. In unserenArtikeln mußten wir <strong>in</strong> dasselbe Horn blasen. Daß es sich um e<strong>in</strong>eZwangsanleihe handelte, durften wir nicht schreiben.«Er kam sich vor wie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Falle. »Der Gedanke, ich könnte nie mehrnach Frankreich oder Italien fahren, war mir unerträglich«, erzählte er.Ende 1949 machte er e<strong>in</strong>en Fluchtversuch, wurde beim Überqueren dertschechischen Grenze gefaßt, gefoltert und <strong>in</strong> das InternierungslagerRecsk e<strong>in</strong>geliefert.Durch das Leben im Ste<strong>in</strong>bruch wurde ihm endlich die Wahrheit klar,und er brach <strong>in</strong>nerlich fast zusammen: »Ich hatte ke<strong>in</strong>e Ahnung gehabt,daß Menschen nur wegen ihrer Me<strong>in</strong>ung verhaftet wurden«, gestand er.»Der Kreis, <strong>in</strong> dem ich lebte, war so kle<strong>in</strong>, daß ich gar nicht wußte, welcheAngst die Leute vor mir hatten. Ich erfuhr nie, was sie wirklich dachten.Im Gefängnis traf ich Menschen, die schon 1946 oder 1947 verhaftetworden waren. Ich sagte mir, ›das ist ja furchtbar – ich habe nicht e<strong>in</strong>malerfahren, daß sie verhaftet wurden‹. Ich hatte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Elfenbe<strong>in</strong>turmgelebt, weil ich während der Dienstzeit nur me<strong>in</strong>e Kollegen und abendsnur me<strong>in</strong>e Freunde traf. Allerd<strong>in</strong>gs hatte ich e<strong>in</strong>e Freund<strong>in</strong>, die ke<strong>in</strong>eKommunist<strong>in</strong> und e<strong>in</strong> sehr reiches Mädchen war. Deshalb hatte sie ke<strong>in</strong>enGrund, unzufrieden zu se<strong>in</strong>. Die langen Gefängnisabende ermöglichtenmir Begegnungen mit Menschen, wie ich sie vorher noch nie kennengelernthatte. Dadurch konnte ich mir nach und nach über die Lageunseres Volkes e<strong>in</strong> recht gutes Bild machen, denn eigentlich saß jabe<strong>in</strong>ahe jeder h<strong>in</strong>ter Gittern – Ingenieure, Lehrer, Büroarbeiter, Angestellte.Ich erkannte das Gespenstische dieses ganzen Systems.«In <strong>Ungarn</strong> verschwanden die Gegner Rákosis von der Bildfläche, ganz87


gleich, ob sie nun viel oder wenig E<strong>in</strong>fluß gehabt hatten – so auch dieParteiführer der Sozialdemokraten.E<strong>in</strong>ige Monate nach dem Prozeß gegen Rajk kam Árpád Szakasits andie Reihe. Nachdem dieser anpassungsfähige Mensch 1948 se<strong>in</strong>e Partei andie Gefolgsleute des Kreml verkauft hatte, war er zur Belohnung zumPräsidenten des Landes gemacht worden. Im April 1950 ließ Rákosi ihnzu sich bitten. Rákosi war bei se<strong>in</strong>em E<strong>in</strong>tritt umr<strong>in</strong>gt von se<strong>in</strong>enKumpanen. Er schob e<strong>in</strong> Schriftstück über den Tisch, das sich zurVerblüffung Szakasits’ als se<strong>in</strong> eigenes Geständnis entpuppte.Ó »Me<strong>in</strong>lieber Szakasits«, sagte Rákosi mit falschem Lächeln und <strong>in</strong> väterlichemTon, »das muß leider se<strong>in</strong>. Wenn du nicht unterschreibst, geht es dir sowie Rajk! Wenn du aber unterschreibst, wirst du e<strong>in</strong> ebenso schönes Hauserhalten wie Zoltán Tildy.«Als Szakasits sich weigerte, warf Rákosi ihm unheildrohend e<strong>in</strong>zweites Dokument zu. »Jetzt lies das!« Es war der Bericht e<strong>in</strong>esPolizeichefs aus der Kriegszeit über die Unterstützung, die Szakasits ihmbei der Unterdrückung e<strong>in</strong>es Arbeitskonflikts geleistet hatte: »Du hast mitder Horthy-Polizei geme<strong>in</strong>same Sache gemacht«, <strong>in</strong>terpretierte Rákosi denSachverhalt. Dann erschien Gábor Péter mit drei ÁVH-Offizieren, undSzakasits wurde abgeführt. »Árpád« rief Rákosi ihm nach, »jetzt wartetder schwarze Kaffee auf dich!«, e<strong>in</strong>e Anspielung, die jeder Ungar versteht.Sie bedeutet: »Jetzt sitzt du <strong>in</strong> der T<strong>in</strong>te; jetzt ist es aus mit dir.« Denn dietürkischen Eroberer hatten Bál<strong>in</strong>t Török, den Anführer der Magyaren, zue<strong>in</strong>em Gespräch bei schwarzem Kaffee e<strong>in</strong>geladen, aber anstatt Kaffee mitihm zu tr<strong>in</strong>ken, nahmen sie ihn gefangen und ließen ihn köpfen.Der Parteivorsitzende der Sozialdemokraten wurde <strong>in</strong> e<strong>in</strong>es der Häuserder ÁVH auf der anderen Seite der Donau gebracht und sollte e<strong>in</strong> ausführlichesGeständnis unterschreiben. Dort wartete zu se<strong>in</strong>er Überraschungse<strong>in</strong>e völlig arglose Frau auf ihn.»Du kommst aber früh!« begrüßte sie ihn, »Was hast du denngeschossen?«Verständnislos sah er sie an, und se<strong>in</strong>e Begleiter von der ÁVHgr<strong>in</strong>sten hämisch.88


»Gábor Péter rief an und richtete mir von Rákosi aus – du weißt schon–, daß ihr zusammen auf die Jagd geht und ich <strong>in</strong>zwischen hierherkommenund auf dich warten soll«, fuhr sie fort.Also war auch sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Falle gelockt worden. Aber noch unterwarfer sich nicht, so daß nun die ÁVH-Experten mit ihren brutalsten Methodenauf ihn angesetzt wurden: In se<strong>in</strong>e <strong>in</strong>timsten Körperpartien wurdenGlasröhrchen e<strong>in</strong>geführt und anschließend zerbrochen. Dann zerrten sieihn vor Gábor Péter und se<strong>in</strong>en Helfershelfer Wladimir Farkas, den Sohndes Verteidigungsm<strong>in</strong>isters und Schwiegersohn von Erzsébet Andics, undder Druck auf ihn wurde verstärkt.Plötzlich hörte er die gedämpften Schreie e<strong>in</strong>er Frau, und die Folterknechtebestätigten ihm: »Das ist Ihre Frau.« Da unterschrieb er dasverlangte Geständnis.Als nächster war se<strong>in</strong> gleichfalls übergewechselter Gefährte GyörgyMarosán an der Reihe.Ô »Gábor Péter und se<strong>in</strong>e ganze Bande waren h<strong>in</strong>termir her«, berichtete er mir. »Aber ich war e<strong>in</strong> harter Brocken für sie.Dreie<strong>in</strong>halb Monate haben sie mir alles nur Erdenkliche angetan – dieE<strong>in</strong>zelheiten möchte ich lieber Ihrer eigenen Phantasie überlassen. MitKlauen und Zähnen habe ich gekämpft. Drei Anklagepunkte warfen siemir vor: Ich sei e<strong>in</strong> jugoslawischer Spitzel, e<strong>in</strong> britischer Spion undInformant der Horthy-Polizei gewesen. Ich sagte ihnen: ›Beweisen Siedas!‹ Sie sagten: ›Sie müssen die Gegenbeweise liefern!‹ Ihre sämtlichenSpitzenleute wurden auf mich angesetzt. Als sie schließlich erkannten, daßsie mit mir nicht weiterkamen, eröffneten sie mir: ›Entweder Sie unterschreibendieses Dokument, oder wir holen Ihre Frau, Ihre Mutter undIhre K<strong>in</strong>der hierher. Haben Sie verstanden?‹ Ich sagte: ›Woher soll ichwissen, daß Sie das nicht trotzdem tun, auch wenn ich unterzeichnethabe?‹ Sie antworteten: ›Genosse Rákosi und wir selbst s<strong>in</strong>d Ihre Sicherheitsgarantie!‹«Auch Marosán unterschrieb se<strong>in</strong> »Geständnis«.Zum Tode verurteilt, warfen sie ihn <strong>in</strong> das BudapesterMilitärgefängnis <strong>in</strong> der Conti utca.89


»Sechs Monate lang h<strong>in</strong>g das Todesurteil wie e<strong>in</strong> Damoklesschwertüber mir, und ich wappnete mich <strong>in</strong>nerlich für me<strong>in</strong>en letzten, kurzenGang. Me<strong>in</strong>e Tage waren ohneh<strong>in</strong> gezählt gewesen, denn schon unterHorthy hätte ich leicht h<strong>in</strong>gerichtet werden können. Dann hatte ich e<strong>in</strong>esNachts e<strong>in</strong>en Besucher. Er sprach nicht akzentfrei, und daraus schloß ich,daß er ke<strong>in</strong> gebürtiger Ungar war. Er fragte mich hartnäckig, mit welchenhochgestellten Persönlichkeiten ich <strong>in</strong> der Sowjetunion <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dunggestanden hätte. Da zählte ich Marschall Woroschilow, BotschafterPuschk<strong>in</strong> und alle übrigen auf. Das Gespräch dauerte sieben Stunden. Alser sich verabschiedete, nannte er mich ›Genosse Marosán‹ und sagte ›AufWiedersehen‹ und nicht ›Leben Sie wohl‹. In der darauffolgenden Wocheverwandelte der Jankó-Rat – unser Oberster Gerichtshof – me<strong>in</strong>Todesurteil <strong>in</strong> ›Lebenslänglich‹.«Marosán hatte Tränen <strong>in</strong> den Augen, als er mir folgendes gestand:»Fünfe<strong>in</strong>halb Jahre sprach ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zige Menschenseele mit mir. Mit wemhätte ich auch sprechen sollen. Das war sehr schwer für mich, denn ichhatte mich bereits mit me<strong>in</strong>em Todesurteil abgefunden, während ›Lebenslänglich‹. . . «Se<strong>in</strong>e Stimme versagte. Dann fuhr er fort: »Es gab nur zwei Möglichkeiten:Entweder man kam krank und verbittert oder gesund und fanatischentschlossen wieder heraus. Ich gehörte zur zweiten Sorte.«In <strong>Ungarn</strong> sagt man: »Als Kommunist muß man zur ›sitzendenLebensweise‹ berufen se<strong>in</strong>.« Bis auf wenige Ausnahmen hatten alle bekanntenKommunisten e<strong>in</strong>ige Zeit im Gefängnis gesessen. Es war e<strong>in</strong>eMutprobe. Rajks übriggebliebene »titoistische« Ges<strong>in</strong>nungsgenossen wurdenzusammengetrieben, e<strong>in</strong>gesperrt und mit unglaublicher Grausamkeitbehandelt.E<strong>in</strong>er der bekanntesten war Géza Losonczy, der aufrechte, wenn auchetwas humorlose Sohn e<strong>in</strong>es Pfarrers. 1938 trat er <strong>in</strong> die Partei e<strong>in</strong>, 1942wurde er Mitglied der Widerstandsbewegung. Seit 1945 war Losonczy,e<strong>in</strong> <strong>in</strong>telligenter, kultivierter Mann, Redakteur der Parteizeitung undzeichnete sich durch dynamische Berichterstattung aus. Er nahm ke<strong>in</strong>90


Blatt vor den Mund und hatte den durchdr<strong>in</strong>genden Blick des geborenenAnführers, obgleich se<strong>in</strong>e äußere Ersche<strong>in</strong>ung nicht darauf schließen ließ.Er wirkte eher nichtssagend, war glattrasiert und trug e<strong>in</strong>e Brille, war alsoeigentlich der unauffällige dunkelhaarige Typ, nach dem sich niemand aufder Straße umdreht.E<strong>in</strong> Kollege sollte e<strong>in</strong>es Tages über ihn schreiben: »Dieser jungeMann war bis zu se<strong>in</strong>em letzten Atemzug e<strong>in</strong> leidenschaftlich überzeugterKommunist.«ÁÊ Nachdem er 1951 <strong>in</strong>s Gefängnis gesperrt worden war,holte er sich dort Tuberkulose und verlor fast den Verstand. Im Gegensatzzu Marosán war er verbittert und dürstete nach Rache.Ihm folgte se<strong>in</strong> Schwiegervater, Sándor Haraszti, <strong>in</strong> den Kerker. Alsfreier Journalist hatte er dreißig Jahre für die Partei gearbeitet und auchschon Horthys Gefängnisse von <strong>in</strong>nen kennengelernt. Als Sekretär derUngarisch-Jugoslawischen Gesellschaft wurde er zum Tode verurteilt. 700Tage und Nächte stand er auf der H<strong>in</strong>richtungsliste und erwartete dieSchritte des Henkers. Niemand teilte ihm mit, daß se<strong>in</strong>e Strafeumgewandelt worden war. Auch Ferenc Donáth und Gyula Kállai, die mitLosonczy zusammen <strong>in</strong> Debrecen studiert hatten, wurden <strong>in</strong>s Gefängnisgeworfen.Insgesamt erreichte die Zahl der von der Säuberung betroffenen Opfer200.000. E<strong>in</strong>er der typischen unbedeutenderen Fälle war der des Vorsitzendender Kle<strong>in</strong>landwirte-Partei des Bezirks Tolna.ÁÁ Am 1. Oktober1949 wurde er wegen angeblicher Spionagetätigkeit festgenommen und <strong>in</strong>Isolierhaft gehalten. Auch er unterschrieb e<strong>in</strong> Geständnis, um Folterqualenund Ungewißheit zu beenden.»Mehrere Male hörte ich die Hilferufe me<strong>in</strong>er Frau aus dem Nebenzimmer«,bezeugte er. (Offensichtlich war das die bevorzugte Methodeder ÁVH-Vemehmungsbeamten.) Nach vierzehn Monaten wurde Anklagegegen ihn und vier andere »Volksfe<strong>in</strong>de« erhoben. Es waren derehemalige Bürgermeister von Budapest, József Kövágó; der bereitspensionierte frühere Militärattaché <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>, Pál Almássy; der Direktordes Rundfunks, seit 1949 Mitglied der Kle<strong>in</strong>landwirte-Partei, Géza91


Rubletczky und Béla Zsedényi, der ehemalige Parlamentspräsident. DieserZeuge hörte nur durch Zufall den Namen se<strong>in</strong>es eigenen Verteidigers,Vadas, der e<strong>in</strong> Schwager von Zoltán Vas war. Der <strong>in</strong>fame Richter VilmosOlti lehnte den Antrag auf Rücksprache mit se<strong>in</strong>em Anwalt ab. DerAngeklagte sagte se<strong>in</strong> »Geständnis« auswendig auf und wurde zufünfzehn Jahren verurteilt.»Wir wissen ganz genau, daß Sie niemals für den britischen Geheimdienstgearbeitet haben«, hatte e<strong>in</strong> russischer Vernehmungsbeamterdiesem Politiker der Kle<strong>in</strong>landwirte-Partei kurz vor Beg<strong>in</strong>n se<strong>in</strong>erGerichtsverhandlung im August 1950 erklärt. »Die tatsächlichen Gründes<strong>in</strong>d folgende: Die bäuerliche Bevölkerung im Bezirk Tolna hat nochimmer großen Respekt vor Ihnen und hört auf Sie. Wenn derKommunismus – nehmen wir e<strong>in</strong>mal an, bis 1955 – festen Fuß <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong>gefaßt hat, dann besteht durchaus die Möglichkeit Ihrer Entlassung.« Soverschwand er planmäßig im Zuchthaus von Vác. Er gehörte zu denFällen, über die nicht das ger<strong>in</strong>gste <strong>in</strong> die Öffentlichkeit durchsickerndurfte, so daß e<strong>in</strong>em Anwalt nicht e<strong>in</strong>mal die Unterlagen für e<strong>in</strong>eBerufung zugänglich waren.ÁËAuf diese Weise fanden sich Millionen <strong>Ungarn</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em dunklenTunnel wieder, an dessen Ende ke<strong>in</strong> Lichtschimmer zu entdecken war.92


10Der Ste<strong>in</strong>bruchGEFANGENER IN Rákosis <strong>Ungarn</strong> zu se<strong>in</strong> war ke<strong>in</strong> leichtes Los.Widerspenstige Elemente sperrte man jeweils für vier Stunden <strong>in</strong> e<strong>in</strong>eZelle von der Größe e<strong>in</strong>er Kiste, schwerere Vergehen gegen die Gefängnisdiszipl<strong>in</strong>bestrafte man mit Kurzschließen – kurtavas: e<strong>in</strong>e kurze,eiserne Kette wurde vom e<strong>in</strong>en Handgelenk h<strong>in</strong>ter dem Knie bis zumanderen Fußgelenk durchgezogen. Fluchtversuche wurden damit beantwortet,daß man e<strong>in</strong>e fünfundzwanzig Kilogramm schwere Kette (die»lánc«) an den Fußknöcheln befestigte.ÁJe mehr sich die Gefängnisse füllten, um so strenger wurde derStrafvollzug gehandhabt, ständig »reformiert« und dem sowjetischenVorbild angepaßt. Rákosis Fünfjahresplan war nur mit Hilfe vonZwangsarbeit zu erfüllen. Daher übertrug das Justizm<strong>in</strong>isterium am 15.März 1950 die Leitung der Haftanstalten der ÁVH, die sofort sowjetischeGefängnisvorschriften e<strong>in</strong>führte. Um sich mit den sowjetischen »Errungenschaften«auf diesem Gebiet vertraut zu machen, g<strong>in</strong>gen zahlreicheÁVH-Funktionäre zu Studienzwecken nach Moskau.Die Erfahrungen der politischen Häftl<strong>in</strong>ge entsprachen im großen undganzen dem, was Zoltán Száray berichtete. Er war neununddreißig Jahrealt, Volkswirt, und hatte vom ersten Tag des Umsturzes an gegen dieKommunisten gekämpft.Ë Aus den Zellen des Hauses Nr. 60 <strong>in</strong> derAndrássy utca wurde er zunächst <strong>in</strong> das Internierungslager <strong>in</strong> Kistarcsaund anschließend <strong>in</strong> den Ste<strong>in</strong>bruch von Recsk gebracht. Dort teilte er dasSchicksal mit Hunderten subalterner Sozialdemokraten, die im Juli 1950zusammengetrieben und, wie er, ohne ordentliches Gerichtsverfahren93


<strong>in</strong>terniert worden waren. Bis zum Jahre 1950 hatte noch niemand jemalsetwas von Recsk gehört.Das Internierungslager befand sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er militärischen Sperrzonenahe e<strong>in</strong>em Dorf gleichen Namens im Bezirk Heves nördlich desMátragebirges. Der Nordhang des Csákánykö, e<strong>in</strong>es Bergs vulkanischenUrsprungs, wurde von e<strong>in</strong>er neunhundert Meter hohen Steilwand ausAndesitgeste<strong>in</strong> gebildet, das auf den Abbau wartete. Dieses Materialwurde dr<strong>in</strong>gend für die Schotterung der geplanten neuen Eisenbahnl<strong>in</strong>iegebraucht. Deshalb schufteten 1200 Männer sieben Tage <strong>in</strong> der Wochefünfzehn Stunden täglich <strong>in</strong> diesem gottverlassenen W<strong>in</strong>kel ihresVaterlandes.Von ihren Familien waren sie längst aufgegeben, weil man überzeugtwar, sie seien entweder tot oder nach Sibirien deportiert worden. Auch fürdie 400 ÁVH-Aufseher war dieser Posten gewissermaßen e<strong>in</strong>e Bestrafung,und sie ließen ihre Verbitterung bei jeder Gelegenheit an den Gefangenenaus. Die Häftl<strong>in</strong>ge wurden verhöhnt, mißhandelt und mußten stundenlang<strong>in</strong> Schlammlöchem liegen. Jedesmal, wenn sie geschlagen worden waren,verlangte man von ihnen e<strong>in</strong>e Dankesbezeigung. Sie mußten ihre Mützeziehen und rufen: »Vielen Dank, Herr Aufseher, das hat mir sehr gutgetan.«Am 20. Mai 1951 machten sieben Mann e<strong>in</strong>en verzweifeltenAusbruchversuch. E<strong>in</strong>er von ihnen zog sich e<strong>in</strong>e gestohlene ÁVH-Uniform ah, dann trieb er se<strong>in</strong>e sechs anderen Kameraden durch dasHaupttor, und damit es wirklich echt aussah, schlug er brutal mit e<strong>in</strong>erPeitsche auf sie e<strong>in</strong>. Das gesamte Lager wurde wegen dieser erfolgreichenFlucht dazu verurteilt, den ganzen nächsten Tag ohne Verpflegung aufdem Gefängnishof strammzustehen, während dreißig Lastwagen vollerSoldaten die Gegend nach den Flüchtl<strong>in</strong>gen absuchten. Sechs wurdenwieder e<strong>in</strong>gefangen, aber von dem siebten heißt es, er sei nach Wienentkommen.Alle Insassen von Recsk verdienen besondere Aufmerksamkeit, weilsie später <strong>in</strong> der vordersten Front des <strong>Aufstand</strong>s gegen das Regimewiederauftauchen werden. Dr. Pál Jónás, e<strong>in</strong> musikbegeisterter junger94


Studentenführer, war e<strong>in</strong>er von ihnen. 1948 war er fünfundzwanzig Jahre,als er wie üblich wegen Spionagetätigkeit und Verschwörung verhaftetund nach Recsk geschafft wurde. Fünf Jahre lang hielt man ihn dort ohneGerichtsverfahren fest, und noch zehn Jahre später verfolgten ihnAlpträume von herabstürzenden Felsbrocken im Ste<strong>in</strong>bruch.ÈBis zur Schließung dieses üblen Rattenlochs im Jahre 1954 starb dortjeder zehnte Gefangene. »Die Häftl<strong>in</strong>ge waren nicht organisiert. Wirwurden streng isoliert gehalten«, er<strong>in</strong>nert sich Jónás 1957 bei e<strong>in</strong>emPsychiater <strong>in</strong> Amerika. »Aber ich konnte mich glücklicherweise e<strong>in</strong>erGruppe Gleichges<strong>in</strong>nter anschließen. Während der Arbeit oder wenn wirgedrillt wurden, nahmen wir zue<strong>in</strong>ander Verb<strong>in</strong>dung auf. Jede Unterhaltungwar zwar streng verboten, aber wenn zwei Gefangene ganz nahzusammenlagen, konnten sie mite<strong>in</strong>ander flüstern. Als e<strong>in</strong>zig Positivesblieb uns <strong>in</strong> dieser ganzen Gefängniszeit die politische Schulung erspart.Als ich e<strong>in</strong>mal während me<strong>in</strong>es Lageraufenthalts die ÁVH-Toilettensaubermachen mußte, fand ich e<strong>in</strong> Stück e<strong>in</strong>er kommunistischen Zeitung.Ich wurde damit erwischt und so schwer bestraft, daß ich noch heute anme<strong>in</strong>em rechten Arm die Narben der Verletzungen habe.«Jónás schwieg e<strong>in</strong>en Moment und suchte nach Worten, um se<strong>in</strong>eGefühle auszudrücken. »Viele von uns schlossen Freundschaft fürs ganzeLeben«, sagte er schließlich. »Aus diesen Freundschaften entstand nachunserer Entlassung e<strong>in</strong>e neue politische Kraft, die zu dem <strong>Aufstand</strong>beitrug.«So marschierte Pál Jónás im Oktober 1956, als die Massendemonstrationenbegannen, Arm <strong>in</strong> Arm mit se<strong>in</strong>en Lagerkameraden aus Recsk<strong>in</strong> der vordersten Reihe.Die Ironie dieses modernen roten Terrors lag dar<strong>in</strong>, daß er auch vorhöchsten politischen Funktionären nicht haltmachte. Der Prozeß gegenRajk hatte das bereits deutlich gemacht. Nun war János Kádár an derReihe. Ende 1950 trat der ÁVH-Chef, Gábor Péter, wichtigtuerisch <strong>in</strong>Szakasits Zelle und fuchtelte mit e<strong>in</strong>em Schriftstück <strong>in</strong> der Luft herum.»Wir haben Kádár als imperialistischen Spion entlarvt«, rief er. »Und Sie95


werden gegen ihn aussagen.«Der Sozialdemokrat dachte im stillen: »Von mir aus sollen sie sichgegenseitig auffressen«, und er unterschrieb.Es war e<strong>in</strong> furchtbarer Schlag für János Kádár. Was auch immer vone<strong>in</strong>em treu ergebenen Kommunisten erwartet werden konnte, hatte ergetan. Nach dem Bruch mit Tito hatte er se<strong>in</strong>e jugoslawischen Ordenzurückgegeben und mitgeholfen, den Prozeß gegen se<strong>in</strong>en engsten FreundRajk zu <strong>in</strong>szenieren. E<strong>in</strong> Gerücht will nicht verstummen, nach dem Kádárbei e<strong>in</strong>em Besuch <strong>in</strong> Rajks Zelle versichert hatte, das ganze sei nur e<strong>in</strong>Schaustück für die Öffentlichkeit – e<strong>in</strong>schließlich des Geständnisses unddes Todesurteils. Solange Rajk das Spiel mitspielte, werde ihm nicht dasger<strong>in</strong>gste zustoßen. Nach der Aussage von Miklós Vásárhelyi beteuerteKádár gegenüber dem Häftl<strong>in</strong>g: »Ich gebe dir me<strong>in</strong> Wort, daß alles, wasich dir gesagt habe, direkt vom Genossen Rákosi stammt.«Aber gerade dieses Gespräch mit Rajk sollte nun als Beweis gegenKádár angeführt werden. Er wurde im April 1951 ohne Gerichtsverfahren<strong>in</strong>s Gefängnis geworfen. Die Spitzenfunktionäre wurden <strong>in</strong> der Parteizentraleversammelt, und man eröffnete ihnen, Rákosi habe Kádárbeschuldigt, e<strong>in</strong> imperialistischer Geheimagent zu se<strong>in</strong>, der natürlich auche<strong>in</strong>en Fluchtversuch unternommen habe – im Hof wurde ihnen auchtatsächlich e<strong>in</strong> von Kugeln durchlöcherter Wagen vorgeführt, mit demKádár angeblich an der Grenze durchbrechen wollte.Es wurde behauptet, zwei leitende Parteifunktionäre, Károly Kiss undIstván Kovács, seien Zeugen der Ause<strong>in</strong>andersetzung zwischen Rákosiund Kádár gewesen. Dies war den beiden zwar gänzlich neu, abervorsichtigerweise sahen sie davon ab, dieser Darstellung zu widersprechen.Im Gefängnis wurde Kádár auch die letzte Demütigung nicht erspart.Er wurde bis zur Bewußtlosigkeit gefoltert, und als er wieder zurBes<strong>in</strong>nung kam, ur<strong>in</strong>ierte ihm gerade der ÁVH-Oberst Wladimir Farkasmitten <strong>in</strong>s Gesicht. Als Kádár später endgültig entlassen wurde, berichtetee<strong>in</strong> CIA-Agent: »An se<strong>in</strong>er l<strong>in</strong>ken Hand fehlen die F<strong>in</strong>gernägel. Se<strong>in</strong>eVernehmung muß – angeblich auf persönlichen Befehl von Mihály Farkas96


– mit unvorstellbarer Brutalität durchgeführt worden se<strong>in</strong>.«Die Gefängnisse waren natürlich nicht nur von Leuten bevölkert, dieunter falscher Beschuldigung e<strong>in</strong>geliefert worden waren. Nachdem dieKommunisten die Regierungsgewalt <strong>in</strong> ihre Hand gebracht hatten, schoße<strong>in</strong>e ganze Reihe von Untergrundorganisationen aus dem Boden. Diemeisten waren ziemlich weltfremd, sie fielen bl<strong>in</strong>dl<strong>in</strong>gs auf die Tricks derÁVH here<strong>in</strong>. »Zwei solche Organisationen waren mir bekannt«, berichteteJónás. »Die e<strong>in</strong>e bestand aus jungen Studenten, die Sabotageakteunternahmen und <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit e<strong>in</strong>em ›englischen Offizier‹ standen,der sich später als ÁVH-Mann entpuppte. Er lieferte ihnen Sprengstoff,und sie wurden dann verhaftet und h<strong>in</strong>gerichtet. Der ältere Bruder dese<strong>in</strong>en war Abgeordneter der Kle<strong>in</strong>landwirte-Partei.«ÍE<strong>in</strong> großer Teil der Bevölkerung glaubte nur allzugern das von derRegierung verbreitete Propagandamärchen von der Invasionsarmee, dieWestdeutschland für den E<strong>in</strong>marsch <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> zusammenstellte. Derjunge Student Pál Gorka erhielt 1950 e<strong>in</strong>e lebenslängliche Freiheitsstrafe,weil er für den britischen Geheimdienst bis <strong>in</strong> alle E<strong>in</strong>zelheiten Informationenzusammentrug, die Invasionsarmeen nützlich se<strong>in</strong> konnten. Umzwischen den Zeilen harmloser Briefe unsichtbar Nachrichten übermittelnzu können, benützte Gorka weißes Kohlepapier bei se<strong>in</strong>en regelmäßigenBerichten an e<strong>in</strong>e Wiener Kontaktadresse (»Herrn Johann Wiesen,Wört<strong>in</strong>gerstraße 12«) das Netz flog auf, als 1950 e<strong>in</strong> Kurier se<strong>in</strong>erAgentenzelle an der Grenze erschossen und belastende Papiere bei ihmgefunden wurden.ÎFür die Weiterverbreitung e<strong>in</strong>er Wahrheit wurde normalerweise e<strong>in</strong>eGefängnisstrafe von zwölf Jahren verhängt. Der zwanzigjährige Imre Eröswurde 1951 <strong>in</strong> Sopron zusammen mit drei se<strong>in</strong>er Kameraden vor Gerichtgestellt und zu zwölf Jahren verurteilt, weil sie e<strong>in</strong> Flugblatt mitNachrichten westlicher Radiosender verteilt und sich außerdemverschworen hatten, jede westliche Armee zu unterstützen, die <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong>e<strong>in</strong>marschieren würde.Die Wahrheit ist e<strong>in</strong>e Waffe, die alle Marxisten fürchten.In Budapestbrauchte Rákosi e<strong>in</strong>en neuen Polizeichef. Aus psycho-97


logischen Gründen wählte er e<strong>in</strong>en Mann aus kle<strong>in</strong>en Verhältnissen undvor allem e<strong>in</strong>en Nichtjuden aus. Deshalb ließ er sich die Personalakte vonSándor Kopácsi kommen. Kopácsi erhielt dieses Amt, obgleich er erstneunundzwanzig Jahre alt war; er wurde sofort zum Oberst befördert. Alsdie Revolution fünf Jahre später se<strong>in</strong>e Stadt überrollte, sollte er noch e<strong>in</strong>emerkwürdige Rolle spielen.Ï In se<strong>in</strong>er Jugend stand er <strong>in</strong> Diósgyör an derDrehbank, e<strong>in</strong>em Ort im Norden <strong>Ungarn</strong>s. Bei Nacht leuchteten dieRauchwolken dampfender Lokomotiven im schwefelgelben Widersche<strong>in</strong>der lodernden Hochöfen. Er war muskulös, 1,78 Meter groß, se<strong>in</strong> Mundwirkte streng, aber nicht humorlos. Er hatte Ibolya mit dem rundenGesicht und dem dunklen Haar geheiratet. 1944 kämpfte sie <strong>in</strong> denSüdkarpaten zusammen mit ihm bei den Partisanen an der Seite der RotenArmee. Erund se<strong>in</strong>e Kameraden aus den Partisanenkämpf en waren dannder neuen republikanischen Polizei überstellt worden. Kopácsi besaß nichtnur Charakter, er war auch e<strong>in</strong> mutiger Mann. 1946 trat er e<strong>in</strong>malentschlossen e<strong>in</strong>em Haufen halbverhungerter Grubenarbeiter entgegen, diemit Dynamitstangen <strong>in</strong> der Luft herumfuchtelten; sie hatten die Absicht,die Frau e<strong>in</strong>es Polizeibeamten zu lynchen, der <strong>in</strong> Verdacht stand,Häftl<strong>in</strong>ge mißhandelt zu haben. Nach diesem Vorfall gratulierte ihm nichtnur Gábor Péter persönlich, sondern mit Péter kam auch Rajk und e<strong>in</strong>egroße, düstere Gestalt: János Kádár.Kopácsi blickte nicht zurück. 1949 wurde er zur Akadémia utca, demSitz der Parteizentrale, versetzt. Se<strong>in</strong> unmittelbarer Vorgesetzter warJózsef Szilágyi, e<strong>in</strong>er der großen Männer des zukünftigen <strong>Aufstand</strong>s. DieVorfahren des kräftigen, breitschultrigen Polizeiobersten Szilágyi warenBauern. Er studierte Jura und verbrachte während des Krieges wegenZugehörigkeit zur illegalen Partei drei Jahre im Gefängnis. Er konnte dieGlaubenssätze des Marxismus-Len<strong>in</strong>ismus im Schlaf hersagen – e<strong>in</strong>eharmlose Leidenschaft. Se<strong>in</strong> Fehler war, daß er auch an sie glaubte. DieErnüchterung kam bei Oberst Szilágyi – wie bei tausend anderen auch –,als er genauen E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> die Rajk-Affäre erhielt.Mitte 1949 wurde der Polizeihauptmann Sándor Kopácsi zum Leiterder Abteilung »Internierungslager« beim Innenm<strong>in</strong>isterium ernannt. Er98


stellte fest, daß ke<strong>in</strong>er der Internierten jemals forrnell angeklagt wordenwar. Meistens handelte es sich um solche Bagatelldelikte wie zumBeispiel den Diebstahl e<strong>in</strong>es halben Zentners Mais. E<strong>in</strong> Schwe<strong>in</strong> warheimlich geschlachtet oder irgend etwas organisiert worden, oder eshandelte sich um sogenannte Klassenfe<strong>in</strong>de. E<strong>in</strong> dreiköpfiges Komitee,bestehend aus Kopácsi ÁVH-Oberst Gyula Decsy und dem RechtsanwaltBodonyi, e<strong>in</strong>em ehemaligen Verwaltungsbeamten unter Horthy, entschied<strong>in</strong> jedem e<strong>in</strong>zelnen Fall über e<strong>in</strong>e bed<strong>in</strong>gte Haftentlassung.Für e<strong>in</strong>e Inspektion wählte Kopácsi das Lager Kistarcsa aus. Nachse<strong>in</strong>en Memoiren brauchte er dafür drei Tage. In der Mitte dieses Lagersbefand sich noch e<strong>in</strong> von ÁVH-Leuten <strong>in</strong> Khakiuniform bewachtesSonderlager – und dort entdeckte er Rákosis politische Gefangene,darunter auch ehemalige Partisanen und Parteigenossen des verstorbenenPál Justus.ÌBereits vier Wochen später erhielt Kopácsi e<strong>in</strong>en Posten <strong>in</strong> derParteischule, die von der Meister<strong>in</strong> der dialektischen Methode, ErzsébetAndics, geleitet wurde und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ehemaligen Mädchenpensionat imStadtpark untergebracht war. Hier wurden junge Funktionäre durchGehirnwäsche <strong>in</strong> gnadenlose, stumpfe Automaten verwandelt. Sie lerntenden Umgang mit Masch<strong>in</strong>enpistolen und Hegel, sie wurden Experten <strong>in</strong>der Selbstkritik und im Doppelspiel.Auch Sándor Kopácsi erfüllte – wenigstens e<strong>in</strong>e Zeitlang –, ohnenachzudenken, se<strong>in</strong>e Pflicht als Polizeichef von Budapest. Wie überallwurden auch ihm sowjetische Berater zur Seite gestellt – zwei Oberstenvom NKWD, von denen er nur die Decknamen kannte: Petöfi undMagyar. Seit der mörderischen Belagerung von Len<strong>in</strong>grad hatte Petöfi zuhohen Blutdruck. Se<strong>in</strong> Gesicht war lila verfärbt, geschlossene Fensterkonnte er nicht ertragen. Ihr krim<strong>in</strong>ologisches Fachwissen entbehrte nichte<strong>in</strong>es gewissen antiquierten Charmes: es stammte noch aus Dsersch<strong>in</strong>skijsZeiten.Rákosi wetterte unüberhörbar gegen den Anspruch der Westmächte,alle<strong>in</strong>ige Vertreter der wahren Demokratie zu se<strong>in</strong>, aber er konnte es nurso lange tun, wie se<strong>in</strong>e Partei die Presse und den gesamten bewaffneten99


Unterdrückungsapparat kontrollierte. In se<strong>in</strong>er berühmten »Salamitaktik«-Ansprache vom 29. Februar 1952 überschüttete er Frankreich und Italienwegen der angeblich manipulierten Wahlen mit Hohn und Spott, und auchAmerika wurde angeprangert, weil die beiden willfährigsten Präsidentschaftskandidatenvon der Hochf<strong>in</strong>anz ausgewählt worden seien.»Ausgerechnet für diese beiden Kandidaten dürfen dann dieAmerikaner <strong>in</strong> ›freier Wahl‹ ihre Stimme abgeben, obwohl doch dieseMilliardäre nicht nur Presse, Funk und Fernsehen, sondern auch dieSchulen, Kirchen und die meisten Gewerkschaftsführer <strong>in</strong> ihrer Handhaben und damit e<strong>in</strong>en großen Teil des amerikanischen Volkes h<strong>in</strong>tersLicht führen können.«Rákosi brach <strong>in</strong> schallendes Gelächter aus. Se<strong>in</strong>e verschleierten grauenAugen verloren sekundenlang den künstlich gutmütigen Ausdruck, als erfortfuhr: »So also sieht es <strong>in</strong> Wahrheit mit der demokratisch gewähltenMehrheit <strong>in</strong> der Hochburg der ›freien Welt‹ aus – von wo wir täglichdurch Zeitungen und Rundfunk zu hören bekommen, daß unsereVolksdemokratie die Gewaltherrschaft e<strong>in</strong>er w<strong>in</strong>zigen M<strong>in</strong>derheit sei.«Indigniert reckte sich der kle<strong>in</strong>gewachsene ungarische Diktator zuse<strong>in</strong>er vollen Größe auf und er<strong>in</strong>nerte an die Sklavenaufstände <strong>in</strong> denKolonien der Imperialisten <strong>in</strong> Korea, Malaya, Vietnam und Ägypten.»Wir können e<strong>in</strong>e dieser kapitalistischen Illustrierten aufschlagen,wann wir wollen, immer s<strong>in</strong>d sie voll von Bildern solch ›sensationellerEreignisse‹ «, rief er triumphierend mit se<strong>in</strong>em klangvollen Baß. »Die›Stimme Amerikas‹ würde alles dafür geben, wenn sie nur von e<strong>in</strong>eme<strong>in</strong>zigen Fall berichten könnte, bei dem sowjetische Panzer gegen dieVolksmassen e<strong>in</strong>es sozialistisch regierten Landes e<strong>in</strong>gesetzt werden!«Vier Jahre später gab es <strong>in</strong> ganz Europa nicht e<strong>in</strong>en marxistischenParteiführer, der es gewagt hätte, noch e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> dieser Art und Weise zuspotten.Als sich die Macht des Rákosi-Regimes gefestigt hatte, verbreitetensich Angst und Schrecken wie e<strong>in</strong>e blutige Spur über das ganze Land.Um den Fünfjahresplan vom Sommer 1950 zu erfüllen, wurden600.000 Arbeiter auf Kosten der Landwirtschaft <strong>in</strong> die Industrie abge-100


zogen. Die Lebensmittel verschwanden aus den Läden. Die Inflationwurde immer spürbarer. Als die Regierung im Dezember 1951 e<strong>in</strong>eLohnerhöhung von zwanzig Prozent ankündigte, waren die Lebensmittelpreisebereits um fünfundachtzig Prozent nach oben geschnellt.Kleidung war praktisch unerschw<strong>in</strong>glich.Die marxistische Landwirtschaftspolitik richtete die Bauern zugrunde.Um den Bauern die marxistische Ideologie e<strong>in</strong>zuhämmern, wurden imOktober 1950 auf örtlicher Ebene nach sowjetischem Muster Versammlungsabendee<strong>in</strong>gerichtet. 1951 hatte sich die Anzahl der Kolchosen von2275 im Jahre 1950 auf 4652 verdoppelt, bis zum Frühjahr 1952 sollten esdann 5110 werden. Jedoch anders als <strong>in</strong> der Sowjetunion wurde dieKollektivierung nicht mit soviel rücksichtslosem Druck auf die Landbevölkerungdurchgeführt. Unabhängige Bauern blieben die Haupterzeugerlandwirtschaftlicher Produkte. 1953 bearbeiteten sie immer nochmehr als sechzig Prozent des gesamten Ackerlandes.Rákosi verfolgte bei der E<strong>in</strong>führung se<strong>in</strong>er Zwangsmaßnahmen ke<strong>in</strong>eklare L<strong>in</strong>ie. Während Len<strong>in</strong> empfohlen hatte: »Vertraut den armenBauern, verbündet euch mit denen, die etwas mehr besitzen, und vernichtetdie Kulaken« und Stal<strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Großbauern ohne Gnade umbrachte,setzte Rákosi ihnen nur mit Steuern, Gesetzen und schonungslosenZwangsablieferungen von Getreide zu.Ó Inzwischen g<strong>in</strong>g be<strong>in</strong>ahe dieHälfte (45,8 Prozent) der gesamten Investitionen des Landes an dieSchwer<strong>in</strong>dustrie, nur 10,7 Prozent wurden der Landwirtschaft zugeteilt.Infolgedessen standen die Bauern der Politik Rákosis überwiegendablehnend gegenüber. Ke<strong>in</strong> Wunder – die Kulaken wurden als »Klassenfe<strong>in</strong>de«entrechtet, die kle<strong>in</strong>eren und mittleren Bauern kochten vor Zornüber die Kollektivierung, die bis Dezember 1952 446.000 Landwirte <strong>in</strong><strong>in</strong>sgesamt 5315 Kolchosen gepreßt hatte, ohne daß die Erzeugung vonAgrarprodukten sich erhöht hätte. Obwohl die Regierung die landwirtschaftlichenProduktionsgenossenschaften mit Samthandschuhen anfaßte,litten sie unter der überzentralisierten Bürokratie und der Unfähigkeit derFührungskräfte. Sowohl ihnen als auch den Bauern, denen noch e<strong>in</strong> StückLand zur freien Bewirtschaftung gelassen worden war, fehlte der Ansporn.101


Zehn Prozent des Ackerlandes <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> wurden nicht mehr bebaut.1952 gab es e<strong>in</strong>e Mißernte, und im Frühl<strong>in</strong>g 1953 erreichte dieVersorgungskrise ihren Höhepunkt. <strong>Ungarn</strong>, das hauptsächlich landwirtschaftlicheErzeugnisse exportiert hatte, begann zu hungern.Dieser Fehlschlag legte e<strong>in</strong>e der wesentlichen Schwächen desMarxismus bloß. Bei der E<strong>in</strong>schätzung der menschlichen Natur übersiehter die schwachen Seiten, darunter die Neigung zu Betrug, Faulheit undRaffgier. Wie alle Ideologien glaubt der Kommunismus an den idealenMenschen. Aber die ungarischen Bauern waren alles andere als ideal.Bezeichnend war folgender Fall: E<strong>in</strong> Bauer mußte se<strong>in</strong>e Äpfel für nurzwei For<strong>in</strong>t das Pfund an die Geschäftsstelle für Obstexport <strong>in</strong> Gyümértabliefern, da er aber zu Hause auf dem Markt angefaulte Ware zu elfFor<strong>in</strong>t anbieten durfte, beschloß er im folgenden Jahr, weniger Schädl<strong>in</strong>gsbekämpfungsmittelanzuwenden, um auf diese Weise zwar mangelhafteWare zu ernten, dafür aber e<strong>in</strong>en höheren Gew<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>zustreichen.ÔDie armen <strong>Ungarn</strong>! Ihr Elend wurde durch die rücksichtsloseAusweitung der Verstaatlichungspraxis immer größer. E<strong>in</strong>zelhandelslädenwurden geschlossen, und das Inventar vom Staat beschlagnahmt. Wennder Geschäftsführer versuchte, etwas von se<strong>in</strong>em Warenbestand vordiesem legalisierten Diebstahl zu retten, wurde er für »Diebstahl anStaatseigentum« bestraft. Als das Radiogeschäft e<strong>in</strong>es Mannes auf Befehldes Budapester Stadtrats enteignet wurde und er dagegen E<strong>in</strong>spruch erhob,wurde er von ÁVH-Männern zusammengeschlagen.Ehemalige Geschäfts<strong>in</strong>haber erhielten nicht e<strong>in</strong>mal die Genehmigung,als Angestellte <strong>in</strong> ihrem eigenen Betrieb mitzuarbeiten. Facharbeiterwurden gezwungen, <strong>in</strong> den Fabriken am Fließband zu stehen, oder <strong>in</strong>»Kooperativen«, also <strong>in</strong> Genossenschaften auf der Grundlage gegenseitigerZusammenarbeit, gepreßt. Welch e<strong>in</strong>e Verhöhnung dieses Begriffes.Besaß jemand e<strong>in</strong> Haus mit mehr als fünf Zimmern, dann beschlagnahmteder Staat das Grundstück und ließ den Inhaber für die BenützungMiete zahlen. War die Wohnung kle<strong>in</strong>er, hatte er mehr Glück, denn dannbrauchte er nur e<strong>in</strong>e monatliche Steuer und »Instandhaltungsabgaben« zubezahlen, ganz gleich, ob Arbeiten dieser Art überhaupt ausgeführt102


wurden oder nicht.Mit dem Beg<strong>in</strong>n der Massendeportationen von »bürgerlichen undfe<strong>in</strong>dlichen« Elementen aus den Städten im April und Mai 1951 beg<strong>in</strong>gRákosi e<strong>in</strong>e weitere schwere Verletzung der Menschenrechte. DieBetroffenen erhielten nur vierundzwanzig Stunden Zeit, ihre Wohnungenzu räumen. Ihnen war die Mitnahme von weniger Gepäck erlaubt, alsheute für Passagiere e<strong>in</strong>es Flugzeugs zugelassen ist, und dann wurden sie<strong>in</strong> weit entfernte und verlassene Gegenden <strong>Ungarn</strong>s verfrachtet.1956 sagte Maria Novák, e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>unddreißigjährige Opernsänger<strong>in</strong>,aus: »Zu den Deportierten gehörte der Eigentümer e<strong>in</strong>es Mietshauses, <strong>in</strong>dem ich lebte. Se<strong>in</strong>e Wohnung samt den Möbeln – alles Museumsstücke –wurde beschlagnahmt. Er war fünfundsechzig Jahre alt und konnte nichtmehr arbeiten. Er starb wenige Monate später <strong>in</strong> irgende<strong>in</strong>em trostlosenOrt. E<strong>in</strong>em se<strong>in</strong>er Freunde hatte er geschrieben und ihn um e<strong>in</strong>e hölzerneKlosettbrille gebeten, weil er sich sonst nicht als Mensch fühle.«ÁÊDiese Deportationen erzeugten e<strong>in</strong>e Atmosphäre der Furcht – e<strong>in</strong>enAlptraum – oder wie die <strong>Ungarn</strong> sagen »frásznapok«. Die Folge warenGesundheitsstörungen, die auch bei der nicht unmittelbar betroffenenBevölkerung auftraten. Bezeichnend dafür ist der Fall e<strong>in</strong>es achtundvierzigjährigenKraftfahrzeugtechnikers. Die Verschleppung vieler se<strong>in</strong>erFreunde belastete ihn seelisch so stark, daß er sich für den Rest desLebens e<strong>in</strong> schweres Magenleiden, durch Übersäuerung verursacht,zuzog.ÁÁTypisch für viele andere war auch das harte Schicksal der Schwiegertochterdes verstorbenen Professors Zsengellér und ihrer bildschönenzwanzigjährigen Tochter Margit.ÁË Wie oft hat se<strong>in</strong>e Enkel<strong>in</strong> wohl imstillen den Tag verflucht, an dem ihr Großvater – ohne die Folgenvorausahnen zu können – e<strong>in</strong>e Wohnung <strong>in</strong> der Thököly utca kaufte. Erwar e<strong>in</strong> bekannter Orientalist und Weltreisender gewesen und h<strong>in</strong>terließdie Wohnung se<strong>in</strong>em Sohn, ihrem Vater, der dann 1944 von denFaschisten als Geisel genommen wurde und nie zurückkam. Dieser Besitzwar der Anlaß für e<strong>in</strong> verhängnisvolles Schreiben, durch das sie auch <strong>in</strong>ihrem politischen Führungszeugnis für immer als »osztályidegen« oder103


Klassenfe<strong>in</strong>de abgestempelt wurden. Margit durfte weder an derUniversität studieren noch <strong>in</strong> das Konservatorium oder <strong>in</strong> die Hochschulefür Theater und Film e<strong>in</strong>treten. 1951 war sie sich darüber im klaren, daßdie Zwangsverschickung unausweichlich bevorstand.»Nach und nach erfuhren wir E<strong>in</strong>zelheiten«, beschrieb sie diedamalige Situation. »Zuerst hörten wir, daß diese Mitteilung jedenMontag, Mittwoch und Freitag zugestellt wurde. Am darauffolgenden Tagkam der Lastwagen und nahm die Leute mit. Vom Hausmeister konntenwir ke<strong>in</strong>e Hilfe erwarten. Se<strong>in</strong> Sohn und se<strong>in</strong> Schwiegersohn waren beider ÁVH. Und als wir beobachteten, daß immer neue Mieter <strong>in</strong> das Hause<strong>in</strong>zogen, begannen me<strong>in</strong>e Mutter und ich uns große Sorgen zu machen.Jeder Montag, Mittwoch und Freitag waren für uns e<strong>in</strong> Frásznapok! E<strong>in</strong>Montag verg<strong>in</strong>g, dann der nächste. Am Dienstag sahen wir uns im K<strong>in</strong>odie Oper ›Tosca‹ von Pucc<strong>in</strong>i an – es war zwar ke<strong>in</strong> guter Film, aber wirhatten G<strong>in</strong>a Lollobrigida vorher noch nie gesehen. Anschließend g<strong>in</strong>genwir schlafen – immer noch fühlten wir uns wie auf glühenden Kohlen.›Wenn Großvater nur se<strong>in</strong> Geld auf dem Rennplatz verwettet hätte, anstattes sicher <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Wohnung anzulegen‹, dachte ich zum tausendsten Maleund wälzte mich <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Bett ruhelos von e<strong>in</strong>er Seite auf die andere.Von welchem Teufel war Professor Zsengellér besessen, als er sich sodilettantisch auf solche Geschäfte e<strong>in</strong>ließ? Wie konnte er es wagen, diesse<strong>in</strong>en Angehörigen anzutun! ›Hat me<strong>in</strong>e bloße Anwesenheit dich beide<strong>in</strong>en Reisen gestört, Großvater?‹ «Um drei Uhr morgens kl<strong>in</strong>gelt es bei den Zsengellérs an der Tür. DerPolizist ist sehr höflich, es tue ihm leid zu stören, aber er müsse e<strong>in</strong>eamtliche Benachrichtigung abgeben und dafür von ihnen e<strong>in</strong>e schriftlicheBestätigung erhalten. So ist nun auch für Margit und ihre Mutter der Tagder »frász« angebrochen. Der Alptraum ist Wirklichkeit geworden. Mitdiesem Schreiben von der Größe e<strong>in</strong>er Postkarte teilt ihnen derInnenm<strong>in</strong>ister mit, daß sie b<strong>in</strong>nen vierundzwanzig Stunden Budapest zuverlassen hätten. Im Tausch für ihren Besitz werde ihnen e<strong>in</strong> Zimmer <strong>in</strong>der Nähe von Eger zugeteilt. Der Name dieses Orts sagt ihnen überhauptnichts.104


Am nächsten Abend werden mit e<strong>in</strong>er Lastwagenkolonne 2000Menschen verladen, darunter auch e<strong>in</strong> gewisser Schre<strong>in</strong>er namens ElekGróf, dessen e<strong>in</strong>ziges Vergehen dar<strong>in</strong> besteht, daß »Gröf« auf ungarisch»Graf« bedeutet. Sie werden mit den Lastwagen auf e<strong>in</strong>en Viehhof beiUjpest (Neupest) transportiert. Für die Bahnfahrt erhalten sie Platzkartenund werden von bewaffneten Posten begleitet. Die Hitze im Zug istunerträglich, die Eisenbahnfahrt von fünfzig Kilometern dauert zwei Tage(der Zug darf die Hauptstrecken nicht benutzen). Auf jeder Station werdendie verstörten Vertriebenen beim Aussteigen von den Funktionären, dievon ihrer Ankunft verständigt s<strong>in</strong>d, mit Beschimpfungen empfangen,ausgepfiffen und angespuckt.Mit der sklavischen Befolgung der von Moskau diktierten Parteidoktr<strong>in</strong>hatte Mátyás Rákosi Feuer unter e<strong>in</strong>em Kessel angezündet, dessenVentil noch fest zugeschraubt war.Die Aktionen wurden zwar geheimgehalten, aber jeder <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong>kannte Menschen, die auf diese Weise bei Nacht und Nebel aus ihremHeim verschleppt worden waren. Was hatte zum Beispiel Sári Déri, e<strong>in</strong>eder bezauberndsten jungen Schauspieler<strong>in</strong>nen Budapests, verbrochen, daßsie so behandelt wurde? Vielleicht lag es daran, daß ihr Mann e<strong>in</strong> Grafwar oder daß sie unerschrocken die Annäherungsversuche von e<strong>in</strong> paarFunktionären abgewiesen hatte? Sie wurde aus Budapest gejagt, belästigtund gezwungen, als Waschfrau oder Küchenmädchen zu arbeiten.Schließlich starb sie aus Mangel an ärztlicher Betreuung.ÁÈ105


11Das Rote ParadiesEINE ATTRAKTIVE Mediz<strong>in</strong>student<strong>in</strong> erzählt amerikanischen Soziologen,warum sie <strong>Ungarn</strong> den Rücken gekehrt hat.Á Sie ist das e<strong>in</strong>zige K<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>esNotars. Diese Tatsache alle<strong>in</strong> genügte, um sie zur »Klassenfe<strong>in</strong>d<strong>in</strong>« zustempeln, obwohl ihr Vater schon lange tot war. Als der <strong>Aufstand</strong> begann,lebte sie bei ihrer Tante. Das sechsköpfige Ärzteteam, mit dem siezusammengearbeitet hatte, wurde von den Russen gefangengenommen,und sie hat ke<strong>in</strong>en davon jemals wiedergesehen.Nur etwa zehn Prozent der ungarischen Bevölkerung warenKommunisten. Sie gehörte niemals dazu.»Kannten Sie e<strong>in</strong>ige von ihnen?«Sie nickt und sagt: »Diese Leute waren mir unsympathisch, ichfürchtete mich vor ihnen. Sie spekulierten darauf, als Mitläufer besser zufahren – außerdem g<strong>in</strong>g es ihnen um höhere Bezahlung.«»Was waren das für Leute?«»Kommilitonen von der Universität. Sie erhielten erheblich mehrf<strong>in</strong>anzielle Zuwendungen und zusätzlich jede erdenkliche Studienhilfe.«»Wie kamen Sie denn mit ihnen zurecht?«»Sie haben sich kaum um mich gekümmert. Es war auch nichtsonderlich opportun, sich mit mir abzugeben – bekanntlich war ich e<strong>in</strong>e›Klassenfe<strong>in</strong>d<strong>in</strong>‹. Sie wußten über me<strong>in</strong>e Herkunft natürlich Bescheid.«»Was hielten Ihre Tante und Ihre Cous<strong>in</strong>en 1948 von der Regierung?«»Sie waren e<strong>in</strong> bißchen kommunistisch angehaucht. Was sie darüber<strong>in</strong> Büchern gelesen hatten, klang so wunderbar. Aber die Wirklichkeit waralles andere als schön.«106


Nichts sei so tragisch, wie die Zerstörung e<strong>in</strong>es Ideals durch nackteTatsachen, bemerkte e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong> Zyniker. Der Marxismus war so e<strong>in</strong>unpraktikables Ideal, und es war reif, um verhunzt zu werden.Die Soziologen konnten sich jahrelang nicht darüber e<strong>in</strong>ig werden, auswelchem Anlaß schließlich der Funke übersprang, der dieses Pulverfaß –das gärende, unzufriedene <strong>Ungarn</strong> – zur Explosion brachte. E<strong>in</strong>er vonihnen, e<strong>in</strong> Amerikaner, verglich den Ausbruch des <strong>Aufstand</strong>s mit dembekannten Schema, nach dem die Gewalt bei Gefängnisrevolten eskaliert.Der Vergleich ist durchaus zutreffend. E<strong>in</strong> anderer ExperteË leitete dieaufgestaute Wut von der völligen Isolierung der Menschen her, die ihnendurch den Polizeistaat und den dazugehörigen Apparat aufgezwungenwurde: Abhörvorrichtungen, politische Führungsakten, Spitzel, Folterkammernund das ganze übrige Drum und Dran – alles, was angeblicherforderlich war, um den Wechsel von der halbkapitalistischen Wirtschaft<strong>in</strong> den Jahren 1945 bis 1949 zur totalen Industrialisierung, Kollektivierungund Planwirtschaft zu tarnen.Dieses Gefühl der Hilflosigkeit wird durch e<strong>in</strong> bezeichnendes Ereignis»illustriert«. Nach 1946 wurden ständig Raubüberfälle von Mitgliederne<strong>in</strong>er Verbrecherbande ausgeübt, die sich als Angehörige der Sicherheitspolizeiausgaben – aber ke<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziges der Opfer dachte auch nur daran,Anzeige zu erstatten, ganz e<strong>in</strong>fach deshalb, weil sich das Verhalten derKrim<strong>in</strong>ellen <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er Weise von dem der echten Sicherheitspolizeiunterschied. Erst 1958 erhielt die Bande ihre gerechte Strafe.ÈDie Menschen waren isoliert und entmutigt. Jegliche Kommunikationwar erloschen. Persönliche Beziehungen wurden vermieden oder nurzwischen bewährten Freunden und der engsten Familie aufrechterhalten.E<strong>in</strong> e<strong>in</strong>undfünfzigjähriger Behördenangestellter sagte aus: »Me<strong>in</strong>e bestenFreunde s<strong>in</strong>d tot, e<strong>in</strong>er von ihnen ist verschwunden. Nach 1945 lebte jederunter ungeheurem Druck, und ke<strong>in</strong>er hatte mehr die Zeit, e<strong>in</strong>enFreundeskreis zu pflegen. Der gebildete Ungar konnte sich nur noch ausder bitteren Realität flüchten, wenn er abends nach neun Uhr das Lichtlöschte und sich unter der Bettdecke verkroch.«ÍNachdem Rajk vor Gericht gestellt worden war, wurden die Partei-107


mitglieder von e<strong>in</strong>er Art Lähmung befallen. »Ich war höchst überrascht«,er<strong>in</strong>nerte sich 1957 e<strong>in</strong> führender Parteijournalist. »Es waren vieleBekannte von mir <strong>in</strong> die Angelegenheit verwickelt. Wie merkwürdig,dachte ich. Ich war doch häufig mit ihnen zusammen, aber mir ist nieetwas Besonderes an ihrem Benehmen aufgefallen. Trotzdem konnte iches nicht über mich br<strong>in</strong>gen, am Urteil der Partei zu zweifeln, wenn sie vondiesem oder jenem behauptete, er hätte gegen ihre Grundsätze verstoßen.Ich er<strong>in</strong>nere mich an e<strong>in</strong>e Jagd, die zwei Monate vor dem Prozeß stattfandund an der auch Rajk und e<strong>in</strong> paar hohe Funktionäre teilnahmen.Zwischen ihnen schien das beste E<strong>in</strong>vernehmen zu bestehen, und ichkonnte e<strong>in</strong>fach nicht glauben, daß eben diese Leute ohne stichhaltigeGründe e<strong>in</strong>en ihrer besten Freunde umbr<strong>in</strong>gen lassen würden.«ÎDoch auch die Spitzenfunktionäre fühlten sich nicht mehr sicher. ÜberNacht verschwanden enge Freunde und tauchten nie wieder auf. im Laufeder Jahre erkannten die Fanatiker, daß ihr Land wirtschaftlich h<strong>in</strong>ter ihrennichtkommunistischen Nachbarn zurückblieb. Aber wie Dr. Pál Kecskemétivon der Rand Corporation me<strong>in</strong>te, herrschte bei jedem überzeugten,gebildeten Kommunisten die verschwommene Vorstellung:»Die Partei hat immer recht, auch wenn es dich noch so hart trifft.Denn <strong>in</strong> der Partei vere<strong>in</strong>t sich die geballte Kraft des Proletariats.«ÏE<strong>in</strong> klassisches Beispiel dafür liefern die Schriften des kommunistischenM<strong>in</strong>isterpräsidenten Imre Nagy, der 1953 unmittelbarer NachfolgerRákosis wurde, denn er weigerte sich, die Schuld für das Versagen beimmarxistischen System selbst zu suchen. Er machte das jüdische »Quartett«für die wirtschaftliche Misere verantwortlich: »Von Juni 1953 anunternahm das gesamte Arbeitspotential des Landes zwei Jahre lang diegrößten Anstrengungen, um den schweren Schaden auf allen Gebieten dernationalen Wirtschaft, den die ›L<strong>in</strong>ken‹ durch ihre Mißwirtschaft verursachthatten, wiedergutzumachen . . . Wenn diese ganze materielle,politische und moralische Kraft für den Aufbau des Sozialismus e<strong>in</strong>gesetztworden wäre, statt sie zur Beseitigung der vom sogenannten ›Quartett‹hervorgerufenen Schäden zu verwenden, wäre <strong>Ungarn</strong> heute e<strong>in</strong> zufriedenes,blühendes Land. Leider mußten wir e<strong>in</strong>e schwere Last übernehmen.«108


1945 hatte die illegale Kommunistische Partei 300 Mitglieder. Biszum Ausbruch des <strong>Aufstand</strong>es war die Mitgliederzahl der KP auf 865.000angewachsen. »Man mußte e<strong>in</strong>fach Parteimitglied se<strong>in</strong>. Etwas andereszählte nicht«, sagte der Behördenangestellte. »Gehörte man nicht dazu,wurde man behandelt wie e<strong>in</strong> räudiger Hund, und man konnte sich nichte<strong>in</strong>mal auf die fundamentalsten Menschenrechte berufen . . . Als ich alsHeizer arbeiten mußte«, fuhr er fort, »lebte dort e<strong>in</strong>e Zigeuner<strong>in</strong>, die <strong>in</strong>ihrem Leben noch ke<strong>in</strong>e Schule besucht hatte, mit ihren vier unehelichenK<strong>in</strong>dern. Sie trat der Partei bei und wurde zu e<strong>in</strong>em viermonatigenLehrgang geschickt. Nachdem sie ihn absolviert hatte, berief man sie <strong>in</strong>den VI. Bezirk von Budapest, wo sie Vorlesungen über das Erziehungswesenhielt!«Von der Partei wurden Massenorganisationen – die sogenanntenTransmissionsriemen des Kommunismus – <strong>in</strong>s Leben gerufen. Die Mitgliedschaftwar Pflicht. Da gab es zum Beispiel die Gesellschaft fürUngarisch-Sowjetische Freundschaft, die sich im Gebäude der ehemaligenKle<strong>in</strong>landwirte-Partei <strong>in</strong> der Semmelweis utca breitmachte. Die Mitgliedschaftberechtigte zum kostenlosen Bezug der Wochenzeitschrift Uj Világ,[Neue Welt], die – wie die meisten anderen Parteischriften – sofort an dieKlosettpapierhaken <strong>in</strong> den Toiletten wanderte.Ì Oder e<strong>in</strong> Frauenverbandversorgte die Teilnehmer von Massenkundgebungen am 1. Mai mitSonderrationen. Es gab Schriftstellerverbände und natürlich Gewerkschaftsorganisationen:Aber nachdem vom Februar 1951 an e<strong>in</strong> neuesArbeitsgesetz galt, dienten die Gewerkschaften nur noch dazu, für wenigerLohn mehr Arbeitsleistung aus den Arbeitern herauszupressen.Die Studentenunruhen entstanden jedoch hauptsächlich deshalb, weilder Bund der Werktätigen Jugend, DISZ, als Sprachrohr der jungen Leuteversagte. Diese Vere<strong>in</strong>igung hatte 1950 die zwar kommunistische, aberauch idealistisch-romantische Jugendarbeiter-Organisation abgelöst: Sieerwies sich dann aber nicht nur als ebenso mürbe wie die Gebe<strong>in</strong>e dermarxistischen Märtyrer, sondern als auch ebenso unbeweglich und lebloswie diese. Die <strong>in</strong> der DISZ herrschenden Vorurteile, die ewige Rechthabereiund die Ablehnung jeglicher Individualität stiegen <strong>in</strong>telligentere109


Studenten ab.ÓWie aus Zeitungsveröffentlichungen des Jahres 1952 hervorg<strong>in</strong>g,benützte man die Organisation dazu, die ungarische Jugend zu immergrößeren Leistungen beim Sammeln von Altmetall anzutreiben nach demSchlagwort aus der Zeit des Koreakrieges: »Schrott sichert den Frieden.«Mihály Farkas warf am 28. Juni 1952 <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Ansprache derbürokratischen Führung der DISZ vor, daß sich <strong>in</strong> ihren Reihen»chauv<strong>in</strong>istische und antisemitische Elemente« breitmachten und dieJugend über zwanzig ke<strong>in</strong>e Lust hätte, beizutreten.Ô 1955 faßte e<strong>in</strong> amerikanischerGeheimbericht die gewonnenen Erkenntnisse folgendermaßenzusammen: »Bezeichnenderweise enttäuschte selbst die Jugendorganisation(DISZ) die <strong>in</strong> sie gesetzten, hochgeschraubten Hoffnungen derPartei. Trotz e<strong>in</strong>er rund siebenjährigen <strong>in</strong>tensiven ideologischen Schulungund verstärkter Diszipl<strong>in</strong>armaßnahmen fehlte e<strong>in</strong> verläßliches Reservoir,aus dem die Partei ihren Bedarf an <strong>in</strong>tellektuellen Kadern decken konnte.Die Jugend blieb zynisch und apathisch. Die Partei mußte schließlichzugeben, daß die Situation sowohl verblüffend als auch gefährlich war.«ÁÊE<strong>in</strong>e<strong>in</strong>halb Jahre später kam dann der Tag, an dem diese Jugend <strong>in</strong>ihrer Hauptstadt die Propagandaparole »Schrott sichert den Frieden« aufmakaber-ironische Art wahrmachte, <strong>in</strong>dem sie an sowjetischen PanzerundGeschützwracks Plakate mit dieser Aufschrift anbrachte.Es gelang den Kommunisten niemals, die ungarische Jugend für sichzu gew<strong>in</strong>nen. »Me<strong>in</strong> Sohn wurde mit sechs Jahren e<strong>in</strong>geschult«, berichtetee<strong>in</strong> Busfahrer, »er war zu Hause religiös erzogen und besuchte jedenSonntag den Gottesdienst. Inst<strong>in</strong>ktiv wußte er, daß er D<strong>in</strong>ge, die daheimbesprochen wurden, nicht weitererzählen durfte, obwohl ich ihm nieverboten hatte, darüber zu reden – er muß es an unserem Verhalten unddem Verhalten anderer Schulkameraden gespürt haben . . . Bereits dieserkle<strong>in</strong>e Kerl wußte, daß wir der Regierung schon wegen unserer Herkunftnicht genehm waren – weil zum Beispiel se<strong>in</strong> Großvater Offizier <strong>in</strong> derzaristischen Armee gewesen war. Wenn sie ihn über se<strong>in</strong>en Großvaterausfragten, gab er an, er sei von Beruf Ingenieur gewesen. Der kle<strong>in</strong>eJunge verhielt sich bereits wie e<strong>in</strong> erfahrener, alter Mann. Wurde er110


gefragt: ›Wieso ist de<strong>in</strong> Vater als Sohn e<strong>in</strong>es Ingenieurs nur Busfahrergeworden?‹ antwortete er: ›Me<strong>in</strong> Vati mag gerne Autos.‹ Der Junge hattee<strong>in</strong>en angeborenen politischen Inst<strong>in</strong>kt. Dennoch war unser Sohn ke<strong>in</strong>eAusnahme. Andere K<strong>in</strong>der verhielten sich ganz genauso.«ÁÁDa die Funktionäre außerstande waren, sich <strong>in</strong> ihrem Verhalten nachnormalen bürgerlichen Grundsätzen zu richten, waren sie auf dieEntscheidungen der Parteiführung angewiesen.Die Parteibeauftragten <strong>in</strong> den Fabriken wurden Gegenstand heimlicherVerachtung. Sie trugen blitzsaubere Overalls, besagen e<strong>in</strong> eigenes Fachfür ihr Frühstücksbrot und verdienten ohne sonderliche Anstrengungenmonatlich 1500 For<strong>in</strong>t auf ihren e<strong>in</strong>träglichen Posten <strong>in</strong> denPersonalabteilungen. Ihre Redewendungen hörten sich an wie Auszügeaus Parteibroschüren. Dieser Jargon g<strong>in</strong>g ihnen flüssig von den Lippen –sie konnten sozusagen auf »Knopfdruck« plappern: »öntudatos munkás«(Klassenbewußter Werktätiger) oder »Natürlich werden noch Fehlergemacht, Genosse, aber . . . « Ihr geistiger Horizont und ihre sprachlicheAusdrucksfähigkeit waren begrenzt. Sie bevorzugten die Konjunktivform,weil sie <strong>in</strong> ihren proletarischen Ohren richtiger klang – Tudhassák,láthassák und elvtársak. E<strong>in</strong> jüdischer Fabrikarbeiter, der alles daransetzte,Journalist bei der amtlichen Nachrichtenagentur MTI zu werden, wußtegenau, wie er se<strong>in</strong>e Absicht erfolgreich durchsetzen konnte: »Als ich aufe<strong>in</strong>em MTI-Parteimitgliedertreffen me<strong>in</strong>e erste Rede hielt«, sagte er,»benützte ich all die gekünstelten Phrasen <strong>in</strong> der für die Funktionäretypischen grammatischen Form, die ich von ihnen <strong>in</strong> der Fabrikaufgeschnappt hatte.«ÁËZunehmend wurde e<strong>in</strong> pathetischer und überheblicher Redestiltonangebend. Während sich noch 1945 Parteigenossen, die im Rang unterRákosi standen, mit Vornamen anredeten und viele von ihnenSchirmmützen trugen, um ihre Solidarität mit der Proletarierklasse zudemonstrieren, wurde bereits 1948 durch Flüsterpropaganda verbreitet:»Ihr seid die herrschende Partei, Genossen! Ihr müßt euch täglich rasierenund e<strong>in</strong>e Krawatte umb<strong>in</strong>den.« Ab 1951 konnte man sich auf der Straßenicht mehr ohne Hut blicken lassen.ÁÈ111


Diejenigen, die nicht zum <strong>in</strong>neren Parteikreis gehörten, litten Qualender Ungewißheit <strong>in</strong> Fragen der Etikette. Der fünfundzwanzigjährigejüdische Journalist Péter Kende von der amtlichen Parteizeitung führtejahrelang e<strong>in</strong>en Seiltanz auf. »Jeder <strong>in</strong>telligente Mensch, der aussah, alshätte er mehr als drei Bücher gelesen, geriet automatisch unter Verdacht.Also übertrieb er se<strong>in</strong>e Identifizierung mit dem Proletariat.« E<strong>in</strong>er se<strong>in</strong>erFreunde er<strong>in</strong>nerte sich an e<strong>in</strong>en Empfang <strong>in</strong> der Oper, zu dem Kende mitungekämmtem Haar, e<strong>in</strong>em gelben Anzug und offenem Hemd mitschmutzigem Kragen erschien. Alle anderen <strong>in</strong> ihren dunklen Anzügenriefen bewundernd: »Na, das gibt aber e<strong>in</strong>en Pluspunkt <strong>in</strong> der Personalakte!«ÁÍHarte Maßnahmen erwarteten jeden Journalisten, der von derParteil<strong>in</strong>ie abwich, wie János Bardi vom sozialdemokratischen Világosság[Tageslicht] feststellen mußte. Als Miklós Vásárhelyi vom Propagandam<strong>in</strong>isterium– der im <strong>Aufstand</strong> noch e<strong>in</strong>e größere Rolle spielen sollte –kurz vor dem Zusammenschluß mit den Kommunisten der Redaktion e<strong>in</strong>eStrafpredigt hielt, erlaubte sich Bardi e<strong>in</strong>e sarkastische Bemerkung: »DieAnwesenheit der Armee der Sowjetunion <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Lande ist zweifellosvon hohem erzieherischen Wert, denn dort wird immer ›richtig‹ gewählt,während das <strong>in</strong> den von den Alliierten besetzten Ländern nicht der Fallist!« Diese Entgleisung überstand Bardi zwar, aber die nächste brachte ihnzu Fall. Er war bei den täglich <strong>in</strong> hoher Auflage gedruckten Friss Ujság[Spätnachrichten] Chef vom Dienst, als <strong>in</strong> Budapest e<strong>in</strong>e große»Friedensdemonstration« über die Bühne g<strong>in</strong>g. Zum allgeme<strong>in</strong>enEntsetzen prangte am nächsten Tag auf dem Titelbild direkt nebenriesigen Konterfeis von Stal<strong>in</strong> und Rákosi e<strong>in</strong> Plakat mit der Aufschrift:»An den Galgen mit den Kriegsverbrechern!« Sämtliche Beteiligtenwurden entlassen – Bardi, der Chefredakteur, der Photograph und sogarder Setzer. Vásárhelyi, an sich e<strong>in</strong> Freund der Familie, eröff nete Bardiaufgebracht: »Damit haben Sie sich e<strong>in</strong>e parteipolitische Schulung bei denArbeitern e<strong>in</strong>gehandelt.« Bardi wurde für die nächsten drei Jahrezwangsweise als Schweißer <strong>in</strong> der nächst gelegenen Werft e<strong>in</strong>gesetzt.ÁÎFür Angehörige der gebildeten Schicht war das Zusammense<strong>in</strong> mit112


waschechten Proletariern e<strong>in</strong> Schock. Der Vorsitzende der Kle<strong>in</strong>landwirte-Partei Sándor Kiss entdeckte 1953 bei se<strong>in</strong>er Zwangsarbeit <strong>in</strong> e<strong>in</strong>erZiegelfabrik, daß die dortigen Arbeiter Rákosi und se<strong>in</strong> System ganz offenzum Teufel wünschten.ÁÏE<strong>in</strong>em kommunistischen Studenten, der im Mátyás-Rákosi-Stahlwerk<strong>in</strong> der Nähe von Budapest im E<strong>in</strong>satz war, begegnete nur Haß gegenüberdem Rákosi-Regime – 1953 waren die Arbeiter nahe daran, im Werk alleskurz und kle<strong>in</strong> zu schlagen.ÁÌDer fünfzigjährige Zuschneider aus e<strong>in</strong>er Schuhfabrik sagte: »DieArbeiter glaubten ke<strong>in</strong> Wort mehr, nachdem ihnen von den Kommunistennur leere Versprechungen gemacht worden waren.«ÁÓ Und e<strong>in</strong> Arbeiter ausCsepel me<strong>in</strong>te: »Uns wurde das Blaue vom Himmel versprochen, abergleichzeitig wurden wir unterdrückt und <strong>in</strong>s tiefste Elend gestürzt.«ÁÔCsepel galt als Paradestück sozialistischer Errungenschaften. Indiesem ständig unter e<strong>in</strong>er Dunstglocke von Abgasen liegendenIndustriearchipel vor den Toren Budapests stellten 36.000 Arbeiter <strong>in</strong>sechzehn Großbetrieben Waffen, Munition und schwere Masch<strong>in</strong>en her.Die MÁVAG, Lokomotiven- und Werkzeugfabrik, durfte auf ke<strong>in</strong>erBesichtigungstour für ausländische Diplomaten fehlen. Besuchern wurdedie neue Arbeitersiedlung mit 4000 Häusern nebst Kühlschrank und Badvorgeführt.Eigentlich hätte Csepel e<strong>in</strong>e kommunistische Hochburg se<strong>in</strong> müssen.Das war aber ke<strong>in</strong>eswegs der Fall. Die Arbeiter zogen Fußball oder ihreStammkneipe der Politik vor, wie e<strong>in</strong>er von ihnen erklärte. Außer e<strong>in</strong> paarkommunistischen »Großmäulern« waren sie alle Sozialdemokraten.Kommunistische Propagandafunktionäre versuchten, sie <strong>in</strong> die zweistündigenParteisem<strong>in</strong>are zu treiben – diejenigen, die die Werbetrommelrührten, sicherten sich damit »Ruhm« und Sonderzulagen.Widerspenstige wurden von den Funktionären bis zum Arbeitsplatzverfolgt. Die e<strong>in</strong>leitende Phrase lautete gewöhnlich: »Übrigens, lesen SieZeitungen?« und wurde meistens mit der abweisenden Antwort abgespeist:»Ich lese nur Comic-Hefte.«ËÊE<strong>in</strong> sechsundzwanzigjähriger Budapester Ingenieur berichtete.dazu:113


»Als der Parteisekretär mich <strong>in</strong> der Fabrik ansprach, wollte er zumBeispiel wissen, was ich von e<strong>in</strong>em Streik <strong>in</strong> London hielt. Worauf icherklärte, dies sei e<strong>in</strong>e gute Sache. Die Antwort der Arbeiter fielgrundsätzlich zustimmend aus. Ich glaube, die Führer derKommunistischen Partei <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> hatten ke<strong>in</strong>e Ahnung von der wahrenE<strong>in</strong>stellung der Arbeiterschaft. Die gesamte Parteihierarchie hatte nurInteresse daran, die eigene Stellung abzusichern und zu berichten, daß <strong>in</strong>ihrem Wirkungsbereich alles <strong>in</strong> bester Ordnung sei. Wenn man sich dannauf höchster Ebene e<strong>in</strong>en Überblick verschaffen wollte, erschien alles <strong>in</strong>rosigem Licht.«ËÁEs ist nicht von der Hand zu weisen, daß die Ortsfunktionäre ihrenVorgesetzten ständig ihre schweren Mißerfolge verschwiegen. Nehmenwir als Beispiel e<strong>in</strong>en typischen zähen Burschen von siebzehn Jahren, der<strong>in</strong> den Docks von Csepel arbeitet und fasz<strong>in</strong>iert vom Seemannsgarn überdas tolle Leben <strong>in</strong> Italien oder Frankreich die Matrosenkneipen unsichermacht.ËË Dieser Junge glaubt nicht mehr an die Heldentaten sowjetischerAdmirale, sondern er verschl<strong>in</strong>gt jedes erreichbare Buch über AdmiralNelson und se<strong>in</strong>e großen Seeschlachten. Se<strong>in</strong> Vater, e<strong>in</strong> abgearbeiteterWerkselektriker, nimmt ihn <strong>in</strong>s Gebet, weil er nur noch davon träumt, zurSee zu gehen.»Das Leben auf See ohne strenge Diszipl<strong>in</strong> ist nicht möglich«, wirdder junge Bursche später nachdenklich erklären, »und ich übe michständig dar<strong>in</strong>. Ich putze me<strong>in</strong>e Schuhe stets blitzblank, und abends legeich me<strong>in</strong>e Kleider immer ordentlich zusammen.« Aber da se<strong>in</strong> Onkelehemaliger Armeeoffizier war, zerstören die Kommunisten e<strong>in</strong> für allemalse<strong>in</strong>e Hoffnungen, <strong>in</strong> die Mar<strong>in</strong>ekadettenschule e<strong>in</strong>treten zu können. »Dubist ungeeignet, Genosse!« hatte man ihm mitgeteilt. Der Bescheid klangendgültig. Was nun? »Im letzten Schuljahr fühlte ich mich totalverlassen«, er<strong>in</strong>nert er sich bei der Befragung im April 1957. »Me<strong>in</strong>eZukunft schien mir ohne jede Hoffnung.« Was bleibt ihm anderes übrig,als weiter mit se<strong>in</strong>en Eltern <strong>in</strong> dem E<strong>in</strong>zimmer-Elendsquartier <strong>in</strong> Csepelzusammenzuleben und geme<strong>in</strong>sam mit se<strong>in</strong>en beiden besten Freunden –e<strong>in</strong>em Priesterschüler und e<strong>in</strong>em Klassenkameraden, der Masch<strong>in</strong>enbau-114


<strong>in</strong>genieur werden will – se<strong>in</strong>e enttäuschten Hoffnungen zu hegen und zupflegen. Se<strong>in</strong>e Freunde seien zwar »Nieten«, sagt er ger<strong>in</strong>gschätzig, abersie teilen se<strong>in</strong>e Leidenschaft für Wandern und Fischen und s<strong>in</strong>d außerdem,wie er, fasz<strong>in</strong>iert von Gewehren mit abgesägtem Lauf. Mädchen? – Nichtszu machen! Die wollen immer nur ausgeführt werden, und das kostetzuviel Geld. Gewehre! – Ja, das ist etwas für Männer! Die drei jungenLeute kaufen zusammen alte Karab<strong>in</strong>er aus dem Zweiten Weltkrieg undkürzen den Lauf auf Pistolenlänge, damit sich die Waffe leichterverstecken läßt: Ausgerechnet der Priesterschüler entwickelt die perfekteTechnik, mit der der Lauf fe<strong>in</strong> säuberlich r<strong>in</strong>gsherum angesägt wird, damiter nach Abgabe e<strong>in</strong>es Schusses <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er vollen Wassertonne abknickt,ohne die Züge zu beschädigen. Das wird der »Knüller« <strong>in</strong> Csepel. DerJunge erzählt es se<strong>in</strong>en Kumpels vom Boxvere<strong>in</strong>, sie lassen sich zeigen,wie es gemacht wird, und jeder versteckt se<strong>in</strong>e so entstandene tödlicheWaffe für den Tag, an dem er vielleicht die Chance erhält, sich den Wegaus se<strong>in</strong>er persönlichen hoffnungslosen Sackgasse freizuschießen. Siewird kommen, diese Chance – im Oktober 1956.115


12Die TretmühleIM DEZEMBER 1956 wurde <strong>in</strong> den Flüchtl<strong>in</strong>gslagern rund um Wien e<strong>in</strong>eMe<strong>in</strong>ungsbefragung durchgeführt.1000 Flüchtl<strong>in</strong>ge, deren persönliche Verhältnisse e<strong>in</strong>en repräsentativenQuerschnitt der gesamten ungarischen Bevölkerung darstellten, wurdenausgewählt und über ihr Verhalten, ihre Me<strong>in</strong>ungen und Motive für ihreFlucht befragt.Á Für ihre Unzufriedenheit machten sie gleichermaßen dieverheerende wirtschaftliche Lage und »politische Faktoren«verantwortlich – die ÁVH, sowjetische Terrormethoden und dieE<strong>in</strong>schränkung ihrer persönlichen Freiheit. Die Me<strong>in</strong>ungsforscherschlossen daraus, daß es ke<strong>in</strong> spezifisches Element war, das den <strong>Aufstand</strong>ausgelöst hatte. »Die Leute waren e<strong>in</strong>fach am Ende ihrer Geduld – siekonnten die Hoffnungslosigkeit, den Betrug und all das andere nicht mehrertragen.«Das waren also die Hauptbeschwerden. Die Flüchtl<strong>in</strong>ge fühlten sichdurch die Machtergreifung der Kommunisten <strong>in</strong> jeder H<strong>in</strong>sicht beh<strong>in</strong>dert.Sie hatten sich Ziele <strong>in</strong> ihrem Leben gesetzt und gaben nun dem Regimedie Schuld, daß sie diese Ziele nicht erreichen konnten, weil sie entwederke<strong>in</strong>e Parteimitglieder waren oder ungünstige Beurteilungen <strong>in</strong> ihrenPersonalakten hatten. Beförderungen h<strong>in</strong>gen häufig von der Laune derPartei ab. Und selbst diejenigen, die sich den Gipfeln des Erfolgesnäherten, waren verärgert, daß Parteibonzen oder jene, die <strong>in</strong> Moskau»überw<strong>in</strong>tert« hatten, ziemlich mühelos schon vor ihnen dort angekommenwaren.Aber es waren nicht nur die großen D<strong>in</strong>ge, die den Menschen auf die116


Nerven g<strong>in</strong>gen. E<strong>in</strong> Mann führte die e<strong>in</strong>zelnen Gründe der allgeme<strong>in</strong>enUnzufriedenheit auf: »Die Folterungen, die Tatsache, daß man verhaftetund für Jahre <strong>in</strong>s Gefängnis gesteckt werden konnte, ohne jemals etwasgetan zu haben. Daß man sagen mußte, woran man selbst nicht glaubte.Nur e<strong>in</strong> Glas Bier zu bekommen, war schon e<strong>in</strong> Ärgernis: Man mußteSchlange stehen, und wenn man drankam, war das Glas entwederschmutzig oder nicht voll, aber sagen durfte man nichts. Überall mußteman Schlange stehen. Die Busse waren überfüllt. Aufzüge funktioniertennicht, und man konnte nicht e<strong>in</strong>mal Sch<strong>in</strong>ken kaufen, selbst wenn man essich hätte leisten können.«ËBesonders unter den Gebildeten war die Ablehnung unüberw<strong>in</strong>dlichund tief verwurzelt.Nehmen wir das Beispiel e<strong>in</strong>er nervösen, zierlichen jungen Ärzt<strong>in</strong>, dieam 15. März 1957 von dem Soziologen Dr. Richard M. Stephenson vonder Rutgers University <strong>in</strong>terviewt wurde. Sie ist achtundzwanzig Jahre alt,unordentlich gekleidet und verkrampft – e<strong>in</strong>e etwas schwermütige Frau,über ihre ungewisse Zukunft besorgt. Sie arbeitete <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em jüdischenKrankenhaus, <strong>in</strong> dem mehr als die übliche Quote kommunistischer Ärztebeschäftigt war. Da auch das Forschungs<strong>in</strong>stitut, <strong>in</strong> dem ihr Mann tätigwar, von Parteimitgliedern wimmelte, wurden sie beide als Außenseiterbehandelt.ÈIhr Mann ist e<strong>in</strong> sehr fähiger Arzt, der e<strong>in</strong>e Ausbildung als Diagnostikerfür angeborene Herzanomalien h<strong>in</strong>ter sich hat – aber er istSudetendeutscher, und sie kann Deutsche nicht ausstehen. (»Sie haben <strong>in</strong>Europa alle Kriege angezettelt, sie blicken auf andere Nationen herab, sies<strong>in</strong>d unfreundlich und s<strong>in</strong>d immer so gewesen«, ist ihre Me<strong>in</strong>ung.)Innerhalb ihrer Familie gab es e<strong>in</strong> ungewöhnliches Problem. »Me<strong>in</strong>Bruder«, sagt sie, »ist e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d aus der ersten Ehe me<strong>in</strong>er Mutter undhalbjüdisch. Während des Naziregimes <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> wurde er ständigverfolgt. Deshalb sympathisierte er mit den Kommunisten. Er war derMe<strong>in</strong>ung, daß bei den Kommunisten konfessionelle Unterschiede ke<strong>in</strong>eRolle spielten. Me<strong>in</strong>e Familie bedauerte diese Auffassung sehr und wardarüber etwas verbittert.«117


Stephenson fragt, ob sie seit ihrer Flucht aus der Heimat etwas vonihm gehört habe.»Me<strong>in</strong> Bruder war dagegen, daß wir g<strong>in</strong>gen . . . In e<strong>in</strong>em Brief warf eruns vor, daß wir lediglich das Abenteuer suchten und als gute <strong>Ungarn</strong>niemals die Heimat hätten verlassen dürfen.«»Was waren Ihre hauptsächlichen E<strong>in</strong>wände gegen das Regime?«fragte Stephenson.Sie denkt nach und zählt dann e<strong>in</strong>e ganze Reihe von Gründen für ihreUnzufriedenheit auf. »Individualität war verpönt. In alles steckten dieKommunisten ihre Nase – von der Liebe bis zur Arbeit. Man konnte se<strong>in</strong>eigenes Leben nicht so gestalten, wie man es wollte. Vor allem war ichverbittert darüber, daß Posten nicht aufgrund von Befähigung, sondernnach politischer Ges<strong>in</strong>nung verteilt wurden. Me<strong>in</strong> Mann war hochqualifiziert,aber er mußte drei Jahre <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Prov<strong>in</strong>zkrankenhaus arbeiten,bevor er nach Budapest kommen konnte . . . Nur Parteimitglieder kriegtengute Posten.«Die allgeme<strong>in</strong>e Empörung über unfähige rote »Experten« saß tief underbitterte jeden e<strong>in</strong>zelnen. Die Amerikaner <strong>in</strong>terviewten später e<strong>in</strong>enbaumstarken siebenunddreißigjährigen Werkzeugmacher, der, als die Zeitreif ist, gegen die Kommunisten rebelliert und mit se<strong>in</strong>en eigenen Händene<strong>in</strong>en Oberst auf dem Platz der Republik schleppt, wo dieser dann von derMenge gelyncht wird. Die Roten haben ihm se<strong>in</strong> Motorradgeschäftweggenommen, die ÁVH hat ihn grundlos verhaftet und e<strong>in</strong>gekerkert undihn dann wieder freigelassen und ihn bis zum äußersten gereizt. Er machte<strong>in</strong>en ruhigen und besonnenen E<strong>in</strong>druck bis zu dem Augenblick, als ererzählt, wie er se<strong>in</strong>e beiden K<strong>in</strong>der bei der Geburt verloren hat: e<strong>in</strong>es mitelf Tagen und das andere als Frühgeburt. »Das Baby ertrank im Blut«,schluchzt er. »Am liebsten hätte ich den Arzt umgebracht – er warKommunist. Er hatte ke<strong>in</strong>e Lust, um e<strong>in</strong> Uhr nachts <strong>in</strong> den Kreißsaal zukommen, sondern legte sich e<strong>in</strong>fach wieder schlafen. Das ist e<strong>in</strong>egefährliche Verbrecherbande. Darum haben die Revolutionäre so vielevon ihnen umgebracht. Jeder e<strong>in</strong>zelne von ihnen hatte e<strong>in</strong>en hundertfachenTod verdient.«Í118


An der Universität wird jeder Student <strong>in</strong> der marxistischen Lehregeprüft. »Du kannst nur e<strong>in</strong> guter Arzt se<strong>in</strong>, wenn du auch e<strong>in</strong> guterMarxist bist!« lautete die Parole. Nur e<strong>in</strong> l<strong>in</strong>ientreuer Kommunist wird alszuverlässiger Chirurg angesehen.E<strong>in</strong> typischer Fall ist die Geschichte e<strong>in</strong>es Chirurgen, der 1954 alsAssistent an der Budapester Universität arbeitet. Er muß <strong>in</strong> die Parteie<strong>in</strong>treten, um voranzukommen. Aber se<strong>in</strong>e Verpflichtungen der Parteigegenüber s<strong>in</strong>d so aufreibend, daß er sich e<strong>in</strong> Magengeschwür zuzieht. Andrei Abenden <strong>in</strong> der Woche muß er an Parteikursen teilnehmen, oder mandroht ihm mit bissigen Bemerkungen, wie: »Genosse, Sie werden zupassiv!«An diesen Kursusabenden br<strong>in</strong>gen ihm Parteifunktionäre vom Arzt biszur Küchenhilfe die Richtl<strong>in</strong>ien der KP bei. Geme<strong>in</strong>sam wird täglich dasParteiorgan Freies Volk gelesen. Er und e<strong>in</strong> anderer Parteigenosse müssenan Wochenenden ahnungslosen Familien überraschende Besuche machen,um über Weltereignisse und die Segnungen des Marxismus zu dozieren,denn schließlich genießen Ärzte besonderes Vertrauen. Danach hat jederüber das Verhalten des anderen e<strong>in</strong>en Bericht zu verfassen, der dann <strong>in</strong> diePersonalakte kommt.ÎDie schlechtesten Personalakten haben die »Klassenfe<strong>in</strong>de«. Das s<strong>in</strong>dBürger, die sich das Mißfallen der Partei zugezogen haben, die nichtproletarischer Herkunft s<strong>in</strong>d, die Offiziere der Horthy-Armee waren, diepolitisch auf der falschen Seite standen oder Freunde beziehungsweiseVerwandte im Westen hatten. Diese »Klassenfe<strong>in</strong>de« wurden dannverfolgt, schikaniert und e<strong>in</strong>gesperrt. Wer mehr als drei Leutebeschäftigte, erhielt bereits das verhängnisvolle Kreuz <strong>in</strong> der oberenl<strong>in</strong>ken Ecke se<strong>in</strong>er Karteikarte: »Klassenfe<strong>in</strong>d«.Geschäftsleute, Grundeigentümer und Aristokraten fanden sichplötzlich als Straßenkehrer, Kraftfahrer oder an der Drehbank wieder. E<strong>in</strong>typischer Klassenfe<strong>in</strong>d ist der dreiunddreißigjährige Budapester BusfahrerGyörgy Bastomov.Ï Die Busgesellschaft benötigt ständig Fahrer und hatdeshalb e<strong>in</strong> Auge angesichts se<strong>in</strong>er nicht ganz astre<strong>in</strong>en Karteikartezugedrückt. Se<strong>in</strong> Vater, ehemals Oberst bei der Leibgarde des Zaren, war119


nach der bolschewistischen Revolution nach <strong>Ungarn</strong> geflüchtet. Se<strong>in</strong>eFrau hat ke<strong>in</strong>e Zähne; das ist e<strong>in</strong>e Er<strong>in</strong>nerung an e<strong>in</strong>endreiunddreißigtägigen Aufenthalt im Gewahrsam der ÁVO im Jahre 1948.Zuvor war er Chauffeur e<strong>in</strong>es Würdenträgers der Partei. Aber nachdemihn der hohe Herr zwei Tage h<strong>in</strong>tere<strong>in</strong>ander ohne Mittagessen hatte wartenlassen, sagte er ihm <strong>in</strong>s Gesicht: »Wollen Sie auf diese Art dasEvangelium des Kommunismus verbreiten?« Dann legte er se<strong>in</strong>e Arbeitnieder. Diese Majestätsbeleidigung brachte ihm e<strong>in</strong>e sechsmonatigeGefängnisstrafe e<strong>in</strong>. »Unter dem Kommunismus«, so philosophiertBastomov gegenüber se<strong>in</strong>en Kollegen, »hast du immer e<strong>in</strong>en Fuß imGefängnis und den anderen im Grabe.«Die Arbeiter fühlten sich betrogen und verraten. E<strong>in</strong> Werkzeugmachererläuterte, wie die Werktätigen auf ihre Weise dem System Schadenzufügten: »Ich mußte ausrechnen, wieviel Material im Monat gebrauchtwurde, und dann die Berichte machen. Manchmal bekamen wir mehrMaterial, als benötigt wurde – es gab viel Fehlplanung –, dann pflegtenwir dieses Material e<strong>in</strong>fach zu vernichten. Gewaltige Materialmengenwurden auf diese Weise zerstört. Dasselbe passierte auch <strong>in</strong> anderenFabriken. Auch nahmen wir, wann immer es möglich war, Materiale<strong>in</strong>fach mit nach Hause. Ich tat alles, was ich konnte, um denKommunismus zu schädigen.«ÌRákosis Industrialisierungskampagne machte unter allen Arbeiternböses Blut. Sie beruhte auf erzwungener Arbeitsleistung unter Anwendunge<strong>in</strong>es Lohnsystems auf der Basis von Akkord-»Normen«, die regelmäßigheraufgeschraubt wurden, so daß die Arbeiter niemals ihren Lebensstandardverbessern konnten, so schwer sie auch schufteten. Um mehr alsdas tägliche Brot zu verdienen, fälschten die Werktägigen munter dieProduktionszahlen und machten dadurch die Planwirtschaft zu e<strong>in</strong>er Farce.Die freie Wahl des Arbeitsplatzes war e<strong>in</strong>geschränkt. Für ger<strong>in</strong>gfügigeÜbertretungen der Vorschriften gab es empf<strong>in</strong>dliche Bugen, und ständigwurden »Kampagnen« zu Ehren zahlloser besonderer Ereignissepropagiert. Alle<strong>in</strong> <strong>in</strong> den elf Monaten, die dem Februar 1951120


vorausg<strong>in</strong>gen, gab es sieben solcher Kampagnen: den Tag der»Befreiung«, den 1. Mai, e<strong>in</strong>e »Koreawoche«, Rákosis Entlassung ausdem Gefängnis, die Russische Oktoberrevolution und zahlreiche andereAnlässe für sozialistische Freudenfeste. Für die Arbeiter bedeutete dasunbezahlte Überstunden.In den fünf Jahren bis 1954 sank die reale Kaufkraft um zwanzigProzent: Selbst 1956 betrug der Durchschnittslohn nur 1212 For<strong>in</strong>t imMonat.Ó Nur fünfzehn Prozent der Familien verfügten über das vomRegime selbst festgesetzte M<strong>in</strong>deste<strong>in</strong>kommen; fünfzehn Prozent derArbeiter besagen ke<strong>in</strong>e Wolldecken, zwanzig Prozent hatten ke<strong>in</strong>enW<strong>in</strong>termantel.»Man versprach den Leuten, daß sich der Lebensstandard der Arbeiterim Laufe des ersten Fünfjahresplans um fünfzig Prozent erhöhen würde«,schrieb Imre Nagy später. »In Wirklichkeit g<strong>in</strong>g der Lebensstandard (trotze<strong>in</strong>er Steigerung der Industrieproduktion – ausgehend von 100 im Jahre1949 – zwischen 1950 und 1954 von 180 auf 300) bis 1953 ständig zurückund erhöhte sich dann lediglich um fünfzehn Prozent als Resultat derPolitik des neuen Kurses. Im Vergleich mit 1949 gelang es den Arbeitern,die Industrieproduktion zu verdoppeln, die Arbeitsproduktivität umdreiundsechzig Prozent zu steigern und die Kosten zu senken; doch trotzallem blieben ihre Löhne <strong>in</strong>sgesamt auf dem Niveau von 1949 stehen.«ÔInzwischen lief die marxistische Tretmühle immer schneller. DieWerktätigen arbeiteten, und die Funktionäre schauten zu. Die Arbeiterwurden gezwungen, »Friedensanleihen« zu zeichnen. Falls sie sichweigerten, drohten ihnen Entlassung oder gar Verhaftung. Als e<strong>in</strong> Mannnamens Gál se<strong>in</strong>e Arbeit <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Fabrik aufnahm, stellte er fest, daß man<strong>in</strong> jedem Herbst von den Arbeitern den Kauf von »Friedensanleihen«erwartete, die e<strong>in</strong> ganzes Monatsgehalt kosteten. Gál der Gärtner gelernthatte, war nach Budapest gezogen und hatte zuvor <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er kle<strong>in</strong>enHandwerksgenossenschaft gearbeitet, die Fahrräder herstellte. Erverdiente lediglich 1000 For<strong>in</strong>t im Monat. Als er beschloß, lediglich für300 For<strong>in</strong>t Anleihen zu kaufen, drohte ihm der Fabrikdirektor mit e<strong>in</strong>er121


Lohnkürzung und warf ihn schließlich h<strong>in</strong>aus, als er sich weigerte, mehrzu zahlen.ÁÊÜberall, <strong>in</strong> den Fabriken, Büros, Universitäten, Museen, hatte manKontrolluhren zu passieren. Manchmal waren die Stechuhren schonaufgestellt, bevor <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Gebäude die Installationen gelegt waren. Werzu spät kam, fand sich am Schwarzen Brett als lebensgroße Karikature<strong>in</strong>es Neandertalers wieder, aus dessen mit Vampirzähnen geschmücktemMaul e<strong>in</strong>e Sprechblase mit den Worten stieg: »Heute habe ich denImperialisten geholfen.«E<strong>in</strong> typisches Beispiel ist die Fabrik Mofem bei Mosonmagyaróvár:Diese Firma hatte vor dem Kriege 400 Mann beschäftigt, die von zehnMeistern beaufsichtigt wurden, während <strong>in</strong> der Verwaltung zehn Angestelltesagen. Unter dem neuen marxistischen Regime wurden dreimal soviele Arbeiter beschäftigt, aber denen halste man zehnmal so vieleunproduktive Aufseher auf, während der Unterbau mit dreißig »Gewerkschaftsfunktionären«,fünfzig Parteibonzen und dreißig Werkspolizistenüberlastet wurde.ÁÁDiese Bürokratie tötete jegliche Initiative, ob <strong>in</strong> der Fabrik oder <strong>in</strong> derLandwirtschaft. Staatliche Produktionskontrolle führte zu schlechterQualität, weil sich niemand Mühe gab. Privat<strong>in</strong>itiative wurde unterdrückt.In Óvár gab es noch e<strong>in</strong> paar private Schuhmacher, aber diese erhieltenkaum genug Leder für Reparaturzwecke.ÁËEs gab wenig Konsumgüter, und die waren teuer und m<strong>in</strong>derwertig.E<strong>in</strong> schäbiger Anzug kostete 2000 oder 3000 For<strong>in</strong>t, also mehr als zweiMonatslöhne e<strong>in</strong>es durchschnittlichen Arbeiters. E<strong>in</strong> Paar Stiefel kostete280 For<strong>in</strong>t (die Herstellungskosten für e<strong>in</strong> solches Paar betrugen 78 For<strong>in</strong>tund wurden an die Sowjetunion für weniger als 16 For<strong>in</strong>t verkauft). Die<strong>Ungarn</strong> konnten immer noch ke<strong>in</strong>e Kleidung aus Kunstfaser kaufen.Ebensowenig Nylonstrümpfe, Kühlschränke oder Waschmasch<strong>in</strong>en. E<strong>in</strong>begrenztes Fernsehsystem befand sich im Experimentierstadium, kam abernur Mitgliedern des Politbüros und ausgewählten M<strong>in</strong>istern zugute. Dieger<strong>in</strong>ge Möbelproduktion deckte nur e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en Teil des Bedarfs: 1953wurden 7500 Küchene<strong>in</strong>richtungen und 7000 Schlafzimmer hergestellt,122


die den Bedarf des gesamten Landes und die Exportverpflichtungenbefriedigen sollten.ÁÈPrivate Autos gab es praktisch überhaupt nicht. Zwischen 1949 unddem <strong>Aufstand</strong> wurden lediglich 6846 Wagen importiert, die zu den 12.000bereits im Lande bef<strong>in</strong>dlichen h<strong>in</strong>zukamen. Wenn man von 20.000 Wagenim Jahre 1956 ausgeht, so kam man auf e<strong>in</strong> Auto für 500 E<strong>in</strong>wohner,verglichen mit 1 zu 11 <strong>in</strong> Großbritannien und 1 zu 10 <strong>in</strong> Frankreich.Dieser Mangel hatte ernste Nebenwirkungen. Besonders zu leidenhatte das staatliche 1000-Betten-Krankenhaus <strong>in</strong> Engelsfeld, demElendsviertel von Budapest. Obgleich das frühere Kodakunternehmen <strong>in</strong>Vác immer noch Röntgenfilme herstellte, waren diese <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> fastüberhaupt nicht zu haben, da sie ausschließlich für den Export bestimmtwaren. Das Krankenhaus verfügte über e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>zigen, älteren,gebrauchten Lieferwagen und überhaupt ke<strong>in</strong>en Krankenwagen, obgleiches e<strong>in</strong>e Entb<strong>in</strong>dungsstation hatte. Die Ärzte kannten die neuesten ausländischenMedikamente, konnten sie aber nicht bekommen. E<strong>in</strong>e eigens dafürgebildete Ärztekommission entschied über die Zuteilung von Streptomyc<strong>in</strong>für jedes Krankenhaus. Bettzeug mußte durch »Rahmenverträge«bestellt werden, die mit e<strong>in</strong>er Krankenhausversorgungsfirma abgeschlossenwurden. Die Verträge bedurften der Genehmigung durch örtlicheGesundheitsbehörden – e<strong>in</strong> Verfahren, das Monate dauerte –, und dannmußte das Krankenhaus das nehmen, was die Firma gerade produzierthatte. Und das stand oft <strong>in</strong> gar ke<strong>in</strong>er Beziehung zu dem, was imAugenblick gebraucht wurde.ÁÍAllmählich sank das Land immer mehr <strong>in</strong> Not und Elend. Während bis1949 die meisten Kriegsschäden an Wohnhäusern beseitigt worden waren,wurden nur 103.000 der von Rákosi <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Fünfjahresplan vorgesehenen220.000 Wohnungen gebaut, die meisten davon durch private undnicht durch staatliche Bauträger. Im gleichen Zeitraum wurden aber42.500 Wohnungen abbruchreif. Nur wenige Familienwohnungen hattenmehr als e<strong>in</strong> Zimmer, und lediglich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er von fünf gab es fliegendWasser. Von 1949 bis 1955 wuchs die Bevölkerung des Landes um 7,1Prozent, die Zahl der Wohnungen stieg aber lediglich um 3,9 Prozent. Auf123


jeweils 100 Zimmer gab es <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> 264 Bewohner. In Budapest, dasständig neue Industriearbeiter aufnehmen mußte, wurde die Lage kritisch.Bis zum Juli 1954 verfügte der durchschnittliche E<strong>in</strong>wohner nur über 8,4Quadratmeter Wohnraum, also weniger als die Größe e<strong>in</strong>es Eisenbahnabteils.Junge Ehepaare, die nicht <strong>in</strong> der Lage waren, sich e<strong>in</strong>e eigeneWohnung zu kaufen, mußten zu ihren Eltern ziehen oder schäbige Zimmermieten.Den Parteiführern und anderen Funktionären blieben solche Härtenerspart. Rákosi, Gerö, Farkas und Révai hatten üppige Villen außerhalbder Hauptstadt am Freiheitsberg. Ihre Grundstücke waren abgeschirmtdurch ÁVH-Wachen und scharfe Hunde. Der Bau der Villen hatte 26Millionen For<strong>in</strong>t gekostet.Die ÁVH-Angehörigen bezogen besonders hohe Gehälter und Spesen.Auch die kommunistischen Schriftsteller waren weich gebettet: DieBücher l<strong>in</strong>ientreuer kommunistischer Autoren wie Béla Illés, der währenddes Krieges <strong>in</strong> Moskau gelebt hatte, erfreuten sich mehrfacher Auflagen,doch wanderten sie geradewegs von der Buchb<strong>in</strong>derei <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Warenhaus,wo sie nach e<strong>in</strong>er Anstandsfrist e<strong>in</strong>gestampft wurden. Während des Jahres1951 wurden fast sechzig Millionen Bücher gedruckt; und zwar über12.000 verschiedene Titel. Aber nachdem e<strong>in</strong>e Zeitung im September1952 anläßlich der ersten Buchfestival-Woche berichtete, daß derBestseller <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> seit der »Befreiung« 1945 die Geschichte derKommunistischen Partei der Sowjetunion war, kann die Auswahl nichtsonderlich groß gewesen se<strong>in</strong>.ÁÎIm Jahre 1951 enthüllte József Révai <strong>in</strong> Budapest e<strong>in</strong> riesigesBronzedenkmal von Stal<strong>in</strong>. »Das ist e<strong>in</strong> Denkmal«, rief er voller Stolz,»aus der Seele unserer Nation . . . E<strong>in</strong> ungarisches Monument.« Stal<strong>in</strong>sStiefel standen auf e<strong>in</strong>em Sockel aus rotem Kalkste<strong>in</strong>, der neun Meterhoch über dem Platz ragte. In gewisser Weise war es symbolisch: Dersowjetische Große Bruder war allgegenwärtig. Universitäten lehrtensowjetische Parteigeschichte. In sowjetischen Lehrbüchern wurdenachgeschlagen. Juristische Fakultäten lehrten sowjetisches Recht.124


Russischer Sprachunterricht war Pflichtfach. Wenn man alsMediz<strong>in</strong>student krank wurde und nicht <strong>in</strong> der Lage war, mehr als zweiStunden täglich se<strong>in</strong>em Studium zu widmen, pflegte der Dekan se<strong>in</strong>erMediz<strong>in</strong>ischen Fakultät ihm den Rat zu geben, die Zeit zum Studium derrussischen Sprache und des Marxismus zu nutzen.ÁÏ Über Shakespearekonnte man nicht schreiben, ohne <strong>in</strong> ehrfürchtigen Fußnoten auf dieMe<strong>in</strong>ungen sowjetischer Experten über den Dichter h<strong>in</strong>zuweisen. SolcheExperten waren oft von recht fragwürdiger Herkunft: E<strong>in</strong> Dozent, der imneuen Len<strong>in</strong><strong>in</strong>stitut der Stadt über den Marxismus las, entpuppte sich alsehemaliger Turnlehrer aus Eriwan.ÁÌUnterdessen wurden die <strong>Ungarn</strong> mit sowjetischer »Kultura« vollgestopft.Bis zum März 1952 waren <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> sechs Millionen Exemplarevon Büchern sowjetischer Autoren publiziert worden. Irgende<strong>in</strong>unbekannter mongolischer Schriftsteller wurde <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Erstauflage mit10.000 Stück gedruckt, während e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>heimischer Autor mit 3000 Stückabgespeist wurde. »Das spöttische Lächeln unserer Lehrer«, er<strong>in</strong>nert siche<strong>in</strong> Landwirtschaftsschüler, »verriet häufig genug, wie sie wirklichdachten.« Wenn sich e<strong>in</strong> Schüler ironische Bemerkungen wie: »Zweifellosist dies auch e<strong>in</strong>e sowjetische Erf<strong>in</strong>dung« erlaubte, erntete er beifälligesGekicher von se<strong>in</strong>en Klassenkameraden.ÁÓAll dies war e<strong>in</strong>e schwere Beleidigung für die ungarische Intelligenz.Es verletzte ihren Nationalstolz.Ähnlich schwerwiegend war auch der verderbliche E<strong>in</strong>fluß, den dieSowjets auf die Wirtschaft des Landes ausübten. Auf Rákosis Befehlwurde bei Dunapentele, e<strong>in</strong>er kle<strong>in</strong>en Stadt am Ufer der Donau südlichvon Budapest, e<strong>in</strong> gigantisches Stahlwerk errichtet. Die Stadt wurde <strong>in</strong>»Sztal<strong>in</strong>város« (Stal<strong>in</strong>stadt) umbenannt. Das Erz mußte aus Krasnogorsk<strong>in</strong> der Sowjetunion e<strong>in</strong>geführt werden mit dem Ergebnis, daß das dortproduzierte Roheisen teurer war, als Fertigstahlerzeugnisse aus Österreich.ÁÔVom Maurer bis zum Lokomotivführer brachten die Russen ihre Leute<strong>in</strong>s Land, um die ungarischen Genossen schnelleres Arbeiten zu lehren.125


Russische Bullen wurden mit ungarischen Kühen gekreuzt. SowjetischeExperten schrieben genau vor, wie breit ungarische Mähmasch<strong>in</strong>en zu se<strong>in</strong>hatten, trotz verzweifelter Proteste, daß das ungarische Gelände e<strong>in</strong>eschmalere Schnittfläche erforderte. Das gesamte Landwirtschaftssystemwurde aus den Angeln gehoben: Die forcierte Verr<strong>in</strong>gerung desViehbestands führte zu e<strong>in</strong>er unzureichenden Fruchtbarkeit des Bodens.ËÊDie sowjetische Methode verlangte tiefes Pflügen, was aber bei demflachen Boden <strong>Ungarn</strong>s e<strong>in</strong>e Zerstörung des Humus zur Folge hatte.Traktorstationen wurden e<strong>in</strong>gerichtet, hatten aber offensichtlich vor allemden Zweck, als Reparaturwerkstätten für sowjetische Panzer im Kriegsfallzu dienen.ËÁFür Moskau gab Rákosi das Geld mit vollen Händen aus. Die Russenbetrieben die Eisenbahnen und kontrollierten die Bauxit- und Uranbergwerke.Für den irren Plan, Gummi aus der russischen löwenzahnähnlichenKoksagys-Pflanze zu produzieren, wurden 30 Millionen For<strong>in</strong>t <strong>in</strong>vestiert:Nach zweijähriger Arbeit und der Verwendung von 6000 Morgen Landbelief sich der Ertrag des gesamten Projektes auf weniger als 400 PfundGummi. Danach wurde das Gummigeschäft aufgelöst und der glückloseChef des Unternehmens zur Baumwollproduktion versetzt. Nach e<strong>in</strong>emerfolgreichen Baumwolljahr verdoppelte Rákosi die Anbaufläche, bestandaber trotz aller fachmännischen Warnungen auf der Verwendungrussischen Baumwollsamens; der herkömmliche Anbau von Zwiebeln,Mais und Paprika wurde drastisch e<strong>in</strong>geschränkt. In den beiden nächstenJahren herrschte überwiegend feuchtes Wetter – die Folge war, daß dieBaumwollernte praktisch nicht gepflückt werden konnte. 1954 wurde auchdas Baumwollgeschäft aufgegeben.ËËUm die bittere Wahrheit zu vertuschen, frisierte das Regime ständigdie Produktionsstatistiken – e<strong>in</strong>e der wenigen »progressiven« Eigenschaftendes Marxismus. Am 13. Januar 1952 verkündete Gerö, daß dieIndustrieproduktion im Jahre 1951 30,1 Prozent höher lag als im Vorjahr;diese Bekanntmachung stieß auf höhnisches Gelächter. Das Gelächterverwandelte sich <strong>in</strong> Wut, als im selben Jahr die Arbeitsnormen soheraufgesetzt wurden, daß die Werktätigen Fünfzig- und selbst Sechzig-126


Stunden-Wochen e<strong>in</strong>legen mußten.In e<strong>in</strong>er typischen Meldung des Parteiorgans Freies Volk vom 6. Juli1952 hieß es, daß die Drescharbeiten begonnen hätten und daß für diejenigen Bauern, die ihr Ablieferungssoll nicht b<strong>in</strong>nen achtundvierzigStunden erfüllten, die »Abrechnung auf der Stelle durchgeführt würde«.ËÈAngesichts dieser hohen Ablieferungsverpflichtung, der sie nicht nachkommenkonnten, entschlossen sich die Bauern, die landwirtschaftlicheProduktion rücksichtslos e<strong>in</strong>zuschränken. In den hungernden Städtenstanden die Hausfrauen Schlange vor den immer leerer werdendenLebensmittelgeschäften.Am schlimmsten war der Mangel an Freizeit beziehungsweise anEntscheidungsfreiheit der Menschen, zu arbeiten, wann und wo siewollten. Jedermann mußte im Besitz e<strong>in</strong>es Arbeitsbuches se<strong>in</strong>, zumBeweis dafür, daß er erwerbstätig war. »Ich er<strong>in</strong>nere mich, wie ich mite<strong>in</strong>er Freund<strong>in</strong> kurz vor dem <strong>Aufstand</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Espresso-Café war«,erzählte e<strong>in</strong> fünfundvierzigjähriger Hotelmanager, »plötzlich gab es e<strong>in</strong>ePolizeirazzia durch acht Zivilbeamte. Me<strong>in</strong>e Freund<strong>in</strong> hatte ihrenPersonalausweis nicht bei sich. Darauf wollten die Krim<strong>in</strong>albeamten sieauf der Stelle verhaften.«ËÍIn se<strong>in</strong>en wachen Stunden war der gewöhnliche Bürger voll damitbeschäftigt, von e<strong>in</strong>em Ort zum anderen zu rennen. Die Frauen mußten <strong>in</strong>e<strong>in</strong>er Fabrik arbeiten und außerdem noch ihre Hausarbeit verrichten; siewaren ungepflegt und unzufrieden; sie vermißten die kle<strong>in</strong>en Genüsse, diedas Leben erträglich machen. »Ich hatte nicht e<strong>in</strong>mal Zeit, die Zeitung zulesen«, sagte e<strong>in</strong> siebzehnjähriger Schmied voll Bedauern zu se<strong>in</strong>emBefrager. »Die Arbeit nahm me<strong>in</strong>e ganze Zeit <strong>in</strong> Anspruch.«ËÎGeld war knapp, aber die Straßen und Restaurants waren voll, weil dieWohnungen der Leute zu überfüllt waren, um dort <strong>in</strong> Gemütlichkeit ihreZeit zu verbr<strong>in</strong>gen. Die Budapester Straßenbahnen waren vernachlässigtund unpünktlich. Sie waren so überfüllt, daß es häufig unmöglich war, anden Haltestellen zuzusteigen.Was konnte der Fabrikarbeiter noch mit se<strong>in</strong>er Freizeit anfangen? Esgab die Lotterie, ferner Fußball, dann Angeln an der Donau – und127


schließlich den Alkohol. Im ganzen Land schossen die Kneipen wie Pilzeaus der Erde: im Volksmund wurden sie »Vaterzunft«-Läden genannt.ËÏUnd das Regime ermutigte zum Tr<strong>in</strong>ken. Alkohol war e<strong>in</strong> nützliches»Betäubungsmittel« und brachte dem staatlichen Branntwe<strong>in</strong>monopole<strong>in</strong>en Profit von fünfzig Prozent.Die sexuelle Moral lockerte sich. Während der ersten fünf Jahre deskommunistischen Regimes hatten noch puritanische Sitten geherrscht,aber das änderte sich bald. Anfangs wurde Abtreibung mit lebenslänglichemKerker bestraft. Paare, die sich öffentlich küßten, wurdenverhaftet. In Hotels wurden Razzien durchgeführt, um unverheiratetePaare aufzustöbern. E<strong>in</strong>e dreiundzwanzigjährige Fabrikarbeiter<strong>in</strong> stelltezornig fest: »Sie predigten Wasser – aber tranken We<strong>in</strong>.«ËÌDie meisten der prom<strong>in</strong>enten Funktionäre hielten sich Mätressen, undallmählich wandelten sich die Sitten bis zur offenen Unmoral.ËÓ E<strong>in</strong>Arbeiter der Auto<strong>in</strong>dustrie sagte: »Etwa achtzig bis neunzig Prozent allerFrauen <strong>in</strong> der Fabrik waren zu haben.« Die Geburtenrate g<strong>in</strong>g zurück undmußte durch ungewöhnliche Mittel gefördert werden.ËÔ K<strong>in</strong>derloseEhepaare wurden mit Sondersteuern belegt und Mädchen ermutigt,vorübergehende sexuelle Beziehungen aufzunehmen. In den Kl<strong>in</strong>ikenüberall im Lande h<strong>in</strong>gen Plakate mit dem deutlichen H<strong>in</strong>weis: »Gebärenist der Ruhm des Mädchens und die Pflicht der Frau.«ÈÊ Bis etwa 1953erhielten unverheiratete Frauen 2000 For<strong>in</strong>t für jedes unehelich geboreneK<strong>in</strong>d. Frühe Scheidungen waren häufig und e<strong>in</strong>fach: Ehen konntene<strong>in</strong>seitig aufgelöst werden, zum Beispiel aufgrund »unüberw<strong>in</strong>dlicherideologischer Differenzen«.Gleichzeitig griff die Prostitution um sich. E<strong>in</strong>e erschütternde Anzahljunger ungarischer Männer, die vertraulich von amerikanischen Soziologenbefragt wurden, gaben zu, ihr erstes Erlebnis mit e<strong>in</strong>er Prostituiertengehabt zu haben.ÈÁ »E<strong>in</strong>es Abends«, berichtete e<strong>in</strong> vierundfünfzigjährigerKrankenhausangestellter, »saß ich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Espresso am St.-Stephan-Boulevard. E<strong>in</strong> hübsches Mädchen setzte sich neben mich und sagte mirschon nach kurzer Zeit, daß sie mich für fünfzig For<strong>in</strong>t mit auf ihr Zimmer128


nehmen würde.«Es stellte sich heraus, daß es e<strong>in</strong> Mädchen vom Lande war, das alsKassierer<strong>in</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em staatseigenen Geschäft <strong>in</strong> Budapest arbeitete undmonatlich nur 720 For<strong>in</strong>t verdiente. Die Prostitution blühte, obgleich sieillegal war. 1950 waren die Bordelle geschlossen und die Mädchen alsTaxifahrer<strong>in</strong>nen ausgebildet worden (um dann als Informanten derSicherheitspolizei e<strong>in</strong>gesetzt zu werden). »Die Folge war, daß niemand <strong>in</strong>Budapest es wagte, e<strong>in</strong> Taxi zu nehmen, das von e<strong>in</strong>er Frau gefahrenwurde«, sagte Dr. Pál Hoványi, e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>undfünfzig Jahre alter Behördenangestellter,»denn sie konnten weder fahren, noch kannten sie sich mitden Straßen aus.«All dies lockerte die traditionellen Familienbande, was durchaus imS<strong>in</strong>ne der Partei war. Eltern hatten kaum Zeit für ihre K<strong>in</strong>der, die stattdessen häufig mit anderen Erwachsenen zusammenkamen und unabhängigund unerzogen wurden.ÈË Töchter konnten jetzt <strong>in</strong> andere soziale undvermögende Schichten e<strong>in</strong>heiraten, was zu Neid und Eifersucht <strong>in</strong>nerhalbder Familien führte. Wenn der junge Ehemann »gutes Kadermaterial« war,konnte er schon mit dreiundzwanzig Jahren zum Chef<strong>in</strong>genieur aufsteigenund dadurch den Neid se<strong>in</strong>er eigenen Eltern erregen.Da der Religionsunterricht <strong>in</strong> den Schulen abgeschafft war und derKirchenbesuch zurückg<strong>in</strong>g, verschlechterte sich auch die Moral desöffentlichen Lebens. Volkshelden waren diejenigen, die »das Systemübers Ohr hauten«, das heißt, sich den offiziellen Normen und Kontrollenentziehen konnten. Stehlen, Lügen und Betrügen nahm zu. VerbitterteArbeiter stahlen Werkzeuge und Material, um illegale Heimarbeit zuverrichten. Die Menschen fühlten sich zum Diebstahl gezwungen, weil sieso arm waren, hatten aber ke<strong>in</strong>e Gewissensbisse: »Diebstahl von Staatseigentumgalt nicht als unmoralisch«, sagte e<strong>in</strong> Arbeiter. »Jeder machtedas, selbst die Kommunisten.«ÈÈ »Während der Errichtung des ÁVO-Palasts am Donaukai arbeiteten Nachtwächter und Polizisten zusammen,um den kostbaren Parkettboden sackweise als Feuerholz wegzuschleppen.Andere Arbeiter stahlen alles, was nicht niet- und nagelfest war«, sagte129


Hoványi.ÈÍDer Diebstahl von Staatseigentum wurde sogar als e<strong>in</strong> Schlag <strong>in</strong>sGesicht der Diktatur angesehen: Verstärker, Natrium, Schnaps, Wurstfleisch,Backwerk, Schuhe, Tischlampen, selbst Betten ausKrankenhäusern verschwanden.ÈÎ »Heutzutage«, sagte e<strong>in</strong>vierundfünfzigjähriger E<strong>in</strong>käufer e<strong>in</strong>es großen BudapesterStaatskrankenhauses bedauernd, »ist selbst das Annageln e<strong>in</strong>er Sacheke<strong>in</strong>e Garantie gegen Diebstahl.«ÈÏ Von den Werften wurde Kupfergestohlen. »Ich tue es und me<strong>in</strong>e Freunde auch, und niemand sagtirgende<strong>in</strong>em Menschen etwas darüber«, erklärte e<strong>in</strong> Meister. In denStaatsläden von Közért verkauften die Angestellten Untergewicht undnahmen den Rest mit nach Hause. Wenn Familienmitglieder kamen,ließen die Kassierer<strong>in</strong>nen e<strong>in</strong> halbes Kilo bezahlen und gaben zehn aus.Da Butter verpackt war und nicht mit Untergewicht verkauft werdenkonnte, pflegten die Leiter von Közért nur ger<strong>in</strong>ge Mengen zu bestellen;das Resultat war e<strong>in</strong>e offensichtlich chronische, aber absolut künstlicheButterknappheit.ÈÌEs schien, als ob die gesamte marxistische Wirtschaft darauf angelegtsei, soviel wie möglich <strong>in</strong>direkte Mittel und Wege zu erf<strong>in</strong>den, um denMann auf der Straße zu verbittern. E<strong>in</strong>es der deutlichsten äußerlichenSymptome dieser unterdrückten Wut waren schlechte Nerven. Höflichkeitund Hilfsbereitschaft gehörten der Vergangenheit an. Die höfliche Anredeur, Herr, geriet <strong>in</strong> Vergessenheit. Nicht-Parteimitglieder verwendeten nurungern die offizielle Ersatzbezeichnung elvtárs, Genosse, und so wurdejedermann szaktárs, Kollege. Den Handkuß gab es nicht mehr. Kellnerund Verkäufer waren aggressiv und unhöflich gegenüber Kunden.ÈÓE<strong>in</strong> schmaler, kränklicher griechisch-orthodoxer Bischof, der vone<strong>in</strong>em zehnjährigen Lageraufenthalt <strong>in</strong> Sibirien zurückkehrte, bestellte <strong>in</strong>e<strong>in</strong>em Budapester Restaurant se<strong>in</strong> erstes kle<strong>in</strong>es Bier, und dann noch e<strong>in</strong>s:»Noch e<strong>in</strong>mal dasselbe, bitte.«ÈÔ»Warum bestellen Sie nicht gleich e<strong>in</strong> großes Bier?« schnauzte ihn derKellner an.Aber von ihrer schlimmsten Seite zeigten sich die Leute <strong>in</strong> der130


Straßenbahn. Da Budapests städtische Bevölkerung sich verdoppelt hatte,waren die Straßenbahnen ständig überfüllt. Alle Augenblicke gab esPöbeleien und Beschimpfungen: »Esel!«, »Dumme Kuh!« und so weiter.Wenn e<strong>in</strong>e schwangere Frau zustieg, blickten die sitzenden Fahrgäste <strong>in</strong>die andere Richtung. Häufig kam es zum Streit mit dem Schaffner, dieFahrgäste ergriffen Partei, und so rumpelte die Straßenbahn quietschenddah<strong>in</strong>, bis jedermann dr<strong>in</strong>nen schimpfte und fluchte.Und doch wagte niemand, das Regime offen zu kritisieren.131


13Onkel ImreDAS FRÜHJAHR 1953 brachte e<strong>in</strong> Ereignis, das zwar voraussehbar war, aberdoch durch se<strong>in</strong> plötzliches E<strong>in</strong>treten überraschte und das geeignet schien,das Schicksal der Länder h<strong>in</strong>ter dem Eisernen Vorhang zu wenden: denTod Josef Stal<strong>in</strong>s.Während ganze Kont<strong>in</strong>ente jubelten, löste die Nachricht bei Rákosi <strong>in</strong>Budapest tiefe Betroffenheit aus. Die Leiter<strong>in</strong> der Parteischule, ErzsébetAndics, legte von Kopf bis zu Füßen Trauerkleidung an, Mihály Farkasstützte sie bei der Trauerfeier, wie man es bei e<strong>in</strong>er Witwe anläßlich derBeerdigung ihres Ehemanns zu tun pflegt. Rákosis Macht hatte sich unterdem Schutz Stal<strong>in</strong>s entwickelt. Als die sterblichen Überreste des altenGeorgiers im Trauermarsch zum Mausoleum auf dem Roten Platzgebracht wurden, schien es, als sei Rákosis persönliche Sonne ausgelöschtworden. Der Journalist Tibor Méray schrieb später: »Die Rákosi-Bandeverlor damit jenes Gefühl absoluter Sicherheit, mit der sie getötet,betrogen und gemordet hatte.«ÁDiese Unsicherheit breitete sich <strong>in</strong> vielen Ländern aus. Die Arbeiterschaftmerkte, daß der Druck nachließ. Im Juni gab es Arbeiterunruhen imtschechoslowakischen Pilsen. Am 17. jenes Monats streikten <strong>in</strong> Ost-Berl<strong>in</strong>die Bauarbeiter – sowjetische Panzer mußten den <strong>Aufstand</strong> niederschlagen.Die Unruhen griffen nach Polen über, und wieder wurdenSowjetpanzer e<strong>in</strong>gesetzt.In Budapest legten 20.000 Arbeiter des riesigen Mátyás-Rákosi-Stahlwerkes<strong>in</strong> Csepel, dem früheren Manfréd-Weiß-Konzern, aus Protestgegen die erbärmlichen Löhne, die hohen Arbeitsnormen und die Lebens-132


mittelknappheit die Arbeit nieder. Wie Imre Nagy zwei Jahre später <strong>in</strong>se<strong>in</strong>em geheimen Memorandum bestätigte, gab es gleichzeitig auch <strong>in</strong>anderen Industriegebieten Anzeichen von Unruhe, und zwar <strong>in</strong> Özd undDiósgyör sowie Massendemonstrationen von Bauern <strong>in</strong> der GroßenEbene.Ë Wie e<strong>in</strong> Damoklesschwert h<strong>in</strong>g die Möglichkeit e<strong>in</strong>er Revolte derArbeiterklasse gegen ihr »eigenes« Regime kurze Zeit über der Parteizentrale<strong>in</strong> Budapest. Nikita Chruschtschow selbst sagte e<strong>in</strong> paar Tagespäter, wenn nicht sofort etwas dagegen unternommen worden wäre, hätteMoskau Rákosi und se<strong>in</strong>e Kumpane »auf der Stelle ausgebootet«.Stal<strong>in</strong>s Erben warfen Rákosi vor, das Land bis an den Rand e<strong>in</strong>erKatastrophe getrieben zu haben. Kritik übten sie an se<strong>in</strong>er stal<strong>in</strong>ähnlichenE<strong>in</strong>mannherrschaft. Wie böse Schulbuben wurde die ungarische Kamarilla– Rákosi und Gerö – <strong>in</strong> den Kreml zitiert und gezwungen, vor dem Präsidiumzu ersche<strong>in</strong>en. Malenkow und se<strong>in</strong>e Gefolgsleute Chruschtschowund Molotow diktierten ihnen harte Bed<strong>in</strong>gungen. Rákosi mußtezurücktreten und durch e<strong>in</strong>e kollektive Führung nach sowjetischemVorbild ersetzt werden, mit Imre Nagy als M<strong>in</strong>isterpräsident.Diese dramatische Begegnung hatte sich tief <strong>in</strong> Imre NagysEr<strong>in</strong>nerung e<strong>in</strong>gegraben. In glühenden Farben berichtete er darüber <strong>in</strong>se<strong>in</strong>en geheimen Memoiren: Der stellvertretende M<strong>in</strong>isterpräsidentAnastas Mikojan sprach mit vernichtenden Worten von dem»Abenteurergeist«, den Rákosi durch die Schaffung e<strong>in</strong>esEisenhüttenkomb<strong>in</strong>ats <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> bewiesen habe – e<strong>in</strong>em Land, das wederEisen noch Koks produziert. Malenkow wies darauf h<strong>in</strong>, daß er erst imMai versucht habe, Rákosi zu veranlassen, die Führung von Staat undPartei zu trennen. Doch gegen jeden Namen, der vorgeschlagen wurde,hatte Rákosi E<strong>in</strong>wände erhoben. Malenkow war völlig entsetzt gewesen,und hatte daraus den Schluß gezogen, daß Rákosi e<strong>in</strong>en Premierm<strong>in</strong>isterwollte, der bei den Entscheidungsprozessen ohne Gewicht se<strong>in</strong> würde.Bei der neuerlichen Begegnung im Juni 1953 <strong>in</strong> Moskau bekräftigteChruschtschow diesen Standpunkt.»Worauf es ankommt«, entschied er, »ist, daß die Führung von Parteiund Staat nicht <strong>in</strong> der Hand e<strong>in</strong>es Mannes liegen darf: das ist uner-133


wünscht.«È Rákosi und se<strong>in</strong>e korrupten Kollegen wurden nach Budapestzurückgeschickt mit der »Empfehlung«, ihr Zentralkomitee zusammenzurufenund ihre verderbliche Landwirtschafts- und Industrialisierungspolitikzu revidieren. Vor allem gestattete man ihnen, die landwirtschaftlichenProduktionsgenossenschaften wieder aufzulösen, fallsderen Mitglieder dies wünschten.Außerdem mußten Rákosi Farkas und Gerö ihre jeweiligenRegierungsämter aufgeben (Gerö wurde Innenm<strong>in</strong>ister). Der ganzehochkommende Antisemitismus der Nach-Stal<strong>in</strong>-Ära schlug diesen dreiMännern entgegen. Stal<strong>in</strong>s alter Polizeichef Lawrentij Berija schnauzteRákosi an: »Hören Sie mir gut zu, Genosse Rákosi <strong>Ungarn</strong> hatte HabsburgerKaiser, tatarische Khans, polnische Fürsten und türkische Sultane,aber es hat bis jetzt noch nie e<strong>in</strong>en jüdischen König gehabt, und dasmöchten Sie offenbar werden.«Í Nachfolger Rákosis als M<strong>in</strong>isterpräsidentwurde se<strong>in</strong> alter Rivale Imre Nagy. Dieser enthüllte mit e<strong>in</strong>igerGenugtuung, daß es der Kreml war, der auf se<strong>in</strong>er Ernennung bestandenhatte. »Um der Wahrheit willen muß festgestellt werden«, er<strong>in</strong>nerte ersich, »daß es nicht Rákosi sondern die sowjetischen Genossen – dieGenossen Malenkow, Molotow und Chruschtschow – waren, die dasempfohlen hatten. Genosse Rákosi und die anderen Mitglieder derungarischen Delegation gaben ihre Zustimmung.«ÎEs war nun Sache des Zentralkomitees, das am 27. Juni 1953 <strong>in</strong>Budapest zusammentrat, die Moskauer Beschlüsse zu besiegeln. DieResolution, die vom ZK verabschiedet wurde, enthielt e<strong>in</strong>e scharfeVerurteilung der Mißwirtschaft von Rákosi.Ï Aber er bliebParteivorsitzender, und se<strong>in</strong>e Macht war immer noch groß genug, um dieVeröffentlichung dieser Resolution zu verh<strong>in</strong>dern.Und dann versammelte sich am 4. Juli 1953 das Parlament <strong>in</strong> se<strong>in</strong>emmarmornen und goldenen Kuppelsaal, um die Verkündung des neuenKurses entgegenzunehmen, den Imre Nagy künftig zu steuern gedachte.Es war e<strong>in</strong> großer Augenblick <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Leben. In der Wochenschau sahman Nagy mit flottem Kavalierstaschentuch am Jackett sich mit der134


Würde e<strong>in</strong>es Gutsherren erheben, den altväterlichen Kneifer schief auf denNasenrücken setzen, das K<strong>in</strong>n an die Brust drücken und e<strong>in</strong> umfangreichesManuskript hervorholen, von welchem er dann se<strong>in</strong>e Reformversprechenvorlas.Zuweilen nickt er nachdrücklich mit dem Kopf; Rákosi, der ihn mitf<strong>in</strong>steren Blicken von der ersten Sitzreihe, deren Ränge im Halbkreish<strong>in</strong>ter ihm ansteigen, anschaut, nickt nicht. Auch Gerö nicht, der nur zweiSchritte von ihm entfernt sitzt, das K<strong>in</strong>n <strong>in</strong> die Hand gestützt, währendse<strong>in</strong>e Augen ironisch funkeln. Der Plenarsaal ist mit Gemälden der großenhistorischen Ereignisse des Landes geschmückt. Am Ende der Regierungserklärunghat jedermann das Gefühl, Zeuge e<strong>in</strong>es historischenAugenblicks gewesen zu se<strong>in</strong>.Wer ist dieser Imre Nagy, dieser humorlose, pedantische Mann, dersich nun für kurze Zeit der Gunst Moskaus erfreuen kann? Hat er auch nurdie leiseste Ahnung, daß die Männer, zu denen er <strong>in</strong> diesem Hohen Hausspricht, ihn e<strong>in</strong>es Tages auf den Sch<strong>in</strong>derkarren schicken werden?Wahrsche<strong>in</strong>lich nicht. Befolgt er doch das vorgeschriebene Ritual so gutwie ke<strong>in</strong> anderer.Tatsächlich unterscheidet ihn nur wenig von se<strong>in</strong>em skrupellosenVorgänger. Am 21. Dezember 1954 wird er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Jubelrede aus Anlaßdes zehnten Jahrestages des Parlaments zynisch behaupten: »Wir habene<strong>in</strong> neues Land geschaffen und e<strong>in</strong> glückliches und freies Leben für se<strong>in</strong>eMenschen.« Er sagt dies zu e<strong>in</strong>er Zeit, wo noch immer überall im LandeTausende politischer Gefangener von Kard<strong>in</strong>al M<strong>in</strong>dszenty bis GyörgyMarosán <strong>in</strong> Zwangsarbeitslagern leiden.Und er erntet gehorsamen Beifall, als er ohne e<strong>in</strong>en Hauch bewußterIronie erklärt: »E<strong>in</strong> trauriges Kapitel, das sich nur zu oft im Laufe unsererGeschichte wiederholt hat, zeigt, daß fremde Unterdrückung jeglichenwirtschaftlichen und kulturellen Fortschritt auf Generationen und manchmalsogar auf Jahrhunderte zurückwirft. Vor zehn Jahren, zum erstenmal<strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong>s langer Geschichte, haben die D<strong>in</strong>ge e<strong>in</strong>e andere Wendegenommen: Denn die Sowjetarmee ist <strong>in</strong> unser Land nicht als Eroberer,135


sondern als Befreier gekommen.«ÌNagy war nicht Zeuge von <strong>Ungarn</strong>s ach so beglückender Befreiungdurch die Rote Armee: Er hatte mit se<strong>in</strong>er Familie seit 1930 <strong>in</strong> Moskaugelebt.Als er 1956 <strong>in</strong>s Rampenlicht der Weltbühne rückte, er<strong>in</strong>nerten sich nurwenige se<strong>in</strong>er Bewunderer aus der westlichen Welt se<strong>in</strong>er Erklärung vordem Dritten Parteitag im Mai 1954Ó: »Die großen Erfolge des weltweitenKampfes für den Frieden der Menschheit unter der Führung derSowjetunion auf der e<strong>in</strong>en Seite und die kriegslüsternen Anstrengungendes amerikanischen Imperialismus und se<strong>in</strong>er Politik der Unterstützungreaktionärer und konterrevolutionärer Kräfte auf der anderen Seite habenunserem Volk die große historische Bedeutung der Tatsache vor Augengeführt, daß unser Vaterland durch die Streitkräfte der Sowjetunion befreitwurde . . . Dieser verdanken wir die Unabhängigkeit und Souveränitätunseres Landes . . . «ÔUnd dieser selbe Imre Nagy, der genau wußte, wie die Kommunistenmit Lug und Betrug, mit Schikanen und Drohungen zur Macht gelangten,bat die Partei, doch Milde walten zu lassen gegenüber den dümmlichenund tolpatschigen »lokalen Räten«, die 1951 zur Durchsetzung der PolitikRákosis e<strong>in</strong>gesetzt worden waren. Zu ihrer Rechtfertigung me<strong>in</strong>te er, e<strong>in</strong>efehlerfreie Verwaltung könne man von e<strong>in</strong>er sozialen Klasse, die jahrhundertelangunterdrückt worden sei, nicht verlangen. Ja, Nagy rief allenErnstes die ÁVH und diese lokalen Räte auf, <strong>in</strong> ihrer Eigenschaft als»Organe der Diktatur des Proletariats« ihren Kampf gegen die Klassenfe<strong>in</strong>debeharrlich fortzusetzen: »Die Klassenfe<strong>in</strong>de – der kompromittierteAdel des Horthy-Regimes, die Lakaien des alten volksfe<strong>in</strong>dlichenSystems, die Kulaken und die Kapitalisten – s<strong>in</strong>d noch immer nichtvernichtet.«ÁÊSo spricht Imre Nagy, der Mann, zu dem die Presse der gesamtenwestlichen Welt bald voll ehrfürchtiger Scheu aufblickt. So ist er, Mittedes Jahres 1953, siebenundfünfzig Jahre alt und wird plötzlich zehnMillionen <strong>Ungarn</strong> als ihr neuer Regierungschef präsentiert. Hat er jetzt136


se<strong>in</strong> Lebensziel erreicht? Oder was hat er <strong>in</strong> den langen Jahrenkommunistischer Parteiarbeit angestrebt?Nagy mit se<strong>in</strong>em dicken Bauch und den über den Kragen quellendenFettwülsten wird für e<strong>in</strong>e ganze Nation »Onkel Imre«, das wandelndeVersprechen besserer Zeiten. Er trägt e<strong>in</strong>en zusammengerollten Schirmüber dem Arm und hat den Filzhut fest auf se<strong>in</strong>en kahl werdenden Schädelgesetzt. Se<strong>in</strong> rundes, unregelmäßiges Gesicht ziert e<strong>in</strong> Stal<strong>in</strong>-Schnurrbart,die Augen, die durch se<strong>in</strong>en Kneifer bl<strong>in</strong>zeln, verraten e<strong>in</strong>e entferntmongolische Abstammung. Er trägt am liebsten altmodische brauneAnzüge mit drei Knöpfen, e<strong>in</strong>en unauffälligen dunkelblauen Schlips undHemden von e<strong>in</strong>er Qualität, wie man sie nicht häufig bei Vertretern desProletariats antrifft. Mit se<strong>in</strong>en buschigen Augenbrauen und se<strong>in</strong>erbiedermännischen Jovialität könnte man ihn für den typischen csikós oderPferdezüchter halten. Er tr<strong>in</strong>kt gerne die heimischen We<strong>in</strong>e und ist e<strong>in</strong>emflotten csárdás, getanzt auf Armlänge, mit jedem Mädchen, das se<strong>in</strong>eTanzpartner<strong>in</strong> se<strong>in</strong> möchte, nicht abgeneigt. Und se<strong>in</strong> weicher transdanubischerAkzent offenbart unmißverständlich se<strong>in</strong>e bäuerliche Herkunft.Imre Nagy wurde 1896, im Bezirk Somogy mit se<strong>in</strong>en wogendenKornfeldern, als Sohn calv<strong>in</strong>istischer Bauern geboren.ÁÁ Der Geme<strong>in</strong>depfarrerMárton Csertán hatte <strong>in</strong> ihm schon e<strong>in</strong>en künftigen Kirchenmanngesehen. Doch Imres Lehrer, e<strong>in</strong> l<strong>in</strong>ker Agitator namens László Hudra,vermochte mehr Interesse bei dem Jungen zu wecken, so daß Nagy vonse<strong>in</strong>er frühesten Jugend an dem Sozialismus ergeben war. Er lernteSchlosser <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Landmasch<strong>in</strong>enfabrik. Im Ersten Weltkrieg wurde er <strong>in</strong>der Isonzoschlacht verwundet, nicht weit entfernt von dem Kriegsschauplatz,wo der junge Leutnant Erw<strong>in</strong> Rommel sich se<strong>in</strong>e Sporenverdiente. Danach geriet er an der Ostfront <strong>in</strong> Gefangenschaft, g<strong>in</strong>g zu denBolschewisten über und wurde 1918 sowjetischer Bürger. Im folgendenJahr erhielt er während Béla Kuns kurzer Schreckensherrschaft e<strong>in</strong>enkle<strong>in</strong>en Posten <strong>in</strong> Budapest. Ebenso wie Rákosi flüchtete Nagy im Jahre1919 und kehrte zwei Jahre später zurück, um unter den Bauern von137


Somogy e<strong>in</strong>e illegale kommunistische Parteizelle zu gründen.1930 suchte er wiederum Zuflucht <strong>in</strong> der Sowjetunion. Moskau wurdese<strong>in</strong>e zweite Heimat. Er war <strong>in</strong>zwischen vierunddreißig Jahre alt, hatteRussisch gelernt und arbeitete für e<strong>in</strong> landwirtschaftliches Institut. Ab undzu erschien se<strong>in</strong> Name <strong>in</strong> der Moskauer Emigrantenzeitung Uj Hang[Neue Stimme], für die er gelehrte Abhandlungen über landwirtschaftlicheProbleme verfaßte.ÁË Nach dem Münchner Abkommen von 1938 empfahler se<strong>in</strong>en Landsleuten von Moskau aus, ke<strong>in</strong>erlei Chauv<strong>in</strong>ismus an denTag zu legen, da »dies ihnen später teuer zu stehen kommen könne«.Während des Zweiten Weltkriegs lieferte er Beiträge für MoskausRundfunk ropagandasendungen nach <strong>Ungarn</strong>.E<strong>in</strong> kommunistischer Schriftsteller, der ebenfalls im Moskauer Exillebte, er<strong>in</strong>nerte sich: »Wir mußten Material sammeln und überprüfen, undzwar auf Anweisung sowohl von Rákosi und auch von Imre Nagy. Wirdurften nur telephonisch mit ihm verkehren, wobei es uns streng verbotenwar, jemals se<strong>in</strong>en Namen zu erwähnen. Wir mußten so tun, als ob wir denMann nicht kannten, obgleich wir täglich zur selben Zeit e<strong>in</strong>e bestimmteNummer anzurufen hatten. Es war alles sehr komisch. Die ganzeAngelegenheit war typisch für die Geheimnistuerei, die damals <strong>in</strong>Parteikreisen große Mode war – und wahrsche<strong>in</strong>lich nicht nur damals.«ÁÈAls die Truppen der Roten Armee 1944 das geschlagene <strong>Ungarn</strong> wiee<strong>in</strong>e Flutwelle überspülten, wurden Imre Nagy und der Rest diesesMoskauer Strandguts <strong>in</strong> ihrer Heimat abgesetzt. Der hitzige undtyrannische Rákosi riß sofort den besten Posten, den des Parteisekretärs,an sich, während der bedächtige und wenig ehrgeizige Theoretiker NagyLandwirtschaftsm<strong>in</strong>ister wurde.ÁÍSe<strong>in</strong>e Frau Maca und se<strong>in</strong>e Tochter Bözske, die lediglich russischsprechen konnten, halfen ihm. Bözske, die 1927 <strong>in</strong> Kaposvár im BezirkSomogy geboren wurde, hatte ihre erste Er<strong>in</strong>nerung an den Vater mitzweie<strong>in</strong>halb Jahren, als sie und ihre Mutter ihn heimlich <strong>in</strong> Wienbesuchten, wo er im Untergrund lebte. Bözske war ebenso unorthodox wieihr Vater. Schlank und hübsch wie e<strong>in</strong> Fotomodell, heiratete sie e<strong>in</strong>enkraushaarigen, korpulenten und jovialen Kommunisten, den elf Jahre138


älteren ehemaligen Armeepfarrer Dr. Ferenc Jánosi. E<strong>in</strong> Foto ihres kle<strong>in</strong>enSohnes Ferkó stand immer auf dem Schreibtisch von Imre Nagy. »Er wird<strong>in</strong> me<strong>in</strong>e Fußstapfen treten«, erklärte Nagy Reportern, ohne zu ahnen,weiche tragischen Wege ihn se<strong>in</strong> Schicksal noch führen würde.ÁÎÜberwacht von Marschall Woroschilow, setzte Nagy voller Begeisterungse<strong>in</strong>e Bodenreform durch. In e<strong>in</strong>er Rede am 29. März 1945 unter demÁrpád-Denkmal <strong>in</strong> Pusztaszer verkündete er tief befriedigt mit schmatzenden,dicken Lippen unter se<strong>in</strong>em tabakbraunen Walroßbart: »Laßt unsmit der Landaufteilung beg<strong>in</strong>nen: Laßt uns die Grenzzäune e<strong>in</strong>reißen! Mitjedem Schlag hämmern wir neue Nägel <strong>in</strong> den Sarg der Großgrundbesitzer!«ÁÏFast se<strong>in</strong> ganzes Leben lang hatte er auf diese Bodenreformh<strong>in</strong>gearbeitet. Zwei Jahre später er<strong>in</strong>nerte er sich: »Es war die glücklichsteZeit me<strong>in</strong>es Lebens. Unser Traum, unser Ziel, für das wir so langegekämpft hatten, wurde Wirklichkeit; ich werde immer stolz darauf se<strong>in</strong>,me<strong>in</strong>en Teil dazu beigetragen zu haben.«ÁÌAber dann brach die heftige Rivalität zwischen Imre Nagy und se<strong>in</strong>emChef Rákosi offen aus. Rákosi hatte das Gefühl, daß se<strong>in</strong>e Herrschaftdurch Nebenbuhler wie Rajk und Nagy bedroht sei. Nagy wehrte sich,berief sich bei se<strong>in</strong>er Opposition aber immer brav auf die Lehre Len<strong>in</strong>sund bezeichnete die Neue Ökonomische Politik (NEP) als geeigneter für<strong>Ungarn</strong>s dr<strong>in</strong>gendste Wirtschaftsprobleme nach der »Befreiung« alsRákosis überstürzte Politik der Industrialisierung und Kollektivierung.ÁÓIn se<strong>in</strong>em Buch Probleme der Landwirtschaft lobte Nagy den privatenLandbesitz – zum<strong>in</strong>dest der »mittleren« Bauern, die sechs bis vierzehnHektar besaßen –, und <strong>in</strong> den Geheimsitzungen der Partei zwischen 1947und 1948 opponierte er auch gegen andere Methoden Rákosis. Natürlichwar Nagy immer sorgsam darauf bedacht auf der marxistisch-len<strong>in</strong>istischenL<strong>in</strong>ie zu argumentieren. Aber was zählte, das waren die Nuancen,und hier plädierte Nagy unmißverständlich für die Wiedere<strong>in</strong>führungprivater Märkte für landwirtschaftliche und sonstige Konsumgüter,zum<strong>in</strong>dest während dieser Übergangszeit der NEP.Rákosi besaß aber immer noch die volle Rückendeckung Stal<strong>in</strong>s. Im139


April 1949 war die NATO gegründet worden, und Stal<strong>in</strong> brauchte e<strong>in</strong>geschlossenes Satellitenimperium als Pufferzone. Im September 1949,dem Monat des Schauprozesses gegen Rajk, stauchte RákosisZentralkomitee Nagy wegen »antimarxistischer Ansichten« zusammen.Nagy hielt an se<strong>in</strong>er Unterstützung e<strong>in</strong>er freien »mittleren«Bauernwirtschaft fest. Als die Partei Nagy dann fallenließ, vollzog ergehorsam jenes gespenstische kommunistische Ritual öffentlicherGeißelung, das unter dem Begriff »Selbstkritik« bekannt ist: Das war diee<strong>in</strong>zige Möglichkeit <strong>in</strong> jenen Tagen, e<strong>in</strong>em schlimmeren Schicksal zuentgehen.»Alle me<strong>in</strong>e Irrtümer lassen sich darauf zurückführen, daß ich, anstattdie Landwirtschaft der Kollektivierung, der sozialistischen Umformungund der Schaffung großer Kollektivgüter entgegenzuführen, die Ausweitungdes kle<strong>in</strong>en Landbesitzes unterstützen wollte – was, wie wir wissen,nur dazu dient, den Kapitalismus auf dem Lande zu unterstützen . . . «ÁÔNagy kam verdächtig leicht davon. Se<strong>in</strong>e Verbannung vom Politbüround vom Zentralkomitee dauerte nur kurze Zeit. Bereits im Mai 1950kehrte er <strong>in</strong> Rákosis Kab<strong>in</strong>ett als Versorgungsm<strong>in</strong>ister zurück. Wahrsche<strong>in</strong>lichwar es Rákosis Absicht, Nagys wachsende Popularität bei denBauern zu untergraben, denn auf dem neuen Kab<strong>in</strong>ettsposten war Nagy fürdie Zwangse<strong>in</strong>treibung der Ernte verantwortlich.ËÊNagy war also während der brutalen Revision des Fünfjahresplanes imJahre 1951 e<strong>in</strong>er von Rákosis M<strong>in</strong>istern. War es re<strong>in</strong>er Opportunismus,wie se<strong>in</strong>e marxistischen Kritiker später behaupteten? War Nagy wirkliche<strong>in</strong> »Rákosist«, e<strong>in</strong> fanatischer Bauernfe<strong>in</strong>d geworden? Oder hatte irgendjemand <strong>in</strong> Moskau – wo se<strong>in</strong> derzeitiger Gönner Berija saß – <strong>in</strong>terveniertund se<strong>in</strong>e Rehabilitierung verlangt? Wie auch immer die Antwort se<strong>in</strong>mochte, bis 1953 beg<strong>in</strong>g er ke<strong>in</strong>e »Fehler«. In se<strong>in</strong>en Reden hörte man ihndie westliche Aggression <strong>in</strong> Korea verurteilen, die Sowjetunion preisenund die Hoffnung für e<strong>in</strong>en baldigen Zusammenbruch des Kapitalismuszum Ausdruck br<strong>in</strong>gen. Und es ist »Onkel Imre«, der sich <strong>in</strong> tiefer Trauervon se<strong>in</strong>em Platz im Parlament erhebt und den abstoßenden Nachruf aufStal<strong>in</strong> spricht, <strong>in</strong> dem er ihn e<strong>in</strong>en »großen Führer der ganzen Mensch-140


heit« nennt.Es ist der 4. Juli 1953, der Tag, an dem Nagy se<strong>in</strong>e große Rede imParlament hält. Auf e<strong>in</strong>er glutheißen Landstraße weit weg von Budapestgrübelt Professor Zsengellérs Enkel<strong>in</strong> Margit während ihrer mühseligenPlackerei beim Straßenbau immer wieder darüber nach: Warum haben wirse<strong>in</strong> Geld nicht auf e<strong>in</strong>e Schweizer Bank gebracht, wo es nie jemandgefunden hätte? Seit der Verbannung ihrer Familie aus Budapest läßt siedieser Gedanke nicht wieder los.Aber an diesem Nachmittag gesellt sich e<strong>in</strong>er der anderen Streckenarbeiterder Arbeitskolonne zu ihr, während sie <strong>in</strong> dem Feuer unter demTeerkocher stochert und flüstert: »Man hat im Radio über euchgesprochen.«Abends hörten die Deportierten dann über die Lautsprecher, die an denstaubigen Straßenecken <strong>in</strong>nerhalb des Dorfes angebracht s<strong>in</strong>d,Bruchstücke von Nagys Rede – der Rede, <strong>in</strong> der Nagy das falsche SpielRákosis die Verbrechen der ÁVH sowie die Existenz geheimer Internierungslageraufdeckt und <strong>in</strong> der er die Freilassung der Deportiertenverspricht: »Die Regierung hat den Wunsch, die Frage der umgesiedeltenPersonen so schnell wie möglich zu lösen, um sie <strong>in</strong> die Lage zuversetzen, ihren Wohnort <strong>in</strong> Übere<strong>in</strong>stimmung mit den gesetzlichenVorschriften, die für alle Bürger gelten, selbst wählen zu lassen.« MargitZsengellér kehrt, zwar krank, mit ihrer Mutter nach Budapest zurück, umihr Musikstudium wiederaufzunehmen.Aber wenn der Tag kommt, wird auch sie kämpfen, und zwar nichtnotwendigerweise für Imre Nagy. Warum dann? Ihre Antwort: »Damit wirunser Brot wieder brechen können, ohne daß uns die Russen das meistewegnehmen und ohne daß Polizisten uns daran h<strong>in</strong>dern können, <strong>in</strong> Friedendie übriggebliebenen Brosamen zu essen.«ËÁBei der Verkündung se<strong>in</strong>es neuen Kurses vor dem Parlament am 4.Juli 1953 war es Nagys Absicht, die aufgebrachten Bauern zu besänftigenund vor allem die Verfolgung des privaten Landbesitzes e<strong>in</strong>zustellen,141


dessen E<strong>in</strong>tragung <strong>in</strong> »Kulakenlisten« bedeutete, daß er weder Kreditenoch Düngemittel und andere lebenswichtige D<strong>in</strong>ge erhielt.Das war e<strong>in</strong>e Forderung der vom Kreml <strong>in</strong>spirierten Resolution, dieEnde Juni vom Zentralkomitee verabschiedet wurde. Zwei Jahre späterkonnte sich Nagy noch deutlich daran er<strong>in</strong>nern: »Tatsache ist, daß es beider Diskussion unserer Sorgen h<strong>in</strong>sichtlich der Frage der landwirtschaftlichenKollektivgüter auf der Moskauer Konferenz im Juni 1953Genosse Molotow (und nicht Berija) war, der uns versicherte, dieKollektive sollten zwar nicht durch Anordnung der Regierung aufgelöstwerden, aber wenn sie e<strong>in</strong>e freiwillige Auflösung wünschten, sollte mansie nicht daran h<strong>in</strong>dern. Es würden ihnen ke<strong>in</strong>e Nachteile entstehen.«Deshalb sprach Nagy nun im Parlament die schicksalhaften Worte:»Die Regierung wird es denjenigen Bauern, die aus der LPG auszutretenwünschen, ermöglichen, dies nach der Ernte zu tun.«ËËFerner gab Nagy bekannt, daß Genehmigungen für kle<strong>in</strong>e Privatunternehmenerteilt würden und daß die Angehörigen der freien Berufe künftigbesser gefördert würden.ËÈErste Auswirkungen des neuen Kurses wurden sofort <strong>in</strong> den Lädenspürbar. Sechs Monate lang hatte man praktisch ke<strong>in</strong>e Butter bekommenkönnen; aber vier Tage nach Nagys Rede, am 8. Juli 1953, konnte man sieplötzlich <strong>in</strong> den Geschäften <strong>in</strong> unbegrenzter Menge kaufen. GroßeMengen von Schwe<strong>in</strong>efleisch wurden aus den Kühlhäusernherbeigeschafft und zum Verkauf angeboten. Am selben Tag kündigteHandelsm<strong>in</strong>ister József Bognár drastische Preissenkungen für Kartoffelnund Mehl an, damit das beliebte Weißbrot, das seit 1952 durch grobesSchwarzbrot ersetzt worden war, vom 1. August an wieder zu kaufen se<strong>in</strong>würde. Im Herbst sollte es dann auch wieder Delikatessen aus Wurst- undFleischwaren geben, die zuvor praktisch nicht erhältlich waren.Rákosi kämpfte verbissen gegen diese Ketzerei. Auf e<strong>in</strong>er Versammlungvon Aktivisten der Budapester KP am Samstag nach der Rede Nagysuntergrub er <strong>in</strong> h<strong>in</strong>terhältiger Weise deren Wirkung, während er so tat, alsob er die Kritik an se<strong>in</strong>en früheren Fehlern e<strong>in</strong>sehe. »Wir haben gegen die142


Grundsätze des sozialistischen Aufbaus verstoßen«, räumte er e<strong>in</strong>, »diee<strong>in</strong>e ständige Steigerung des Lebensstandards der werktätigen Massen undvor allem der Industriearbeiter verlangen.« Aber gleichzeitig rief er dieGenossen <strong>in</strong> den Dörfern sowie die Traktorfahrer und Betriebsleiter derKomb<strong>in</strong>ate auf, sich zur Verteidigung der LPGs zusammen zuschließen:»Wir werden nicht müßig zusehen, wenn der Fe<strong>in</strong>d versucht, unserebisherigen Errungenschaften zunichte zu machen.« Diejenigen Bauern, die<strong>in</strong> wilder Flucht die Kollektive verließen, nannte er »Drückeberger undBummler«.E<strong>in</strong> Schriftsteller, der bei Rákosis Ansprache als »Agitprop«-Sekretärdes Schriftstellerverbandes anwesend war, er<strong>in</strong>nerte sich: »Wir saßen allebleich und völlig verwirrt da und dachten, was, zum Teufel, geht da vorsich.«ËÍDiese Rede ließ die Kluft an der Spitze der kollektiven Führungzwischen Imre Nagy im Parlament und Rákosi <strong>in</strong> der Parteizentrale <strong>in</strong> derAkadémia utca offen zutage treten.Nagy hatte viele Anhänger, aber mancher Funktionär der alten Gardewußte nicht mehr, woran er war.E<strong>in</strong>er von ihnen sagte: »Unter dem Horthy-Regime war ich bloßTagelöhner; unter Rákosi fühlte ich mich wohl, denn mich plagten ke<strong>in</strong>eZweifel. Aber jetzt ist das Leben voller Ungewißheiten, und das gefälltmir überhaupt nicht.«ËÎDiese unsichere Atmosphäre e<strong>in</strong>er verborgenen Krise sollte das ganzenächste Jahr anhalten. Inzwischen kam es bei den landwirtschaftlichenKollektiven zur Katastrophe. Die Bauern hatten Nagys Rede soverstanden, als ob sie jetzt über die Stränge schlagen könnten. Sie teiltendas kollektivierte Land, die Arbeitsgeräte und das Vieh untere<strong>in</strong>ander auf,ohne auf den Abschluß der Ernte zu warten. Das Kollektivsystem begannzusammenzubrechen. Bis zum Ende des Jahres g<strong>in</strong>g die Zahl derMitglieder von 446.900 auf 263.070 zurück.ËÏAus Schwertern wurden jetzt Pflüge geschmiedet. Rüstungsfabrikenstellten sich auf die Produktion von landwirtschaftlichen Masch<strong>in</strong>en, wieTraktoren, Düngestreumasch<strong>in</strong>en, Getreideheber, Mähmasch<strong>in</strong>en und143


Rübenschneider um. Nagy umwarb die Bauern. Um die landwirtschaftlicheProduktion anzuregen, schaffte er die Geldstrafen ab, strich Geldbußenvon <strong>in</strong>sgesamt 445 Millionen For<strong>in</strong>t, die wegen »Nichterfüllung derAblieferungspflichten« verhängt worden waren, und verr<strong>in</strong>gerte dieSteuerlast der Bauern um 500 Millionen For<strong>in</strong>t.Aus den später veröffentlichten Statistiken konnte man die neuenwirtschaftlichen Prioritäten erkennen: Die staatlichen Investitionenverlagerten sich von der Schwer- zur Leicht<strong>in</strong>dustrie sowie zur Produktionvon Lebensmitteln und Konsumgütern wie Kleidung, Herrenhemden,Schuhen, Fleisch, Fetten, Butter und Süßwaren. Nagy wollte die lokaleIndustrie, das Handwerk und die freien Berufe fördern. Se<strong>in</strong> Ziel war es,die Konsumgüterproduktion 1954 um zwanzig Prozent zu erhöhen sowiedie Qualität und Verteilung zu verbessern.Zum Zeichen se<strong>in</strong>es guten Willens hatte Nagy nach se<strong>in</strong>er Rede vomJuli 1953 große Regierungsbestände an Konsumgütern freigegeben undzwei beträchtliche Preissenkungen angeordnet: Im September 1953wurden die Preise für e<strong>in</strong>ige Lebensmittel- und Industrieprodukte und imMärz 1954 die Fleisch- und Fettpreise herabgesetzt. »Die Öffentlichkeithat e<strong>in</strong>en Anspruch auf höfliche Bedienung, öffentliche Versorgung undWaren guter Qualität für ihr Geld«, sagte er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Ansprache am 23.Januar 1954.ËÌ Zu diesem Zweck plante er 1954 die Eröffnung von 1500neuen Läden. Bestimmte Löhne wurden erhöht, e<strong>in</strong> Instandsetzungs- undWohnungsbauprogramm mit e<strong>in</strong>er doppelt so hohen Quote wie 1952wurde e<strong>in</strong>geleitet und der Bau von 40.000 neuen Häusern für das Jahr1954 geplante.ËÓAuch die Arbeitsbed<strong>in</strong>gungen wurden verbessert, höhere Beihilfen fürwerdende Mütter gewährt, Überstunden e<strong>in</strong>geschränkt, die Geldbußen fürFabrikarbeiter abgeschafft und statt dessen die Bestrafung von verantwortlichenBetriebsleitern e<strong>in</strong>geführt.Im Bereich der Erziehung versuchte Nagy, das Nationalgefühl wiederherzustellen.Landessprache und vaterländische Traditionen wurdengefördert, ungarische Märchen gedruckt, während bei Bühnenstükkengrößerer Wert auf den ungarischen Nationalcharakter gelegt wurde.144


Alles dies paßte dem Moskowiter Rákosi natürlich nicht. Nach außenversuchte er gute Miene zum bösen Spiel zu machen, aber das gelang ihmnicht e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en besten Zeiten. Heimlich agitierte und konspirierteer gegen Nagy. Schon bald gab es e<strong>in</strong>en Leitartikel im Parteiorgan FreiesVolk, <strong>in</strong> dem die Notwendigkeit von Veränderungen angedeutet wurde,und zwar von Investitionen zugunsten der Schwer<strong>in</strong>dustrie bis zuschärfsten Strafmaßnahmen – strengerer Arbeitsdiszipl<strong>in</strong>, mehr sozialistischerWettbewerb und die strikte Erfüllung marxistischer Wirtschaftsplanung.ËÔWährend der Monate Juli und August des Jahres 1953 war <strong>in</strong> derPresse immer weniger von Nagys Programm e<strong>in</strong>es sofortigen neuenKurses die Rede. Statt dessen wurden die Versprechungen immer vagerund verschwommener und richteten sich mehr auf <strong>in</strong> der Ferne liegendeZiele.E<strong>in</strong> amerikanischer Geheimbericht stellte zwei Monate nach derRegierungsübernahme durch Imre Nagy fest: »(Rákosis) andauerndeentscheidende Rolle bei der Bestimmung der Politik sche<strong>in</strong>t, wenigstensvorläufig, sichergestellt zu se<strong>in</strong>, trotz der Sturzes e<strong>in</strong>iger führender, <strong>in</strong>Moskau ausgebildeter jüdischer Politiker und dem Aufstieg junger,nichtjüdischer Elemente.«ÈÊDer Dritte Parteikongreß sollte im Frühjahr 1954 stattf<strong>in</strong>den, aberRákosi spielte auf Zeit und sorgte für e<strong>in</strong>e Verschiebung des Term<strong>in</strong>s. Inder Zwischenzeit versuchte er, ohne Nagy nach Moskau zu fliegen, umsich bei Malenkow beschweren zu können. »Die sowjetischen Genossenhielten dies aber für falsch und weigerten sich, ihm die Erlaubnis zugeben«, schrieb Nagy triumphierend <strong>in</strong> se<strong>in</strong> geheimes Tagebuch.Als Rákosi dann im Mai 1954 zusammen mit Imre Nagy nach Moskaug<strong>in</strong>g, beklagte er sich über die Ungerechtigkeit, mit der er behandeltwürde, da Berija doch <strong>in</strong>zwischen als Verräter entlarvt worden sei. Nagyschrieb später: »Wie die Mitglieder des Zentralkomitees wissen, hat MátyásRákosi unzählige Male seit 1953 versucht, e<strong>in</strong>en Widerruf der Juniresolutionzu erreichen, <strong>in</strong>dem er entweder auf Berija oder auf die145


<strong>in</strong>ternationalen Spannungen oder auf me<strong>in</strong>e angeblichen Fehler undMißgriffe usw. h<strong>in</strong>wies. Aber Genosse Chruschtschow entschied völlige<strong>in</strong>deutig wie folgt: ›Im Juni 1953 haben wir völlig korrekt e<strong>in</strong> Urteil überdie ungarische Parteiführung gefällt, und diese Bewertung ist auch heutenoch richtig. Man kann sich nicht h<strong>in</strong>ter Berija verstecken, wie Rákosi dasversucht. Wir waren ja schließlich auch dabei, als die Irrtümer festgestelltwurden, jeder von uns. Wir hatten recht, und was wir beschlossen haben,gilt heute noch. Danach hätte schon längst gehandelt werden müssen.‹ «Rákosi stieß also bei den Kremlherren auf taube Ohren. »All se<strong>in</strong>e Bemühungen«,konnte Nagy befriedigt feststellen, »blieben 1953vergeblich.«Abgeschlagen kehrte Rákosi nach Budapest zurück und nahm se<strong>in</strong>enheimlichen Kampf gegen Nagys neuen Kurs wieder auf.In diesen beiden Jahren entwickelte sich Nagy zu e<strong>in</strong>em Staatsmannmit festen und untadeligen Grundsätzen. In se<strong>in</strong>er Rede im Juli 1953 hatteer angekündigt, daß <strong>in</strong> religiösen Fragen mehr Toleranz geübt werdensolle und daß die Regierung »ke<strong>in</strong>e adm<strong>in</strong>istrativen oder andere Zwangsmaßnahmen«gegen die Kirche erlauben werde (Kard<strong>in</strong>al M<strong>in</strong>dszenty unddie anderen Kirchenführer blieben allerd<strong>in</strong>gs bis zum Volksaufstandweiterh<strong>in</strong> <strong>in</strong> Haft).Aber er hatte Schluß gemacht mit der Brutalität aus der Zeit Rákosisund <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Rede Wiedergutmachung des Unrechts versprochen, das vonRákosis Polizeiorganen begangen worden war. Er hatte versichert, daßse<strong>in</strong>e Regierung gegen die Ausschreitungen der ÁVH kämpfen werde; erwürde Wiederaufnahmeverfahren e<strong>in</strong>leiten, die Internierungslagerabschaffen und politische Gefangene freilassen. Zu se<strong>in</strong>en Plänen, dieRegierungsarbeit zu verbessern, gehörte auch die Ankündigung, daß ersich »stärker auf das Parlament stützen« werde. Es war e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>maligerVorgang, daß das ungarische Parlament am 4. Juli jemanden wählte, derdas seit langem unbesetzte Amt des Generalstaatsanwaltes übernehmensollte: Dr. Kálmán Czakö, e<strong>in</strong>en früheren Justizm<strong>in</strong>ister von offensichtlichpersönlicher Integrität.ÈÁ146


Zum 31. Oktober 1953 wurde e<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong>e Amnestie verkündet.»Wir haben sowohl das System des Polizeigewahrsams als auch diePolizeigerichte abgeschafft«, sagte Nagy.ÈË Er nahm umfangreiche Umbesetzungenbei der Sicherheitspolizei vor, entzog der ÁVH ihren unabhängigenStatus und warf das Innenm<strong>in</strong>isterium aus se<strong>in</strong>em schönen,modernen Palast an der Donau h<strong>in</strong>aus und brachte es <strong>in</strong> dem dunklenHauptbürogebäude unter, das e<strong>in</strong>st e<strong>in</strong>er großen Handelsbank gehörte.In se<strong>in</strong>en privaten Äußerungen urteilte Nagy über die Rákosi-Bandemit unverhohlener Schärfe. »Es ist unvere<strong>in</strong>bar mit moralischen Grundsätzen«,schrieb er später, »daß immer noch Personen <strong>in</strong> führendenStellungen s<strong>in</strong>d, die Urheber und Regisseure der fabrizierten Massenprozesse,verantwortlich für die Folterungen und Tötungen unschuldigerMenschen, Anstifter <strong>in</strong>ternationaler Provokationen, Wirtschaftssaboteureund Verschwender nationaler Hilfsquellen waren, die durch denMißbrauch der Macht verbrecherische Handlungen gegen das Volkentweder verübt oder veranlaßt haben. Die Öffentlichkeit, die Partei undder Staat müssen von diesen Elementen gesäubert werden.«Gábor Péter, der blutdürstige Chef der ÁVH, war bereits se<strong>in</strong>ersämtlichen Ämter enthoben und von Rákosi als »zionistischer Agent« <strong>in</strong>sGefängnis geworfen worden. Rákosi hatte beabsichtigt, e<strong>in</strong>enSchauprozeß aufzuziehen, der selbst Stal<strong>in</strong>s Ärzteprozesse <strong>in</strong> den Schattenstellen sollte.ÈÈ Durch den Tod Stal<strong>in</strong>s war Péter vorübergehend e<strong>in</strong>Aufschub gewährt worden, aber nun (im Mai 1953) ließ ihn Imre Nagy zulebenslänglich Kerker verurteilen. »Die Institution der Internierung«, hatteNagy <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Rede vom Juli 1953 verkündet, »wird abgeschafft und dieLager aufgelöst . . . « Die Gefängnisse und Lager öffneten sich, und diepolitischen Gefangenen traten wieder h<strong>in</strong>aus <strong>in</strong>s Sonnenlicht – aber längstnicht alle, denn Nagy war nicht allmächtig, solange Rákosi Parteichefblieb.Mit dem Rehabilitierungsprogramm hatte Rákosi ausgerechnet denöffentlichen Ankläger Gyula Alapi betraut, der 1949 die Anklage gegenRajk vertrat. Rákosi forderte Alapi auf, sich Zeit zu lassen. Die Mühlender Amnestie mahlten wirklich fe<strong>in</strong>, aber langsam: Es gab da den Fall147


e<strong>in</strong>es Mannes, der e<strong>in</strong>gekerkert worden war, weil er se<strong>in</strong>em Bruder e<strong>in</strong>ePostkarte nach Jugoslawien geschickt hatte. Se<strong>in</strong>e Frau bat nun Nagy,ihren Mann freizulassen. Neun Monate später erklärte Nagys neuerJustizm<strong>in</strong>ister Ferenc Erdei gegenüber Professor István Bibó: »Ichbedaure, Ihnen sagen zu müssen, daß ich noch immer nicht die Unterlagendieses Falles habe!«ÈÍNagy war vor allem durch se<strong>in</strong>e Wirtschaftsreformen <strong>in</strong> Anspruchgenommen, aber er sorgte dafür, daß Anna Kéthly, die nach derVerschmelzung der Sozialdemokraten mit den Kommunisten e<strong>in</strong>gekerkertworden war, freigelassen wurde.Die von Rákosi verfolgten und verurteilten Kommunisten wurdenwieder <strong>in</strong> die Partei aufgenommen; aber sie machten ke<strong>in</strong>en Hehl aus ihrerUnzufriedenheit.E<strong>in</strong> mächtiger Zerfallsprozeß setzte e<strong>in</strong>. Noch fehlte den Unzufriedenendie Führung und selbst der Mut, den Ausbruch e<strong>in</strong>es öffentlichenWiderstandes zu <strong>in</strong>szenieren. Der amerikanische Militärattaché beurteiltedie Lage im Dezember 1953 folgendermaßen: »Es gibt ke<strong>in</strong>e organisiertenWiderstandsgruppen <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong>, die Bevölkerung besitzt nicht dieFähigkeit und wird diese auch nicht <strong>in</strong> der Zukunft haben, sich aktivgegen das derzeitige Regime aufzulehnen; aber das ungarische Volk . . .wird weiterh<strong>in</strong> passiven Widerstand gegen das jetzige Regime leisten.«ÈÎWie das langsame, stetige Tropfen der Säure im Zünder e<strong>in</strong>erZeitbombe wird diese allgeme<strong>in</strong>e Unzufriedenheit zwei Jahre später beiBeg<strong>in</strong>n des Volksaufstandes die rohe Gewalt auslösen.148


14Mächtiger als das SchwertDIE UNRUHE im Lande wuchs. Es bedurfte nur ger<strong>in</strong>ger Anlässe, um dieVolksseele zum Kochen zu br<strong>in</strong>gen. Im Sommer 1954 verlor <strong>Ungarn</strong> dieFußballweltmeisterschaft an Deutschland. Es gab lautstarke Demonstrationenvor dem Verlagshaus der Zeitung Freies Volk und vor demRundfunkgebäude <strong>in</strong> der Bródy Sándor utca – die Leute versuchten, denSender <strong>in</strong> die Hand zu bekommen, um die Nachricht zu verbreiten, derSieg sei gegen harte Währung »an Deutschland verkauft« worden. Für dieNiederlage machte der Mob den »Sportdiktator« Gusztáv Sebes verantwortlich.Unter dem Druck der nachdrängenden Menge gab das Hauptportal desRundfunkgebäudes nach, und die Menschen strömten <strong>in</strong> den Hof bis zurgegenüberliegenden Seite, wo sich der E<strong>in</strong>gang zum Rundfunkstudiobefand. Vor den Glastüren waren ÁVH-Männer postiert, die immerängstlicher und nervöser wurden, je mehr der Druck der Menge wuchs.Nur vorübergehend trat Stille e<strong>in</strong>, als das Klirren e<strong>in</strong>er Fensterscheibe, dieversehentlich mit e<strong>in</strong>em Gewehrkolben e<strong>in</strong>gestoßen wurde, den Lärmübertönte.Zwei Ambulanzwagen erschienen; die Menge wich zurück, um siedurchzulassen. Aber sie waren vollgepackt mit ÁVH-Verstärkungen, undals e<strong>in</strong> Lastwagen durch das Haupttor <strong>in</strong> den Innenhof e<strong>in</strong>bog, ergriffendie Menschen die Flucht. In bewährter Rout<strong>in</strong>e räumten die Sicherheitspolizistenden Hof, <strong>in</strong>dem sie die Mündungen ihrer Masch<strong>in</strong>enpistolen <strong>in</strong>Kniehöhe schwenkten. Zwei Tage hielten die Spannungen unverm<strong>in</strong>dertan. An der Ecke Rákóczi út und Korút, der R<strong>in</strong>gstraße, sah man e<strong>in</strong>en149


Russen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ausgebeulten braunen Anzug und mit Panamahut; ererteilte e<strong>in</strong>em Polizeioberst mit lauter Stimme auf russisch Befehle,während e<strong>in</strong>e größere Menschenmenge zusammengetrieben und <strong>in</strong> dasNationaltheater gesperrt wurde.ÁDer 1953 von Imre Nagy e<strong>in</strong>geführte »Neue Kurs« genoß nur ger<strong>in</strong>gePopularität. Dr. Lawrence E. H<strong>in</strong>kle jr., Soziologe an der amerikanischenCornell University, analysierte 1957 die Me<strong>in</strong>ung e<strong>in</strong>es repräsentativenQuerschnitts der Bevölkerung und stellte fest: »Es hat niemals e<strong>in</strong>egrundlegende Zustimmung zum Regime oder zum Kommunismus <strong>in</strong> denzehn Jahren schmerzlicher Erfahrungen gegeben.«ËDie Menschen führten nach wie vor e<strong>in</strong> vone<strong>in</strong>ander isoliertes Dase<strong>in</strong>.Ihre Nöte blieben persönlich, ke<strong>in</strong>e Öffentlichkeit erfuhr davon, weil dieIntellektuellen der Partei zu feige waren, die Zensurbehörden und dasMonopol der Presse <strong>in</strong> Frage zu stellen.Die Zeitungen des Landes waren langweilig, orthodox und barjeglichen Interesses für menschliche Probleme. Die e<strong>in</strong>zig erlaubte künstlerischeRichtung war der »Sozialistische Realismus«. Romane handeltennur von Arbeitern oder Bauern beim Aufbau des Sozialismus. Inaußergewöhnlichen Fällen konnte e<strong>in</strong> Bühnenstück den Gefühlskonflikte<strong>in</strong>es Fabrikarbeiters darstellen, der von se<strong>in</strong>er Verlobten verlassen wird,weil er se<strong>in</strong>e Produktionsnorm von 125 Prozent nicht erfüllt hat, währendsie bei 132 Prozent liegt. Bei solchen Stücken wurden ke<strong>in</strong>eTheaterkassen gestürmt.Arbeiten von guten, nicht-kommunistischen Autoren wie Lajos Szabóund László Németh waren verboten. Die meisten Schriftsteller undJournalisten waren ängstliche Opportunisten, die sich wie Wetterhähne <strong>in</strong>die Richtung drehten, die ihr Inst<strong>in</strong>kt oder ihr Selbsterhaltungstriebvorschrieben. Sie hatten allerd<strong>in</strong>gs auch e<strong>in</strong>ige gute Gründe: die meistenführenden kommunistischen Schriftsteller waren Opfer der antisemitischenGesetze gewesen, und sie brauchten länger als ihre wenigergebildeten Mitbürger, um die Ähnlichkeiten zwischen Faschismus undKommunismus zu erkennen.Nach Stal<strong>in</strong>s Tod wurden die Redakteure unsicher: Es gab ke<strong>in</strong>en150


Führer mehr, dessen Wort »Gesetz« war. In den Zeitungsredaktionenpflegte der »Leseredakteur« alles zu elim<strong>in</strong>ieren, was auch nur imentferntesten nicht ganz »koscher« war.E<strong>in</strong> Journalist berichtete: »Wenn etwas strittig schien, konnte manse<strong>in</strong>en Artikel ebensogut gleich durchstreichen. Die Parteizentrale würdees gar nicht erst lesen. Selbst Manuskripte von Kab<strong>in</strong>ettsmitgliedernwurden auf Eis gelegt, damit e<strong>in</strong>em niemand später den Vorwurf machenkonnte, sie durchgelassen zu haben.«ÈDie Folge war, daß die Presse jegliche Glaubwürdigkeit verlor. E<strong>in</strong>promovierter Literaturhistoriker aus Szeged, dessen Vater als Jude imKriege umgekommen war, schrieb über das Jahr 1953: »Der Lebensstandardsank, und dennoch beteuerten Zeitungen und Rundfunk ständig,es sei uns noch nie so gut gegangen. Warum? Weshalb diese Lügen? jederwußte, daß der Staat das Geld für die Rüstung ausgab. Warum konnte derStaat nicht zugeben, daß es uns wegen der Rüstungsanstrengungen und derNotwendigkeit, neue Fabriken zu bauen, schlechter g<strong>in</strong>g? . . . Zuerstdachte ich, es müsse dafür irgendwelche geheimen Gründe geben. Immerwieder suchte ich <strong>in</strong> mir selbst und <strong>in</strong> der Außenwelt nach e<strong>in</strong>er Antwort –vergebens! Schließlich gelangte ich zu der Erkenntnis, daß das ganzeSystem dumm und falsch war.«ÍAll das h<strong>in</strong>derte dieselben, mit Scheuklappen versehenen Journalistenund Schriftsteller nicht daran, sich später gegenseitig als Helden des<strong>Aufstand</strong>es zu feiern. Und sie tun es auch heute noch (im Exil). Diemeisten waren l<strong>in</strong>ientreue Kommunisten, die sich häufig im Haus desSchriftstellerverbandes <strong>in</strong> der Gorkij fasor aufhielten. In dieser Villa ausdem späten 19. Jahrhundert, mit ihrem romantischen Innenhof, befandensich die Redaktionsräume ihres wöchentlich ersche<strong>in</strong>enden LiteraturblattsIrodalmi Ujság. E<strong>in</strong>ige Leute glaubten, der Verband sei »unpolitisch«; <strong>in</strong>Wirklichkeit war er lediglich total verkümmert, im Absterben begriffen.In der Unzufriedenheit dieser jüdischen Intellektuellen, die sichregelmäßig <strong>in</strong> den Räumen ihres Verbandsvorsitzenden im Erdgeschoßtrafen, sahen Psychoanalytiker e<strong>in</strong>deutig Zeichen von Verbitterung überderen Rolle als »outsider«. Sie fühlten sich um den Lohn der Macht und151


des Geldes betrogen, dessen sich ihre Freunde und Genossen der Rákosi-Clique <strong>in</strong> so reichem Maße erfreuen konnten.Dennoch hatten sie e<strong>in</strong>en entscheidenden Vorteil – der Verband ware<strong>in</strong> Organ der Partei, so daß sie immer noch <strong>in</strong>nerhalb des Parteigefügesproduzieren konnten und dadurch nicht so leicht dem Terrorapparat derKP ausgesetzt waren.Da ist Tibor Méray, dreißig, seit 1947 Redakteur beim ParteiblattFreies Volk, e<strong>in</strong> Pfeifenraucher, dessen kahler Schädel, ungepflegterSchnurrbart und Warze ihm das Aussehen e<strong>in</strong>es Bankangestelltenverleihen, der gerade mit der Hand <strong>in</strong> der Kasse geschnappt wird. WennMéray spricht, bewegt er se<strong>in</strong>en Kopf ruckartig h<strong>in</strong> und her, um se<strong>in</strong>enWorten Nachdruck zu verleihen. Er gibt später zu, daß NagysLiberalisierungsprogramm ihm die Augen geöffnet habe: »Wir glaubten,den Sozialismus zu bauen. Und wir mußten erkennen, daß wir e<strong>in</strong>Zuchthaus errichtet hatten, aus Blut und Qualen.«1954 ist er immer noch als Kriegsberichterstatter <strong>in</strong> Korea. Von dortverbreitet er die Propagandameldung über den angeblichen E<strong>in</strong>satzbakteriologischer Waffen durch die Amerikaner.Tamás Aczél vertritt ihn als Parteisekretär im Schriftstellerverband. Erhat e<strong>in</strong> pfiffiges Gesicht, kle<strong>in</strong>e Ohren und Säcke unter den f<strong>in</strong>sterblickenden Augen. Er ist e<strong>in</strong> mittelmäßiger Schriftsteller, der mitdreiundzwanzig Jahren der Partei beigetreten ist. Er hat Hymnen aufStal<strong>in</strong> geschrieben; 1947 veröffentlichte er e<strong>in</strong>en bemerkenswerten Romanüber e<strong>in</strong>en jungen Helden der Arbeit aus der Zeit des Wiederaufbaus nachdem Kriege und dessen Liebe zu e<strong>in</strong>er schönen, aber leider bourgeoisenjungen Dame.1952 meldete die Prawda, Aczél sei der Stal<strong>in</strong>preis für diesen Romanverliehen worden. E<strong>in</strong>ige Kritiker vermuteten, Stal<strong>in</strong> habe ihm dieAuszeichnung deshalb zugesprochen, weil »acél« Stahl (wie se<strong>in</strong> eigenerName »Stal<strong>in</strong>«) bedeutet; andere behaupteten, Stal<strong>in</strong> habe e<strong>in</strong>fach denersten Namen e<strong>in</strong>er alphabetischen Liste, die man ihm vorlegte,ausgewählt.152


Von den 25.000 Rubeln des Preises kaufte sich Aczél e<strong>in</strong>encremefarbenen Skoda 1200. Mit dem behördlichen Kennzeichen CA – 900wurde der Wagen, mit lässiger Hand von Aczél gesteuert, e<strong>in</strong> vertrauterAnblick <strong>in</strong> den sonst so verkehrsarmen Straßen Budapests. Dieses Autosollte <strong>in</strong> den ersten Stunden des <strong>Aufstand</strong>s noch e<strong>in</strong>e Rolle spielen.Der nächste <strong>in</strong> dieser »Heldengalerie« ist Tibor Déry. <strong>Ungarn</strong>, die sichnoch weit zurücker<strong>in</strong>nern können, wissen, daß der berühmte Schriftsteller,Sohn e<strong>in</strong>es jüdischen Anwalts, über die Hälfte se<strong>in</strong>es Lebens demKommunismus gewidmet hat. Auch er war nach dem Sturz Béla Kuns <strong>in</strong>sAusland geflüchtet, 1937 zurückgekehrt und hatte wie durch e<strong>in</strong> WunderAdolf Eichmanns Vernichtungsaktion mit Hilfe e<strong>in</strong>es gefälschtenamerikanischen Passes überlebt.ÎSe<strong>in</strong> umfangreicher Roman von 1947, Der unvollendete Satz, wurdevon se<strong>in</strong>em Freund, dem Philosophen György Lukács, als »e<strong>in</strong>er derschönsten Romane dieses Jahrhunderts« gepriesen; er hatte e<strong>in</strong>en Umfangvon 952 Seiten. Déry erhielt für ihn den nationalen Kossuth-Preis. Aber erhat auch Balladen zum Ruhme Rákosis und Stal<strong>in</strong>s geschrieben. E<strong>in</strong>eachtzehnjährige jüdische Schüler<strong>in</strong>, die vertraulich nach Tibor Dérybefragt wird, rief mit der ganzen Spontaneität ihrer Jugend aus: »Ichmußte alle se<strong>in</strong>e idiotischen Gedichte und Dramen <strong>in</strong> der Schule lesen!«ÏEr hat e<strong>in</strong> freundliches und ausdrucksvolles Gesicht. Se<strong>in</strong>e Augenbrauenheben sich abwechselnd, wenn er spricht, und hat er e<strong>in</strong>e Bemerkunggemacht, nickt er, als ob er e<strong>in</strong>en Punkt am Ende e<strong>in</strong>es Absatzes setzt.Wenn er schreibt, mümmelt er stillschweigend vor sich h<strong>in</strong> wie e<strong>in</strong>Kan<strong>in</strong>chen im Stall. Se<strong>in</strong> schwermütiges Gesicht mit den unordentlichen,grauen Haaren ist häufig <strong>in</strong> den Parteizeitungen abgebildet.Tibor Déry wird als Schriftsteller ebenfalls <strong>in</strong> den vordersten Reihender Aufständischen stehen – vielleicht mit mehr Berechtigung als se<strong>in</strong>eKollegen: denn wenn alles vorbei ist, wird dieser Schriftsteller mit se<strong>in</strong>ene<strong>in</strong>undsechzig Jahren se<strong>in</strong>er kranken Mutter die Wahrheit vorenthalten,daß er im Gefängnis sitzt; statt dessen schreibt er ihr von e<strong>in</strong>er Kreuzfahrt,die er unternimmt – vom Mittelmeer, den Fischerhäfen und den Sonnenuntergängen,alles rührende Erf<strong>in</strong>dungen se<strong>in</strong>er Phantasie.Ì153


Gyula Háy, e<strong>in</strong> untersetzter, kahlköpfiger Bühnenautor, der um dieJahrhundertwende geboren wurde, hat den größten Teil se<strong>in</strong>es Lebens imExil <strong>in</strong> Deutschland und Moskau verbracht, wenn er nicht gerade wegense<strong>in</strong>er politischen Betätigung im Gefängnis war. Er saß neben Rákosi <strong>in</strong>dem Zug, der die führenden Funktionäre der Kom<strong>in</strong>tern im Oktober 1941aus Moskau evakuierte, und er sprach 1944 im Moskauer Rundfunk fürRákosi Zehn Jahre lang trägt er denselben stahlblauen Pullover mitReißverschluß und denselben dunkelblauen W<strong>in</strong>termantel. Er spricht mitklarer Stimme und sparsamen, knappen Gesten, aber se<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>en,blanken Augen unter den buschigen Brauen sehen se<strong>in</strong>en Gesprächspartnernicht an.Jahrelang wollte auch er sich nicht festlegen, versuchte er zu»kneifen«: Wenn er die Schrecken des Rákosi-Systems verurteilte, mußteer se<strong>in</strong> eigenes Lebenswerk ebenfalls verurteilen. Háy hat e<strong>in</strong> Stückgeschrieben, das so anti-westliche Töne anschlägt, daß selbst JózsefRévai, der schärfste Stal<strong>in</strong>ist unter Rákosis Genossen, es übertriebenf<strong>in</strong>det.Im Frühjahr 1952 legt e<strong>in</strong>er se<strong>in</strong>er Studenten an der Theater- undFilmakademie e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>aktige Komödie vor, <strong>in</strong> der e<strong>in</strong> unansehnliches,ängstliches weibliches Wesen se<strong>in</strong>e Stellung benutzt, um sich Männernverkuppeln zu lassen. Háy staucht den jungen Mann zusammen, er istempört, daß jemand so verächtlich von e<strong>in</strong>er kommunistischen Parteisekretär<strong>in</strong>zu sprechen wagt. Bis 1953 ist Háy e<strong>in</strong> bl<strong>in</strong>d ergebenerKommunist. Erst dann erkennt er das Böse, das dem System <strong>in</strong>newohnt.Der Geist all dieser großen Schriftsteller war unfrei. Sie hatten sichselbst den Glauben e<strong>in</strong>geredet, daß sozialistische Autoren so schreibenmüßten, wie sie es taten. Niemand hatte den harmlosen, friedfertigenDichter Zoltán Zelk beauftragt, se<strong>in</strong> Gedicht auf Stal<strong>in</strong> zu schreiben; aberZelks Freunde er<strong>in</strong>nern sich, daß er sie anrief, wenn er e<strong>in</strong>e besondersgelungene Zeile geschrieben hatte, um sie ihnen vorzulesen. Späterbereute Zelk, <strong>in</strong>dem er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Gedicht bekannte: »Ich war zu feige, umunanständig zu se<strong>in</strong>.«Ó1954 war die Atmosphäre vergiftet von der st<strong>in</strong>kenden Gefängnisluft154


im ganzen Lande, als die amnestierten Männer aus Rákosis Kerkern undArbeitslagern heimlich über ihre Erlebnisse berichteten.György Faludy, e<strong>in</strong> fünfundvierzig Jahre alter Dichter, wurde imOktober 1953 nach vier Jahren <strong>in</strong> Recsk freigelassen. Er und andereehemalige Gefangene wurden im Erholungsheim des Schriftstellerverbandesuntergebracht. Dort herrschte im Gegensatz zu ihrem bisherigenAufenthaltsort e<strong>in</strong> Luxus, der nicht ohne Wirkung auf die ehemaligenGefangenen und auf die Schriftsteller blieb.E<strong>in</strong>es Abends sprach die Frau von Géza Losonczy über ihren VaterSándor Haraszti, der Hauptangeklagter im Kádár-Prozeß war und bis 1955im Gefängnis saß. Tamás Aczél, zur Zeit der Verhaftung Harasztis dessenSekretär, gab <strong>in</strong> aller Gelassenheit zu: »Wissen Sie, am nächsten Tag gabich e<strong>in</strong>e Party, auf der wir tanzten und tranken und die ÁVH hochlebenließen, weil sie so wachsam gewesen war und se<strong>in</strong>en Verrat aufgedeckthatte.«ÔNoch haben die Schriftsteller ihren Opportunismus nicht überwunden.Selbst Imre Nagy weist – zu spät – <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Geheimmemoiren darauf h<strong>in</strong>.»In der Zeit vor dem Juni 1953 befanden sich die ungarischenSchriftsteller . . . <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em schweren Irrtum. Sie verdrehten Realität undWahrheit. Literatur, Kunst und Musik wurden zu e<strong>in</strong>em Zerrspiegel, <strong>in</strong>dem die Menschen nicht die großen, ungelösten Probleme ihres eigenentäglichen Lebens wiedersahen.«Als Nagy M<strong>in</strong>isterpräsident wurde, ließ die Feigheit der Schriftstellernach; bald würden sie mutig genug werden, »unanständig« zu se<strong>in</strong>.Ende 1953 beschloß der marxistische Parteisekretär des Schriftstellerverbandes,László Kónya, se<strong>in</strong>e Kollegen aufs Land zu schicken. Siesollten die Bauern überreden, auf den Kollektivfarmen zu bleiben. DieJournalisten waren damit e<strong>in</strong>verstanden. Miklós Molnár, ehemaligerRedakteur der Literatur-Woche und Chefredakteur der MonatszeitschriftCsillag [Stern], fand es e<strong>in</strong>e ausgezeichnete Idee. Molnár bat PéterKuczka, <strong>in</strong> den Bezirk Nyirség zu fahren und dar-über ausführlich zuberichten. Diese plötzliche Konfrontation mit den trostlosen Verhältnissen155


auf dem Lande war e<strong>in</strong> reichlich später, aber schwerer Schock für dieParteijournalisten. Kuczka schrieb e<strong>in</strong> episches Gedicht Nyirség Tagebuchund verlieh dem Haß gegen das Regime, der die Bauern <strong>in</strong> Nordost-<strong>Ungarn</strong> beseelte, beredten Ausdruck.ÁÊAnschließend fand beim Schriftstellerverband e<strong>in</strong>e dreitägigeDiskussion statt. Jeder Journalist gab e<strong>in</strong>en »Dorfbericht«. E<strong>in</strong> Reporternamens Urban, der seit 1947 bei der Zeitung Freies Volk beschäftigt war,erklärte, er habe der Partei schon vierzig Mernoranden über dieVerhältnisse auf den Dörfern geschickt. Die Gemüter erhitzten sich. Derdreißigjährige András Sándor rief empört aus: »In <strong>Ungarn</strong> herrscht nichtdie Diktatur des Proletariats, sondern die Diktatur der Speichellecker!«Diese bissige Bemerkung und e<strong>in</strong>e unveröffentlichte, antisemitischgefärbte Kurzgeschichte über die ÁVH kosteten ihn die Mitgliedschaft <strong>in</strong>der Partei.Die Amerikaner haben später Tausende von Flüchtl<strong>in</strong>gen aus denDörfern befragt. Lassen wir e<strong>in</strong>en für alle sprechen: e<strong>in</strong>en zweiundvierzigJahre alten Bauern aus Nyiracsád, e<strong>in</strong>er 6000 Seelen großen Prov<strong>in</strong>zstadtim Bezirk Nyirség, acht Kilometer von der rumänischen Grenze entfernt.Der Ertrag, der aus dem sandigen Boden er-wirtschaftet werden mußte,war genauso groß, wie das Soll aus Gegenden mit dem bestenAckerboden.Die Menschen <strong>in</strong> diesem Gebiet s<strong>in</strong>d religiös – sie bekennen sich zurgriechisch-orthodoxen Kirche –, und es ist den Kommunisten niegelungen, diese Leute ganz für sich zu gew<strong>in</strong>nen. An den großen rotenFeiertagen, wie dem 1. Mai und dem 4. April, bekunden die E<strong>in</strong>wohneroffen ihre E<strong>in</strong>stellung – sie glänzen durch Abwesenheit, während dieBonzen und die Mitglieder der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaftmarschieren; bevor der Marschblock den Petöfi-Platzerreicht, haben sich die Beherzteren davongestohlen, bis ke<strong>in</strong>er mehrgeblieben ist, um sich die Reden anzuhören. Wenn die KommunistischePartei e<strong>in</strong>en lokalen Parteitag abhält, geht der ganze Ort »auf Tauchstation«.ÁÁ156


Hier draußen auf dem Lande herrscht bitterer Haß auf die Juden. »Alssie 1945 nach <strong>Ungarn</strong> zurückkehrten, besagen sie nicht e<strong>in</strong>en Pengö«, sagtder Bauer verärgert. »Und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Jahr hatten sie bestens für sichgesorgt. Ich weiß nicht, wie sie das gemacht haben.«Jetzt s<strong>in</strong>d die meisten lokalen Funktionäre Juden: der Chef desGenossenschaftsladens, der Landwirtschaftsberater im Rathaus, die Leitervon zwei Zweigläden.»Es war ihr Regime. Die Juden verbreiteten den größten Unmut <strong>in</strong><strong>Ungarn</strong>. Die Bauern <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Dorf merkten, daß die Juden demKommunismus an die Macht halfen und daß sie die Führer desKommunismus waren. Wir hatten nicht e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>zigen anständigen Judenim Dorf.«Der Kommunismus hat der Landbevölkerung ke<strong>in</strong>e der von Marx undLen<strong>in</strong> versprochenen Verbesserungen gebracht. Er hat Debrecen, dienächstgrößere, achtunddreißig Kilometer entfernte Stadt, <strong>in</strong> e<strong>in</strong> zweitesMoskau verwandelt, mit russischen Namen, russischen Läden undSchulen, großen Garnisonen und e<strong>in</strong>em Flughafen.Was noch schlimmer ist: Er hat achtzehn oder zwanzig se<strong>in</strong>er Freunde<strong>in</strong>s Gefängnis gebracht. Der Mann erzählt: »Sie haben kaum darübergesprochen, warum sie eigentlich e<strong>in</strong>gesperrt waren. Meistens wußten sieselbst nicht, warum sie überhaupt verhaftet waren.« E<strong>in</strong> Mann wiegtzweiundneunzig Kilogramm, als er 1955 verhaftet wird, und nur nochzweiundfünfzig bei se<strong>in</strong>er Rückkehr e<strong>in</strong> Jahr später.Es gibt e<strong>in</strong>e feste Regel im Kopfe dieses e<strong>in</strong>fachen Mannes: »Nichtüber Politik sprechen. Politik ist eben auch e<strong>in</strong> Handwerk – man muß eslernen, wie e<strong>in</strong> Masch<strong>in</strong>ist oder e<strong>in</strong> Stellmacher se<strong>in</strong>en Beruf lernt.«Was <strong>in</strong>teressiert diese e<strong>in</strong>fachen Menschen vom Lande der Schriftstellerverband?Sie haben nie davon gehört. »Es gab Lehrer <strong>in</strong> unsererGeme<strong>in</strong>de«, sagte er nachdenklich. »E<strong>in</strong>ige waren me<strong>in</strong>e Freunde – auchder Doktor war me<strong>in</strong> Freund. Aber auch er hat nie etwas darüber gesagt.«Er selbst las das Parteiorgan Freies Volk, weil es Pflicht war, und dasProv<strong>in</strong>zblatt Hajdúság wegen se<strong>in</strong>er <strong>in</strong>teressanten Lokalberichte.»Ich hatte die Nase voll von all dem dummen Geschwätz über die157


Kollektivfarmen«, sagt der Bauer. »Von der Literaturzeitung habe ich nieetwas gehört. Unsere Intelligenzija hat sie auch nicht gelesen.«Die Revolution schlägt wie der Blitz <strong>in</strong> diese Geme<strong>in</strong>de e<strong>in</strong> und setztsie <strong>in</strong> Brand wie benz<strong>in</strong>getränktes Stroh. Jahre wirtschaftlichen Elendshaben die Landbevölkerung bis zur Weißglut gereizt. Wenn e<strong>in</strong> Bauer imKollektiv nicht jeden Mittwoch se<strong>in</strong> Ablieferungssoll erfüllen kann, weißer, daß die Kommunisten ihm drei Tage Zeit geben; dann ersche<strong>in</strong>t e<strong>in</strong>ezehnköpfige »Transfer-Brigade« von Zigeunern als Büttel. Die Zigeunererhalten täglich hundert For<strong>in</strong>t für den E<strong>in</strong>bruch <strong>in</strong> die Häuserzahlungsunfähiger Bauern, die sie dann ausplündern; sie nehmen alles,was von Wert ist, zur Bezahlung der Schulden mit – e<strong>in</strong>e Nähmasch<strong>in</strong>e,Federvieh oder R<strong>in</strong>der. Da ke<strong>in</strong> Dorfbewohner bereit ist, se<strong>in</strong>em Nachbarnso etwas anzutun, machen es die Zigeuner.Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten haben im Jahre 1948 begonnenund s<strong>in</strong>d seitdem ständig gestiegen. Zuweilen wird es selbst den Steuere<strong>in</strong>nehmernzuviel, dieses grausame System durchzusetzen. Wenn siewissen, daß e<strong>in</strong>e »Transfer-Brigade« im Anmarsch ist, geben sie denBauern e<strong>in</strong>en W<strong>in</strong>k, damit diese ihr Vieh rechtzeitig <strong>in</strong> die Wälder treibenund so retten können.Am schlimmsten s<strong>in</strong>d die Schrottsammlungen. Jeder Ort hatvierteljährlich e<strong>in</strong>e bestimmte Menge Alteisen abzuliefern. Die Bauerngeraten vor Verzweiflung außer sich, wenn dieser Term<strong>in</strong> heranrückt – sieverstecken ihre Pflugscharen <strong>in</strong> tiefen Brunnen, und dennoch werden sieihnen gestohlen. Junge Leute werden ermuntert, <strong>in</strong> Häuser e<strong>in</strong>zubrechen.Wasserhähne und Türdrücker verschw<strong>in</strong>den, Glocken werden ausKapellen geraubt, Schilder von Bäumen und eiserne Gartenzäuneabmontiert.ÁËImre Nagys kurze Amtszeit brachte der Masse der Bauern ke<strong>in</strong>eErleichterung. Se<strong>in</strong>en Maßnahmen gelang es nur, die Symptome zukurieren, nicht aber das Grundübel der Krankheit, die marxistischeMeisterplanung.Niemand kann sich <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> der zwangsläufigen Ansteckung durchdas marxistische Virus entziehen. Die obligatorischen Schulungsabende158


gehen weiter. Es gibt allerd<strong>in</strong>gs auch gewisse Vorteile. Jeder Student derBudapester Technischen Hochschule muß an e<strong>in</strong>em dreimonatigenPartisanen-Schulungskurs teilnehmen, der <strong>in</strong> der enteigneten Villa e<strong>in</strong>esEssigfabrikanten <strong>in</strong> der Ménesi utca <strong>in</strong> Buda stattf<strong>in</strong>det. Diese Ausbildungan Waffen und <strong>in</strong> der Guerillataktik wird sich während des <strong>Aufstand</strong>es alssehr nützlich erweisen.ÁÈE<strong>in</strong>er der ersten Journalisten, denen e<strong>in</strong> Licht aufgeht, ist MiklósVásárhelyi. Er wird e<strong>in</strong>er der Führer der Geheimorganisation zurBekämpfung der Stal<strong>in</strong>isten.ÁÍIm Mai 1954 wird der Siebenunddreißigjährige Vizechef von NagysPressebüro. Formal untersteht er Zoltán Szántó, e<strong>in</strong>em Gefährten Nagysaus dessen Moskauer Jahren. Aber Szántó ist über sechzig. Rákosi hatteihn als unliebsamen Kritiker auf diplomatische Posten <strong>in</strong> Belgrad undParis abgeschoben, so daß er seit 1945 ohne engeren Kontakt mit denGeschehnissen <strong>in</strong> Budapest war. »Szántó war der Boß, aber ich hatte dasSagen«, erzählte Vásárhelyi später.Nagy behielt diesen jungen Mann mehrere Jahre im Auge. Vásárhelyiwar vor dem Kriege aktives Mitglied der volksnahen »März-Front« an derUniversität von Debrecen gewesen und trat 1939 der illegalen kommunistischenUntergrundbewegung bei. 1944 führte er e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e, schlagkräftigePartisanengruppe, die deutsche Panzer beschoß und faschistischeKollaborateure <strong>in</strong> den Slums von Angyalföld tötete. Als im Februar 1945im sowjetisch besetzten Budapest das Mittagsblatt Szabadság [Freiheit]gegründet wurde, trat er <strong>in</strong> dessen Redaktion e<strong>in</strong>. Zwei Monate später g<strong>in</strong>gdaraus das offizielle Parteiorgan Freies Volk hervor, dessen gefürchteterChefredakteur József Révai war. Vásárhelyi wurde außenpolitischerRedakteur. Er blieb auf diesem Posten bis 1949, als er von denNachwirkungen des Rajk-Prozesses überrollt und entlassen wurde.Mit den Worten: »Ich habe schon im voraus bezahlt, also kann ichreden«, begrüßt mich Vásárhelyi Se<strong>in</strong> Sohn hat ihm von dem englischenWagen erzählt, der plötzlich draußen vorgefahren ist, und er ist neugierigzu erfahren, wer der unerwartete Besucher ist.Miklós Vásárhelyi, Sohn italienisch sprechender Eltern und wie Kádár159


<strong>in</strong> Fiume geboren, ist e<strong>in</strong> hübscher, untersetzter Mann, der m<strong>in</strong>destensfünf Jahre jünger aussieht, als er ist. Und etwa fünf Jahre hat er imGefängnis verbracht. Ich mache die Bemerkung, daß ihm ke<strong>in</strong>eVerbitterung anzusehen sei, nachdem er so viele Jahre <strong>in</strong> Unfreiheitverbr<strong>in</strong>gen mußte. Aber er zuckt gleichmütig die Achseln, während se<strong>in</strong>emandelförmigen Augen mich von unten her anbl<strong>in</strong>zeln. Er streicht se<strong>in</strong>graues Haar mit nervös zitternder Hand aus der Stim, feuchtet se<strong>in</strong>eLippen und fängt an, über die Vergangenheit zu sprechen. Se<strong>in</strong> gerötetesGesicht sticht von se<strong>in</strong>em hellgrauen Anzug und Hemd ab – FrauVásárhelyi schilt ihn, weil er e<strong>in</strong> Oberhemd trägt, von dem sie gerade alleKnöpfe abgeschnitten hat. Aber er ist den ganzen Tag auf der Rückkehrvon der CSSR im Auto gefahren und hatte mich nicht erwartet.Die Wohnung ist bescheiden e<strong>in</strong>gerichtet: nicht zue<strong>in</strong>ander passendeMöbel, e<strong>in</strong> großes, blankes Fernsehgerät und e<strong>in</strong>ige Brücken auf demnackten Holzfußboden. Im Gegensatz zu György Marosáns Wohnungbef<strong>in</strong>det sich e<strong>in</strong> Namensschild an Vásárhelyis Haustür. Und währendMarosán mir wie bei e<strong>in</strong>er Versammlung vor dem Fabriktor e<strong>in</strong>eAnsprache hielt und ihm wahrsche<strong>in</strong>lich gar nicht aufgefallen wäre, wennich mich davongeschlichen hätte, hört Vásárhelyi aufmerksam zu undantwortet offen, ohne Ausflüchte. Allerd<strong>in</strong>gs sagt er warnend, daß erselbst jetzt nicht über so heikle D<strong>in</strong>ge wie den Nagy-Prozeß reden könne:das sei e<strong>in</strong> Staatsgeheimnis.Er gibt zu, daß er früher – wie alle se<strong>in</strong>e Genossen – bl<strong>in</strong>d überzeugterMarxist gewesen sei. Selbst wenn Freunde plötzlich verschwanden, seiihm nie e<strong>in</strong>gefallen, daß die Partei Unrecht tun könne. »Täglich las ichenglische, französische und amerikanische Zeitungen und hätte Vergleicheziehen können. Aber ich tat es nicht«, sagt er jetzt. »Ich habe ke<strong>in</strong>eErklärung dafür. Obgleich nicht immer alles richtig gemacht wurde,dachte ich, unsere großen Ideale seien so wunderbar, daß am Ende allesgut se<strong>in</strong> werde.«Und bedauernd fügte er h<strong>in</strong>zu: »Es gibt nichts, was ich zu me<strong>in</strong>erRechtfertigung sagen könnte.«Trotz se<strong>in</strong>er privilegierten Stellung als außenpolitischer Redakteur, die160


ihm Reisen <strong>in</strong> westliche Länder ermöglichte, blieb er gegenüber derRückständigkeit se<strong>in</strong>es eigenen Landes mit Bl<strong>in</strong>dheit geschlagen. Wenn ervon solchen Auslandsreisen zurückkehrte, rief Rákosi ihn häufig an undstellte ihm ganz gescheite Fragen.»Er wollte etwas von me<strong>in</strong>en persönlichen E<strong>in</strong>drücken hören«,er<strong>in</strong>nert sich Vásárhelyi »Aber dann war er wieder der Typ e<strong>in</strong>esMenschen, der mich, kaum hatte ich mit Erzählen begonnen, unterbrachund mir erklärte, was er von den USA halte. In me<strong>in</strong>en Augen hatte ervollkommen recht, denn er war der Chef«, sagt Vásárhelyi still <strong>in</strong> sichh<strong>in</strong>e<strong>in</strong>lachend. »Er war viel klüger als ich, denn ich war sehr . . . « Er hältbeide Hände wie Scheuklappen neben se<strong>in</strong>e Augen, um anzudeuten, daßihm das richtige Wort nicht e<strong>in</strong>falle. »Um mir e<strong>in</strong>en Gefallen zuerweisen«, fährt er fort, »tat er so, als sei er nicht der Klügere. Aber <strong>in</strong>Wirklichkeit wußte er viel mehr als ich. Wahrsche<strong>in</strong>lich lachte er sich<strong>in</strong>sgeheim tot über me<strong>in</strong>e Naivität. Er war e<strong>in</strong> außergewöhnlicherMensch.«»Er, Gerö und auch Révai«, räumt er e<strong>in</strong>. »Alle drei. Wenn auch <strong>in</strong>unterschiedlicher Weise. Gerö war e<strong>in</strong> ausgezeichneter Organisator,während Révai e<strong>in</strong> großer Literaturkenner war. Révai wußte, daß dersozialistische Realismus ke<strong>in</strong>en Pfifferl<strong>in</strong>g wert und Thomas Mann dergrößte Schriftsteller war. Aber er blieb ›l<strong>in</strong>ientreu‹.«Nach dem Rajk-Prozeß verlor Vásárhelyi das Vertrauen der Partei. Erwar total »<strong>in</strong>fiziert«. 1952 versuchte er, e<strong>in</strong>e russisch-englische Propaganda-Illustriertemit dem Titel <strong>Ungarn</strong> herauszugeben. Dabei lernte er NagysTochter Bözske kennen, die erst 1951 der Partei beigetreten war. Sie warebenfalls Journalist<strong>in</strong> und fühlte sich vom <strong>in</strong>tellektuellen Programm derKP angesprochen. Bei der Illustrierten leitete sie das russische Ressort.ÁÎInzwischen hatte se<strong>in</strong>e Enttäuschung über Rákosi ihren Höhepunkterreicht. Ohne Rücksicht auf die Gefährdung se<strong>in</strong>er eigenen Person, se<strong>in</strong>erFrau und se<strong>in</strong>er drei K<strong>in</strong>der begann er auf Parteiversammlungen Kritik zuüben. Für ihn gab es ke<strong>in</strong> Zurück mehr.Ich frage ihn: »Können Sie mir den entscheidenden Grund nennen,warum Sie 1953 mit kritischen Äußerungen, die das Interesse Nagys161


erregten, an die Öffentlichkeit traten?«»Ich war sehr naiv«, erwiderte Vásárhelyi und erläuterte die Gründefür se<strong>in</strong> damaliges Verhalten. »Aber ich f<strong>in</strong>g an, Bücher zu lesen, die ichvorher nie gesehen hatte. Zum Beispiel«, sagte er schüchtern lächelnd,wobei er e<strong>in</strong>e Lücke zwischen se<strong>in</strong>en oberen Vorderzähnen entblößt:»George Orwell! Ich hatte schon von ähnlichen Werken wie Orwellgehört, aber als ›guter Katholik‹ mich nicht dafür <strong>in</strong>teressiert.«Das war sehr aufschlußreich! Der Engländer Orwell hatte zwei großeSatiren über autoritäre Regime geschrieben: Animal Farm und 1984. Alsowaren Orwells Bücher die Triebfeder für Vásárhelyi se<strong>in</strong> Leben aufs Spielzu setzen und dem Regime Widerstand zu leisten.Später haben mir auch andere abtrünnige Kommunisten, wie derFunktionär des Schriftstellerverbandes Miklós Molnár bestätigt, welcheRolle Orwells verbotene Werke bei ihrer Entscheidung gegen das Regimegespielt hatten. Die Feder ist zuweilen wirklich mächtiger als das Schwert.Ich frage ihn, von wem er die Bücher bekommen hat.Er zögert kaum merklich: »Von Freunden«, sagt er schließlich.Vielleicht me<strong>in</strong>t er Rajks auf Rache s<strong>in</strong>nende Witwe Julia, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>erBibliothek arbeitete.»Von Freunden. Jahrelang hatten sie mir gesagt, ich sei auf demfalschen Weg. Aber bis dah<strong>in</strong> hatten sie nie gewagt, mir diese Bücher zuleihen.«162


15Partei-JargonNAGY STEUERTE se<strong>in</strong>en »Neuen Kurs« nur bis Anfang 1955.Schon während des Jahres 1954 hatte Rákosi se<strong>in</strong>en Gegenangriffgestartet. Auf dem Dritten Parteitag trat der Riß quer durch die Parteioffen zutage. Rákosi stellte ohne Umschweife fest: »Wir müssen Schlußmachen mit dem Liberalismus, der e<strong>in</strong>en großen Teil unserer Partei- undStaatsorgane erfaßt hat.«Nagy waren die Hände gebunden. Er wußte von den Verbrechen derRákosi Gerö, Farkas und Révai, und doch unternahm er nichts, um –vielleicht im Namen der sozialistischen E<strong>in</strong>heit – ihre Verbrechen zubestrafen oder aufzudecken. Rákosi kontrollierte den Parteiapparat unddamit auch den Staatssicherheitsdienst ÁVH, so daß er Nagys Wirken anallen Ecken und Enden lahmlegen konnte. Die Öffentlichkeit wußte nochimmer nichts Genaues über die Anti-Rákosi-Resolution vom Juni 1953.Rákosi versuchte, Nagy auszuweichen, ihn zu beschw<strong>in</strong>deln und zusabotieren. Das war e<strong>in</strong> gefährliches Spiel, denn ihm fehlte jegliche Unterstützungvon seiten Moskaus. Tatsächlich hatten ihn die Kremlherrenschon Anfang 1954 wegen se<strong>in</strong>er Obstruktionspolitik gerügt.Kaganowitsch erklärte sarkastisch: »Das Verhältnis zwischen SchwerundLeicht<strong>in</strong>dustrie hat sich fast überhaupt nicht geändert.« UndMalenkow klagte: »Die Fehler, auf die wir im Juni aufmerksam gemachthaben, werden zu langsam korrigiert. Rákosi hat ke<strong>in</strong>e Initiative ergriffen,diese Fehler zu beseitigen.«Auch Gerö geriet unter Beschuß, und zwar von Chruschtschow: »Geröhat ke<strong>in</strong>e Selbstkritik geübt und ke<strong>in</strong> Verantwortungsbewußtse<strong>in</strong> für die163


schweren Fehler <strong>in</strong> der Wirtschaftspolitik bewiesen.«Besonders verärgert äußerten sich die Kremlherren – laut Nagysspäterem triumphierenden Bericht – über Rákosis Versäumnis, die Opferder Säuberungen zu rehabilitieren. »Die Entlassung der Gefangenen gehtzu langsam vor sich«, klagte Chruschtschow. »Das ist Rákosis Schuld.«Und im Mai 1954 äußerte Chruschtschow vertraulich gegenüber den <strong>in</strong>Moskau anwesenden ungarischen KP-Führern: »Rákosi war für dieVerhaftungen verantwortlich! Deshalb will er die Häftl<strong>in</strong>ge jetzt nichtentlassen – denn er weiß genau, daß er die verdammte Schuld hat und daßer sich jetzt kompromittiert.«ÁUnverändert halsstarrig fuhr Rákosi wieder nach Hause und setztese<strong>in</strong>e Treibjagd und Wühlarbeit gegen Nagys »Neuen Kurs« fort.Auf Drängen Moskaus wurden weitere politische Gefangene freigelassen.Rákosis kommunistische Opfer wurden zuerst rehabilitiert undviele wieder <strong>in</strong> die Partei aufgenommen. Géza Losonczy, Sándor Haraszti,Ferenc Dönath und Szilárd Újhelyi erhielten von Nagy nach ihrerEntlassung führende Posten. Die kommunistischen Schriftsteller akzeptiertenjetzt ihren Anteil an der Schuld. László Benjám<strong>in</strong> widmete se<strong>in</strong>emFreund e<strong>in</strong> Gedicht, <strong>in</strong> dem er zugab: »Ich b<strong>in</strong> schuldig, weil ich glaubte,du seist schuldig!«ËDie ganze Amnestie g<strong>in</strong>g ohne Publizität vor sich. Im Gegenteil, BélaSzász, Rajks früherer Pressechef, hatte folgendes typisches Erlebnis: Beise<strong>in</strong>er Entlassung am 1. September 1954 händigte man ihm e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>eBesche<strong>in</strong>igung aus, auf der »bestätigt« wurde, daß er vom 31. August an<strong>in</strong> Haft war – also seit dem Vortage!È Auch mußte er sich verpflichten,Stillschweigen zu wahren über alles, was er <strong>in</strong> den fünf Jahren se<strong>in</strong>erHaftzeit erlebt hatte.Natürlich gab es ke<strong>in</strong>e Möglichkeit, die H<strong>in</strong>gerichteten wieder zumLeben zu erwecken, aber Imre Nagy bemühte sich um Wiedergutmachung,wo immer er konnte. Er empf<strong>in</strong>g die Freigelassenen oder besuchtediejenigen, die zu krank waren, selbst zu kommen. János Kádár, der imJuli 1954 geschwächt und fiebernd aus dem Gefängnis auftauchte, wurdeParteisekretär von Budapests XIII. KP-Bezirk »Angyalföld«. Bei ihrem164


Gespräch reichte Kádár Imre Nagy die Hand: »Ich danke dir, daß du fürme<strong>in</strong>e Entlassung gesorgt hast!«Imre Nagy lächelte bescheiden abwehrend. »János«, sagte er, »ichhoffe, du tust dasselbe für mich, wenn ich an der Reihe b<strong>in</strong>.«ÍDie meisten nicht-kommunistischen Gefangenen blieben jedoch weiterim Kerker. In e<strong>in</strong>em Bericht des US-Nachrichtendienstes vom 1. Februar1955 heißt es: »E<strong>in</strong>e Anzahl ehemaliger Politiker von ger<strong>in</strong>gererBedeutung – Sozialdemokraten, Kle<strong>in</strong>landwirte und relativ unbedeutendekommunistische Opfer der ›Säuberungsaktion‹ – wurden aus demGefängnis entlassen; aber Prom<strong>in</strong>ente wie Ex-Präsident Tildy undSzakasits s<strong>in</strong>d noch nicht wiederaufgetaucht. Über e<strong>in</strong> Jahr ist vergangenseit der großangekündigten E<strong>in</strong>setzung e<strong>in</strong>es Generalstaatsanwalts zurWahrung der bürgerlichen Rechte der Bevölkerung, ohne daß e<strong>in</strong>eTätigkeit <strong>in</strong> diesem S<strong>in</strong>ne sichtbar geworden wäre.«ÎUnterdessen g<strong>in</strong>g die Wirtschaft des Landes unter Nagys »NeuemKurs« dem Zusammenbruch entgegen. Der Inflationsdruck wuchs. DerAmtsschimmel beherrschte die gesamte Verwaltung des Landes.Im ersten Quartal 1954 erließ das F<strong>in</strong>anzm<strong>in</strong>isterium 387 verschiedeneBestimmungen; der Bezirk Szolnok erhielt <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>es halben Jahres1328 landwirtschaftliche Rundschreiben und veröffentlichte etwa diegleiche Anzahl.»Die M<strong>in</strong>isterien«, donnerte Nagy <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er kaum beachteten Rede,»erlassen Unmengen von Anweisungen zu Problemen, die gar ke<strong>in</strong>es<strong>in</strong>d!«In e<strong>in</strong>er Ansprache vor der Akademie der Wissenschaften am 14. Juni1954 räumte Nagy e<strong>in</strong>, daß die sozialistische Planung versagt habe, aberer machte dafür die Tatsache verantwortlich, daß die ökonomischen Kräfte<strong>in</strong>nerhalb des sozialistischen Systems noch nicht ausreichend erforschtseien. Also errichtete er e<strong>in</strong> Forschungs<strong>in</strong>stitut und gründete e<strong>in</strong>e wissenschaftlicheZeitschrift, um wieder e<strong>in</strong>mal über die Theorie nachzugrübeln.ÏEs war, als ob der Pilot e<strong>in</strong>es abstürzenden Flugzeuges denPassagieren mitteilte: »Hier spricht der Kapitän. Wir haben uns ent-165


schlossen, die Gesetze der Thermodynamik zu überprüfen und schickendeshalb den Flugzeugrumpf zu W<strong>in</strong>dkanalversuchen zurück.«Behördenleiter wurden abgesetzt, neue M<strong>in</strong>isterien geschaffen, aberdie Produktion stieg nicht. Im Juli 1953 hatte Nagy den Chef der OberstenPlanungskommission abgelöst. Im Oktober 1954 mußte auch der neuegehen. M<strong>in</strong>destens fünf Stellvertreter wurden ebenfalls entlassen, was nure<strong>in</strong> Beweis für die totale Unfähigkeit dieser Behörde war.Unterdessen blieb die Hauptursache der allgeme<strong>in</strong>en Unzufriedenheitbestehen: Der Lebensstandard war zwar gestiegen – nach offiziellenAngaben der Partei –, allerd<strong>in</strong>gs seit 1949 nur um fünfzehn Prozent,während die Industrieproduktion um 240 Prozent gesteigert worden war.Nagy versuchte, das Problem durch Heraufsetzung der Kaufkraft derBevölkerung und Erhöhung der Konsumgüterproduktion zu lösen (mehrSchuhe, Kleidung, Haushaltswaren und Lebensmittel). Rákosi und Geröwollten das Gegenteil: Sie me<strong>in</strong>ten, die wirtschaftlichen Schwierigkeitenkönnten nur durch e<strong>in</strong>e Herabsetzung des Lebensstandards überwundenwerden: durch Preissteigerungen, Lohnkürzungen und Steuererhöhungen.Die nackte Wahrheit war, daß Ende 1954 Imre Nagys M<strong>in</strong>isterpräsidentschaftlangfristig negative wirtschaftliche Resultate gezeitigt hatte.Die Werktätigen hatten auf die neuen liberalen Verhältnisse mit e<strong>in</strong>emNachlassen der Arbeitsmoral reagiert: Während des Jahres 1954 erreichtenArbeitsversäumnisse und mangelnde Arbeitsdiszipl<strong>in</strong> e<strong>in</strong> chaotischesAusmaß.Die steigende Inflation und die Lebensmittelknappheit überschattetenalles andere. Über die Hälfte der Bauern hatte als Folge des »NeuenKurses« die Kollektivfarmen verlassen und sich ohneh<strong>in</strong> der Getreideproduktionwidersetzt, weil die neuen Steuer- und Ablieferungsverpflichtungendie Ernte unrentabel machten. Den Bauern fehlte jeder Anreiz zuerhöhter Produktion, weil es immer noch zu wenig Konsumgüter zukaufen gab. Zu allem Überfluß hatte schlechtes Wetter im ersten Halbjahr1954 selbst diese ger<strong>in</strong>ge Getreideernte ru<strong>in</strong>iert.Die Industrieproduktion war ebenfalls erheblich zurückgegangen.166


Nach offiziellen statistischen Angaben vom Januar 1955 sank die EisenundStahlproduktion des Vorjahres unter das Niveau von 1953. In derStahlstadt Sztal<strong>in</strong>város und bei der neuen Budapester U-Bahn unter derDonau wurde die Arbeit e<strong>in</strong>gestellt und am Wasserkraftwerk <strong>in</strong> Inotaerheblich e<strong>in</strong>geschränkt.Bis zum Herbst 1954 war das Vertrauen der Bevölkerung für NagysRegierungsstil so beängstigend geschwunden, daß er auf die alte »Volksfront«-Taktikzurückgriff und e<strong>in</strong>e »Patriotische Volksfront« gründete, umdie Unterstützung der nicht-parteigebundenen Kräfte zu gew<strong>in</strong>nen. Durchneue Gesetze wurden alle Massenorganisationen wie Gewerkschaften,Kirchen und Frauenorganisationen verpflichtet, sich <strong>in</strong>nerhalb der PVFzusammenzuschließen, um das unverändert autoritäre Gesicht der Parteizu kaschieren, die selbst wiederum nur e<strong>in</strong>e Maske für die eigentlichenHerrscher <strong>in</strong> Moskau war.Dieser Schritt versetzte Nagys Rivalen <strong>in</strong> der Partei <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Art »RotenAlarm«. Sie fürchteten, die Macht an parteilose Funktionäre <strong>in</strong>nerhalb derPVF zu verlieren. Rákosi warnte bereits lautstark vor der Bildung e<strong>in</strong>er»zweiten Partei« durch Nagy.Dieser Nahkampf erreichte se<strong>in</strong>en Höhepunkt am 1. Oktober 1954, alsdas Zentralkomitee zu e<strong>in</strong>er Plenarsitzung zusammentrat. Drei Tage langbeschwor Imre Nagy das Plenum <strong>in</strong> flammenden Reden, ihn zu unterstützen.Es kam zu offenen Ause<strong>in</strong>andersetzungen zwischen denAnhängern Nagys und Rákosis Freunden. Rákosis Leute äußerten dieÜberzeugung, die Massen würden bei e<strong>in</strong>er Fortsetzung des »NeuenKurses« immer mehr Macht verlangen und sich schließlich offen gegendie Führung durch die Partei auflehnen. Nagys Anhänger erwidertenebenso leidenschaftlich, die e<strong>in</strong>zige Alternative sei sowieso nur der totalewirtschaftliche Zusammenbruch. Nagy machte <strong>in</strong> aller Offenheit Rákosisunfähiges E<strong>in</strong>-Mann-Regime für die Situation des Landes verantwortlichund kritisierte mit scharfen Worten, daß trotz der Resolution vom Juni1953 nur wenig geschehen sei, um die Industrieproduktion zu reorganisieren.Im Gegensatz zu se<strong>in</strong>en Reden im Januar behauptete Nagy jetzt, es167


seien praktisch ke<strong>in</strong>e Erhöhungen der Investitionen für die Leicht<strong>in</strong>dustrieund die Lebensmittelproduktion vorgenommen worden. Schuld daranseien die Machenschaften Rákosis Außerdem sei die Kaufkraft auf demLande absichtlich verm<strong>in</strong>dert, statt erhöht worden.Das Zentralkomitee billigte die Auffassung Nagys, und dieses Malerhielt er e<strong>in</strong>e breite Presseunterstützung für se<strong>in</strong>e Rede. Am 22. Oktoberveröffentlichte Freies Volk den vollen Text der Resolution und schrieb:»Der e<strong>in</strong>zig richtige und mögliche Weg zum Sozialismus <strong>in</strong> unseremLande ist die ›Politik des Neuen Kurses‹.«Am 20. Oktober hatte das Parteiorgan unter der Überschrift »Nach derSitzung des Zentralkomitees« e<strong>in</strong>en Angriff Nagys auf se<strong>in</strong>e Gegnergebracht. Der Artikel machte Schlagzeilen <strong>in</strong> der Weltpresse. In der NewYork Times konnte Rákosi lesen: »Budapester Führer attackiert Diktatur.«ÌNagys Ziel war klar. Er schrieb von »Fehlern, die ihren Ursprung imE<strong>in</strong>-Mann-Regime haben«, und kritisierte Rákosis Mangel an »Wissenund Erfahrung sowie die Unfähigkeit, künftige Entwicklungen vorauszusehen«.Um die Stimmung anzuheizen, sprach Nagy wenige Tage später zurPVF. Er appellierte an die Volksgenossen, se<strong>in</strong>en »Neuen Kurs« weiterh<strong>in</strong>»durch dick und dünn« zu unterstützen. Se<strong>in</strong>e Rede glich zwar nicht völlige<strong>in</strong>er Suada von Joseph Goebbels, aber die Menge brüllte »Ja! Ja!«, undder Beifall toste, wie das Freie Volk berichtete, »m<strong>in</strong>utenlang«.Danach setzte Nagy für den 28. November 1954 allgeme<strong>in</strong>e Kommunalwahlenan. Wochenlang waren die Zeitungsspalten mit langweiligen,ledernen »Wahlkampf«-Reden gefüllt. Wenn westliche Gewerkschaftersolche Reden bloß lesen und sich vorstellen könnten, daß sie dabeise<strong>in</strong>und zuhören müßten!»Liebe Genossen«, begann Nagy <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em typischenRedestil vor den Arbeitern der Lokomotivwerke MÁVAG<strong>in</strong> Budapest. »Mit wenigen schlichten Worten möchte icheuch für euer Vertrauen danken, daß ihr mich als Kandidatenfür den Rat eurer Hauptstadt nom<strong>in</strong>iert habt. Ich168


freue mich darüber aus zwei Gründen: E<strong>in</strong>mal, weil ich vonden Arbeitern der MÁVAG aufgestellt wurde, und dann,weil die MÁVAG e<strong>in</strong> Betrieb ist, auf den die ungarischeIndustrie besonders stolz se<strong>in</strong> kann, denn ihr seid denAppellen der Partei und der Regierung zu größerenAnstrengungen gefolgt und habt die Rückstände des erstenHalbjahres aufgeholt und euren Produktionsplan im drittenQuartal mit 114,8 Prozent übererfüllt, so daß ihr eureExportrückstände abbauen und euren Gesamtplan um sechsProzent übererfüllen konntet . . .Die Produktionsergebnisse des dritten Quartalsbeweisen: Wenn die Arbeitskampagne, die diese Wahlenbegleitet, mit derselben Begeisterung und Energie durchgeführtwird wie die revolutionäre Schicht zu Ehren derGroßen Sozialistischen Oktoberrevolution, und wennBetriebsführung und Arbeiter e<strong>in</strong>e ebensolche Verbesserungder Arbeitsdiszipl<strong>in</strong> – die noch ernste Mängel aufweist– und <strong>in</strong> der Produktion erreichen, dann wird die MÁVAGihren Platz <strong>in</strong> der Reihe der Elitebetriebe e<strong>in</strong>nehmenkönnen.«ÓDas war Nagy auf dem Höhepunkt se<strong>in</strong>er Macht, e<strong>in</strong> Muster anRespektabilität und Selbstbewußtse<strong>in</strong>. Welcher wirkliche Kandidat e<strong>in</strong>erwirklichen Wahl hätte die Unverfrorenheit, mit ölverschmierten Arbeitern<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er derartigen Sprache zu reden! Man muß sich e<strong>in</strong>mal diese dickeGestalt da vorn am Mikrophon vorstellen, mit se<strong>in</strong>em Stal<strong>in</strong>bart, demDoppelk<strong>in</strong>n und e<strong>in</strong>em seidenen Taschentuch im dunklen Anzug, dazu dieGarde wohlgenährter Bonzen h<strong>in</strong>ter ihm auf der Rednertribüne, um denUnmut nachzuempf<strong>in</strong>den, der durch solche Versammlungen erzeugtwurde.Und so tönte er drei Stunden lang – er er<strong>in</strong>nerte die Werktätigen an die»Lehren der unsterblichen Schöpfer der <strong>in</strong>ternationalen revolutionärenArbeiterbewegung – Marx, Engels, Len<strong>in</strong> und Stal<strong>in</strong>« und wies auf das169


»kämpferische Leben von Liebknecht, Rosa Luxemburg und Hegel« h<strong>in</strong>,denen die Arbeiter das Versprechen e<strong>in</strong>er besseren Zukunft verdankten,desselben Versprechens, das immer e<strong>in</strong>e so große Rolle <strong>in</strong> derkommunistischen Propaganda spielt.»Wir s<strong>in</strong>d den Arbeiterbewegungen <strong>in</strong> den kapitalistischen Ländernweit überlegen«, prahlte er. »Denn <strong>in</strong> unserem Lande haben wir alle dieseD<strong>in</strong>ge erreicht, um die <strong>in</strong> jenen Ländern noch immer erbittert gekämpftwird. Ist das nicht e<strong>in</strong> gewaltiger Erfolg, Genossen?«Stumm zogen die MÁVAG-Arbeiter ab und kehrten <strong>in</strong> ihre überfülltenE<strong>in</strong>zimmerwohnungen und ihr armseliges und trostloses Dase<strong>in</strong> zurück.Sie fragten sich, wie lange das wohl noch so weitergehen solle.Auch im kulturellen Leben traten Änderungen e<strong>in</strong>.Während im Januar 1952 noch neunzehn der zweiundzwanzig bisvierundzwanzig Filme, die <strong>in</strong> den neun K<strong>in</strong>os von Budapest gezeigtwurden, sowjetische Produktionen waren, gab es am 15. Dezember 1954nicht e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>zigen mehr.ÔInsgeheim war e<strong>in</strong> Jazzkult entstanden, und die jungen <strong>Ungarn</strong>genossen das staatsgefährdende Vergnügen, verbotener Musik zu lauschen.Nehmen wir den Fall e<strong>in</strong>es sechsundzwanzigjährigen Juden, der <strong>in</strong>e<strong>in</strong>em technischen Entwicklungsbüro für die chemische Industriearbeitete.In der Schule war er e<strong>in</strong> begeisterter Jungkommunist gewesen undgehörte auch weiterh<strong>in</strong> nom<strong>in</strong>ell der Partei an, obgleich er seit langem <strong>in</strong>politischer H<strong>in</strong>sicht ke<strong>in</strong>e Ideale mehr hatte. In se<strong>in</strong>em Privatleben war erHedonist geworden, der das Vergnügen liebte und e<strong>in</strong>e ganze ReiheFreund<strong>in</strong>nen hatte. Im Anfang nahm er Kontakt mit Gleichges<strong>in</strong>nten auf,<strong>in</strong>dem er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em technischen Büro leise Jazzmelodien vor sich h<strong>in</strong> pfiff.Dadurch erkannten die anderen, daß er nur dem Namen nach Kommunistwar. Amerikanischen Psychotherapeuten erzählte er später: »Es gabÄrger, wenn man beim Zuhören von Jazzmusik erwischt wurde, und eswar auch gefährlich, über Jazz zu reden. Ich hörte nur heimlichJazzmusik.«ÁÊVom November 1954 an verschärften sich die ideologischen Aus-170


e<strong>in</strong>andersetzungen zwischen Rákosi und Nagy.Rákosis Stellung schien sich zu festigen, doch die CIA wies erneut aufden gefährlich großen E<strong>in</strong>fluß des jüdischen Elements <strong>in</strong>nerhalb desRegimes h<strong>in</strong>.In e<strong>in</strong>em Bericht des US-Geheimdienstes vom 1. Februar 1955 heißtes: »Obgleich unter dem ›Neuen Kurs‹ Umbesetzungen <strong>in</strong>nerhalb derParteiführung und der Regierung zu e<strong>in</strong>er Reduzierung des starkausgeprägten jüdischen Charakters des Regimes geführt haben, bleibt<strong>Ungarn</strong> der e<strong>in</strong>zige Satellit im Ostblock, wo Juden immer noch über e<strong>in</strong>enverhältnismäßig großen Anteil an der Besetzung hoher Posten verfügen.Dies ist nur partiell durch die Existenz e<strong>in</strong>es starken jüdischen Bevölkerungsanteilszu erklären, der nach Rumänien an zweiter Stelle unter denSatelliten steht. Wahrsche<strong>in</strong>licher ist, daß es zur Zeit ke<strong>in</strong>en Moskaugenehmen Ersatz für die Spitzenleute und Altkommunisten wie Rákosi,Gerö und Farkas gibt . . . Solange diese Situation andauert, verstärkt dertraditionelle Antisemitismus der Massen anders motivierte Faktoren desWiderstandes gegen das Regime.«Es konnte Nagy nicht verborgen bleiben, daß gewisse Mitglieder desPolitbüros, vor allem Farkas, e<strong>in</strong>e Politik verfolgten, die von der durch dasZK im Oktober gebilligten Pro-Nagy-Resolution abwich. Miklós Molnár,Redakteur der Literaturzeitung, er<strong>in</strong>nert sich: »Ende 1954 wurde derRákosi-Flügel immer stärker, und er und se<strong>in</strong>e Leute versuchten sogar, diegesamte Presse und Literatur gleichzuschalten. Rákosi rief mich mehrfachpersönlich an und versuchte, mich unter Druck zu setzen. Bald danach trafich Imre Nagy. Er sagte mir: ›Was soll’s! Wir bef<strong>in</strong>den uns <strong>in</strong> e<strong>in</strong>emFaustkampf, und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Kampf verteilst du Schläge, aber du mußt auche<strong>in</strong> paar e<strong>in</strong>stecken.‹ «ÁÁWenn die Journalisten glauben sollten, daß »Onkel Imre« ebensogutim Austeilen wie im E<strong>in</strong>stecken war, sahen sie sich getäuscht. MitteDezember folgten sie ihm nach Debrecen, um se<strong>in</strong>e Ansprache zum 10.Jahrestag des Parlaments zu hören. Aber sie war nach Ansicht von TamásAczél schwach und schwülstig. Sie floß über vor ehrerbietigem Lob derweisen und gütigen Führung Moskaus. Alle bedeutenderen Schriftsteller171


waren anwesend: der »anständige, aber dämliche«ÁË Dichter Benjám<strong>in</strong>, derfrüher Fabrikarbeiter war und mehrere Jahre <strong>in</strong> Wien gelebt hatte; fernerMéray, Kónya, Boldizsár, Urbán und Vásárhelyi.An jenem Abend trafen sie sich bei Bika. Als Rákosi an e<strong>in</strong>emNebentisch Platz nahm, baten sie den Zigeunerprimas, das Lied »DiePappeln wachsen nicht <strong>in</strong> den Himmel« zu spielen. Rákosi kapierte undwar gekränkt. Dann trat Nagy e<strong>in</strong>, blickte um sich und setzte sich an denTisch der Schriftsteller. Er lächelte: »Wir wollen uns amüsieren. Tr<strong>in</strong>kenwir!«Bis drei Uhr nachts floß der Schnaps.Bald danach g<strong>in</strong>g es abwärts mit Nagy. Rákosi fuhr nach Moskau, ausGesundheitsgründen, wie es hieß. (Er litt seit e<strong>in</strong>em halben Jahr anerhöhtem Blutdruck.) Aus verschiedenen heiklen Gründen war MalenkowsStern am Moskauer Firmament im S<strong>in</strong>ken begriffen, so daß Rákosidieses Mal geneigtere Zuhörer fand.Am 7. Januar 1955 wurde Nagy nach Moskau zitiert und beschuldigt,die Wirtschaft se<strong>in</strong>es Landes »ru<strong>in</strong>iert« zu haben. Gegen Ende des Monatserlitt er e<strong>in</strong>en Herzanfall. Nagys Krankheit gab Rákosi die Möglichkeit,se<strong>in</strong> Messer noch tiefer <strong>in</strong> die Rippen des dicken Premiers zu stoßen.Generalstaatsanwalt Kálmán Czakó, der von Nagy mit der Kontrolle desStrafvollzugs betraut worden war, wurde <strong>in</strong> die Akadémia utca bestelltund zum Leiter e<strong>in</strong>er großen Brauerei im Vorort von Köbánya»befördert«.ÁÈVorsichtige, aber unmißverständliche Signale im Partei-Jargon derkommunistischen Oberschicht ließen die Auguren erkennen, daß NagysTage gezählt waren. John MacCormac von der New York Times kabelteaus Wien: »Es ist aufgefallen, daß Mr. Nagy seit zwei Wochen beiwichtigen offiziellen Anlässen nicht mehr öffentlich <strong>in</strong> Ersche<strong>in</strong>unggetreten ist.« Am 20. gab Radio Budapest bekannt, Nagy sei an Koronarthromboseerkrankt. Das Politbüro verlangte e<strong>in</strong>en Krankenbericht, e<strong>in</strong>entsprechender Bericht wurde zusammengebraut und Nagy war von derAußenwelt abgeschnitten und zum Schweigen verurteilt.ÁÍEr wußte, was nun kommen würde, und protestierte empört.172


Am 18. Februar bat er Rákosi persönlich, ihn über die Sitzungen desPolitbüros auf dem laufenden zu halten. Aber er erhielt ke<strong>in</strong>e Antwort.Tief beleidigt schrieb er e<strong>in</strong>e Woche später an das ZK: »Es ist offensichtlich,daß das Zentralkomitee ohne mich tagen soll, so daß ich ke<strong>in</strong>eMöglichkeit habe, me<strong>in</strong>e Auffassungen darzulegen.«Am 2. März 1955 trat das ZK ohne Imre Nagy zusammen. Die zweiTage später beschlossene Resolution, die sofort im Rundfunk verkündetwurde, enthielt nur e<strong>in</strong> Lippenbekenntnis zum »Neuen Kurs«.ÁÎ In derEntschließung wurde Nagy beschuldigt, »gefährliche rechtsabweichlerischeAnsichten« zu vertreten und der »Hauptverfechter antimarxistischerIdeen« zu se<strong>in</strong>. Diese Ideen wurden für den ru<strong>in</strong>ösen Rückgang derProduktion verantwortlich gemacht und Nagy der »Täuschung derArbeiterklasse durch demagogische Versprechungen« bezichtigt.Zu Nagys Volksfronttaktik hieß es: »Gewisse Opportunisten versuchten,die ›Patriotische Volksfront‹ zu e<strong>in</strong>em Führungs- und sogar Kontrollorganunserer Regierung auszubauen und damit mächtiger als die Partei zumachen.«Das war ke<strong>in</strong> Partei-Jargon mehr, das waren Worte, die wie die Salvee<strong>in</strong>es Exekutionskommandos klangen.Leidenschaftlich verwahrte sich Nagy später gegen die Unterstellung,er habe die Partei an die Wand spielen wollen: »Die Partei hat sich selbst<strong>in</strong> den H<strong>in</strong>tergrund begeben, <strong>in</strong>dem sie sich Rákosis passive Haltung zueigen machte«, schrieb er.Während das Zentralkomitee der KP niemals den Beschluß vom Juni1953 über die E<strong>in</strong>führung se<strong>in</strong>es »Neuen Kurses« veröffentlichte undselbst die Resolution vom Oktober 1954 noch nicht bis <strong>in</strong> die unterstenRänge der Partei vorgedrungen war, hatte man das Dokument vom März1955, <strong>in</strong> dem Nagy der »Rechtsabweichung« beschuldigt wurde, bereitsgedruckt, so daß Erzsébet Andics, e<strong>in</strong>e führende Berater<strong>in</strong> Rákosis esnoch am selben Abend Méray, Aczél und anderen Schriftstellern mitleuchtenden Augen vorlesen konnte. Nagys Pressechef Vásárhelyi erzählteihnen vertraulich, daß es schon gedruckt war, bevor das ZK zusammentrat.In früheren Zeiten wäre Nagy e<strong>in</strong>fach für immer <strong>in</strong> irgende<strong>in</strong>em173


entlegenen Kerker verschollen. Aber obgleich er ke<strong>in</strong> Abraham L<strong>in</strong>colnwar, hatte er doch <strong>in</strong> der breiten Öffentlichkeit se<strong>in</strong>e Spuren h<strong>in</strong>terlassen.Er war zu e<strong>in</strong>em unschuldigen Märtyrer geworden.Auch der Kreml zögerte, denn Anfang April 1955 war Nagy immernoch amtierender M<strong>in</strong>isterpräsident. Die Budapester Moskowiter warennicht beliebt, selbst nicht bei ihren Genossen. Der Polizeichef Kopácsi hatdas erste Partisanentreffen geschildert, das am 10. Jahrestag derBefreiung, am 4. April 1955, <strong>in</strong> der Polizeiakademie stattfand: Sehr vielewaren eben erst aus der Haft entlassen – denn jeder JugoslawienoderSpanien-Kämpfer geriet nach dem Rajk-Prozeß <strong>in</strong> Verdacht.ÁÏ Kopácsihörte den tiefen Baß des ehemaligen Partisanen Pál Maléter, der sich beiImre Mezö, e<strong>in</strong>em gutmütigen Budapester Parteifunktionär, fürirgende<strong>in</strong>en Veteranen des Spanischen Bürgerkrieges e<strong>in</strong>setzte.E<strong>in</strong> Bergmann und ehemaliger Partisan rief: »Dieses Regime hatbewußt se<strong>in</strong>e zuverlässigste Organisation vernichtet. Galgen, Kerker,Internierung, Gefangenschaft – sie haben uns wie tollwütige Hundebehandelt. Horthy hat diejenigen, die ihm zur Macht verhalfen, zum Rittergeschlagen, ihnen Land, Geld und Häuser gegeben. Er hat selbstdiejenigen, die <strong>in</strong> den entferntesten Dörfern lebten, nicht vergessen,jährliche Paraden und Wiedersehensfeiern für sie veranstaltet und ihreNachkommen geehrt. Er hat sie hundertmal anständiger behandelt, alsdieses System uns behandelt.«Zehn Tage später nahm das Schicksal se<strong>in</strong>en Lauf. Das ZK trat erneutzusammen und gab Nagy den Laufpaß. In der Resolution wurde erbeschuldigt, Me<strong>in</strong>ungen vertreten zu haben, die sich gegen die Politik derPartei und die Interessen der Arbeiterklasse richteten; er habe die großensozialistischen Errungenschaften wie die Schwer<strong>in</strong>dustrie und die landwirtschaftlichenKollektive vernachlässigt, habe versucht, die Parteiführung<strong>in</strong> den H<strong>in</strong>tergrund zu drängen und Partei und Staat gegene<strong>in</strong>anderauszuspielen.ÁÌ»Diese antimarxistischen, antilen<strong>in</strong>istischen, parteife<strong>in</strong>dlichen Ansichtendes Genossen Nagy haben unserer Partei, unserer Volksdemokratieund unserer ganzen sozialistischen Ordnung schweren Schaden zugefügt.«174


Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich Imre Nagy vorzustellen, wieer, das Gesicht <strong>in</strong> den Händen vergraben, über diese quälenden Vorwürfe<strong>in</strong> Tränen ausbricht: Er, Imre Nagy, e<strong>in</strong> Anti-Marxist! Er, e<strong>in</strong> Anti-Len<strong>in</strong>ist! Er, e<strong>in</strong> Parteife<strong>in</strong>d! »Dafür, daß ich me<strong>in</strong>er Sache treu gebliebenb<strong>in</strong>, muß ich es noch e<strong>in</strong>mal auf mich nehmen, gewissenlos verleumdet,politisch verfolgt, gesellschaftlich geächtet und zutiefst gedemütigt zuwerden«, schrieb er mit dem Ausdruck äußerster Verzweiflung <strong>in</strong> se<strong>in</strong>geheimes Tagebuch.Es gab e<strong>in</strong>en Hoffnungsschimmer. In der Resolution hatte es geheißen,se<strong>in</strong> Fall würde wiederaufgenommen, wenn er genesen sei – alsoberuhigte er sich und wartete auf die Erfüllung dieses Versprechens.175


16Der Mann mit dem FilzhutUNTERNEHMUNGSLUSTIG TRITT Ex-Premierm<strong>in</strong>ister Imre Nagy aus der Türder kle<strong>in</strong>en Villa, die er seit 1945 bewohnt. Se<strong>in</strong> flotter Filzhut sitztverwegen auf e<strong>in</strong>er Seite, und e<strong>in</strong> verschmitztes Lächeln blitzt aus se<strong>in</strong>enAugen.Es ist der späte Frühl<strong>in</strong>g des April 1955. Das neue Regime ist wiederzu den alten Terrormethoden zurückgekehrt. E<strong>in</strong>e neue Eiszeit bricht überdas ganze Land here<strong>in</strong>. Aber er weiß, daß das Volk h<strong>in</strong>ter ihm steht. Alsdie Sicherheitspolizei damit beg<strong>in</strong>nt, verlorenes Terra<strong>in</strong> wiederzugew<strong>in</strong>nen,blickt das Land <strong>in</strong> zunehmender Verzweiflung zu ihm auf.Das Bewußtse<strong>in</strong>, so dr<strong>in</strong>gend benötigt zu werden, wiegt den Zorn unddie Demütigung, von der geliebten Partei verstoßen zu se<strong>in</strong>, voll auf.Anfangs war er alle<strong>in</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Kummer. Er hatte an se<strong>in</strong>em Schreibtischgesessen und vor sich h<strong>in</strong>gebrütet, während monatelang nicht e<strong>in</strong>maldie Journalisten, die später se<strong>in</strong>e Prätorianergarde bilden sollten, eswagten, ihn zu besuchen! Er liebt die Musik; der Komponist Kodály war,ebenso wie Mitglieder des Opernensembles, häufig se<strong>in</strong> Gast gewesen –der Bau des Opernhauses hatte Nagy sehr am Herzen gelegen: aber überder Villa <strong>in</strong> der Orsó út hatte sich die Stille e<strong>in</strong>er Totengruft ausgebreitet.Tamás Aczél ist e<strong>in</strong>er der ersten, die ihn im Mai aufsuchen, danachkommt er regelmäßig.»Es war furchtbar für ihn«, erzählte Aczél später se<strong>in</strong>en Interviewern.»Er war völlig vere<strong>in</strong>samt.«ÁNun arbeitet er e<strong>in</strong> bißchen im Garten oder photographiert se<strong>in</strong>e Enkelmit der Zeiss-Kamera, die Wilhelm Pieck ihm bei e<strong>in</strong>em Besuch <strong>in</strong> Ost-176


Berl<strong>in</strong> geschenkt hat. Er wartet auf den Bescheid, vor dem Zentralkomiteezu ersche<strong>in</strong>en.In den ersten Wochen nach ihrem neuerlichen Amtsantritt batenRákosi und Gerö die wichtigsten Mitglieder des Schriftstellerverbands,Déry, Aczél, Molnár und die übrigen, zu sich. Es war e<strong>in</strong> Versuch, diesekommunistischen Intellektuellen auf ihre Seite zu ziehen. Er mißlang. DerStreit dauerte von vier Uhr nachmittags bis weit über Mitternacht. Dierebellischen Schriftsteller drohten damit, Ärger zu machen, falls Rákosiweiterh<strong>in</strong> die politischen Maßnahmen Nagys abbauen sollte.Beschwörend sagte Aczél: »Ich b<strong>in</strong> altes Parteimitglied, deshalb mußich jetzt sprechen.«Als er von der weitverbreiteten Unruhe sprach, die der Sturz Nagysausgelöst habe, fragte Gerö mit scharfer Stimme: »Sie s<strong>in</strong>d also nicht mitder März-Resolution e<strong>in</strong>verstanden?«Aczél erwiderte heftig: »Als Parteimitglied unterwerfe ich mich, kannsie aber nicht billigen.«Höhnisch rief Rákosi: »Falls Sie irgendwelche Hoffnungen habensollten, daß Rajk jemals rehabilitiert wird, dann täuschen Sie sich. Er warschuldig!« Se<strong>in</strong>e Rede, obwohl mit den üblichen Witzen gespickt, war imKern unerbittlich und ließ den Schriftstellern ke<strong>in</strong>e Hoffnung.Es war ke<strong>in</strong> Zufall, daß die mutigen Männer, die sich um Imre Nagyscharten, eher Zeitungsleute als Schriftsteller waren. Da gab es denehemaligen politischen Gefangenen Géza Losonczy, dessen grobe,humorlose Züge durch die eiserne Entschlossenheit gehärtet waren, se<strong>in</strong>enWillen durchzusetzen, und es waren noch andere Journalisten da wieHaraszti, der etwa zur gleichen Zeit aus dem Gefängnis entlassen wordenwar, und György Fazekas, Vásárhelyi und Benjám<strong>in</strong>.Unter der Bevölkerung draußen im Lande nahm die Zahl derwiderspenstigen Regimegegner ebenfalls um e<strong>in</strong> Vielfaches zu: Dersiebenundzwanzigjährige Techniker e<strong>in</strong>er Traktorstation ist e<strong>in</strong>er davon;durch Nagys »Neuen Kurs« hat er sich verleiten lassen, e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>eKnopffabrik zu gründen – Knöpfe gehören zu den Opfern der sozialist-177


ischen Planwirtschaft. »Ich habe me<strong>in</strong> ganzes Kapital h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>gesteckt«,klagt er voller Bitterkeit, »und habe alles verloren, als es mit derNagyRegierung zu Ende g<strong>in</strong>g.«ËDann ist da der Student der Volkswirtschaft, dessen Vater von derGestapo umgebracht wurde und der seit se<strong>in</strong>em vierzehnten LebensjahrKommunist war.È Aber nun hat er ke<strong>in</strong>e Illusionen mehr. »Für Rákosi undse<strong>in</strong>e Bande waren wir, das ungarische Volk, der Fe<strong>in</strong>d. Sie glaubten, die<strong>Ungarn</strong> seien <strong>in</strong>nerlich Faschisten. Das war die Me<strong>in</strong>ung der jüdischenKommunisten, der Moskauer Gruppe. Sie blickten voll Verachtung aufdas Volk herab.«Rákosi hatte das junge Mädchen, <strong>in</strong> das der junge Mann verliebt war,1951 deportieren lassen; der junge Mann selbst wurde zu e<strong>in</strong>er Person»bürgerlich-kapitalistischer Herkunft« erklärt, was schwere Nachteile fürse<strong>in</strong>e Universitätslaufbahn mit sich brachte. Während der Amtszeit Nagyswird er Studentenführer und schreibt e<strong>in</strong>en mutigen Artikel über denkatastrophalen wirtschaftlichen Niedergang unter Rákosi mit dem Titel»Der Fünfjahresplan«. Auf Anordnung der Partei wird die gesamteAusgabe der Universitätszeitung jedoch e<strong>in</strong>gestampft, und nachdemRákosi wieder an der Macht ist, wird der Student als »Klassenfe<strong>in</strong>d« ausder Partei ausgeschlossen, so daß er se<strong>in</strong>en akademischen Grad ebenfallse<strong>in</strong>stampfen lassen kann.1955 f<strong>in</strong>det er sich als e<strong>in</strong>facher L<strong>in</strong>senschleifer <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er optischenFabrik wieder, <strong>in</strong> der er beim Betreten und Verlassen die Kontrolluhrstechen muß.Nagy erkennt, daß er Beistand erhält, und zwar Beistand, der <strong>in</strong>sGewicht fällt: von den Medien der Presse und den Zeitschriften. Wasbedeutet es schon, von der Partei suspendiert und aus der ungarischenAkademie der Wissenschaften entlassen zu se<strong>in</strong>, se<strong>in</strong>en Lehrstuhl an derUniversität verloren zu haben und verleumdet zu werden: Er hat jetzt e<strong>in</strong>eGruppe von Parteimitgliedern, die ihn gegen die Hierarchie unterstützen.Schließlich und endlich entsteht e<strong>in</strong>e zaghafte Rebellion derkommunistischen Intellektuellen. Wenige Monate später wird Nagyumständlich e<strong>in</strong>räumen. »Die Beiträge von Tamás Aczél, Tibor Déry,178


Sándor Erdei und Gyula Háy s<strong>in</strong>d bedeutende Schritte auf dem Wege zurKlärung wichtiger Probleme der ungarischen Literatur. Ich stimme mitden Grundzügen ihrer Pr<strong>in</strong>zipien übere<strong>in</strong>.«Die Schriftsteller werden immer unverblümter und freimütiger. Aufe<strong>in</strong>em Empfang fragt Rákosi den Schriftsteller Péter Kuczka nach dessenMe<strong>in</strong>ung über Nagys Sturz. Kuczkas sarkastische Antwort besteht dar<strong>in</strong>,daß er sich zwei Bananen von dem üppigen Büffet nimmt und sagt:»Haben Sie etwas dagegen, Genosse Rákosi daß ich me<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>en Sohndiese Bananen mitbr<strong>in</strong>ge? Er ist jetzt sieben Jahre alt und hat noch niewelche gesehen.«ÍDas ist schon die Hälfte des Problems: Die Bonzen haben den Kontaktzum Volk verloren.Márton Horváth, Chefredakteur der Zeitung Freies Volk, hat ke<strong>in</strong>eAhnung, was Sch<strong>in</strong>ken kostet.Zoltán Zelk provoziert Mihály Farkas mit der Frage: »Wann s<strong>in</strong>d Siezuletzt mit der Straßenbahn gefahren? Lassen Sie uns doch mal nachmittagsum sechs zusammen mit der L<strong>in</strong>ie 6 auf dem Körút fahren.«Farkas erwidert höhnisch: »Sie sche<strong>in</strong>en zu glauben, daß sich dasLeben nur auf dem Boulevard abspielt.«Als die Schriftsteller spöttisch auf das Bild e<strong>in</strong>es honvéd, des altentraditionellen ungarischen Soldaten, <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Zimmer deuten, verteidigtsich Farkas: »Ich habe es aus der Sowjetunion mitgebracht. Me<strong>in</strong> Dienermochte es so gern.«Tibor Déry antwortet: »Genosse Farkas, solange russische Domestikenkünstlerische Urteile abgeben, ist die ungarische; Literatur ke<strong>in</strong>en Pfifferl<strong>in</strong>gwert!«Die kle<strong>in</strong>e Villa, die man Nagy 1945 bei se<strong>in</strong>er Rückkehr nach <strong>Ungarn</strong>zur Verfügung stellte, hat im Erdgeschoß e<strong>in</strong> und oben drei Zimmer. FrauNagy hat sie sehr hübsch e<strong>in</strong>gerichtet. Maca-Néni, wie sie genannt wird,ist e<strong>in</strong>e gutaussehende, grauhaarige Dame von eher zarter Figur. Sie iste<strong>in</strong>e gute Hausfrau, <strong>in</strong>teressiert sich aber überhaupt nicht für Politik, sie istnicht e<strong>in</strong>mal Parteimitglied. An den Diskussionen nimmt sie nicht teil.179


An manchen Nachmittagen drängen sich <strong>in</strong> dem ordentlich möbliertengroßen Raum im Erdgeschoß e<strong>in</strong>e ganze Menge Leute, sie rennt aufgeregtmit Getränken und Kuchen zwischen ihnen umher.Unter den Menschen, die sich hier versammeln, ist auch Nagysfrüherer Pressechef, der jetzt e<strong>in</strong>en bescheidenen Posten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>enVerlag gefunden hat. Er kommt häufig <strong>in</strong> Nagys Haus <strong>in</strong> der Orsó út.Die Zusammenkünfte s<strong>in</strong>d weder heimlich noch planmäßig. »Wirwußten, daß alles, was wir sagten, wahrsche<strong>in</strong>lich gemeldet oder abgehörtwurde«, sagt Vásárhelyi jetzt.Nagys bunt zusammengewürfelte Anhänger sitzen um den großenEßtisch herum oder hocken <strong>in</strong> bequemen Sesseln – Haraszti, Losonczy,Lajos Fehér und Jánosi, der mit se<strong>in</strong>er Frau, Nagys Tochter Bözske ganz<strong>in</strong> der Nähe wohnt. In den kommenden Monaten werden noch GyörgyFazekas, Ferenc Donáth und Szilárd Ujhelyi zu ihnen stogen. Die meistenvon ihnen werden se<strong>in</strong>e Leidensgefährten werden und e<strong>in</strong>ige sogar se<strong>in</strong>grausames Ende mit ihm teilen.Der unvergeßlichste <strong>in</strong> dieser Runde war Miklós Gimes. Derstämmige, nachdenkliche Gimes, der immer <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Pullover herumlief,war achtunddreißig und begann, am H<strong>in</strong>terkopf kahl zu werden; wie soviele dieser »Verschwörer« war er verheiratet und hatte e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d – Miki,e<strong>in</strong>en fünfjährigen Sohn.Se<strong>in</strong>e Eltern waren tot: beide Psychiater, jüdischer Abstammung,hatten sie vergeblich versucht, durch Taufe und Übertritt zur unitarischenKirche, der Deportation während des Krieges zu entgehen. Gimes war dertypische, fanatische junge Intellektuelle, dessen Kommunismus dieReaktion auf e<strong>in</strong> autoritäres Regime war. Er wirkte an der Errichtung derkommunistischen Machtstruktur nach 1945 mit; ohne diese Leute hättendie paar <strong>in</strong> der Wolle gefärbten Moskowiter, wie Rákosi und Nagy,niemals alle Lücken und Zwischenräume beim Aufbau ihres neuenRegimes füllen können.Der launische, aber hoch<strong>in</strong>telligente Gimes gab, ungeduldig wie erwar, Ende der dreißiger Jahre se<strong>in</strong> Mediz<strong>in</strong>studium auf und verschwendetestatt dessen se<strong>in</strong> Talent durch das Schreiben von Essays und politischen180


Thesen für andere Studenten. E<strong>in</strong>e Zeitlang betrachtete er sich als totalenVersager: Er durfte nicht <strong>in</strong> der Internationalen Brigade <strong>in</strong> Spanienmitkämpfen und wurde schmählich ausgenutzt von e<strong>in</strong>er schönen,verheirateten Frau, <strong>in</strong> die er hoffnungslos verliebt war. Sie verließ 1950<strong>Ungarn</strong> und lebt heute <strong>in</strong> Paris.Î E<strong>in</strong> romantischer Träumer, <strong>in</strong> der Liebebetrogen, gebildet und kultiviert – dieser sympathische, hochbegabtejunge Mann wurde e<strong>in</strong> kommunistischer Agitator, der se<strong>in</strong>e <strong>in</strong>tellektuellenGaben und se<strong>in</strong>e Überzeugungskraft benutzte, um die geistigenVerrenkungen zu vollziehen, die jeder Schriftsteller benötigt, der se<strong>in</strong>Denken der sowjetischen Schablone anpassen muß, ohne daß man esdurchschaut.Gegen Ende des Krieges hatte man Gimes zusammen mit anderenJuden <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Zwangsarbeitslager <strong>in</strong> Transsylvanien gesteckt. Er fand Trost<strong>in</strong> westlicher Literatur und versuchte, die Maßregelungen und Drohungender Wächter zu ignorieren. E<strong>in</strong>es Tages trieb ihn der Führer desWachkommandos mit vorgehaltener Masch<strong>in</strong>enpistole <strong>in</strong> den Wald, umihn zu erschießen – er kehrte e<strong>in</strong>e Stunde später kle<strong>in</strong>laut wieder mitGimes <strong>in</strong>s Lager zurück, wobei er dessen Shakespeare-Ausgabe trug. Beise<strong>in</strong>er Heimkehr klärte der verlorene Sohn se<strong>in</strong>e Kameraden auf: »Ichhabe ihm gesagt, die Deutschen hätten den Krieg verloren und me<strong>in</strong>eFreunde würden me<strong>in</strong>en Tod – früher oder später – an ihm persönlichrächen.«Bald danach gelang es Gimes zu flüchten, und er versuchte, sich TitosPartisanen <strong>in</strong> Jugoslawien anzuschließen. Anfangs wiesen ihn die Serbenab und weigerten sich, ihm Waffen zu geben. 1945 kehrte er aus Jugoslawienzurück mit dem e<strong>in</strong>zigen Gedanken im Herzen: se<strong>in</strong>en Vater zuf<strong>in</strong>den, der von den Nazis verschleppt worden war. Aber auch hier blieb ererfolglos.Nach der kommunistischen Machtübemahme bejahte er die Notwendigkeite<strong>in</strong>er strengen Parteidiszipl<strong>in</strong>, blieb aber <strong>in</strong>nerlich Anarchist; se<strong>in</strong>enromantischen Neigungen hatte das e<strong>in</strong>same Leben e<strong>in</strong>es Guerillakämpfersmehr entsprochen. Die beiden Chefs der Parteipropagandamasch<strong>in</strong>e JózsefRévai und der Chefredakteur Márton Horváth »entdeckten« diesen klugen181


Kopf und spannten den <strong>in</strong>telligenten jungen Mann vor ihren Parteikarren.Tamás Aczél, der zehn Jahre Gimes’ Kollege bei Freies Volk war,entsann sich später: »Er war e<strong>in</strong> fanatischer Kommunist. Aber nachdem ere<strong>in</strong>mal von se<strong>in</strong>en Illusionen geheilt war, wurde er e<strong>in</strong> ebenso fanatischerBefürworter des Mehrparteiensystems und e<strong>in</strong>er der Führer der geistigenRevolte <strong>in</strong> den Redaktionsstuben.«Zum größten Ärger der Stal<strong>in</strong>isten, die sich darüber beklagten, daßjeder andere wegen derart »grober Verletzungen der Parteidiszipl<strong>in</strong>«längst aus der KP gefeuert worden wäre, blieb Nagy weiterh<strong>in</strong>Parteimitglied.Se<strong>in</strong> Nachfolger als Regierungschef war der junge András Hegedüsgeworden. Hegedüs, Sohn e<strong>in</strong>es reichen Bauern, war lediglich e<strong>in</strong>estal<strong>in</strong>istische Marionette.Er hatte 1945 nach e<strong>in</strong>em eifrigen Volkswirtschaftsstudium als GerösSekretär begonnen und war bis zum M<strong>in</strong>ister für Landwirtschaftaufgestiegen. Se<strong>in</strong> kahler Schädel war zu groß für se<strong>in</strong>en kurzen Rumpf;er war ebenso häßlich wie <strong>in</strong>telligent – aber er war der ranghöchste Nichtjude:und das war e<strong>in</strong>e günstige Ablenkung für Chruschtschow, dessenAntisemitismus allgeme<strong>in</strong> bekannt war. Außerdem sprachen Gerüchte vone<strong>in</strong>er wichtigen bevorstehenden Rede Chruschtschows, <strong>in</strong> der Stal<strong>in</strong>verdammt werden sollte; zugleich hatte der Kreml damit begonnen,Rákosis Erzfe<strong>in</strong>d Marschall Tito zu umwerben.Während der ganzen Herbstmonate des Jahres 1955 traf sich diese nurlose mite<strong>in</strong>ander verbundene Oppositionsgruppe <strong>in</strong> Nagys Villa. Manchmalfragte man Nagy nach se<strong>in</strong>en dreißig Jahren <strong>in</strong> Rußland. DieMoskowiter sprachen nur selten über ihr freiwilliges Exil, und wenn sie estaten, dann mehr rhetorisch als aufrichtig. Nagy versuchte, ihre Neugier zubefriedigen.Vásárhelyi sagte über diese Zusammenkünfte: »Wir waren alle davonüberzeugt, daß wir wieder an die Macht kommen würden, denn dieWahrheit war auf unserer Seite.«Tibor Méray er<strong>in</strong>nerte sich: »Ich besuchte Nagy zu Hause, nachdem er182


als Premierm<strong>in</strong>ister abgesetzt worden war. Er war verbittert, nicht weilman ihn gefeuert hatte, sondern weil Rákosi ihn auch aus der Akademieder Wissenschaften ausgeschlossen hatte. Er sagte zu mir: ›Er hat ke<strong>in</strong>Recht, mich aus der Akademie auszuschließen. Ich verdankte diese Stelleme<strong>in</strong>er wissenschaftlichen Arbeit.‹ « Aus dieser Äußerung zog Méray denSchluß, daß Nagy mehr Professor als professioneller Politiker se<strong>in</strong> wollte.Nagy hatte zu schreiben begonnen.Man sah, wie er Seite für Seite mit e<strong>in</strong>er Geheimschrift bedeckte, wieKapitän Nemo <strong>in</strong> Jules Vernes Zwanzigtausend Meilen unterm Meer.Zunächst wußte niemand, was er eigentlich schrieb.Se<strong>in</strong> Gehirn platzte fast von dem wüsten Durche<strong>in</strong>ander gewichtigerFakten und Theorien und den entsprechenden Zitaten Len<strong>in</strong>s. Se<strong>in</strong>emgesunden Menschenverstand tat es weh, daß das Regime, wenn esunerfüllbare Versprechungen machte, das bereits angeschlagene Vertrauendes Volkes zur Partei und – oh, Schrecken – zur »Richtigkeit des Marxismus-Len<strong>in</strong>ismus«vollends untergraben könnte.In se<strong>in</strong>em Kopf schwirrte es von propagandistischen Phrasen wie»L<strong>in</strong>ksabweichler« und »Bündnis zwischen Arbeitern und Bauern«. Erwar außer sich vor Zorn über die Art und Weise, wie se<strong>in</strong>e Verleumdersich heuchlerisch auf den Marxismus beriefen, um ihre eigene schmutzigeHandlungsweise zu rechtfertigen.Nagy wußte genau, was er wollte: Das Zentralkomitee mußte e<strong>in</strong>eumfassende Debatte über Grundsatzfragen zulassen. Er behandelte vielesohne Zusammenhang und Übere<strong>in</strong>stimmung. Der wachsende Haufen vonManuskripten enthielt manche <strong>in</strong>teressante E<strong>in</strong>zelheit über die Machtkämpfe<strong>in</strong>nerhalb des kommunistischen Ameisenhaufens: bruchstückweiseÄußerungen Chruschtschows, Malenkows und Kaganowitschs imKreml und auch aus der Akadémia utca <strong>in</strong> Budapest.Im September 1955 war Nagys Memorandum praktisch fertig, aber dieParteiführung weigerte sich, es zur Diskussion zu stellen. Im Gegenteil,man erneuerte die Angriffe gegen ihn und stieß ihn im November 1955vollends aus der Partei aus.Die Spaltung der Partei wurde dadurch noch weiter vertieft. Die183


Stal<strong>in</strong>isten protestierten dagegen, daß die Resolution über se<strong>in</strong>en Ausschlußnicht mit der üblichen »Demaskierung« im ideologischen Bereichverbunden war.Nagy wehrte sich mit se<strong>in</strong>en Schriften: Bis Anfang 1956 hatte erse<strong>in</strong>em Memorandum vier weitere Kapitel h<strong>in</strong>zugefügt. Gelegentlich ließer unter se<strong>in</strong>en Freunden Auszüge zirkulieren, um ihre Me<strong>in</strong>ung darüberzu hören.E<strong>in</strong>es g<strong>in</strong>g deutlich daraus hervor: Imre Nagy war und blieb Marxist.Se<strong>in</strong>e Abhandlungen, die zu e<strong>in</strong>em Berg von Manuskripten anwuchsen,waren <strong>in</strong> monotonem Parteich<strong>in</strong>esisch verfaßt – er hatte nie e<strong>in</strong>e andereSprache gekannt – und bis zur Unverständlichkeit erstarrt. Er war e<strong>in</strong>älterer Herr, der <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Zwangsjacke zappelte, ohne sich herausw<strong>in</strong>denzu können.Ziemlich wahllos sahen sich Nagys Freunde nach moralischer Unterstützungum.E<strong>in</strong>e potentielle Möglichkeit war Tito. Imre Nagy hielt nicht allzuvielvon ihm und zog wenig schmeichelhafte Vergleiche zwischen Tito undHermann Gör<strong>in</strong>g, als er Bilder des dickwanstigen Marschalls <strong>in</strong> se<strong>in</strong>enprotzigen Uniformen sah. Aber jeder Fe<strong>in</strong>d Rákosis war e<strong>in</strong> möglicherVerbündeter. In se<strong>in</strong>em Memorandum schlug Nagy politisches Kapital ausRákosis Korruptionsschnüffelei gegenüber Jugoslawien und se<strong>in</strong>enParteiführern: »Die erfundenen Anklagen des Rajk-Prozesses mit se<strong>in</strong>enH<strong>in</strong>richtungen s<strong>in</strong>d seit langem als absolute Lügen entlarvt. Wohlbekannteund nicht widerlegbare Tatsachen s<strong>in</strong>d die Massenverhaftungen, dieVerfolgungen, die zügellosen flammenden Reden und Schriften vonMátyás Rákosi, Mihály Farkas, Ernö Gerö, József Révai und Co., dieganze anti-titoistische und anti-jugoslawische Literatur, e<strong>in</strong>schließlich derSchmähschriften, Aufrufe und ähnlichen Aktivitäten von Presse undRundfunk und die ständigen wirtschaftlichen und politischen Sanktionengegen Jugoslawien.«Die Nagy-Gruppe streckte vorsichtige Fühler <strong>in</strong> Richtung Jugoslawienaus. Wie es der Zufall wollte, war Titos Interesse an diesem Teil Europas184


nach Chruschtschows Versöhnungsvisite 1955 <strong>in</strong> Belgrad ebenfalls wiedergestiegen. Inoffizielle diplomatische Kontakte waren die Folge dieserFühlungnahmen. Nachdem bekannt wurde, daß Vásárhelyi im Juni vonse<strong>in</strong>em Presseposten abgelöst worden war, lud ihn der jugoslawischeLegationsrat Milan Georgievic zu e<strong>in</strong>em Empfang e<strong>in</strong>, und sie vere<strong>in</strong>barten,sich danach privat zu treffen. Im Laufe des Herbstes forderte er dieNagy-Gruppe auf, diese Beziehung zu e<strong>in</strong>er geheimen Verb<strong>in</strong>dung auszubauen.Es gab e<strong>in</strong> knappes Dutzend solcher Treffen. Aber es kam nichtviel dabei heraus.Georgievic nahm auch Kontakt mit Gimes auf, der ihn mit NagysSchwiegersohn Ferenc Jánosi bekannt machte. Dieser lieferte im März1956 der Botschaft Kopien von Nagys Schriften. Insgesamt erhielten dieJugoslawen 200 Seiten von Nagys geheimem Memorandum,e<strong>in</strong>schließlich der Kapitel, die er nach se<strong>in</strong>em Ausschlug aus der Parteigeschrieben hatte. Sie tragen die Titel: »Die fünf grundlegendenPr<strong>in</strong>zipien der <strong>in</strong>ternationalen Beziehungen« – dar<strong>in</strong> wird für e<strong>in</strong>enAustritt aus dem Warschauer Pakt plädiert – sowie »Moral und Ethik«.Vásárhelyi bestätigt dies alles, mißt aber den Zusammenkünften e<strong>in</strong>eharmlosere Bedeutung bei, als es der Ankläger während se<strong>in</strong>es Prozessestut: »Wir bildeten uns e<strong>in</strong>, daß wir nicht mit der jugoslawischen Regierung<strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung waren, sondern mit der jugoslawischen Partei und daß wirals Vertreter der ungarischen <strong>in</strong>nerparteilichen Opposition handelten. DieBriefumschläge waren niemals an die jugoslawische Regierung adressiert,sondern entweder an Tito als Führer der jugoslawischen Partei oder an dasZentralkomitee der jugoslawischen KP.«ÏFür Vásárhelyi schien das e<strong>in</strong> großer Unterschied zu se<strong>in</strong>. Er fügth<strong>in</strong>zu: »Wir haben nie e<strong>in</strong>e Antwort bekommen.« Doch <strong>in</strong> gewisser Weisepräsentierte die Botschaft e<strong>in</strong>e Antwort – und zwar unerwartet, e<strong>in</strong>esNachts Anfang November 1956.Zwischen den Zeilen der Manuskripte, die wie »Samisdat«-Flugblätterunter Nagys Freunden von Hand zu Hand g<strong>in</strong>gen, konnte man lesen, daße<strong>in</strong>e entscheidende Wandlung <strong>in</strong> Nagy vorgegangen war – Worte, diebesagten, daß er der Geschichte überliefern wollte, wie er diese Männer185


verabscheute und ihre Methoden verdammte.ÌIm Kapitel »Moral und Ethik« hatte er geschrieben: »Der Mißbrauchder Macht und die Verwendung illegaler Methoden hat im Laufe desJahres 1955 e<strong>in</strong> alarmierendes Ausmaß erreicht und hat selbst dieschlimmsten Auswüchse aus der Zeit von 1950 bis 1952 übertroffen. Diemeisten Werktätigen s<strong>in</strong>d zu der Überzeugung gelangt, daß sie derUngesetzlichkeit auf Gnade und Barmherzigkeit ausgeliefert s<strong>in</strong>d und daßes ke<strong>in</strong>e Gesetze gibt, die ihre Rechte als Menschen und Bürger schützen;daß e<strong>in</strong>e Volksdemokratie e<strong>in</strong>er Anarchie gleicht; daß e<strong>in</strong>e solcheDemokratie viele Möglichkeiten für Gesetzesverletzungen eröffnet unddaß <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er solchen Demokratie das Leben des e<strong>in</strong>zelnen überschattet istvon ständiger Angst und Unsicherheit.«ÓNagy charakterisiert Rákosis Gehilfen, die Funktionäre, als Karrieremacher,Kriecher und Speichellecker. »Sie haben ke<strong>in</strong>e eigene Me<strong>in</strong>ungoder Überzeugung. Ohne Bedenken werden sie sagen, schwarz sei weiß.In jedem Fall schmeicheln sie sich bei denen e<strong>in</strong>, die <strong>in</strong> der Lage s<strong>in</strong>d,ihnen e<strong>in</strong>en besseren Posten <strong>in</strong> der Partei oder beim Staat, mehr Prestige,höheres E<strong>in</strong>kommen, größere Macht und – vor allem – e<strong>in</strong>e Limous<strong>in</strong>e zuverschaffen.«Und prophetisch warnt er vor dem Ru<strong>in</strong>, dem <strong>Ungarn</strong> durch RákosisMethoden noch entgegengehen könnte. »Das brennendste Problem derGegenwart ist das Bemühen, die alten Verhältnisse wiederherstellen zuwollen«, warnte Nagy. »Die Folge wird se<strong>in</strong>, daß die Partei sich völligvom Volke entfernt; das wird unvorhersehbare Konsequenzen haben, nichtnur <strong>in</strong>nerhalb, sondern auch außerhalb des Landes.«186


17Lauf, Hase, laufAUF DEM BÜRGERSTEIG gegenüber der britischen Gesandtschaft schlenderte<strong>in</strong>e Frau <strong>in</strong> gestreiftem Pullover und Cordjacke sche<strong>in</strong>bar gemächlich aufund ab. Als jemand aus dem Säulengang des Gebäudes auf die Straße tritt,bleibt sie stehen und macht sich an ihrer Umhängetasche zu schaffen. Indieser Tasche ist e<strong>in</strong> Loch von der Größe e<strong>in</strong>es Groschens, h<strong>in</strong>ter dem siche<strong>in</strong>e versteckte Kamera bef<strong>in</strong>det. Die Frau ist e<strong>in</strong>e Geheimagent<strong>in</strong> derÁVH. Auch László Nagy, e<strong>in</strong>er der Kraftfahrer der Gesandtschaft, undalle anderen e<strong>in</strong>heimischen Angestellten der Gesandtschaft s<strong>in</strong>d Spitzel.ÁBis Ende 1955 ist der Staatssicherheitsdienst nicht bei se<strong>in</strong>en Gummiknüppel-und Folterkammermethoden stehengeblieben.Die ÁVH hat e<strong>in</strong> ausgeklügeltes Spitzel- und Informationssystementwickelt. Jeder Mann, jede Frau und jedes K<strong>in</strong>d stehen bei Verlassendieser diplomatischen Mission unter Beobachtung. H<strong>in</strong>ter dem BuchstabenO der chemischen Re<strong>in</strong>igungsanstalt »PATYOLAT« ist e<strong>in</strong> Teleobjektive<strong>in</strong>gebaut, das jeden Besucher der gegenüberliegenden Gesandtschaftaufnimmt. Im Innenm<strong>in</strong>isterium bef<strong>in</strong>den sich Hunderte dieserSpitzelphotos: bei e<strong>in</strong>igen erkennt man im H<strong>in</strong>tergrund e<strong>in</strong>en Seeadlerüber der Tür, das Staatswappen der USA.In e<strong>in</strong>em Laboratorium der ÁVH wird die gesamte Diplomatenpostaus dem Westen geöffnet, photokopiert und wieder versiegelt. AlleTelephonate der ausländischen Missionen werden angezapft und aufgrünen Plexiplatten mit quadratischen Löchern aufgezeichnet, dieDiplomaten werden auf allen Wegen beschattet, »Wanzen« s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> ihrenResidenzen e<strong>in</strong>gebaut – e<strong>in</strong>e entdeckt man zwischen den Ehebetten e<strong>in</strong>es187


westlichen Diplomaten und se<strong>in</strong>er Frau.Als der Film von der Krönung Elizabeths II. <strong>in</strong> der britischen Gesandtschaftvorgeführt wird, warten draußen Lastwagen der ÁVH, um dieBesucher zu Verhören abzuholen.ËDie ÁVH, die Staatssicherheitsabteilung des Innenm<strong>in</strong>isteriums,kämpfte e<strong>in</strong>en immer erbitterter werdenden Kampf zum Schutz der jungenVolksrepublik vor der CIA und e<strong>in</strong>er imag<strong>in</strong>ären »Armee«, die KonradAdenauer <strong>in</strong> der Bundesrepublik Deutschland aufstellte.In den ersten fünf Monaten des Jahres 1955 wurden Militärgerichtee<strong>in</strong>gesetzt. In Budapest fand e<strong>in</strong> Prozeß gegen e<strong>in</strong>e »konterrevolutionäreOrganisation« statt, die von zwei Franziskanermönchen angeführt wurde;die Urteile reichten von zweie<strong>in</strong>halb Jahren bis lebenslänglich.Der Prozeß gegen e<strong>in</strong>e »konterrevolutionäre Bande von Konspirantenund Verrätern« endete mit fünf Todesurteilen. Ständig wurden Pressemeldungenüber die Verhaftung von »CIC«- (Counter Intelligence Corps)und »Radio Free Europe«-Spionen und Saboteuren verbreitet. Die APundUP-Korrespondenten <strong>in</strong> Budapest, Endre Marton und se<strong>in</strong>e Frau,sowie die beiden ungarischen Angestellten der US-Gesandtschaft BélaKapotsy und Kornél Balázs wurden der »Spionage und anderer staatsfe<strong>in</strong>dlicherDelikte zugunsten e<strong>in</strong>er ausländischen Macht« beschuldigt.È1955 sah sich die ÁVH veranlaßt, ihre Maßnahmen zur Ges<strong>in</strong>nungskontrollezu verschärfen. Seit 1948 steigerten die USA ihren Kalten Krieg<strong>in</strong> den Ländern h<strong>in</strong>ter dem Eisernen Vorhang. E<strong>in</strong>e neu geschaffene»Central Intelligence Agency« (CIA) hatte die Aufgabe, unter MoskausSatellitenregimes Unruhe zu stiften und sie zu zermürben.ÍAm 14. April 1950 wurde die CIA ausdrücklich damit beauftragt,Revolten <strong>in</strong> den Satellitenländern anzuzetteln. Seit Beg<strong>in</strong>n des Korea-Krieges hatte die CIA schw<strong>in</strong>delerregende Summen für Propaganda,Erpressung und Wahlbee<strong>in</strong>flussungsaktionen ausgegeben; alle<strong>in</strong> zweiundachtzigMillionen Dollar im Jahre 1952. Ihr wichtigster politischer Drahtzieherwar die »Free Europe Committee Inc.«, die von e<strong>in</strong>em Wolkenkratzer<strong>in</strong> New York aus operierte. Durch dieses Komitee, das angeblich188


durch öffentliche Sammlungen f<strong>in</strong>anziert und von bekannten Persönlichkeitenwie dem Filmstar und heutigen US-Präsidenten Ronald Reaganpropagiert wurde, flossen vor allem Mittel der CIA an »Radio FreeEurope« (RFE) – und an den »Ungarischen National-Rat«, der unterLeitung von Monsignore Béla Varga und anderen Persönlichkeitengebildet wurde, die <strong>in</strong> den Westen geflohen waren. Millionen vonLuftballons flogen über den Eisernen Vorhang und ließen Flugblätterherunterflattern, <strong>in</strong> denen von e<strong>in</strong>er ungarischen Widerstandsbewegungdie Rede war, die »Oberst Bell« aufstellte. Dieser Offizier war e<strong>in</strong>e re<strong>in</strong>eFiktion, die sich die CIA-Bosse ausgedacht hatten. Seit 1950 verbreitetRFE von se<strong>in</strong>em Sitz <strong>in</strong> der bayerischen Hauptstadt aus über starke Senderbei München und Lissabon e<strong>in</strong> leichtes Unterhaltungsprogramm,bestehend aus Musik, Nachrichten und Kommentaren, das besser bei denHörern ankommt als die anspruchsvolleren Sendungen der BBC und der»Voice of America«. E<strong>in</strong>e Repräsentativbefragung ungarischer Flüchtl<strong>in</strong>geim Jahre 1956 ergab, daß neunundsiebzig Prozent von ihnen regelmäßigdie Sendungen von RFE verfolgt haben.ÎWenn die »Stimme Amerikas« abends um acht Uhr auf Sendung g<strong>in</strong>g,so berichtete e<strong>in</strong>e ungarische Gräf<strong>in</strong>, schalteten Millionen heimlich ihrGerät e<strong>in</strong>: »Man konnte se<strong>in</strong>e Uhr danach stellen, wenn die Fenster zurStraße zugeknallt wurden.«ÏE<strong>in</strong> junges Mädchen, e<strong>in</strong>st überzeugte Kommunist<strong>in</strong>, antwortete imAugust 1957 auf die Frage, ob es die Sendungen abgehört habe:»Manchmal, ja. E<strong>in</strong>e Zeitlang hielt ich alles für gelogen. Aber später f<strong>in</strong>gich an nachzudenken und versuchte herauszuf<strong>in</strong>den, was gelogen war undwas stimmte.«ÌGlaubwürdig wurden die Sendungen der CIA, als 1951 Gerüchteaufkamen, daß das Rákosi-Regime <strong>in</strong> großem Umfang Deportationendurchführte. In den Sendungen des ungarischen Rundfunks wurden dieseNachrichten unterdrückt. Aber die Menschen hatten Alpträume, frásznapok,wegen der Deportationen und der »Grünen M<strong>in</strong>na«, die vor denHäusern hielt, um die Deportierten abzuholen.»Überall hörte man Gerüchte«, sagte sie. »Aber die ersten richtigen189


und detaillierten Meldungen über Deportationen kamen von westlichenSendern. Me<strong>in</strong> Vater hörte sie jeden Tag ab.«Ke<strong>in</strong> Wunder, daß diese Propaganda Rákosi auf die Nerven g<strong>in</strong>g, undselbst Imre Nagy verdammte die Amerikaner deshalb. »Weder Nachrichtenohne Wahrheitsgehalt noch die Ballons, über die man lediglichlacht oder Witze macht, konnten unser Volk irreführen«, erklärte Nagysichtlich verstimmt im November 1954. »Natürlich haben unsere Fe<strong>in</strong>dedas Kriegsbeil nicht begraben, und wir müssen auf der Hut se<strong>in</strong>, denn wiedas Sprichwort sagt: derTeufel schläft niemals.«ÓLeiter dieser geheimen Operationen <strong>in</strong> Wash<strong>in</strong>gton war der CIA-Beamte Frank G. Wisner, e<strong>in</strong> wohlhabender und e<strong>in</strong>flußreicher Anwaltvon großer physischer Energie.Ô Er hatte Mitteleuropa für die OSSbearbeitet und war unter Allen W. Dulles <strong>in</strong> Deutschland tätig. WisnersBeauftragte nahmen Verb<strong>in</strong>dung mit Tausenden von Emigranten undÜberläufern auf und sammelten ausgewählte Flüchtl<strong>in</strong>ge <strong>in</strong> Lagern <strong>in</strong>Süddeutschland, um sie für den Guerillakrieg auszubilden. Aber die Zeitwar noch nicht reif für e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>satz. Vielleicht wagte niemand, soweit imvoraus zu denken.Unterdessen hatte die CIA die Zügel h<strong>in</strong>sichtlich der RFE-Sendungenfest <strong>in</strong> der Hand. »Exilsprecher«, so hieß es <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er geheimen Anweisungvom 30. November 1951, »dürfen ke<strong>in</strong>esfalls persönlichen Regungennachgeben und ihren Landsleuten Hoffnungen mit dem Versprechen e<strong>in</strong>erIntervention des Westens e<strong>in</strong>flößen . . . Solche Reden dürfen nicht durchRFE verbreitet werden.«1952 war der Kriegsheld Dwight D. Eisenhower von e<strong>in</strong>er stürmischenantikommunistischen Welle ans Ruder gebracht worden. Um die Wahlenzu gew<strong>in</strong>nen, sprachen er und se<strong>in</strong>e Mannschaft offen von der Befreiungder osteuropäischen Länder. John Foster Dulles, Allen Dulles’ ältererBruder, benutzte <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Wahlreden ständig den emotionalen Begriff»Befreiung«: Zum Beispiel am 15. Mai <strong>in</strong> Pittsburgh, kurz danach <strong>in</strong>Denver und dann wieder im August vor Politikwissenschaftlern <strong>in</strong>Buffalo, wo er ausdrücklich erklärte, die »Befreiungspolitik Eisenhowers«würde die Unterstützung und Koord<strong>in</strong>ierung patriotischer Widerstands-190


ewegungen durch die CIA bedeuten.ÁÊIn Denver sprach e<strong>in</strong> nichts Gutes ahnender Kritiker die Befürchtungaus, die »Befreiungspolitik« könnte zu e<strong>in</strong>er Reihe »kle<strong>in</strong>er Warschaus«führen – <strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerung an den <strong>Aufstand</strong> prowestlicher Partisanen imAugust 1944, der von den Deutschen niedergeschlagen wurde, nachdemdie Westmächte die Polen sitzengelassen hatten. Gouverneur W. AverellHarriman äußerte sich ebenfalls skeptisch gegenüber den »Befreiungsreden«von Dulles und warnte ihn <strong>in</strong> zahlreichen öffentlichen Debatten.Im Fernsehen sagte er Dulles <strong>in</strong>s Gesicht: »Foster, wenn Sie diese Politikweiter verfolgen, werden Sie den Tod e<strong>in</strong>iger tapferer Leute auf demGewissen haben.«ÁÁFür die RFE-Rundfunkleute war es e<strong>in</strong>e Wanderung auf sehrschmalem Grat. Edmund O. Stillman vom Vorstand des Free EuropeCommittee, betonte im Juni 1957: »Ihre Hauptaufgabe war es,Alternativen offenzuhalten und das Gefühl der Isolierung des e<strong>in</strong>zelnen zuverm<strong>in</strong>dern.«ÁËUnter Präsident Truman waren die Richtl<strong>in</strong>ien rigoros verschärftworden. Am 2. September 1952 gab der politische RFE-Berater angesichtsder verführerischen »Befreiungserklärung« von Eisenhower und Dulleswährend der Wahlkampagne erneut e<strong>in</strong>schränkende Richtl<strong>in</strong>ien heraus:»Wir vom RFE . . . können diese Erklärungen nicht mit une<strong>in</strong>geschränktemOptimismus kommentieren. Wenn wir dies täten, würden wirunsere Hörer irreführen, <strong>in</strong>dem wir ihnen übertriebene Hoffnungen aufe<strong>in</strong>e Intervention des Westens machen . . . Ke<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziges Wort dieserErklärungen ist geeignet, militante Antikommunisten zu ermutigen, vompassiven zum aktiven Widerstand überzugehen, <strong>in</strong> der Erwartung, daßsolch e<strong>in</strong> Widerstand die Unterstützung westlicher Elemente f<strong>in</strong>det.«Als Eisenhower an die Macht kam, wurde diese Vorsicht über Bordgeworfen. Wenige Monate später, im Februar 1953, wurde der extrovertierte,pfeifenrauchende Allan Dulles Chef der CIA, derenBürogebäude sich entlang den Ufern des Reflect<strong>in</strong>g Fond <strong>in</strong> Wash<strong>in</strong>gtonausbreiten. Bald hatte er dieser Behörde se<strong>in</strong>en Stempel aufgedrückt.191


1953 schlug die CIA zu und brachte den iranischen M<strong>in</strong>isterpräsidentenMohammed Mossadegh zu Fall. Anschließend stürzte sie durche<strong>in</strong>en halbmilitärischen Coup den Präsidenten von Guatemala, JacoboArbenz Guzman.Der prom<strong>in</strong>ente Luftwaffengeneral James Doolittle faßte e<strong>in</strong>e geheimeÜbersicht über die Anti-Kreml-Aktionen der USA <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em von Eisenhowergebilligten Bericht wie folgt zusammen: »Es ist jetzt völlig klar,daß wir e<strong>in</strong>en unerbittlichen Gegner vor uns haben, dessen erklärtes Zieldie Weltherrschaft ist, ganz gleich, mit welchen Mitteln und unter welchenOpfern. In e<strong>in</strong>em solchen Spiel gibt es ke<strong>in</strong>e Regeln. Bisher anerkannteNormen menschlichen Verhaltens scheiden aus. Wollen die Vere<strong>in</strong>igtenStaaten überleben, müssen die traditionellen amerikanischen Vorstellungenvon ›fair play‹ überprüft werden. Wir müssen e<strong>in</strong>e wirksameSpionage und Spionageabwehr entwickeln, und wir müssen lernen, unsereFe<strong>in</strong>de zu stürzen, zu sabotieren und zu vernichten; und zwar durchscharfs<strong>in</strong>nigere, ausgeklügeltere und wirkungsvollere Methoden, als die,die man gegen uns anwendet.«ÁÈDie strategischen Möglichkeiten, die sich Eisenhower boten, wurdenjedoch durch Malenkows Äußerungen vom 8. August 1953 dramatische<strong>in</strong>geschränkt: »Die Regierung sieht sich veranlaßt, dem Obersten Sowjetzu berichten, daß die USA ke<strong>in</strong> Monopol zur Herstellung der Wasserstoffbombemehr besitzen.«ÁÍIn Wahrheit waren die Sowjets nicht vor November 1955 <strong>in</strong> der Lage,e<strong>in</strong>en Prototyp der H-Bombe zu zünden, und es dauerte bis 1956, ehe siee<strong>in</strong> Flugzeug hatten, das die Bombe bis nach den USA transportierenkonnte. Doch Malenkow gelang es durch diesen Bluff, Eisenhower mit derschrecklichen Vorstellung e<strong>in</strong>es thermonuklearen Krieges gegen nordamerikanischeStädte <strong>in</strong> Angst und Schrecken zu versetzen.ÁÎDie Folge war e<strong>in</strong>e Ambivalenz, e<strong>in</strong> Dualismus <strong>in</strong> der amerikanischenAußenpolitik. Während Eisenhower sich e<strong>in</strong>er stillschweigenden Anerkennungdes Status quo <strong>in</strong> Europa näherte, blieb se<strong>in</strong>e öffentliche Haltungunverändert: der Tag der »Befreiung« würde kommen. Das war leicht192


gesagt während des Kalten Krieges. John Foster Dulles, der Ikes Außenm<strong>in</strong>istergeworden war, prahlte ständig damit, Moskau die Daumenschraubenanzuziehen. Aber <strong>in</strong> Wirklichkeit hatte er ke<strong>in</strong>en konkretenPlan, die marxistischen Regierungen zu stürzen. »Wir wußten«, sagte e<strong>in</strong>hoher US-Beamter nachdenklich, »daß wir niemals amerikanische jungenh<strong>in</strong>ter den Vorhang schicken könnten, um e<strong>in</strong>em dieser Länder zurFreiheit zu verhelfen . . . Die amerikanische Öffentlichkeit würde dasniemals zulassen.«ÁÏDas also war die Lage gegen Ende des Jahres 1955.Als e<strong>in</strong> zwölfjähriger ungarischer junge <strong>in</strong> jenem Sommer außerhalbdes staatlichen Jugendlagers beim Kismaros auf den Wiesen umherstreift,bemerkt er, daß irgendwelche weißen Gegenstände vom Himmelflattern.ÁÌ Er fängt e<strong>in</strong>en davon, und es stellt sich heraus, daß es e<strong>in</strong>ezusammengefaltete Bildergeschichte ist, die vom beneidenswerten Lebendes amerikanischen Arbeiters erzählt. Auf dem anderen Flugblatt ist e<strong>in</strong>eKarikatur des Stal<strong>in</strong>-Denkmals <strong>in</strong> Budapest: es läuft h<strong>in</strong>ter DiktatorRákosi her, der mit ausgestreckten Armen vor ihm flüchtet. DieÜberschrift ist e<strong>in</strong>e Zeile aus e<strong>in</strong>em bekannten Lied: »Lauf, Hase, lauf. . . «E<strong>in</strong> vierundzwanzigjähriger Student er<strong>in</strong>nert sich: »Wir haben dieReden von Eisenhower und Dulles förmlich aufgesogen und zogenfälschlicherweise daraus den Schluß, daß e<strong>in</strong>e Intervention bevorstand.«Weshalb, so fragt e<strong>in</strong> anderer Student, hat sich Amerika so viel Mühe mitse<strong>in</strong>er Propaganda gegeben?ÁÓ»RFE hat den Verschwörungen großen Auftrieb gegeben«, fügt erh<strong>in</strong>zu.Von 1000 sorgfältig ausgewählten Flüchtl<strong>in</strong>gen, die im Dezember1956 gefragt wurden, warum sie – unter der Voraussetzung, daß der<strong>Aufstand</strong> durch andere Gründe ausgelöst wurde – aktiv daran teilnahmen,antworteten sechsundneunzig Prozent, sie hätten vom Westen erwartet,daß er <strong>Ungarn</strong> zu Hilfe käme, und siebenundsiebzig Prozent sagten, siehätten mit e<strong>in</strong>er sofortigen militärischen Intervention gerechnet. Gefragt,193


wieso, erklärte e<strong>in</strong> Drittel ganz spontan, es sei <strong>in</strong> westlichen Rundfunksendungen»versprochen« worden. E<strong>in</strong> amerikanischer Me<strong>in</strong>ungsforscherstellte zusammenfassend fest: »Wir glauben jetzt – im Rückblick auf dasvon den Befragten Gesagte –, daß es tatsächlich Erklärungen gegeben hat,die man als Versprechen bezeichnen könnte.«ÁÔAls es schließlich losgeht, lehnen Dulles und Eisenhower entrüstetjegliche Verantwortung ab. Am 2. Dezember 1956 gerät Dulles <strong>in</strong>Augusta, Georgia, wegen se<strong>in</strong>er Wahlkampfreden <strong>in</strong>s Kreuzfeuer derJournalisten. (»Sie er<strong>in</strong>nern sich an die Wahlkampagne 1952, als Sie daserste Mal nach Denver kamen . . . «)ËÊ Als er gedrängt wird, sich zu denVorwürfen europäischer Zeitungen zu äußern, wonach er und Ike die<strong>Ungarn</strong> zum <strong>Aufstand</strong> ermutigt hätten, gibt Dulles nur ausweichendeAntworten.Ohne die ger<strong>in</strong>gsten Gewissensbisse spricht Dulles künftig nur nochvon dieser lästigen »Frage der sogenannten Befreiung«.Vier Männer, e<strong>in</strong> früherer Offizier und drei alte Freunde, spielenBridge <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>en Ort auf dem Lande. Aus dem Radio, das aufe<strong>in</strong>em Bücherbord versteckt ist, hört man <strong>in</strong> gedämpfter LautstärkeNachrichten von »Radio Free Europe«. Der Sprecher beg<strong>in</strong>nt e<strong>in</strong>eWarnliste mit den Namen bekannter ÁVH-Spitzel zu verlesen. Als se<strong>in</strong>eigener Name erwähnt wird, legt der Offizier wortlos se<strong>in</strong>e Kartenzusammen, steht vom Tisch auf und verläßt die Ortschaft.ËÁSo ist das Leben <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong>. Die Menschen können sich nicht immerauf e<strong>in</strong>en sechsten S<strong>in</strong>n verlassen, der ihnen sagt, wer e<strong>in</strong> ÁVH-Spitzel istund wer nicht. Wenn jemand vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen wirdoder e<strong>in</strong> ehemaliger Gefangener sofort e<strong>in</strong>e Stellung erhält, dann wird ervon se<strong>in</strong>en Freunden gemieden – man nimmt an, daß er gekauft ist.Als die Gräf<strong>in</strong> Anna Nádasdy von der Entlarvung des kartenspielendenOffiziers hört, kann sie ihm ke<strong>in</strong>e Vorwürfe machen: Sie ist bei deramerikanischen Gesandtschaft beschäftigt und wurde ebenfalls von derÁVH angeworben. Natürlich ist sie e<strong>in</strong> »Klassenfe<strong>in</strong>d«.Ihr kle<strong>in</strong>er Sohn kommt mit e<strong>in</strong>er zerrissenen und von den Arbeiter-194


k<strong>in</strong>dern bespuckten Jacke nach Hause, oder er we<strong>in</strong>t, weil se<strong>in</strong> adligerFamilienname <strong>in</strong> den neuen Geschichtsbüchern verunglimpft wird.»Müssen wir uns das gefallen lassen?« fragt er. »Können wir denn garnichts dagegen tun?«Am letzten Tage ihres Urlaubs 1955 wird die Gräf<strong>in</strong> von der ÁVHverhaftet, weil sie nach der Rückkehr von der Deportation illegal <strong>in</strong>Budapest wohnt. Mit der Drohung, sie wieder <strong>in</strong>s Gefängnis zu werfen,wirbt man sie als Spitzel an. Auf ihrer nächsten Fahrt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Wagen derGesandtschaft, als sie sich vor neugierigen Augen und Ohren sicher fühlt,beschwört sie ihre amerikanischen Arbeitgeber: »Bitte, lassen Sie ke<strong>in</strong>ewichtigen Papiere herumliegen, so daß ich sie sehen könnte.«In Budapest arbeiten Taxifahrer<strong>in</strong>nen, Prostituierte und Nachtklubs,wie »Pipacs« <strong>in</strong> der Váci utca, für den Staatssicherheitsdienst. Die ÁVHverfügt über bestimmte Sektionen, die mit so üblen Methoden arbeiten,daß die CIA sie beneiden könnte. Aufgabe der Sektion B-29 war es,Überläufer ausf<strong>in</strong>dig zu machen und sie zur Rückkehr zu bewegen.Gewöhnlich wurden dafür Freunde »angesetzt«, die eigens für diesenZweck von der ÁVH angeworben worden waren.ËËAuf diese Weise bewog man 1955 den Opernsänger János Járay zurHeimkehr, ohne daß dieser die ger<strong>in</strong>gste Ahnung hatte, daß die ÁVHdah<strong>in</strong>tersteckte.Typisch für die spitzf<strong>in</strong>dige Raff<strong>in</strong>esse der neuen ÁVH-Methoden wardie Logik im Fall des berüchtigten Faschisten Antal Páger, dem man 1956die Heimkehr aus der Emigration erlaubte. Auf der e<strong>in</strong>en Seite wollte manmit diesem üblen Schachzug sich bei e<strong>in</strong>em Teil der Öffentlichkeit beliebtmachen, und andererseits Druck auf die überwiegend jüdische Opposition<strong>in</strong>nerhalb der Partei ausüben. Rákosi wollte auf diese geme<strong>in</strong>e Weiseandeuten, daß es immer wieder zu Pogromen kommen könne; und alsPáger wieder im Lande war, gab man ihm jede Möglichkeit, alte Wundenwieder aufzureißen.Die Täuschungsmethoden waren ebenfalls ausgeklügelt. Die ÁVHbediente sich ausgedienter Doppelagenten, um im Westen lebende Überläuferzu verleumden. So schickte man e<strong>in</strong>er ungarischen Gesandtschaft195


im Westen e<strong>in</strong> Telegramm <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Code, von dem man wußte, daß er deranderen Seite bekannt war. Daraus g<strong>in</strong>g hervor, daß der Vorsitzende desexilungarischen Nationalrats angeblich geheimer Mitarbeiter der ÁVHwar.Um den Verdacht zu verstärken, schickte man ausgediente ÁVH-Agenten unter harmlosen Vorwänden zu ihm. Dann kam e<strong>in</strong>e»unverschlüsselte« Antwort aus Budapest mit der Bestätigung, daß Vargadas erwartete Material beschafft habe.ËÈZur Verteidigung der Volksrepublik gegen e<strong>in</strong>en Überfall warenbereits gewaltige sowjetische Truppenverbände im Lande stationiert, undauch die ungarischen Streitkräfte wurden verstärkt. Darüber h<strong>in</strong>aus zähltedie Sicherheitspolizei Anfang 1956 rund 35.000 Männer und Frauen.Die ÁVH-Angehörigen wurden hoch bezahlt, sie konnten knappeWaren <strong>in</strong> Kant<strong>in</strong>en, ähnlich den amerikanischen PX-Läden, kaufen, undsie hatten noch e<strong>in</strong>e ganze Reihe weiterer Vergünstigungen. E<strong>in</strong> jungerWirtschaftler, der zehn Jahre im Gefängnis saß, sagte später aus: »Unterden ÁVH-Leuten waren die Frauen am schlimmsten bei der Ausführungsadistischer Akte.«ËÍWie alle anderen kommunistischen Partei- und Staatsorgane hatte auchdie ÁVH ihren Plan, der bis <strong>in</strong> alle schikanösen E<strong>in</strong>zelheiten diskutiertwerden mußte, und ihre »Produktionsziele«, die zu erfüllen waren.Ihre Offiziere <strong>in</strong> den khakifarbenen Uniformen, den Mützen mit demblauen Schirm, den blauen Schnüren und Biesen sowie den blauen,gestreiften Achselklappen und Kragenspiegeln waren e<strong>in</strong> vertrauterAnblick <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong>. Offiziere und Berufssoldaten der ÁVH trugenLederstiefel von guter Qualität, während Männer, die direkt von derArmee oder aus dem Zivilleben zum Dienst <strong>in</strong> der ÁVH e<strong>in</strong>gezogenwurden, nur Le<strong>in</strong>enstiefel trugen – doch die Menge machte ke<strong>in</strong>enUnterschied, als die Unruhen ausbrachen.Bis 1955 hatte die ÁVH Riesenmengen von geheimen Informationengesammelt. In e<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>en Ort an der Grenze bei Magyaróvár gab esalle<strong>in</strong> über vierzig Denunzianten. Mancher geriet durch se<strong>in</strong>e eigeneUnvorsichtigkeit <strong>in</strong>s Netz. Im Juni 1955 hatte e<strong>in</strong> neunzehnjähriger196


Jugendlicher e<strong>in</strong>e Handharmonika gestohlen; dafür, daß man die Anklagefallenließ, wurde er als ÁVH-Informant verpflichtet, um <strong>in</strong> EspressobarsHorchdienste zu leisten. E<strong>in</strong> anderer junger Mann wurde wegenUntergrundtätigkeiten zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt; man versprachihm aber e<strong>in</strong>e Strafm<strong>in</strong>derung, wenn er im Gefängnishof den Lockspitzelspielte.Die Folge war, daß zwischen 1952 und 1955 nichtwenigerals1.136.434 <strong>Ungarn</strong> vor Gericht gestellt wurden und daß 516.708, alsofünfundvierzig Prozent von ihnen zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden.Nicht e<strong>in</strong>mal die Mitglieder des Zentralkomitees – rund 120 ausgewählteFunktionäre – erfuhren diese offiziellen Zahlen. Wie GeneraloberstSándor Nógrádi <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Er<strong>in</strong>nerungen schrieb, »war Rákosi der Ansicht,daß es so etwas wie e<strong>in</strong>e (revolutionäre) Gesetzlichkeit nicht gebe. ›DieLeute müssen nur wissen, daß wir hier die Diktatur des Proletariatshaben‹, pflegte er zu sagen.«ËÎImre Nagy äußerte sich bestürzt über den anhaltenden Polizeiterror.»Die Korruption der Macht und der moralische Niedergang«, schrieb er andas ZK, »s<strong>in</strong>d durch die Tatsache gekennzeichnet, daß zur Zeit mehrMenschen im Gefängnis s<strong>in</strong>d als je zuvor; die Zahl der Verurteilten ist sogroß, daß viele Tausende ihre Strafe wegen Platzmangel gar nicht antretenkönnen. Am schlimmsten ist, daß die meisten VerurteiltenIndustriearbeiter s<strong>in</strong>d.«ËÏDas kulturelle Leben war unter dem Rákosi-Regime vollkommenerstarrt.Der Direktor der Hochschule für bildende Kunst, Ernö Schubert, ließalle im Gebäude bef<strong>in</strong>dlichen griechischen Statuen <strong>in</strong> den Innenhofwerfen, da sie »unvere<strong>in</strong>bar mit dem Sozialistischen Realismus« seien.Die Zeitungen waren unlesbar. Der Nepotismus blühte. Die wichtigsteQualifikation für e<strong>in</strong>en Redakteur war se<strong>in</strong>e »E<strong>in</strong>stellung zur Partei«.Beim Theater war es nicht anders. Chef des Ressorts für Theater beimM<strong>in</strong>isterium für Volkskultur war der raffzähnige Altbolschewist István197


Kende. Shakespeares Richard III. war wegen vermuteter antikommunistischerTendenzen jahrelang verboten, und als das Stück endlich dochaufgeführt wurde, standen sämtliche Zuschauer von ihren Plätzen auf undapplaudierten, als die Worte gesprochen wurden: »’s ist e<strong>in</strong> Skandal, daßder Prozeß von Hast<strong>in</strong>gs ungesühnt bleibt.« Der Beifall galt alsMe<strong>in</strong>ungsäußerung zu dem schimpflichen Rajk-Prozeß. Hamlet wurdegestrichen, weil der Held e<strong>in</strong> »feudaler Reaktionär« sei, und Shaws DerTeufelsschüler kam unters Hackbeil, weil dies Theaterstück vom »Freiheitskampf«der Amerikaner handelt, den es für marxistische Historikernie gegeben hat.ËÌAls Gipfel der Dummheit empfanden es die Schriftsteller, daß sogardie Aufführung e<strong>in</strong>es klassischen ungarischen Dramas wie Imre MadáchsDie Tragödie des Menschen und selbst Béla Bartóks Ballett Der wunderbareMandar<strong>in</strong> verboten wurden. Arthur Miller gewann die Sympathie derPartei, aber erst, nachdem er mit dem Senatsausschuß für unamerikanischeAktivitäten <strong>in</strong> Konflikt geraten war. Der stellvertretende Kulturm<strong>in</strong>isterGyörgy Nön, e<strong>in</strong> Verwandter von Rákosi, ermahnte im Frühjahr 1956allen Ernstes die Studenten der Musikakademie mit den Worten: »LassenSie sich <strong>in</strong>spirieren durch das Beispiel des großen italienischenKomponisten Michelangelo!«Im September 1955 ordnete Nón die Beschlagnahme der letztenAusgabe der Literaturzeitung an. Da Erzsébet Andics sich weigerte, e<strong>in</strong>eProtestdelegation zu empfangen, drohte das neunköpfige Präsidium desSchriftstellerverbandes geschlossen mit se<strong>in</strong>em Rücktritt. »Unser Rücktritt«,warnten sie, »wird e<strong>in</strong> nationales Echo hervorrufen. So wird jedermannvon unserem Widerstand erfahren.«E<strong>in</strong>en Monat später bat Rákosi die Schriftsteller zu sich. Dieses Mallehnten sieab – e<strong>in</strong> weiterer, bisher noch nicht dagewesener Affront.Die Folge war, daß die literarische Gruppe um Nagy im Novembere<strong>in</strong>en scharfen offenen Brief an das Regime verfaßte.ËÓ Moralischgesehen, waren sie selbst ke<strong>in</strong>eswegs Unschuldslämmer: Tamás Aczél,verheiratet und Vater e<strong>in</strong>er kle<strong>in</strong>en Tochter, hatte e<strong>in</strong>e Geliebte; auch C<strong>in</strong>i198


Kar<strong>in</strong>thy und Tibor Déry waren, was Frauen betraf, ke<strong>in</strong>e Heiligen. Aberihr Brief bewies, daß sie auf andere Art moralisches Rückgrat besaßen.Déry unterzeichnete als erster und setzte damit se<strong>in</strong> ganzes Prestige e<strong>in</strong>.Inhaltlich war der Brief eher banal; sche<strong>in</strong>bar wandte sich der Protestganz allgeme<strong>in</strong> gegen die E<strong>in</strong>mischung der Partei <strong>in</strong> kulturelle Angelegenheiten,es war »e<strong>in</strong> großer Schrei <strong>in</strong> der Nacht«ËÔ, wie Tibor Méray esnannte, um die Menschen wissen zu lassen, daß die Schriftsteller sie nichtvergessen hatten.Den Entwurf hatte Sándor Haraszti mit Hilfe von Vásárhelyi undLosonczy gemacht. Imre Nagy war e<strong>in</strong>geweiht und ganz auf ihrer Seite.Als Tamás Aczél mit se<strong>in</strong>em Skoda herumfuhr, um die dreiundsechzigUnterschriften e<strong>in</strong>zusammeln, wurde er von Nagy energisch angespornt.Am 14. November lieferten Haraszti und Aczél den Brief bei derParteizentrale <strong>in</strong> der Akadémia utca ab.Es war e<strong>in</strong>e Sensation. Méray sagte: »Jedermann <strong>in</strong> Budapest wußtedavon. Die Leute kannten zwar den Text nicht, aber das machte alles nurnoch spannender.«Daß die Schriftsteller ihre Haltung gegenüber der Regierung <strong>in</strong> allerÖffentlichkeit bekundeten, traf Rákosi an der empf<strong>in</strong>dlichsten Stelle.Méray erklärte: »Wir wollten Staub aufwirbeln!«ÈÊ Aber die Partei entfachtee<strong>in</strong>en Sturm und übte Druck auf jeden e<strong>in</strong>zelnen aus, se<strong>in</strong>eUnterschrift zurückzuziehen. Am 6. Dezember diskutierten die kämpferischenSchriftsteller im Hause von Géza Losonczy – darunter Haraszti,Vásárhelyi, Déry, Ujhelyi und Aczél – über die angedrohten Konsequenzen.Sie entschlossen sich, fest zu bleiben. Vásárhelyi berichtete diesNagy, und Onkel Imre strahlte zufrieden.ÈÁWährend der nächsten zwei, drei Wochen hüllte sich die Akadémiautca <strong>in</strong> unheilschwangeres Schweigen. Am 22. Dezember wurden dieSchriftsteller telephonisch zu e<strong>in</strong>er Literaturdebatte bei der MetallarbeitergewerkschaftÈË»e<strong>in</strong>geladen«, <strong>in</strong> denselben Saal, <strong>in</strong> dem vor sieben Jahrender Prozeß gegen Rajk, Brankov und die anderen stattgefunden hatte. ZurDebatte sollte e<strong>in</strong>e Resolution des Zentralkomitees stehen, die bereitsgedruckt war uiid den Titel trug: »Das Problem der fe<strong>in</strong>dlichen Rechts-199


kräfte, die sich <strong>in</strong> der Literatur manifestieren.«E<strong>in</strong>ige Schriftsteller fürchteten, daß ihre Verhaftung unmittelbarbevorstand. Losonczy und Aczél fuhren an jenem Morgen nach Visegrád,um Zoltán Zelk und László Benjám<strong>in</strong> abzuholen.Benjám<strong>in</strong> hatte e<strong>in</strong>e Rede entworfen, aber se<strong>in</strong>e Nerven waren völligkaputt. »Ich kann nicht kommen! Nimm du me<strong>in</strong>e Rede«, bat er, »und liesdu sie!« Aczél warf e<strong>in</strong>en Blick darauf, las, daß von Rákosi und se<strong>in</strong>er»Mörderbande« die Rede war, und entschied nach kurzer Überlegung, sienicht vorzutragen.Als sie sich dem Gewerkschaftshaus näherten, sahen sie, daß zahlloseFunktionärslimous<strong>in</strong>en davorstanden, die zweitausend Wagen des»Proletariats« von Groß-Budapest. E<strong>in</strong>er von der Leibwache Rákosis warfihnen die gedruckte Tagesordnung zu. Auf halbem Wege nach dr<strong>in</strong>nenentdeckte Háy se<strong>in</strong>en eigenen Namen <strong>in</strong> großen Lettern: »Gyula Háyschlägt Kapital aus der Idee der Literaturfreiheit.« Aczél ergriff se<strong>in</strong>enArm und murmelte: »Gyuszi, wir kriegen Ärger.«Fünf andere Schriftsteller hatten ebenfalls die Ehre, ihre Namen <strong>in</strong>fettgedruckter Schrift zu lesen. In der Resolution wurden sie wegen»Rechtsabweichungen <strong>in</strong> der Literatur« verurteilt und als »Bannerträgerder Staatsfe<strong>in</strong>de« angeprangert.ÈÈBéla Szalai, e<strong>in</strong> großes, blondes Politbüromitglied mit fleischigenZügen, gab den Anstoß; die anderen Funktionäre gaben den Ball weiter.Das Publikum war fe<strong>in</strong>dselig und nervös. Aczél beschloß, se<strong>in</strong>e Rede<strong>in</strong> der Tasche zu lassen. Háy wartete, ob e<strong>in</strong>er der anderen Schriftstellerreden würde, aber da niemand es tat, g<strong>in</strong>g er unsicheren Schrittes zumPodium. Aber er kam nicht weiter als »Genossen . . . « zu sagen, da hatteRákosi ihn bereits von der Rednertribüne verscheucht.»Genossen, sagt er!«Wie der Spielleiter e<strong>in</strong>er Fernsehshow dirigierte er durch kaumsichtbares Zucken der Augenbrauen alle Pfiffe und Pfuirufe, die er vondem wütenden Publikum brauchte, und als die Schriftsteller schließlichdavonschlichen, wurden sie wiederum von Pfiffen und Rufen begleitet:»Seht nur, Genossen, sie türmen!«200


Völlig desolat kommen sie schließlich gegen 10 Uhr abends im Hausvon Losonczy am Rosenberg an.Stotternd sagt Kar<strong>in</strong>thy zu Méray: »Na, die haben uns aber ganz schönre<strong>in</strong>gelegt diesmal!«Méray wußte genau, daß Kar<strong>in</strong>thy nicht Rákosi me<strong>in</strong>te, sondern OnkelImre und Haraszti. Dann lachten beide nervös und nahmen e<strong>in</strong>en kräftigenSchluck aus Losonczys Schnapsbeständen. Aczél leerte e<strong>in</strong>e ganzeFlasche Kognak und g<strong>in</strong>g dann nach Hause <strong>in</strong>s Bett.Die Partei hatte wieder e<strong>in</strong>mal den Sieg davongetragen und richtete analle diejenigen Schriftsteller, die sich geweigert hatten, ihre Unterschriftzurückzuziehen, e<strong>in</strong>e ernste Warnung. Sie wurden aus der Partei ausgeschlossenund durften ihren Lebensunterhalt nicht mehr als Schriftstellerverdienen.Aczél sah sich zum Kraftfahrer degradiert und mußte mit se<strong>in</strong>emSkoda Schauspieler <strong>in</strong> die Prov<strong>in</strong>z fahren – für 1000 For<strong>in</strong>t pro Fahrt.Im Februar 1956 wurde Péter Erdös verhaftet. Das jagte allen e<strong>in</strong>enSchreck e<strong>in</strong>, und sie verbrannten das geheime Memorandum, das sie fürImre Nagy aufbewahrten – jedenfalls sagten sie ihm das; Nagy war nichtsehr begeistert und klagte, sie hätten ke<strong>in</strong> Recht, se<strong>in</strong>e Schriften zuvernichten.Miklós Gimes beschloß, sich aus Protest e<strong>in</strong>en Bart wachsen zulassen: Er schwor, daß er ihn nicht abnehmen werde, bis man ihn wieder<strong>in</strong> die Partei aufgenommen habe.Für e<strong>in</strong>ige Monate senkte sich wieder eisiges Schweigen auf sienieder.201


18Der TeufelskreisMOSKAU STÖHNTE unter dem härtesten W<strong>in</strong>ter seit Jahren. Wochenlangstand das Thermometer auf 30 Grad unter Null, und der Schnee lag übere<strong>in</strong>en Meter hoch.Nikita S. Chruschtschow eröffnete den XX. Parteitag mit e<strong>in</strong>er sechsstündigenRede – e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>zigen wütenden Angriff auf Stal<strong>in</strong> und alles,was se<strong>in</strong>e Ära repräsentierte. Noch gestern wäre se<strong>in</strong>e Anklage sträflicheKetzerei gewesen, nun rührte er an D<strong>in</strong>ge, die vorher unantastbar gewesenwaren, und am 25. Februar beendete er den Kongreß mit e<strong>in</strong>er geheimenAnsprache, nur e<strong>in</strong>en Ste<strong>in</strong>wurf vom Len<strong>in</strong>mausoleum entfernt, wo sichdie e<strong>in</strong>balsamierten sterblichen Überreste Stal<strong>in</strong>s befanden. Hätte Stal<strong>in</strong>ihn hören können, er hätte sich im Grabe umgedreht. Chruschtschowbeschrieb den übertriebenen Personenkult, er nannte Stal<strong>in</strong>s Wirtschaftstheorienstümperhaft und bezichtigte ihn, die größten Menschen se<strong>in</strong>erZeit liquidiert zu haben.Der XX. Parteitag brachte e<strong>in</strong>e Law<strong>in</strong>e <strong>in</strong>s Rollen, die sich bis <strong>in</strong> dieletzten W<strong>in</strong>kel des sowjetischen Machtbereiches auswirkte. Rákosi kehrtevollständig benommen und verunsichert nach Budapest zurück. <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong>entdeckte e<strong>in</strong> siebenundzwanzigjähriger Politoffizier der ArmeeChruschtschows Rede auf dem Schreibtisch des russischen Beraters imVerteidigungsm<strong>in</strong>isterium.ÁAuch die CIA gelangte durch die Organisation Gehlen, den westdeutschenAbwehrdienst, <strong>in</strong> den Besitz des Geheimtextes. Wash<strong>in</strong>gtonhielt ihn zunächst für zu schön, um wahr zu se<strong>in</strong>. Aber sowohl FrankWisner als auch der CIA-Chef von Wien, Oberst Peer de Silva, der sich zu202


Rout<strong>in</strong>egesprächen <strong>in</strong> der amerikanischen Bundeshauptstadt aufhielt,waren davon überzeugt, daß die Unterlagen echt waren. Am 4. Juniwurden sie schließlich vom State Department veröffentlicht. Es warvorauszusehen, daß die gesamte kommunistische Welt <strong>in</strong> ihren Grundfestenerschüttert werden würde. Frank Wisner schickte de Silva nachWien zurück und gab ihm Instruktionen mit auf den Weg, er sollte diegeheimdienstliche Tätigkeit <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> verstärken.Ë 1955 hatte die antisowjetischeStimmung <strong>in</strong> Budapest ihren Höhepunkt erreicht. Als dieBasketball-Europameisterschaft <strong>in</strong> Budapest ausgetragen wurde und diesowjetische Mannschaft <strong>in</strong>s Stadion e<strong>in</strong>marschierte, empf<strong>in</strong>gen die Zuschauersie mit e<strong>in</strong>em Pfeifkonzert. Viele wurden verhaftet, und die Nachrichtvon dieser Protestaktion verbreitete sich mit W<strong>in</strong>deseile im ganzenLand.È In den Universitäten und <strong>in</strong> den Espressobars – den Kaffeebars, dieentlang den Haupt- und Seitenstraßen von Budapest wie Pilze aus demBoden geschossen waren – erhoben sich wieder antisowjetische Stimmen.Obwohl Moskau deutlich das Ende der Stal<strong>in</strong>-Ära signalisiert hatte,schwenkte Rákosi nur zögernd um. E<strong>in</strong>en Monat lang erfolgte ke<strong>in</strong>erleiReaktion aus Budapest. In e<strong>in</strong>er Erklärung an das Zentralkomitee unterstricher »die unbestreitbaren großen Leistungen Stal<strong>in</strong>s« und erklärteöffentlich, Personenkult sei »dem Marxismus völlig fremd«. Von Selbstkritikwar wenig zu spüren, er räumte nur e<strong>in</strong>, »Stal<strong>in</strong>s persönlicherFührungsstil« <strong>in</strong> all den Jahren sei »verfehlt« gewesen.Aber am 27. März 1956 gab Rákosi schließlich widerwillig zu, daßRajk Unrecht zugefügt worden war. Als er <strong>in</strong> Eger sprach, schob er dieganze Verantwortung für den Prozeß Gábor Péter <strong>in</strong> die Schuhe. Andiesem Tag wurde Kopácsi, dem Polizeichef von Budapest, dasManuskript e<strong>in</strong>er Ansprache überreicht. Er sollte sie vor se<strong>in</strong>en 1200Polizeioffizieren halten, die, wie Her<strong>in</strong>ge zusammengepfercht, <strong>in</strong> derPolizeiakademie <strong>in</strong> der Böszörményi út untergebracht waren. Kopáksiignorierte den Text. Statt dessen sprach er darüber, daß die Partei dasVertrauen der Öffentlichkeit wiedergew<strong>in</strong>nen müsse. »Rákosi weigertsich, Selbstkritik zu üben«, sagte er. Anfänglich rutschten die Zuhörerverunsichert auf ihren Stühlen h<strong>in</strong> und her, dann klatschten sie Beifall.Í203


Zunächst wurden aus den Reihen der politischen Gefangenen Sozialdemokratenwie András Révész entlassen. Und zu se<strong>in</strong>er Überraschungwar György Marosán am 29. März 1956 e<strong>in</strong> freier Mann. Die Jugoslawenwurden nicht mehr als »Kettenhunde« bezeichnet, Tito war wieder»Genosse Tito«, und Gábor Péter selbst kam <strong>in</strong>s Gefängnis. Nach fünfJahren Isolierhaft war Marosáns Haar schneeweiß geworden, und dasSprechen fiel ihm schwer. Um nicht den Verstand zu verlieren, hatte ersich <strong>in</strong> der Gefängnisbibliothek vergraben und immer wieder Marx undLen<strong>in</strong> gelesen (augensche<strong>in</strong>lich braucht jeder Mensch unterschiedlicheBehandlungsmethoden). Von Stal<strong>in</strong>s Tod 1953 erfuhr er erst, als er imGefängnisspital Zsuzsa Thúrys Novelle Kle<strong>in</strong>es französisches Mädchen <strong>in</strong>Budapest las.»Schon vierundzwanzig Stunden nach me<strong>in</strong>er Entlassung wurde ich zuRákosi gebracht«, erzählt Marosán »Ich habe nie geglaubt, daß er die Stirnhaben würde, mir noch e<strong>in</strong>mal gegenüberzutreten.«Î Er wurde mit demWagen <strong>in</strong> die Parteizentrale <strong>in</strong> der Akadémia utca gefahren und <strong>in</strong>Gegenwart des M<strong>in</strong>isterpräsidenten András Hegedüs von Rákosiempfangen.Rákosi entschuldigte sich mit breitem Gr<strong>in</strong>sen bei ihm: »Ich b<strong>in</strong>untröstlich, daß Péter und se<strong>in</strong>e Bande Ihnen das angetan haben.«Marosán schleuderte ihm <strong>in</strong>s Gesicht: »Es ist s<strong>in</strong>nlos, darüber auch nur e<strong>in</strong>Wort zu verlieren. Ohne grünes Licht von Ihnen hätten sie niemalsgewagt, mich zu verhaften!«Die Partei zahlte ihm 200.000 For<strong>in</strong>t Haftentschädigung für rechtswidrigeE<strong>in</strong>kerkerung und holte ihn zweimal <strong>in</strong> der Woche zu politischenDiskussionen <strong>in</strong> die Akadémia utca.In Moskau war der Machtkampf offensichtlich noch nicht beendet.Stal<strong>in</strong>isten, wie Rákosi, wurden nicht sofort gefeuert. Im Gegenteil, am 4.April, dem »Tag der Befreiung«, schickte ihm Marschall Bulgan<strong>in</strong> e<strong>in</strong>überschwengliches Telegramm, <strong>in</strong> dem er ihn »den bewährten altenKämpfer der Revolution« nannte.In Budapest aber erkannte e<strong>in</strong>e ganze Reihe ausländischer Diplomaten,daß die Zeichen auf Sturm standen. Der fünfundvierzigjährige204


jugoslawische Gesandte Dalibor Soldatic <strong>in</strong>formierte se<strong>in</strong> Außenm<strong>in</strong>isteriumdarüber, daß nur die sofortige Stabilisierung der <strong>in</strong>nenpolitischenLage das Äußerste verhüten könne. Rákosi und Gerö müßten durch Nagyund Kádár ersetzt werden, sonst – so prophezeite er – würde e<strong>in</strong>e Revolutionausbrechen, mit unvorhersehbaren Folgen für den ganzen Ostblock.ÏDie Haltung des Kreml gegenüber Imre Nagy war ke<strong>in</strong>eswegs e<strong>in</strong>deutig.Manchmal schien es sogar, als hofierten sie ihn. E<strong>in</strong> CIA-Agentbehauptete (möglicherweise irrtümlich), daß Nagys Frau e<strong>in</strong>ige Male zuüppigen D<strong>in</strong>ners <strong>in</strong> die Sowjetbotschaft <strong>in</strong> Budapest e<strong>in</strong>geladen wordensei.Ì Und als Onkel Imre am 7. Juni 1956 se<strong>in</strong>en 60. Geburtstag feierte,waren nicht nur kommunistische Kab<strong>in</strong>ettsmitglieder, wie der M<strong>in</strong>ister fürdie Kohlenbergwerks<strong>in</strong>dustrie, Sándor Czottner, geladen, sondern zumBeispiel auch der Komponist Zoltán Kodály und der beliebte SchriftstellerGyula Illyés amüsierten sich bei Paprikahähnchen und Tokayer.ÓIn se<strong>in</strong>em Prozeß wurde Nagy später vorgeworfen, er habe e<strong>in</strong>everschwenderische Geburtstagsfeier zu e<strong>in</strong>er politischen Demonstrationbenutzt. Als Rákosi Péter Veres scharf tadelte, daß er die E<strong>in</strong>ladungangenommen habe, antwortete der Polit-Schriftsteller schlagfertig: »Ichb<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Magyar. Wenn ich zu e<strong>in</strong>er Gesellschaft e<strong>in</strong>geladen werde, geheich auch h<strong>in</strong>.«Die Moskauer Rede Chruschtschows löste im ganzen Ostblock Unruheaus. In Polen, wo e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>ternationale Messe eröffnet worden war, kam eszu Arbeiterunruhen, die von bewaffneter Polizei unterdrückt wurden. Esgab viele Tote und Verletzte.Aber auch <strong>in</strong> Budapest verstärkte sich der Druck der Dissidenten aufRákosi Auf e<strong>in</strong>er Parteiversammlung <strong>in</strong> der ärmlichen Vorstadt Angyalföld(Engelsfeld) erhob sich der junge Lehrer György Litván von se<strong>in</strong>emPlatz, deutete anklagend mit dem F<strong>in</strong>ger auf Rákosi und erklärte feierlich,er habe das ihm von allen entgegengebrachte Vertrauen verwirkt: »Sies<strong>in</strong>d schuldig! Treten Sie zurück!«Während Rákosi sich nur noch umgeben von bewaffneten Leibwächternauf der Straße sehen lassen kann, wird Imre Nagy zu e<strong>in</strong>em205


Symbol für e<strong>in</strong>e bessere Zukunft.Die CIA berichtet, Nagy sei als Ausgestoßener beliebter, als er es alsM<strong>in</strong>isterpräsident je gewesen wäre. Wenn er als normaler Bürger e<strong>in</strong>eOpernaufführung besucht, erhebt er sich, um huldvoll den Publikumsapplausentgegenzunehmen. Er schlendert mit se<strong>in</strong>em grünen Hut undGlacéhandschuhen durch die Stadt, und wildfremde Menschen gehen aufihn zu, schütteln ihm die Hand und fragen: »Genosse Nagy, wannkommen Sie wieder?«E<strong>in</strong> Nachbar wird sich später er<strong>in</strong>nern: »Ich war dabei, als er etwasganz Unglaubliches machte. Obgleich er e<strong>in</strong> Kommunist <strong>in</strong> führenderPosition war, stieg er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Autobus, schob se<strong>in</strong>e Hand <strong>in</strong> die Tasche,fischte e<strong>in</strong>en For<strong>in</strong>t heraus und bezahlte tatsächlich se<strong>in</strong>en Fahrsche<strong>in</strong>!«Oder e<strong>in</strong>e alte Frau marschiert durch den ganzen Bus Nr. 5 zu Nagy undruft, während sich verlegene ÁVH-Männer taub stellen: »Gott segne Sie!Wann kommen Sie wieder? Wir haben diesen Rákosi e<strong>in</strong> für allemalsatt!«ÔIn der Stadt schaut er den hübschen Mädchen nach und nimmt vorihnen den Hut ab. Er alle<strong>in</strong> wagt es, vor György Heltais Frau den Hut zulüften – zu dieser Zeit sitzt ihr Mann noch im Gefängnis.Die Partei versuchte <strong>in</strong>zwischen, ihre eigenen ungeschickten Liberalisierungsbestrebungen<strong>in</strong> den Griff zu bekommen. Die Sendung »SamstagNachmittag«, <strong>in</strong> der sich vier Kartenspieler unterhielten, wurde <strong>in</strong>sRundfunkprogramm aufgenommen. E<strong>in</strong>er von ihnen übernahm die Rolledes frechen Meckerers und wurde nach und nach immer dreister. InBudapest wurden zwei Kabaretts eröffnet. Abend für Abend bog sich dasPublikum im Vidám-Theater oder auch im Kle<strong>in</strong>en Theater vor Lachen beiVorstellungen, die etwa unter dem Motto »Wo drückt der Schuh?« überdie Bühne g<strong>in</strong>gen – vier Stunden lang gnadenlose Angriffe auf dasSystem!ÁÊ Vásárhelyi sagt: »Nach dem XX. Kongreß und nach der RedeChruschtschows wendete sich das Blatt zu unseren Gunsten – jedenfallsbildeten wir uns das e<strong>in</strong>!« Das Verfahren gegen den Schriftsteller PéterErdös, das für den 11. April anberaumt worden war, wurde e<strong>in</strong>gestellt und206


er aus der Haft entlassen. Ab Juni durfte er als freier Mitarbeiter für denRundfunk tätig se<strong>in</strong>. Se<strong>in</strong> geräuschvolles E<strong>in</strong>treten für Imre Nagy machteihn zu e<strong>in</strong>er allseits bekannten Ersche<strong>in</strong>ung im Funkhaus an der BródySándor utca.ÁÁImre Nagy f<strong>in</strong>g allmählich an, se<strong>in</strong>e starke Stellung zu erkennen. AlsTibor Méray im Mai die Stelle des Chefredakteurs von Frieden undFreiheit angeboten wurde, drängte ihn der »Alte« förmlich, sie anzunehmen:»Die Zeit ist reif. Wir müssen jede erreichbare Position <strong>in</strong> unsereHände bekommen. Nimm das Angebot an!« Als jedoch Géza Losonczyund Miklós Gimes gegenüber Nagy andeuteten, man solle sich nicht damitbegnügen, sondern e<strong>in</strong> Komitee gründen, <strong>in</strong> dem die Opposition gegenRákosi koord<strong>in</strong>iert werden könnte, bekam Nagy Angst. Er betrachtete diePartei – das graue, labyr<strong>in</strong>thartige Gebäude <strong>in</strong> der Akadémia utca – immernoch als se<strong>in</strong>e geistige Heimat und wollte nichts mit e<strong>in</strong>em Angriff auf dieE<strong>in</strong>heit der Partei zu tun haben.Gimes war besonders hartnäckig. Nagy er<strong>in</strong>nerte sich, daß er zweimaldie Gründung dieses Komitees vorschlug – das erste Mal, als niemanddabei war, das zweite Mal <strong>in</strong> Gegenwart von György Fazekas und PálLöcsei. In den Ohren des pedantischen und gesetzestreuen Imre Nagyklang das alles höchst »unkorrekt«.Se<strong>in</strong>e Freunde waren verwirrt und bestürzt. E<strong>in</strong>mal, als Gimes undSándor Haraszti die Villa von Nagy verließen, platzte Gimes der Kragen:»Wir werden ke<strong>in</strong>en Erfolg haben, solange wir nicht die Massen für unsgew<strong>in</strong>nen – und nicht nur die Intellektuellen.« Und noch e<strong>in</strong>mal sagte er:»Was wir brauchen, ist e<strong>in</strong>e Organisation.«ÁË Um die von Gimes vorgezeichnetenZiele zu erreichen, mußte der Petöfi-Kreis <strong>in</strong> den stürmischenFrühl<strong>in</strong>gswochen 1956 noch e<strong>in</strong>en weiten Weg zurücklegen.ÁÈEigentlich war der Kreis schon e<strong>in</strong>ige Monate vorher von Parteianhängern<strong>in</strong>s Leben gerufen und der Jugendorganisation DISZ als sorgfältigausgewählte Diskussionsgruppe angegliedert worden, die wöchentliche<strong>in</strong>mal am Mittwoch zusammenkam. Sándor Petöfi, Dichter undAnführer der gescheiterten Revolution von 1848, gab ihm den Namen.Zunächst schenkte die Öffentlichkeit dem Kreis kaum Beachtung. Er207


orientierte sich an den Richtl<strong>in</strong>ien des Kossuth-Klubs, der Anfang 1955von e<strong>in</strong>er Gruppe Intellektueller gegründet worden war. Aber der SekretärGábor Tánczos und die Redner wurden als l<strong>in</strong>ientreue Kommunistenangesehen, und die ersten endlosen Debatten drehten sich nur umAuslegungsfragen des Marxismus-Len<strong>in</strong>ismus. E<strong>in</strong> frühererFliegeroffizier beschrieb die Situation folgendermaßen: »Ganz allgeme<strong>in</strong>sympathisierte die ungarische Öffentlichkeit weder mit dem PetöfiKreisnoch mit den Schriftstellern, weil sie vor dem kommunistischen Regimezu Kreuze krochenÁÍ. E<strong>in</strong> antikommunistischer Schriftsteller, der dreiJahre <strong>in</strong> Recsk <strong>in</strong>terniert war, formulierte es wesentlich derber: »AusScheiße kann man ke<strong>in</strong>e Butter machen.«ÁÎAn der ersten Abendveranstaltung des Kreises im August 1955nahmen nicht mehr als zwanzig oder dreißig Freunde teil. Doch als derKreis unter den E<strong>in</strong>fluß der Gruppe um Nagy geriet, wurden auch aktuelleZeitfragen diskutiert, und <strong>in</strong>folge der wachsenden Beteiligung zog er <strong>in</strong>die Wirtschaftsfakultät der Universität um. Bei den Treffen herrschteBierzeltatmosphäre. Häufig übernahmen die Nagy-Anhänger Donáth,Ujhelyi und Losonczy den Vorsitz.Die Entwicklung des Kreises von e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>formellen, freien Forum zue<strong>in</strong>er nicht zu überhörenden aufrührerischen, ansteckenden und nationalistischenOpposition wurde von der Regierung argwöhnisch beobachtet.Nach kurzer Zeit mußten die Versammlungen von der Universität bereits<strong>in</strong> den eleganten Offiziersklub im Zentralhaus der Volksarmee verlegtwerden. Das gewaltige Bauwerk aus der Zeit der ungarischen Separationsbewegungbeherrschte im Geschäftsviertel der Stadt die Váci út, die »FifthAvenue« Budapests.ÁÏ Das Klubtheater verfügte über 800 Plätze.Bei der Diskussion über Wirtschaftsprobleme am 30. Mai 1956 verurteiltene<strong>in</strong>ige Redner offen die verschwenderische Politik Rákosis. FünfTage später kam als Thema die ungarische Geschichte auf die Tagesordnung.Erzsébet Andics begann: »In den letzten zehn Jahren haben wir imH<strong>in</strong>blick auf die Geschichte <strong>Ungarn</strong>s viele Fehler gemacht . . . «» . . . Das stimmt!« kam das Echo aus dem Publikum.208


Zornrot versuchte die »Held<strong>in</strong> der Partei« weiterzusprechen: »Wirmüssen zugeben, daß es sehr schwere Fehler waren!«Als Antwort ertönten Pfiffe und Zwischenrufe: »Wir wollen genauwissen, was für Fehler das waren!«Im Juni waren die Versammlungen bereits Tagesgespräch <strong>in</strong> Budapest.Am 14. Juni war György Lukács Hauptredner. Se<strong>in</strong> faltiges Gesichtund se<strong>in</strong> knochiger, kahler Schädel waren unverkennbar. Nie erschien erohne dicke Zigarre und die dazugehörige Schachtel Streichhölzer. Mitschneidender, aber beherrschter Stimme und se<strong>in</strong>em vorschnellenden,dürren Zeigef<strong>in</strong>ger, der jedes se<strong>in</strong>er Argumente unterstrich, kritisierte erdie – wie er es ausdrückte – »Fließbandherstellung« von Philosophen.Lukács der vor siebzig Jahren als Sohn e<strong>in</strong>es geadelten jüdischenBankiers geboren wurde, galt lange Zeit als geachtetster Philosoph desRegimes. Er wendete sich gegen se<strong>in</strong>e literarisch tätigen, bürgerlichenZeitgenossen, kämpfte 1918 aktiv für den Kommunismus und entg<strong>in</strong>gdabei oft nur um Haaresbreite dem Tod. Zwar hatte er sich jetzt demNagy-Lager angeschlossen, aber er vermochte es niemals ganz, sich vommarxistischen und hegelianischen Gedankengut zu lösen.Beim nächsten Treffen dom<strong>in</strong>ierten die Schullehrer. Zeit und Ortwurden jeweils von e<strong>in</strong>em zum anderen weitergesagt. Das öffentlicheInteresse war groß.Viele zur Beobachtung der Versammlungen abkommandierte ÁVH-Agenten entdeckten verblüfft, daß sie die Ansicht der Unruhestifterteilten. E<strong>in</strong>ige unterschrieben sogar e<strong>in</strong> entsprechendes Memorandum fürdas ÁVH-Hauptquartier.ÁÌMehr als e<strong>in</strong>mal wurde Imre Nagy aufgefordert, vor der Versammlungzu sprechen, aber jedesmal lehnte er ab.ÁÓ Er hatte sich ganz der Parteidiszipl<strong>in</strong>verschrieben. Vásárhelyi me<strong>in</strong>t: »Er war e<strong>in</strong> <strong>in</strong> der Wollegefärbter Kommunist. Obgleich er nicht mehr Parteimitglied war, pflegteer zu sagen: ›Das könnt ihr nicht machen, das ist nicht parteigemäß – nichtpártszerü!‹ Er war e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>facher, mönchischer Mann. Von achtzehn bissechzig war er immer e<strong>in</strong> Kämpfer gewesen, immer e<strong>in</strong> Parteiarbeiter.«Das Ganze wirkte be<strong>in</strong>ahe wie die Schlußapothese <strong>in</strong> Prokofieffs209


Musikmärchen »Peter und der Wolf«. In der ersten Reihe marschierten dieIndustriearbeiter, die am meisten unter der mangelhaften Sachkenntnis derKommunisten und unter Verfolgung gelitten hatten. Gleich danach kamendie Studenten, und dah<strong>in</strong>ter trotteten die kommunistischen Intellektuellen,jämmerlich blökend, sie hätten erst jetzt die Schreckensherrschaft desRákosi-Regimes erkannt. Angetrieben wurden sie – vorwiegend auspersönlichen und nicht aus patriotischen Gründen – von Imre Nagy, wiebei Prokofieff die quakende Ente <strong>in</strong> der Mitte des Teiches – aber nicht zulaut. Nagy wurde immer ungeduldiger, weil die Partei bei der Behandlungse<strong>in</strong>es »Falls« ke<strong>in</strong>e Fortschritte machte.Er war es leid, se<strong>in</strong>e Rehabilitierungsanträge direkt an das Zentralkomiteezu schicken, und hielt den Schriftstellern, die sich um ihndrängten, e<strong>in</strong>e Standpauke, weil sie noch ke<strong>in</strong>e Kampagne zur Rücknahmese<strong>in</strong>es Ausschlusses aus der Partei gestartet hatten. Gegenüber Losonczyund Gimes ließ er die Bemerkung fallen, die Journalisten gebärdeten sichzwar privat sehr lautstark, aber von ihrer oppositionellen E<strong>in</strong>stellung sei <strong>in</strong>der Presse ke<strong>in</strong> Echo zu hören. Später sagte VásárheIyi aus, Nagy sei zuihm und se<strong>in</strong>en Berufskollegen sehr kurz angebunden gewesen, besondersals das Zentralkomitee ihrer Rehabilitierung im Juli zustimmte, ohne sichmit dem wesentlich wichtigeren Fall »Imre Nagy« zu befassen.In der zweiten Junihälfte 1956 erhielten die Versammlungen desPetöfi-Kreises enormen Auftrieb.Am Abend des 22. Juni trafen 2000 ehemalige Partisanen zusammen,um an e<strong>in</strong>er Diskussion über das Thema »Die alten illegalen Kommunistenund die Jung<strong>in</strong>tellektuellen von heute« teilzunehmen.Zunächst beherrschten die ergrauten alten Kämpen die Bühne, als siesich weitschweifig über den Spanischen Bürgerkrieg und die Gefängnisjahreunter Horthy ausließen. Aber dann ertönte aus dem Publikum e<strong>in</strong>eherausfordernde Stimme: »In der fünfjährigen stal<strong>in</strong>istischen Diktatur von1948 bis 1953 wurden mehr Kommunisten <strong>in</strong>s Gefängnis geworfen,gefoltert und ermordet als <strong>in</strong> den fünfundzwanzig Jahren des Horthy-Regimes!«210


Darauf breitete sich beklommenes Schweigen aus, gefolgt vondonnerndem Applaus, als László Rajks hochgewachsene, hagere Witwe andas Mikrophon trat. Sie wendete sich direkt an die erblaßten, unruhig mitden Füßen scharrenden Funktionäre auf der Tribüne: »Genossen, nachfünf Jahren Haft und Erniedrigung stehe ich tiefbewegt vor Ihnen. Nichtnur me<strong>in</strong> Mann wurde getötet, man nahm mir auch me<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d weg. DieseVerbrecher haben nicht nur László Rajk ermordet, sondern auch alleRechtschaffenheit und jedes Gefühl <strong>in</strong> unserem Lande mit Füßengetreten.«Dann wandte sie sich an die Zuhörer: »Wo waren denn die Parteimitglieder,als all dies geschah? Wie konnten sie solche Verbrechendulden, ohne <strong>in</strong> heiligem Zorn gegen die Schuldigen aufzustehen?«Sie schloß: »Ich werde nicht eher ruhen, bis jene, die dieses Landru<strong>in</strong>iert, die Partei korrumpiert, Tausende vernichtet und Millionen zurVerzweiflung getrieben haben, ihre gerechte Strafe erhalten. Genossen,helfen Sie mir bei diesem Kampfe.«Inmitten des losbrechenden Tumults setzte sie sich wieder auf ihrenPlatz.»Nieder mit Rákosi!« – »Nieder mit den Schuldigen!« – »Es lebe<strong>Ungarn</strong>!«Am 24. Juni zollte Freies Volk dem Petöfi-Kreis – wenn auch widerwillig– Tribut, nannte ihn e<strong>in</strong>en »Lichtstrahl« und empfahl Staatsbedienstetenund Parteiführern, an den Diskussionen teilzunehmen. Sehrbald bereute der Chefredakteur diese Empfehlung, denn drei Tage späterknöpfte sich der Petöfi-Kreis die Presse vor.ÁÔ Der Beg<strong>in</strong>n der Versammlungwar auf 19 Uhr festgesetzt worden. Die Luft war drückend, und esf<strong>in</strong>g an zu regnen. Schon um 16.30 Uhr waren sämtliche 800 Plätzebesetzt, aber der Besucherstrom riß nicht ab. Die Menschen drängten sichauf den Gängen und Rängen, bis sich 6000 Zuhörer, darunterStaatsbedienstete, Fabrikarbeiter, sogar Polizei und Soldaten <strong>in</strong> Uniform,<strong>in</strong> dem überfüllten Saal befanden.Géza Losonczy, Nagys Vertrauensmann, führte als Chefredakteur derZeitung Magyar Nemzet [Die Ungarische Nation] den Vorsitz.211


Das Hauptreferat hielt Tibor Déry, der mit offenem Kragen und ohneKrawatte erschienen war, zum Thema »Maßnahmen gegen ›Bazillenträger‹«. Déry vertrat die Ansicht: »Es genügt nicht, nur die Symptome zubekämpfen.«Zu Martön Horváth, dem Chefredakteur von Freies Volk gewendet,der zuerst gesprochen hatte, sagte Déry: »Wir haben hier sehr viel überZensur gehört. Jetzt wollen wir aber endlich Nägel mit Köpfen machenund gleich mit Horváth selbst anfangen, der heute anwesend ist. Wie istdas eigentlich? Für sich selbst tritt er nicht e<strong>in</strong>, und manchmal ist sogarschwer zu sagen, ob er für die Sache der Partei e<strong>in</strong>tritt. Zuerst ist er rechts,dann ist er l<strong>in</strong>ks.«Es war e<strong>in</strong>er der schwülsten Tage des Jahres. Unter wachsendemBeifall fragte Déry »Wo liegt die Ursache unserer Schwierigkeiten? Ichwerde es Ihnen sagen: Uns fehlt die Freiheit. Ich hoffe, wir haben dasEnde des Polizeistaates miterlebt. Und da ich Optimist b<strong>in</strong>, hoffe ichaußerdem, daß wir auch unsere jetzigen Parteiführer loswerden.Schließlich sollten wir nicht vergessen, daß wir hier nur mit freundlicherGenehmigung der Behörden debattieren dürfen. Sie glauben wohl, es täteuns ganz gut, wenn wir etwas Dampf ablassen. Aber wir wollen nicht nurWorte, wir wollen auch Taten.«ËÊDéry war <strong>in</strong> Schweiß gebadet: »Wir müssen handeln. 1500 oder 2000Leute – es s<strong>in</strong>d immer die gleichen Gesichter, die bei den verschiedenenDebatten auftauchen! Was br<strong>in</strong>gt uns das e<strong>in</strong>? Wollen wir unser Recht aufHandlungsfreiheit für e<strong>in</strong> paar lumpige Debatten verkaufen?«Die bisher geordnet verlaufende Versammlung drohte langsam außerKontrolle zu geraten. Tibor Tardos, e<strong>in</strong> rebellischer Journalist derRedaktion Freies Volk, forderte die Besetzung der Druckereien – denn nurso könne man erfolgreich für die »Freiheit der Presse« kämpfen.Um 21 Uhr war die Váci út <strong>in</strong> ihrer ganzen Breite von e<strong>in</strong>erMenschenmenge verstopft, die gleichfalls <strong>in</strong> die Versammlung wollte,denn wie e<strong>in</strong> Lauffeuer hatte sich <strong>in</strong> der ganzen Stadt die Nachricht vondiesem außerordentlichen Ereignis verbreitet. Lautsprecher wurdenmontiert, damit die herbeigeströmten Massen zuhören konnten.212


Aus dem auszugsweisen Sitzungsprotokoll geht hervor, daß die Leuteimmer mutiger wurden, je weiter der Abend fortschritt. Sándor Nógrádi,der Leiter der Agitprop-Abteilung, konnte sich nur noch schreiend Gehörverschaffen:»Ich erhebe, wenn die Genossen gestatten, E<strong>in</strong>spruch gegen die vondem Genossen Déry und <strong>in</strong> mancher H<strong>in</strong>sicht auch von dem GenossenTardos geäußerten radikalen Ansichten.« (Laute Unterbrechung.)»Geduld, Genossen. Wie Sie wollen. Ich freue mich sehr über den Beifallund b<strong>in</strong> sehr froh über die Schimpfworte.« (Hört! Hört!) »Weil sie zeigen,daß e<strong>in</strong> neuer März, e<strong>in</strong>e neue Revolution nötig ist.« (Ja! Ja!) »Geduld,Genossen! Ich glaube, daß unsere Partei, unsere Kommunistische Partei,geme<strong>in</strong>sam mit ihren Mitgliedern, geme<strong>in</strong>sam mit dem Volk dietragischen Irrtümer und schweren Fehler erkannt hat und weiß, wie sie zukorrigieren s<strong>in</strong>d.« (Laute Unterbrechung.) »Es ist unsere Tragik, aberwenn Sie mir erlauben, werde ich auch <strong>in</strong> Ihrem Namen sprechen . . . «(Ne<strong>in</strong>! Ne<strong>in</strong>!) » . . . es ist unsere Tragik, daß wir dachten, wie wir dachten. . . «Und als Zoltán Vas schwerfällig das Podium bestieg und erklärte, dieAbsetzung Rákosis wäre e<strong>in</strong>e furchtbare persönliche Tragödie für diesenalten Kämpfer der Arbeiterbewegung, wurden Rufe laut: »Wir wollenlieber die Tragödie e<strong>in</strong>es Menschen als die Tragödie e<strong>in</strong>er Nation!«Mitternacht war vorüber, Horváth wurde niedergebrüllt. »Wie könntihr es wagen, die Partei zu beleidigen!« schrie er. »Die Partei?« kam diedrohende Antwort. »Wir s<strong>in</strong>d die Partei!«Jemand rief mit durchdr<strong>in</strong>gender Stimme: »Warum scharren wir Rajknicht aus se<strong>in</strong>er Grube und geben ihm e<strong>in</strong> feierliches Begräbnis?«E<strong>in</strong>e ganze Gruppe applaudierender Zuhörer erhob sich und f<strong>in</strong>g an zus<strong>in</strong>gen: »Nieder mit der Regierung. Es lebe Imre Nagy.« Die Kundgebungendete erst nach 3 Uhr morgens. Sie blieb <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> für immerunvergessen.E<strong>in</strong> Aufruhr war die Antwort. Tardos wurde aus der Partei ausgestoßenund natürlich auch Déry Am 30. Juni brandmarkte das Zentral-213


komitee, reichlich verspätet, den Petöfi-Kreis als »konterrevolutionär«,und bezeichnete se<strong>in</strong>e Mitglieder als Faschisten, Imperialisten undbezahlte amerikanische Agenten. Die amtliche Resolution behauptete:»Dieser offene Widerstand gegen die Partei und die Volksdemokratiewurde ausschließlich von e<strong>in</strong>er kle<strong>in</strong>en Gruppe um Imre Nagyorganisiert.«Von diesem aggressiven Ton e<strong>in</strong>geschüchtert, verkroch sich derPetöfi-Kreis <strong>in</strong> se<strong>in</strong> Mauseloch. Die nächste Versammlung wurde auf den29. Juli angesetzt, dann e<strong>in</strong>e Woche – und schließlich »bis Oktober«verschoben.Mit e<strong>in</strong>er Massenkundgebung der Arbeiter rief die Regierung zu e<strong>in</strong>erVerurteilung des Petöfi-Kreises auf. Die Arbeiter weigerten sich, Folge zuleisten. Dadurch wurde der Schriftstellerverband ermutigt, den Ausschlugvon Déry und Tardos aus der Partei nicht anzuerkennen.So etwas war noch niemals vorgekommen.Der amerikanische Journalist Simon Bourg<strong>in</strong> schilderte am 5. Julianschaulich die veränderte Stimmung, als er aus Budapest schrieb: »Allesagen, Rákosi muß gehen, es ist das M<strong>in</strong>deste, was die Leute verlangen.Das höre ich von Automechanikern, Leuten aus dem Mittelstand undHotelportiers.« Allerd<strong>in</strong>gs fügte er h<strong>in</strong>zu: »Obwohl sich Nagys Beliebtheithartnäckig bei e<strong>in</strong>igen, die persönlich mit ihm zu tun hatten, hält undobwohl <strong>in</strong> der Öffentlichkeit die Er<strong>in</strong>nerung an die kurze Atempause, dieer dem Land vergönnte, immer noch wach ist, frage ich mich doch, wievolkstümlich er wirklich ist.«ËÁRákosi hatte ke<strong>in</strong> Interesse mehr, die Probe aufs Exempel zu machen.Er spürte, daß die Zeit knapp wurde, und stellte e<strong>in</strong>e Liste von 400Gegnern zusammen, die sofort verhaftet werden sollten.Imre Nagy und János Kádár standen ganz oben auf der Liste. ImreMezö, zweiter Mann <strong>in</strong> der Parteizentrale am Platz der Republik undheimlicher Anhänger Nagys, erzählte Vásárhelyi, se<strong>in</strong> Vorgesetzter imPolitbüro, István Kovács, habe ihm dies bestätigt.Auch Sándor Kopácsi, dem Polizeichef von Budapest, wurde die Liste214


vorgelegt. »Für manche Genossen ist es zur Zeit besser, wenn sie sich füre<strong>in</strong> paar Tage oder Wochen unsichtbar machen«, me<strong>in</strong>te e<strong>in</strong> Funktionär.Kopácsi gab se<strong>in</strong>en Kameraden aus der Partisanenzeit, die im Nordostenvon <strong>Ungarn</strong> lebten, den Tip, wenn nötig János Kádár zu verstecken.Wahrsche<strong>in</strong>lich rettete ihm das zwei Jahre später das Leben.Der Kreml konnte das unterirdische Grollen <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> nichtüberhören. Die Westflanke der Sowjetunion würde durch den Verlustdieses Landes bedrohlich geschwächt werden. Michail Suslow, derMoskauer Experte für die Satellitenstaaten, flog nach Budapest, um sichpersönlich e<strong>in</strong>en Überblick über die Lage zu verschaffen. Nach Moskauzurückgekehrt, empfahl er, Rákosi zunächst im Amt zu belassen.Chruschtschow erklärte dem überraschten jugoslawischen Botschafter:»Wir Russen haben <strong>in</strong> diesem Fall ke<strong>in</strong>e andere Wahl.«Trotzdem schickte er se<strong>in</strong>en stellvertretenden M<strong>in</strong>isterpräsidenten,Anastas Mikojan, nach Budapest, um Suslows Auftrag energisch weiter zuverfolgen. Ke<strong>in</strong> Wunder, daß Rákosis Blutdruck den Ärzten Sorgemachte. Auf e<strong>in</strong>em Empfang <strong>in</strong> der französischen Botschaft wirkte ergealtert, überlastet und mitgenommen.Mikojan traf am 17. Juli <strong>in</strong> Budapest e<strong>in</strong>, als Rákosi gerade e<strong>in</strong>eAnsprache vor dem Zentralkomitee der Partei hielt.ËË An erster Stellestand auf der Tagesordnung die von ihm beabsichtigte Verhaftung der 400führenden Gegenspieler. Laut Kálmán Pongrácz, dem Bürgermeister vonBudapest, ließ Mikojan Rákosi zwar ausreden, fragte dann aber mitBetonung: »Was halten Sie vom Petöfi-Kreis, Genosse Rákosi?«»Das ist e<strong>in</strong>e Bewegung, die von Fe<strong>in</strong>den der Partei <strong>in</strong>s Leben gerufenwurde«, antwortete RákosiTrocken bemerkte Mikojan: »Sehr <strong>in</strong>teressant! In Moskau hörte man,daß die Partei auf den Versammlungen des Petöfi-Kreises wiederholt,manchmal m<strong>in</strong>utenlang, Beifall erhielt. Merkwürdig für e<strong>in</strong>e parteife<strong>in</strong>dlicheBewegung.«Ernö Gerö, Rákosis getreuer Statthalter <strong>in</strong> elf Jahren unmenschlicherGewaltherrschaft, witterte Gefahr. Er sprang auf und sagte mit schiefem215


Seitenblick und sarkastischem Unterton: »Darf ich unseren geliebten undweisen Vater des Volkes daran er<strong>in</strong>nern, daß Massenverhaftungen nichtmehr mit unserer neuen sozialistischen Ordnung zu vere<strong>in</strong>baren s<strong>in</strong>d.«Die Abstimmung fiel fast e<strong>in</strong>stimmig aus – gegen Rákosi Er erstarrteund g<strong>in</strong>g <strong>in</strong> den angrenzenden Raum, um mit Chruschtschow zu telephonieren.Von dort tönte deutlich se<strong>in</strong>e erregte Stimme durch die Tür:»Die Partei braucht mich! Wenn ich gehe, bricht alles zusammen . . . «Am nächsten Morgen gegen 9 Uhr erhielten sämtliche Zeitungen dieAnweisung, die Druckerpressen für e<strong>in</strong>e wichtige Meldung anzuhalten.Tibor Méray, <strong>in</strong>zwischen Chefredakteur des Magaz<strong>in</strong>s Frieden und Freiheitmit e<strong>in</strong>er Auflage von 150.000 Exemplaren wöchentlich, roch Unrat.»Jetzt wird die Verhaftung von Imre Nagy und se<strong>in</strong>en Bundesgenossenbekanntgegeben«, dachte er.ËÈAber e<strong>in</strong>e<strong>in</strong>halb Stunden später lag die Nachricht auf dem Tisch:Rákosi war unwiderruflich se<strong>in</strong>es Amtes als Erster Sekretär der Parteienthoben worden – er trat »aus gesundheitlichen Gründen« zurück, undGerö nahm se<strong>in</strong>en Platz e<strong>in</strong>. Auch Mihály Farkas war aus der Parteiausgeschlossen worden und verlor se<strong>in</strong>en Generalsrang.Am 21. Juli verließ Rákosi heimlich den Boden <strong>Ungarn</strong>s. E<strong>in</strong>esowjetische Masch<strong>in</strong>e hob mit ihm vom Militärflugplatz Budaörs ab undbrachte ihn zur »Behandlung« nach Moskau.Ingrimmig prophezeite er se<strong>in</strong>er zusammengeschrumpften Gefolgschaftzum Abschied: »Ohne mich wird alles, was wir bis jetzt erreichthatten, vor die Hunde gehn. Ihr werdet es erleben!« Zwei Tage späterbegann das Zentralkomitee mit der Rehabilitierung der Opfer von RákosisSäuberungen. Unter denen, die die Partei im Auftrag von Gerö nun wiederan ihren Busen drückte, waren Ferenc Donáth, János Kádár, GézaLosonczy und die ehemaligen Sozialdemokraten György Marosán undÁrpád Szakasits; e<strong>in</strong>ige wurden sogar <strong>in</strong>s Zentralkomitee gewählt. Es gababer auch e<strong>in</strong>e Reihe von ihnen, die der Strick des Henkers um dieseGenugtuung betrogen hatte, darunter László Rajk, György Pálffy undTibor Szönyi.ËÍ216


Den Witwen wurde nun e<strong>in</strong>e Pension angeboten. Der Justizm<strong>in</strong>isterwollte Julia Rajk 200.000 For<strong>in</strong>t Entschädigung aufdrängen, aber sielehnte ab. Sie wollte ke<strong>in</strong> Geld. Sie wollte Rache.Zwischen Budapest und dem Plattensee stiegen die Geister der h<strong>in</strong>gemordetenOpfer aus ihren namenlosen Gräbern, sie ließen denParteibossen ke<strong>in</strong>e Ruhe mehr.217


19Stimmen erheben sichDIE WAHL Ernö Gerös zum Nachfolger von Rákosi erregte Zorn undUnmut. Die Bevölkerung empfand zwar Rákosis Sturz mit Recht als Sieg,aber nun stieg e<strong>in</strong> anderer Kommunist Moskauer Prägung <strong>in</strong> se<strong>in</strong>eFußstapfen – e<strong>in</strong> Jude wurde durch e<strong>in</strong>en anderen ersetzt.Gerö, eigentlich Ernst S<strong>in</strong>ger, war e<strong>in</strong> prüder, fanatischer Stal<strong>in</strong>ist. Erhandelte nie aus eigennützigen Motiven, und man konnte ihn fürunbestechlich halten, es sei denn, Partei<strong>in</strong>teressen standen auf dem Spiel.Er hatte – wie Rákosi auch – ke<strong>in</strong> besonders ansprechendes Äußeres: Se<strong>in</strong>Haar war kraus und widerstand allen Versuchen, es zu glätten; durch se<strong>in</strong>Gesicht mit den leicht vorstehenden Augen, den wulstigen Lippen undherabgezogenen Mundw<strong>in</strong>keln verkörperte Genosse S<strong>in</strong>ger den Prototypdes abstoßenden Bösewichts <strong>in</strong> Wildwestfilmen. E<strong>in</strong> Journalist bei FreiesVolk me<strong>in</strong>te leicht masochistisch: »Ich mochte ihn lieber als RákosiRákosi stieß mich ab als Inkarnation des häßlichen, verabscheuungswürdigenFe<strong>in</strong>des. Ich fand es unerträglich, daß an jeder Ecke se<strong>in</strong> Bildh<strong>in</strong>g. Gerö dagegen war wie e<strong>in</strong> Techniker, der ke<strong>in</strong>e Gefühle zeigte. Fürmich war auch er e<strong>in</strong> hassenswerter Fe<strong>in</strong>d, aber man mußte ihn trotzdemachten.«Gerö hatte den Boden Spaniens mit dem Blut se<strong>in</strong>er Opfer getränkt.Damals übte er im Auftrag des NKWD <strong>in</strong> Barcelona unter demDecknamen »Pedro« die Funktion des Polizeichefs aus. Er organisierteZusammenkünfte, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en H<strong>in</strong>terhalt führten und mit e<strong>in</strong>em Massakerendeten, bei dem sich die verschiedenen rivalisierenden l<strong>in</strong>ken Gruppengegenseitig umbrachten. Auch bei dem Mord an Andrés N<strong>in</strong>, dem218


Präsidenten der Republik Katalonien, hatte er se<strong>in</strong>e Hand im Spiel.Er machte ke<strong>in</strong> Hehl aus se<strong>in</strong>er Abneigung gegen den Petöfi-Kreis.Als am 19. Juli 1956 die aufrührerische Pressedebatte des Kreises <strong>in</strong> denwestlichen Staaten als »Kle<strong>in</strong>-Posen« bezeichnet wurde und man sichdabei auf die Krawalle vom Vortag <strong>in</strong> Polen bezog, hatte er nur e<strong>in</strong>herablassendes Lächeln für diesen Vergleich übrig. Andererseits sah er <strong>in</strong>den Anhängern des Kreises e<strong>in</strong>e gefährliche Herausforderung für dasZentralkomitee. Doch gegen Imre Nagy und se<strong>in</strong>e »zersetzende Clique«spie er Gift und Galle.Im September g<strong>in</strong>g Gerö zum Angriff über: »In unserer Partei gibt esFälle ernster Abweichungen nach rechts«, klagte er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Rede. Dannwurde er deutlicher: »Die Hauptrepräsentanten dieser Rechtsabweichlers<strong>in</strong>d Imre Nagy und gewisse andere Gegenspieler der Partei oder sonstigeheuchlerische Elemente um ihn.«Kurz danach wurde Imre Nagy von Freunden aus e<strong>in</strong>geweihtenKreisen der Parteihierarchie e<strong>in</strong>e Warnung zugetragen: Gerö plane e<strong>in</strong>evorsätzliche Provokation, die ihm e<strong>in</strong>en Vorwand liefere, um die Oppositionzu liquidieren. Es war die alte Taktik, die er schon <strong>in</strong> Barcelonaangewendet hatte. Die Frage war nur, was er plante – und zu welchemZeitpunkt.ÁDie gewitzten Intellektuellen spürten, daß e<strong>in</strong> Sturm heraufzog, undhängten ihr Mäntelchen rechtzeitig nach dem W<strong>in</strong>d. Zu ihnen gehörteGyula Háy, e<strong>in</strong> wohlhabender Bühnenautor, der zehn Jahre <strong>in</strong> Moskauverbracht hatte. Er lebte völlig zurückgezogen, bis ihn der wachsendeProtest der ungarischen Jugend bee<strong>in</strong>druckte.»Jahrelang hielt ich Lesungen und sprach vor Versammlungen jungerIntellektueller und Arbeiter. Aber langsam hatte ich das Gefühl, daß alles,was ich sagte, für die jungen Leute e<strong>in</strong> alter Hut war. Ich konnte nichtbegreifen, wie es möglich war, daß wir – die ältere Generation – unserLetztes für <strong>Ungarn</strong>s Zukunft gaben, während sich die Jugend weder dafür<strong>in</strong>teressierte noch unsere Arbeit anerkannte. Ich begann, mich sogar zufragen, ob wir vielleicht unrecht hatten und sie recht, und f<strong>in</strong>g an, den219


übertriebenen Bürokratismus und die Auswüchse des Sozialismusöffentlich zu verurteilen. Je deutlicher ich wurde, um so mehr fühlte ichmich von e<strong>in</strong>er unwiderstehlichen Sympathiewelle der Jugend emporgetragen.«Háy schrieb e<strong>in</strong>en unverblümten Aufsatz mit dem Titel Pakt mit derWahrheit. Aber erst der nächste: Weshalb kann ich ihn eigentlich nichtleiden? erhitzte die Phantasie der Bevölkerung. Er nahm ihn <strong>in</strong> se<strong>in</strong> Leseprogrammbei Versammlungen <strong>in</strong> Prov<strong>in</strong>zstädten auf. Die Teilnehmerf<strong>in</strong>gen an, kritische Fragen zu stellen, deren Beantwortung für Háy immerheikler wurde.In Györ rief e<strong>in</strong> Zuhörer: »Was geschieht eigentlich mit <strong>Ungarn</strong>sUran?« In der Nähe von Pécs war gerade e<strong>in</strong> sehr ergiebiges Uranvorkommenvon guter Qualität entdeckt worden.Ë Háy mußte zugeben, daß erke<strong>in</strong>e Ahnung hatte: »Aber ich teile Ihre Ansicht, daß ich wissen sollte,was mit unserem Uran geschieht – Sie alle sollten es auch wissen. Es istIhr gutes Recht, zu fragen und nicht eher Ruhe zu geben, bis SieAufschluß darüber erhalten haben.«Schließlich wurde das Gerücht über das reiche Uranvorkommen <strong>in</strong><strong>Ungarn</strong> im Volk viel diskutiert. E<strong>in</strong> Ungar sprach aus, was viele dachten:»Wenn wir jetzt e<strong>in</strong> Risiko e<strong>in</strong>gehen, wird auch der Westen dazu bereitse<strong>in</strong>.«È Nicht e<strong>in</strong>mal der Vorsitzende der Atomkommission, ProfessorLajos Jánossy – unehelicher Sohn des Philosophen György LukácsÍ –,kannte die Bed<strong>in</strong>gungen des von der Sowjetunion diktierten Uranvertrags.Im Juni 1956 beklagte er sich: »Als wir kürzlich zu Verhandlungen mitunseren russischen Kollegen nach Moskau fuhren, stellte sich heraus, daßsie über das ungarische Uranvorkommen weit besser <strong>in</strong>formiert waren alswir.«Imre Nagy beobachtete <strong>in</strong> den vom politischen Hickhack beherrschtenSommermonaten aufmerksam die starren Fronten der KommunistischenPartei. In e<strong>in</strong>er von ihm im Januar 1956 verfaßten Denkschrift E<strong>in</strong>igeaktuelle Fragen hatte er e<strong>in</strong>e Koalition der Regierung mit nichtkommunistischenParteien befürwortet. E<strong>in</strong> kommunistischer Spitzen-220


journalist, der drei Jahre zuvor aus Recsk entlassen worden war, er<strong>in</strong>nertesich e<strong>in</strong> Jahr später an e<strong>in</strong> Gespräch, das er im August 1956 mit e<strong>in</strong>em derAnhänger Imre Nagys geführt hatte: »Er sagte, Imre Nagy sei ke<strong>in</strong>Kommunist mehr.« E<strong>in</strong> Jahr später fügte er h<strong>in</strong>zu: Nagy glaube nicht mehran die Diktatur des Proletariats; er wolle e<strong>in</strong> sozialistisches <strong>Ungarn</strong>schaffen und alles für e<strong>in</strong>e Verbesserung des Lebensstandards tun. »Me<strong>in</strong>Freund erklärte, Nagy strebe e<strong>in</strong>e Koalitionsregierung an, me<strong>in</strong>te abergleichzeitig, Nagy sei sich nicht darüber im klaren, daß dies das Endese<strong>in</strong>er eigenen politischen Karriere bedeuten würde.«ÎNagy beabsichtigte, die Patriotische Volksfront zu gegebener Zeitwieder <strong>in</strong>s Leben zu rufen. Er begann zu diesem Zweck bei anderenPolitikern zu sondieren. Er beauftragte Miklós Vásárhelyi, <strong>in</strong>direktVerb<strong>in</strong>dung mit dem Kle<strong>in</strong>landwirteführer Béla Kovács aufzunehmen, derkurz zuvor aus sowjetischer Haft zurückgekehrt war, und ihm den Postendes Generalsekretärs der Volksfront anzubieten. Aber nach achtjährigemGefängnisaufenthalt war Kovács e<strong>in</strong> kranker Mann und sträubte sichgegen die Übernahme e<strong>in</strong>er so hohen Position.ÏAuch mit Anna Kéthly, der eisernen alten Sozialdemokrat<strong>in</strong>, nahmNagy über Losonczy und Haraszti Verb<strong>in</strong>dung auf. Aber sie lehnte jedeZusammenarbeit mit Kommunisten ab, mochten sie auch noch so»bekehrt« se<strong>in</strong>. Sie antwortete ihm nicht e<strong>in</strong>mal auf se<strong>in</strong>e Anfrage.Nagy bezog noch e<strong>in</strong>e andere Splittergruppe <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Überlegungene<strong>in</strong>, die frühere Bauernvere<strong>in</strong>igung um Sándor Kiss.Ì Die Nazis hatten dendamals achtunddreißigjährigen Kiss im Dezember 1944 wegen Sabotagedes deutschen Nachschubs verhaftet und zusammen mit sechs anderenzum Tode verurteilt. Er konnte jedoch fliehen und wurde nach dem Kriegauf dem Höhepunkt des Kampfes gegen Rákosis Machtübernahme Abgeordneterder Kle<strong>in</strong>landwirte-Partei. 1947 kam er wegen »Landesverrat«erneut <strong>in</strong> Haft, und nur se<strong>in</strong> unbeirrbarer calv<strong>in</strong>istischer Glaube hielt ihnam Leben. Nach se<strong>in</strong>er Entlassung als »Klassenfe<strong>in</strong>d« abgestempelt,mußte er im Straßenbau arbeiten.Nagy eröffnete das Gespräch mit dem ruhigen, gut angezogenenPolitiker, <strong>in</strong>dem er anregte, man müsse die Freilassung von etwa dreißig221


ehemaligen Abgeordneten der Bauernvere<strong>in</strong>igung durchsetzen. (Sie warennur e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er Teil der 474 kürzlich freigelassenen politischenGefangenen – meist Kommunisten oder Sozialdemokraten –, 3000 weiteremußten im Gefängnis bleiben.)Auch Generalleutnant Béla Király, e<strong>in</strong>er der ranghöchsten Offiziereder Armee, gehörte zu denjenigen Kommunisten, die am 5. September1956 bed<strong>in</strong>gt aus der Haft entlassen wurden.Ó E<strong>in</strong>ige Tage später wurde er,ebenfalls im Auftrag von Nagy, von e<strong>in</strong>er Delegation aufgesucht.Obgleich er erst dreiundvierzig war, hatte er häufiger die Seite gewechselt,als die Italiener <strong>in</strong> beiden Weltkriegen. Als Schwiegersohn e<strong>in</strong>esehemaligen faschistischen M<strong>in</strong>isterpräsidenten hatte er 1944 kurze Zeitdie Stellung des Adjutanten beim letzten Verteidigungsm<strong>in</strong>ister <strong>in</strong>ne, biser mit 8000 Soldaten zu den Russen überlief und ihnen anbot, gegen diedeutschen Verbündeten se<strong>in</strong>er Regierung zu kämpfen.Mehr aus realpolitischen Gründen als aus echter Überzeugung trat ernach 1945 der Kommunistischen Partei bei. Bereits 1948 erhielt er dasOberkommando über die ungarischen Landstreitkräfte. Als Mihály FarkasVerteidigungsm<strong>in</strong>ister wurde, schob man ihn rücksichtslos ab unddegradierte ihn zum Kommandanten der Kriegsakademie. Im August 1951erfolgte se<strong>in</strong>e Verhaftung, und aufgrund der üblichen, an den Haarenherbeigezogenen Beschuldigungen wurde er zum Tode verurteilt.Nach se<strong>in</strong>er Freilassung verschaffte ihm Märta Sárközi, e<strong>in</strong>e Freund<strong>in</strong>mit ausgezeichneten gesellschaftlichen Verb<strong>in</strong>dungen zu literarischenKreisen, e<strong>in</strong>e Stellung als Gärtner. Bis 1949 hatte sie die halbamtlicheZeitung der Bauernpartei Válasz [Die Antwort] zusammen mit Intellektuellen,wie Gyula Illyés, Pál Jónás und István Bibó geleitet. Und <strong>in</strong> diesemKreis fanden ihn auch Nagys Beauftragte.Sie klärten ihn über das Wesen der Imre-Nagy-Gruppe auf: »Sie kannmit Sicherheit auf die Unterstützung des Petöfi-Kreises, mehrerer Parteigliederungenund M<strong>in</strong>isterien – bis auf die Armeeführung – rechnen, dasich überall Nagys Vertrauensleute bef<strong>in</strong>den. Nur <strong>in</strong> die ÁVH wollen wirke<strong>in</strong>e Leute e<strong>in</strong>schleusen, weil sie abgeschafft werden soll.« Man arrangiertee<strong>in</strong> Treffen mit Nagy, der Király verkündete: »Sie werden unser222


Mann <strong>in</strong> der Armee.«Aber der General wandte e<strong>in</strong>, daß er nach allem, was er währendse<strong>in</strong>er Gefängnishaft hatte durchmachen müssen, gesundheitlich nichtmehr auf der Höhe sei. Daraufh<strong>in</strong> veranlaßte Nagy am 10. Oktober se<strong>in</strong>esofortige E<strong>in</strong>weisung <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Militärlazarett.Nagy hatte ebenfalls diskrete Verhandlungen mit György Marosán <strong>in</strong>die Wege geleitet.Ô Dieser abtrünnige Sozialdemokrat erholte sich nochvon se<strong>in</strong>en Gefängnisleiden. Se<strong>in</strong>e Frau hatte ihn gebeten, nicht <strong>in</strong> diePolitik zurückzukehren. Allerd<strong>in</strong>gs war die Versuchung sehr groß, undviele Gruppen umwarben ihn. Die Sozialdemokraten me<strong>in</strong>ten: »Jetztkannst du dich rächen!« Marosán kehrte Nagy den Rücken und schloß sichim Juni 1956 mit János Kádár zusammen, weil er Kádár und József Révaimehr Vertrauen entgegenbrachte.Kádárs Gruppe war schon vor mehreren Monaten gegründet worden.Bereits im Sommer 1955 berichtete e<strong>in</strong> CIA-Agent nach Wash<strong>in</strong>gton:»Kádár gilt als charismatischer Führer der Opposition gegen Rákosi. Se<strong>in</strong>estarke Gruppe setzt sich aus rehabilitierten Opfern des Stal<strong>in</strong>ismuszusammen.«ÁÊ Weiter hieß es <strong>in</strong> dem Bericht: »Die heimlichen GefolgsleuteImre Nagys stellen die zweitstärkste Gruppe <strong>in</strong>nerhalb der Partei.«Diese beiden Flügel verfügten über die absolute Mehrheit <strong>in</strong> denFührungsgremien der Partei, stellte die CIA fest, während die orthodoxen,moskautreuen Parteivertreter mehr und mehr zu e<strong>in</strong>er M<strong>in</strong>derheit würden.Im April und Juni 1956 sprachen die Agenten von Gerüchten, Kádárstünde an der Spitze e<strong>in</strong>er Gruppe, die das Ziel habe, »stärkeren E<strong>in</strong>fluß <strong>in</strong>der Parteiführung und <strong>in</strong> allen <strong>Ungarn</strong> betreffenden Angelegenheiten« zugew<strong>in</strong>nen. Als zu dieser Gruppe gehörig waren aufgeführt: József Kóból,Sándor Nógrádi und Zoltán Vas.ÁÁAm 3. Juli meldete die CIA <strong>in</strong>tensive Gespräche zwischen Kádár undMichail Suslow, dem Bevollmächtigten des Kreml; Suslow ließ sichdavon überzeugen, daß Kádárs Beschwerden über Rákosi berechtigtwaren. Am 12. August hielt Kádár nach se<strong>in</strong>er Rehabilitierung se<strong>in</strong>e erstewichtige politische Rede vor 20.000 Stahlarbeitern <strong>in</strong> Salgotárjan, und am9. September leitete er die Delegation, die zum ch<strong>in</strong>esischen223


Parteikongreß <strong>in</strong> Pek<strong>in</strong>g geschickt wurde. Se<strong>in</strong> Stern war im Aufgehen.Im Juni 1956 gab es <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> e<strong>in</strong> ergreifendes Wiedersehen, dasähnlich verlief wie viele andere <strong>in</strong> diesem Jahr. Hauptmann Bondor betrittnach elf langen Jahren der Trennung zum erstenmal wieder se<strong>in</strong>eWohnung. Damals mußte er se<strong>in</strong>e junge Frau verlassenÁË, jetzt versucht er,wieder an die Zeit vor elf Jahren anzuknüpfen. Er gehörte zu den 900 vonden Russen am 18. November 1955 repatriierten Armeeoffizieren. AberRákosis Geheimpolizei hatte ihn an der Grenze entdeckt und ihn erneut<strong>in</strong>s Gefängnis geworfen.Seit der »Befreiung« ihres Landes haben sich beide sehr verändert.Die junge Frau leidet unter dem schrecklichen Geheimnis ihrerVergewaltigung durch die Russen und ihres Versuches, die Folgenunbemerkt mit Haushalts-Des<strong>in</strong>fektionsmitteln zu beseitigen.ÁÈ Durch ihreständigen Ause<strong>in</strong>andersetzungen mit den Kommunisten fühlt sie sicherniedrigt, sie ist still und <strong>in</strong> sich gekehrt. 1953 wurde <strong>in</strong> der Fabrik, wosie arbeitete, ihre »Kulaken«-Herkunft aufgedeckt. Sie wurde 500Arbeitskollegen vorgeführt. Man warf ihr vor, e<strong>in</strong>em ehrlichen Menschenden Arbeitsplatz weggenommen zu haben.Sie verflucht die Fremden, die ihr den Mann gestohlen, ihren Körperzerstört und ihren Stolz auf <strong>Ungarn</strong> verletzt haben, als sie angeblichKultur nach <strong>Ungarn</strong> brachten. Die Art, wie die Funktionäre zu Ehren ihrerTalmi-Helden Budapests berühmte Straßen und Alleen umbenannt hatten,deren vertraute Namen sie seit ihrer K<strong>in</strong>derzeit kannte, verursacht ihrÜbelkeit. Inzwischen ist sie sechsunddreißig Jahre alt, k<strong>in</strong>derlos, frigideund von der Angst gepe<strong>in</strong>igt, daß sie unheilbar krank se<strong>in</strong> könnte. Nurnoch der Gedanke an die Rückkehr ihres Mannes hält sie aufrecht – er warder e<strong>in</strong>zige <strong>in</strong> ihrem Leben.1950 unterrichtete man sie offiziell von se<strong>in</strong>em Tode, aber sie hat esniemals geglaubt. Als die ersten entlassenen Gefangenen aus Rußlandzurückkehrten, bestürmte sie jeden e<strong>in</strong>zelnen, den sie traf, mit ihrenFragen: »Ist Ihnen dieser Mann begegnet?« E<strong>in</strong>er von ihnen erkannte aufdem Bild ihren Mann. Er wußte sogar, wo das Lager war. Außer sich vor224


Glück schrieb sie e<strong>in</strong>en Brief und hielt nach zwei Monaten e<strong>in</strong>e Antwort<strong>in</strong> Händen.Endlich, am 1. Juni 1956, steht ihr Mann vor ihr. Inzwischen ist ere<strong>in</strong>undvierzig Jahre alt und kle<strong>in</strong>er, als sie ihn vom Hochzeitstag her <strong>in</strong>Er<strong>in</strong>nerung hatte. Aber nicht e<strong>in</strong>mal jetzt läßt man die beiden zurBegrüßung alle<strong>in</strong>. Als er se<strong>in</strong>e Budapester Wohnung betritt, warten schonvier Fremde auf ihn. Sie erzählen ihm, daß von ehemaligen Häftl<strong>in</strong>gen aussowjetischen Gefangenenlagern e<strong>in</strong>e Untergrundorganisation gegründetworden sei. Sie wollen versuchen, mit führenden Emigranten, zumBeispiel mit dem früheren M<strong>in</strong>isterpräsidenten aus der Kle<strong>in</strong>landwirte-Partei, Ferenc Nagy, Kontakt aufzunehmen und Spionagezellen aufzubauen,um für e<strong>in</strong>e Revolution gerüstet zu se<strong>in</strong>.Hauptmann Bondor erfährt unter anderem von dem Geschäftsführere<strong>in</strong>es Budapester Transportunternehmens am Großmarkt, der ehemalige<strong>in</strong>haftierte Offiziere als Lastwagenfahrer e<strong>in</strong>stellt. Diese ehemaligenOffiziere beobachten heimlich die gesamten kommunistischen Truppenbewegungenund -standorte und geben sie nach österreich weiter.Schon steckt Bondor aufs neue bis über beide Ohren <strong>in</strong> e<strong>in</strong>erVerschwörung. Die Gefühle für se<strong>in</strong>e Frau s<strong>in</strong>d erkaltet. Für sie ist er e<strong>in</strong>Fremder geworden: nervös, mißtrauisch, ruhelos und aggressiv. Dergutaussehende junge Hauptmann Bondor war gebildet und hatte tadelloseManieren. Das Lager hat e<strong>in</strong>en Mann aus ihm gemacht, der sich bei Tischwie e<strong>in</strong> Tier benimmt. Die Armut, <strong>in</strong> der die beiden leben müssen, istniederdrückend. Um ihm e<strong>in</strong>en anständigen Anzug kaufen zu können,suchen ihre Verwandten die letzten Groschen zusammen. Bondor istnachtragend und grob geworden, er badet ungern und will se<strong>in</strong>e verschwitzteKleidung nicht wechseln. Manchmal besteht er zweimal täglichauf Geschlechtsverkehr – für sie ist das ganze e<strong>in</strong> Alptraum, er hat nichtdie ger<strong>in</strong>gste Ähnlichkeit mit ihren Phantasievorstellungen, die sie hatte,solange er fort war.Sie verflucht die Kommunisten, die ihnen das angetan haben. Aberauch er träumt – von Rache an den Russen. (»Ich würde alles zurücklassen– me<strong>in</strong>e Frau, me<strong>in</strong>e Karriere, alles –, wenn ich etwas für <strong>Ungarn</strong> oder den225


Westen tun könnte«, wird er im März 1957 offiziellen VertreternAmerikas anvertrauen.)Er betet für e<strong>in</strong>e Revolution, er setzt Flüsterpropaganda <strong>in</strong> Gang, erschmiedet Komplotte mit Kameraden aus der Gefängniszeit. Natürlichwird es e<strong>in</strong> oder zwei Jahre dauern, bis alles soweit ist. Vielleicht kannman die Russen überrumpeln, wenn sie irgendwo anders <strong>in</strong> e<strong>in</strong>erpolitischen Krise stecken. Dann werden er und se<strong>in</strong>e »3500« Kameradendie drei westlichen Prov<strong>in</strong>zen <strong>Ungarn</strong>s besetzen, damit die Westmächteungeh<strong>in</strong>dert ihren Nachschub über die Grenze schaffen können.Am 20. August, e<strong>in</strong>ige Wochen nach Bondors Rückkehr, bekam IstvánKoczak, der CIA-Dienststellenleiter <strong>in</strong> Israel, Besucher.ÁÍ Koczak warVerb<strong>in</strong>dungsmann zur ungarischen Botschaft gewesen, bis ihn dieRegierung Rákosi 1949 zur persona non grata erklärte und h<strong>in</strong>auswarf.Nun besuchte e<strong>in</strong>e Handelsdelegation Israel, und e<strong>in</strong>er ihrer Angehörigenunterrichtete Koczak davon, daß e<strong>in</strong> <strong>Aufstand</strong> <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> bevorstehe. Erzählte etwa vierzig führende <strong>Ungarn</strong> auf, die dar<strong>in</strong> verwickelt seien.»Es gibt e<strong>in</strong>e Untergrundorganisation ehemaliger politischer Häftl<strong>in</strong>ge«,sagte ihm der Mann, »die e<strong>in</strong>en Putsch vorbereiten.«Koczak gab diese Information an das CIA-Hauptquartier <strong>in</strong> Wash<strong>in</strong>gtonweiter. Das war zunächst alles. Aber drei Monate später konnte deroberste CIA-Chef, Allen Dulles, den politischen Führungskräften <strong>in</strong>Wash<strong>in</strong>gton mitteilen: »Ich und andere <strong>in</strong> diesem Lande s<strong>in</strong>d von derantikommunistischen E<strong>in</strong>stellung der Polen und <strong>Ungarn</strong> absolut überzeugt.«Er fügte h<strong>in</strong>zu, se<strong>in</strong> Nachrichtendienst habe derartige Tendenzenfestgestellt, deren Stärke aber wahrsche<strong>in</strong>lich »vollkommen unzureichendsei«.ÁÎWie der letzte Akt des ungarischen Dramas ablaufen würde, war nochungewiß. Da Rákosi ständig propagandistische Zweckmeldungen verbreitete,erwarteten viele <strong>Ungarn</strong> nicht mehr und nicht weniger als denE<strong>in</strong>marsch e<strong>in</strong>er westdeutschen Armee. E<strong>in</strong> siebenundzwanzigjährigerStudent me<strong>in</strong>te dazu: »Wir waren der festen Überzeugung, daß dieungarische Frage ohne e<strong>in</strong>e Wiederbewaffnung Deutschlands nie gelöst226


werden könnte. Nach der Flucht <strong>in</strong> derl Westen stellten wir fest, daßDeutschland lange nicht so stark oder so aufgerüstet war, wie man uns dasweisgemacht hatte.«E<strong>in</strong> anderer junger Mann drückte se<strong>in</strong>e Verwunderung so aus: »Alswir auf unserer Flucht die Grenze überschritten, erwartete uns e<strong>in</strong>e großeEnttäuschung, weil dort ke<strong>in</strong>eswegs gewaltige Truppenbewegungen imGang waren.«ÁÏDen ganzen Sommer h<strong>in</strong>durch heizten bestimmte Publikationen dieUnzufriedenheit des Volkes an – zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong>direkt. Die Art und Weise,wie hier die <strong>in</strong>neren Voraussetzungen geschaffen wurden, läßt sich ambesten mit der Zeit vor der Französischen Revolution vergleichen, derenGeist die Enzyklopädisten (Voltaire, Rousseau, Diderot und Montesquieu)prägten.Die Literaturzeitung des Schriftstellerverbandes stand an der Spitzedieser Bewegung. Das Blatt hatte e<strong>in</strong>e Wochenauflage von 150.000 Stück.E<strong>in</strong> sarkastischer Artikel von Sándor Novobáczky zog Vergleichezwischen dem herausfordernden Verhalten der Funktionäre und denrömischen Prokonsuln im alten Griechenland. (»Die Griechen warenfriedfertig und ehrerbietig und verneigten sich bei jeder Begegnung. Kaumaber war der Römer weitergegangen, verfolgten sie ihn mit haßerfülltenBlicken.«) Die Leute waren erstaunt darüber, daß diese Ausgabe derZeitung nicht beschlagnahmt wurde.ÁÌBezeichnend für den Inhalt war auch e<strong>in</strong> boshafter Artikel von GyörgyPálóczi-Horváth Woran e<strong>in</strong> Kommunist morgens, mittags und abendsglauben muß oder Judit Máriássys Aufsatz Kitzlige Fragen, der am 4.August <strong>in</strong> der Literaturzeitung stand. Gyula Háy und Géza Losonczyschrieben häufig Beiträge für dieses Blatt und für die wesentlich unterhaltsamereZeitschrift Müvelt Nép [Gebildete Leute]. In dieser Zeitschrifterschienen Artikel von Károly Árkos wie Egy tanár és a debreceni lutakis[E<strong>in</strong> Professor und die Irren von Debrecen] und der letzte Akt von AlbertCamus’ Satire Caligula, die Miklós Molnár übersetzt hatte. Im Csillag[Stern], e<strong>in</strong>em <strong>in</strong> geschliffenem Stil geschriebenen Wochenmagaz<strong>in</strong> mitbegrenzten Leserkreis, gleichfalls vom Schriftstellerverband heraus-227


gegeben, wurden Stadt im Morast, das Meisterwerk von Károly Jobbágy,und das überall bekannte und berühmte Gedicht von György Faludyabgedruckt, das er <strong>in</strong> Recsk <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>es Liebesbriefes an se<strong>in</strong>e Fraugeschrieben hatte: A tömlöcbö Zsuzsának [Aus dem Gefängnis anSusanne].Die Veröffentlichungen dieser Zeitschriften hatten e<strong>in</strong>e tiefgreifendeWirkung: Die Menschen erkannten, daß sie nicht mehr alle<strong>in</strong> waren. AlsFerenc Reményi – früher Feldwebel, nun e<strong>in</strong> Ingenieur von siebenunddreißigJahren, der mit se<strong>in</strong>en zwei kle<strong>in</strong>en K<strong>in</strong>dern auf dem Gellért-Hügel lebte – 1953 von Stal<strong>in</strong>s Tod erfuhr, feierten er und se<strong>in</strong>e Frau diesEreignis durch e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es Festessen bei e<strong>in</strong>er guten Flasche We<strong>in</strong>.ÁÓ E<strong>in</strong>Jahr später, als se<strong>in</strong> Sohn mit sechs Jahren e<strong>in</strong>geschult werden sollte under ihn an diesem Morgen begleitete, verabschiedete er sich von demkle<strong>in</strong>en Kerl: »Paß auf, me<strong>in</strong> junge, <strong>in</strong> der Schule darfst du nicht e<strong>in</strong>maldaran denken, auch nur e<strong>in</strong> Wort von dem weiterzuerzählen, worüber wirzu Hause gesprochen haben – sonst sperren sie de<strong>in</strong>en Vati <strong>in</strong>sGefängnis!« Er mußte se<strong>in</strong>en eigenen Sohn am ersten Schultag zurUnaufrichtigkeit erziehen. Auch diese, ihm und se<strong>in</strong>er kle<strong>in</strong>en Familieauferzwungene Verletzung des menschlichen Anstandes g<strong>in</strong>g auf dasKonto der Kommunisten.Ferenc Reményi war von allen Angestellten der erste, der mit derLiteraturzeitung, <strong>in</strong> der Hand se<strong>in</strong>en Arbeitsplatz – e<strong>in</strong> Ingenieurbüro amVáci út – betrat. Das war im Januar 1956. Im März schon lasen alle se<strong>in</strong>eFreunde heimlich <strong>in</strong> der Mittagspause diese Zeitung, und im Augustwurden die Artikel bereits offen diskutiert.Am Sonntagabend standen vor den Zeitungsständen die LeuteSchlange, um die neueste Ausgabe zu bekommen, die für das Zwei- bisDreifache ihres regulären Preises von Hand zu Hand weiterverkauftwurde. Nicht selten mußte die Polizei ihre Gummiknüppel benutzen, umdie Ordnung wiederherzustellen.Die Partei steckte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Dilemma. Die Geister, die sie rief, wurdesie nun nicht mehr los. Doch ihre alte Skrupellosigkeit fehlte, sie konnte228


die Uhr nicht mehr zurückdrehen und etwa den Stal<strong>in</strong>ismus wiedere<strong>in</strong>führen.Die Autoren weigerten sich entschieden gegen jede Art vonZensur und wiesen darauf h<strong>in</strong>, daß es sich um das amtliche Organ e<strong>in</strong>erMassenorganisation der Partei – nämlich um das des Schriftstellerverbandes– handele.Die Veröffentlichungen g<strong>in</strong>gen weiter. E<strong>in</strong> Artikel bezeichnete die<strong>Ungarn</strong> als Waisen Europas. Der Autor machte sich über die »großenTiere« der Partei lustig. Die Leute waren verblüfft und verwirrt.ÁÔ Dannschrieb Déry e<strong>in</strong>en fast »gotteslästerlichen« Artikel über die feierlicheBegräbnisrede bei der Beerdigung e<strong>in</strong>es hohen Parteibonzen auf demFriedhof <strong>in</strong> Kerepesi, der für die Parteielite reserviert war. Die Krönungbildete Novobáczkys Artikel Komische Leute, <strong>in</strong> dem er dieParteimitglieder verspottete.Nach dem Aufsatz des Stal<strong>in</strong>preisträgers Tamás Aczél über denSommersitz der Funktionäre <strong>in</strong> Öszöd am Plattensee, deren Luxusvillenvon bewaffneten ÁVH-Streifen bewacht wurden, fühlte sich Lajos Ács,e<strong>in</strong>er der höchsten Parteibeamten, veranlaßt, ihn zu sich zu zitieren. AberAczél ließ ihn abfahren. »Damals im Herbst waren wir ganz ›großeTiere‹ «, er<strong>in</strong>nerte er sich später, »und wir wußten es!«E<strong>in</strong> erneuter Streit mit Gerö führte zu e<strong>in</strong>em weiteren Konflikt. »Ichwar unverschämt«, entsann sich Aczél »Ich nannte sie dumm, beschränkt,unfähig und unmöglich. Ich sagte ihnen, <strong>in</strong> me<strong>in</strong>en Augen sei derVerteidigungsm<strong>in</strong>ister Bata e<strong>in</strong> solcher Trottel, daß ich ihm nicht e<strong>in</strong>maldie Führung e<strong>in</strong>er Straßenbahn anvertrauen würde. Und schließlich hieltich ihnen vor, es wäre besser gewesen, wenn sie schon vor drei Jahren aufuns Schriftsteller gehört hätten.«In jenem Sommer machte e<strong>in</strong> neues, umwerfendes Magaz<strong>in</strong> an denZeitungsständen von sich reden, das sich Hétföi Hírlap [Montagsnachrichten]nannte. Der Verlag hatte se<strong>in</strong>en Sitz im New York Palast.Das schmutzige, häßliche Bürogebäude war Anfang des Jahrhunderts vone<strong>in</strong>er Versicherungsgesellschaft gebaut worden. Iván Boldizsár, der Chefredakteur,war e<strong>in</strong> Außenseiter. In se<strong>in</strong>em berühmt gewordenen ersten229


Leitartikel versprach er, stets nur die Wahrheit zu veröffentlichen. Späteräußerte er: »Ich habe niemals wissentlich über irgend etwas berichtet, vondessen Richtigkeit und Wahrheitsgehalt ich nicht selbst überzeugt war.«ËÊBoldizsár war e<strong>in</strong> Opportunist.ËÁ Aber er hatte Humor, war e<strong>in</strong>Lebenskünstler und schon früher Zeuge großer geschichtlicher Ereignissegewesen. Als Student hatte er den Fackelzug <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> bei der MachtübernahmeHitlers miterlebt. Als Journalist war er Augenzeuge des Nazi-E<strong>in</strong>marsches <strong>in</strong> Wien und Prag gewesen. Als Soldat war er <strong>in</strong> Woronesch,wo der deutsche Vormarsch <strong>in</strong> Rußland <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Rückzug umschlug.Später behauptete er, er habe versucht, als Stellvertreter des Außenm<strong>in</strong>istersRajk zurückzutreten, weil er erkannt habe, daß Rajk kaltgestelltwerden sollte. Aber Rákosi hatte ihm erklärt: »Bei uns, Genosse, trittniemand zurück. Bei uns erhält man höchstens e<strong>in</strong>en Fußtritt.«Da se<strong>in</strong>e Frau Josette Französ<strong>in</strong> war, blieb ihm nicht viel anderesübrig, als sich der L<strong>in</strong>ie der Partei zu unterwerfen, aber er war nicht feige.Se<strong>in</strong> Vater, Soldat im Ersten Weltkrieg, hatte ihm e<strong>in</strong>mal den Ratgegeben: »Merke dir, me<strong>in</strong> Sohn, die Kugel hat e<strong>in</strong>e Nase. Wenn du Angsthast, bricht dir der Schweig aus, und du riechst danach. Die Kugel wittertden Geruch und geht auf dich los. Deshalb nimm dich zusammen, damitdu ke<strong>in</strong>e Angst hast!«1956 kannte Boldizsár ke<strong>in</strong>e Furcht. Die denkwürdigsten Ereignissese<strong>in</strong>es Lebens sollten ihm erst noch bevorstehen – e<strong>in</strong>e Ironie desSchicksals. Er selbst hat nie darüber geschrieben.Ich begegnete ihm im April 1980, nachdem ich 1500 Kilometer weitgeflogen und gefahren war, um ihn schließlich <strong>in</strong> Öszöd – dem bekanntenexklusiven Luxusort der Funktionäre am Plattensee – zu Gesicht zubekommen.Der gebückte alte Mann hielt krampfhaft se<strong>in</strong>en Filzhut umklammert,als er geholt wurde, um mich zu begrüßen. Auf se<strong>in</strong>em von tiefen Faltendurchfurchten Gesicht lag e<strong>in</strong> müder Ausdruck voller Resignation. Er warnicht sehr gesprächig. »Die Veröffentlichung der Wahrheit <strong>in</strong>teressiertmich nicht«, sagte der Mann, der e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>en Kreuzzug geführt hatte. Alser mit kurzen, unsicheren Schritten wieder dem gefängnisartigen Ferien-230


lager mit den spitzen, grünangestrichenen Eisentoren, dem Stacheldrahtund den uniformierten Wachen zustrebte, spürte ich, daß se<strong>in</strong> alterKampfgeist ihn für immer verlassen hatte.Ganz anders der Iván Boldizsár von 1956. Zum erstenmal erschienendie Montagsnachrichten am 7. September 1956. Vom ersten Tag anführten sie e<strong>in</strong>en Kreuzzug. An den Zeitungsständen um dasNationaltheater am Apponyiplatz und Béla-Bartók-Rondell riefen dieZeitungsverkäufer vor der herumstehenden Menge lautstark dieSchlagzeile aus, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrigließ: TisztaLap [Re<strong>in</strong>e Weste].In e<strong>in</strong>er späteren Ausgabe schreibt Vásárhelyi e<strong>in</strong>en ätzenden Angriffauf »diese Volksdemokratie«, er macht sich mit Worten über sie lustig, dieihm später im Gerichtssaal vorgeworfen werden sollten: »Es hat wederDemokratie noch Freiheit gegeben, weil sie die besten menschlichenIdeale mit Füßen tritt.« Der junge Journalist Mátyás Sárközi wagt sogarKritik an e<strong>in</strong>em russischen Film: die <strong>Ungarn</strong> hätten die s<strong>in</strong>gendenrussischen Kollektivbauern, die mit ihren Mähdreschern <strong>in</strong> der Gegendherumfahren, satt.ËËDie heimkehrenden politischen Häftl<strong>in</strong>ge stürzen sich auf solcheArtikel. In der Schlange, die auf die neueste Ausgabe der Montagsnachrichtenwartet, steht auch e<strong>in</strong> abgezehrter Mann <strong>in</strong> der Soutane dergriechisch-orthodoxen Priester: Bischof János Ödön Péterfalvy.ËÈ Se<strong>in</strong>l<strong>in</strong>ker Unterkiefer ist gebrochen, <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Augen spiegelt sich das Leidder zehn Schreckensjahre, die er <strong>in</strong> Stal<strong>in</strong>s Gefangenenlagern erduldenmußte.Nach dem Rücktransport wurden er und viele andere Priester an derGrenze ungarischen Funktionären übergeben. Nur etwa 800 von ihnenerhielten die Erlaubnis, wieder heimzukehren, die übrigen und der Bischofwurden <strong>in</strong> das Nationalgefängnis nach Jászbérény verschleppt.Erst am 1. Juli 1956 ließ die ÁVH ihn wieder frei. Jetzt muß sich derBischof wie e<strong>in</strong> Verbrecher täglich bei der Polizei melden. Der Polizeihauptmannist e<strong>in</strong> gutmütiger Kerl. Er lehnt sich über den Tisch undflüstert: »Wie war es denn <strong>in</strong> Rußland?« fügt jedoch hastig h<strong>in</strong>zu: »Aber231


sprechen Sie lieber leise, wir wollen doch nicht, daß jemand zuhört.«Mit e<strong>in</strong>fachen Worten erzählt der Bischof se<strong>in</strong>e Geschichte: vomTransport <strong>in</strong> Viehwaggons von Lwow nach Stal<strong>in</strong>sk, der nur anhielt, damitdie Leichen der Gefangenen aus dem Zug geworfen werden konnten; vomendlosen Marsch vom Ausladebahnhof Stal<strong>in</strong>sk <strong>in</strong> der Begleitung bissigerHunde, die die Gefangenen <strong>in</strong> Stücke rissen, wenn sie strauchelten oderh<strong>in</strong>fielen. Mitten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em tiefen Urwald im Altaigebirge mußten sie e<strong>in</strong>enHolzzaun und dann e<strong>in</strong> Arbeitslager – e<strong>in</strong> Gulag – bauen.»Von den ersten 1200 Männern, die angekommen waren, überlebtennur sechzig diese drei Jahre«, berichtete der Bischof mit Tränen <strong>in</strong> denAugen. »Jede Woche traf e<strong>in</strong> neuer Gefangenentransport e<strong>in</strong>. Sie kamenaus dem Baltikum und aus Rußland, es kamen Usbeken, Tartaren undArmenier.«1950 brachte man ihn <strong>in</strong> e<strong>in</strong> anderes Gulag, wo sich unter denVerurteilten auch russische Generale und Zeitungsredakteure befanden.»Im Gulag waren Bischöfe, Priester, Baptisten, römisch-katholischeGlaubensangehörige, Japaner, Belgier, Franzosen und sogar zwei Amerikaner.Der e<strong>in</strong>e kam aus Chicago. Er wollte nur se<strong>in</strong>e Familie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em derSatellitenstaaten besuchen.« Dieses Gulag umfaßte e<strong>in</strong> Gebiet von 360Quadratkilometern, auf dem 300.000 – dreihunderttausend – Männeruntergebracht waren.Der Polizist hörte aufmerksam zu. »Im vergangenen Sommer«, fährtder Bischof fort, »wurde ich <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Sammellager gebracht. Dort erhieltenwir Matratzen, Seife und Zahnbürsten, und es gab sogar Toiletten. Wirbekamen e<strong>in</strong>e Verpflegung, wie sie nicht e<strong>in</strong>mal die Lageroffiziere imGulag gesehen hatten. Viermal am Tag war e<strong>in</strong>e Filmvorführung. Wirhatten Konzerte, Radio, jeden Tag Fleisch und sogar We<strong>in</strong> und Whisky.Sie sagten uns, daß wir ihnen sehr leid täten und daß sie ke<strong>in</strong>e Ahnunggehabt hätten, wie schlecht man uns behandelt habe – das alles sei BerijasSchuld gewesen. Nachdem er aber ausgeschaltet sei, würde sich allesbessern.«Nun steht er an der Straßenecke und kauft die neueste Ausgabe derMontagsnachrichten. Erst e<strong>in</strong> paar Tage zuvor hatte die ÁVH ihn der232


Menschheit zurückgegeben und ihm eröffnet, daß er nun wieder e<strong>in</strong>normaler Bürger sei. Woher soll er wissen, daß se<strong>in</strong>e Personalpapiere mite<strong>in</strong>er fast unsichtbaren Markierung versehen wurden, die ihn für alleZeiten als »Fe<strong>in</strong>d des Staates« abstempelt.Im Laufe dieses Sommers stieg der Druck im Dampfkessel <strong>Ungarn</strong>immer höher.1955 hatte Rákosi die Wiederaufnahme des »freiwilligen Kollektivierungsprogramms«durchgesetzt. Das hatte die gesamten ländlichenGeme<strong>in</strong>den aufgebracht, aber jetzt erst konnten sie sich Gehörverschaffen. Im September veröffentlichte das Magaz<strong>in</strong> Csillag [Stern]e<strong>in</strong>en Artikel von István Márkus, e<strong>in</strong>em Agrarsoziologen. Dar<strong>in</strong> wurde dieMisere von vier Dörfern geschildert, die auch für alle anderen galt.Radikale Reformen wurden verlangt.Márkus schrieb: »Im Herbst 1955 erschien im Dorfe Som e<strong>in</strong>eBrigade, bestehend aus Prov<strong>in</strong>z-, Kreis-, Partei- undRegierungsfunktionären. Die Anlaufphase der ersten Tage verlief relativgemäßigt. E<strong>in</strong>ige Bauern erklärten sich bereit, den Parteidirektiven zufolgen, aber die meisten weigerten sich.« Nach drei Wochen änderte dieBrigade ihre Taktik. Die Bauern wurden zu Geldstrafen verurteilt, bisnach Mitternacht verhört, e<strong>in</strong>geschüchtert und tyrannisiert, bis sie sichschließlich e<strong>in</strong>verstanden erklärten, dem Kollektiv wieder beizutreten.Im Petöfi-Kreis wurde dieser Artikel am 25. September diskutiert.»Der Saal war brechend voll«, berichtete Freie Jugend. »Wissenschaftler,Kollektivvorsitzende, Schriftsteller, Agrarfachleute und Leiter dörflicherRatsversammlungen waren anwesend. Die Diskussion endete erst nachMitternacht. Une<strong>in</strong>geschränkt vertraten sämtliche Sprecher zwar dieAnsicht, daß e<strong>in</strong>e Kollektivierung notwendig sei, kritisierten aber auf deranderen Seite ihre Mängel.«ËÍ Zwischenrufe verlangten die Abschaffungder Zwangsablieferung von Getreide. Als die Funktionäre widersprachenund behaupteten, daß dadurch Kosten <strong>in</strong> Höhe von Millionen For<strong>in</strong>tentstehen würden, ertönte e<strong>in</strong>e Stentorstimme: »Dann schafft die sowjetischenTruppen aus <strong>Ungarn</strong>. Das wird mehr als die Kosten e<strong>in</strong>sparen!«233


Zoltán Tildy, der schwächliche, weißhaarige, ehemalige Kle<strong>in</strong>landwirte-Politikerund ungarische Nachkriegspräsident, der Jahre imGefängnis zugebracht hatte, erhob sich von se<strong>in</strong>em Platz: »Wie ihr allevielleicht wißt, hatte ich viel Zeit zum Nachdenken«, begann er mitironischem Lächeln. »Ich werde niemals den Tag vergessen, an dem e<strong>in</strong>alter Bauer zu mir kam und sagte: ›Jetzt s<strong>in</strong>d wir erledigt – wir s<strong>in</strong>dsoeben e<strong>in</strong> sozialistisches Dorf geworden.‹ «Tildys Worte h<strong>in</strong>terließen e<strong>in</strong>en tiefen E<strong>in</strong>druck. Dennoch war beidiesen Zusammenkünften nicht so sehr das, was gesagt wurde, wichtig,sondern die Tatsache, daß überhaupt etwas gesagt wurde und man sichversammeln konnte, ohne daß die ÁVH e<strong>in</strong>schritt und nachträglichVerhaftungen vornahm. Dieses vergessene Gefühl der Freiheit versetztedas ganze Publikum – wie bei e<strong>in</strong>er Infektion – <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en fieberhaftenZustand. Immer mehr Menschen drängten sich <strong>in</strong> die Versammlung,begierig, sich von diesem »Virus« anstecken zu lassen.Die »Gefängniswärter« befiel das große Zittern. Tamás Aczélbemerkte später, von diesem Zeitpunkt an sei <strong>Ungarn</strong> wie e<strong>in</strong> GazdátlanOrszág [herrenloses Land] gewesen. Die Terrormasch<strong>in</strong>erie funktioniertenicht mehr richtig. Die Funktionäre konnten oder wollten die Intelligenznicht mehr an die Kandare nehmen. Die frühere Vormachtstellung und dieHerrschaft über die Presse brachen zusammen.Dann kam am 17. September 1956 die Generalversammlung desSchriftstellerverbandes <strong>in</strong> der Stadthalle, auf der die Demütigung derStal<strong>in</strong>isten nicht vollständiger hätte se<strong>in</strong> können.ËÎ Sie erlitten e<strong>in</strong>e sobeispiellose Wahlniederlage, daß e<strong>in</strong>er von ihnen we<strong>in</strong>end nach Hauseg<strong>in</strong>g. Die Schriftsteller forderten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Abstimmung Imre NagysRehabilitierung. Sie verabschiedeten e<strong>in</strong>e von Sándor Lukácsy beantragteResolution: ausgewählte Schriftsteller sollten auf e<strong>in</strong>er Informationsreisezu den fünfzehn größten Fabriken die Arbeiter von allen <strong>in</strong> derVere<strong>in</strong>barung getroffenen Entscheidungen unterrichten. Die Literaturzeitung,die den Bericht über die Generalversammlung brachte, verkaufte<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er halben Stunde 70.000 Exemplare. »Radio Free Europe« frohlockte<strong>in</strong> der darauffolgenden Sendung vom 19. September über diese Wahl und234


lobte den Schriftsteller-verband überschwenglich für diesen ersten Schrittauf dem Wege zur entscheidenden Kraftprobe.ËÏDiese Wochen – die letzten vor dem <strong>Aufstand</strong> – waren atemberaubend.Die Funktionäre machten sich aus dem Staub, Diszipl<strong>in</strong>losigkeitund Unsicherheit zermürbten die ÁVH-Sicherheitspolizei.Die offiziellen Parteizeitungen versuchten gute Miene zum bösenSpiel zu machen. Seit Hitlers Völkischer Beobachter <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er letztenAusgabe vom 30. April 1945 e<strong>in</strong>en Artikel mit der Überschrift »Mai imGemüsegarten« brachte, hatten wohl nirgendwo Redakteure fieberhafternach nichtssagenden Belanglosigkeiten für ihr Blatt gesucht, wie jetzt <strong>in</strong><strong>Ungarn</strong>. Am 29. September erschienen auf der ersten Seite von FreiesVolk Aufsätze über Getreideablieferungs-Wettbewerbe, über dieVerwendung von Kohlenstaub als Brennstoffreserve und über den »Tagder Volksarmee« – e<strong>in</strong>e Parade, zu der die Regierung für die vordersteSitzreihe der Tribüne eiligst e<strong>in</strong> paar frisch rehabilitierte Generale mitUniformen ausstaffierte.4000 Meilen entfernt gab die CIA ihrer Analyse den letzten Schliff.Der Titel lautete: »Wird Imre Nagy <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> wieder an die Machtkommen?«In ganz <strong>Ungarn</strong> stellten die Menschen die gleiche Frage. Sie wartetendarauf, daß Imre Nagy kommen werde – wie Kaiser Barbarossa <strong>in</strong> derSage vom Kyffhäuser aus der Tiefe des Berges –, um ihr Land <strong>in</strong> derStunde der Not zu retten.235


20E<strong>in</strong> harter Brocken25. OKTOBER 1956 – es ist fast Mittag.In Budapest hämmern Masch<strong>in</strong>engewehrgarben <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e <strong>in</strong> Panikausbrechende Menschenmenge, die im Begriff ist, das Parlamentsgebäudezu stürmen.In London schlendert <strong>in</strong>dessen der sechsundvierzigjährige NoelBarber, Auslandskorrespondent der Daily Mail, mit e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>kaufsliste <strong>in</strong>der Hand durch e<strong>in</strong> weltbekanntes Londoner KaufhausÁ, um se<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>eTochter Simonetta neu e<strong>in</strong>zukleiden, denn <strong>in</strong> der Schweiz, wo er e<strong>in</strong>enBauernhof am Genfer See besitzt, s<strong>in</strong>d die Preise erheblich höher. 1953hatte dieser große, verb<strong>in</strong>dliche Mann mit den gescheiten, wachen Augenund den lebendigen, frischen Zügen se<strong>in</strong>en Ruf als Starreporter von<strong>in</strong>ternationalem Rang begründet – durch e<strong>in</strong> Kabel an die Fleetstreet mitder denkwürdigen Anfangszeile: »Britisch-Honduras ist e<strong>in</strong>e von derganzen Welt vergessene Kolonie, für die sich nur noch die G<strong>in</strong>exporteure<strong>in</strong>teressieren.«Danach wurde er <strong>in</strong> Casablanca niedergestochen, flog <strong>in</strong> acht Stundenum die Erde, berichtete für den Westen über den Koreakrieg, währendTibor Méray für die Gegenseite arbeitete, <strong>in</strong>terviewte diverse Fürsten vonRa<strong>in</strong>ier bis Husse<strong>in</strong> und machte nebenbei e<strong>in</strong>en Abstecher nach demSüdpol. In drei Tagen wird er <strong>in</strong> dem gleichen flotten blauen Anzug, dener an diesem Morgen im ersten Stock von Harrods trägt, h<strong>in</strong>ter dem Steuere<strong>in</strong>es Mietwagens blutüberströmt zusammenbrechen. Die Salve e<strong>in</strong>errussischen Masch<strong>in</strong>enpistole, die die W<strong>in</strong>dschutzscheibe durchsiebt, wirdihn erwischen.236


Während er se<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>käufe <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en grauen Samsonite packt, wird erdurch Lautsprecher ausgerufen. Die Daily Mail ist am Telephon: »Soebenwurde für Sie e<strong>in</strong> Telegramm vom neuen ungarischen M<strong>in</strong>isterpräsidentendurchgegeben. Es lautet: ›Habe bei ungarischer Botschaft <strong>in</strong> Londonsofortige Visumausstellung angeordnet.‹ «Barber hält e<strong>in</strong> Taxi an und wirft den Koffer auf den Rücksitz. Alsohatte sich diese von langer Hand vorbereitete Sache doch bezahlt gemacht.Erst vor vierzehn Tagen hatte er sich auf der Autoausstellung <strong>in</strong> Genfse<strong>in</strong>en neuen blauen Firebird abgeholt und war zu e<strong>in</strong>em Interview mitTito nach Jugoslawien gefahren. Auf der Rückfahrt wollte er se<strong>in</strong>erjungen, italienischen Frau Tit<strong>in</strong>a das Hotel Sacher <strong>in</strong> Wien zeigen, aber <strong>in</strong>Budapest rief ihn e<strong>in</strong> Beamter der britischen Gesandtschaft <strong>in</strong> se<strong>in</strong>emHotel an und gab ihm folgenden Tip: »Hier ist jemand, den Sie unbed<strong>in</strong>gttreffen müssen – Imre Nagy. Er wurde soeben wieder <strong>in</strong> die Parteiaufgenommen.«Der Name sagte Noel Barber überhaupt nichts. Doch nach demMittagessen am Sonntag, dem 14. Oktober, saß er <strong>in</strong> der KonditoreiGerbaud, wo Onkel Imre se<strong>in</strong>er Leidenschaft für süße Torten zu frönenpflegte, Nagy gegenüber. Barber lächelte höflich, während er dachte:Diese <strong>Ungarn</strong> mit ihren gewaltigen Schnurrbärten s<strong>in</strong>d doch alle gleichlangweilig! Er verfaßte e<strong>in</strong>en entsprechenden Bericht, der vom Redakteur<strong>in</strong> der Fleetstreet als un<strong>in</strong>teressant beiseite gelegt wurde.Dann aber war eben dieser Imre Nagy auf der Höhe e<strong>in</strong>es Volksaufstandszur Macht gelangt. Barber tat, was er <strong>in</strong> solchen Fällen immerzu tun pflegte, er schickte Nagy auf Kosten der Daily Mail e<strong>in</strong> langes,phrasenreiches Glückwunschtelegramm. Er wußte seit langem, daß diedienstbaren Geister der Großen es niemals wagen, e<strong>in</strong> wirklich langesTelegramm abzufangen oder zu unterschlagen.Nun ist Nagys Antwort da. Mittags spricht Barber im zweiten Stockdes Northcliff-Gebäudes mit Peter Hope, dem jungen, außenpolitischenRedakteur der Daily Mail. Der große, schnurrbärtige Hope ist dietreibende Kraft bei allen Auslandsaktionen der Zeitung. Durch e<strong>in</strong>e Glaskab<strong>in</strong>evom Rest der Redaktion abgeschirmt, herrscht er beim Lärm237


ganzer Batterien klappernder Fernschreiber <strong>in</strong> Hemdsärmeln.Triumphierend klopft er mit se<strong>in</strong>er Zigarettenspitze auf Nagys Telegramm.»Das wird verflixt schwierig werden«, bemerkt Barber <strong>in</strong> se<strong>in</strong>emkultivierten Yorkshireakzent. »Hauptsache, mir steht genügend Bargeldzur Verfügung.«Er telephoniert mit Lawrence Davis, dem verantwortlichen Mann derDaily Mail <strong>in</strong> Wien: »Schicken Sie mir um 20 Uhr e<strong>in</strong>en guten Wagenzum Wiener Flughafen, mit entsprechenden Grenzpapieren und vollenReservekanistern, Käse <strong>in</strong> Schachteln – Sie wissen schon, die <strong>in</strong> Folieverpackte Sorte – und zwei Flaschen Whisky. Und besorgen Sie zehnStangen amerikanischer Zigaretten. Die werde ich für Tr<strong>in</strong>kgelderbrauchen.« Diese m<strong>in</strong>utiöse Aufmerksamkeit für E<strong>in</strong>zelheiten und dasOrganisationstalent s<strong>in</strong>d charakteristisch für den professionellen Zeitungsmann.Die weißgestrichene ungarische Botschaft am Eaton Place Nr. 35 <strong>in</strong>London wird von Journalisten belagert. E<strong>in</strong> Beamter mit Menjoubärtchenversperrt den E<strong>in</strong>gang: »Ne<strong>in</strong>, ke<strong>in</strong>e Visa für <strong>Ungarn</strong>! Niemand erhält e<strong>in</strong>Visum außer Noel Barber!« Der Beamte stempelt se<strong>in</strong>en Paß, e<strong>in</strong> Taxi vonder Daily Mail br<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong>en Umschlag mit 700 Dollar und der Flugkarte –es kann losgehen.Zur selben Stunde sitzen am 25. Oktober Imre Nagy und die übrigeParteiführung <strong>in</strong> Budapest im Gebäude des Zentralkomitees <strong>in</strong> derAkadémia utca gefangen und treffen Vorbereitungen zur Flucht. DieE<strong>in</strong>gangshalle ist blutbespritzt, e<strong>in</strong> Dutzend sowjetische Panzer bewachendraußen das Haus. Im ganzen Lande toben offene Kämpfe zwischensowjetischen Truppen, der Sicherheitspolizei und den Aufständischen.Sämtliche Flugplätze s<strong>in</strong>d geschlossen, Imre Nagys Telegramm an Barberwar vermutlich das letzte, das aus <strong>Ungarn</strong> herausgelassen wurde.Barber ergreift se<strong>in</strong>en Hut und die Olivetti-Reiseschreibmasch<strong>in</strong>e undruft dem Taxifahrer zu: »Flughafen London.« In der anderen Hand hält ernoch immer den Koffer mit den Babysachen von Harrods.In Wien erwartet ihn Davis mit e<strong>in</strong>em Borgward Isabella Coupé. Am238


Dach hat er weith<strong>in</strong> sichtbar den Union Jack befestigt. Der Tachometerdes Wagens zeigt nur 3000 Meilen an, und Barber wird nie dah<strong>in</strong>terkommen,wie man die Kühlerhaube aufmacht. Die Autovermietungverlangt <strong>in</strong> weiser Voraussicht e<strong>in</strong>e beachtliche H<strong>in</strong>terlegungssumme,dann verläßt Barber Wien auf der Straße zum österreichischen GrenzortNickelsdorf, wo der Mist vor den Häusern liegt. Das letzte, was Davissieht, s<strong>in</strong>d die sich immer weiter entfernenden roten Schlußlichter desWagens, mit dem Barber <strong>in</strong> der Dunkelheit des revolutionären <strong>Ungarn</strong>entschw<strong>in</strong>det.Dem Ausbruch des Infernos <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> war e<strong>in</strong> langer, trockenerMonat vorangegangen. Im Sommer hatte die Partei zähneknirschend dieausgeschlossenen Journalisten wiederaufgenommen. Miklós VásárhelyisNeuzulassung wurde sogar auf September 1939 zurückdatiert, e<strong>in</strong>ebesondere Ehrung, die selbst den zynischen Journalisten bee<strong>in</strong>druckte:»Vielleicht durfte ich mich <strong>in</strong>zwischen nicht mehr zu den Jesuitenrechnen«, <strong>in</strong>terpretierte er später belustigt die Angelegenheit, »aberimmerh<strong>in</strong> gehörte ich noch zur Heiligen Römischen Kirche.«ËAber der Versuch, Nagy für sich zu gew<strong>in</strong>nen, war fehlgeschlagen.Der amerikanische Reporter Simon Bourg<strong>in</strong> berichtete am 31. August ausBudapest: »Kürzlich wurde Nagy bei e<strong>in</strong>er Unterredung mit Gerö e<strong>in</strong>Posten im Kab<strong>in</strong>ett angeboten – zu Bed<strong>in</strong>gungen der Regierung. Dasbedeutete natürlich, daß Nagy öffentlich Selbstkritik zu üben habe. Nagylehnte ab.« Auch die Auflösung der »Nagy-Gruppe« und der Abbruchse<strong>in</strong>er Verb<strong>in</strong>dungen mit ihr gehörten zu den Bed<strong>in</strong>gungen. Aberjedermann war davon überzeugt, daß Nagy auch zu se<strong>in</strong>en eigenenBed<strong>in</strong>gungen an die Macht kommen würde, wenn er nur lange genugwartete.ÈChruschtschow begann, sich abzusichern. Am 19. September flog ermit se<strong>in</strong>er Familie auf Urlaub nach Jugoslawien. Am 27. Septemberstattete Tito se<strong>in</strong>en Gegenbesuch auf der Krim ab. »Beim Lunch wurdenicht an Alkohol gespart«, bemerkte der jugoslawische Diplomat VeljkoMicunovic. Drei Tage später störte zu Titos Überraschung e<strong>in</strong> ungebetener239


Gast das Saufgelage – der ungarische Parteivorsitzende Gerö! Späterschrieb Tito: »(Gerö) erschien <strong>in</strong> Sack und Asche . . . und gelobte dieWiedergutmachung aller begangenen Fehler.« Offensichtlich warChruschtschow auf Biegen und Brechen entschlossen, dieMe<strong>in</strong>ungsverschiedenheiten zwischen den beiden benachbartenStreithähnen auszubügeln, bevor das gesamte Sowjetimperium <strong>in</strong> Stückeg<strong>in</strong>g. Der Knalleffekt war, daß Tito widerstrebend die ungarischenParteiführer zu e<strong>in</strong>em baldigen Besuch nach Belgrad e<strong>in</strong>lud.ÍGenau das hatte Nagy <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en weitschweifigen, schriftlichen Ausführungenimmer gepredigt. Als Gegner aller Supermächte schrieb er:»E<strong>in</strong> Staatenbündnis, das Machtblöcke schafft, führt früher oder später zubewaffneten Ause<strong>in</strong>andersetzungen.« Er behauptete, daß die berühmten»Fünf Pr<strong>in</strong>zipien« der Neutralität, die kurz vorher auf der afroasiatischenKonferenz <strong>in</strong> Bandung ausgearbeitet worden waren, auch auf Länder wie<strong>Ungarn</strong> angewendet werden könnten, die <strong>in</strong> die Lage versetzt werdensollten, auf e<strong>in</strong>em »anderen Weg zur sozialistischen Gesellschaft zugelangen als die Sowjetunion«. Diese Sprache war gefährlich. Nagy g<strong>in</strong>gnoch weiter und hob Jugoslawien als Modell hervor. Se<strong>in</strong>er Wunschvorstellungentsprach e<strong>in</strong> Staatenbund mittel- und osteuropäischerNationen.Natürlich war er sich der Zwangslage bewußt, <strong>in</strong> der se<strong>in</strong> Land sichbefand. E<strong>in</strong> völliger Rückzug aus dem Moskauer Machtbereich konnte<strong>Ungarn</strong> ke<strong>in</strong>en Gew<strong>in</strong>n br<strong>in</strong>gen. »Es wäre e<strong>in</strong> geschichtlicherTrugschluß«, schrieb er, »e<strong>in</strong> nicht wiedergutzumachender Fehler, denVersuch zu unternehmen, die zwischen <strong>Ungarn</strong> und der Sowjetunionbestehenden engen nachbarlichen Beziehungen auf jedem Gebiet und dieZusammenarbeit e<strong>in</strong>zuschränken, deren Weiterentwicklung im Interesseunseres Landes liegt.«Nagy war über alle Maßen stolz auf diese Aufzeichnungen, obgleich erwußte, daß sie Dynamit enthielten. Als ihm der Prozeß gemacht wurde,erzählte e<strong>in</strong> Mitglied se<strong>in</strong>er Gruppe, der »Alte« habe e<strong>in</strong>mal angedeutet:»Es wäre der Partei bestimmt nicht recht, wenn sie W<strong>in</strong>d von me<strong>in</strong>enAktivitäten bekäme.« Gelegentlich gewährte er jedoch e<strong>in</strong>igen sorgfältig240


ausgewählten Parteipolitikern, die ihn <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Villa <strong>in</strong> der Orsó utcaaufsuchten, E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> diese Aufzeichnungen, ließ sie aber auch durchVásárhelyi, Gimes und Fazekas <strong>in</strong> Umlauf br<strong>in</strong>gen. Fazekas war es, derSándor Kopácsi, dem Polizeichef von Budapest, im September 1956 e<strong>in</strong>eKopie von Nagys Enthüllungen über die korrupte Moral des Regimes <strong>in</strong>die Hände spielte: Dies sagte Kopácsi später aus.E<strong>in</strong>e solche Geheimniskrämerei paßte eigentlich gar nicht zu NagysCharakter. Noch im Oktober 1956 betrachtete er das Zentralkomitee alsse<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zige Heimat. Wie die Frau von Hauptmann Bondor, die all dieJahre h<strong>in</strong>durch die Rückkehr ihres Mannes aus dem Exil herbeigesehnthatte, so hatte auch Imre Nagy e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>zigen, immer wiederkehrendenTraum . . . se<strong>in</strong>e triumphale Rückkehr aus der Verbannung <strong>in</strong> den Schoßder Partei. Am 4. Oktober beantragte er offiziell se<strong>in</strong>e Wiederaufnahme <strong>in</strong>die Partei. Das Schreiben war weitschweifig, devot und voller Wiederholungen– auf der ersten Seite verwendete er achtmal die Phrase »E<strong>in</strong>heitder Partei«. Vielleicht hätte se<strong>in</strong> Brief vertont – wie der von Tatjana <strong>in</strong>»Eugen Oneg<strong>in</strong>« – besser geklungen. Er verlangte die Beendigung der»sogenannten Imre-Nagy-Affäre«, e<strong>in</strong>e öffentliche Diskussion der gegenihn erhobenen Vorwürfe und die Zurücknahme aller sich als unbegründeterweisenden Anklagepunkte. »Ich me<strong>in</strong>erseits b<strong>in</strong> bereit«, erklärte ergroßspurig, »jeden Fehler anzuerkennen, der mir e<strong>in</strong>wandfrei nachgewiesenwerden kann.«ÎDie Spaltung <strong>in</strong> der Partei nahm unbestreitbar immer größereAusmaße an. E<strong>in</strong>e Gruppe wollte die Rückkehr Rákosis durchsetzen, unde<strong>in</strong> paar Leute im Zentralkomitee hatten sogar schon e<strong>in</strong>en Artikel für dieZeitung entworfen: »Rákosi! Herzlich willkommen <strong>in</strong> der Heimat!« E<strong>in</strong>eandere Fraktion erhoffte sich die Rettung der Partei durch erweiterteLiberalisierung. Journalisten und Schriftsteller überboten sich gegenseitigdar<strong>in</strong>, die Partei und ihren Werdegang zu verspotten. Am 6. Oktobererschien der berühmt gewordene Artikel von Gyula Háy, e<strong>in</strong>e beißendeSatire mit dem Titel: Warum kann ich den Genossen Kucsera nichtleiden? <strong>in</strong> der Literaturzeitung. Dies Feuerwerk brillanter Formulierungenentlarvte die Funktionäre mittlerer Rangordnung <strong>in</strong> ihrer Zweitklassigkeit241


und Beschränktheit, ihrer Gewissenlosigkeit und Arroganz. Der fiktiveName Kucsera wurde zu e<strong>in</strong>em Begriff, Hunderte unglücklicher echterKucseras beantragten e<strong>in</strong>e Namensänderung.ÏUm die erregte Volksstimmung zu beschwichtigen, genehmigte dieRegierung e<strong>in</strong> makabres Zeremoniell – die feierliche Umbettung Rajksund se<strong>in</strong>er gehenkten Schicksalsgenossen. Als Zeitpunkt wurde der 6.Oktober, der Gedenktag der H<strong>in</strong>richtung von dreizehn ungarischenGeneralen im Jahre 1849, gewählt.Am Tag davor rief Imre Nagy auf der Suche nach Julia Rajk dieRedaktion von Freies Volk an.Ì Se<strong>in</strong> Anruf wurde vom Sekretariat zumstellvertretenden Chefredakteur Péter Rényi durchgestellt. »Ich b<strong>in</strong> wegendes morgigen Tages zutiefst beunruhigt«, sagte Nagy, »denn Julia Rajkhat die Absicht, für ihren Mann e<strong>in</strong>e feierliche Aufbahrung und e<strong>in</strong>enLeichenzug durch Budapest zu verlangen. Was halten Sie davon?« Nagysnaive Frage verschlug Rényi die Sprache.»Wollen Sie e<strong>in</strong>e Revolution? Wenn e<strong>in</strong>e Prozession durch die Straßenstattf<strong>in</strong>det, weiß ke<strong>in</strong> Mensch, wie das enden wird!«Die erste große Gelegenheit für e<strong>in</strong>e Machtprobe bot sich denversammelten ehemaligen politischen Häftl<strong>in</strong>gen auf dem Kerepesi-Friedhof.Ó Vielleicht wäre der <strong>Aufstand</strong> bei heißem oder schwülem Wetterschon an jenem Tag ausgelöst worden. Aber es war kalt und w<strong>in</strong>dig.Obwohl 200.000 Menschen dem Begräbnis beiwohnten und dieseabstoßende, von der Partei <strong>in</strong>szenierte Schau <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>schüchterndeDemonstration allgeme<strong>in</strong>er Fe<strong>in</strong>dseligkeit verwandelten, verhielt sich dieMenge relativ ruhig. »Wir wollen dabeise<strong>in</strong>, wenn das Regime sich selbstzum Narren hält.«Ô Aber es herrschte e<strong>in</strong>e Stimmung aggressiverSpannung: »Das ganze Begräbnis war e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziger Schw<strong>in</strong>del«, empörtesich e<strong>in</strong> Studentenführer. »Es war widerwärtig. Wir Studenten s<strong>in</strong>d nur <strong>in</strong>der Hoffnung h<strong>in</strong>gegangen, daß etwas passieren würde.«ÁÊDie Sicherheitspolizei blieb unsichtbar. Offensichtlich befürchtete dieRegierung, daß der Anblick der ÁVH-Khakiuniformen Zündstoff füre<strong>in</strong>en Zusammenstoß liefern könnte. Daher wurden die Absperrungen242


durch angeblich unbewaffnete Offiziere der regulären Armee vorgenommen,die <strong>in</strong> Wirklichkeit ihre Pistolen <strong>in</strong> den Uniformtaschenversteckt hielten. Für alle Fälle wurden zusätzliche Truppen mit Waffenund Munition ausgerüstet, blieben aber unauffällig im H<strong>in</strong>tergrund. Imallgeme<strong>in</strong>en erhielten aus Sicherheitsgründen nur höhere Offiziere dieErlaubnis, <strong>in</strong> der Öffentlichkeit Waffen zu tragen. »Normalerweise mußteich me<strong>in</strong>e Pistole <strong>in</strong> der Kaserne lassen und durfte sie nur zum Re<strong>in</strong>igenmitnehmen – und das auch nur jeweils für e<strong>in</strong>e Stunde«, sagte e<strong>in</strong>achtundzwanzigjähriger Offizier der Armee.ÁÁDas Begräbnis wirkte wie e<strong>in</strong>e Szene aus e<strong>in</strong>em Drama von Shakespeare.Während der Nieselregen sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Wolkenbruch verwandelte,bezogen die durchnäßten Funktionäre mit regenüberströmten, maskenhaftenGesichtern die Ehrenwache. Sie sahen aus wie bezahlte »Klageweiber«am Grabe e<strong>in</strong>es Armenhäuslers.ÁË Die von ihnen gehaltenenTraueransprachen er<strong>in</strong>nerten an W<strong>in</strong>ston Churchills Abschiedsrede fürGeneral Sikorski nach dessen Tod im Jahre 1943. (»Soldaten müssensterben, aber mit ihrem Tode geben sie dem Volk Stärke, das ihnen ihrLeben gab!«) Am gleichen Morgen hatte Freies Volk e<strong>in</strong>en ironischbitterenNachruf veröffentlicht: »Durch ihren Märtyrertod haben vieleungarische Marxisten den Beweis erbracht, daß für e<strong>in</strong>en wahrenKommunisten nichts heiliger ist als das Wohl der Arbeiterklasse und dieFreiheit des Vaterlandes. Die echte Tragik Rajks und se<strong>in</strong>er Genossenliegt dar<strong>in</strong>, daß das Todesurteil im Namen des Volkes und des Sozialismusgegen Männer verhängt wurde, die <strong>in</strong> Treue zur Partei für das Volk undden Sozialismus kämpften – sogar getreu bis <strong>in</strong> den Tod.«ÁÈNur wenige <strong>Ungarn</strong> zeigten Sympathie für Rajk, als er se<strong>in</strong>e Übeltatenvollbrachte. Jetzt stand se<strong>in</strong>e Witwe mit ihrem kle<strong>in</strong>en Sohn an der Handtiefverschleiert neben Imre Nagy. E<strong>in</strong>er der Spitzenfunktionäre ließ se<strong>in</strong>enBlick über dieses Meer verdrossener Gesichter schweifen, als die Sonnefür e<strong>in</strong>en Augenblick durch die aufreißende Wolkendecke brach. Er murmelte:»Wenn Rajk dieses Ges<strong>in</strong>del sehen könnte, würde er Masch<strong>in</strong>engewehreauf sie richten.«Nun wurde der Märtyrer von se<strong>in</strong>en Mördern beklagt. Dr. Ferenc243


Münnich, alternder NKWD-Agent und Exbotschafter <strong>in</strong> Moskau, hielt denersten gespenstischen Nachruf: »Genosse Rajk wurde von verbrecherischenSadisten umgebracht, die aus dem st<strong>in</strong>kenden Morast desPersonenkults ans Tageslicht gekrochen kamen.« Im Namen der Parteiführungversprach Münnich: »Diejenigen, an deren Stelle ich heute LászlóRajk e<strong>in</strong>en letzten Abschiedsgruß zurufe, s<strong>in</strong>d bereit für e<strong>in</strong>e starke,unüberw<strong>in</strong>dliche Demokratie <strong>in</strong> unserem Lande, für sozialistischeMenschlichkeit und Gerechtigkeit zu kämpfen!« Als nächster hielt derstellvertretende M<strong>in</strong>isterpräsident Antal Apró se<strong>in</strong>e banale Rede. 1949hatte er – wie alle anderen auch – für die H<strong>in</strong>richtung Rajks gestimmt.ÁÍNach dem Begräbnis zogen viele Leute durch die Stadt zum DenkmalGraf Batthyánys, der 1848 M<strong>in</strong>isterpräsident gewesen war; das HausHabsburg hatte ihn h<strong>in</strong>richten lassen. Irgend jemand rezitierte e<strong>in</strong>Spottgedicht von Attila József, dann löste sich die Menge auf. Übrigblieben e<strong>in</strong> paar hundert Studenten, die Parolen riefen und <strong>in</strong> Reihen durchdie regennassen Budapester Straßen zogen. Verständlicherweise glaubtedie ÁVH, daß e<strong>in</strong>e Demonstration dieses Umfangs genehmigt se<strong>in</strong> mußte,und schritt nicht e<strong>in</strong>. Das Ganze wirkte wie e<strong>in</strong>e Generalprobe.Auf dem Heimweg vom Friedhof bemerkte Gaza Katona se<strong>in</strong>en ÁVH-»Schatten« und seufzte.Katona, der zwar von ungarischen Eltern abstammte, aber <strong>in</strong> Pittsburghgeboren wurde, war Angehöriger der amerikanischen Gesandtschaft,die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em fünfstöckigen Haus mit abblätternder Farbe an denRolläden am Freiheitsplatz mitten <strong>in</strong> Budapest residierte.ÁÎE<strong>in</strong>ige Monate hatte nur der Geschäftsträger, Spencer Barnes, e<strong>in</strong>großer, gepflegter, liebenswürdiger Diplomat, die Interessen der USAvertreten. Als se<strong>in</strong> graues Menjoubärtchen noch modern war, wäre er derrichtige Mann für die Vorführung von Nadelstreifenanzügen gewesen. Erwar schweigsam, dafür aber e<strong>in</strong> guter Zuhörer und konnte sich e<strong>in</strong>egenaue Vorstellung von dem machen, was sich da <strong>in</strong> Budapestzusammenbraute.Er und se<strong>in</strong>e britischen Kollegen hatten zwei gute ungarische244


Kontaktleute. E<strong>in</strong>er von ihnen hatte sie über e<strong>in</strong>en Brief des Kreml vom 3.September an die Satellitenstaaten <strong>in</strong>formiert, <strong>in</strong> dem davor gewarntwurde, dem Beispiel Titos nachzueifern.ÁÏ E<strong>in</strong> anderer Bericht enthielt dieNachricht, daß Nagy von Gerö der Posten des Agrarm<strong>in</strong>isters angebotenworden sei, Nagy strebe aber se<strong>in</strong>e alte Position als M<strong>in</strong>isterpräsident an.Es sei jedoch e<strong>in</strong>e Übere<strong>in</strong>kunft mit Moskau erzielt worden, nach der erdiesen Posten nicht bekommen solle. Spencer Barnes sagte voraus, daßwahrsche<strong>in</strong>lich Dr. Münnich zum M<strong>in</strong>isterpräsidenten ernannt werdenwürde; da Nagys Nom<strong>in</strong>ierung offensichtlich von Kádár h<strong>in</strong>tertriebenwerde, »der vermutlich Nagy als e<strong>in</strong>en Hauptkonkurrenten für GerösPosten betrachtet« – den des Parteivorsitzenden.Am 21. September gab dieser kluge amerikanische Diplomat se<strong>in</strong>erRegierung erneut e<strong>in</strong>en H<strong>in</strong>weis, daß »die Sowjets entweder bereitsSchwierigkeiten wegen ihres zukünftigen E<strong>in</strong>flusses und ihrer Rolle <strong>in</strong><strong>Ungarn</strong> hatten oder kurz davor standen«.ÁÌ Dem Kreml bliebe nicht mehrviel Zeit, die Zersetzung aufzuhalten, me<strong>in</strong>te Spencer Barnes.Auf jeden Fall lag etwas <strong>in</strong> der Luft. Teilweise schien es am wiederentdecktenSelbstvertrauen des Volkes zu liegen. Auf e<strong>in</strong>er Versammlungim Filmtheater von Kaposvár schrien 1000 grimmige Bauern aus derUmgegend den Staatspräsidenten nach den ersten Worten nieder: »Setzen!Schweigen Sie! Schluß mit den Lügen!« István Dobi fiel daraufh<strong>in</strong> völligverstört auf se<strong>in</strong>en Sitz zurück.ÁÓAber es sah so aus, als ob auch e<strong>in</strong>flußreiche Kräfte nicht untätigblieben. Die ÁVH meldete, daß oppositionelle Elemente <strong>in</strong> Budapestetwas im Schilde führten.ÁÔ Kurz nach Rajks Beerdigung wurden, angeblichaufgrund von Treibstoffmangel, Reisebeschränkungen e<strong>in</strong>geführt.E<strong>in</strong>ige Tage später berichtete der jugoslawische Politologe Dr. VlajkoBegovic <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Brief vom 14. Oktober aus Budapest nach Belgrad:»Die Menschen weigern sich, das Leben <strong>in</strong> der bisherigen Formfortzusetzen, und die Führung kann nicht so weiterregieren wie bisher.Das s<strong>in</strong>d Voraussetzungen für e<strong>in</strong>en <strong>Aufstand</strong>.«ËÊAn diesem Tag berichteten die Budapester Zeitungen über die vollständigeRehabilitierung Nagys. Er hatte auf der ganzen L<strong>in</strong>ie gesiegt. Die245


Partei räumte <strong>in</strong> ihrer Resolution e<strong>in</strong>: »Es ist zwar durchaus möglich, daßNagy politische Fehler begangen hat, se<strong>in</strong> Ausschlug aus der Partei wardadurch jedoch nicht gerechtfertigt.«Nagys Kritikern war ke<strong>in</strong>eswegs entgangen, daß se<strong>in</strong>e »provokatorischen«Reden und Artikel ungestraft blieben. Auch se<strong>in</strong>en Freunden fieles auf, und sie freuten sich darüber. Die Montagsnachrichten schrieben:»Wir glauben, daß se<strong>in</strong>e Rehabilitierung nicht nur e<strong>in</strong>em PolitikerGenugtuung verschaffte, sondern auch gleichzeitig den im öffentlichenBewußtse<strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong>s untrennbar mit se<strong>in</strong>em Namen verbundenenIdealen.« BBC kommentierte: »Imre Nagy verdient Respekt, denn er übteke<strong>in</strong>e Selbstkritik, obwohl er mehrfach dazu aufgefordert wurde.«Kurz, Imre Nagy hatte die Parteiführung an der Nase herumgeführtund war damit durchgekommen. Diesen harten Brocken mußte Gerö erste<strong>in</strong>mal verdauen. Etwa um diese Zeit erhielt Nagy von drei Ges<strong>in</strong>nungsgenossen– se<strong>in</strong>em Moskauer Gefährten Zoltán Vas, dem Chefredakteurvon Freies Volk, Márton Horváth, und dem stellvertretenden KP-Chef vonBudapest, Imre Mezö – e<strong>in</strong>en W<strong>in</strong>k, Gerö habe e<strong>in</strong>en teuflischen Planausgeheckt, dessen Ziel die Anzettelung e<strong>in</strong>er Art Auf stand – ähnlichdem von Posen – sei.ËÁ Nagy sollte dar<strong>in</strong> verwickelt und dann als »Konterrevolutionär«angeklagt werden; wie <strong>in</strong> der schwülstigen marxistischenUmschreibung jede Art von Aktivität gegen ihre Regierungsform genanntwurde.Das waren aufregende Tage. Am 12. Oktober veröffentlichte FreiesVolk e<strong>in</strong>en Bericht über die Verhaftung von Mihály Farkas und se<strong>in</strong>emSohn, dem ÁVH-Offizier Wladimir Farkas. Am 13. wurden neun derGenerale, die <strong>in</strong> den Sog des Rajk-Prozesses geraten waren und gehenktwurden, gleichfalls exhumiert und mit militärischen Ehren auf demFriedhof von Farkaszeti beigesetzt. General Béla Király wurde imRollstuhl aus dem Krankenhaus geholt, da er als Begleiter für die Witwee<strong>in</strong>es der Opfer, Generalleutnant Gusztav Illy, ausersehen worden war.ËËVielleicht hatten die Anhänger Nagys nichts von dem H<strong>in</strong>weis aufGerös h<strong>in</strong>terhältige Absichten erfahren, jedenfalls schwärmten sie <strong>in</strong> dieProv<strong>in</strong>zen aus und verkündeten Nagys Glaubensbekenntnis. Der Kossuth-246


Preisträger Gyula Háy traf am 16. Oktober zu e<strong>in</strong>er Rout<strong>in</strong>ediskussionüber Literatur <strong>in</strong> Györ e<strong>in</strong>, wo sich über tausend Zuhörer im Jokai-Theaterdrängten, um ihn zu hören.ËÈ Mehrere Studenten meldeten sich zu Wortund verlangten erstmals den Abmarsch der sowjetischen Truppen. Háystimmte zu: »Als Gäste s<strong>in</strong>d uns die Russen willkommen, aber e<strong>in</strong>eStationierung russischer Truppen <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> ist überflüssig.« Er schlugvor, die Gerichtsverhandlung über Mihály Farkas öffentlich abzuhalten,selbst wenn die Fäden, an denen diese Marionette h<strong>in</strong>g, bis <strong>in</strong> den Kremlreichten. »Wir leben <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Zeit großer Umwälzungen«, verkündete HáyEr sah nicht e<strong>in</strong>, warum die Beziehungen zu Moskau nicht geändertwerden sollten. »Jugoslawien war erfolgreich bei der Sicherung se<strong>in</strong>erUnabhängigkeit, auch Polen und Ch<strong>in</strong>a arbeiten an e<strong>in</strong>em Sozialismuseigener Prägung, der den Besonderheiten ihres Landes und ihrerGeschichte entspricht.« (Aber als jemand die Wiedere<strong>in</strong>setzung Kard<strong>in</strong>alM<strong>in</strong>dszentys verlangte, antwortete Háy ausweichend – se<strong>in</strong>e rotenBlutkörperchen revoltierten immer noch gegen jede Regung religiöserFreiheit.)In e<strong>in</strong>er Atmosphäre unterdrückter Erregung wälzt sich derBesucherstrom aus dem Jokai-Theater. In der Menge ist auch e<strong>in</strong> Mannvon vierundvierzig Jahren, entkräftet und weißhaarig: der ehemaligejugoslawische Attaché Lazarus Brankov. Als die ÁVH ihn 1949 für ihrIntrigenspiel im »Fall Rajk« brauchte und deshalb entführte, war er e<strong>in</strong>kräftiger, junger Mann gewesen.ËÍ Am 3. April 1956 wurde er freigelassenund erhielt e<strong>in</strong>e Stellung an der Landesbibliothek <strong>in</strong> Györ. E<strong>in</strong>e Zeitlanghatte er Fluchtpläne geschmiedet – vielleicht könnte er mit e<strong>in</strong>emSchlauchboot aus <strong>Ungarn</strong> entkommen. Inzwischen war Rákosi zwar vonder Bildfläche verschwunden, aber das Regime würde ihn alsAugenzeugen der Verbrechen von NKWD und ÁVH niemals lebendheimkehren lassen. Heute nun hat er gehört, wie Gyula Háy sagte: »Ichb<strong>in</strong> bereit, für me<strong>in</strong>en Glauben <strong>in</strong>s Gefängnis zu gehen und zum Märtyrerzu werden.«Brankov beschließt, zunächst die weitere Entwicklung abzuwarten.247


Am gleichen Tag, dem 16. Oktober, unternahmen Universitätsstudentendie ersten konkreten Schritte, die zum <strong>Aufstand</strong> führten. Aufe<strong>in</strong>em Treffen <strong>in</strong> Szeged, 150 Kilometer nördlich von Budapest,beschlossen 3000 Studenten den Austritt aus der JugendorganisationDISZ.ËÎ Die Rebellion verbreitete sich wie e<strong>in</strong>e mittelalterliche Seuche,nur tausendmal schneller. Auf e<strong>in</strong>er Zusammenkunft <strong>in</strong> Budapestverlangten Studenten der Technischen Hochschule drei Tage später <strong>in</strong>e<strong>in</strong>em Studentenheim die Erfüllung e<strong>in</strong>er ganzen Reihe von Forderungen,die DISZ abgelehnt hatte. Diese Forderungen beschränkten sichausschließlich auf studentische Belange – bis auf e<strong>in</strong>e: die öffentlicheGerichtsverhandlung über Mihály Farkas und se<strong>in</strong>e Komplizen.Überall trommelten Imre Nagys Bewunderer noch immer Hilfezusammen. Losonczy, Donáth und Szilágyi organisierten <strong>in</strong> der Prov<strong>in</strong>zstadtHajduböszörmény e<strong>in</strong>e Konferenz.ËÏ Losonczy verkündete, daßNagy <strong>in</strong> Kürze e<strong>in</strong>en führenden Posten übernehmen werde. Diederzeitigen Führer bezeichnete er als »Analphabeten«. Während derKonferenz wurde viel über die Notwendigkeit nationaler Unabhängigkeit,über e<strong>in</strong> Mehrparteiensystem und über freie Wahlen geredet.Am 18. Oktober wurden die sowjetischen Garnisonen <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> unddas ÁVH-Hauptquartier <strong>in</strong> Budapest <strong>in</strong> Alarmbereitschaft versetzt. Tagund Nacht hielten fünf Sonderoffiziere mit der ÁVH-OperationsabteilungVerb<strong>in</strong>dung. Die Soldaten standen Gewehr bei Fuß.Am 20. Oktober ordnete die Partei auch für die ungarischen StreitkräfteAlarmbereitschaft an. Schon morgens um 9 Uhr war die Bar desDonauhotels – e<strong>in</strong> beliebter Treffpunkt der Journalisten – belagert. MiklósGimes traf dort e<strong>in</strong>e ganze Reihe von Mitarbeitern der Montagsnachrichten.ËÌFür kurze Zeit kam auch e<strong>in</strong> gerade aus Moskau e<strong>in</strong>getroffener<strong>in</strong>discher Reporter here<strong>in</strong> und bemerkte nach e<strong>in</strong>em flüchtigen Blick aufdie Runde der Anwesenden: »In Moskau braut sich etwas zusammen. Aufme<strong>in</strong>er Fahrt sah ich viele russische Panzer, die sich zwischen Kiew undKolomea westwärts bewegten – es sieht gar nicht gut für euch aus.«Am nächsten Tag telephonierte e<strong>in</strong> Reporter aus der Stadt Mátészalka,248


achtzehn Kilometer von der sowjetischen Grenze entfernt, mit denMontagsnachrichten: »Kann mir irgend jemand sagen, was eigentlich losist?« ertönte se<strong>in</strong>e Stimme aus dem Hörer. »Ich habe mehr als 1000motorisierte Fahrzeuge gezählt, die hier durchfuhren.«An diesem Tag werden nicht nur die vom Warschau er Pakt <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong>stationierten drei sowjetischen Divisionen, sondern die gesamten sowjetischenStreitkräfte <strong>in</strong> Alarmbereitschaft versetzt. In Odessa am SchwarzenMeer verlädt man Panzer auf Güterwagen. Die Reise wird für e<strong>in</strong>igeBesatzungen sechs Tage später zu Ende se<strong>in</strong>, wenn sie entweder <strong>in</strong> denStraßenkämpfen fallen oder <strong>in</strong> der Nähe vom Nagyvárad tér gefangengenommenwerden. Der Platz liegt etwas südlich vom Kerepesi-Friedhofan der Üllöi út, der breiten Ausfallstraße Budapests nach Debrecen. Manhatte ihnen erzählt, sie kämpften gegen Faschisten <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>.ËÓAm 20. Oktober organisierten Nagys Anhänger e<strong>in</strong> weiteres Treffen <strong>in</strong>Kecskemét, e<strong>in</strong>er Großstadt südlich von Budapest.ËÔ E<strong>in</strong> wutentbrannterstädtischer Funktionär gab später zu Protokoll, er habe um 17 Uhr bei derAnkunft <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Amtszimmer die laute Stimme des ehemaligen PolizeioberstenJózsef Szilágyi vernommen: »Die Revolution zögert nicht, siehandelt.«E<strong>in</strong> anderer Zeuge, Leiter e<strong>in</strong>es Staatsgutes, hörte Szilágyis Ruf nach»revolutionärer Veränderung«. Der Kommunalbeamte Ferenc Dallosstellte ihm die Frage: »Könnten Sie mir genauer erklären, was Sie unterrevolutionärer Veränderung verstehen?« Szilágyi nahm ke<strong>in</strong> Blatt vor denMund: »Die Macht muß <strong>in</strong> die Hand neuer Kräfte gelegt werden –positiver Kräfte.«Gegenüber e<strong>in</strong>em anderen »ungläubigen Thomas« verwahrte er sich:»Was ist das für e<strong>in</strong> Revolutionär, der bei dem bloßen Gedanken anrevolutionäre Aktionen Todesangst bekommt?« In se<strong>in</strong>em späteren Prozeßwurden diese Erklärungen gegen ihn verwendet.Die gärende Unruhe <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> wurde von e<strong>in</strong>er Volkserhebung <strong>in</strong>Polen überschattet. Der Aufruhr war erneut aufgeflammt, und WladislawGomulka, e<strong>in</strong> Kommunist nationaler Prägung, der im Gefängnis gesessen249


hatte und – wie Imre Nagy – aus der Partei ausgeschlossen worden war,wurde zum Parteivorsitzenden gewählt. Überstürzt und unangemeldet trafam frühen Morgen des 19. Oktober e<strong>in</strong>e sowjetische »Delegation« <strong>in</strong>Warschau e<strong>in</strong>, um die Wahl zu verh<strong>in</strong>dern. Die Delegation hatte etwa dieFe<strong>in</strong>fühligkeit e<strong>in</strong>es sowjetischen Panzers. Chruschtschow, begleitet vonMolotow, Kaganowitsch, Mikojan und dreizehn Generalen, schrie diePolen an: »Wir haben für euch gekämpft, und jetzt verkauft ihr euch andie Amerikaner und Zionisten!«Gleichzeitig setzte Marschall Konstant<strong>in</strong> Rokossowski zwanzig Panzerder Ersten Polnischen Panzergrenadierdivision auf die Vororte Warschaus<strong>in</strong> Marsch, und sowjetische Kriegsschiffe nahmen Kurs auf Gd<strong>in</strong>gen. Alsdie Polen von diesen Maßnahmen unbee<strong>in</strong>druckt blieben, setzten dieRussen ihre Truppen <strong>in</strong> Polen <strong>in</strong> Bewegung – e<strong>in</strong>e motorisierte Panzerdivision.Aber diese Taktik blieb wirkungslos. Gomulka durchschaute denBluff, und die Russen mußten von ihrem hohen Roß heruntersteigen.ÈÊAm 20. Oktober kabelte die amerikanische Botschaft nach Wash<strong>in</strong>gton,Gomulka würde e<strong>in</strong>e öffentliche Darstellung des polnischen Widerstandesim Ausland begrüßen. Das paßte Wash<strong>in</strong>gton ausgezeichnet <strong>in</strong>sKonzept. In dem weitläufigen Gebäude von »Radio Free Europe« <strong>in</strong>München beschlossen die Verantwortlichen, die Nachbarländer Polense<strong>in</strong>schließlich <strong>Ungarn</strong> mit dem Virus des <strong>Aufstand</strong>s zu <strong>in</strong>fizieren. Am 22.Oktober wurde der Mitarbeiterstab des Senders <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>ternenSchreiben zu der »besonnenen, lebendigen und zweifelsohne wirkungsvollen«Behandlung der Polenfrage beglückwünscht und aufgefordert, <strong>in</strong>jedem Fall laufend für e<strong>in</strong>e »erschöpfende und korrekte Berichterstattung<strong>in</strong> anderen betroffenen Ländern über die Ereignisse <strong>in</strong> Polen zu sorgen«.ÈÁDer elegante, stets mit re<strong>in</strong>seidenen Hemden ersche<strong>in</strong>ende, achtundfünfzigjährigeEndre Rodriguez, Direktor des Budapester Filmstudios,spürt deutlich, daß sich e<strong>in</strong> Drama aus dem wirklichen Leben anbahnt.ÈËDer Flüchtl<strong>in</strong>g aus dem Vorkriegs-Budapest der Prachtstraßen undKaffeehäuser ruft se<strong>in</strong>e Kameramänner zusammen, gibt den Auftrag, dieArbeit an sämtlichen Spielfilmen zu stoppen und <strong>in</strong> der ganzen Stadt alles250


zu drehen, was ihnen vor die Kamera kommt: »Jetzt wird Geschichtegemacht«, erklärt er e<strong>in</strong>em protestierenden Schauspieler.E<strong>in</strong>e Filmrolle nach der anderen wird im Studio abgeliefert. Rodriguezläßt von jeder e<strong>in</strong> paar Kopien machen und schließt die Orig<strong>in</strong>alnegativee<strong>in</strong>. Diese Aufnahmen erreichen auf Schmuggelwegen die Fox-Wochenschau-Gesellschaft <strong>in</strong> Westdeutschland. Aus ihnen entsteht e<strong>in</strong>Meisterwerk der Filmdokumentation: »<strong>Ungarn</strong> <strong>in</strong> Flammen«.An den meisten Sonntagabenden spielen sich jetzt stürmische Szenenab, wenn die neuesten Wochenzeitschriften von der Druckpresse kommen.Am 21. Oktober geht Péter Kereszturi nach dem Abendessen <strong>in</strong> die Stadt,um am Zeitungskiosk vom Westbahnhof auf die neueste Ausgabe derMontagsnachrichten zu warten.ÈÈ E<strong>in</strong>e große Menschenmenge hat sichbereits versammelt, ihre Gesichter werden h<strong>in</strong> und wieder grell vomAufblitzen der bei Schienenreparaturen e<strong>in</strong>gesetzten Schweißgerätebeleuchtet. Das Magaz<strong>in</strong> ist noch nicht e<strong>in</strong>getroffen.Ungefähr zur gleichen Zeit telephoniert Kopácsi, der Chef derBudapester Polizei, mit der Redaktion der Montagsnachrichten: »Ich habevom Innenm<strong>in</strong>isterium die Anweisung erhalten, Massenansammlungen beider Auslieferung Ihrer heutigen Ausgabe zu verh<strong>in</strong>dern. Ich soll Personalausweiseprüfen lassen und gegebenenfalls Verhaftungen vornehmen.«Nach e<strong>in</strong>er kaum wahrnehmbaren Pause ändert sich der Tonfall se<strong>in</strong>erStimme, als er fortfährt: »Sie liefern trotzdem aus. Ich werde dieseAnweisung nicht an me<strong>in</strong>e Offiziere weiterleiten.«Am Westbahnhof br<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong> Radfahrer die Zeitungspakete, und derZeitungshändler fängt an auszurufen: »Montagsnachrichten! – RedeGomulkas! – Lesen Sie alles über die Ereignisse <strong>in</strong> Polen!« An der EckeRákóczi út und Körút sieht man e<strong>in</strong>en anderen Zeitungsverkäufer, der kurznach der Auslieferung der Pakete um se<strong>in</strong> Leben rennt.ÈÍ An anderer Stellewerden die Leute handgreiflich, um e<strong>in</strong> Exemplar der Montagsnachrichtenzu bekommen. Sie stoßen den Austräger <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Schaufenster, und er ziehtsich durch die Glasscherben tiefe Schnittwunden zu. »Er ließ vorEntsetzen das Paket fallen«, berichtete später e<strong>in</strong> junger Ladenbesitzer vonden Csepel-Werften. »Daraufh<strong>in</strong> entstand unter den Leuten e<strong>in</strong>e Prügelei251


um die Zeitungen. Die Polizei mußte gerufen werden, um mit ihrenGummiknüppeln wieder Ordnung herzustellen.«ÈÎAn diesem Sonntag ufern vor der Redaktion der Literaturzeitung dieMassenszenen derart aus, daß sich die E<strong>in</strong>satzwagen der Polizei zurückziehen.Als die Literaturzeitung e<strong>in</strong>trifft, wird e<strong>in</strong> Zeitungsverkäufer dasDenkmal von Péter Pázmány h<strong>in</strong>aufgejagt. Das Magaz<strong>in</strong> berichtete überdie Ereignisse <strong>in</strong> Polen, wo das Warschauer Regime e<strong>in</strong>e offene Konfrontationmit der Bevölkerung nur durch Zugeständnisse vermeidenkonnte.Die Studentenunruhen erhielten immer mehr Antrieb. An diesemSonntag wurden Treffen <strong>in</strong> allen Hauptuniversitätsstädten des Landesveranstaltet, deren ähnlicher Ablauf den Schluß zuläßt, daß die<strong>in</strong>offiziellen Studentenführer über ihre Aktionen laufend telephonischAbsprachen trafen. Die meisten studentischen Organisationen beschlossenden Austritt aus der DISZ und übernahmen für die unmittelbaranschließend gegründete freie Jugendorganisation den Namen der aufgelösten Studentenvere<strong>in</strong>igung MEFESZ. In Budapest begann e<strong>in</strong>e zentraleStudentenführung, die sich bisher im Entwicklungsstadium befand,Gestalt anzunehmen. Statuten wurden festgelegt, die Lippenbekenntnisse– aber eben nur Lippenbekenntnisse – für den »Aufbau des Sozialismus«und für den Marxismus-Len<strong>in</strong>ismus als ideologische Grundlage enthielten.Neue wichtige Treffen wurden für Montag, den 22. Oktober, geplant.ÈÏObgleich immer noch ke<strong>in</strong>e offene Konfrontation mit der Obrigkeitstattgefunden hatte, war deutlich e<strong>in</strong>e Zusammenziehung sowjetischerStreitkräfte im Umkreis der Hauptstadt erkennbar. Am 22. Oktoberwurden sowjetische E<strong>in</strong>heiten beim Vormarsch durch Székesfehérvar <strong>in</strong>Richtung Budapest beobachtet. In der Nacht von Sonntag auf Montagbegannen sowjetische Pioniere<strong>in</strong>heiten bei Záhony Pontonbrükken überden Grenzfluß zu schlagen. Im gesamten sowjetischen E<strong>in</strong>flußbereichschrillten die Alarmglocken. Im rumänischen Timisoara wurden diesowjetischen Truppenverbände <strong>in</strong> Alarmbereitschaft versetzt. E<strong>in</strong> paarSoldaten hatten noch rumänisches Geld bei sich, als sie sechs Tage später252


<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Budapester Leichenschauhaus durchsucht wurden.Die ÁVH gab warnende H<strong>in</strong>weise, daß es mit Beg<strong>in</strong>n des 22. Oktoberzu Unruhen <strong>in</strong> Budapest kommen könnte. Als Károly Kiss, Mitglied desstal<strong>in</strong>istischen Politbüros, Csepel besichtigte, warnte ihn e<strong>in</strong> Funktionärvor der wachsenden Unzufriedenheit unter der Arbeiterschaft. Kissknurrte: »Genosse, falls irgend jemand irgend etwas gegen uns unternimmt,werden wir damit <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er halben Stunde fertig.«Der Vulkanausbruch <strong>in</strong> Budapest sollte die Hauptakteure vollständigüberrumpeln. General Re<strong>in</strong>hard Gehlen, der undurchsichtige Chef deswestdeutschen Nachrichtendienstes, befand sich auf hoher See mitten imAtlantik auf dem Wege zu e<strong>in</strong>em Treffen mit dem Direktor der CIA. Ererfuhr die dramatische Nachricht aus der Schiffszeitung, sagte das Treffenab und flog von New York mit der nächsten Masch<strong>in</strong>e zurück.ÈÌGerö und se<strong>in</strong>e Helfershelfer (Apró, Hegedüs und Kádár) waren am15. Oktober nach Belgrad gereist. (Heute sagt Hegedüs: »Zweck der Reisewar es, e<strong>in</strong>en guten Kontakt zur jugoslawischen Regierung herzustellen.E<strong>in</strong>e Freundschaftsreise. Sie hat natürlich nicht nur außenpolitischeBedeutung gehabt, sondern auch <strong>in</strong>nenpolitisch. Wir dachten, es gibtunserer Regierung auch e<strong>in</strong>e äußere Legitimation. Es war e<strong>in</strong>e utopischeReise.«)ÈÓImre Nagy war e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>ladung an den Plattensee zum We<strong>in</strong>fest <strong>in</strong>Badcsony gefolgt. Se<strong>in</strong>e Gefolgsleute waren <strong>in</strong> alle Himmelsrichtungenverstreut. Vásárhelyi hatte <strong>Ungarn</strong> nach sieben Jahren zum erstenmalverlassen, um sich e<strong>in</strong> großes, <strong>in</strong>ternationales Fußballänderspiel anzusehen.»E<strong>in</strong>erseits waren wir auf die Ereignisse vorbereitet«, er<strong>in</strong>nert er sichheute, »aber andererseits waren wir es auch wieder nicht . . . Wir erwartetene<strong>in</strong>e Veränderung <strong>in</strong> der Parteiführung, aber ke<strong>in</strong>e Abweichung vonder ›Diktatur des Proletariats‹, von der E<strong>in</strong>parteien-Herrschaft oder vomSozialismus. Wir sprachen vor dem 23. Oktober mit Sicherheit niemalsüber irgende<strong>in</strong>en Stellungswechsel <strong>Ungarn</strong>s <strong>in</strong>nerhalb des WarschauerPakts.«253


21Der große MarschAN JENEM NACHMITTAG des 22. Oktober 1956 gab es, 1300 km von Budapestentfernt, e<strong>in</strong> Treffen, das nichts und doch alles mit <strong>Ungarn</strong> zu tunhatte.E<strong>in</strong> britisches Militärflugzeug landete bei dichtem Nebel <strong>in</strong> Villacoublay,e<strong>in</strong>em französischen Militärflugplatz, und Mr. Selwyn Lloyd, derbritische Außenm<strong>in</strong>ister, wurde <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em unauffälligen Wagen nachSèvres bei Paris gebracht. In e<strong>in</strong>er abseits gelegenen Villa mit verfallenem,viereckigem Türmchen begannen geheime Gespräche mit derfranzösischen Regierung, e<strong>in</strong>e israelische Abordnung, der David BenGurion und Moshe Dayan angehörten, enthüllte ihre Pläne, <strong>in</strong> KürzeÄgypten anzugreifen, wozu sie aber die Unterstützung französischer Jägerund britischer Bomber benötigte: Die ägyptische Luftwaffe müsseausgeschaltet werden, bevor israelische Bodentruppen angriffen.Selwyn Lloyd kehrte um Mitternacht nach London zurück. Er hatteGroßbritanniens Hilfe <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er Weise zugesagt – noch nicht. Aber imöstlichen Mittelmeer lagen britische und französische Truppen zumAngriff auf Ägypten <strong>in</strong> Bereitschaft, sie konnten nicht mehr lange warten.Wie sollten diese drei heimlich konspirierenden Alliierten wissen, daßbald mehr als das Schicksal des Suezkanals auf dem Spiel stehen würde?László Blücher ist siebenundzwanzig, verlobt und Professor an derBudapester Technischen Hochschule – e<strong>in</strong>em hundertjährigen Bauwerkauf der Budaer Seite des Flusses.Blücher ist verwundert, als er nach diesem Nachmittag des 22.254


Oktober <strong>in</strong> die Große Halle tritt.Á Wenigstens die Hälfte der 10.000Studenten der TH steht dicht gedrängt <strong>in</strong> diesem Saal, obwohl dieVersammlung von der unpopulären KP-Jugendorganisation DISZe<strong>in</strong>berufen worden war und die Studenten gewöhnlich zur Teilnahme anoffiziellen Parteiveranstaltungen gezwungen werden müssen.Ë Aber das istnoch nicht alles, die Studenten trampeln und brüllen – nicht die »Sta-l<strong>in</strong>,Sta-l<strong>in</strong>«-Parolen der frühen fünfziger Jahre, sondern sie schreien ausvollem Halse ihren Beifall und Zorn heraus. Seit 3 Uhr nachmittags iste<strong>in</strong>e regelrechte Debatte im Gang.Diese Kundgebung wird auch um 1 Uhr morgens noch nicht zu Endese<strong>in</strong>. Und e<strong>in</strong> Stück Papier wird geboren, e<strong>in</strong> Papier, das Geschichtemacht.Inzwischen ist <strong>in</strong> Budapest die Partei aufgescheucht worden. DieVersammlung war von den DISZ-Funktionären e<strong>in</strong>berufen worden, <strong>in</strong> derHoffnung, den Dissidenten den W<strong>in</strong>d aus den Segeln zu nehmen.Aber der DISZ-Sekretär war nach wenigen Worten niedergeschrienworden. Die Parteisekretär<strong>in</strong> Frau László Orbán wird, begleitet von e<strong>in</strong>emungestümen Pfeifkonzert, vom Mikrophon verscheucht. Die BudapesterStudenten stimmen mit stürmischem Beifall dem Szeged<strong>in</strong>er Beschluß zu,die DISZ aufzulösen und durch Abstimmung ihre alte Organisationungarischer Universitäts- und Oberschul-Jugend MEFESZ wiederzugründen.ÈWährend e<strong>in</strong>e Delegation aus fünf Studenten diese Neuigkeit derFührung von DISZ übermittelt, wendet sich die Versammlung ernsterenD<strong>in</strong>gen zu.Í Die ursprünglichen Themen der Studenten s<strong>in</strong>d vergessen,und e<strong>in</strong>e Anzahl schwerwiegenderer Klagen stehen jetzt im Vordergrund.Zwei amerikanische Diplomaten, von Studenten telephonisch zur Beobachtunge<strong>in</strong>geladen, werden die Atmosphäre als »stürmisch« beschreiben.E<strong>in</strong> Student ruft: »In Wirklichkeit beuten uns die Russen schlimmeraus als e<strong>in</strong>e Kolonie!« E<strong>in</strong> rhythmischer S<strong>in</strong>gsang hebt an. »Russen, gehtnach Hause!« Man hört fe<strong>in</strong>dselige Anspielungen auf Gerös Gesprächemit »zweit- und drittrangigen Politikern« <strong>in</strong> Belgrad. Und der Beifallwächst.255


Es gibt ke<strong>in</strong>e Spur e<strong>in</strong>er revisionistischen Agitation. E<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>sameStimme spricht von der Geburt e<strong>in</strong>es neuen »Szeged<strong>in</strong>er Geistes« (SzegediGondolat) – das Schla wort, unter dem Horthys Truppen gegen Béla Kunmarschierten –, aber sie wird niedergeschrien.»Unschuldige Menschen verfaulen <strong>in</strong> den Gefängissen dieses Landes,und niemand wagt es, für sie e<strong>in</strong>zutreten«, ruft e<strong>in</strong> Student. E<strong>in</strong> andererfügt h<strong>in</strong>zu: »Sie sprechen sehr viel über unseren ständig steigendenLebensstandard, aber <strong>in</strong> Wirklichkeit ist er niedriger als 1948!«»Es ist e<strong>in</strong>e traurige Tatsache«, beklagt sich e<strong>in</strong> Student am Mikrophon,»daß wir hier <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> die wahren Nachrichten über ausländischeSender erfahren müssen. Dies ist die e<strong>in</strong>zige Möglichkeit, um herauszuf<strong>in</strong>den,was sich augenblicklich <strong>in</strong> Polen ereignet.« Er berichtet überGomulkas sensationelle Ernennung, die während der Nacht aus Polengemeldet wurde.E<strong>in</strong>e Stimme aus dem Publikum bestätigt: »Diese ausländischenSender übermitteln im allgeme<strong>in</strong>en die Fakten sehr genau.« Der das sagt,ist der frühere Polizeioberst József Szilágyi, der <strong>in</strong> Kürze e<strong>in</strong>er von ImreNagys Gefolgsleuten se<strong>in</strong> wird.Î Später schaltet sich Szilágyi nochmalse<strong>in</strong>: »Wir haben schon Mittel und Wege, um uns durchzusetzen: nämlichImre Nagy an die Macht zu br<strong>in</strong>gen.«In dem darauffolgenden Tumult werden Vorschläge für e<strong>in</strong>e Demonstrationam nächsten Tag laut – vielleicht unter dem Deckmantel e<strong>in</strong>erSympathiekundgebung für die Polen. Die Studenten haben nicht viel übrigfür die Polen, aber – wie e<strong>in</strong> Student im 6. Semester später erklärt – manmußte e<strong>in</strong>en glaubwürdigen Vorwand f<strong>in</strong>den, um legal demonstrieren zukönnen.ÏDer Entschluß ist gefaßt: Am darauffolgenden Nachmittag wird manzum Denkmal von General Bem ziehen und e<strong>in</strong>en Kranz niederlegen;József Bem war e<strong>in</strong> polnischer General, der 1848 auf ungarischer Seitegekämpft hatte.Zehn spektakuläre Forderungen werden auf e<strong>in</strong>en Zettel aus demNotizbuch e<strong>in</strong>es Studenten gekritzelt – unter anderem werden e<strong>in</strong>e neueRegierung unter Imre Nagy sowie Reformen <strong>in</strong> Fragen der Wirtschaft, der256


Arbeit und des Strafvollzugs verlangt.Man hört Rufe wie: »Lassen wir unsere Forderungen drucken!« und»Ne<strong>in</strong>, sie sollen über den Rundfunk gesendet werden!«Professor István Pribeky bietet sich an, e<strong>in</strong>e Delegation <strong>in</strong> se<strong>in</strong>emitalienischen Topol<strong>in</strong>o zum Sender h<strong>in</strong>überzufahren. Die Studentennehmen das Angebot an. Bevor sie zum Rundfunkgebäude kommen, läßtder Professor sich die Liste der Forderungen zeigen, runzelt e<strong>in</strong> wenig dieStirne und kürzt sie dann auf die zehn wichtigsten Punkte zusammen.Er wartet draußen auf die Rückkehr der Studenten. Kochend vor Wutwie alle jungen Menschen, deren Begeisterung e<strong>in</strong>en Dämpfer bekommenhat, ersche<strong>in</strong>en sie wieder empört. »Sie wollen nicht alles senden. DiePunkte über den Verbleib des ungarischen Uran <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> oder denAbzug der Russen lehnen sie ab!«Die Studentenversammlung ist noch <strong>in</strong> vollem Gang, als sie <strong>in</strong> die THzurückkommen.»Wenn der Rundfunk die Forderungen nicht verbreiten will, gehen wirzu Imre Nagy!«Wieder muß der Professor se<strong>in</strong>en Topol<strong>in</strong>o zur Verfügung stellen.Doch Nagys Villa <strong>in</strong> der Orsó utca steht unter Bewachung der ÁVH. »Erkann Sie nicht empfangen, er ist sehr müde – vielleicht morgen«, sagt e<strong>in</strong>Offizier.Ähnliche Versammlungen fanden auch <strong>in</strong> anderen Universitätsfakultätenjenseits des Flusses statt.ÌIn völliger Unkenntnis der aufrührerischen Vorgänge <strong>in</strong>nerhalb derStadt trafen sich gegen 6 Uhr nachmittags e<strong>in</strong>ige von Nagys Anhängern,um e<strong>in</strong> Programm für den Fall se<strong>in</strong>er Rückkehr an die Macht auszuarbeiten.ÓGéza Losonczy er<strong>in</strong>nert sich später: »Wir kamen alle übere<strong>in</strong>, unsFreitag abend (26. Oktober) <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Haus wiederzutreffen und auchDonáth und Haraszti mitzubr<strong>in</strong>gen.«Ô jeder von ihnen hatte bis dah<strong>in</strong> e<strong>in</strong>enAbschnitt des Programms zu entwerfen – Gimes über auswärtige Politik,Losonczy über die Patriotische Volksfront und Donáth über die257


vorgesehene Landwirtschaftspolitik.Danach begab sich Géza Losonczy zu e<strong>in</strong>er Diskussion <strong>in</strong> das Hausvon Kardos; Kardos hatte sie noch am selben Morgen telephonischvere<strong>in</strong>bart. Der Sekretär des Petöfi-Kreises, Gábor Tánczos, sagte ihnen,daß die Führung der DISZ e<strong>in</strong>e Dr<strong>in</strong>glichkeitskonferenz für den nächstenTag e<strong>in</strong>berufen würde und plane, die meisten von ihnen <strong>in</strong> ihr Komitee zuübernehmen. Es gab e<strong>in</strong>ige Diskussionen darüber, wie man sich dieMajorität <strong>in</strong> der DISZ-Führung sichern könne, und man sprach davon,Losonczy selbst zum neuen Vorsitzenden zu machen. Das würde derNagy-Gruppe e<strong>in</strong> entscheidendes Mitspracherecht bei allen Aktivitätender DISZ geben.Am späten Abend wußte die ganze Stadt, daß sich etwas zusammenbraute.Um 19.50 Uhr versuchten die Rundfunknachrichten, etwaigeSpekulationen »zu dämpfen«: »In den Versammlungen wird konstruktiveProgrammarbeit geleistet, <strong>in</strong> lebendiger Atmosphäre, aber ohne Provokationoder Demagogie; manchmal gibt es aufgeregte Äußerungen, aberdie Mehrheit ist nicht geneigt, irgend jemandes Werkzeug zu werden.«Später am Abend trafen sich auch, telephonisch zusammengerufen, dieFührer des Petöfi-Kreises. Sie wollten ihre eigenen keimfreien Forderungenbei der Demonstration am nächsten Tag durchsetzen – zehnwortreiche Forderungen, die mit marxistischen Formulierungen durchsetztwaren. (Farkas sollte der Prozeß »gemäß der sozialistischen Gesetzlichkeit«gemacht werden.) Sie erwähnten weder das Vorhandense<strong>in</strong>russischer Truppen, noch drängten sie auf freie Wahlen; sie wandten sichlediglich an die DISZ-Führung, um »auf diese Forderungen für dasTreffen am nächsten Tag, dem 23. Oktober«, h<strong>in</strong>zuweisen. Lammfrommverkündet der Petöfi-Kreis, daß er se<strong>in</strong> Vertrauen nach wie vor <strong>in</strong> dasZentralkomitee setze – das im Dokument sechsmal ehrfurchtsvoll erwähntwird –, um die »sozialistische Demokratie«, die zweimal erwähnt wird,und die »sozialistische Gesetzlichkeit« sowie die »len<strong>in</strong>istische vollkommeneGleichheit« neu zu beleben.In der Zwischenzeit hatten die TH-Studenten ihre zehn Punkte aufvierzehn erweitert. Die endgültige Liste enthielt: Nagys Wiederernennung;258


freie Wahlen mit geheimer Abstimmung; wirtschaftliche, landwirtschaftlicheund Justizreformen; e<strong>in</strong>en öffentlichen Prozeß für Mihály Farkas;Pressefreiheit; der Rückzug russischer Truppen und die Anerkennung derUnabhängigkeit <strong>Ungarn</strong>s durch Moskau.Während diese Studentenversammlung noch andauerte, steckten gegen11 Uhr vormittags auch die Professoren ihre Köpfe zusammen undbeschlossen, die für den nächsten Tag angesetzte Demonstration zuunterstützen.Nagys Beauftragter Géza Losonczy nahm an der Diskussion teil,ebenso der stellvertretende Erziehungsm<strong>in</strong>ister Dr. László Orbán, dessenFrau niedergeschrien worden war, und Oberstleutnant István Marián, Chefder militärischen Abteilung der TH.Er mahnte zur Vorsicht: »Woher wissen wir, daß diese Gerüchte überPolen stimmen?«Losonczy versicherte ihm, sie seien wahr. Um zu verh<strong>in</strong>dern, daßunerwünschte Elemente dazukämen – ÁVH-Provokateure oder politischeExtremisten –, gestattete man nur Leuten mit Studentenausweis dieTeilnahme; außerdem sollten die Studenten, wie bei allen marxistischenDemonstrationen, <strong>in</strong> Zehnerreihen marschieren und sich e<strong>in</strong>haken, damitniemand die L<strong>in</strong>ien durchbrechen und provozierende Transparentedazwischenschieben oder unerlaubte Parolen rufen könne.So dämmert der 23. Oktober 1956 herauf: e<strong>in</strong>er der letzten sonnigenTage des frühen Herbstes.Als die Sonne über den Türmen und großen Straßen von Budapestaufgeht, s<strong>in</strong>d Hunderttausende auf den Straßen. Sie schleppen sich zurArbeit oder boxen sich mit den Ellbogen ihren Weg <strong>in</strong> die überfülltenStraßenbahnen, sie verfluchen <strong>in</strong>sgeheim die Partei ob all ihrer Nöte,angefangen bei den geplatzten Wasserrohren bis h<strong>in</strong> zum Preis desRumverschnitts, den man ihnen <strong>in</strong> den Nachtbars der Stadt anbietet.Nur wenige von ihnen haben Zeit oder Interesse, die noch druckfeuchtenParteizeitungen zu lesen. Diejenigen, die an diesem MorgenExemplare des Blattes Freies Volk gekauft haben, können auf der ersten259


Seite e<strong>in</strong> tapferes, aber ungläubiges Gesicht sehen, das sich demzusammenbrauenden Unwetter stellt. »Unsere Partei und ihre Zeitunghalten zur Jugend«, flötet der Leitartikel <strong>in</strong> den süßesten Tönen. »Wirbefürworten diese Zusammenkünfte und wünschen diesen klugen,schöpferischen Jugendkonferenzen jeden Erfolg . . . Wir grüßen diesengewaltigen demokratischen Aufmarsch der Jugend.«Der Leitartikel befaßt sich mit Genosse Gerös bevorstehenderRückkehr von Belgrad um die Mittagszeit. Auf dem Bahnhof werdenschon die Mikrophone aufgebaut, und e<strong>in</strong>e Menge Funktionäreversammeln sich, um bei se<strong>in</strong>er Rückkehr gehorsam zu lächeln.Auch <strong>in</strong> München s<strong>in</strong>d die Mikrophone bereit. Durch Kuriere werdenden Nachrichtenleuten von »Radio Free Europe« geheime Richtl<strong>in</strong>ienzugestellt. »Die Entwicklung der Lage <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> sche<strong>in</strong>t ständigGelegenheit zu bieten, Parallelen mit Polen zu ziehen und schließt dieMöglichkeit für ähnliche Entwicklungen bei den anderen Satelliten e<strong>in</strong>.«ÁÊE<strong>in</strong>e kommunistische Parole hat folgenden Wortlaut: »Die Partei istunsere Weisheit, unser Führer und unsere Waffe.«ÁÁ An diesem Tag istdies nur die halbe Wahrheit. Die eigentlichen Köpfe s<strong>in</strong>d noch nicht ausBelgrad zurück, und die kle<strong>in</strong>eren Bonzen zermartern sich das Hirn. DerBall beg<strong>in</strong>nt zu rollen, und sie wissen nicht, wie sie ihn stoppen können.Wenn die Studentendelegationen mit ihren Packen von unerlaubtenFlugblättern <strong>in</strong> den Fabriken ersche<strong>in</strong>en, lassen die verwirrten Parteifunktionäresie h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>; denn ihre Flugblätter tragen schließlich denGummistempel der DISZ. E<strong>in</strong> fünfundzwanzigjähriger Architekturstudent,der um 9 Uhr morgens von e<strong>in</strong>er solchen Delegation zur TH zurückkommt,berichtet, daß aufgebrachte Fabrikarbeiter die vierzehn Punkteförmlich verschlungen hätten. Nur <strong>in</strong> Csepel hätten dickköpfige Fabrikwächtersie nicht h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>gelassen.ÁËAuf höherer Ebene ist man offenbar <strong>in</strong>zwischen zu Konzessionenbereit, weil die abgeschwächten Parolen, die über Nacht vom Petöfi-Kreisund dem Schriftstellerverband produziert wurden und Imre NagysRückkehr zur Macht vorschlagen, <strong>in</strong> den Morgennachrichten des260


Rundfunks gemeldet werden.ÁÈIm Gebäude des Petöfi-Kreises herrscht um 9 Uhr früh e<strong>in</strong>e Hektikwie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Armeehauptquartier vor der Schlacht.ÁÍ Die Vorstandsmitgliederhaben plötzlich bemerkt, daß sie den Bus verpassen könnten.Nach Darstellung des Rundfunkreporters Tóbiás Áron kommt e<strong>in</strong> nichtendenwollender Strom von Delegierten von den Fakultäten, um die Listemit den Forderungen abzuholen und Sammelpunkte für die Demonstrationzu vere<strong>in</strong>baren. Sekretär Gábor Tánczos spricht sich am Telephon mitLosonczy ab, die Demonstration zu steuern, <strong>in</strong>dem man ihr die harmloserenParolen des Petöfi-Kreises aufzw<strong>in</strong>gt. Da diese Parolen zumVertrauen <strong>in</strong> das Zentralkomitee aufrufen, ist es ke<strong>in</strong>e Überraschung, daßdie Forderungen im vollen Wortlaut gesendet werden. Aber <strong>in</strong> deröffentlichen Me<strong>in</strong>ung s<strong>in</strong>d diese Forderungen über Nacht schon Makulaturgeworden.Die Stadt erwacht zum Leben. Geschäfte werden geöffnet, Straßenbahnenzuckeln vorbei, Büros beg<strong>in</strong>nen ihre Tagesarbeit. Aber es liegte<strong>in</strong>e Nervosität <strong>in</strong> der Luft. Die Bürgersteige sche<strong>in</strong>en voller, und dieLeute lesen ganz offen die mit Schreibmasch<strong>in</strong>e geschriebenen Blätter.Als János Gura an der Rüstungsfabrik auf dem Soroksári út vorbeigeht,entdeckt er zwei Studenten, die an den Toren Flugblätterverteilen. Er läßt sich e<strong>in</strong>es geben und kann se<strong>in</strong>en Augen kaum trauen –diese D<strong>in</strong>ge, die da angesprochen werden, s<strong>in</strong>d normalerweise tabu. Als erden József körút h<strong>in</strong>unterwandert, entdeckt er die nämlichen Flugblätteran Schaufenstern, Bäumen und Gebäuden, die ganze Straße entlang.ÁÎIm Polizeihauptquartier wäscht sich der stämmige kle<strong>in</strong>e Polizeioberst<strong>in</strong> der Toilette neben se<strong>in</strong>em Büro gründlich die Hände, dann geht er umden langen Konferenztisch herum und greift zum roten Telephon, dasneben e<strong>in</strong>em halben Dutzend anderen Fernsprechern auf se<strong>in</strong>em Schreibtischsteht. Oberst Sándor Kopácsi ist der tüchtige Chef der regulärenstädtischen Polizei mit e<strong>in</strong>undzwanzig Bezirken und 1200 armseligausgerüsteten, unterernährten und überarbeiteten Polizisten <strong>in</strong> blauenUniformen.ÁÏ Kopácsi e<strong>in</strong> tapferer Expartisan aus dem Nordosten, arbeitet261


<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Zimmer des ersten Stockwerks <strong>in</strong> diesem weißen Gebäude, dasauf den Ferenc Déak tér h<strong>in</strong>untersieht. Der Raum ist mit roten Teppichen,kostbaren Antiquitäten, teuren Lampen und Kristallüstern ausgestattet.Kopácsi hat se<strong>in</strong>e eigenen Ansichten: auch er fühlt sich <strong>in</strong>nerlich angezogenvon Imre Nagys Richtung e<strong>in</strong>es nationalen Kommunismus. Beise<strong>in</strong>em Prozeß wird man Kopácsi vorwerfen, daß er anstelle von Len<strong>in</strong>,Rákosi und Dsersch<strong>in</strong>skij vor kurzem Bilder der Revolutionshelden desLandes, Lajos Kossuth und Sándor Petöfi, bei sich aufgehängt hat.Kopácsi dreht die Wählscheibe se<strong>in</strong>es roten Telephons: 2-5-7, umMárton Horváth über die geheime Leitung zurückzurufen. Der Zeitungschefist gereizt und sagt, auf der Straße bef<strong>in</strong>de sich berittene Polizei under möchte wissen, was zum Teufel Kopácsi sich dabei denkt, dieöffentliche Me<strong>in</strong>ung so unerhört herauszufordern. Offensichtlich werdendie Leute unruhig.»Das ist nur unsere Polizeireitschule, Genosse Horváth«, sagt Kopácsi.Er gr<strong>in</strong>st und zeigt e<strong>in</strong>en Mund voll unregelmäßiger Zähne. »Sie s<strong>in</strong>d aufihrem üblichen Dienstagmorgen-Ritt.«Er sieht das alles ziemlich gelassen an. Als Oberstleutnant TivadarVégh, Chef des unruhigen Budapester VIII. Bezirks, mitteilt, daß Leuteunterwegs s<strong>in</strong>d und Flugblätter verteilen, schnarrt Kopácsi »Die Polizeihat nicht e<strong>in</strong>zuschreiten!«Inzwischen ist Gerös Delegation, von Belgrad zurückkommend, aufdem Bahnhof e<strong>in</strong>getroffen. Er gibt die üblichen Erklärungen über dieguten Beziehungen zu Jugoslawien ab und besteigt sodann e<strong>in</strong>e verhängteLimous<strong>in</strong>e. Er sieht die seltsamen Flugblätter und Anschläge an Bäumenund Mauern nicht – erst als er das labyr<strong>in</strong>thartige Parteigebäude <strong>in</strong> derAkadémia utca erreicht, begreift er, daß etwas im Gange ist.Das Politbüro ist bereits zusammengetreten. Nachdem Gerö überBelgrad und Lajos Ács über <strong>in</strong>nenpolitische Nebensachen berichtet haben,kommt György Marosán zum nächsten Punkt der Tagesordnung: diegeplante Studentendemonstration. Mit bebenden Nasenflügeln verkündeter: »Es liegt e<strong>in</strong> Hauch von Konterrevolution <strong>in</strong> der Luft!«262


Er stellt zwei törichte Vorschläge zur Diskussion: das Politbüro sollteden Marsch verbieten, bevor es zu spät ist; und es müßte angeordnetwerden, das Feuer zu eröffnen, falls das Verbot nicht befolgt wird. Er hatalso ke<strong>in</strong>e Skrupel.ÁÌ Der ehrwürdige marxistische Philosoph GyörgyLukács sche<strong>in</strong>t betroffen über Marosáns Ratschläge (obwohl nicht leichte<strong>in</strong>zusehen ist, warum: Immer haben marxistische Regime Masch<strong>in</strong>engewehreauf ihre Arbeiter gerichtet – e<strong>in</strong> Verbrechen, das nicht e<strong>in</strong>mal dieNazis beg<strong>in</strong>gen).»Nehmen wir an, Ihr Vorschlag wird angenommen und man eröffnetdas Feuer«, erwägt Lukács »Mit wieviel Toten und Verwundeten rechnenSie?«Marosán veranschlagt: »Hundert Tote und 1000 Verletzte.«Er kann recht haben: Wir werden es nie wissen. Das Politbürobeschließt, die Demonstration zu verbieten, lehnt aber den Schießbefehlab. Als der Innenm<strong>in</strong>ister, der frühere Metzgergeselle László Piros, mitdieser Entscheidung zu se<strong>in</strong>em Stab zurückkehrt, schüttelt Marosán denKopf. Wieder beben se<strong>in</strong>e Nasenflügel. Er riecht Unrat – der Fe<strong>in</strong>d wirddenken, das Regime bekommt kalte Füße.Wie von unsichtbarer Hand geführt, haben an diesem Morgenrussische Truppenverschiebungen <strong>in</strong>nerhalb <strong>Ungarn</strong>s begonnen, genau wiedrei Tage zuvor <strong>in</strong> Polen. Die neuesten T-54 der 92. sowjetischenPanzerdivision bei Kecskemét und Szolnok setzen sich langsam vonNordwesten nach Budapest <strong>in</strong> Marsch. E<strong>in</strong>e Panzergruppe bleibt zurSicherung der Theiß <strong>in</strong> Szolnok, Teile der 2. mechanischen Divisionrollen östlich von Székesfehérvár und Györ ebenfalls <strong>in</strong> RichtungBudapest.Um 13 Uhr wird die Zigeunermusik im Radio mit der Ankündigungdes Verbots unterbrochen. Mit bemerkenswerter Kaltblütigkeit gibt dasPolitbüro zugleich bekannt, daß vor dem 31. Oktober ke<strong>in</strong>e ZK-Sitzungmehr stattf<strong>in</strong>den wird.Zu dieser Zeit s<strong>in</strong>d bereits 15.000 Studenten im Hof der TH versammelt.E<strong>in</strong>e Rednertribüne und Lautsprecher s<strong>in</strong>d aufgebaut worden.Piros’ Verbot hat die Stimmung nur noch aufgeheizt. Die Fenster der263


umliegenden Gebäude s<strong>in</strong>d mit Zuschauern überfüllt. Jedermann weiß,daß sich e<strong>in</strong>e Konfrontation abzeichnet. Gerüchte sprechen davon, daßSoldaten entfernter E<strong>in</strong>heiten auf Motorrädern gekommen seien, umFlugblätter mit den sechzehn Punkten der Studenten zu holen.Der Beg<strong>in</strong>n des großen Jugendaufmarschs ist nicht mehr fern. DerChef der militärischen Abteilung der TH, Oberstleutnant István Marián,schiebt sich durch die Menge zur Rednertribüne. Er ist e<strong>in</strong>unddreißigJahre alt; seit 1941 ist er Kommunist, doch hat ihm e<strong>in</strong>e Studienreisedurch die UdSSR im Jahre 1955 zu denken gegeben.ÁÓ Er trägt e<strong>in</strong>eUniform russischer Machart, doch se<strong>in</strong>e Wangen s<strong>in</strong>d ganz rot vorAufregung, als er die Solidaritätserklärungen anderer Hochschulen vorliest.Darunter bef<strong>in</strong>det sich e<strong>in</strong>e Botschaft der Luftwaffenoffiziersschule.Die Menge spendet rauschenden Beifall.Oberst Marián will abstimmen lassen: »Nehmt ihr Piros’ Verbot an, jaoder ne<strong>in</strong>?«Als Antwort rufen die Studenten: »Auf die Straßen!«Delegationen werden zur Akadémia utca und zum Parlamentgeschickt, um anzukündigen, daß die Studenten sich demokratischentschieden hätten, trotz Verbots zu marschieren. E<strong>in</strong> Zusammenstoß istjetzt unvermeidlich.Zu dieser Zeit ist Imre Nagy nur halb im Bilde.ÁÔ Das Donnergrollenhat ihn völlig überrascht. Er ist vom Plattensee nur deshalb zurückgekehrt,um sich mit se<strong>in</strong>em Freund und Vertrauten, dem stellvertretenden Chefdes Budapester Parteibezirks, Imre Mezö, zu beraten.ËÊ Nun bittet GézaLosonczy die Mitglieder der Nagy-Gruppe telephonisch <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Wohnung<strong>in</strong> der Herman utca; sie diskutieren über den Demonstrationsplan der TH.Vásárhelyi, Haraszti und Gimes sprechen sich dafür aus: »Die Demonstrationwird uns aus den Händen gleiten, wenn wir nichts unternehmen«,wenden sie e<strong>in</strong>. Gimes drängt Imre Nagy, die Führung der Demonstrationzu übernehmen. Aber Nagy und Ujhelyi s<strong>in</strong>d dagegen. Nagy ist ehrlichbeunruhigt. »Es könnte e<strong>in</strong>e stal<strong>in</strong>istische Provokation se<strong>in</strong>«, sagt ere<strong>in</strong>mal. »Es könnte mit e<strong>in</strong>em Blutbad enden.«264


Losonczy wird später bestätigen: »Wir waren uns völlig darüber e<strong>in</strong>ig,daß die Lage für Veränderungen reif war.«ËÁ Die Stal<strong>in</strong>isten würden gehenmüssen, und dem neuen Politbüro sollten Nagy, Haraszti, Donáth, ZoltánSzántó und Losonczy angehören; das neue Zentralkomitee würde um dieseMänner erweitert werden und außerdem auch József Szilágyi – den jungenExpolizeioberst, der sich bei der Versammlung <strong>in</strong> der TH hervorgetanhatte –, József Schurecz, Vásárhelyi, Kardos, Tánczos, Jenö Szell, Lukács,Novobáczky, Sándor Fekete, Gimes und László Kónya aufnehmen. Es gibte<strong>in</strong>e lebhafte Diskussion.ËË Weitere Namen kommen h<strong>in</strong>zu, und zwar dieSchriftsteller Háy und Sándor Erdei sowie Nagys Schwiegersohn Jánosiund Rajks Witwe. Alles geht sehr schnell, aber nicht gerade demokratischvor sich. E<strong>in</strong>e kurze Diskussion entwickelt sich über Nagy selbst – soll erM<strong>in</strong>isterpräsident oder Erster Sekretär der Partei werden? Losonczy hältdie Parteiführung für problematisch, aber Nagy wendet e<strong>in</strong>: »DieÖffentlichkeit kennt mich als M<strong>in</strong>isterpräsident«, und damit hat es sich.Kurz darauf erreicht sie die Nachricht, daß auch die Universität um 14Uhr e<strong>in</strong>e Demonstration abhalten wird. Daraufh<strong>in</strong> wird die Sitzungabgebrochen. Imre Nagy geht die Straße zu se<strong>in</strong>er Villa zu Fuß h<strong>in</strong>auf,während Vásárhelyi und Losonczy mit Ujhelyi – »e<strong>in</strong> sehr guter Freund,der unsere Ansichten nicht teilte, aber trotzdem mit uns kam« – und dieanderen den Weg zum Petöfi-Denkmal e<strong>in</strong>schlagen, um zu sehen, waspassiert. Sie gehen mehr als Zuschauer – weil die Ereignisse <strong>in</strong>zwischenihre eigene Dynamik entwickeln.E<strong>in</strong>e Delegation der beunruhigten Redaktionsmitglieder des ParteiorgansFreies Volk wartet <strong>in</strong> der Akadémia utca auf Gerö. Parteifunktionärehaben an diesem Morgen im Zeitungsgebäude über die Studentenforderungendiskutiert. Der Chefredakteur, Márton Horváth, teilt Gerömit, daß Veränderungen auf höchster Ebene stattf<strong>in</strong>den müßten, bevor derSturm losbricht. »Sie müssen den öffentlichen Forderungen Beachtungschenken. Etwas muß geschehen, bevor es zu spät ist!«Gerö empfängt die Zeitungsleute zusammen mit Marosán und Kádár.Er weigert sich, <strong>in</strong> Panik zu geraten. »Ihr habt alle die Nerven verloren.265


Ihr unterschätzt die Macht des Proletariats. Wir haben die nötigen Mittel,um e<strong>in</strong>ige rebellische Geister <strong>in</strong> Schach zu halten.«Jemand fragt: »Und wenn die Studenten sich nicht an das Verbothalten?«Der frühere Propagandam<strong>in</strong>ister József Révai brüllt die Antwortheraus. Révai der Rákosis ehemaliger jüdischer Kamarilla angehörte, iste<strong>in</strong>es der ältesten Mitglieder des Politbüros. Er hat e<strong>in</strong>en Schlaganfallerlitten und se<strong>in</strong> rechter Arm baumelt schlaff an der Seite herunter. Abernoch hat er Kampfgeist <strong>in</strong> sich. »Wir werden schießen«, schreit er,»schießen, schießen!«ËÈDie Führer der neuen Studentenorganisation MEFESZ ersche<strong>in</strong>en undübermitteln Gerö die dr<strong>in</strong>gende Bitte, das Verbot aufzuheben.ËÍ Ihnenergeht es nicht anders.Gerö wiederholt: »Falls die Demonstranten weitermachen, werden wirdas Feuer eröffnen.«Révai wird <strong>in</strong> das Verlagsgebäude gesandt, um e<strong>in</strong> Auge auf dienächste Ausgabe zu werfen.ËÎ Er dr<strong>in</strong>gt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Redaktionskonferenz e<strong>in</strong>mit den Worten: »Nun, wer wird den Artikel schreiben – und zwar e<strong>in</strong>en,der die Konterrevolution verdammt?« Er knipst mit dem F<strong>in</strong>ger nach e<strong>in</strong>erStenotypist<strong>in</strong>. Die Redakteure erläutern ihm vorsichtig die reale Lage.Das Ersche<strong>in</strong>en Révais, dieses Schreckgespensts ihrer eigenenstal<strong>in</strong>istischen Vergangenheit, erhöht das Trauma der gereiztenZeitungsleute – viele von ihnen verdanken ihm e<strong>in</strong>e Menge, sie stehennoch immer unter se<strong>in</strong>em Bann. Aber es ist nicht gerade e<strong>in</strong> geeigneterAugenblick, um Leitartikel über e<strong>in</strong>e »Konterrevolution« zu drucken.Sobald Innenm<strong>in</strong>ister Piros <strong>in</strong> se<strong>in</strong> düsteres, festungsähnliches M<strong>in</strong>isteriumzurückgekehrt ist, ruft er e<strong>in</strong>e Dr<strong>in</strong>glichkeitskonferenz zusammen.Se<strong>in</strong>e fünf Stellvertreter versammeln sich zusammen mit se<strong>in</strong>em neuenSowjetberater – se<strong>in</strong> bisheriger Mentor war gerade durch diesenschlanken, blauäugigen Russen, der sich nicht vorstellte, ersetzt worden.Erst Monate später wird er Polizeichef Kopácsi – der verspätet zu diesemTreffen ersche<strong>in</strong>t – vorgestellt: Es ist niemand anders als General lwanSerow, der höchste Chef der sowjetischen Geheimpolizei.ËÏ266


Piros fordert Kopácsi auf, zu erläutern, wie se<strong>in</strong>e Polizei dasVersammlungsverbot durchsetzen will. Der Polizeioberst zuckt dieAchseln, es ist se<strong>in</strong>e Liebl<strong>in</strong>gsgeste. Er sagt, se<strong>in</strong>e Leute hätten ke<strong>in</strong>eWaffen zur Unterdrückung von Unruhen, wie Säbel – nur Masch<strong>in</strong>enpistolenund Gewehre.»Gewehre haben aber doch Kolben, nicht wahr?« schnauzt Piros.Kopácsi f<strong>in</strong>det diese Bemerkung nicht besonders hilfreich. Er bietetstatt dessen e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>fache Erklärung an: »Der entscheidende Irrtum ist, ause<strong>in</strong>em politischen Problem e<strong>in</strong> Polizeiproblem gemacht zu haben.«Serows Augen funkeln vor Zorn.Aber die fünf stellvertretenden M<strong>in</strong>ister nicken zum Zeichen ihresE<strong>in</strong>verständnisses. Es gibt ke<strong>in</strong>e andere Wahl – das Demonstrationsverbotmuß eben aufgehoben werden. Piros läßt sich mit Gerö verb<strong>in</strong>den. DasGespräch dauert e<strong>in</strong>ige M<strong>in</strong>uten, dann legt Piros den Hörer des rotenTelephons auf.»Jawohl, Genosse Gerö. Ihre Befehle werden ausgeführt!«267


22Kritische Masse»IN EINER VIERTELSTUNDE werden die Genossen e<strong>in</strong>e Pause machen«, sagtM<strong>in</strong>isterpräsident András Hegedüs und gr<strong>in</strong>st von e<strong>in</strong>em Ohr zumanderen.Á Se<strong>in</strong>e Ähnlichkeit mit Rákosi ist aufreizend. »Genosse Geröwird Sie dann empfangen.«Es ist der 23. Oktober 1956 – der Tag, an dem der Damm <strong>in</strong> Budapestbrechen wird. E<strong>in</strong> neues Aufgebot beunruhigter Parteifunktionäre ist <strong>in</strong>der Akadémia utca e<strong>in</strong>getroffen. Der Schriftstellerverband hat Gyula Háyzum Sprecher gewählt, weil Háy und Gerö während des Krieges alsEmigranten <strong>in</strong> Moskau gut mite<strong>in</strong>ander auskamen.Als Gerö auftaucht, wirken se<strong>in</strong>e Augen viel älter, als Háy sie <strong>in</strong>Er<strong>in</strong>nerung hatte. Der Parteiführer fragt: »Was wollt ihr, Genossen?«Háy sagt ihm, sie hätten e<strong>in</strong>en Geistesblitz gehabt: »Wir möchten dieParteiführung e<strong>in</strong>laden, an der Spitze der Demonstranten,zu marschieren!«Gerö schüttelt nachdrücklich den Kopf.Vorwurfsvoll sagt der Bühnenautor: »Diese Demonstration lag seitRajks Begräbnis <strong>in</strong> der Luft.«»Sie me<strong>in</strong>en, seit Ihrem verdammten Artikel über ›Genosse Kucsera‹!«erwidert Gerö böse.In der Technischen Hochschule hat Oberstleutnant Marián denDemonstrationszug der Studenten zusammengestellt. Nachmittags, um 15Uhr, soll der große Umzug trotz des offiziellen Verbots öffentlicherVersammlungen beg<strong>in</strong>nen. Transparente werden ausgeteilt, Ordner mitArmb<strong>in</strong>den versehen. E<strong>in</strong>ige Delegationen s<strong>in</strong>d noch unterwegs von den268


Fabriken, Arbeiter der MÁVAG und von Ganz und zwei Busladungen mitArbeitern der Pestvidéki-Flugzeugmotorenwerke (Gépgyár); außerdem800 Kadetten der Petöfi-Offiziersakademie.Die großen Tore zum Hof der TH s<strong>in</strong>d weit geöffnet, und die erstenReihen setzen sich gerade <strong>in</strong> Bewegung, als e<strong>in</strong>e schwarze Regierungslimous<strong>in</strong>eh<strong>in</strong>e<strong>in</strong>fährt und zwei Männer <strong>in</strong> dunklen Anzügen herausspr<strong>in</strong>gen– Oberst Kopácsi und ÁVH-Oberst László Fekete, e<strong>in</strong>er vonPiros’ stellvertretenden M<strong>in</strong>istern.Ë Die Lautsprecher knattern ihnen e<strong>in</strong>grimmiges Willkommen entgegen, dann gibt Oberst Marián bekannt: »Wirhaben beschlossen – das heißt, die Studenten von Budapest habenbeschlossen: der Aufmarsch wird stattf<strong>in</strong>den – mit oder ohne Genehmigung!«Als Kopácsi <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Uniform als Polizeichef <strong>in</strong> Begleitung vonFekete die Rednertribüne besteigt, wird das Pfeifen und johlenohrenbetäubend. Fekete ergreift das Mikrophon. »Ich b<strong>in</strong> hier, weil«, rufter, »ich b<strong>in</strong> hier, weil ich euch mitteilen will, daß das Verbot aufgehobenist. Die Demonstration kann stattf<strong>in</strong>den!«Für e<strong>in</strong>en Augenblick herrscht Totenstille. Um das Eis zu brechen,fügt der M<strong>in</strong>ister h<strong>in</strong>zu: »Ich heiße Fekete, ich b<strong>in</strong> nicht Piros.« (DieNamen bedeuten auf ungarisch »schwarz« und »rosa«.) Es folgt e<strong>in</strong>nervöses Lachen – <strong>in</strong> der Art, wie Patienten reagieren, wenn sie erfahren,daß die Röntgenaufnahmen <strong>in</strong> Ordnung s<strong>in</strong>d. Donnernder Applaus ist dieFolge.Als die Menge zum Ausgang drängt, kehrt Kopácsi zu se<strong>in</strong>em Autozurück. József Szilagyi hält Kopácsi am Arm. Die beiden s<strong>in</strong>d Nachbarn.»Ich habe soeben mit zu Hause telephoniert«, sagt er. »Unsere K<strong>in</strong>der s<strong>in</strong>dwohlbehalten von der Schule zurück, sie spielen mit de<strong>in</strong>er Violet.«Spüren sie, daß e<strong>in</strong>er von ihnen gehängt, der andere zu lebenslänglichKerker verurteilt werden wird wegen des Dramas, das nunmehr se<strong>in</strong>enLauf nimmt?Von Universität zu Universität, von Schule zu Schule wird die Paroleweitergegeben. Ildikó Lányi ist während der Mittagszeit aus dem Attila-József-Gymnasium h<strong>in</strong>ausgeschlüpft und telephoniert mit ihren vier269


Kolleg<strong>in</strong>nen vom Studentenkomitee, das erst vor e<strong>in</strong>igen Tagen gewähltworden ist. »Es gibt e<strong>in</strong>e Demonstration! Schickt eure Schüler auf dieStraße, sobald die Schule aus ist!«»Woh<strong>in</strong>?«»Trefft euch beim Museum, bei der TH oder beim Rókus-Krankenhaus– 3 Uhr nachmittags.«ÈIn der amerikanischen Gesandtschaft am Freiheitsplatz nimmt derGeschäftsträger Spencer Barnes schweigend den Bericht se<strong>in</strong>er beidenBeamten über die Marathondebatte an der TH <strong>in</strong> der vorhergehendenNacht entgegen und liest den verwaschenen Text aus Szabad Ifjúság[Freie Jugend]. Barnes glaubt, daß nun die große Chance für Wash<strong>in</strong>gtongekommen ist, die Anwesenheit russischer Truppen <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> <strong>in</strong> Frage zustellen. Um 14 Uhr unterzeichnet er e<strong>in</strong> drei Seiten langes Telegrammnach Wash<strong>in</strong>gton, um die Presse auf die Krise aufmerksam zu machen.»Die Gesandtschaft empfiehlt schnellste Berichterstattung, um ständigsteigende Forderungen der <strong>Ungarn</strong> maximal auszunutzen.«ÍLeutnant Péter Gosztony ist zusammen mit e<strong>in</strong>em anderen Offizier derKilián-Kaserne auf dem Weg zum Petöfi-Denkmal, als e<strong>in</strong> Student auf dieStraßenbahn aufspr<strong>in</strong>gt und ihm e<strong>in</strong> Flugblatt <strong>in</strong> die Hand drückt. Alles<strong>in</strong>d gespannt, wie er, e<strong>in</strong> Offizier <strong>in</strong> Uniform, wohl darauf reagiert. Se<strong>in</strong>Kamerad nimmt ihm die Entscheidung ab. »Steigert wir aus«, drängt er.Sie gehen den Rest des Wegs zu Fuß.Die Büros <strong>in</strong> der Stadt schließen e<strong>in</strong>es nach dem anderen. Parteifunktionäredrohen mit Entlassung derjenigen, die ihren Arbeitsplatzvorzeitig verlassen. Fast niemand richtet sich danach. Die Auflehnungsetzt leise e<strong>in</strong>: E<strong>in</strong> Bleistift wird auf e<strong>in</strong> Zeichenpult gelegt, e<strong>in</strong>eAktenmappe geschlossen, man hört das Geräusch e<strong>in</strong>zelner Schritte, dieauf dem Betonfußboden e<strong>in</strong>es Korridors dem Straßenausgang zustreben.Gelegentlich hört man Stimmen <strong>in</strong> aller Ruhe <strong>in</strong> die Zimmer rufen:»Wenn ihr <strong>Ungarn</strong> seid, so kommt mit!«Die Straßen werden immer voller. Ildikó Lányi und ihr Komitee habenan diesem Nachmittag e<strong>in</strong>e Verabredung im Parteigebäude am Platz derRepublik. Die Parteibürokraten drücken ihr Erstaunen über die fünf270


Studenten aus: »Warum seid ihr nicht auch auf der Straße?« fragen sie –sie glauben noch an den Mythos e<strong>in</strong>es parteikontrollierten Jugendfestzuges.E<strong>in</strong>e große Menge hat sich um 14 Uhr auch im Gebäude der Mediz<strong>in</strong>ischenFakultät <strong>in</strong> der Üllöi út zusammengefunden. Die Lehrkräfte voran,marschieren Schule nach Schule, Fakultät nach Fakultät <strong>in</strong> Achter- undZehnerreihen zum nahe gelegenen Nationalmuseum. Am nächsten Tag umdieselbe Zeit wird das Museum e<strong>in</strong>em rasenden Inferno gleichen, dieunersetzlichen Schätze werden Brandstiftern zum Opfer gefallen se<strong>in</strong>.Ohne zu ahnen, was für schlimme D<strong>in</strong>ge bevorstehen, wartet bereits e<strong>in</strong>enoch größere Menschenmenge und verstopft den Körút.Dieser historische Platz wurde nicht zufällig zum Sammelpunkt derDemonstration ausgewählt. Von den Stufen dieses Museums deklamierteam 15. März 1848 Sándor Petöfi se<strong>in</strong> berühmtes Epos und entzündete den<strong>Aufstand</strong> gegen die Habsburger Monarchie.Auf e<strong>in</strong>em Balkon des zweiten Stockwerks entfaltet e<strong>in</strong>e ältere Damee<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>same Nationalflagge. Es ist das erste Blatt e<strong>in</strong>es neuen Frühl<strong>in</strong>gs.Inzwischen hat sich herumgesprochen, daß laut Rundfunk das Verbotoffiziell aufgehoben worden ist und Gerö persönlich um 20 Uhr im Radiosprechen wird.Beim Rundfunk – e<strong>in</strong> Labyr<strong>in</strong>th von Gebäuden rund um e<strong>in</strong>enInnenhof an der Bródy utca – gab es bereits erste Anzeichen von Unruhe.E<strong>in</strong>ige Mitarbeiter haben Forderungen erhoben und drohen mit Streik.ÁVH-Oberst Miklós Orbán, Chef der Budapester Sicherheitspolizei, hatzwei Offiziere h<strong>in</strong>übergeschickt – Hauptmann János Mester und LeutnantMihály Varga –, um die Zwischenfälle zu untersuchen und alle zehnM<strong>in</strong>uten mit se<strong>in</strong>em Stellvertreter, Major Mozes, zu telephonieren. Diebeiden Männer werden für den Eventualfall mit vierzig Tränengashandgranatenund vierzig Rauchbomben ausgerüstet.ÎAngesichts der wachsenden Spannung am Nachmittag ersucht diesechzehnköpfige Wachmannschaft beim Rundfunk um Verstärkung.Orbán schickt se<strong>in</strong>en Stellvertreter, Major József Fehér, mit zusätzlichenPolizeikräften. Er wird nicht lebend davonkommen.271


Mit der Aufhebung des Versammlungsverbots hat die Spannung<strong>in</strong>nerhalb des Rundfunkgebäudes nachgelassen – Reporter fangen an zudiskutieren, wie man am besten über die Demonstration berichten könnte.Aber die plötzliche S<strong>in</strong>nesänderung der Regierung erweckt Mißtrauen<strong>in</strong> der Universität. Die Dekane, Zoltán I. Tóth und Tibor Kardos, s<strong>in</strong>d vollUnruhe, und dies mit gutem Grund – e<strong>in</strong>er von ihnen wird die beidennächsten Tage nicht überleben. E<strong>in</strong> Studentenführer schlägt vor, dieDemonstration jetzt abzublasen, solange dies noch möglich ist. »Ichglaube, Piros wird den Marsch <strong>in</strong> Gang setzen und dann der ÁVHbefehlen, das Feuer zu eröffnen«, me<strong>in</strong>t er.ÏAber der Marsch beg<strong>in</strong>nt, und er selbst rückt vor <strong>in</strong> die vordersteReihe neben die drei anderen neugewählten MEFESZ-Führer: Pál Wald,Imre Máté und György Gömöri. H<strong>in</strong>ter ihnen marschieren die Professorenund der Rest der Universität zum Petöfi-Denkmal unten am Donauufer.Natürlich kann sich nicht jeder anschließen. Der Schauspieler TiborMolnár ist sechsunddreißig, e<strong>in</strong> Mat<strong>in</strong>ee-Idol, von sich e<strong>in</strong>genommen, nurauf die Außenwelt e<strong>in</strong>gestellt und irgendwie auch erschöpft, da er gerade,wie er unbescheiden äußert, e<strong>in</strong>e sehr reife Vorstellung bei derHauptprobe von »Pirandello« im Nationaltheater am Len<strong>in</strong> út gegebenhat.Ì E<strong>in</strong> Dienstwagen erwartet ihn, um ihn schnell über den Fluß zu denFilmstudios <strong>in</strong> der Pasaréti út zu br<strong>in</strong>gen. Aber er w<strong>in</strong>kt den Chauffeurheran und erklärt: »Schau, hetzt mich nicht. Ich muß mich entspannen.«Er schlüpft <strong>in</strong> die Espressobar auf der gegenüberliegendenStraßenseite und hat gerade e<strong>in</strong>en doppelten Kaffee bestellt, als e<strong>in</strong>e Frauhere<strong>in</strong>stürzt: »Revolution!«Die Tische r<strong>in</strong>gsum Molnár leeren sich, aber er bleibt, wo er ist, nochimmer den Applaus des Publikums <strong>in</strong> den Ohren.Es ist 3 Uhr nachmittags. Jenseits des Flusses beg<strong>in</strong>nt auch der andere,düstere Aufmarsch. Die Studenten kommen langsam aus dem Tor derUniversität, dickflüssig und schweigsam wie e<strong>in</strong> schwarzer Sirup ergießtsich der Strom am Gellert tér vorbei und am Flußufer entlang. Es ist e<strong>in</strong>Schauspiel, das die Stadt nie zuvor und auch später nie wieder gesehenhat. In Zehnerreihen, mit roten Fahnen und der nationalen Trikolore an der272


Spitze des Umzugs, wälzt sich der Strom der 15.000 Jugendlichen amDonauufer entlang, bis er fünf Kilometer lang ist.Als die Marschsäule das Bem-Denkmal erreicht, eilen aufgeregtschnatternde Berühmtheiten an ihnen vorbei: die Vorstandsmitglieder desSchriftstellerverbandes, <strong>in</strong> der Absicht, sich an die Spitze des Zuges zusetzen. Gutmütig lassen die Studenten sie sich e<strong>in</strong>reihen. Péter Veres, derPräsident der Schriftsteller, hält krampfhaft die sieben Punkte fest, die andiesem Morgen <strong>in</strong> den tabakgeschwängerten Räumen des Verbandsgebäudes<strong>in</strong> der Gorkij fasor ausgebrütet wurden.An den Schlüsselpunkten der Stadt drehen Rodriguez’ Kameramännerder Wochenschau den Vorbeimarsch des e<strong>in</strong>drucksvollen Demonstrationszuges,der sich, gedruckte oder handgemalte Transparente schw<strong>in</strong>gend,durch die Straßen wälzt. E<strong>in</strong>e Kamera erfaßt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em kurzen Schwenk e<strong>in</strong>blondes Mädchen, das auf e<strong>in</strong>em Balkon im zweiten Stock e<strong>in</strong>e Fahneschw<strong>in</strong>gt und Bänder mit den Nationalfarben auf die vorbeiströmendeMenschenmenge h<strong>in</strong>unterflattern läßt.Ó Die Jugendlichen stürzen sichdarauf, wie K<strong>in</strong>der, die am Strand von e<strong>in</strong>em Flugzeug abgeworfeneBonbons aufsammeln. Lange Reihen von Straßenbahnen s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> dasfriedliche Gedränge e<strong>in</strong>gezwängt und können nicht weiterfahren.Die Menschen tragen ke<strong>in</strong>e Hüte, nur leichte Herbstmäntel, h<strong>in</strong> undwieder w<strong>in</strong>ken sie mit Flugblättern den Kameraleuten zu. Hier und dortwehen Fetzen der traditionellen Nationalhymne herüber, halbvergesseneLieder und Gesänge, die sie e<strong>in</strong>st <strong>in</strong> der Schule oder zu Hause gelernthaben. Sie s<strong>in</strong>gen die Petöfi-Hymne »Wir geloben, wir wollen nicht längerSklaven se<strong>in</strong>«.Die Nachrichten eilen ihnen per Telephon voraus; die Fenster s<strong>in</strong>dweit offen, und die Menschen drängen sich auf den Bürgersteigen,während überall Nationalfahnen auftauchen – absichtlich gefaltet oderverschlungen, um das kommunistische Emblem <strong>in</strong> der Mitte zu verbergen.Auch <strong>in</strong> der Innenstadt s<strong>in</strong>d die Bürgersteige überfüllt, alle wollen dasSchauspiel der vorbeiziehenden Studenten miterleben. Es ist wie e<strong>in</strong>eKonfettiparade auf der Fifth Avenue, nur ohne die irischen Polizisten, diedie Zuschauer h<strong>in</strong>ter den Polizeil<strong>in</strong>ien zurückhalten. Die älteren Leute273


haben oft Tränen <strong>in</strong> den Augen. Sie kämpfen gegen ihre Gefühle an undversuchen gleichzeitig, den Mut zu f<strong>in</strong>den, den Bordste<strong>in</strong> zu überschreiten– die Schwelle zwischen Zuschauern und Marschierenden. »Ich warOrdner«, er<strong>in</strong>nert sich e<strong>in</strong> zweiundzwanzigjähriger jüdischer Student,»aber ich konnte die Leute nicht von den Marschkolonnen zurückhalten.«An diesem Tag wird e<strong>in</strong>e ganze Stadt von den Bürgersteigen heruntertretenund mitmarschieren, ohne sich vertreiben zu lassen, gleichgültig,was auch immer kommen möge.ÔE<strong>in</strong>e Regenbö, e<strong>in</strong> herbstlicher Kälteausbruch hätte diese Menschenmassenvielleicht nach Hause getrieben. Dann wäre vielleicht überhauptnichts geschehen. Aber die Sonne sche<strong>in</strong>t, und alle s<strong>in</strong>d draußen – undmarschieren alle<strong>in</strong> mit ihren eigenen Gedanken.Noch spricht niemand davon, aber ke<strong>in</strong>er zweifelt. Sie haben e<strong>in</strong>enzwölfjährigen Alptraum h<strong>in</strong>ter sich, aber nun geht er zu Ende, diesesRegime und alles, was es bedeutete – die Schreie der Ehefrauen von dennahe gelegenen Folterzellen; die Law<strong>in</strong>en, die vom Abhang des Ste<strong>in</strong>bruchsvon Recsk rollen; die frasznapok der Verbannung; die Drogen<strong>in</strong>jektionen;die Halluz<strong>in</strong>ationen e<strong>in</strong>es schw<strong>in</strong>genden Löwenschwanzes;die aufgezwungenen russischen Sprachstunden, die Arbeitsnormen; diekurtavas; die Er<strong>in</strong>nerung: an Ärzte, die zu faul waren, um e<strong>in</strong>er Geburtbeizustehen; an Väter, die ihre K<strong>in</strong>der das Lügen <strong>in</strong> der Schule lehrten; andie Zigeunerbanden, die als Büttel <strong>in</strong> Bauernhäuser gesandt wurden; andie wie Ratten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er rasenden Tretmühle schuftenden Arbeiter; an dievergewaltigte Frau, die sich selbst mit Des<strong>in</strong>fektionsmitteln behandelte; andie »Leichenmühlen« der ÁVH; das endlose Schlangestehen umverdorbene Lebensmittel; das endlose Gedröhne der marxistischenSchlagworte; den Klassenkampf; den Koreakrieg; den Krieg gegen dieKulaken; alle die Stimmen, die aus der Vergangenheit hervortraten unddieses Regime und se<strong>in</strong>e verschlungenen Wege der sozialistischenGesetzlichkeit kennzeichneten: »Géza, tu der Gerechtigkeit Genüge!« –»Du stehst außerhalb unserer Klasse, Genosse!« – »Wir brauchen ke<strong>in</strong>eGnade!«Die Transparente werden feierlich zum Petöfi-Denkmal getragen. Sie274


s<strong>in</strong>d im Text noch vorsichtig gehalten. »Lang lebe die polnische Jugend«und »Für die Freiheit im S<strong>in</strong>ne der Freundschaft zwischen Bem undKossuth«. Anfangs rufen die Demonstranten nur die erlaubten Parolen wieJugoszlávok, lengyelek együtt megyünk veletek! [Jugoslawen und Polen,wir marschieren mit euch!] und Lenyelország példát mutat, követjük amagyar utat! [Polen gibt uns e<strong>in</strong> Beispiel, wir folgen auf unseremungarischen Weg!].ÁÊAber wenn solche Menschenmassen zusammenkommen, ist Diszipl<strong>in</strong>kaum möglich. Als Dipl.-Ing. Ferenc Reményi, siebenunddreißig, se<strong>in</strong>Büro <strong>in</strong> der Váci utca verläßt und stadte<strong>in</strong>wärts geht, ist die Rákóczi útschon so überfüllt, daß man kaum vorwärts kommt.ÁÁ E<strong>in</strong>e riesigeMenschenmenge schiebt sich unaufhaltsam auf das Donauufer zu. Diegemäßigteren Parolen wie »Hißt die Nationalfahne auf«, »Laßt die Soldatenaller Nationen nach Hause gehen« verschw<strong>in</strong>den, als ölbeschmierteArbeiter sich dem Zuge anschließen. Neben Reményi marschiert e<strong>in</strong>älterer Arbeiter, der den Mund mit se<strong>in</strong>em rußigen Handrücken abwischtund heiser bellt: »Los, Kumpel, laßt uns die Schurken zu Tode prügeln!«In der Andrássy út – noch mit dem Namensschild »Stal<strong>in</strong> utca« – wirde<strong>in</strong>e Limous<strong>in</strong>e im Gedränge an der Weiterfahrt geh<strong>in</strong>dert, und der Insassesteigt aus. »Das ist Tibor Molnár«, ruft e<strong>in</strong>e Stimme; e<strong>in</strong>e andere ertönt:»Tibor, komm mit uns!« Natürlich ist er geschmeichelt, aber er schütteltden Kopf: er muß <strong>in</strong>s Studio. Er versucht vergebens, sich zu er<strong>in</strong>nern, wieCharles Laughton als Caesar die Volksmenge ansprach.»Ihr Lieben«, entschuldigt er sich, »ke<strong>in</strong>e Zeit! Ich muß e<strong>in</strong>fach <strong>in</strong>sStudio!«Er wünscht, er könnte unter ihnen se<strong>in</strong> – er sieht viele alte Freunde wieJózsef Gáli, dessen Eltern <strong>in</strong> Auschwitz starben, an sich vorbeiziehen.»Los, Tibor«, ermutigt ihn die Menge, »de<strong>in</strong>e Kollegen Jenö Pataky,Ferenc Bessenyei und Imre S<strong>in</strong>kovits werden am Petöfi-Denkmal patriotischeGedichte rezitieren!«Molnár zuckt bedauernd die Achseln, aber die Zeit drängt. Er sitzt aufdem Schutzblech se<strong>in</strong>es Wagens und bittet: »Me<strong>in</strong>e Kollegen und dieTechniker erwarten mich.«275


Endlich lassen sie ihn durch. Aber nicht das Auto direkt h<strong>in</strong>ter ihm;aus diesem lugt György Marosán heraus, der erst vor vier Stundengefordert hatte, die Polizei solle das Feuer auf diese Menge eröffnen.Es ist nur e<strong>in</strong>e kurze und e<strong>in</strong>fache Zeremonie beim Petöfi-Denkmal amEskü tér.ÁË Nachdem die Menge die NationalhymneÁÈ gesungen hat, trägtder Schauspieler Imre S<strong>in</strong>kovits Petöfis Gedicht »Wacht auf, <strong>Ungarn</strong>« vor.Man hat den E<strong>in</strong>druck, als wolle er den Dichterhelden zum Lebenerwecken. Aber die Statue bleibt verste<strong>in</strong>ert, die Arme erhoben. DieStimme des Schauspielers ist kaum zu hören, da die Mikrophone nochnicht angestellt s<strong>in</strong>d. Kurz danach wird die Lautsprecheranlage des Petöfi-Kreises <strong>in</strong> Betrieb genommen und man hört die ersten Begrüßungsworte.Endlich schlägt e<strong>in</strong> Student vor, daß alle zum Bern-Denkmal marschierenund sich dort der Demonstration der TH anschließen sollen. Inzwischen istdie Menge auf ungefähr 5000 angewachsen. Als sie die Uferstraße aufdem Wege zur Margarethenbrücke erreicht, ist es ke<strong>in</strong> Schweigemarschmehr – neue, kühnere Parolen werden laut: Függetlenség [Unabhängigkeit]und Szabadság [Freiheit] und »In Pest-Buda ist die große Frage: Woist das ungarische Uran h<strong>in</strong>gekommen?!«Der bekannte britische Journalist Sefton Delmer ist Zeuge des Dramas,das sich beim Petöfi-Denkmal entwickelt.ÁÍ Freunde von »Radio FreeEurope« haben ihn frühzeitig <strong>in</strong>formiert, und er ist daraufh<strong>in</strong> am Sonntagnach Wien geflogen und erst gestern mit dem Wagen angekommen. Er hatgesehen, wie sich e<strong>in</strong> Trupp Studenten vom len<strong>in</strong>istisch-marxistischenInstitut, rote Fahnen schw<strong>in</strong>gend, durch e<strong>in</strong>e Seitenstraße nähert; siewerden von der allgeme<strong>in</strong>en Begeisterung der anderen angesteckt. Er isth<strong>in</strong>- und hergerissen. Der Journalist <strong>in</strong> ihm möchte dableiben, aber erdenkt an die Umbruchterm<strong>in</strong>e und eilt zurück zum Hotel Duna, um alserster se<strong>in</strong>en Bericht nach Fleet Street durchzutelephonieren. Nicht e<strong>in</strong>mal<strong>in</strong> Polen hat er e<strong>in</strong>e solche Massenhysterie erlebt.»Während ich diesen Bericht durchgebe«, ruft er <strong>in</strong> die Leitung nachLondon, e<strong>in</strong>e Hand über das andere Ohr haltend, »kann ich das Toben deraufgeregten Menge hören.« Er sagt voraus, daß Nagy bald wieder276


M<strong>in</strong>isterpräsident se<strong>in</strong> werde. Sefton Delmers Meldungen s<strong>in</strong>d diee<strong>in</strong>zigen, die aus Budapest h<strong>in</strong>ausgehen, bevor die Telephonverb<strong>in</strong>dungenabgeschnitten werden. Aber bis jetzt ist noch gar nicht viel geschehen.Währenddessen hat Nagys attraktive Tochter Bözske gerade e<strong>in</strong>Friseurgeschäft <strong>in</strong> der Andrássy út verlassen.ÁÎ Auf dem Wege dah<strong>in</strong> hattesie Flugblätter an Baumstämmen gesehen, auf denen zur Teilnahme ane<strong>in</strong>er Demonstration aufgefordert wurde. Als sie jetzt herauskommt, hatdie Demonstration den Körút erreicht, und es gibt offenbar ke<strong>in</strong>öffentliches Verkehrsmittel mehr.Das ist ärgerlich – sie wird zu Fuß nach Hause gehen müssen. Als siedie Margarethenbrücke erreicht, ist sie unfreiwillig e<strong>in</strong> Teil des riesigenschwankenden Gedränges geworden, das sich zum Bem-Denkmal ergießt.Aber bald trennt sich ihr eigener Weg gegen den Moskau tér h<strong>in</strong>, und sieversucht, von dort aus e<strong>in</strong>en Bus zu erreichen. Zu Hause <strong>in</strong> der Orsó útangelangt, will sie zuerst ihren Vater, der im Haus Nr. 41 wohnt,besuchen. Sie trifft ihre Eltern im Gespräch mit e<strong>in</strong>em Bekannten an, derWitwe von János Gyöngyösi, der 1944 während der Debrecen-RegierungAußenm<strong>in</strong>ister war. Sie fragt sich, warum das Telephon pausenloskl<strong>in</strong>gelt.Um 16.30 Uhr s<strong>in</strong>d es schon 20.000 Menschen, die sich am DenkmalGeneral Bems versammeln. Den Studenten der TH folgen Kolonnen vonStudenten der Universität und Tausende von Zuschauern und Arbeitern.Es s<strong>in</strong>d auch Angestellte und Fabrikarbeiter darunter, die soeben von derFrühschicht kommen.ÁÏ Und viele Soldaten e<strong>in</strong>schließlich 800 Studentenund Lehrer der Petöfi-, ehemals »Stal<strong>in</strong>«-Militärakademie treffen amBem-Denkmal e<strong>in</strong>. In dem Meer von Gesichtern s<strong>in</strong>d Hunderte der unversöhnlichstenFe<strong>in</strong>de des Regimes, die früheren Internierten sowie derStudentenführer Pál JónásÁÌ; man sieht Nagys Freunde wie Vásárhelyi undLosonczy; und es s<strong>in</strong>d Mitglieder der britischen und amerikanischenGesandtschaft unter ihnen, die die Ereignisse beobachten sollen. DieMenschenmassen füllen auch die benachbarten Straßen und die Donaubrücken.Der neunundvierzigjährige Botaniker István Szabados sieht von e<strong>in</strong>em277


Fenster aus auf den Platz.ÁÓ Der ganze Haß auf die Marxisten steigt <strong>in</strong> ihmhoch. Er denkt an Professor Potapov, Moskaus »Berater« an derUniversität, der ihm se<strong>in</strong> Lebenswerk über die Wasserbewegung imBoden <strong>in</strong>nerhalb vierundzwanzig Stunden ungelesen zurückgegeben hat.Er denkt an die abstoßende Frau dort oben, Mihály Farkas’ »Sekretär<strong>in</strong>«und Geliebte, die drei Leute des Büros an die ÁVH verraten hat. Als se<strong>in</strong>eFrau e<strong>in</strong>e Fahne am Fenster entfaltet, denkt der Professor auch an die Artund Weise, wie sie se<strong>in</strong>en alten Freund, Professor Kovavic, behandelthaben: Der Botaniker, Gew<strong>in</strong>ner des Kossuth-Preises, war gezwungenworden, die Forschungsarbeit über die »Koksagys«-Gummipflanze – e<strong>in</strong>erussische Art Löwenzahn – dort wiederaufzunehmen, wo He<strong>in</strong>richHimmler aufgehört hatte. Kovavic entdeckte, daß die kreuzweiseBefruchtung der Pflanze stets den Gummigehalt vernichtete, und wurdedeshalb wegen »Wirtschaftssabotage« <strong>in</strong>s Gefängnis geworfen; se<strong>in</strong>eArbeit war erst vor kurzer Zeit als richtig erkannt und er selbstrehabilitiert worden. Professor Szabados reicht se<strong>in</strong>er Frau die Schere, dieer zum Brieföffnen benutzt. »Diese Fahne!« sagt er, »schneide dasRákosi-Emblem heraus!«Man braucht nicht nur bei den Ereignissen am Bem-Denkmal zuverweilen: Wichtig ist nicht, daß die vierzehn Punkte vorgetragen werden,als sei dies schon e<strong>in</strong> Akt der Verhöhnung der Diktatur, oder daß FerencBessenyei – e<strong>in</strong> bekannter Schauspieler des Nationaltheaters – die Petöfi-Nationalhymne »<strong>Ungarn</strong>, erwacht!« rezitiert. Die meisten können dieSprecher sowieso weder hören noch sehen.ÁÔ Worauf es ankommt, ist, daße<strong>in</strong>e Menschenmenge von 50.000 Bürgern sich unabhängig von denWünschen des Regimes zum erstenmal zusammengefunden hat.Rodriguez hat vier Wochenschau-Kameraleute e<strong>in</strong>gesetzt. Auf ihrenFilmen sieht man den stämmigen Bauernführer Péter Veres, mit ledernenReitstiefeln und e<strong>in</strong>em wallenden, grauen Schnurrbart im Maxim-Gorki-Stil, wie er auf e<strong>in</strong>en Lautsprecherwagen klettert, sich <strong>in</strong> die Brustwirftund die sieben Punkte der Schriftsteller verkündet.ËÊ Die riesigen rundenLautsprecher dröhnen, aber se<strong>in</strong>e Worte s<strong>in</strong>d für diese Riesenmenge nure<strong>in</strong> Flüstern.278


Zugegeben, diese sieben Punkte s<strong>in</strong>d mutiger als diejenigen des Petöfi-Kreises, aber auch sie verkünden s<strong>in</strong>nlose Parolen wie »Ausdehnung dersozialistischen Demokratie« nach »len<strong>in</strong>istischen Pr<strong>in</strong>zipien«. Ist diesnicht genau die doktr<strong>in</strong>äre Falle, die die ungeduldige Menge zum Protestgebracht hat? Veres vergißt sogar die wichtige Forderung, daß diesowjetischen Truppen aus <strong>Ungarn</strong> verschw<strong>in</strong>den müßten. Die amerikanischenBeobachter werden die Rede Veres’ als die »e<strong>in</strong>zige dämpfendeNote« der Demonstration bezeichnen.ËÁ Wie dem auch sei, sogar Veresverlangt freie Wahlen und Imre Nagys Rückkehr zur Macht.Zahllose Nationalfahnen ersche<strong>in</strong>en plötzlich <strong>in</strong> vielen Fenstern,e<strong>in</strong>schließlich im nahe gelegenen Außenm<strong>in</strong>isterium und <strong>in</strong> der Bem-Kaserne. Der Dritte Sekretär der britischen Gesandtschaft, Mark Russell,berichtet, daß e<strong>in</strong>e Menge begonnen hat, die Bem-Kaserne zu belagernund zu den Soldaten h<strong>in</strong>aufzurufen: Gyertek ti is velünk! [Kommt mituns!]ËË Aber die Soldaten waren von den Parteifunktionären <strong>in</strong> das obersteStockwerk der Kaserne geschickt und dort e<strong>in</strong>geschlossen worden. Ihreaufgeregten Gesichter sehen aus allen Fenstern, und sie jubeln den MassenMut zu.E<strong>in</strong>e Fahne mit dem Wappen des alten Lájos Kossuth wird <strong>in</strong> GeneralBems Schwertschnalle gesteckt – und damit sche<strong>in</strong>t das Geschehen andieser Stelle zu Ende zu se<strong>in</strong>. Jemand erklärt, daß die Resolutionennunmehr an Hegedüs und Gerö weitergeleitet würden. Aber falls dieDemonstrationsleiter, falls Nagys Gefolgsleute annehmen, daß die Mengenun nach Hause gehen würde, haben sie sich verrechnet. Wie Pál Jónásspäter feststellt, erkennen der Petöfi-Kreis und die Studentenführer jetzt,daß sie die Kontrolle über die Massen verloren haben. Vásárhelyi hört denAufschrei »Laßt uns jetzt alle zum Parlament ziehen!«Um 18 Uhr liegt der Bem tér e<strong>in</strong>sam und verlassen da. Inzwischendämmert den Parteispitzen die Gefahr. Schon am Vormittag hatte derBudapester Bezirk die Sekretäre der zweiundzwanzig Distrikte zu e<strong>in</strong>erKonferenz <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e häßliche Zentrale gegenüber dem Republik tér beordert.ËÈNach kurzer Diskussion werden sie angewiesen, die Kommunistender alten Garde zu mobilisieren und an alle vertrauenswürdigen279


Werktätigen Waffen auszugeben.Die Führer des Bezirks waren zur Zentrale <strong>in</strong> die Akadémia utcaabgerufen worden, und e<strong>in</strong> führendes Mitglied des Exekutivausschusses,János Kovács, übernimmt hier die Leitung. Es s<strong>in</strong>d nur drei Unteroffiziereder regulären Polizei am Hauptportal, doch der Platz liegt e<strong>in</strong>sam undverlassen da. Nachrichten über gewaltige Menschenansammlungen ananderer Stelle und über Zusammenstöße vor dem Rundfunkgebäudedr<strong>in</strong>gen zu ihnen. Hektische Vorbereitungen s<strong>in</strong>d im Gange, um dieParteizentrale zu verteidigen. ÁVH-Dienststellen werden telephonisch umVerstärkung gebeten, und der im ersten Stock bef<strong>in</strong>dliche Konferenzsaalwird für diese zu erwartenden Polizeikräfte geräumt.Gegen 18 Uhr ist der stellvertretende Chef des Bezirks, Imre Mezö,aus der Akadémia utca zurück. Zwei Lastwagen halten neben dem Erkel-Theater, und zwei ÁVH-Züge unter dem Kommando von OberleutnantIstván Tompa treffen im Parteigebäude e<strong>in</strong> – sechs Gruppenführer mitMasch<strong>in</strong>enpistolen und vierzig mit Gewehren ausgerüstete Soldaten imAlter von zwanzig bis dreiundzwanzig Jahren.Tompa meldet sich zusammen mit se<strong>in</strong>em Vertreter, Leutnant GyörgyVárkonyi, bei Imre Mezö und der Bezirkssekretär<strong>in</strong> Frau Maria Nagy.Fast zwei Stunden lang gehen sie durch das ganze Gebäude. Es gibtoffensichtlich taktische Probleme, wenn es zum Äußersten kommen sollte:das Gebäude liegt mit der H<strong>in</strong>terseite zwischen der breiten Rákóczi út unddem offenen, baumbestandenen Platz nach vorne h<strong>in</strong>aus; e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>genkann möglicherweise von den Wohnungsblocks aus auf jeder Seite derLuther utca und der Kenyérmezö utca erzwungen werden.Várkonyi postiert Teile der ÁVH-Wachmannschaft am E<strong>in</strong>gang, imersten und vierten Stockwerk, an der Haupttreppe und im Eßsaal, von woaus man den Platz übersieht.Es ist noch taghell. Die Aufregungen des Tages s<strong>in</strong>d noch nichtvorüber, die Massen beg<strong>in</strong>nen die Kossuth- und Margarethenbrücke zuüberfluten und haben das Parlament als Ziel. Sie haben jetzt neue Parolen:Le a Sztal<strong>in</strong> szoborral! [Nieder mit dem Stal<strong>in</strong>-Denkmal!] und Törvény eléRákosi!ËÍ [Stellt Rákosi vor Gericht!] und Szovjet sereg menjen haza?280


Sztal<strong>in</strong> szobrát vigye haza! [Sowjetarmee, geh nach Hause und nimm dasStal<strong>in</strong>-Denkmal mit!] und Vesszen Gerö! [Verschw<strong>in</strong>de, Gerö!] und Forróvizet a kopaszra Rákosi! [Gießt kochendes Wasser über den Kahlkopf!]und Magyar kormányt akarunk, Nagy Imrére szavazunk! [Wir wollen e<strong>in</strong>eungarische Regierung, wählt Imre Nagy!] Als die Dunkelheit here<strong>in</strong>bricht,halten draußen e<strong>in</strong>ige Demonstranten Bilder von Imre Nagy <strong>in</strong> die Höhe.Aber es ist der legendäre Imre Nagy – Nagy, der Furchtlose –, den siewollen. Und der Nagy, der sich niedergelegt hat <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Villa undfröhlich mit der Witwe e<strong>in</strong>es Außenm<strong>in</strong>isters Tee tr<strong>in</strong>kt, ist noch derältliche, bummelnde Theoretiker, der weiche Pedant, der diszipl<strong>in</strong>ierte undloyale Parteimann, der schon früher versucht hat, das Los dieses Landesals sowjetischer Satellit zu erleichtern. Wird er diesmal erfolgreicher se<strong>in</strong>?Die restlichen Geschäfte und Büros s<strong>in</strong>d <strong>in</strong>zwischen geschlossen.50.000 Menschen stehen gedrängt auf dem Platz, der sich unterhalb desschwarz-grauen Parlamentsgebäudes erstreckt. Straßenbahnen stehen <strong>in</strong>Reihen h<strong>in</strong>tere<strong>in</strong>ander, führerlos und leer. Auch die anderen öffentlichenVerkehrsmittel s<strong>in</strong>d zum Stillstand gekommen. E<strong>in</strong>e aufgeregte jungeLaborassistent<strong>in</strong>, die überlegt, wie sie nach Hause kommen kann, siehte<strong>in</strong>en ihrer Freunde, die Be<strong>in</strong>e über die Klappe e<strong>in</strong>es Lastwagensbaumelnd, den Szent István körút h<strong>in</strong>unterfahren – es ist e<strong>in</strong>er vonRodriguez’ Wochenschau-Kameraleuten. Sie wölbt ihre Hände über e<strong>in</strong>Megaphon: »Was ist los?«»E<strong>in</strong>e Revolution«, schreit er zurück, »e<strong>in</strong>e Revolution, FrauMaléter!«Und Maria Maléter, die ehemalige Frau e<strong>in</strong>es Armeeobersten, den sievor drei Jahren dank dieses Regimes verloren hat, nimmt sich schließlichvor, über die Kettenbrücke dem Menschenstrom entgegen nach Hause zugehen.ËÎFür den Kommunismus <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> ist die Katastrophe unmerklichbereits da. Die Menschen haben erkannt, daß das, was die Soziologen»zwischenmenschliche Beziehungen« nennen, wieder möglich gewordenist.ËÏ Sie haben sich öffentlich versammelt, spontan mite<strong>in</strong>andergesprochen, aufe<strong>in</strong>ander e<strong>in</strong>gewirkt, zusammen gelacht und s<strong>in</strong>d Seite an281


Seite marschiert.»Dies war die erste Demonstration, an der ich freiwillig teilgenommenhabe«, wird e<strong>in</strong> Sechzehnjähriger erklären. Sie haben viele Fremde nebensich marschieren gesehen, aber auch Nachbarn und Arbeitskollegen,Gesichter, die sie kannten, denen sie aber niemals richtig trauten. Jetzt iste<strong>in</strong>e Geme<strong>in</strong>samkeit des Willens da, e<strong>in</strong>e unhörbare, freudige Stimmung.Während sie marschieren, sprechen sie mite<strong>in</strong>ander, sie werden wieBrüder. Sie marschieren gar nicht für Polen, sondern um ihrer eigenenSache willen, für das Recht, frei zu se<strong>in</strong>, sich nach eigenen Wünschenzusammenzuschließen, eigene Gedanken zu denken und die Prosa undPoesie freier Männer und Frauen zu schreiben. Wehe dem Mann, der jetztdie Hand gegen sie erhebt!Diese unkontrollierbare, kochende Menge ist dabei, e<strong>in</strong>e eigene Machtauszustrahlen. 20.000, 50.000, 70.000: noch ist die »kritische Masse«nicht erreicht, noch hat die betäubende Explosion nicht stattgefunden.Niemand weiß genau, wann dieser Punkt erreicht ist. »Wir haben ke<strong>in</strong>ekonkreten Pläne, wir haben ke<strong>in</strong>e konkrete Führung«, so beschreibt e<strong>in</strong>erder Demonstranten diesen Augenblick.ËÌ »In jeder kle<strong>in</strong>en Gruppe sche<strong>in</strong>tder Mann mit der lautesten Stimme der Führer der Bewegung zu se<strong>in</strong>. Wirbewegen uns vorwärts. E<strong>in</strong>es wissen wir – wir können nicht nach Hausegehen. Etwas muß hier geschehen. Wir wissen nicht, was, aber nachHause gehen können wir nicht mehr!«282


23Nagy riecht LunteHOCH ÜBER DEM Fluß auf dem Jánoshegy <strong>in</strong> der ägyptischen Botschaftwird e<strong>in</strong> spätes Mittagessen durch e<strong>in</strong>en Lärm unterbrochen, der von denUferanlagen heraufdr<strong>in</strong>gt. Es kl<strong>in</strong>gt wie das tausendfache Schlurfen e<strong>in</strong>erriesigen Menschenmenge. Die Diplomaten blicken ihren Gastgeberfragend an. Er faltet se<strong>in</strong>e Serviette zusammen und führt sie auf den Rasenh<strong>in</strong>aus, um zu sehen, was vor sich geht. E<strong>in</strong> erstaunliches Schauspiel:Zwei Brücken, die die Donau überqueren, werden von gewaltigendrängenden Menschenmassen blockiert, die am Parlamentplatzzusammenstoßen.Fabrizio Franco, der gewandte italienische Botschafter, spricht für siealle: »Noch nie habe ich so viele Menschen auf e<strong>in</strong>mal gesehen, jedenfallsbestimmt nicht <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong>!«ÁTausende drängen zur Kossuth-Brücke, der Behelfsbrücke, die nach1945 neben dem Parlament über die Donau geschlagen wurde. Währendsie die Fö utca h<strong>in</strong>untermarschieren, nimmt Géza Losonczy MiklósVásárhelyi beim Arm und deutet vielsagend mit dem Kopf auf denste<strong>in</strong>ernen Gefängnisbau, wo sie beide unter monatelangen Folterungene<strong>in</strong>gekerkert waren.Ë Beide werden diese Zellen wiedersehen.E<strong>in</strong> weiterer Teil der nicht endenwollenden Menge nimmt den Wegüber die Margarethenbrücke; <strong>in</strong> der Wochenschau sieht man später, wiedie langsam marschierenden Demonstranten, fünfundzwanzig <strong>in</strong> e<strong>in</strong>erReihe, nicht mehr e<strong>in</strong>gehängt gehen. Mitarbeiter der Partei teilen Bündelvon Flugblättern aus, die die Demonstranten auffordern, Ruhe zubewahren und um 20 Uhr Gerös Rundfunkrede anzuhören, aber niemand283


liest diese Blätter. Die ursprünglich gedruckten Plakate wurden fortgeworfen– diese Menschen wollen mehr als die abgedroschenen Phrasenüber die ungarisch-polnische Freundschaft. Nur e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziges fünf Meterbreites Transparent ist noch sichtbar, es wird von kommunistischenOrganisatoren des Marsches getragen, die den Stimmungswechsel der100.000 h<strong>in</strong>ter sich noch nicht bemerkt haben.Der restliche Verkehr ist e<strong>in</strong>gekeilt <strong>in</strong> die zähfließende Flut. In e<strong>in</strong>erschwarzen, russischen Limous<strong>in</strong>e sitzt der sowjetische Botschafter undmacht sich an den Vorhängen zu schaffen, se<strong>in</strong> silberweißes Haar istzurückgekämmt über be<strong>in</strong>ahe fem<strong>in</strong><strong>in</strong> anmutenden Gesichtszügen.È Mitschlecht verhehlter Wut blickt er h<strong>in</strong>ter se<strong>in</strong>er randlosen Brille hervor. DieMenge hat se<strong>in</strong>en Stander erkannt und ruft antisowjetische Parolen:»Nieder mit der Stal<strong>in</strong>-Statue!«, »Sowjetische Truppen, geht nach Hauseund nehmt die Stal<strong>in</strong>-Statue mit!« Polizeioberst Kopácsi tritt vor, salutiertund hilft der Limous<strong>in</strong>e zu entkommen.Auch auf der Brücke kommt der Verkehr zum Stillstand. Der fünfundzwanzigJahre alte Busfahrer Zoltán Szabó f<strong>in</strong>det sich damit ab, se<strong>in</strong>Depot <strong>in</strong> der Pasaréti utca erst später zu erreichen.Í In den Augen derPartei ist er e<strong>in</strong> Kulak; er durfte die Universität nicht besuchen, so wieTausende der an se<strong>in</strong>em Bus vorbeimarschierenden Studenten; anstelledes Militärdienstes wurde er <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Arbeitsbataillon e<strong>in</strong>gezogen. Er plantübrigens, zusammen mit zwei Kollegen, ebenfalls Busfahrern, dem BaronGábor Josika und József Sándor, <strong>Ungarn</strong> am kommenden Samstag zuverlassen. Aber augenblicklich sitzt er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Bus, L<strong>in</strong>ie 39, fest undsieht den Menschenstrom an sich vorbeiströmen. Erst um 18.30 Uhrabends wird se<strong>in</strong> Bus <strong>in</strong>s Depot zurückkehren, und bei der nächsten Fahrtstadte<strong>in</strong>wärts wird die Brücke immer noch blockiert und unpassierbarse<strong>in</strong>.Als die Marschierenden die Margarethenbrücke mit ihremernüchternden Blick auf das Parlament zur Rechten überqueren,verstummen die Sprechchöre allmählich. Kle<strong>in</strong>e Gruppen versuchen, siewieder anzustimmen, werden aber von den anderen zum Schweigengebracht. »Die Stimmung«, sagt e<strong>in</strong> Architekturstudent später, »war noch284


voll ängstlicher Erwartung. Es war zu spät, sich jetzt noch zu fürchten.«ÎAls sie am Verlag des Roten Stern vorbeikommen, wirft jemand denDruckern, die am Fenster lehnen, e<strong>in</strong>en Handzettel mit den sechzehnForderungen der Studenten h<strong>in</strong>auf. »Dies ist unser letztes Exemplar.«Zehn M<strong>in</strong>uten später werden Bündel von Flugblättern, noch feucht vonDruckerschwärze, herabgeworfen. Die triumphierende Menge trägt siezum Kossuth tér.ÏE<strong>in</strong>ige Leute verschw<strong>in</strong>den, sie haben das Gefühl, genug gesehen zuhaben. Andere haben e<strong>in</strong> Zuhause oder Eltern, woh<strong>in</strong> sie gehen können.Es ist 18 Uhr, als e<strong>in</strong> Student nach Hause kommt und se<strong>in</strong>en Eltern <strong>in</strong> Pesterzählt, er habe an e<strong>in</strong>er richtigen Demonstration teilgenommen.Ì Erberichtet: »Ich hatte das Gefühl, Augenzeuge e<strong>in</strong>es historischen Augenblicks<strong>in</strong> der Geschichte <strong>Ungarn</strong>s gewesen zu se<strong>in</strong>. Ich war begeistert.« Andiesem Abend stellt er beiläufig »Radio Free Europe« e<strong>in</strong>, doch ist derMünchner Nachrichtendienst weit h<strong>in</strong>ter den Ereignissen zurück. Se<strong>in</strong>Vater ist verzagt: »Glaubst du, die Russen schauen bei alledem bloß zu?«200.000 Menschen starren auf die trostlose Fassade des Parlamentsgebäudesauf dem Kossuth tér. Professor Domokos Kosáry, der zusammenmit se<strong>in</strong>en Universitätskollegen vom Bem-Denkmal herübergekommenist, sagt, der Platz sei »schwarz von Menschen« gewesen. Im Gedrängewird er von se<strong>in</strong>en Freunden getrennt.Die Menge ufert aus über die Gehsteige und den Rasen und wird biszu den Sockeln der Denkmäler gedrängt. Niemand weiß, was im nächstenAugenblick geschehen wird. Die Fenster des Gebäudes s<strong>in</strong>d leer undverdunkelt, die Türen zu den Sälen verschlossen. Die über den Platzverteilten Lautsprecher bleiben stumm. Wie gelähmt wartet die Menge.Als das Tageslicht der Dämmerung weicht, beg<strong>in</strong>nt der Gesangwieder.E<strong>in</strong>ige haben düstere Vorahnungen und fürchten sich vor dem, waskommen wird. Im Gebäude des Parteiorgans Freies Volk hat der unpopulärestellvertretende Chefredakteur Oscar Bethlen se<strong>in</strong>en Schreibtischaufgeräumt und se<strong>in</strong>en engeren Freunden geraten, das Haus zu verlassen,285


solange dies noch möglich ist.Ó Verspätet werden unauffällige Sicherheitsmaßnahmenfür die Regierungs- und Parteigebäude ergriffen. An denSchlüsselpunkten treffen zu zweit und viert ÁVH-Verstärkungen e<strong>in</strong>. E<strong>in</strong>ÁVH-Major mit e<strong>in</strong>er ganzen Kompanie Sicherheitspolizei ersche<strong>in</strong>t imFunkhaus.Ô Bald gehen Berichte über sich nähernde Demonstranten e<strong>in</strong>.Um 18 Uhr ist die schmale Straße so voll, daß niemand mehr <strong>in</strong> dasGebäude gelangen kann.Auch das Verteidigungsm<strong>in</strong>isterium ergreift Vorsichtsmaßnahmen, umzu verh<strong>in</strong>dern, daß Waffen <strong>in</strong> falsche Hände geraten. Depots werdendoppelt verriegelt, Munitionskisten weggepackt. Von se<strong>in</strong>em Büro <strong>in</strong> derUri utca auf dem Burgberg läßt sich Oberst Pál Maléter mit der György-Kilian-Kaserne verb<strong>in</strong>den. Seit dem Sommer s<strong>in</strong>d zwei Arbeitsbataillonese<strong>in</strong>er technischen Hilfstruppe zusammen mit mehreren hundert wohnungslosenArbeitern <strong>in</strong> diesem massiven Gebäude an der Ecke Üllöi útund Körút e<strong>in</strong>quartiert.ÁÊ Maléter ist der Kommandeur dieser Mannschaft,die lediglich als Arbeitskräftereservoir für Kohlebergwerke oderBauprojekte gebraucht wird. Die Männer bekommen Waffen nur zurErfüllung ihrer Wachpflichten und erhalten kaum militärische Ausbildung.Trotzdem telephoniert Maléter gegen 18 Uhr mit dem Kommandeur derKilian-Kaserne, Hauptmann Lajos Csiba, und veranlaßt, daß alle Waffene<strong>in</strong>gesammelt und weggeschlossen werden.Die Menge ist immer noch auf dem Kossuth tér versammelt. Jetztrufen sie Imre Nagys Namen. Die Funktionäre s<strong>in</strong>d machtlos, es gel<strong>in</strong>gtihnen nicht, die Menschenmassen zu zerstreuen. Der Platz ist plötzlich <strong>in</strong>Dunkelheit gehüllt, die Straßenbeleuchtung ist von unbekannter Handausgeschaltet worden.ÁÁ Jemand rollt e<strong>in</strong>e Zeitung zusammen und zündetsie an. Immer mehr solcher Fackeln leuchten auf, es prasselt wie e<strong>in</strong> sichausbreitendes sommerliches Grasfeuer. In dieser Beleuchtung sieht dasGebäude wie e<strong>in</strong> belagertes mittelalterliches Schloß aus.»Es war e<strong>in</strong> unvergeßlicher, herrlicher Anblick», sagte e<strong>in</strong> angehenderKonzertpianist. »Man verspürte e<strong>in</strong>e Art ›kosmischen Schauers‹, manwußte genau, daß hier Geschichte gemacht wurde, gleichzeitig war es e<strong>in</strong>künstlerisch prachtvolles Bild.«ÁË286


»Imre Nagy, zeige dich«, tönt es aus der Menge. Der betäubende Lärmläßt die Fenster rund um den Platz erzittern. Aber selbst wenn Nagy jetzt<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Purpurmantel über den Platz fliegen und sich wie e<strong>in</strong>eFledermaus auf dem Hauptbalkon niederlassen würde, könnte er kaumetwas sagen oder tun, was den Rachedurst dieser Menschen gegenüberihren verachteten Unterdrückern stillen könnte; h<strong>in</strong>ter diesen Mauernliegen diese Unterdrücker auf der Lauer.Der Rote Stern, der 100 m hoch über dem Platz hängt, wird plötzlichgrell beleuchtet. Die Volksmenge brüllt e<strong>in</strong>mütig: »Nieder mit dem RorenStern!« Kurz danach geht das Licht wieder aus. E<strong>in</strong> weiterer kle<strong>in</strong>er Sieg.Nun beg<strong>in</strong>nt die Masse, neue Parolen zu rufen: »Die Regierung mußabdanken!« und »Wir wollen Imre Nagy hören!« E<strong>in</strong>e aufrüttelnde Redeihres Helden, und diese Menschen würden Nagy bis ans Ende der Weltfolgen.ÁÈE<strong>in</strong>e Stunde vergeht – vielleicht mehr. Péter Veres, Tibor Déry, GézaLosonczy, Miklós Vásárhelyi – sie alle gleichen verstreuten Molekülen <strong>in</strong>diesem Gärungsprozeß. Ernö Pongrácz, e<strong>in</strong> junger Arbeiter, der vonse<strong>in</strong>em Arbeitsplatz zum tér herbeigeeilt ist, fragt Péter Veres ungeduldig:»Warum geht ke<strong>in</strong>er h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> und verlangt, daß etwas geschieht?«ÁÍVeres nickt gewichtig. »Gute Idee. Versuch es. Und wenn du jemandf<strong>in</strong>dest, mit dem wir reden können komm zurück und sag es uns!«Der junge Mann klopft an das Hauptportal, bis jemand öffnet. E<strong>in</strong>Bediensteter – István Kristóf, Sekretär des M<strong>in</strong>isterrats – fragt schroff,was er wolle. Der junge Mann erwidert, er möchte M<strong>in</strong>isterpräsidentHegedüs sprechen.»Er ist nicht da«, lautet die Antwort, »aber Ferenc Erdei ist vielleichtbereit, zwei von Ihnen zu empfangen.«Er dreht sich um, und Pongrácz und e<strong>in</strong> Student folgen ihm. Pongráczschlägt Erdei vor, die neue Flagge mit dem fehlenden kommunistischenEmblem draußen vor dem Gebäude aufzuziehen. Erdei ist e<strong>in</strong>verstanden.Er ist auch bereit, die Lichter im Inneren anzuknipsen, um der Menge zuzeigen, daß das Gebäude besetzt ist – wieder zwei kle<strong>in</strong>e Zeichen desEntgegenkommens.287


Mittlerweile ist die Abendausgabe der Parteizeitung Esti Budapesterschienen. Sie verschweigt die wichtigsten Forderungen: den Abzug derRussen, die Entfernung des Stal<strong>in</strong>-Denkmals und e<strong>in</strong>en Stopp derUranlieferungen an die UdSSR. Mehrere Studenten, die genug davonhaben, ständig getäuscht zu werden, beschließen, die vollständige Listezum Funkhaus zu br<strong>in</strong>gen, um deren Veröffentlichung durchzusetzen.ÁÎDie allgeme<strong>in</strong>e Aufregung steckt an. Um 18 Uhr drängen sich riesigeMenschenmassen durch die Hauptstraßen und die Rákóczi út. GanzeReihen von führerlosen und verlassenen Straßenbahnen stehen dichth<strong>in</strong>tere<strong>in</strong>ander am Len<strong>in</strong> körút. Der Busfahrer Zoltán Szabó, der endlichim Depot an der Pasaréti út angelangt ist, hat den Wagen voller Studenten,die nicht aussteigen wollen. Die Studenten streiten mit dem Schaffner undbestehen darauf, daß jeder verfügbare Bus zur Beförderung vonDemonstranten stadte<strong>in</strong>wärts verwendet wird. Die Parteifunktionäre derDepots s<strong>in</strong>d damit nicht e<strong>in</strong>verstanden, doch während sie nochdiskutieren, hört man das Tuckern von Dieselmotoren; die Busse setzensich <strong>in</strong> Bewegung, mit Studenten am Steuer. Szabó folgt dem Konvoi, dieanderen Fahrer, ebenfalls ke<strong>in</strong>e Regimefreunde, kommen nach. E<strong>in</strong>Student spr<strong>in</strong>gt auf: »Los, zum Funkhaus!«Die Menge vor dem Parlament ruft immer noch nach Imre Nagy. Manwill, daß er zu ihr spricht. Der Journalist Péter Erdös beschließt ebenfalls,zum Funkhaus zu fahren, um e<strong>in</strong>en Lautsprecherwagen zu holen. Er bittetden Fahrer e<strong>in</strong>es kle<strong>in</strong>en Lieferwagens, ihn dah<strong>in</strong> zu br<strong>in</strong>gen. Der Fahrersagt sofort: »Natürlich.« Es ist bezeichnend für die allgeme<strong>in</strong>e Stimmung,daß der Fahrer überhaupt nicht fragt, wer der andere ist und warum er zumFunkhaus will. Erdös bietet ihm e<strong>in</strong> Tr<strong>in</strong>kgeld an, aber der Mann weigertsich, es anzunehmen. Das Ganze ist irgendwie seltsam, unwirklich undtraumgleich. In der Bródy utca haben sich schon e<strong>in</strong>e Menge junger Leuteversammelt, die offensichtlich von dem ungewohnten Anblick derwogenden Menschenmenge und der Sicherheitspolizei angezogen wurden.Noch s<strong>in</strong>d die Tore des Funkhauses offen, und man läßt Erdös h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>.Mitten <strong>in</strong> der Stadt, im Parlamentsgebäude, stehen verstummte288


Bedienstete verängstigt zusammen und horchen auf das Grölen derVolksmenge draußen. Ernö Pongrácz, der junge Arbeiter, hat vorgeschlagen,Imre Nagy anzurufen. Ferenc Erdei ist e<strong>in</strong>verstanden, dochdauert es e<strong>in</strong>ige Zeit, bis er die Nummer gefunden hat.»Hier ist Erdei«, entschuldigt sich der M<strong>in</strong>ister. »Ich b<strong>in</strong> unten imParlament, Onkel Imre; das Gebäude ist von Demonstranten belagert. Siewollen Sie hören!«Er schneidet e<strong>in</strong>e Grimasse. Aus Erdeis Gesichtausdruck kann manschließen, daß Nagy nicht zum Reden zu bewegen ist. Nagy hat nicht dieAbsicht, gerade jetzt se<strong>in</strong>en Kopf h<strong>in</strong>zuhalten.Die anfänglich euphorische Stimmung der Massen erschöpft sichrasch. Der stellvertretende M<strong>in</strong>isterpräsident József Mekis und FerencErdei versuchen, vom Balkon aus zur Menge zu sprechen. Ihre Wortegehen <strong>in</strong> Pfiffen und johlen unter. Pongrácz versucht es selbst, aber ihmgeht es auch nicht besser.E<strong>in</strong> Teil der Menge ruft jetzt: »Laßt uns alle zum Funkhaus gehen!«ÁÏDas sche<strong>in</strong>t e<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n zu haben – Gerös Rundfunkrede wird baldbeg<strong>in</strong>nen, vielleicht bef<strong>in</strong>det sich der Parteiführer <strong>in</strong>nerhalb des Gebäudes.Solche langen Wartezeiten s<strong>in</strong>d während e<strong>in</strong>er Revolution verhängnisvoll.Die flüssige Masse Mensch unterliegt kaum merkbaren Veränderungen.Aber gerade aus e<strong>in</strong>em derartigen Schmelztiegel entsteht e<strong>in</strong>Volksaufstand. Dr. Paul Z<strong>in</strong>ner, Autor e<strong>in</strong>es Standardwerks National-Kommunismus und Volksrebellion nannte es verblüffend und fasz<strong>in</strong>ierend,daß es überhaupt zu e<strong>in</strong>em Volksaufstand gekommen ist. Er schrieb: »Eserschütterte e<strong>in</strong>en alten Mythos, wonach Revolutionen <strong>in</strong> totalitärenSystemen unmöglich seien.« Wie kann e<strong>in</strong> wehrloses Volk aufstehen unde<strong>in</strong>e herrschende Schicht stürzen, die gerade gegen diese Gefahrgewappnet ist und alle Druckmittel <strong>in</strong> Händen hält? Was an diesem Abendgeschieht, ist bestimmt nicht geplant, sondern völlig unvorbereitetentstanden. Und doch kommt es nicht von ungefähr.Es ist e<strong>in</strong>e beherrschte Menge. Weniger als e<strong>in</strong> Viertel davon s<strong>in</strong>dStudenten. Frauen s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> der Uberzahl, die älteren unter ihnen fallen289


durch besonders heftige anti-russische Äußerungen auf. Der hochbezahlteDiplom<strong>in</strong>genieur Reményi steht neben Frauen, die mit e<strong>in</strong>er Rente vonrund 260 For<strong>in</strong>t leben müssen.ÁÌ Er spürt, daß hier Ungewöhnlichesbevorsteht, und ruft se<strong>in</strong>e Frau an, daß auch sie h<strong>in</strong>kommen solle. »Es istZeit für die K<strong>in</strong>der, zu Bett zu gehen«, sagt sie vorwurfsvoll, »komm dulieber nach Hause.« Ihre Stimme ist besorgt, und er kommt ihrer Bittenach.In Imre Nagys Villa steht das Telephon kaum still. Außerdem tauchene<strong>in</strong>e Menge Besucher auf – se<strong>in</strong>e Tochter er<strong>in</strong>nert sich noch an Losonczyund Haraszti und an Leute, die ihren Vater ständig telephonischauffordern, <strong>in</strong>s Parlament h<strong>in</strong>unterzukommen. »Me<strong>in</strong> Vater wollte nichth<strong>in</strong>e<strong>in</strong>gezogen werden«, berichtet sie. »Er war nur nach Budapest zurückgekommen,um Imre Mezö an diesem Morgen zu treffen. Später kam e<strong>in</strong>Telephonanruf vom Politbüromitglied Valéria Benke, die ihn <strong>in</strong>ständigbat, zum Kossuth tér zu kommen. Sie gehörte zu denen, die Imre Nagywährend se<strong>in</strong>er Amtszeit <strong>in</strong> den Jahren 1953 und 1954 unterstützthatten.«ÁÓUnter den Besuchern <strong>in</strong> der Villa bef<strong>in</strong>det sich auch György Fazekas,e<strong>in</strong> früher <strong>in</strong> Moskau ausgebildeter Partisan und bekannter Journalist, der1954 bei Rákosi <strong>in</strong> Ungnade gefallen war. Er wurde aus der Parteiausgestoßen und mußte se<strong>in</strong>en Lebensunterhalt als Straßenbahnschaffnerverdienen – obgleich ihm die Partei nicht e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>e Straßenbahnanvertrauen wollte. Er hatte e<strong>in</strong>e Woche mit e<strong>in</strong>er Lungenentzündung imBett gelegen und war erst an diesem Morgen um 11 Uhr aus demKrankenhaus entlassen worden. Imre Nagy hatte ihn zweimal dort besuchtund ihm Kognak mitgebracht. Während der Heimfahrt vom Krankenhaussieht Fazekas die Unruhe <strong>in</strong> den Straßen und entschließt sich, am frühenNachmittag Onkel Imre <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Haus aufzusuchen. Dort ist e<strong>in</strong>ständiges Kommen und Gehen, es ersche<strong>in</strong>en Delegationen junger Leuteund Schriftsteller wie Péter Veres und Tibor Déry. Nagy hört, wie draußenvor se<strong>in</strong>er Villa Sprechchöre Parolen anstimmen, wie Gedichte rezitiert290


werden und man se<strong>in</strong>en Namen ruft. Er versucht, gelassen zu bleiben, aberallmählich überkommt ihn e<strong>in</strong> Gefühl der Unruhe.ÁÔTamás Aczél ist mitten durch die Menge gefahren, hat se<strong>in</strong>en Presseausweisvorgewiesen und <strong>in</strong> der Nähe des Kossuth tér geparkt. Er trifftTibor Méray, den erfahrenen Korea-Korrespondenten und andereParteijournalisten <strong>in</strong> gedrückter Stimmung an. Während das Fieber bei denMassen ansteigt, beg<strong>in</strong>nt das Blut <strong>in</strong> den Adern dieser strammenKommunisten zu Eis zu erstarren.»Jemand sollte lieber den Alten hierherbr<strong>in</strong>gen – und zwar schnell«,ruft Méray über den Lärm h<strong>in</strong>weg. Aczél eilt zu se<strong>in</strong>em geparkten Skodaund fährt los, um Imre Nagy zu holen.ËÊ In der Orsó út 41 trifft Aczél denalten Herrn, umr<strong>in</strong>gt von se<strong>in</strong>en Getreuen. Er sieht müde aus. Man drängtihn: »Sie müssen sofort h<strong>in</strong>gehen!« Aber Nagy zögert offensichtlichimmer noch.Aczél sagt: »Um Gottes willen, warum warten? Wenn Sie nicht unverzüglichaufbrechen, wird etwas Schreckliches geschehen. Möglicherweiseist es schon zu spät!«»Spät«, fährt Nagy ihn an. »Zu spät? Für was?«Aczél kann nicht antworten. Ke<strong>in</strong>er von ihnen hat je e<strong>in</strong>en solchenAbend durchgemacht, niemand kann vorhersagen, wie er enden wird. Esist klar, daß e<strong>in</strong> Land mit zehn Millionen se<strong>in</strong>e Faust nicht lange gegene<strong>in</strong>en Riesennachbarn mit 200 Millionen drohend erheben kann. Abervielleicht kann Nagys staatsmännische Führung und Schläue sich etwasvon der Energie der Masse, die sich vor dem Parlament zusammenballt,zunutze machen.Das Telephon läutet ununterbrochen. E<strong>in</strong>ige Anrufe kommen vonHalász, dem Sekretär des M<strong>in</strong>isterrats, der Nagy beschwört, doch zukommen und zu den Menschen zu sprechen. Auch György Fazekasversucht, Nagy zu überreden. Die ganze Situation ist zu heikel. Was kannNagy den Menschen bieten? Er ist ke<strong>in</strong> Demagoge. »Laßt diejenigen, diedie Masse aufgehetzt haben, erst e<strong>in</strong>mal die D<strong>in</strong>ge wieder <strong>in</strong>s Lot br<strong>in</strong>genund dann schreitet e<strong>in</strong>, um die Kontrolle zu übernehmen!«»Aber was machen wir denn jetzt?« fragt Nagy.291


Fazekas erwidert: »Laßt uns <strong>in</strong> den Keller gehen! Sie haben Essen undWe<strong>in</strong> – wir können untertauchen, bis das Zeter- und Mordiogeschreiaufhört, und dann fangen wir an zu verhandeln!«Belegte Brote werden gebracht, Getränke gereicht, und Nagyverschw<strong>in</strong>det nach oben. Er hat beschlossen, e<strong>in</strong>en schriftlichen Redeentwurfzu verfassen. So handelt e<strong>in</strong> diszipl<strong>in</strong>ierter Parteimann.Nach e<strong>in</strong>er Weile kommt er wieder herunter, bittet um Ruhe und liestes vor. E<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Änderung wird vorgeschlagen und akzeptiert. Kurzdarauf ersche<strong>in</strong>t Halász mit dem Präsidentenwagen, um Nagy zumKossuth tér zu br<strong>in</strong>gen. Nagy ist offensichtlich nervös. Se<strong>in</strong>e Frau bittetFazekas und ihren Schwiegersohn Jánosi, ihn im Wagen zu begleiten:»Laßt ihn nicht aus den Augen!« fleht sie.Der Wagen, e<strong>in</strong> russischer Sim, ist groß und schwarz, wie das Autoe<strong>in</strong>es Mafiabosses. Dennoch ist er zu eng für die drei Männer auf demRücksitz – Fazekas, der sich gegen e<strong>in</strong> Fenster preßt, um Onkel Imre vore<strong>in</strong>er möglichen Attentäterkugel zu schützen, Jánosi und der ebenfallsrecht stattliche Imre Nagy. Halász sitzt vorn neben dem Fahrer. Währendsie die holprigen Feldwege von Buda h<strong>in</strong>unterfahren, kann Nagy kaumetwas sehen. Es ist mittlerweile völlig dunkel geworden. Als sie den Flußüberqueren, begegnen ihnen Lastwagen voller Menschen, die <strong>in</strong>Sprechchören Parolen rufen. Nagy, der noch niemals etwas Ähnlichesgesehen hat, beg<strong>in</strong>nt, um se<strong>in</strong> Leben zu fürchten.Se<strong>in</strong>e Hände umklammern krampfhaft das Redemanuskript. DieBrücke ist mit zertrampelten Flugblättern und weggeworfenen Plakatenübersät, als seien es die h<strong>in</strong>terlassenen Trümmer e<strong>in</strong>er durchziehendenArmee. Diese Armee hat jetzt auf dem Parlamentsplatz Stellung bezogenund wartet auf ihren Führer.ËÁ Stirnrunzelnd entdeckt Nagy e<strong>in</strong>eungewohnte Fahne, die an der Stelle, wo das kommunistische Emblem zuse<strong>in</strong> pflegt, durch e<strong>in</strong> Loch verstümmelt ist.»Wie groß ist die Menge?« fragt er. »200.000«, schätzt jemand.Nagys Augen glänzen. Von Moskau aus mußte er zu Millionen überden Rundfunk sprechen, zu lebenden Menschen hat er nur vorzusammengetrommeltem Parteivolk geredet. Er wischt sich mit e<strong>in</strong>em292


seidenen Taschentuch über die Stirn, wirft e<strong>in</strong>en Blick auf se<strong>in</strong>e goldeneSchaffhausener Armbanduhr und verfällt <strong>in</strong> Schweigen.Bis der Wagen hundert Meter vor dem Hauptportal des Parlamentshält, sagt niemand e<strong>in</strong> Wort mehr. Hier steht die Menge so dicht gedrängt,daß sie aussteigen und zu Fuß gehen müssen. Die beiden Männer geheneng an Nagys Seite. Andere drängeln und stoßen den Weg zum Tor frei:»Laßt sie durch! Es ist Imre Nagy! Er wird e<strong>in</strong>e Rede halten!«Die Bródy Sándor utca ist so eng, wie das Bohrloch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Kanone,durch das der Funke auf das Schießpulver stößt; sie biegt von derHauptstraße, dem Múzeum körút, ab und verschw<strong>in</strong>det <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Labyr<strong>in</strong>thvon anderen H<strong>in</strong>tergassen.Hier gibt es e<strong>in</strong>ige heruntergekommene Geschäfte h<strong>in</strong>ter rostigenRolläden – e<strong>in</strong>en Friseur, e<strong>in</strong>en Sargladen und e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Schusterwerkstatt.Kaum zehn Meter breit von Mauer zu Mauer, gehört sie zu denStraßen, die Autofahrer zu meiden suchen.Rechts steht e<strong>in</strong> vierstöckiges Ziegelgebäude, dessen Stuck wie e<strong>in</strong>eSte<strong>in</strong>metzarbeit aussieht. Die Schiebefenster des Souterra<strong>in</strong>s und dieFenster im Parterre s<strong>in</strong>d mit Stahlgittern versehen. Das ist das Funkhaus,die Zentrale der nationalen Rundfunkanstalt.ËËNur wenige Menschen, die fünfundzwanzig Jahre später hier stehenbleibenund <strong>in</strong> der dunklen, drei Meter breiten Unterführung zum E<strong>in</strong>gangihren Ausweis hervorkramen, schauen zu dem Gedenkste<strong>in</strong> auf, der rechts<strong>in</strong> die Wand e<strong>in</strong>gelassen ist. Darauf steht e<strong>in</strong> Zitat von Petöfi und darunterdie Inschrift: »Zu Ehren der Helden, die bei der Verteidigung desFunkhauses am 23. Oktober 1956 ihr Leben für die Volksmacht ließen.«Als der Rundfunkreporter Péter Erdös durch diese Unterführung eilt,ahnt noch niemand der zweiundvierzig Leute, die auf dieser Tafelverzeichnet s<strong>in</strong>d, daß die Stunde der letzten Schlacht ihres Lebensgeschlagen hat.Auf der gegenüberliegenden Seite des viereckigen Hofes bef<strong>in</strong>det siche<strong>in</strong> pagodenartiges Gebäude, das den Rundfunkmitarbeitern als Cafeteriadient. Er eilt die Treppe zu den Direktionsräumen h<strong>in</strong>auf. Valéria Benkes293


Büro ist etwa fünfundzwanzig Quadratmeter groß. Von hier aus kann man<strong>in</strong> die Cafeteria schauen. An der Wand gegenüber dem Fenster bef<strong>in</strong>densich e<strong>in</strong>e niedrige Anrichte und Bücherborde, davor e<strong>in</strong> langerKonferenztisch. Ihr Schreibtisch steht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Ecke am Fenster, danebenauf e<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>en Tisch e<strong>in</strong> rotes Telephon. Neben diesem Büro liegt e<strong>in</strong>anderes Zimmer, dessen Balkon zur Bródy utca h<strong>in</strong>ausführt, von derbereits wachsender Lärm heraufdr<strong>in</strong>gt.Valéria Benke hat sich Nagys politischen Vorstellungen schon weitgehendangenähert; im Juni hatte sie der berühmten Pressediskussion desPetöfi-Kreises beigewohnt. Aber was wissen die Hunderte von Menschen,die sich <strong>in</strong> der Bródy utca drängen, davon und was geht sie das an? Diewogende Menge hat Sprechchöre gebildet, und <strong>in</strong> dieser engen Straßehallt ihr rhythmisches Rufen e<strong>in</strong>drucksvoll von den Mauern wider. E<strong>in</strong>erote Fahne wird entdeckt und angezündet. Frau Benke tritt auf den Balkonh<strong>in</strong>aus, um die Leute zu fragen, was sie wollen. Aber schon ihre erstenWorte: »Genossen«, fordern wütende Ausrufe heraus: »Wir s<strong>in</strong>d <strong>Ungarn</strong>!«Betroffen tritt sie <strong>in</strong>s Zimmer zurück und überlegt, was zu tun sei.Die Menge ruft: »Wir wollen e<strong>in</strong> Mikrophon hier auf der Straßehaben!«Frau Benke und der Kommandeur der Wache kommen übere<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>enAufnahmewagen h<strong>in</strong>auszuschicken, um die Forderungen der Studentenaufzuzeichnen und dadurch Zeit zu gew<strong>in</strong>nen. Aber die Menge läßt sichnicht täuschen. Sie rufen den Anwohnern zu: »Stellt eure Radios e<strong>in</strong>! Lagtuns hören, ob sie wirklich unsere Forderungen senden!«E<strong>in</strong>e junge Frau <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em roten Mantel spricht die Forderungen <strong>in</strong>sMikrophon. Doch der Rundfunk sendet weiter Musik, und man sieht derMenge an, daß sie nicht mit sich spaßen läßt. »Wir wollen, daß das ganzeLand unsere Forderungen hört!« Die Ton<strong>in</strong>genieure und e<strong>in</strong> ÁVH-Offizier, die sie begleiten, können nur knapp <strong>in</strong> das Gebäude entweichen.Sympathisierende Redaktionsmitglieder, die h<strong>in</strong>ter den oberen Doppelfensternstehen, sehen e<strong>in</strong> junges, rothaariges Mädchen unter den Demonstranten,das ihnen von der Straße her Zeichen gibt, aber sie s<strong>in</strong>d machtlos,sie können nichts tun.294


Als Péter Erdös <strong>in</strong> das überfüllte Büro von Frau Benke tritt, erkennt erunter den Anwesenden den beliebten Sportreporter György Szepesi undden Verwaltungschef des Rundfunks, Ferenc Vészics. Außerdem bef<strong>in</strong>densich dort fünf junge Männer <strong>in</strong> Zivil. Er vermutet, daß sie zur Redaktionder für das Ausland bestimmten Kurzwellensendungen gehören. Späterstellt sich heraus, daß sie leitende Funktionäre der Operationsabteilung desInnenm<strong>in</strong>isteriums s<strong>in</strong>d, die die <strong>in</strong>ternen Sicherheitsvorkehrungen imFunkhaus überprüfen.Am Konferenztisch sitzen mehrere graue Em<strong>in</strong>enzen – alte Moskowiter,die zwar nicht das volle Vertrauen Rákosis besaßen, aberdennoch über beachtliche Macht und E<strong>in</strong>fluß verfügten. Charakteristischfür diese Abteilungsleiter ist, daß, wenn jemand sie nach ihrem Leben imsowjetischen Exil fragt, sie geheimnisvoll tun und fast Anzeichen vonVerfolgungswahn erkennen lassen. Nach ihrer übere<strong>in</strong>stimmendenAuffassung steht man hier vor e<strong>in</strong>em <strong>Aufstand</strong> wie <strong>in</strong> Posen, der aber auchniedergeworfen werden kann. Ihre Hauptsorge ist, sie könnten zumSündenbock all dieser unerhörten Geschehnisse gestempelt werden.Als Péter Erdös e<strong>in</strong>tritt, heften sich alle Augen auf ihn mit dem Gefühle<strong>in</strong>er gewissen Erleichterung. Schnell spricht sich herum, wer er ist – mankennt ihn als e<strong>in</strong>en der maßgebenden Anhänger von Imre Nagy. Derideale Sündenbock ist da! B<strong>in</strong>nen zehn M<strong>in</strong>uten sieht sich Erdös als<strong>in</strong>offizieller Chef des Hauses.Er steht noch zwischen dem Schreibtisch von Valéria Benke und demKonferenztisch, als e<strong>in</strong> dicker Major mit den grünen Schulterklappen derÁVH auf ihn zugeht und sich als Major Fehér vorstellt, der für dieSicherheit des Gebäudes verantwortlich sei.»Ich fürchte, daß die Menge draußen versuchen könnte, hier e<strong>in</strong>zudr<strong>in</strong>gen«,sagt Fehér »Ich möchte nach Möglichkeit ke<strong>in</strong>e Gewaltanwenden. Was me<strong>in</strong>en Sie?«Die grauen Em<strong>in</strong>enzen am Konferenztisch mischen sich e<strong>in</strong>: »DieseLeute draußen s<strong>in</strong>d Rowdys, das ist bloß Ges<strong>in</strong>del! Das Volk, dasungarische Volk, ist auf unserer Seite!«Fehér gibt Erdös e<strong>in</strong>en W<strong>in</strong>k und sagt leise: »Lassen Sie uns woanders295


h<strong>in</strong>gehen, wo wir ungestört mite<strong>in</strong>ander reden können!« Fast nebenbeifragt er: »S<strong>in</strong>d Sie bewaffnet?« .»Alles, was ich bei mir habe, s<strong>in</strong>d me<strong>in</strong>e Entlassungspapiere aus demGefängnis!«Zehn M<strong>in</strong>uten später kommt Fehér mit se<strong>in</strong>er eigenen 7,65-mm-Walther-Pistole zurück: »Hier, nehmen Sie diese.«Kurze Zeit danach strömt die Menge durch das E<strong>in</strong>gangstor <strong>in</strong> denInnenhof. Sicherheitspolizei schließt das Tor zur Unterführung undschneidet damit e<strong>in</strong>igen Dutzend Leuten den Rückweg ab. Nach e<strong>in</strong> paarM<strong>in</strong>uten kommt e<strong>in</strong> Mann <strong>in</strong>s Büro von Frau Benke. Er hält mehrereBüchle<strong>in</strong> <strong>in</strong> der Hand. Er blickt ganz verdutzt. »Dies s<strong>in</strong>d die Ausweiseder jungen Leute, die wir eben geschnappt haben«, berichtet er. »Das s<strong>in</strong>dalles Arbeiter, Leute von der Masch<strong>in</strong>enfabrik Láng und von der Waffenfabrik!«Zur gleichen Zeit kommt es zu e<strong>in</strong>em weiteren schweren Zusammenstoßzwischen Wachtposten und Demonstranten am Hauptportal. ValériaBenke beschließt, e<strong>in</strong>e Delegation zu empfangen, um die Lage zuentspannen. E<strong>in</strong> Dutzend Studenten und junge Kerle werden <strong>in</strong> dasKonferenzzimmer geführt, wo sie von Frau Benke und Péter Erdös, die ane<strong>in</strong>em langen Tisch sitzen, empfangen werden.ËÈ Sie verlangen, daß manihnen auf der Straße e<strong>in</strong> Mikrophon überläßt, so daß sie ihre Liste mit denForderungen verlesen können.»Wir s<strong>in</strong>d bereit, Ihre vierzehn Punkte mit e<strong>in</strong>igen E<strong>in</strong>schränkungenzu senden«, sagt Frau Benke. »Wir haben bereits ähnliche Resolutionengesendet, die von der Universitätsversammlung an diesem Morgen undgestern abend verabschiedet worden s<strong>in</strong>d. Doch können wir das Programmnicht unterbrechen. Wir br<strong>in</strong>gen diese Punkte <strong>in</strong> unserer nächstenNachrichtensendung oder <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Reporterbericht über dieDemonstration.«Erdös widerspricht heftig: »Wer garantiert, daß sie nicht D<strong>in</strong>ge sagen,die sämtliche Ideale unserer Bewegung kaputtmachen? Die Sowjetunionist zu stark, als daß sie sich <strong>in</strong> dieser Form öffentlich provozieren ließe.«E<strong>in</strong>es der energischen Mitglieder der Delegation, offenbar der296


Anführer, e<strong>in</strong> ärmlich gekleideter schielender Mann <strong>in</strong> mittleren Jahren,spr<strong>in</strong>gt auf: »Wir werden dort draußen nicht weggehen, bevor derRundfunk <strong>in</strong> Händen des Volkes ist«, ruft er.Erdös weist darauf h<strong>in</strong>, daß das Gebäude voller ÁVH-Leute ist, dienicht zögern würden, zu schießen.F<strong>in</strong>ster entgegnet der Mann: »Sie s<strong>in</strong>d <strong>Ungarn</strong>, wie wir, sie werdennicht schießen.«»Ich kenne die besser als Sie«, erwidert Erdös. »Sie werden schießen.«Während die Unterhaltung andauert, fliegen die ersten Ste<strong>in</strong>e undZiegelbrocken gegen das Gebäude. Es hat sich das Gerücht verbreitet, dieDelegation werde zwangsweise festgehalten. Und als sie versuchen, dasGebäude zu verlassen, werden auch sie mit Ste<strong>in</strong>en überschüttet.Verständlicherweise zögern die Wachen, die Tore zu öffnen. Außer demschielenden Mann gel<strong>in</strong>gt es den meisten Delegationsmitgliedern nicht,das Funkhaus zu verlassen. E<strong>in</strong> ÁVH-Offizier me<strong>in</strong>t zu Erdös: »Solltenwir sie nicht h<strong>in</strong>ausgeleiten? Sonst behauptet man noch, wir hielten siegegen ihren Willen fest.«Es ist bezeichnend, daß die vielen tausend Menschen, die sich <strong>in</strong> derBródy utca drängen, vor allem junge Leute und Studenten s<strong>in</strong>d –Altersklassen, die nie e<strong>in</strong>e Schlacht oder Blutvergießen erlebt haben. DieLeute mittleren Alters halten sich weiterh<strong>in</strong> deutlich zurück.Typisch für die letzteren ist e<strong>in</strong> Gynäkologe am Städtischen Krankenhaus.ËÍEr hat e<strong>in</strong>en anstrengenden Tag h<strong>in</strong>ter sich. E<strong>in</strong>e fünfundvierzigjährigeFrau mußte wegen Verdacht auf Brustkrebs durchleuchtet werden;sie spielte die Schüchterne <strong>in</strong> der hellen Kl<strong>in</strong>ikbeleuchtung und scherzte:»Herr Doktor, können wir das nicht im Dunkeln tun?« Automatisch gibt erihr se<strong>in</strong>e übliche Antwort: »Wir könnten, aber wir würden es dann nichtröntgen nennen, Genoss<strong>in</strong>!«Dieser Arzt ist kultiviert, vielseitig, klardenkend. Aber er war wegene<strong>in</strong>er schwierigen Geburt die ganze Nacht nicht zum Schlafen gekommen.E<strong>in</strong>e Student<strong>in</strong> hatte ihm soeben von dieser Demonstration berichtet, under will deshalb nur e<strong>in</strong>mal schnell vorbeischauen. Dann eilt er heim, um297


Gerö im Radio zu hören. Se<strong>in</strong>e Frau kommt fünf M<strong>in</strong>uten später nachHause. »Die Straßen um das Funkhaus s<strong>in</strong>d voller Menschen«, sagt er zuihr. »Das nimmt noch e<strong>in</strong> schlimmes Ende!«Inzwischen ist der total verunsicherte Imre Nagy eilends <strong>in</strong>sParlamentsgebäude geleitet worden. Durch die meterdicken Ste<strong>in</strong>mauernh<strong>in</strong>durch hört er den Lärm der Massen. Ferenc Erdei führt ihn auf denBalkon, wo bereits e<strong>in</strong> Mikrophon aufgebaut ist. Erdei und Fazekas haltenOnkel Imre an den Armen fest, damit er nicht versehentlich über dieniedrige Brüstung fällt. Neben ihm kniet der Rundfunkreporter TóbiásÁron, um se<strong>in</strong>en Kommentar auf Band zu sprechen.In diesem Augenblick geschieht etwas Unerklärliches: Auf dem Platztreffen Autos mit Leuten e<strong>in</strong>, die ausrufen: »Alle zum Funkhaus!«ËÎ und»Die ÁVH hat das Feuer auf die Studenten eröffnet!«ËÏ E<strong>in</strong>e Student<strong>in</strong>,Ildikó Lányi, ist argwöhnisch und hält dies für e<strong>in</strong>en typisch kommunistischenTrick, um den Platz zu räumen.ËÌ Der Historiker LászlóSzolnoki ist ebenfalls mißtrauisch. Er vermutet, daß Gerö e<strong>in</strong>en ähnlichen<strong>Aufstand</strong> wie <strong>in</strong> Posen herausfordern möchte, um se<strong>in</strong>e eigeneUnentbehrlichkeit zu beweisen und Nagy e<strong>in</strong> für allemal zu erledigen.Szolnoki untersucht vorsorglich die Lautsprecherwagen, die sich durch dieMenge schieben. Rufe ertönen: »<strong>Ungarn</strong> werden umgebracht!« – »Allezum Rundfunk!«ËÓ»Kennt irgend jemand diese Typen?« ruft Szolnoki und drängtzwischen die beiden Lautsprecherwagen. Niemand kennt sie.Es ist jetzt so dunkel, daß die Menge auf dem Platz vor dem Parlamentgar nicht wahrnimmt, daß sich <strong>in</strong>mitten der Handvoll Männer, die auf denBalkon h<strong>in</strong>ausgetreten s<strong>in</strong>d, auch Imre Nagy bef<strong>in</strong>det, der Mann, nachdem sie den ganzen Tag gerufen haben.ËÔ Als e<strong>in</strong>e elektrische Birne h<strong>in</strong>terder Brüstung aufleuchtet, verstummt der Lärm.Gegen e<strong>in</strong> Meer von Gesichtern, die zu ihm aufblicken, krächzt ImreNagy gegen das Schirmgitter des Mikrophons: »Genossen – «Nichts geschieht. Jemand entdeckt den Fehler und stellt das Mikro-298


phon an. Er wiederholt die Begrüßung: »Elvtársak – «E<strong>in</strong> ohrenbetäubendes Pfeifen setzt e<strong>in</strong>, wie von e<strong>in</strong>er wütendenMenge, die e<strong>in</strong>en ihrer Fußballer nach e<strong>in</strong>em Eigentor ausbuht. Nagy istverwirrt, wütend. E<strong>in</strong> Teil der Menge hilft ihm. »Wir s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>eGenossen!«Nagy nestelt nervös an se<strong>in</strong>em Zwicker und beg<strong>in</strong>nt erneut:Honfitársak! Barátok! [Landsleute und Freunde!]. Das Pfeifen geht <strong>in</strong>schwachen Beifall über. Die Massen kosten diese w<strong>in</strong>zigen Konzessionenaus – vielleicht br<strong>in</strong>gen sie ihn noch so weit, daß er das gesamte Regimean den Galgen wünscht. Aber er spricht nur noch wenige Worte. »LiebeFreunde, habt Geduld«, ist se<strong>in</strong>e Botschaft. »Das Zentralkomitee wird sichaller D<strong>in</strong>ge annehmen!«Die Menge ist störrisch, enttäuscht. Sicher, Nagy ist ke<strong>in</strong> LajosKossuth, er hat ke<strong>in</strong> Gefühl für die Massen, ke<strong>in</strong>en erleuchtenden Inst<strong>in</strong>kt.Er bittet sie, den »Szózat« zu s<strong>in</strong>gen, e<strong>in</strong>e patriotische Hymne von MihályVörösmarty. Es ist nicht die kommunistische Nationalhymne – wieder e<strong>in</strong>w<strong>in</strong>ziges Zugeständnis. Er bittet sie, ruhig nach Hause zu gehen. Aber dasVolk hat se<strong>in</strong>e Kraft entdeckt und es ist stolz darauf. Nach dem Szózat»<strong>Ungarn</strong>, weicht nicht von eurem Glauben an euer Land!« verkündenlaute, trotzige Stimmen: »Wir gehen nicht nach Hause, wir bleibenzusammen!«ÈÊNagy bleibt nur kurz auf dem Balkon.Noch während er draußen steht, stürzt e<strong>in</strong> junger Literaturkritiker,Sándor Lukácsy, nervös se<strong>in</strong>en dünnen Schnurrbart drehend, <strong>in</strong> den Raumh<strong>in</strong>ter ihm: »Aczél«, keucht er. »Du mußt Nagy sagen, daß die ÁVOs amFunkhaus <strong>in</strong> die Menge schießen.«Unten auf dem Platz gehen diese Worte über die Lautsprecher: »ZumFunkhaus! Die ÁVO schießt auf Demonstranten!«Nagy stolpert vom Balkon nach dr<strong>in</strong>nen. Erst jetzt wird ihm klar, wieriskant se<strong>in</strong> Platz draußen auf dem Balkon war. Die Menge beg<strong>in</strong>ntause<strong>in</strong>anderzugehen.Drüben am Funkhaus nähert sich die Krise ihrem Höhepunkt.299


Tausende drängen <strong>in</strong> die Bródy utca und der ganze Körút ist blockiert vonMenschen, die durch die Gerüchte von dem Feuergefecht angelocktwurden. Die Straße ist übersät mit zerbrochenen Mauerste<strong>in</strong>en – e<strong>in</strong> Hausan der Straßenecke bef<strong>in</strong>det sich gerade im Bau. Die Mauerste<strong>in</strong>e warenauf ÁVH-Verstärkungen geworfen worden, die das Funkhaus zu erreichensuchten. Die Menge hat begonnen, den draußen stehenden Aufnahmewagenals Rammbock gegen die verschlossenen Eichentore zu benutzen.ÈÁObgleich Frau Benkes Büro an der Innenhofseite der Bródy utca liegt,ist der Lärm der Menge sogar hier ohrenbetäubend.Irgend jemand muß zu den Menschen sprechen; Nagy weigert sich zukömmen, doch gel<strong>in</strong>gt es Valéria Benke, se<strong>in</strong>e rechte Hand, GézaLosonczy, am New York tér telephonisch zu erreichen. Losonczy wargerade mit Vásárhelyi vom Kossuth tér gekommen – das Büro ihrerZeitung Ungarische Nation bef<strong>in</strong>det sich <strong>in</strong> dem Gebäude. Losonczy iste<strong>in</strong>verstanden, sofort zum Funkhaus zu kommen; er wird Vásárhelyimitbr<strong>in</strong>gen.Es ist kurz nach 19 Uhr, als Rundfunkmitarbeiter Losonczy undVásárhelyi durch den E<strong>in</strong>gang <strong>in</strong> der Múzeum utca <strong>in</strong>s Funkhaus lotsen.Später folgt ihnen Zoltán Szántó: er ist Mitglied des Zentralkomitees.Frau Benke bittet: »Genosse Losonczy, Sie müssen zu den Leutensprechen, Sie müssen sie beruhigen!«Losonczy versucht, ihr klarzumachen, daß e<strong>in</strong>e solche Volksmengevon niemandem beruhigt werden kann, es sei denn, man käme ihrenForderungen – wenigstens teilweise – entgegen. Er tritt auf den Balkonh<strong>in</strong>aus, wirft e<strong>in</strong>en mutigen Blick auf die brüllende Menschenmasse undzieht sich schnell, gefolgt von e<strong>in</strong>em Ste<strong>in</strong>hagel, <strong>in</strong>s Innere des Gebäudeszurück.»Schauen wir uns diese Punkte e<strong>in</strong>mal an«, sagt er.In diesem Augenblick wird das Hauptportal e<strong>in</strong>gedrückt. Der Innenhofist von Rufen und Schreien erfüllt, während jeder verfügbare Wachtpostennach vorne eilt, um den drei Meter breiten E<strong>in</strong>gang zu blockieren, bis sieSchulter an Schulter <strong>in</strong> drei Meter breiten Reihen h<strong>in</strong>tere<strong>in</strong>ander stehen.Dann stoßen sie vor und drängen mit brutaler Gewalt mit Ketten,300


Gewehrkolben und Tränengas die E<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gl<strong>in</strong>ge auf die Straße zurück; derAufnahmewagen wird <strong>in</strong> den Hof gezogen.Das Tränengas, das die Verteidiger verwenden, strömt durch diezerbrochenen Fensterscheiben wieder zurück. Losonczys Augen s<strong>in</strong>drotumrandet von den e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>genden Gasschwaden. Telephonisch wirdFrau Benke davon unterrichtet, daß Aufrührer das Gebäude jetzt vomMihály Pollák tér aus bedrohen.Die Situation wird immer brenzliger. Molotow-Cocktails werden <strong>in</strong>die Räume des ersten Stocks geworfen, und das Mobiliar e<strong>in</strong>es Zimmersbrennt. Man ruft die Feuerwehr, aber es kommt ke<strong>in</strong> Löschwagen; e<strong>in</strong>dünner Gartenschlauch und der tropfende, kaputte Feuerwehrschlauchwerden ausgerollt und der Wasserstrahl auf den E<strong>in</strong>gang gerichtet. Aberdie Menge reißt sie weg und schneidet sie <strong>in</strong> Stücke. Plötzlich hört PéterErdös Karab<strong>in</strong>erfeuer und sieht, wie e<strong>in</strong> Mann an der Unterführung zumHaupte<strong>in</strong>gang <strong>in</strong> die Luft zielt. »Platzpatronen», versichert Major Fehér,»das s<strong>in</strong>d Platzpatronen.« – »Aber«, fragt Erdös, »weiß man das auchdraußen auf der Straße?«Die Menge hier ruft auch nach Imre Nagy, und e<strong>in</strong>ige Mitarbeiter desRundfunks nicken eifrig, um ihr E<strong>in</strong>verständnis zu dokumentieren.Diesmal ist es Losonczy, der den alten Herrn anruft und ihn bittet, zukommen, um die Menge zu beruhigen. An Losonczys niedergeschlagenerMiene erkennt man, daß Nagy nicht die Absicht hat zu sprechen. DieParteidiszipl<strong>in</strong> erlaubt es nicht. Losonczy dankt ihm: »Ja, Onkel Imre, ichverstehe!«Er legt den Hörer wieder auf und erklärt, daß Nagy sich weigert zukommen, bevor die Partei ihn dazu auffordert. Offensichtlich wittert Nagyirgende<strong>in</strong>e Falle.301


24Kämpfe <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er NebengasseAM AUSLANDSTISCH im zweiten Stock des Daily Express <strong>in</strong> Londonherrschte erst jubel und dann Bestürzung, als Sefton Delmer, der Chef derAuslandskorrespondenten, sich telephonisch aus Budapest meldete, umse<strong>in</strong>en spektakulären »Knüller« abzusetzen.Á Der stellvertretende AuslandschefJames Nicoll, e<strong>in</strong> 1,65 Meter großer, freundlicher Rout<strong>in</strong>ierschottischer Herkunft, eilte quer durch die Zentralredaktion zum SchlußredakteurTed Picker<strong>in</strong>g: »Alles läuft bestens, Pick. Wir haben Delmer amApparat. Er fängt gerade an, se<strong>in</strong>e Story zu diktieren.« Picker<strong>in</strong>g, e<strong>in</strong>großer Mann, der e<strong>in</strong>em Habicht ähnelt, warf e<strong>in</strong>er, kurzen Blick überse<strong>in</strong>e Brille, die auf e<strong>in</strong>er Hakennase thronte, und brummte beifällig.Nicoll war außerordentlich zufrieden mit sich. Mit dieser Story dieganze Weltpresse zu schlagen, war e<strong>in</strong> großer Erfolg, den Delmer se<strong>in</strong>emjournalistischen Inst<strong>in</strong>kt zu verdanken hatte. Nicoll bahnte sich se<strong>in</strong>enWeg durch die rund sechzig Redakteure, Boten und Reporter, die <strong>in</strong>diesem Raum arbeiteten, und gelangte genau <strong>in</strong> dem Augenblick wiederan se<strong>in</strong>en Schreibtisch, als der Kollege von der Telephonaufnahme die.schalldichte Zelle verließ und se<strong>in</strong>en Stenoblock zuklappte. (Telephonischübermittelte Berichte wurden stenographiert und außerdem auf altmodischenWachszyl<strong>in</strong>dern aufgenommen.)Nicoll rief: »Me<strong>in</strong> Gott, s<strong>in</strong>d Sie getrennt worden?«»Ne<strong>in</strong>, Mr. Delmer will, daß wir ihn nachher zurückrufen.«»O Gott!« schrie Nicoll und verbarg se<strong>in</strong> Gesicht <strong>in</strong> den Händen.»Rufen Sie ihn sofort zurück! Halten Sie die Leitung frei! Sagen Sie ihm,wir halten die Titelseite für ihn offen.«302


Aber die Verb<strong>in</strong>dung mit Budapest war abgebrochen. Fieberhaftwurden andere Hauptstädte angerufen – Genf, Rom, New York. Aber alleKabelverb<strong>in</strong>dungen nach <strong>Ungarn</strong> waren unterbrochen.Aus Wien berichtete Lawrence Davis, daß er am Abend zuvor mitDelmer zusammen gegessen habe, aber er hatte ihn nicht e<strong>in</strong>mal nachse<strong>in</strong>er Telephonnummer gefragt. Es bestand also ke<strong>in</strong>e Hoffnung, daßDelmer versuchen könnte, den Rest se<strong>in</strong>er Story nach Wien durchzutelephonieren.In diesem Augenblick er<strong>in</strong>nerte sich Nicoll an SydneyGruson, den Prager Korrespondenten der New York Times. Grusons FrauFlora Lewis hatte vor längerer Zeit <strong>in</strong> Mexico City für den Daily Expressgearbeitet. Nicoll rief sie an.»Wir s<strong>in</strong>d selbst h<strong>in</strong>ter der Sache her«, sagte sie. »Aber es gibt dae<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en Mann namens Francis Pollak, der für Press-Wirelessarbeitet.« Das war e<strong>in</strong>e Gesellschaft, die Postleitungen mietete und dannan Zeitungsredaktionen weitervermietete. »Se<strong>in</strong>e Prager Nummer ist226688«, fügte Flora h<strong>in</strong>zu.Nicoll rief Pollak an: »Nehmen Sie telephonisch Verb<strong>in</strong>dung mitDelmer auf, und dann rufen Sie mich zurück und sagen mir laufend <strong>in</strong>kurzen Absätzen alles durch, was er Ihnen diktiert.« In dieser Nacht wurdePollak zum entscheidenden B<strong>in</strong>deglied zwischen e<strong>in</strong>er der größtenZeitungen der Welt, ihrem Starreporter und der wichtigsten Nachricht desJahres.Die Neuigkeit über das sich zuspitzende Drama vor dem Funkhauseilte wie e<strong>in</strong> Wetterleuchten durch Budapest. Im öden E<strong>in</strong>erlei desungarischen Alltags war dies etwas Besonderes für die e<strong>in</strong>fachen Leute,das sie sehen und genießen und vielleicht sogar mitmachen konnten.Professor László Blücher erfuhr davon <strong>in</strong> der Wohnung se<strong>in</strong>erFreund<strong>in</strong>.Ë Sie zogen sich Mäntel über und eilten zusammen zur Bródyutca. Dort hörten sie Gerüchte, daß man dr<strong>in</strong>nen e<strong>in</strong>e Studentendelegationfesthalte. ÁVH-Wachen standen unruhig herum. E<strong>in</strong> Streifenwagen derPolizei und e<strong>in</strong> Feuerwehrwagen erschienen, aber die Polizisten wiesengutmütig auf ihre nicht geladenen Gewehre.303


Der junge Journalist Mátyás Sárközi war von se<strong>in</strong>em Chef IvánBoldizsár damit beauftragt worden, die Demonstrationen zu beobachten.ÈEr empfand die Atmosphäre <strong>in</strong> der Bródy utca bedrückend und stieg <strong>in</strong>e<strong>in</strong>e Wohnung im dritten Stock h<strong>in</strong>auf, von wo aus er e<strong>in</strong>en gutenÜberblick hatte. Gegen 20 Uhr schickte Boldizsár auch noch den dreiundzwanzigjährigenReporter István Vajda zur Bródy utca.Í Vajda besaße<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en grünen Opel Kadett mit dem Kennzeichen CA – 319, e<strong>in</strong>eLimous<strong>in</strong>e, die offensichtlich e<strong>in</strong>st zu Rommels Armee gehört hatte. ImWagen befand sich e<strong>in</strong> Schildchen mit der Aufschrift: »HeeresersatztruppenteilBenghasi.« Vajda parkte se<strong>in</strong>en Wagen so nahe wie möglicham Schauplatz des Tumults und g<strong>in</strong>g dann <strong>in</strong> das Gesundheitsamt an derEcke der Szentkirályi utca und Bródy utca. Er wies se<strong>in</strong>en Presseausweisvor und fragte die Diensthabende: »Darf ich Ihr Telephon benutzen? Wasist bisher geschehen?« Nervös stotterte die Frau: »E<strong>in</strong> Krach! E<strong>in</strong> Krach!«Dann gab Vajda se<strong>in</strong>em Vorgesetzten Boldizsár die erste Meldungdurch: »Es ist jetzt 20.10 Uhr, Chef. Die Straßen hier s<strong>in</strong>d voll vonMenschen, und vor dem Funkhaus ist e<strong>in</strong> Riesentumult.«»Paß gut auf!« sagte BoldizsárWenige Meter davon entfernt, im ersten Stockwerk, von dem aus manden Hof des Funkhauses überblicken konnte, er<strong>in</strong>nerte Valéria Benke dieMitarbeiter und Funktionäre <strong>in</strong> ihrem Büro daran, daß es jetzt Zeit sei, dieRundfunkrede Gerös anzuhören. Jemand stellte das Radio <strong>in</strong> der Ecke an.Honigsüß tröpfelte Gerös Stimme aus dem Lautsprecher. E<strong>in</strong>ige Leuteempfanden den Ton se<strong>in</strong>er Rede »recht entgegenkommend«.Î Für anderewar Gerös viertelstündige Rundfunkrede lediglich die marxistischePhrasendrescherei, die man schon hundertmal zuvor gehört hatte, ohnedaß sie <strong>in</strong>des Unruhen entfesselt hätte. Sie bestand aus den üblichens<strong>in</strong>nlosen Phrasen wie »Bündnis zwischen Arbeitern und Bauern« und»E<strong>in</strong>heit der Partei«. Tatsächlich erwähnte Gerö die »E<strong>in</strong>heit der Partei«nicht weniger als sechsmal <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>es Absatzes! An e<strong>in</strong>er Stelleverkündete er geheimnisvoll: »Wir führen e<strong>in</strong>en ständigen Kampf gegenChauv<strong>in</strong>ismus, Antisemitismus und alle anderen reaktionären antisozialen304


und <strong>in</strong>humanen Richtungen und Ansichten.«Für die gegenwärtigen Unruhen machte Gerö »Verleumdungen, dievon Volksfe<strong>in</strong>den verbreitet würden«, verantwortlich. Er prangertediejenigen an, die versuchten, die Bande mit der Sowjetunion zu lockern,und bekräftigte die freundschaftlichen Beziehungen, die zwischen»unserer Partei und der ruhmreichen Kommunistischen Partei derSowjetunion, der Partei Len<strong>in</strong>s, der Partei des XX. Kongresses«,bestünden. Er g<strong>in</strong>g allerd<strong>in</strong>gs nur so weit, zu versprechen, daß dasZentralkomitee »<strong>in</strong> allernächster Zukunft« zusammentreten werde, undversicherte, man würde »den Weg zum demokratischen Sozialismusunbeirrbar weiter fortsetzen«.Plötzlich war die Rede zu Ende. Die Verblüffung <strong>in</strong> Frau Benkes Bürowar groß, denn man hatte für die Rede fünfundvierzig M<strong>in</strong>uten e<strong>in</strong>geplant.»Und nun wieder Tanzmusik«, verkündete die beruhigende Stimmedes Ansagers.Nur wenige Leute hatten die Rede <strong>in</strong> vollem Wortlaut gehört. Sie warnicht geeignet, Öl auf die Wogen der Unruhe zu gießen, war allerd<strong>in</strong>gsauch nicht dazu angetan, Öl <strong>in</strong> die Flammen zu schütten. Aber die erregteÖffentlichkeit glaubte bereitwillig jedem Gerücht, und bei jederWiedergabe der Rede Gerös kam noch etwas h<strong>in</strong>zu. E<strong>in</strong> ganz gebildeterMann behauptete später: »Wir konnten die Rede zwar nur <strong>in</strong> Bruchstückenvon Rundfunkgeräten aus verschiedenen Wohnungen auf der Straßehören. Doch später erfuhren wir, daß Gerö die Menschenmenge ›Mob‹genannt hatte, und das versetzte die Öffentlichkeit noch mehr <strong>in</strong> Rage.«ÏEmpörte Stimmen verbreiteten, Gerö habe die Demonstranten»konterrevolutionäres Ges<strong>in</strong>del« genannt, wobei wahre Marxistenbeleidigter über das Adjektiv als über das Substantiv waren – und daß ersogar von »Faschisten« und »Parasiten« gesprochen habe.Nagys Freunde waren von dem anmaßenden, unverschämten, verächtlichenund bagatellisierenden Ton der Rede Gerös erschüttert.Ì Irgendjemand schaltete dann das Radio im Büro von Valéria Benke ab.Vásárhelyi er<strong>in</strong>nerte sich später: »Frau Benke, Szántó und wir selbst305


waren e<strong>in</strong>hellig der Me<strong>in</strong>ung, daß man nun nichts mehr tun könne. Wirwürden eben abwarten müssen und sehen, was geschieht.«Nur acht M<strong>in</strong>uten nach der Rundfunkrede Gerös wurde die Tanzmusikunterbrochen – »Hier ist e<strong>in</strong>e Berichtigung: Das Zentralkomitee wirdbereits <strong>in</strong>nerhalb der nächsten Tage zusammentreten.«Für Valéria Benke war es e<strong>in</strong> Segen, daß der Tumult die Leute <strong>in</strong> derBródy utca daran geh<strong>in</strong>dert hatte, Gerös Rede zu hören. Sie schlug jetztvor, die Worte, die Imre Nagy vor dem Parlament gesprochen hatte, nachdraußen zu übertragen. Mitten <strong>in</strong> der fe<strong>in</strong>dseligen Menge wurde e<strong>in</strong>Lautsprecher aufgebaut, und der Sportreporter György Szepesi g<strong>in</strong>gh<strong>in</strong>aus auf den Balkon: »Ich lese Ihnen jetzt die Ansprache vor, die ImreNagy gerade vor der am Parlamentsgebäude versammelten Jugendgehalten hat.«Plötzlich trat Stille e<strong>in</strong>. Szepesi begann: »Me<strong>in</strong>e jungen Freunde!«Weiter kam er nicht. Die Menge begann zu johlen und warf denLaufsprecher um. E<strong>in</strong>s war sicher: Man war nicht hier, um lediglich Wortezu hören. E<strong>in</strong> Auto war <strong>in</strong> Brand gesetzt worden, und der Qualm derReifen schlich gespenstisch die Straße entlang und mischte sich mit denmannshohen Wolken des Tränengases wie e<strong>in</strong> Bühnennebel. E<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong>eTriumphstimmung herrschte. Das Mitglied des Politbüros ZoltánSzántó bat Frau Benke voller Nervosität, noch e<strong>in</strong>mal um Verstärkungenzu ersuchen. Auch dem ÁVH-Major Fehér schwante nichts Gutes,ungeduldig verlangte er nach Entsatz. Oberst Miklós Orbán, der Chef derBudapester ÁVH, verlor völlig die Nerven, als er von Major Fehér hörte,daß sich viele uniformierte Polizei- und Armeeoffiziere <strong>in</strong> der Mengebefänden.Péter Erdös überlegte verzweifelt, wie man die Gemüter auf der Straßeberuhigen könnte. Valéria Benke fragte ihn, ob er nicht vom Balkon zurMenge sprechen möchte. Ihm erg<strong>in</strong>g es nicht besser. Da der Lautsprecherzertrümmert war, konnte er sich <strong>in</strong> dem Tumult nicht verständlichmachen. Er rief der Menge zu, er gehöre zur Führung des Petöfi-Kreises,aber niemand schenkte ihm Beachtung. Schließlich nahm er das Schreiben306


über die Bestätigung se<strong>in</strong>er Wahl und warf es auf die Straße. Der Briefwurde von Hand zu Hand weitergereicht, es entstand relative Ruhe. Erbegann: »Alle diejenigen, die den Stal<strong>in</strong>ismus <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> bekämpften,haben gesiegt!« Dann fuhr er kurz <strong>in</strong> diesem Stil fort. »Und jetzt solltejeder nach Hause gehen!« schloß er.Dies rief neue Protestrufe hervor, gefolgt von e<strong>in</strong>em neuerlichenSte<strong>in</strong>hagel. Dies war me<strong>in</strong> am wenigsten erfolgreicher öffentlicherAuftritt, dachte Erdös verbittert, und flüchtete zurück <strong>in</strong>s Büro von FrauBenke.Danach verabschiedeten sich Géza Losonczy und Tibor Pethö, diebeiden Gründer der Zeitung Ungarische Nation, von Frau Benke undverließen das dem Untergang geweihte Gebäude, solange es noch möglichwar, durch e<strong>in</strong>en H<strong>in</strong>terausgang zur Múzeum utca. Miklós Vásárhelyi, derfrüher e<strong>in</strong>mal Vizepräsident des Rundfunks gewesen war und sich <strong>in</strong> demLabyr<strong>in</strong>th auskannte, blickte noch e<strong>in</strong>mal um sich, bevor er den beiden <strong>in</strong>die H<strong>in</strong>tergasse folgte.Die Menge <strong>in</strong> der Bródy utca wurde aggressiv. Man hörte das Splitternvon zerbrechendem Glas, als die ersten Fenster e<strong>in</strong>geworfen wurden.Professor Blücher sah, wie man vom Dach des Hauses Leuchtkugelnabschoß. In Gerüchten wurde die Behauptung verbreitet, e<strong>in</strong> Mitglied derStudentendelegation sei erschossen worden. E<strong>in</strong> Journalist behauptete, ersei überall auf leere MG-Patronenhülsen getreten.Ó Bei den ÁVH-Leutengab es die ersten Verluste. Irgend jemand warf Molotow-Cocktails, diemit scharfe<strong>in</strong> Knall <strong>in</strong> der engen Straße explodierten. SchattenhafteGestalten kletterten an den Fenstergittern zu den oberen Stockwerkenh<strong>in</strong>auf. Heisere Stimmen feuerten die Menschen an: »Stürmt dasFunkhaus!«Fehér gab den Befehl, die Bródy utca zu räumen. Se<strong>in</strong>e ÁVH-Soldateng<strong>in</strong>gen vor und drängten mit seitlich gehaltenen aufgepflanzten Seitengewehrendie Menge <strong>in</strong> die Szentkirályi utca und die Puschk<strong>in</strong> utcazurück. An der Ecke bildeten sie e<strong>in</strong>e Absperrung. Die Menschen zogensich zurück, traten und schlugen aber wütend um sich und stellten denSoldaten e<strong>in</strong> Be<strong>in</strong>. Beim nächsten Vorstoß schossen die ÁVH-Männer <strong>in</strong>307


die Luft.ÔAuf dem Platz vor dem Parlament war die Lage ausgesprochen ungemütlich.»Ich war von e<strong>in</strong>em unglaublichen Gefühl der Spannung undErwartung erfüllt«, sagte e<strong>in</strong> zwanzigjähriger Universitätsstudent, »dieLeute waren so aufgeregt.«ÁÊ Unter den Menschen, die noch immer aufdem Parlamentsplatz umherstanden, entdeckte der Journalist Péter Kendeden Lehrer György Litván, der vor e<strong>in</strong>igen Monaten <strong>in</strong> Angyalföld Rákosiaufgefordert hatte, abzutreten.ÁÁLitván sah besorgt aus: »Was, zum Teufel, bedeutet dies?«Kende, der an Frankreichs blutige Geschichte dachte, erwiderte:»C’est une révolte? Non, c’est une révolution!«Innerhalb des Parlamentsgebäudes drang dieses verhängnisvolle Wortauch bis zu dem zaudernden Imre Nagy vor. Tamás Aczél hörte, wiejemand vorwurfsvoll zu ihm sagte: »Warum zögern Sie? Dies ist e<strong>in</strong>eRevolution!«ÁËDie Menge auf dem Platz begann, sich zu zerstreuen – angelockt vonden Rattenfängern <strong>in</strong> den Lautsprecherwagen, die immer noch behaupteten:»Sie br<strong>in</strong>gen die Universitätsstudenten um!« Kende hörte Gerüchte,daß die ÁVH Tränengas verwende, und plötzlich kam ihm der Gedanke:»Vielleicht verbreitet die ÁVH diese Gerüchte nur, damit wir hierverschw<strong>in</strong>den!«Er aber beschloß statt dessen, e<strong>in</strong>en Bus zum New York tér zunehmen, um nach se<strong>in</strong>en Freunden Losonczy und Vásárhelyi zu sehen.Der Bus blieb <strong>in</strong> der dichtgedrängten Menge stecken, und er brauchte e<strong>in</strong>eStunde, um bis zu dem Gebäude zu gelangen. Zu diesem Zeitpunkt fuhrenLastwagen mit Arbeitern <strong>in</strong> Richtung Funkhaus vorbei, und man hörteRufe wie: »Kommt mit uns! Am Funkhaus wird gekämpft!«Innerhalb und außerhalb des Funkhauses war die Luft beißend undexplosiv. Tränengas strömte <strong>in</strong> die offenen Fenster der Wohnungen, diemit Zuschauern besetzt waren. Unmittelbar am E<strong>in</strong>gang hörte man denaufgeregten Ruf: »Szakasits ist hier!« Jeder, der von Rákosi <strong>in</strong>s Gefängnis308


gesperrt worden war, galt als Held – selbst e<strong>in</strong> Renegat wie ÁrpádSzakasits.20.15 Uhr. In der Szentkirályi utca trafen ÁVH-Verstärkungen e<strong>in</strong>.István Vajda auf se<strong>in</strong>em Beobachtungsposten im Gesundheitsamt an derEcke sah, wie sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em halben Dutzend Dreitonner-Lkws angefahrenkamen und parkten.ÁÈ Auf jedem Wagen sagen dreißig bewaffnete ÁVH-Soldaten, die durch ihre blauen Schulterklappen, ihre spitzen Mützen undihre Kalaschnikows mit den Zweiundsiebzig-Schuß-Trommeln zuerkennen waren. Die Leute begannen, die Ankömml<strong>in</strong>ge zu verhöhnen.»Seid ihr <strong>Ungarn</strong>?« johlte e<strong>in</strong> Mann.»Los – erschießt uns!« rief e<strong>in</strong> anderer herausfordernd und entblößtemelodramatisch se<strong>in</strong>e Brust.Der Kommandeur war gereizt. Auf se<strong>in</strong>en Schulterklappen blitzten diedrei Sterne und die goldene Litze e<strong>in</strong>es Obersten. Rot vor Ärger befahl erden Fahrern <strong>in</strong> scharfem Ton, zu wenden. Bereitwillige Hände halfen mit,die schweren Lastwagen <strong>in</strong> der engen Straße umzudrehen. Und bald warensie außer Sichtweite.Vajda rief triumphierend Boldizsár und dann se<strong>in</strong>e Frau an: »Áva, ebenist etwas Unglaubliches passiert. Die ÁVH kreuzte auf und mußte wiederabhauen.«Áva antwortete: »Das muß ich sehen, komm her und hol mich ab.«In den anderen Teilen der Stadt g<strong>in</strong>g das Leben weiter, niemandmerkte, daß der Tod se<strong>in</strong>e Sense schulterte und zur Bródy utca stapfte.Der Rundfunk sendete nach wie vor Musik, und zwar Vivaldis»Jahreszeiten«.Im »Gólyavár«, e<strong>in</strong>em der großen Vorlesungssäle der Universität, hieltder Petöfi-Kreis Gericht: Professor Antal Babics, der berühmte Urologe,mußte zugeben, daß Rákosis Polizeichef, Gábor Péter, e<strong>in</strong> guter Freundvon ihm gewesen sei. Babics wurde daraufh<strong>in</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Wohnungverhaftet.ÁÍ Professor István Rusznyák, Präsident der Akademie, wurde zudem E<strong>in</strong>geständnis gezwungen, daß er es war, der das mediz<strong>in</strong>ischeGutachten unterzeichnet hatte, aufgrund dessen das Politbüro Imre Nagy309


im Februar 1955 ausstoßen konnte. Zwischen Ärzten der Volksarmee undder ÁVH begann e<strong>in</strong>e ausführliche Fachdiskussion über die mediz<strong>in</strong>ischenAspekte erzwungener Geständnisse – e<strong>in</strong> Arzt, der Gefangener der ÁVHwar, erklärte, daß es nicht unbed<strong>in</strong>gt notwendig sei, jemanden unterDrogen zu setzen, denn physische Methoden alle<strong>in</strong> würden ausreichen,e<strong>in</strong>en Gefangenen »zu beruhigen«.Es ist jetzt 20.45 Uhr.Alle ahnungslosen Opfer s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> der Bródy utca versammelt, entwederim Funkhaus oder draußen auf der Straße. Professor Blücher und se<strong>in</strong>eFreund<strong>in</strong> stehen <strong>in</strong> den vordersten Reihen. István Vajda ist mit se<strong>in</strong>er FrauÁva zurückgekehrt und parkt se<strong>in</strong>en Opel Kadett.Erika, TH-Student<strong>in</strong> im sechsten Semester, ist soeben mit ihremFreund angekommen; sie hatte gegen 19 Uhr den Kossuth tér verlassen,nachdem sie vergeblich auf Imre Nagy gewartet hatte, und war dann zurMensa gegangen.ÁÎ Nach dem Essen mit Freunden hörte sie auf demHeimweg Gerös Stimme aus den offenen Fenstern.Dann erfahren sie von der fe<strong>in</strong>dlichen Menge, die sich vor demFunkhaus versammelt hat. Leute erzählen ihnen das jüngste Gerücht:»Dr<strong>in</strong>nen ist noch e<strong>in</strong>e Delegation.« ÁVH-Soldaten haben Absperrungengebildet, und immer mehr Lastwagen voll mit bewaffneten Männernzwängen sich <strong>in</strong> die Nebengassen. Erika bleibt, beteiligt sich an denSprechchören der Menge und verhöhnt die Sicherheitspolizei.Plötzlich brechen aus der Unterführung am E<strong>in</strong>gang des GebäudesÁVH-Polizisten hervor und eröffnen das Feuer. Vielleicht schießen sie <strong>in</strong>die Luft – aber niemand bleibt stehen, um das herauszubekommen. Zweioder drei M<strong>in</strong>uten lang knattern und knallen ihre Masch<strong>in</strong>enpistolen.Professor Blücher stolpert beim Laufen und glaubt, Schreie zu hören. Erstreckt se<strong>in</strong>e Hand aus, um se<strong>in</strong>e Freund<strong>in</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Hause<strong>in</strong>gang zuziehen, aber ihr Haar ist naß – sie hat e<strong>in</strong>en Kopfschuß. E<strong>in</strong>e andere Frau,der direkt <strong>in</strong>s Auge geschossen wurde, stirbt zu se<strong>in</strong>en Füßen. E<strong>in</strong> Jungewälzt sich auf der Erde und preßt se<strong>in</strong>e Hände krampfhaft vor den Bauch.Die letzten Bilder, die sich Erikas Er<strong>in</strong>nerung e<strong>in</strong>prägen: davonhastendeVersprengte, taumelnde Schatten und herumliegende Körper und310


Schützen, die auf sie zielen. Sie hört, wie ihre Freunde aus e<strong>in</strong>em nahenTorweg rufen, und sie versucht, auf allen vieren zu ihnen zu kriechen, alsauch sie von e<strong>in</strong>er Kugel am Kopf getroffen wird. Plötzlich ist die Bródyutca wie leergefegt und nur vom grünen, blendenden Licht erlöschenderRauchbomben erhellt.Das Rókus-Krankenhaus bef<strong>in</strong>det sich nur e<strong>in</strong>en Häuserblock weiter.Es schickt sofort zwei Ambulanzen, aber ÁVH-Offiziere weigern sich,fünfzehn oder zwanzig M<strong>in</strong>uten lang, sie <strong>in</strong> die Bródy utca h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>zulassen.ÁÏWie Her<strong>in</strong>ge werden die Toten und Verwundeten <strong>in</strong> die Krankenwagenverpackt. Erika wird noch vor Mitternacht operiert. ProfessorBlüchers Freund<strong>in</strong> ist mit drei anderen Verwundeten auf den Fahrersitzneben dem Chauffeur gezwängt worden. Er will sich nicht von ihr trennenund klammert sich verzweifelt am Kotflügel fest, während der Wagen e<strong>in</strong>escharfe Kehrtwendung macht und losfährt. Als er den Schauplatz verläßt,hat er den E<strong>in</strong>druck, als lasse er lauter gr<strong>in</strong>sende Gesichter h<strong>in</strong>ter sich.Der Reporter István Vajda war gerade <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Opel Kadett durchgekommen,als die Schießerei begann. Unwillkürlich warf er e<strong>in</strong>en Blickauf se<strong>in</strong>e Uhr: 20.45 Uhr. Bevor er sich mit se<strong>in</strong>em Wagen <strong>in</strong> Sicherheitbr<strong>in</strong>gen konnte, trommelten Leute auf das Autodach und riefen: »Nichtwegfahren, wir haben e<strong>in</strong>en Verwundeten!«Vier Männer hoben e<strong>in</strong>en schwerverletzten jungen Mann auf denRücksitz. Vor zwei Wochen hatte Vajda e<strong>in</strong>en Bericht über e<strong>in</strong>e großeUnfallkl<strong>in</strong>ik, das Koltói-Krankenhaus, geschrieben. Im Anfahren rief erder h<strong>in</strong>ter sich auf dem Rücksitz zusammengesunkenen Gestalt zu: »Wasist geschehen?«»Sie haben auf uns geschossen. Wir verdufteten, aber mich hat’s vonh<strong>in</strong>ten <strong>in</strong> beiden Be<strong>in</strong>en erwischt.«»Blutest du stark?«Der junge Mann nickte. Stoßweise flog das Blut über den Rücksitz.Vajda fragte: »Woher bist du?«»Von der Traktorfabrik Roter Stern«, stöhnte der Mann.311


Drüben am Stal<strong>in</strong> tér war es der Menge noch immer nicht gelungen,das gr<strong>in</strong>sende Denkmal herunterzuholen. Schallendes Gelächter ertönte imPark, als jemand e<strong>in</strong>e Tafel an die Bronzebrust des Diktators heftete mitder unmißverständlichen Aufforderung: »Russe, vergiß nicht, wenn dufliehst, mich mitzunehmen!«ÁÌDie Statue stand auf e<strong>in</strong>em Sockel, der aus den Marmorste<strong>in</strong>en der imKriege zerstörten Katholischen Kirche Regnum Marianum gebaut war; diesechzehn Meter hohe Bronzefigur, e<strong>in</strong> Symbol der Versklavung <strong>Ungarn</strong>s,war aus den e<strong>in</strong>geschmolzenen Bronzedenkmälern ungarischer Königeund König<strong>in</strong>nen hergestellt. E<strong>in</strong> Mediz<strong>in</strong>student <strong>in</strong> weißem Hemd war aufdas Denkmal geklettert und hatte die ersten Seile um Stal<strong>in</strong>s Halsgeschlungen. Die Seile waren aber gerissen, und Stal<strong>in</strong> stand immer nochdort und schielte von se<strong>in</strong>em neun Meter hohen Piedestal herunter. Irgendjemand höhnte: »Wirf ihm e<strong>in</strong>e Armbanduhr h<strong>in</strong>auf, dann bückt er sichsofort!«E<strong>in</strong> achtundzwanzigjähriger Nachrichtenoffizier der Volksarmee rief:»Mit Ziehen schafft ihr das nie. Ihr braucht Lastwagen und Schneidbrenner.«ÁÓE<strong>in</strong> Architekt, der erkannte, daß es e<strong>in</strong>e längere Nacht werdenwürde, erzählte: »Ich g<strong>in</strong>g nach Hause, aß zu Abend und zog mir andereSchuhe an.«ÁÔ Er kam gerade rechtzeitig zurück, um zu sehen, wie derjunge Dániel Szegö, e<strong>in</strong> Ingenieur mit e<strong>in</strong>er sieben Monate alten Tochter,auf dem Platz erschien und mit e<strong>in</strong>em Schweißbrenner die Statue direktüber den Bronzestiefeln des Diktators durchzuschneiden begann.E<strong>in</strong>e<strong>in</strong>halb Kilometer vom Park entfernt verließ der amerikanischeDiplomat Gaza Katona se<strong>in</strong>e Wohnung, angelockt durch das unartikulierteBrabbeln und Schwatzen, wie von e<strong>in</strong>er Menge, die gerade e<strong>in</strong>enFußballplatz verläßt; da sah er die Menschen die Woroschilow út h<strong>in</strong>unter<strong>in</strong> Richtung Denkmal laufen. Der Polizist, der die benachbarte schweizerischeGesandtschaft bewachte, schüttelte den Kopf und murmelte: »Es istunglaublich!«In der Bródy utca hatten die Kämpfe gerade begonnen. Immer mehrLeute wurden <strong>in</strong> Lastwagen, die durch die Stadt fuhren, um Freiwillige zu312


sammeln, zu dem Kampfplatz geschafft. Aus öffentlichen Telephonzellenwurde nach Ambulanzen verlangt und die Volksarmee aufgefordert, gegendie ÁVH-Schützen vorzugehen. Voller Empörung darüber, daß die ÁVHauf Zivilisten schoß, begannen Polizei und Offiziere der Volksarmee, denDemonstranten ihre Waffen zu überlassen.ËÊ Als das Feuergefecht begann,wurden die mit der Menge sympathisierenden Mitarbeiter im Funkhaus <strong>in</strong>ihre Redaktionsräume e<strong>in</strong>geschlossen.Das Verteidigungsm<strong>in</strong>isterium hatte e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en Kampfverbandunter Führung von Leutnant János Décsi <strong>in</strong> die Bródy utca geschickt. Alsdie Soldaten mit fünf Offizieren der Zr<strong>in</strong>yi-Militärakademie beimMuseum ankamen, wurden sie von fünfzig oder sechzig Studentenumdrängt. Auch zwei Ambulanzen trafen e<strong>in</strong> und versuchten, zumFunkhaus durchzukommen. Die Menge erzwang sich Zugang zu denWagen und entdeckte, daß sie mit Munition für die ÁVH beladen waren.Die Insassen wurden von den Leuten halb totgeschlagen, während manWaffen und Munition unter sich verteilte.Auf der Múzeum utca hatte die ÁVH e<strong>in</strong>e Sandsackbarrikade errichtetund feuerte pausenlos. E<strong>in</strong> Armeemajor, der mit ihnen verhandeln wollte,wurde von Karab<strong>in</strong>erschüssen getroffen – ob es e<strong>in</strong>e verirrte Kugel war,e<strong>in</strong> Querschläger oder e<strong>in</strong> gezielter Schuß, konnte <strong>in</strong> dem allgeme<strong>in</strong>enDurche<strong>in</strong>ander niemand sagen. Leichenblaß im Gesicht wurde erweggetragen und stöhnte: »Das s<strong>in</strong>d Tiere, nichts als Tiere!«Auch Professor Domokos Kosáry war herbeigeeilt, um nach se<strong>in</strong>emhalbwüchsigen Sohn zu sehen. Aber es gelang ihm nicht, bis zur Bródyutca durchzukommen. Beim Múzeum körút erblickte er Marschkolonnender blauuniformierten, regulären Polizei mit Karab<strong>in</strong>ern bewaffnet, dievon der Rákóczi út kamen. Die Menschen riefen ihnen zu: »<strong>Ungarn</strong>, ihrseid auf unserer Seite!« Die Kolonne stoppte, hielt und lief dannause<strong>in</strong>ander.Auf höchster Ebene heulten die Alarmsirenen – sowohl <strong>in</strong> dieser Stadtals auch <strong>in</strong> Moskau. Um 21 Uhr wurde die ungarische Panzerdivision <strong>in</strong>Esztergom alarmiert und ihre Panzer <strong>in</strong> Richtung Hauptstadt <strong>in</strong> Marschgesetzt. Nach Erreichen der Stadt wurde befohlen, den militärischen313


E<strong>in</strong>heiten scharfe Munition auszugeben. An der Kossuth-Offiziersschule<strong>in</strong> der Üllöi út waren die 700 Offiziersanwärter um 20 Uhr angetreten, umGerös Ansprache zu hören, und befanden sich seitdem <strong>in</strong> höchsterAlarmbereitschaft. Vor ihrem Abmarsch wurden die Waffenkammern vonden Offizieren vom Dienst geöffnet und jedermann erhielt zwölfLadestreifen mit je fünf Schuß russischer Munition, Kaliber 7,65.ËÁAls e<strong>in</strong>er von ihnen, der vierundzwanzig Jahre alte Béla Kurucz,se<strong>in</strong>en Karab<strong>in</strong>er überprüfte, bemerkte er, daß die Offiziere Angst hatten.»Was ist los?« fragte er.Der Leutnant erwiderte lediglich: »Das s<strong>in</strong>d eure Befehle, wir wissenauch nicht mehr als ihr!«In der Ferne hörte man Explosionen und Krachen wie vonFeuerwerkskörpern. Das Gesicht des Leutnants war schneeweiß. Wiederfragte Kurucz: »Was, zum Teufel, geht da vor?«Unsicher erwiderte jetzt der Offizier: »Es ist e<strong>in</strong> Kampf um die Oberhand!«Und mit zitternden Lippen fügte er h<strong>in</strong>zu: »Jetzt ist es soweit!«Am Stal<strong>in</strong> tér waren die Schl<strong>in</strong>gen <strong>in</strong>zwischen am richtigen Platz, e<strong>in</strong>ungeheuer befriedigender Anblick für die Menge. Die Polizei stand müßigdabei, ohne e<strong>in</strong>zugreifen.ËË Drei Kranwagen, die man sich von derBeszkárt-Straßenbahngesellschaft »ausgeborgt« hatte, wurden vor dieDrahtseile gespannt, und während die Menge ebenfalls zog und im Chorwie die Wolgaschiffer sang und unanständige Witze machte, begann sichdas Denkmal kaum merklich zu neigen.ËÈVor se<strong>in</strong>er Wohnung gegenüber dem Stadtpark hörte der amerikanischeAttaché Gaza Katona plötzlich lauten Beifall. Er lief nach oben undzog sich wärmere Kleidung an. Aus der entgegengesetzten Richtung,ungefähr zwei Kilometer entfernt, vernahm man das Geknatter von MG-Feuer – e<strong>in</strong>ige Oktaven höher als der gewöhnliche Lärm und das Summender Stadt.Bis er den Stal<strong>in</strong> tér erreicht hatte, war die Menschenmenge<strong>in</strong>zwischen auf rund 1000 zurückgegangen: Mit Vorschlaghämmern warman dabei, auf e<strong>in</strong> riesiges prähistorisches Ungeheuer e<strong>in</strong>zuschlagen, das314


<strong>in</strong> der Dunkelheit auf der Erde h<strong>in</strong>gestreckt lag.Mehrere offene Lastwagen bogen <strong>in</strong> den Platz e<strong>in</strong>. Von e<strong>in</strong>em derWagen sprang e<strong>in</strong> adrett gekleideter Mann <strong>in</strong> mittleren Jahren herunter; esist eigenartig, wie sich die Er<strong>in</strong>nerung an E<strong>in</strong>zelheiten festhält. Aber eswar der »Ledermantel«, den Katona später <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Kurzschrift-Tagebuch beschrieb. Sehr e<strong>in</strong>drucksvoll verkündet der Mann, was<strong>in</strong>zwischen beim Rundfunk geschehen war. »Landsleute! Man tötetMenschen unseres Blutes! Hier!« Mit dramatischer Geste warf er leerePatronenhülsen <strong>in</strong> die Menge – »hier s<strong>in</strong>d die Kugeln, mit denen die ÁVHauf uns schießt! Kommt mit mir!« Und e<strong>in</strong> großes Gedränge setzte e<strong>in</strong>, umdie Lastwagen zu besteigen.ËÍKatona rannte durch den Park zurück zu se<strong>in</strong>er Wohnung. Er holtese<strong>in</strong>en Wagen aus der Garage und fuhr <strong>in</strong> Richtung des entferntenGewehrfeuers. Dann bog er <strong>in</strong> die Rákóczi út e<strong>in</strong> und parkte se<strong>in</strong>en Wagendrei Häuserblocks vom Funkhaus entfernt. Die Szene er<strong>in</strong>nerte ihn an denTag des alliierten Sieges über San Francisco. Mädchen umarmten undküßten verblüffte Soldaten, von denen viele den Roten Stern von ihrenMützen kratzten, als ob es Schorf oder Gr<strong>in</strong>d sei.Darüber mußte sofort e<strong>in</strong> Telegramm nach Wash<strong>in</strong>gton geschicktwerden. Katona fuhr geradewegs zum zehn Häuserblocks entferntenFreiheitsplatz. Auf dem Wege sah er e<strong>in</strong>en schwarzen Chevrolet von derArt, wie sie die ÁVH für die Überwachung von Diplomaten benutzte; erwar umgekippt und brannte lichterloh.Der Polizist vor dem schmiedeeisernen und gläsernen Hauptportal derGesandtschaft blickte verstört. Katona bemerkte, daß der »Schorf« bereitsvon der Uniformmütze verschwunden war. »Nun ist es endlich soweit!Darauf haben wir zwölf Jahre gewartet!«E<strong>in</strong> Mar<strong>in</strong>esoldat ließ Katona h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>. Die meisten se<strong>in</strong>er vorgesetztenKollegen nahmen noch an e<strong>in</strong>er Abendgesellschaft <strong>in</strong> der Residenz desfranzösischen Gesandten teil. Nach e<strong>in</strong>igen M<strong>in</strong>uten kl<strong>in</strong>gelte das Telephon,und e<strong>in</strong> anonymer Anrufer berichtete: »Sechzig Menschen s<strong>in</strong>dgetötet worden.« E<strong>in</strong> anderer Anrufer beschwor die Gesandtschaft, anGerö zu appellieren, um das Blutbad zu beenden. Wieder e<strong>in</strong> anderer315


ehauptete: »Russisch sprechende Männer <strong>in</strong> ÁVO-Uniformen schießenauf unbewaffnete Zivilisten.«Katona setzte sich h<strong>in</strong> und wartete.Innerhalb des belagerten Funkhauses wartet auch Valéria Benke. AlleFenster s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>geworfen und schweres, gezieltes Karab<strong>in</strong>erfeuer kommtvon der Straße herauf – drei ÁVH-Männer haben Kopfschüsse erhalten,als sie sich kurz am Fenster zeigten. Aber durch den H<strong>in</strong>tere<strong>in</strong>gang kommtVerstärkung. Die Menge, die von der Bródy utca vertrieben ist, versuchtnun, das Gebäude vom Pollák Mihály tér aus e<strong>in</strong>zunehmen. Die <strong>Ungarn</strong>kennen das alles von ihrer eigenen militärischen Ausbildung her – D<strong>in</strong>gewie Partisanenkriegführung, aus dem H<strong>in</strong>terhalt schießen und dieBedeutung des sofortigen Stellungwechsels nach dem Schuß.In langer Reihe stehen unbeleuchtete Straßenbahnwagen vor dem CaféEmke auf dem Körút; bei vielen s<strong>in</strong>d die Scheiben e<strong>in</strong>geworfen. DieMenge hat zwei Autos, die durch die Bródy utca und über den Kálv<strong>in</strong> térfahren wollten, angehalten und <strong>in</strong> Brand gesteckt. VomUniversitätsgelände kommen Leute heraus, voll bepackt mit scharferMunition aus frisch geöffneten Kisten. »Hiermit haben die ÁVOs auf unsgeschossen«, rufen sie und verteilen Gewehre und Munition an die jungenLeute.ËÎAuf der benachbarten Rákóczi út stehen leere Busse. E<strong>in</strong> junger Mannhält vom Dach e<strong>in</strong>es der Fahrzeuge e<strong>in</strong>e Rede an die Menschenmenge. Erist kaum zu hören, aber jeder Satz erntet frenetischen Beifall. Irgendjemand verbreitet die Nachricht, daß die Arbeiter vom »Roten Csepel« aufdem Anmarsch s<strong>in</strong>d. E<strong>in</strong>en Augenblick lang herrscht Furcht. Aber eskommen ke<strong>in</strong>e Arbeiter. Motorradfahrer kreuzen auf, halten, schw<strong>in</strong>gene<strong>in</strong>e Rede und fahren mit wehenden Fahnen wieder davon. E<strong>in</strong> Zeitungsauslieferungs-Kradrattert vorbei, se<strong>in</strong> Beiwagen ist voll von Waffen undMunition. Inzwischen kommen Lastwagen an, die vom TEFU-Lkw-Transportunternehmen beschlagnahmt worden s<strong>in</strong>d, dicht besetzt vonjungen Männern mit flatternden Nationalfahnen. Sie rufen: »Sie schießenauf <strong>Ungarn</strong>!« Und dann wieder der Refra<strong>in</strong>: »Endlich – nach zwölf316


Jahren!«ËÏAuch vom Stal<strong>in</strong>-Denkmal kommen Lastwagen, die so voll vonLeuten s<strong>in</strong>d, daß niemand herunterfallen kann. In der Nähe desFunkhauses vor dem Museumscafé steht e<strong>in</strong>e Ambulanz <strong>in</strong> Flammen. Vonden römischen Sarkophagen vor dem Italienischen Institut bellenMasch<strong>in</strong>engewehre.Direkt vor dem Funkhaus, wo ebenfalls e<strong>in</strong> Wagen brennt, taumelndrei Leute aus e<strong>in</strong>er Rauch- und Tränengaswolke. Sie tragen e<strong>in</strong>enleblosen Körper.»Legt ihn zu den anderen!«Sie tragen den Toten <strong>in</strong> die kle<strong>in</strong>e Gartenstraße, die vom Körút abgehtund zum Eötvös-Lóránd-Universitätsgelände gehört, und legen ihn nebendie sechs oder sieben anderen <strong>in</strong>s Gras nahe dem Zaun.Wenige M<strong>in</strong>uten später rumpeln drei oder vier ungarische Panzerwagenden Körút entlang <strong>in</strong> Richtung Bródy utca. Sie gehören wahrsche<strong>in</strong>lichzur Spitze des 3. Bataillons unter Führung von HauptmannSándor Szabó, die aus Piliscsaba kommen. Die Leute bilden w<strong>in</strong>kendSpalier und versuchen, auf den ersten Wagen zu klettern, aber e<strong>in</strong> Of fizierstößt sie mit den Füßen wieder herunter. Die e<strong>in</strong>fachen Soldaten reagierenimpulsiver: Als ihnen aus der Menge Nationalfahnen heraufgereichtwerden, befestigen sie diese an ihren Fahrzeugen. Dies wiederum führt zuBeifallsrufen: »Die Armee ist mit uns!«Das alles war vom Verteidigungsm<strong>in</strong>isterium nicht beabsichtigtgewesen. E<strong>in</strong> fünfundzwanzigjähriger Architekturstudent erzählte später:»Die Polizei verhielt sich völlig passiv. Die Armee weigerte sich zuschießen und gewährte den Aufständischen Deckung bei der Rückkehr <strong>in</strong>die Bródy utca, <strong>in</strong>dem sie zwei Panzerwagen gegen die Feuerkette derÁVH vorschickte. Danach überließen die Soldaten der Menge e<strong>in</strong>ige ihrerWaffen.«ËÌIm Rekrutendepot des VII. Bezirks gegenüber dem Hotel Cont<strong>in</strong>entalbeobachten beunruhigte Offiziere, wie beim Hungária-Bad <strong>in</strong> der Dohányutca nahe dem Hotel von TEFU-Lkws Waffen entladen werden; Scharenvon Rebellen ersche<strong>in</strong>en und werden mit Waffen und Munition dieses317


improvisierten Depots versorgt.ËÓIm Polizeipräsidium läutet e<strong>in</strong> Telephon. Anrufer ist das Polizeirevierneben dem Verlagsgebäude des Organs Freies Volk.»Genosse Kopácsi, hier gehen Leute vorbei, die Waffen tragen!«»Lassen Sie alle Ihre Männer dr<strong>in</strong>nen«, befiehlt Kopácsi,»verbarrikadieren Sie sich, und machen Sie das Licht aus.«Auf der Stal<strong>in</strong> utca reißen junge Leute die Straßenschilder ab.ËÔ Aufdem Stal<strong>in</strong> tér raten Soldaten der herumstehenden Menge, sich Waffen zubesorgen. E<strong>in</strong>ige Jugendliche haben nur Katapulte. Personen- und Lastwagenwerden requiriert und fahren zum Rekrutendepot. Dort s<strong>in</strong>d abernicht mehr genug Waffen, also geht es weiter zur Kilián-Kaserne.ÈÊ Dersiebenundvierzigjährige Journalist Lajos Gogolak, aus dessen Wohnungim dritten Stock man die Kaserne sieht, hört, wie die Menge ruft: »Sieschießen auf unsere K<strong>in</strong>der!« – »Sie schießen auf <strong>Ungarn</strong>!« – »Gebt unsWaffen!«ÈÁ»Wir werden nicht schießen«, versprechen die Wachen.ÈË Die Mengerast vorbei an den Posten, bricht mit Gewalt die Waffenkammer derKase<strong>in</strong>e auf und strömt wieder h<strong>in</strong>aus. Lastwagen br<strong>in</strong>gen sie zur Bródyutca, wo e<strong>in</strong>e Gruppe von zwölf Mann <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Wohnung direkt gegenüberdem Funkhaus e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gt. E<strong>in</strong> Panzerwagen gegenüber dem Haupte<strong>in</strong>ganggewährt den Rebellen Deckung, damit sie <strong>in</strong> den Innenhof schießenkönnen.ÈÈDie Stimmung im Büro von Valéria Benke nähert sich der Hysterie,nachdem Wachtposten des Funkhauses, von Gewehrschüssen verwundet,blutüberströmt zusammenbrechen. Auf der Straße gibt es ke<strong>in</strong>e Anzeichendafür, daß denen draußen die Munition ausgeht. Aber immer noch wirdvon der ÁVH-Zentrale die offizielle Feuererlaubnis verweigert.Mitten <strong>in</strong> diesem Wirbel erhält Frau Benke wütende Telephonanrufevom Schriftsteller- und Journalistenverband. Und das Parteiorgan FreiesVolk möchte zu ziemlich unpassender Zeit telephonisch wissen: »Stimmtes, daß Ihre ÁVH-Männer auf friedlich demonstrierende Studenten318


schießen?«»Der Mob schießt auf uns!«Valéria Benke bittet das Innen- und das Verteidigungsm<strong>in</strong>isteriumtelephonisch um Hilfe. Sie fordert e<strong>in</strong>en massiven Infanterieangriff, umdie Straße da unten zu räumen. Aber sie erhält nur ausweichendeAntworten. Aus Kopácsis Präsidium ruft mehrmals der Journalist GyörgyFazekas bei ihr an, um Meldungen über den Ausbruch von Kämpfen ananderer Stelle durchzugeben. Sie s<strong>in</strong>d befreundet. Bei der Trauerfeier fürRajk froren sie Seite an Seite bei der Ehrenwache. Er lieh ihr se<strong>in</strong>enMantel, um sie mit ihrem dünnen, schwarzen Kostüm vor dem Nieselregenzu schützen. Nun schildert sie ihm ihre bedrängte Lage underkundigt sich, ob nicht Kopácsi helfen kann. Fazekas ruft zurück undfragt sie, ob er herüberkommen und sie heraushauen soll. Valéria Benkeerwidert, daß es ihm nicht möglich se<strong>in</strong> werde, durch die Menge zu ihr zugelangen.Die Telephonzentrale ist zertrümmert. Die Redakteure müssen aufallen vieren zu den beiden Nachrichtensprechern kriechen, um ihnen dieletzten Meldungen zu br<strong>in</strong>gen – »Das Zentralkomitee tritt am 31. Oktoberzusammen« – e<strong>in</strong> Term<strong>in</strong>, der kurz danach berichtigt wird: »<strong>in</strong>unmittelbarer Zukunft« und dann »unverzüglich«.ÈÍAm anderen Ende der Stadt <strong>in</strong> der Gorkij fasor haben die <strong>in</strong> ihrVerbandshaus geflüchteten Journalisten das dumpfe Gefühl, für dasBlutvergießen verantwortlich zu se<strong>in</strong>. In dieser Nacht verfassen sie vierMemoranden, <strong>in</strong> denen sie für die Annahme der Forderungen des Volkesplädieren. Alle vier werden <strong>in</strong> der Akadémia utca überreicht und von derPartei prompt zurückgewiesen – obgleich die vierte nur noch e<strong>in</strong>enschwachen Protest enthält.Danach wird e<strong>in</strong>e fünfköpfige Delegation gebildet, der dieSchriftsteller László Benjám<strong>in</strong>, Zoltán Zelk und der Sekretär desSchriftstellerverbandes, Sándor Erdei, angehören.ÈÎ Sie eilen zurAkadémia utca. Nach Darstellung von Zelk werden sie vonuntergeordneten Funktionären <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Wartezimmer abgeschoben – die319


Führungsgarde lehnt es ab, sich von diesen pflaumenweichenIntellektuellen ablenken zu lassen.ÈÏ Die Schriftsteller schicken dann e<strong>in</strong>ehandschriftliche Aufforderung, wonach die Führer zugunsten derjenigen,die das öffentliche Vertrauen genießen, abdanken sollen. Außerdemdrängen sie erneut auf e<strong>in</strong>e Feuere<strong>in</strong>stellung. (Aber das nicht ger<strong>in</strong>gsteProblem ist, daß bisher ja überhaupt ke<strong>in</strong> offizieller Feuerbefehl erteiltworden ist.) Für e<strong>in</strong>en kurzen Augenblick bekommt die Delegation IstvánKovács, den früheren Ersten Sekretär der Budapester KP, und JózsefRévai, ihren früheren Propagandachef, zu sehen. Schließlich und endlichwerden sie zu Hegedüs geleitet, der immer noch Premierm<strong>in</strong>ister ist.»E<strong>in</strong>e faschistische Konterrevolution ist ausgebrochen, die wir mitWaffengewalt niederschlagen werden«, verkündet Hegedüs zähnefletschendmit drohendem Lächeln. »Wenn wir es nicht schaffen, dannwerden wir sowjetische Truppen herbeirufen.«ÈÌImre Nagy blieb nach se<strong>in</strong>er improvisierten Rede noch für e<strong>in</strong>ige Zeitim Parlamentsgebäude. In den Zehn-Uhr-Abendnachrichten war kurz dieRede von se<strong>in</strong>er Ansprache. Abschließend hieß es: »Genosse Nagy konferiertgegenwärtig mit jugendlichen Delegierten und e<strong>in</strong>igen Abgeordneten.«Der zweiundzwanzigjährige Studentenführer László Mártonbeschrieb später die Gespräche mit Nagy als wenig befriedigend. Siewurden ausschließlich durch Vermittler geführt.ÈÓ Erreicht wurde nichts.Nagy ließ die Führer der MEFESZ kommen und fragte sie, was nunwirklich <strong>in</strong> der Bródy utca passiert sei.ÈÔ Márton erklärte Nagy: »Siesollten zum M<strong>in</strong>isterpräsidenten ernannt werden. Sie sollten Gerö und denRest se<strong>in</strong>er Bande rausschmeißen und die ÁVH auflösen!«Nagys Antwort war aufrichtig genug: »Ich b<strong>in</strong> gar nicht <strong>in</strong> der Lage,das zu tun, was Sie verlangen.«Márton äußerte später die Me<strong>in</strong>ung: »Nagy war sehr apathisch. Se<strong>in</strong>Fehler war, daß er alles, was er jemals über Marxismus und die Parteigelernt hatte, todernst nahm.«Langsam wurde es Zeit für Imre Nagy, zum Zentralkomitee <strong>in</strong> derAkadémia utca zu gehen. Der alte Herr wurde von Aczél und Fazekas320


dorth<strong>in</strong> begleitet. Auch se<strong>in</strong> Schwiegersohn Ferenc Jánosi g<strong>in</strong>g mit – erwar der beste Freund und Ratgeber, den Nagy hatte. Am E<strong>in</strong>gang derParteizentrale wurde Nagy von höheren Funktionären erwartet, die ihnund Jánosi durch die Ausweiskontrollen schleusen wollten.Nagy wandte sich entschuldigend zu se<strong>in</strong>en Freunden um. »Nun,me<strong>in</strong>e Freunde, geht jetzt nach Hause. Ihr braucht mich nicht mehr zubegleiten. Hier, <strong>in</strong> diesem Gebäude, b<strong>in</strong> ich zu Hause!«ÍÊ321


25Wer seid ihr?WENN MAN DURCH die Schw<strong>in</strong>gtüren <strong>in</strong>s Café New York auf dem Len<strong>in</strong>körút tritt, fühlt man sich <strong>in</strong> die Zeit vor e<strong>in</strong>em halben Jahrhundertzurückversetzt. Man bef<strong>in</strong>det sich <strong>in</strong> der E<strong>in</strong>gangshalle e<strong>in</strong>es F<strong>in</strong>anz- undHandelszentrums, das um die Jahrhundertwende gebaut wurde. Dann gehtman die vornehme Treppe zum Speisesaal h<strong>in</strong>unter und vers<strong>in</strong>kt <strong>in</strong> demüppigen Rokoko- und Plüschmilieu. Dicke Trauben durchsichtiger Kugelnbeleuchten den Raum. Quadratische Säulen, die mit weißgeädertemMarmor verkleidet s<strong>in</strong>d, stützen die Decken mit den dunklen, kaum mehrerkennbaren Gemälden. Die Wände s<strong>in</strong>d braun getäfelt, die Vorhänge <strong>in</strong>zartem Beige gehalten, zwischen den blattvergoldeten Dekorationenhängen die gerahmten Karikaturen ehemaliger Dichtergrößen. Irgendwoim Gebäude hört man das Rattern der Rotationsmasch<strong>in</strong>en, denn der New-York-Palast ist <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie der Sitz e<strong>in</strong>er der konservativeren Zeitungen<strong>Ungarn</strong>s.Am Abend des 23. Oktober 1956 war das Restaurant wie immergeöffnet. Verängstigte Journalisten aus dem Freundeskreis Imre Nagysversammelten sich hier, da dies der e<strong>in</strong>zige Ort <strong>in</strong> Budapest war, wo mansich <strong>in</strong> dieser Nacht <strong>in</strong> Sicherheit treffen konnte. Dennoch war dieAtmosphäre unwirklich. Draußen tobte e<strong>in</strong> blutiger <strong>Aufstand</strong>, währendhier dr<strong>in</strong>nen kommunistische Journalisten, Künstler, Schriftsteller undMusiker eng zusammenhockten. Der Lärm ihrer erregten Unterhaltunghallte <strong>in</strong> dem hohen Raum wider.Als Professor Domokos Kosáry gegen 20.30 Uhr erschien, traf erLosonczy, Tibor Pethö und Vásárhelyi, die gleich nach ihren322


schrecklichen Erlebnissen <strong>in</strong> Valéria Benkes Büro hierhergekommenwaren, zusammen mit Péter Kende, Tibor Tardos und anderenJournalistenkollegen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Runde an e<strong>in</strong>em großen Tisch mit weißemTischtuch und blitzenden Bestecken.Á Vor der Tür wütete die Revolution,aber hier dr<strong>in</strong>nen liefen die Kellner zwischen den Tischen h<strong>in</strong> und her undservierten, als sei nichts geschehen. Losonczy hatte e<strong>in</strong>en großen,gegrillten Fisch bestellt. Ab und zu schauten Leute here<strong>in</strong> und riefenirgend etwas. »Am Funkhaus wird geschossen – es werden Menschengetötet! Auf das Zeitungsgebäude Freies Volk wird geschossen!«Kosáry w<strong>in</strong>kte e<strong>in</strong>em Kellner und bestellte e<strong>in</strong> Steak. Nach e<strong>in</strong>erWeile wandte sich Losonczy zu ihm und packte ihn am Arm: »Hast dudiese Fahnen gesehen«, fragte er, »die Fahnen mit den ausgeschnittenenLöchern?«Kaum hörbar flüsterte Kosáry: »Ja.«Losonczy blickte schwermütig vor sich h<strong>in</strong>. »Weißt du«, sagte er, »estut mir weh. Schließlich ist das unsere Fahne. Es tut mir weh, daß dasEmblem herausgeschnitten ist.«Der Rundfunk hatte soeben das Programm mit e<strong>in</strong>er neuen Bekanntmachungunterbrochen: Das Politbüro war zu e<strong>in</strong>er sofortigen Sitzung desZentralkomitees <strong>in</strong> der Akadémia utca e<strong>in</strong>berufen worden.Aber die wirkliche Macht lag bereits <strong>in</strong> Händen der Straße. Auf demNagy körút herrschte völlige Anarchie. Man hatte Straßenbahnen umgekipptund rief <strong>in</strong> Sprechchören antisowjetische Parolen. Mit solchenMenschenmassen war nicht zu spaßen. Beim Nationaltheater war e<strong>in</strong>Polizeiauto von der Menge e<strong>in</strong>geschlossen. Se<strong>in</strong>e Insassen, Angehörigeder blauuniformierten, regulären Polizei, schauten teilnahmslos zu. Es wardeutlich zu erkennen, wo ihre Sympathie lag.Die Menschen vor dem Verlagsgebäude des Parteiorgans Freies Volkwaren ebenfalls <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er unberechenbaren Stimmung. Im Lauf des Tageswaren auch hier Studentendelegationen vorstellig geworden, aber dieRedaktionsleitung hatte sie abgewiesen.Ë Als sich der Abend h<strong>in</strong>schleppte,stießen Fabrikarbeiter zur Menge und riefen <strong>in</strong> Sprechchören zu den323


l<strong>in</strong>den Fenstern h<strong>in</strong>auf: »Druckt die Wahrheit!« Das Gedränge brachteden Verkehr auf dem Straßendreieck zum Erliegen, man forderte, dienächste Ausgabe der Zeitung solle e<strong>in</strong>en Generalstreik proklamieren.Sympathisierenden Journalisten gelang es, Teile des Gebäudes <strong>in</strong> dieHand zu bekommen, und sie begannen, Flugblätter und Handzettel zurUnterstützung der Demonstration zu drucken. E<strong>in</strong>mal entdeckte dieMenge Miklós Gimes an e<strong>in</strong>em der oberen Fenster und forderte den»Bärtigen« auf, zu ihnen herunterzukommen. (Se<strong>in</strong> schwarzer Bart war <strong>in</strong>vollem Flor, da die Partei ihn noch immer nicht rehabilitiert hatte.) Dannf<strong>in</strong>g die Menge an, irgend etwas zu verbrennen – es stellte sich heraus,daß es die Extraausgabe der Zeitung war. Ste<strong>in</strong>e flogen, und bald warkaum noch e<strong>in</strong> Fenster heil. Meter um Meter drang die Menge <strong>in</strong> dasGebäude vor, alles zertrümmernd und plündernd. Sie räumten dieVerwaltungsbüros im ersten und zweiten Stock aus, ließen aber dieRedaktionsräume im dritten Stock überwiegend heil.Gimes war nicht der e<strong>in</strong>zige, ehemals l<strong>in</strong>ientreue Kommunist, der sichim Verlagsgebäude befand und wütend nicht nur auf das Regime, sondernauch auf sich und se<strong>in</strong>e Genossen selbst war. Viele Jahre ihres Lebenshatten sie dieses Regime gefördert und viel seelisches Kapital <strong>in</strong>vestiert.Auch der frühere Herausgeber der Literaturzeitung, Miklós Molnár, begabsich zum Verlagsgebäude Freies Volk.È Er hatte jahrelang <strong>in</strong> diesem Hausals Theaterkritiker gearbeitet. Niedergeschlagen wanderte er durch die mitGlassplittern übersäten Gänge. Auf der dritten Etage schrillten dieTelephone, während Redaktionsleitung und Regierungsfunktionäreverhandelten.Die Spiegelglastüren waren zertrümmert. Die ÁVH-Wachen, denenman den Schießbefehl verweigert hatte, konnten gerade noch flüchten,bevor die Menge das Gebäude um Mitternacht stürmte. Der Mob stecktedas Buchgeschäft <strong>in</strong> Brand, durchwühlte die Lagerräume des Parteiverlagshauses»Szikra« und schleppte die Buchbestände mit denunverdaulichen Werken von Len<strong>in</strong>, Marx und Stal<strong>in</strong> zu e<strong>in</strong>emScheiterhauf en auf der Straße. Der Rote Stern war vom sechsten Stocknach unten geworfen worden, und die Rebellen erzwangen sich den324


Zugang zur Lautsprecheranlage.Í Von der Bródy utca hatte man e<strong>in</strong>eLeiche herübergeschafft, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Nationalfahne gehüllt und auf demBalkon niedergelegt, von wo aus e<strong>in</strong> Aufständischer e<strong>in</strong> Mikrophonschwang und die Stimmung der Menge anheizte. Gegen 1.30 Uhr nachtshatte der bewaffnete Mob das gesamte Gebäude e<strong>in</strong>genommen.Das Chaos war unbeschreiblich: E<strong>in</strong>e Frau, die zu den Aufständischengehörte und nur für e<strong>in</strong>en Augenblick aus e<strong>in</strong>em Zimmer heraustrat,wurde sofort niedergeschossen. Die kompromittierten Redaktionsmitgliederflüchteten <strong>in</strong>s Haus e<strong>in</strong>es Arztes, von wo aus sie telephonischenKontakt mit Gimes hatten. »Versuche, durch Reden dort herauszukommen»,drängten sie ihn. Aber Gimes blieb. Er und Löcsei halfen denDruckern, ihre wertvollen Masch<strong>in</strong>en zu verteidigen. József Révai, dervon der Akadémia utca herübergekommen war, um die unglückseligeExtraausgabe zu über-wachen, wurde über e<strong>in</strong>en Fahrstuhl amH<strong>in</strong>tere<strong>in</strong>gang des Hauses <strong>in</strong> Sicherheit gebracht.ÎPéter Kende und se<strong>in</strong>e Kollegen hörten das immer lauter werdendeGewehrfeuer, das von der Rökk utca <strong>in</strong> der Nähe des Verlagsgebäudes zuihnen drang. Kugeln pfiffen durch die Straßen. Schließlich kamen sie zuder Überzeugung, daß der richtige Platz für sie doch der New-York-Palastwar. Dort trafen sie Losonczy noch an derselben Stelle, wo sie ihnverlassen hatten, <strong>in</strong> lebhafter Diskussion, an se<strong>in</strong>em Eßtisch über denResten se<strong>in</strong>es Fisches.Nach se<strong>in</strong>er brüsken Verabschiedung durch Imre Nagy vor der Tür <strong>in</strong>der Akadémia utca wollte der Schriftsteller György Fazekas eigentlichnach Hause <strong>in</strong> die Váci utca gehen. Unterwegs entdeckte er jedoch <strong>in</strong> derBajcsy Zsil<strong>in</strong>szky út e<strong>in</strong>e aufgeregte Menschenmenge und e<strong>in</strong>en Mann,der mit dem Ruf: »Schlagt ihn tot, schlagt ihn tot!« zusammengeschlagenwurde. Man rief ihm zu, daß <strong>in</strong> der Bródy utca Kämpfe im Gange seien.Fazekas beschloß jedoch, zum Polizeipräsidium zu gehen, Kopácsis Frauwar se<strong>in</strong>e Kus<strong>in</strong>e. Dort traf er Tamás Aczél und e<strong>in</strong>e Anzahl andereroppositioneller Schriftsteller <strong>in</strong> Kopácsis modernem weißen Gebäude amDeák tér.Ï325


Oben im überfüllten Büro des Polizeipräsidenten herrschte e<strong>in</strong>ständiges Kommen und Gehen von Polizeioffizieren <strong>in</strong> Uniform und Zivil.Auf ihren Gesichtern spiegelte sich Panik, Erleichterung oder lähmendeBestürzung wider. Ununterbrochen läuteten die Telephone, aber derPolizeipräsident Sándor Kopácsi, der <strong>in</strong> Hemdsärmeln und Hosenträgernvor e<strong>in</strong>er Wand voller Stadtpläne und Graphiken sag, kümmerte sich nichtdarum. Fazekas schilderte ihm die Ereignisse <strong>in</strong> Nagys Villa und vor demParlament und fragte ihn: »Wieviel Kräfte haben Sie?«»Sehr wenig!«Fazekas schlug vor, Kopácsi sollte ke<strong>in</strong>e Zeit verlieren und sofort überdas Fernsprechnetz der Polizei alle Kräfte sammeln, um e<strong>in</strong>eschlagkräftige Truppe von mehreren tausend Polizisten aufzustellen.Er versuchte, Imre Nagy ans Telephon zu bekommen, aber <strong>in</strong> derAkadémia utca g<strong>in</strong>g István Kossa an den Apparat. Fazekas und Kossawaren auf derselben Partisanenausbildungsschule <strong>in</strong> der Sowjetuniongewesen. Kossa bedauerte: »Genosse Nagy kann nicht ans Telephonkommen, er ist <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Konferenz.«Immer noch schrillten die Telephone. Ohne den Hörer abzunehmen,wußte Kopácsi wer die Anrufer waren – se<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>undzwanzig Polizeireviere,die auf Befehle und Verstärkungen warteten.Schließlich nahm er den Hörer e<strong>in</strong>es besonders hartnäckig läutendenTelephons ab. »Widerstand leisten!« rief er energisch. »Die Massen nicht<strong>in</strong> die Polizeireviere e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gen lassen. Und wenn sie von der WaffeGebrauch machen, dann ihr auch!« Ärgerlich knallte er den Hörer auf dieGabel.»Das ist e<strong>in</strong>e Konterrevolution«, rief Kopácsi den Schriftstellern zu.»Ich lasse auf den Mob schießen!« Se<strong>in</strong> eigenes Dilemma war offensichtlich.Er hatte e<strong>in</strong>en gehetzten Blick. Und wieder kl<strong>in</strong>gelte das Telephon.Er schluckte schwer und befahl dann: »Wenn der Mob angreift, nicht dasFeuer erwidern. Lediglich das Gebäude räumen und verh<strong>in</strong>dern, daß dieWaffen <strong>in</strong> falsche Hände geraten.«ÌVom VI. Bezirk kamen etwa vierzig Polizisten an. Ihr Revier wargestürmt worden. Schlimme Nachrichten kamen auch vom XII., XIV. und326


XI. Bezirk. Kopácsi rief sie an und befahl ihnen, die Waffenniederzulegen. Den Männern des VI. und VII. Bezirks gab er den Befehl,sich im Polizeipräsidium zu melden und ihre Waffen mitzubr<strong>in</strong>gen.In se<strong>in</strong>em Kopf herrschte völlige Verwirrung: Das, was sich vor se<strong>in</strong>enAugen abspielte, stand <strong>in</strong> absolutem Gegensatz zu allem, was er auf derParteischule über konterrevolutionäre Kräfte gelernt hatte. Wenige Stundenspäter sah man ihn an se<strong>in</strong>em Fenster stehen und die Schattenbeobachten, die über den Deák tér huschten. Direkt gegenüber se<strong>in</strong>emPräsidium, kaum sichtbar <strong>in</strong> der Dämmerung, wurden Zementsäcke,Kabeltrommeln und anderes Gerät, das dort für den U-Bahn-Bau gelagertworden war, von ameisengleichen Horden Jugendlicher weggeschlepptund weggerollt; e<strong>in</strong>e Barrikade war im Entstehen.Kopácsi fühlte sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Eigenschaft als Polizeipräsident gekränkt– als Kommunist sogar gedemütigt. Persönlich führte er e<strong>in</strong> Polizeikommandomit Karab<strong>in</strong>er und aufgepflanztem Bajonett über den Platz,ließ die Polizisten <strong>in</strong> die Luft schießen und hatte fünf M<strong>in</strong>uten späterfünfzehn Jugendliche festgenommen. Kopácsi und Fazekas betrachtetensich zusammen die jungen Leute.»Wer seid ihr?« fragte Kopácsi.Wer seid ihr?! Schon diese Frage verriet, wie tief der Graben zwischendem Volk und se<strong>in</strong>en Beherrschern war.Die übernächtigten Jugendlichen riefen im Chor: »Wir s<strong>in</strong>d für e<strong>in</strong>freies <strong>Ungarn</strong>!«Man kontrollierte ihre Papiere. Kopácsi war verblüfft. Es handelte sichfast ausnahmslos um Jungarbeiter aus den Arbeitervororten. Mehreredavon Kommunisten. Da konnte doch etwas nicht stimmen. Und dasmachte Kopácsi Sorgen.Se<strong>in</strong>e Sorge war nur e<strong>in</strong> w<strong>in</strong>ziger Teil der Panik, von der jetzt diePartei erfaßt worden war. In dieser Nacht versteckte sich die Führungsgardeh<strong>in</strong>ter bewaffneten Wachen im ZK-Gebäude <strong>in</strong> der Akadémia utca.Fieberhafte, heillos verwirrte Konferenzen auf höchster Ebene löstene<strong>in</strong>ander ab.Ó Der Sitzungssaal war das große Konferenzzimmer desPolitbüros im ersten Stock. Hier verfügten Gerö und Hegedüs über direkte327


telephonische Verb<strong>in</strong>dungen, Kurzwellenradio und ausgeklügelte Fernmeldeanlagen,die sie mit dem übrigen Land und mit Moskau verbanden.Von hier aus versuchte die Führung der schnell zusammenbrechendenKommunistischen Partei, sich dem reißenden Strom der Ereignisseentgegenzustemmen.Alarmiert durch Gaza Katona, waren <strong>in</strong>zwischen andereamerikanische Diplomaten über die von Unruhen geschüttelte Stadtausgeschwärmt. Der Militärattaché Oberst James C. Todd entdeckte gegen22.30 Uhr vier ungarische T-34-Panzer, die über die Margarethenbrückezur Bródy utca fuhren, und sah, wie deren Kommandant herauskletterteund der Menge verkündete, daß se<strong>in</strong>e Männer nicht auf ihre Landsleuteschießen würden. Gegen 23 Uhr beobachtete Todds Untergebener e<strong>in</strong>eKolonne ungarischer Soldaten, die von zwei Lastwagen mitunbewaffneten Demonstranten am Weitermarsch geh<strong>in</strong>dert wurden; gegen23.30 Uhr hatten die Aufständischen deren Waffen und Fahrzeugeübernommen, während die Soldaten den Zivilisten den Gebrauch derWaffen erklärten und Kisten mit Handfeuerwaffenmunition aufgebrochenwurden. Todds britischer Kollege Oberstleutnant Noel Cowley erschienebenfalls <strong>in</strong> der Bródy utca, um für se<strong>in</strong>e Regierung zu observieren.E<strong>in</strong> w<strong>in</strong>ziges Teilchen <strong>in</strong> dieser wirbelnden Masse wütenderMenschen, e<strong>in</strong> neunzehnjähriger Metallpolierer aus dem Elendsviertel,schilderte amerikanischen Psychiatern im April 1957 folgendes Erlebnis:»Wir g<strong>in</strong>gen vom Stal<strong>in</strong>-Denkmal zum Funkhaus . . . Ich besorgte mir e<strong>in</strong>Masch<strong>in</strong>engewehr und stellte es auf Dauerfeuer. Ich hatte es von e<strong>in</strong>igenSoldaten erhalten, die mir zeigten, wie man es gebraucht. Wir schossenund kämpften <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Straße . . . Me<strong>in</strong> Freund KovácsÔ und ich schossenzurück, und e<strong>in</strong> Mann fiel. Wir waren sehr aufgeregt, zu Tode erschrockenund ängstlich.«ÁÊWährend sich die Nachricht von den tödlichen Schießereien <strong>in</strong> derBródy utca verbreitete, spielten sich draußen vor dem New-York-Palast,dem Verlagsgebäude, schlimme Szenen ab.ÁÁ Miklós Vásárhelyi berichtetespäter: »Die Leute wurden immer erregter und wütender und verlangten,328


daß wir Journalisten h<strong>in</strong>fahren und Berichte schreiben sollten.« Er undKende baten Losonczy, auf die Behörden Druck auszuüben, um derSchießerei E<strong>in</strong>halt zu gebieten. »Sie haben doch etwas zu sagen <strong>in</strong> derPartei«, drängten sie. »Gehen Sie zur Akadémia utca und handeln Sie!«Losonczy war nicht sonderlich begeistert. Früher oder später würdedas Regime nach Sündenböcken Ausschau halten. Die Partei würdemöglicherweise den Freundeskreis von Imre Nagy verantwortlich machen.Und so begann der Zerfall der Imre-Nagy-Gruppe.»Ich werde mal versuchen, den alten Herrn anzurufen«, entschloß sichLosonczy. Aber bald darauf kam er kle<strong>in</strong>laut zurück. »Ich kann ihn nichterreichen.«Bis 11 Uhr nachts diskutierten sie die Lage von allen Seiten, danng<strong>in</strong>gen sie nach Hause. Als sie das Gebäude verließen, drangen die Leutevor und verlangten, h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>gelassen zu werden. Der Zeitungschef IvánBoldizsár wurde angepöbelt und angegriffen. Die Leute riefen: »Schreibtdarüber!« Aber Boldizsár war ebenfalls am Ende se<strong>in</strong>es Late<strong>in</strong>s.Vásárhelyi brachte Losonczy mit dem Wagen nach Hause; sie warenNachbarn. Dann g<strong>in</strong>gen beide zu Bett.ÁËE<strong>in</strong>e Stunde vor Mitternacht, gegen 23 Uhr, wurden die Werkzeugmasch<strong>in</strong>en<strong>in</strong> den Csepel-Fabriken plötzlich angehalten, und die meistenArbeiter der Nachtschicht verließen ihren Arbeitsplatz. Aus der Stadtwaren drei Lastwagen mit Rebellen gekommen, die Freiwillige für dieRevolution suchten.In der Bródy utca war es <strong>in</strong>zwischen zu e<strong>in</strong>er vorübergehendenKampfpause gekommen. Als der AP-Korrespondent Endre Marton e<strong>in</strong>traf,schienen sämtliche Fenster des Funkhauses zertrümmert zu se<strong>in</strong>, und dieLeute zeigten ihnen Kugeln, die sie aufgesammelt hatten. An e<strong>in</strong>emBalkon war e<strong>in</strong>e Nationalfahne aufgezogen, und an den Fenstern im erstenStock drängten sich die Aufständischen, während die Stockwerke direktüber ihnen von Uniformierten gehalten wurden. Dem Funkhaus gegenüberbrannte e<strong>in</strong> Behördenfahrzeug. Gelegentlich hörte man von irgendwoherdas Knattern e<strong>in</strong>es Masch<strong>in</strong>engewehrs. Vor den Hause<strong>in</strong>gängen und <strong>in</strong>den Nebengassen standen Gruppen von Leuten, die die ÁVH329


eschimpften und den regulären Soldaten Beifall zollten.Die Aufständischen nutzten diese Ruhepause zur Auffrischung ihrerKräfte. Sie stahlen und plünderten und besorgten, wo immer sie konnten,Waffen und Munition. <strong>Ungarn</strong> war während des Koreakrieges Waffenarsenalder Sowjetunion geworden, und viele Betriebe waren auf dieHerstellung von Waffen umgestellt worden. Gegen 23.30 Uhr warnte e<strong>in</strong>eilig herbeigeruf ener Abteilungschef des zuständigen M<strong>in</strong>isteriumstelephonisch sämtliche Waffenfabriken.Se<strong>in</strong> erster Anruf galt dem Direktor der »Lámpagyár«, e<strong>in</strong>er früherenGlühbirnenfabrik. Die Stimme des Direktors zitterte.»Kannst du ungestört sprechen?« fragte der Abteilungschef.»Ne<strong>in</strong>«, flüsterte er.»Werden die Sachen weggetragen?«»Ja.«In der »Danuvia«-Fabrik war es genauso: E<strong>in</strong> bewaffneter Rebell hieltdem Direktor, während dieser telephonierte, e<strong>in</strong>e Pistole an den Nakken.Während der Nacht wurden <strong>in</strong> vielen Waffenfabriken lastwagenweiseWaffen weggeschleppt. Sowohl die »Bányagyutacsgyár«, die»Pestividéki«-Masch<strong>in</strong>enfabrik, die »Gépgyár«, die »Gamma«, die »Déj«und die Csepel »Téglagyár« wurden während der nächsten Stundengeplündert.Draußen vor dem Funkhaus wurde der Ruf laut: »S<strong>in</strong>d hier irgendwelcheKraftfahrer?« Zoltán Szabó hoffte, daß niemand se<strong>in</strong>e Busfahreruniformentdecken würde.ÁÈ Aber dennoch geschah es. »Hier ist e<strong>in</strong>Busfahrer.« Man brachte ihn zu e<strong>in</strong>em Lastwagen und sagte ihm, er sollezur Lámpa-Fabrik fahren, um Munition zu holen. Dort verstautenhilfreiche Hände Berge von Munitionskisten auf dem Wagen, und Szabófuhr damit zum Kálv<strong>in</strong> tér. Im Nu verschwanden die Kisten <strong>in</strong> der Menge,die bereits vor Waffen starrte. Dann machte er noch zwei Fuhren zurArtilleriekaserne <strong>in</strong> Pestszent-Lör<strong>in</strong>c, um Granaten zu verfrachten; beimzweitenmal wurde er, wie er glaubte, von der ÁVH beschossen, er zog esvor, leer zurückzufahren, ohne herauszuf<strong>in</strong>den, wer die Schützen waren.In der Nähe se<strong>in</strong>er Wohnung stellte er den Lkw ab.330


E<strong>in</strong> junger Architekt beobachtete später: »E<strong>in</strong>ige der Arbeiter hattenKle<strong>in</strong>kalibergewehre, die aus den Waffendepots der freiwilligenVerteidigungsmiliz, MÖHOSZ, e<strong>in</strong>er Militärsportorganisation, die von derKommunistischen Partei gefördert wurde, stammten. Von der anderenSeite des Flusses trafen zwei Lastwagen mit Soldaten e<strong>in</strong>. Aber weder dieOffiziere noch die Soldaten eröffneten das Feuer auf die Menschen. Esgab ke<strong>in</strong>e derartigen Befehle, und die Soldaten blieben auf ihrenLastwagen. Sie reichten ihre Karab<strong>in</strong>er an der Seite des Lastwagensherunter <strong>in</strong> unsere ausgestreckten Hände. Ich ergriff e<strong>in</strong> Masch<strong>in</strong>engewehrund schoß damit auf die ÁVH an den Fenstern des Funkhauses.«E<strong>in</strong> zwanzigjähriger Lagerist schilderte, wie er gerade <strong>in</strong> demAugenblick an der Ecke der Rákóczi út und dem Körút e<strong>in</strong>traf, als sechsLastwagen mit Soldaten heraufgefahren kamen, um zum Funkhaus zugelangen.ÁÍ Die Menge stoppte die Fahrzeuge und begann, den 120Soldaten, die auf ihnen hockten, gut zuzureden. Irgend jemand stimmtedie alte Nationalhymne an, und bald sang die ganze Menschenmenge mit,während die Soldaten strammstanden. Danach leisteten die Soldatenke<strong>in</strong>en Widerstand, als die Zivilisten über die Wagen herfielen und dieSoldaten von ihren Waffen »befreiten«.»Es war e<strong>in</strong> herrliches Gefühl, e<strong>in</strong> geladenes Gewehr <strong>in</strong> der Hand zuhalten«, me<strong>in</strong>te e<strong>in</strong> dreiundvierzigjähriger Gärtner.ÁÎ Und e<strong>in</strong> Musikstudent,der die ganze Zeit Ste<strong>in</strong>e gegen das Funkhaus geworfen hatte,hielt plötzlich e<strong>in</strong>en Karab<strong>in</strong>er <strong>in</strong> der Hand, den er von Soldaten erhaltenhatte, und krümmte se<strong>in</strong>e fe<strong>in</strong>gliedrigen F<strong>in</strong>ger um den Abzug. Da erselbst auf der Musikakademie wöchentlich drei Stunden militärischeAusbildung gehabt hatte, wußte er, wie man mit Waffen umgeht. Erschleppte den Karab<strong>in</strong>er <strong>in</strong> der Bródy utca mit sich herum, bis ihmschließlich klar wurde, daß er niemals Konzertpianist werden könne, wennse<strong>in</strong>en Händen etwas zustoßen sollte. So gab er das Gewehr jemandanderem, g<strong>in</strong>g nach Hause und legte sich <strong>in</strong>s Bett.ÁÏGegen 23.30 Uhr wurde der Panzer, der den E<strong>in</strong>gang zum Funkhausblockiert hatte, abgezogen. Sofort begann die Menge e<strong>in</strong>zudr<strong>in</strong>gen. DerMajor der Volksarmee László Kovács und e<strong>in</strong> Dutzend andere g<strong>in</strong>gen vor,331


um sich den E<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gl<strong>in</strong>gen entgegenzustellen. Kovács war e<strong>in</strong> Mann mitHakennase, sich lichtendem Haar und auffallend großen Ohren. Mitdreiunddreißig Jahren war er als Mechaniker <strong>in</strong> der Waggonfabrik Ganzder verbotenen Kommunistischen Partei beigetreten, hatte sich 1948 nachder Machtübernahme Rákosis freiwillig bei der Volksarmee gemeldet undseitdem an der Petöfi-Militärakademie Offiziersanwärter ausgebildet.Aber alle se<strong>in</strong>e Kenntnisse halfen ihm nichts angesichts der bl<strong>in</strong>dwütigenMenge. Zwei Männer an der Spitze der E<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gl<strong>in</strong>ge trugen Masch<strong>in</strong>enpistolen.E<strong>in</strong>er feuerte e<strong>in</strong>e kurze Salve auf die uniformierten Offiziereund mähte Kovács nieder auf das Pflaster des Innenhofs.ÁÌSe<strong>in</strong> Tod war der Auftakt zu e<strong>in</strong>em wüsten Gemetzel. Bald war dasganze Gebäude <strong>in</strong> Schußweite belagert. Unterdessen kam e<strong>in</strong> Bus ausCsepel und lud Karab<strong>in</strong>er und Munition aus. Die Leute schossen vonmehreren gegenüberliegenden Gebäuden aus gut verborgenen Stellungen,sie zielten aus verdunkelten Dachstuben und h<strong>in</strong>ter Schornste<strong>in</strong>en hervorauf die nur zehn Meter entfernten Leute im Funkhaus. Mündungsfeuerblitzte vom Nationalmuseum auf – die Fenster se<strong>in</strong>er archäologischenBibliothek blickten direkt <strong>in</strong> Richtung Funkhaus – und auch von denGebäuden <strong>in</strong> der Szentkirályi utca und der Múzeum utca.In Valéria Benkes von Kugeln durchlöchertem Büro kl<strong>in</strong>gelte ununterbrochendas Telephon. Nur zwei Leute wagten es, im Kugelhagel h<strong>in</strong>zugehen:Vészics und Erdös, mit dem Unterschied, daß Erdös auf allenvieren kroch, während Vészics, e<strong>in</strong> großer, schlanker, gelassener Mann,mutig aufrechtg<strong>in</strong>g. Niemand konnte sagen, ob die Telephonate wichtigwaren oder nicht. E<strong>in</strong> Anruf kam von Gerö, e<strong>in</strong> anderer teilte mit, daß dieRebellen Miklós Gimes gefangengenommen hätten, und György Fazekastelephonierte vom Polizeipräsidium, um Erdös dr<strong>in</strong>gend aufzufordern,auch dah<strong>in</strong> zu kommen. Die Anrufe von der Partei oder der Regierungschienen alle dasselbe zu sagen: Befreiungsmannschaften seien unterwegs.Péter Erdös gab diese Botschaften an Major Fehér weiter, aber es kamenke<strong>in</strong>e Verstärkungen. Auch dem neuen Generalsekretär des Nationalratesder Gewerkschaften, Ödön Kisházi, gelang es, telephonisch über dasdirekte Rote Telephon durchzukommen, um wichtigtuerisch e<strong>in</strong>e acht332


Seiten lange Erklärung durchzugeben, die sofort über den Rundfunkverbreitet werden sollte. Wenn Erdös ans Telephon g<strong>in</strong>g und se<strong>in</strong>enNamen nannte, konnte es passieren, daß es dem Anrufer den Atemverschlug und er lediglich fragte: »S<strong>in</strong>d Sie der Péter Erdös?« und dannverwirrt auflegte.Um Mitternacht war das Funkhaus fast völlig von den Rebellene<strong>in</strong>genommen. E<strong>in</strong>e letzte Gruppe entkam durch die H<strong>in</strong>tertür. Diezurückgebliebenen Verteidiger hörten das dunkle Knallen explodierenderHandgranaten und Rattern schwerer Masch<strong>in</strong>engewehre. Etwa zwanzigvon ihnen waren bereits tot. Ihr Kommandeur, József Fehér bat se<strong>in</strong>eVorgesetzten erneut um Instruktionen und erhielt schließlich die offizielleErlaubnis, das Feuer zu erwidern.ÁÓ Péter Erdös, immer noch mit dem Restder Leute im Gebäude e<strong>in</strong>geschlossen, war über diese Entscheidung nichtglücklich. Damit schwand für ihn die letzte Hoffnung e<strong>in</strong>er friedlichenÜbergabe der Macht an Imre Nagy. Um Zeit zu gew<strong>in</strong>nen, drängte er dieÁVH-Offiziere <strong>in</strong> Zivil, sich durch Rückruf zu versichern, daß derjenige,der den Befehl gegeben hatte, auch tatsächlich dazu berechtigt war.Fieberhaft begann Major Fehér wiederum zu telephonieren. Um 0.35 Uhrmorgens verkündete Fehér »Ich gebe jetzt den Befehl, das Feuer zueröffnen«, und verließ das Zimmer.Viele Hauptstraßen im Stadt<strong>in</strong>nern waren jetzt unter Kontrolle derAufständischen. An der Ecke der Stal<strong>in</strong> út und der Attila utca war e<strong>in</strong>großes Regierungsauto umgeworfen und angezündet worden und dientejetzt als Straßenh<strong>in</strong>dernis. Gern hätten die Menschen gewußt, wer e<strong>in</strong>sth<strong>in</strong>ter den verbrannten Vorhängen der Limous<strong>in</strong>e gesessen hatte. Überallwurden Barrikaden errichtet, und auch auf der Stal<strong>in</strong> út hatten BürgerStraßensperren aufgebaut. Um 1 Uhr früh stürmten bewaffnete Zivilisten,die mit drei Lastwagen gekommen waren und von denen e<strong>in</strong>ige graueStahlhelme trugen, das Fernsprechamt am József út.ÁÔNachdem er von den Verlusten se<strong>in</strong>er Leute im Funkhaus gehört hatte,gab der ÁVH-Chef der Hauptstadt, Oberst Orbán, se<strong>in</strong>em StellvertreterIstván Tompa am Republik tér den Auftrag, den ÁVH-Soldaten, die dieParteizentrale bewachten, Schießbefehl zu erteilen, für den Fall, daß sie333


angegriffen würden.ËÊTompa gab scharfe Munition an se<strong>in</strong>e Leute aus. Weder er nochLeutnant Várkonyi im zweiten Stockwerk des Gebäudes schliefen <strong>in</strong> jenerNacht – sie g<strong>in</strong>gen von e<strong>in</strong>em zum anderen ihrer Leute, teilten Beobachtungspostenund Schützen e<strong>in</strong> und sprachen beruhigende Worte derErmutigung. Niemand zweifelte daran, daß die Regierung den <strong>Aufstand</strong>niederschlagen würde, aber als man von Angriffen auf Waffendepots,Fabriken und Kasernen hörte, gab es doch e<strong>in</strong>ige Unruhe unter denMannschaften. Die meisten von ihnen waren 1955 e<strong>in</strong>gezogen und zurÁVH abkommandiert worden. Sie waren bisher noch nie im E<strong>in</strong>satzgewesen.Genau e<strong>in</strong>e Woche später sollten sie an die Reihe kommen.Inzwischen war der Legationsrat Erster Klasse, Tom Rogers,zusammen mit dem völlig verstörten Geschäftsträger, Spencer Barnes,wieder <strong>in</strong> die amerikanische Gesandtschaft zurückgekehrt. In se<strong>in</strong>emSmok<strong>in</strong>g sah Barnes so elegant aus, wie aus e<strong>in</strong>em Modeheft ausgeschnitten.Um Mitternacht hatte er e<strong>in</strong> fünfhundert Worte langes Kabelnach Wash<strong>in</strong>gton geschickt. Dar<strong>in</strong> wurden zwar Gerüchte erwähnt, daßrussische Truppen unterwegs seien, aber nachdrücklich festgestellt:»Bisher ke<strong>in</strong>e sowjetischen Streitkräfte gesehen.« Zweimal war <strong>in</strong> demKabel die Rede von der kühlen Aufnahme, die Nagy auf dem Parlamenttér zuteil geworden war. Wörtlich hieß es <strong>in</strong> dem Telegramm warnend:»Gesandtschaft empfiehlt dr<strong>in</strong>gend, daß sich Medien jeglicher Parte<strong>in</strong>ahmefür Imre Nagy zum gegenwärtigen Zeitpunkt enthalten.«John MacCormac von der New York Times traf gegen Mitternacht <strong>in</strong>der Bródy utca e<strong>in</strong> und erfuhr, daß kurz zuvor ungarische Panzerangekommen waren. Der Spitzenpanzer führte die Nationalfahne. Mit demRuf: »Die Armee ist unser!« stieg die Menge vor, um das Gebäudee<strong>in</strong>zunehmen. Dies war der Wendepunkt des <strong>Aufstand</strong>s – die Panzerverbändeg<strong>in</strong>gen zu den Aufständischen über. Der Gefreite Pál Szatmári,Berichterstatter der Zeitung der ungarischen Panzerdivision derenHauptquartier <strong>in</strong> Esztergom lag, befand sich zu dieser Zeit <strong>in</strong> der Bródy334


utca.ËÁ Die Division war um 21 Uhr, kurz nachdem die erstenSchießereien begonnen hatten, alarmiert worden. Unmittelbar nachMitternacht trafen Teile des Panzerregimentes 33 der Division ausPiliscsaba e<strong>in</strong>. Die motorisierte Infanterie wurde vor dem Balassa-Krankenhaus durch Sandsackbarrikaden gestoppt, die von der ÁVHerrichtet worden waren. Außerdem kamen vierzehn Panzer und e<strong>in</strong>egleiche Zahl von Mannschaftswagen an, während sieben weitere Panzerzusammen mit siebzehn Lastwagen Infanterie und neun gepanzertenMannschaftswagen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Seitenstraße parkten. Die Lage wurde kritisch:Die ÁVH war verunsichert, sie hatte schwere Verluste erlitten und konntejeden Augenblick das Feuer auf die Verbände der Volksarmee eröffnen.Oberstleutnant János Solymossi, der Regimentskommandeur, hielt mitse<strong>in</strong>en Panzern unter den Bäumen <strong>in</strong> der Nähe des Museums und g<strong>in</strong>gdann zu Fuß zurück, um mit se<strong>in</strong>em Vorgesetzten, dem Kommandeur derPanzerdivision Oberst János Mécseri, die Lage zu erörtern. Unterdessenhändigten se<strong>in</strong>e Soldaten heimlich den Studenten fünfzig Zünder fürHandgranaten aus, die sich die jungen Leute besorgt hatten – »zurVerteidigung der Universität« sagte e<strong>in</strong> Offizier augenzw<strong>in</strong>kernd.Als nächstes sah Gefreiter Szatmári, wie Oberst Solymossi se<strong>in</strong>enPanzer <strong>in</strong> die E<strong>in</strong>mündung der Bródy utca lenkte, wahrsche<strong>in</strong>lich mit derAbsicht, die <strong>in</strong> dem Gebäude e<strong>in</strong>geschlossenen ÁVH-Männer zu befreien.Der Oberst kletterte aus dem Turmluk, packte e<strong>in</strong>e ungarische Fahne undschritt zusammen mit se<strong>in</strong>en Offizieren auf das Gebäude zu. Dabei schlugihnen verstreutes Gewehrfeuer entgegen. E<strong>in</strong> Offizier fiel, mehrerewurden verwundet. Von diesem Augenblick an rührte ke<strong>in</strong> Soldat mehre<strong>in</strong>en F<strong>in</strong>ger, um die belagerten ÁVH-Männer zu retten.Die Entwicklung, die jetzt begann, sollte für Solymossi im Gefängnisund se<strong>in</strong>en Kommandeur Mécseri am Galgen enden.Kurz danach erschien Generalmajor László Hegyi im Auftrage desVerteidigungsm<strong>in</strong>isters Generalleutnant István Bata. In derselben Zeitdiskutierte Bata h<strong>in</strong>ter verschlossenen Türen <strong>in</strong> der Akadémia utca überdie Möglichkeit, die Armee gegen die Aufständischen e<strong>in</strong>zusetzen.ËË335


Hegyi erkannte Leutnant Decsi und w<strong>in</strong>kte ihn zu sich.»Wie ist die Lage?« fragte er.Decsi machte Meldung, aber Hegyi hatte se<strong>in</strong>e eigenen Ansichten undsprach von Konterrevolution und der »Macht des Proletariats«.Offensichtlich hatte der General vergessen, daß er sich <strong>in</strong> unmittelbarerHörweite dieses Proletariats befand, das ihn sogleich nachdrücklich daraner<strong>in</strong>nerte, von wem er die Epauletten auf se<strong>in</strong>en Schultern empfangenhatte. Der General lief rot an und befahl der Armee, die Straße zu säubern,doch ke<strong>in</strong> Soldat rührte sich.Der Abfall regulärer E<strong>in</strong>heiten der Volksarmee und ihr Überlaufen zuden Aufständischen war e<strong>in</strong> gewaltiger Schock für das Verteidigungsm<strong>in</strong>isterium.ËÈOberst Kopácsi wurde <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Polizeipräsidium angerufenund gefragt, welche Hilfe se<strong>in</strong>e reguläre Polizei leisten könne. In derMosonyi-Kaserne <strong>in</strong> der Stadt hatte Kopácsi e<strong>in</strong> Überfallkommando zurVerfügung, das mit Masch<strong>in</strong>engewehren und Handgranaten ausgerüstetwar. Doch die verängstigten ÁVH-Männer <strong>in</strong> der Bródy utca begrüßtendie Angehörigen dieses Kommandos ebenfalls mit tödlichem, mißtrauischemFeuer. Wütend rief der Kommandeur des ÜberfallkommandosKopácsi an: »Der Mob pöbelt me<strong>in</strong>e Leute an und versucht sie zumÜberlaufen zu bewegen!« Weitere Verluste wollte Kopácsi nichth<strong>in</strong>nehmen: »Ziehen Sie sich zurück!« befahl er. »Schikken Sie IhreMänner sofort wieder <strong>in</strong> die Kaserne.«In dieser Nacht gab es noch viele schlimme Zwischenfälle. Mit Lastwagenwurden Luftwaffensoldaten e<strong>in</strong>es nahe gelegenenMilitärflugplatzes <strong>in</strong> die Stadt geschickt. E<strong>in</strong>er ihrer Männer wurdeangeblich von e<strong>in</strong>er ÁVH-Kugel getötet. E<strong>in</strong> altgedienter Unteroffizier,der für se<strong>in</strong>e Härte bekannt war, setzte se<strong>in</strong>e Männer <strong>in</strong> Erstaunen, als erden Gefallenen aufhob und tränenüberströmt rief: »Sie haben ihnerschossen! Sie haben ihn erschossen!«ËÍ Viele Luftwaffensoldatenkehrten danach <strong>in</strong> die Kaserne ohne Waffen und Munition zurück – siehatten alles den Rebellen überlassen.Der Kommandeur der Heeresnachrichtenzentrale, die sich <strong>in</strong> der Nähedes Briefzensurbüros der ÁVH im Vorort Budakeszi befand, hatte336


ebenfalls e<strong>in</strong>en Lastwagen mit Soldaten <strong>in</strong> die Stadt geschickt; e<strong>in</strong>e ÁVH-Patrouille versuchte, den Wagen an e<strong>in</strong>er Straßenkreuzung anzuhalten underöffnete das Feuer, als der Wagen weiterzufahren versuchte. Der Offizierwurde auf der Stelle getötet. Der Lastwagen überschlug sich, wobeimehrere Soldaten ebenfalls ums Leben kamen. Die ÁVH-Männerschlugen und traten die sieben Überlebenden, nannten sie»Faschistenschwe<strong>in</strong>e«ËÎ und brachten sie <strong>in</strong> die Kaserne. »Morgen frühseid ihr ebenso tot wie euer Offizier«, erklärte ihnen e<strong>in</strong> ÁVH-Leutnant.ËÏOffensichtlich erhitzten sich die Gemüter <strong>in</strong> der Nacht immer mehr.Der Kopfschuß, den Professor Blüchers Freund<strong>in</strong> davongetragen hatte,war <strong>in</strong>zwischen, um 1 Uhr nachts, im Rókus-Krankenhaus operiertworden.ËÌ In der Bródy ucta beobachtete Blücher zahlreiche bewaffneteArbeiter, die mit Lastwagen von Csepel gekommen waren. Überall stießer auf Männer mit Masch<strong>in</strong>enpistolen, die sie von Soldaten erhaltenhatten; weitere Rebellengruppen kamen von der Kossuth-Offiziersschule,der Rákóczi-Militärakademie und der Bem-Kaserne. Es war verblüffend,daß sich selbst jüngere Offiziere und Offiziersanwärter dem <strong>Aufstand</strong>anschlossen, obgleich sie zur Arbeiterelite gehörten.ËÓDie Straße verfügte nun über mehr Waffen und Munition als dasFunkhaus, dessen Verteidigung schlecht organisiert war: Man hatte wederversucht, e<strong>in</strong>e Rundum-Verteidigung auf den Dächern e<strong>in</strong>zurichten, nochhatte man sämtliche E<strong>in</strong>gänge des Gebäudes gesichert. Es gab zwar e<strong>in</strong>enSchlachtplan des Verteidigungsm<strong>in</strong>isteriums für jedes wichtige Gebäudeder Stadt – Péter Erdös sah das zerfetzte Dokument während der Nacht <strong>in</strong>Händen von Major Fehér –, aber gegen 3 Uhr morgens waren dieVerteidiger <strong>in</strong> aussichtsloser Lage: vierzig ihrer Leute waren tot und ihreMunitionsbestände fast aufgebraucht.Im Laufe der Nacht schickte Verteidigungsm<strong>in</strong>ister General Bata dieOffiziersanwärter der Petöfi-Akademie zum Entsatz der im RundfunkgebäudeE<strong>in</strong>geschlossenen. Als die Kadetten mit wehender Nationalfahneanmarschierten, eröffneten die verunsicherten ÁVH-Männer auch auf siedas Feuer. Die Offiziersanwärter, die <strong>in</strong> das Gebäude gelangt waren,337


weigerten sich, auf ihre Landsleute zu schießen.ËÔ Als ihre Munitionknapp wurde, hörte Erdös, wie sie sagten: »Wir geben diesen ÁVH-Offizieren ke<strong>in</strong>e Munition, denn nachher werden sie behaupten, ihreMagaz<strong>in</strong>e seien voll und sie hätten überhaupt nicht geschossen!« In derMihály-Táncsics-Pionierschule außerhalb der Stadt waren die jungenSoldaten ebenfalls angetreten, um Gerös Rundfunkrede zu hören. Dannsagte man ihnen: »In Budapest s<strong>in</strong>d Unruhen, die Leute greifen dieVolksmacht an! Wir haben den Auftrag, diese Versuche zu ersticken.«Jeder Schütze erhielt 40 Schuß Munition. Der Kommandeur,Oberstleutnant Susa, führte den dritten Jahrgang und e<strong>in</strong>eNachrichtenkompanie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Lastwagenkolonne zur Verstärkung derAkadémia utca, wo die Parteiführer <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Marathonsitzung konferierten.Major Sziráky fuhr mit e<strong>in</strong>em anderen Konvoi zur Verteidigung desInnenm<strong>in</strong>isteriums.ÈÊAls die Lastwagen am General-Bem-Denkmal vorbeifuhren, sahen dieSoldaten zerissene Fahnen und Plakate, aber die Bedeutung wurde ihnen<strong>in</strong> der Dunkelheit nicht klar. Sie bemerkten auch, daß an öffentlichenGebäuden die Roten Sterne verschwunden waren. Aber sie konnten sichke<strong>in</strong>en Reim auf dieses seltsame Vorzeichen machen, denn da sie seitWochen <strong>in</strong> ihren Kasernen e<strong>in</strong>gesperrt waren, waren sie von den jüngsten,dramatischen Entwicklungen abgeschnitten.Ängstlich und beklommen saßen die Schriftsteller <strong>in</strong> ihrem Verbandsgebäude<strong>in</strong> der Gorkij fasor und warteten auf die Rückkehr ihrerDelegation aus der Akadémia utca. Im Gebäude befand sich derStudentenführer László Márton zusammen mit Tardos, Sarkadi, ErnöUrbán. Später erschienen noch Déry, Jankovic und e<strong>in</strong>ige andere jüngereSchriftsteller.ÈÁ Gegen Mitternacht kehrte die Delegation zurück undberichtete von Hegedüs’ kompromißloser Haltung: »Wenn die Kämpfemorgen früh nicht beendet s<strong>in</strong>d, werde ich die Russen herbeirufen!«Aber ke<strong>in</strong>e Anzeichen deuteten auf e<strong>in</strong> Abflauen des Blutvergießens.Es kam zu schlimmen Ausschreitungen, als die Massen versuchten, dieWaffenkammern <strong>in</strong> der Stadt zu plündern. In der Kossuth-Offiziersschulean der Üllöi út zog der Oberst Kömüves e<strong>in</strong>en Absperrungsr<strong>in</strong>g um das338


Gebäude, als sich der Mob näherte.ÈË Er befahl, den Kriegsschülern, ihreKarab<strong>in</strong>er zu laden, und warnte die Menge: »Wenn ihr näher kommt,werden wir schießen!«Zwei Männer traten unaufgefordert vor, um zu verhandeln; e<strong>in</strong>erwurde durch e<strong>in</strong>en Pistolenschuß niedergestreckt. Die Menge flüchtete.Der Oberst befahl se<strong>in</strong>en Leuten, sich nach dr<strong>in</strong>nen zurückzuziehen, undließ die Kasernentore schließen. Danach sandte er bewaffnete Patrouillenaus, die den gegenüberliegenden Volkspark nach bewaffneten Insurgentendurchkämmen und Lastwagen, die die Köbányai út h<strong>in</strong>unterfuhren, nachillegalen Waffen und Munition durchsuchen sollten.Der Offiziersanwärter Béla Kurucz, der e<strong>in</strong>er solchen widerstrebendenPatrouille angehörte, kam gegen 4 Uhr morgens zur KossuthSchule zurückund traf alles <strong>in</strong> hellem Aufruhr an.E<strong>in</strong> Lastwagen mit Aufständischen, die nach Waffen und Munitionsuchten, hatte das Tor zum H<strong>in</strong>tere<strong>in</strong>gang gerammt und durchbrochen.Der Wagen war nur wenige Meter <strong>in</strong> den Hof geschleudert, bevor er,durchlöchert vom MG-Feuer der Posten, zum Stillstand kam. Fast alleMänner, die sich auf dem Lkw befunden hatten, waren tot. DieÜberlebenden wurden <strong>in</strong> der Turnhalle der Kaserne e<strong>in</strong>geschlossen. Biszum Morgengrauen blieb der Wagen mit se<strong>in</strong>er leblosen Ladung auf demHof stehen.339


26Große Lüge, kle<strong>in</strong>e LügeIRGENDWO JENSEITS der dunklen Vorstädte näherte sich die große Lüge,die dieses Regime »ungarisch« nannte, der Stadt. Sie gab ihm das Etikette<strong>in</strong>er Volksdemokratie. Den Untertanen des Regimes sollte weisgemachtwerden, daß der Marxismus e<strong>in</strong>en höheren Lebensstandard gewährenwürde, als sie jemals hatten. E<strong>in</strong>ige wenige Stunden lang hatte sich diesegroße Lüge auf der Flucht befunden – aber nun kehrte sie unter demSchutz von Panzern wieder nach Budapest zurück. Ratternd, quietschendund ungeduldig auf dem Ste<strong>in</strong>pflaster scharrend, warteten die russischenPanzer auf den endgültigen Befehl, wieder e<strong>in</strong>zumarschieren.Die Urheber der Lüge befanden sich <strong>in</strong> der Defensive. Die Pioniereder Mihály-Táncsics-Schule außerhalb von Budapest waren nachMitternacht angetreten und von ihren Offizieren folgendermaßenunterrichtet worden: »Es s<strong>in</strong>d Unruhen wie <strong>in</strong> Posen ausgebrochen.Anführer s<strong>in</strong>d ehemalige Horthy-Offiziere!« Dann waren sie aufLastwagen verladen und am Donauufer entlang nach Budapest gebrachtworden.Á Auf e<strong>in</strong>er Brücke wurden sie von e<strong>in</strong>er wütenden Mengeangehalten, die ihnen erzählte, was wirklich geschehen war.Im Innenm<strong>in</strong>isterium wurden die Pioniere vom stellvertretendenM<strong>in</strong>ister Fekete erwartet, der die Uniform e<strong>in</strong>es ÁVH-Obersten trug.Leichenblasse ÁVH-Offiziere <strong>in</strong> ihren Ledermänteln standen <strong>in</strong> aufgeregtenGruppen herum. Die Pioniere wurden <strong>in</strong> Gruppen von zwei oderdrei Mann <strong>in</strong> die oberen Stockwerke geschickt, um dort Masch<strong>in</strong>engewehrstellungenan den Fenstern zu beziehen.E<strong>in</strong> anderer Trupp von Pionieren war zur Verteidigung der belagerten340


Parteizentrale <strong>in</strong> der Akadémia utca abgestellt. Typisch für die Angehörigendieses Trupps war e<strong>in</strong> großer, sechsundzwanzig Jahre alterangehender Nachrichtenoffizier, dessen Hoffnungen auf e<strong>in</strong>e Universitätskarriereim Jahre 1955 durch die Verhaftung se<strong>in</strong>es Vaters wegenSpionage zunichte gemacht worden waren. Se<strong>in</strong> Vater, der Dolmetscherbei den Uranbergwerken war, hatte Informationen an »Radio FreeEurope« weitergegeben.In George Orwells Farm der Tiere gibt es e<strong>in</strong>e Szene, <strong>in</strong> der Boxer,der Karrengaul, von Napoleon, dem Schwe<strong>in</strong>, zu e<strong>in</strong>er Audienz imFarm,haus empfangen wird. Der alte Karrengaul ist zu e<strong>in</strong>fältig, um zubegreifen, daß e<strong>in</strong>ige jetzt entschieden gleicher s<strong>in</strong>d als die anderen.Indem man diese e<strong>in</strong>fachen Soldaten <strong>in</strong> das Gebäude der Parteizentraleh<strong>in</strong>e<strong>in</strong>ließ, machte man e<strong>in</strong>en entscheidenden Fehler: Kaum e<strong>in</strong>er derBauern- und Arbeitersöhne hatte jemals e<strong>in</strong>en solchen Luxus wie hiergesehen. E<strong>in</strong>ige von ihnen hatten unter der Menge, die das Gebäudeumr<strong>in</strong>gte, Freunde entdeckt. Die Offiziere versuchten, Verbrüderungen zuverh<strong>in</strong>dern, aber der Schaden war nicht mehr gutzumachen. Die Soldatenkehrten <strong>in</strong> ihre Kasernen zurück, zogen Zivilkleidung an und wähltene<strong>in</strong>en revolutionären Soldatenrat.Drüben im M<strong>in</strong>isterium hatten die Pioniere <strong>in</strong>zwischen ihre Stellungenbezogen. Gegen 2 Uhr morgens hielten zwei Lastwagen mit Soldatenknapp dreißig Meter entfernt von e<strong>in</strong>er MG-Stellung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Eckraummit Balkon an. Man rief den Pionieren zu: »Auf welcher Seite steht Ihr?«– »Auf Eurer!« – »Tod der ÁVH!« – »Zum Funkhaus!« Die Lastwagenwendeten und fuhren davon.E<strong>in</strong>ige ÁVH-Offiziere konnten ihren Ärger nicht unterdrücken: »Wirhätten das Feuer eröffnen und sie wegfegen sollen!«Fekete schüttelte den Kopf. »Sie kennen Ihre Befehle – nicht schiegen.Wir müssen warten!«Gegen 2 Uhr morgens, als Endre Marton noch e<strong>in</strong>en letzten Rundgangunternahm, wurde e<strong>in</strong> Flugblatt verteilt, <strong>in</strong> dem es hieß, acht Menschen,darunter e<strong>in</strong> Major und e<strong>in</strong> Hauptmann der Volksarmee, seien <strong>in</strong> der341


Bródy utca getötet worden. E<strong>in</strong>e<strong>in</strong>halb Stunden später fuhren Péter Kendeund Iván Boldizsár über die achteckige Straßenkreuzung und wurdenZeugen e<strong>in</strong>es unvergeßlichen Anblicks: E<strong>in</strong> Lastwagen schleppte das<strong>in</strong>zwischen enthauptete Denkmal Stal<strong>in</strong>s die Hauptstraße entlang, gefolgtvon e<strong>in</strong>er johlenden Menge. Die Szene er<strong>in</strong>nerte an e<strong>in</strong> Bild <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em vonA. A. Milnes verbotenen Büchern – Christopher Rob<strong>in</strong>, der den TeddybärW<strong>in</strong>nie-The-Pooh an e<strong>in</strong>em Pelzbe<strong>in</strong> h<strong>in</strong>ter sich herzieht. Der hohleBronzekoloß verursachte e<strong>in</strong>en fürchterlichen Lärm, als er über diePflasterste<strong>in</strong>e und Straßenbahnschienen schepperte.ËÜberall waren Gruppen von jungen Leuten dabei, die Roten Sternevon den öffentlichen Gebäuden abzumontieren. Auf dem Karl-Marx-térhielten organisierte Trupps von Zivilisten auf der Suche nach ÁVH-AngehörigenKraftwagen an. In Kopácsis nahe gelegenem Polizeipräsidiumhatten im Lauf des Abends immer mehr Schriftsteller Zuflucht gesucht.ÈE<strong>in</strong>ige hielten Verb<strong>in</strong>dung mit dem Schriftstellerverband und anderenBrennpunkten aufrecht, andere stellten Namenslisten mit geeignetenPersönlichkeiten für e<strong>in</strong>e neue Regierung zusammen. Und andere wiederwaren der Verzweiflung nahe. Der Romanschriftsteller Tibor Déry wurdevon demselben Schuldgefühl erfaßt, das Otto Hahn, den Entdecker derKernspaltung, gequält hatte, als er von Hiroshirna erfuhr. »Als der ersteSchuß abgefeuert wurde, packte mich Verzweiflung«, schrieb Déry e<strong>in</strong>igeTage später, »ich sagte mir, du bist genauso verantwortlich für all dies, duhast Reden gehalten und aufgewiegelt, wie willst du das gegenüber denToten rechtfertigen? . . . Ich kann nicht e<strong>in</strong>fach die Tatsache akzeptieren,daß es ke<strong>in</strong>e Revolution ohne Blutvergießen gibt. Bei jedem Schuß, derabgefeuert wurde, hatte ich das uns<strong>in</strong>nige Gefühl, den F<strong>in</strong>ger am Abzugzu haben.«ÍAuf der Csepel-Insel, dem Industriegebiet <strong>in</strong> der Mitte der Donau imSüden von Budapest – dem »Roten Csepel«, das Rákosi und se<strong>in</strong>eKumpane als das Herzstück ihrer <strong>in</strong>dustriellen Revolution stets so stolzEhrengästen vorgeführt hatten, werden <strong>in</strong> der Nacht gegen 23 Uhrplötzlich die Werkzeugmasch<strong>in</strong>en angehalten, als sich das Gerücht über342


das sich entwickelnde Drama <strong>in</strong> der Innenstadt verbreitet. Lastwagen ausder Innenstadt kommen angefahren, Männer spr<strong>in</strong>gen ab und rufen: »InPest ist e<strong>in</strong>e Revolution ausgebrochen! Wo s<strong>in</strong>d die <strong>Ungarn</strong> unter euch?Kommt mit uns!« Revolution? Wie sieht e<strong>in</strong>e Revolution aus, fragt siche<strong>in</strong>e Frau – e<strong>in</strong>e achtunddreißigjährige Arbeiter<strong>in</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Stahlröhrenwerk.ÎSie will es wissen und klettert auf e<strong>in</strong>en Lastwagen.Csepel war ihr Lebens<strong>in</strong>halt. Sie war hier, als die Russen 1945 dieMasch<strong>in</strong>en des Röhrenwerks abtransportierten. Die Russen demontiertenauch e<strong>in</strong>e nagelneue Papiermühle und verschickten sie <strong>in</strong> die Sowjetunion.Aber die patriotischen örtlichen Ingenieure vergaßen absichtlich, ihnen dieBaupläne mitzugeben, so daß die Russen nicht <strong>in</strong> der Lage waren, dieAnlagen wieder zusammenzubauen. Nach fünf Jahren erhielt Rákosi sieals »Geschenk der Sowjetunion« zurück. 1956 sagte die Frau: »Es gabkaum e<strong>in</strong>e Familie, wo nicht wenigstens e<strong>in</strong> Angehöriger von den Russenoder dei ÁVO verschleppt worden war. Der Wunsch nach Vergeltung wargroß, und man wartete nur auf e<strong>in</strong>e Gelegenheit.«Die Frau hat nur e<strong>in</strong>e Grundschulausbildung, sie ist aber e<strong>in</strong> hellerKopf und sehr beredt. Sie will sich gerade wegen e<strong>in</strong>es Mannes, dererheblich jünger ist als sie, scheiden lassen. Sie gehörte zu den 35.000Werktätigen <strong>in</strong> Csepel, die bis 1953 für die Rüstung arbeiteten. Dannwurden, mit Beg<strong>in</strong>n des »Neuen Kurses« von Imre Nagy, 25.000 vonihnen zur Produktion von Konsumgütern e<strong>in</strong>gesetzt – <strong>in</strong> ihrem Fall zurHerstellung geschmackloser Stahlrohrmöbel, die niemand kaufen wollte.So sahen ihre persönlichen Erfahrungen mit Csepel und demmarxistischen Wirtschaftssystem aus.Gegen 2 Uhr morgens hatten die sich endlos h<strong>in</strong>ziehenden, fruchtlosenDiskussionen der jetzt massiv verteidigten Parteizentrale <strong>in</strong> der Akadémiautca aufgehört, aber kle<strong>in</strong>e Gruppen setzten die Beratungen fort.Hegedüs beschrieb es so: »Ich glaubte immer noch an die Möglichkeite<strong>in</strong>er politischen Lösung . . . aber nachdem die Demonstranten die RotenSterne und sowjetischen Flaggen attackierten, gab es für mich ke<strong>in</strong>enZweifel mehr, daß e<strong>in</strong>e Konterrevolution ausgebrochen war.« Über die343


nächtlichen Konferenzen berichtet er: »Die Parteiführung war gelähmt, alshätte sie der Schlag getroffen. Wenn jemand e<strong>in</strong>e Maßnahme vorschlug,wurde sie e<strong>in</strong>stimmig angenommen. E<strong>in</strong>e Stunde später setzte man sichwieder zusammen und beschloß e<strong>in</strong>e entgegengesetzte Maßnahme.«Der neue M<strong>in</strong>isterpräsident Imre Nagy macht es sich auf e<strong>in</strong>em Sofabequem. Schwerwiegende Entscheidungen s<strong>in</strong>d bereits <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Namengetroffen worden. In e<strong>in</strong>em benachbarten Raum, dem Büro von Gerö,haben sich Kádár, Gerö und Dobi auf dem Fußboden schlafen gelegt. Nurjüngere Leute wie Hegedüs bleiben wach und tätig. Die Situation er<strong>in</strong>nertdiejenigen, die e<strong>in</strong> gutes Gedächtnis haben, an glücklichere Zeiten: an dieersten aufregenden Nachkriegstage, als sie ebenfalls unbequem <strong>in</strong> demgroßen, unbeschädigten Gebäude am Republik tér, das sie als Sitz derParteizentrale übernommen hatten, die Nächte verbrachten. In deramerikanischen Gesandtschaft versucht man ebenfalls, noch etwas Schlafzu ergattern.Ï Es ist 3.15 Uhr morgens, als Gaza Katona und der stellvertretendeMilitärattaché Major Tom Gleason zu ihrem geme<strong>in</strong>samenWohnhaus am Stadtpark zurückfahren. Katona biegt noch e<strong>in</strong>mal ab undmacht e<strong>in</strong>en kurzen Umweg zur sowjetischen Botschaft <strong>in</strong> der Gorkijfasor. Die Straße ist e<strong>in</strong>sam und verlassen, nicht e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong> Polizeipostensteht vor dem Gebäude. E<strong>in</strong> leichter Nebel fällt, als Katona um 3.30 Uhrse<strong>in</strong>e Haustür aufschließt. Se<strong>in</strong>e Familie schläft. Pflichtbewußt sucht erse<strong>in</strong> Ampex-Aufzeichnungsgerät hervor, stellt es auf den Balkon vorse<strong>in</strong>em Schlafzimmerfenster und richtet das Mikrophon zur Stadtmitte, umden von der Bródy utca heraufdr<strong>in</strong>genden Gefechtslärm aufzunehmen.Das Band zeichnet das weitentfernte Pfeifen e<strong>in</strong>er Eisenbahnlokomotiveauf.Doch dann registriert es, etwas anderes: e<strong>in</strong> metallisches, dumpfesGrollen, das über Pflasterste<strong>in</strong>e zu rollen sche<strong>in</strong>t; es nähert sich von denAußenbezirken der Stadt.Der amerikanische Diplomat blickt auf das Anzeigegerät. Die Nadelschlägt über die Skala h<strong>in</strong>aus. Er blickt zum Fenster h<strong>in</strong>aus, er versucht,das matte Licht der Gaslaternen zu durchdr<strong>in</strong>gen. Plötzlich beg<strong>in</strong>nt derBalkon zu vibrieren, der Lärm schwillt zu e<strong>in</strong>er fast unerträglichen Laut-344


stärke an. Er sieht e<strong>in</strong> unförmiges Gebilde langsam vorbeirollen. E<strong>in</strong> T-54– ke<strong>in</strong>e Täuschung, er erkennt die geduckten, abgerundeten Umrisse, dasdicke Geschützrohr und das sowjetische Emblem, überdeckt vom Staubund Dreck e<strong>in</strong>er langen Fahrt. Ihm folgt e<strong>in</strong> anderer und dann noch e<strong>in</strong>er.Auf jedem T-54 kann Katona undeutlich drei oder vier behelmte,hockende Gestalten ausmachen, die Gewehre umklammern. Die Kolossegleiten so nahe an ihm vorbei, daß er auf sie spucken könnte.Inst<strong>in</strong>ktiv greift er nach se<strong>in</strong>er Kamera, aber dann gew<strong>in</strong>nt klarereÜberlegung die Oberhand. Dies ist ke<strong>in</strong>e Zeit für Spielereien. Dies istKrieg, dies s<strong>in</strong>d die Russen; e<strong>in</strong> Blitz von se<strong>in</strong>em Balkon könnte zuMißverständnissen führen. E<strong>in</strong> Blick auf se<strong>in</strong>e Armbanduhr und dannschreibt er <strong>in</strong> se<strong>in</strong> Kurzschrift-Tagebuch: »4.20 Uhr morgens: Sowjettruppens<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>getroffen.«Im Polizeipräsidium am Deák tér weiß es noch niemand, daß die großeLüge vor der Tür steht.Das Radio auf dem Regal h<strong>in</strong>ter Sándor Kopácsi meldet sich wieder.Ì»Radio Kossuth, Budapest. Guten Morgen, liebe Zuhörer. Unser heutigesProgramm beg<strong>in</strong>nt mit leichter Musik.«Aber es bleibt still. Kopácsi blickt auf se<strong>in</strong>e Uhr. Es ist 4.30 Uhr.Das Radio plärrt wieder: »Hier e<strong>in</strong>e Bekanntmachung des M<strong>in</strong>isterratsfür unsere Hörer: Faschistische reaktionäre Elemente haben e<strong>in</strong>en bewaffnetenAnschlag auf unsere öffentlichen Gebäude unternommen und unsereStreitkräfte angegriffen. Bis die Ordnung wiederhergestellt ist und weitereMaßnahmen ergriffen werden können, s<strong>in</strong>d alle Zusammenrottungen,Versammlungen und Demonstratio – nen verboten. Die Streitkräfte habenBefehl, die ganze Schwere des Gesetzes gegen diejenigen auszuüben, diediese Anordnung nicht befolgen.«Kopácsi stapft mit se<strong>in</strong>en ledernen Reitstiefeln über den gebohnertenFußboden. Er weiß, daß er ke<strong>in</strong>e Befehle hat. In Wahrheit beg<strong>in</strong>nt er,se<strong>in</strong>e Me<strong>in</strong>ung über diese ganze lästige Angelegenheit zu ändern. Alsersten Schritt wirft er die jungen Rebellen, die er verhaftet hatte, aus demPräsidium h<strong>in</strong>aus und sagt ihnen, sie sollen sich nach Hause scheren.345


Schwach gr<strong>in</strong>send steht er h<strong>in</strong>ter se<strong>in</strong>em Fenster und beobachtet, wie sieüber den Platz davonschleichen. Dann drehte er den anderen den Rückenzu und geht <strong>in</strong> se<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es Badezimmer, um sich zu waschen und zurasieren.Die Befehle, die sowjetischen E<strong>in</strong>heiten <strong>in</strong> Richtung Budapest <strong>in</strong>Bewegung zu setzen, müssen schon Stunden, wenn nicht Tage vorherergangen se<strong>in</strong>. Gegen 1 Uhr morgens meldete die ÁVH <strong>in</strong> Nyirbátor ander rumänischen Grenze dem Verteidigungsm<strong>in</strong>isterium <strong>in</strong> Budapest, daßsowjetische Truppen die Grenze überquerten. Aber wer hat die Entscheidungfür ihren E<strong>in</strong>satz <strong>in</strong> den Straßen getroffen? Nachträglich wollte sichniemand dazu bekennen. Kádár schob später M<strong>in</strong>isterpräsident Hegedüsdie Schuld zuÓ, während Hegedüs den Parteivorsitzenden Gerö verantwortlichmachte.Ô Gerö bemühte sich, die Verantwortung auf Imre Nagyabzuwälzen. Gleich nach dem 24. Oktober schob Nagy wieder die SchuldGerö und Hegedüs zu.E<strong>in</strong>s ist sicher: Niemand erhob E<strong>in</strong>spruch, als die Führungsgarde <strong>in</strong>jener Nacht zusammentrat. Laut Hegedüs hatte »Gerös Rundfunkansprachedie Spannung verschärft. Erst nach dieser Ansprache war dieRede davon, die Sowjets zu Hilfe zu rufen.« Dann erschien Imre Nagy, erwar wütend, daß man ihn auf dem Parlamentsplatz ausgebuht hatte. Dieeigentliche Debatte begann gegen 23 Uhr.ÁÊ Sie wurde beherrscht durchPersönlichkeiten wie Gerö und Hegedüs und durch die Nachrichten überdie blutigen Gefechte, die <strong>in</strong> der Bródy utca ausgebrochen waren. Daß dieMenge sich Waffen angeeignet hatte, war e<strong>in</strong>e Tatsache, worauf man nichtgefaßt war. Hegedüs fühlte sich unbehaglich, lehnte aber alle Bitten derSicherheitspolizei um Feuererlaubnis ab.ÁÁEntscheidend war die Nachricht, daß die ungarischen Streitkräfte sichals unloyal gegenüber dem Regime erwiesen und sich auf die Seite derRebellen schlugen. Von Valéria Benke und dem ÁVH-Kommandanten imFunkhaus kamen flehentliche Anrufe mit der Bitte um Verstärkungen. Diedorth<strong>in</strong> beorderten Truppen kamen aber nicht durch. Mehrere Male riefFrau Benke über die rote K-Leitung an, um mitzuteilen, daß der Pöbel auf346


das Gebäude schieße. Sie unterstützte die Bitte der ÁVH, das Feuererwidern zu dürfen. Doch immer noch weigerten sich Hegedüs und Gerö,zuzustimmen. Um Mitternacht war noch ke<strong>in</strong> entsprechender Befehlergangen.Die führenden Mitglieder des Politbüro-Sekretariats stimmten lautHegedüs schon frühzeitig dem Vorschlag zu, daß die sowjetischeRegierung Truppen aus ihren Garnisonen zur Verfügung stellen solle, umdie Ordnung wiederherzustellen. Vor allem György Marosán bestanddarauf, Sowjettruppen herbeizurufen, da die »Volksmacht« <strong>in</strong> Gefahr sei,überwältigt zu werden.ÁË Auch Gerö drängte auf e<strong>in</strong>e militärische Lösung.»Er vertrat e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>fachen Standpunkt«, sagte Hegedüs. »Mehrerehundert Aufständische kontrollierten von strategischen Punkten aus dieStadt . . . Sowjetische Truppen würden ohne Schwierigkeiten mit ihnenb<strong>in</strong>nen weniger Stunden fertig werden.«Hegedüs betont jetzt: »Das bedeutet nicht, daß wir von densowjetischen Truppen e<strong>in</strong> direktes E<strong>in</strong>greifen zur Niederschlagung des<strong>Aufstand</strong>es erwarteten. Bewiesen wird dies durch die Tatsache, daßwährend jenes Abends die Führungsspitze schwerste Bedenken gegen dieErteilung e<strong>in</strong>es Schießbefehls hatte.« In jener Nacht verglich man dieEreignisse <strong>in</strong> Budapest mit den Unruhen, die drei Jahre zuvor <strong>in</strong> Ost-Berl<strong>in</strong> stattgefunden hatten. Dort hatte das Ersche<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>iger wenigerSowjetpanzer genügt, um die Unruhen zu unterdrücken, ohne daß auchnur e<strong>in</strong> Schuß abgegeben wurde.»Es gab e<strong>in</strong>e endlose Debatte, aber niemand erhob ernsthafteE<strong>in</strong>wände. Zu diesem Zeitpunkt waren wir noch nicht <strong>in</strong> der Lage, denganzen Umfang der Ausschreitungen zu ermessen. Imre Nagy war, glaubeich, etwa 9 Uhr abends zu der Diskussion h<strong>in</strong>zugezogen worden, <strong>in</strong> se<strong>in</strong>erGegenwart wurde beschlossen, an die sowjetische Regierung mit der Bitteheranzutreten, Truppen zur Wiederherstellung der Ordnung zu entsenden.Ich er<strong>in</strong>nere mich daran, daß Gerö vor dem Telephongespräch mit denSowjets noch e<strong>in</strong>mal alle fragte, ob sie damit e<strong>in</strong>verstanden seien. Wirstimmten zu, auch Imre Nagy. Gerö fragte Imre Nagy persönlich: ›Bist duder Me<strong>in</strong>ung, daß wir Moskau um Hilfe bitten müssen?‹ Klar und deutlich347


erwiderte Nagy: ›Ja!‹ Aber man muß h<strong>in</strong>zufügen, daß die Situation sehrkompliziert war und daß Imre Nagy müde und nervös war. Es war ke<strong>in</strong>edurchdachte Entscheidung.«Demnach hatte Imre Nagy ke<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>wände erhoben. Warum sollte erauch? Er war e<strong>in</strong> Russisch sprechender, ehemaliger Sowjetbürger, der dengrößten Teil se<strong>in</strong>es Lebens als Erwachsener <strong>in</strong> Moskau verbracht hatte; erhatte sich se<strong>in</strong>en politischen Weg mit Hilfe der Sowjetarmee gebahnt.Jetzt machte er se<strong>in</strong>en ersten grundlegenden Fehler. Später bereute er ihnbitter und flüchtete <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Notlüge, um ihn zu verheimlichen. Er bestärktedie allgeme<strong>in</strong>e Überzeugung, daß er weder mit der Entscheidung,sowjetische Panzer e<strong>in</strong>zusetzen, noch mit der gleichermaßenfolgenschweren Entscheidung, das Kriegsrecht zu verhängen, zu tunhatte.ÁÈAm 27. Oktober, als er sich immer weiter vom orthodoxen Kommunismuszu entfernen schien, wiederholte Nagy diese Dementis gegenüberSzilágyi, Aczél, Gimes, Löcsei und e<strong>in</strong>em halben Dutzend anderenIntellektuellen.ÁÍ Aber ke<strong>in</strong> Leugnen konnte die Tatsache verschleiern,daß er als M<strong>in</strong>isterpräsident <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Rundfunkbotschaft die sowjetischeIntervention als »notwendig zur Wiederherstellung von Ruhe undOrdnung« bezeichnet hatte.Bis zum 30. Oktober war Nagy sich darüber im klaren, daß er damitse<strong>in</strong>em persönlichen Ansehen großen Schaden zugefügt hatte. Se<strong>in</strong>eRegierung verkündete daraufh<strong>in</strong> offiziell, daß jene beiden verhaßtenEntscheidungen das Werk von Gerö und Hegedüs waren (Hegedüs hattegerade e<strong>in</strong>en Tag vorher Budapest verlassen und war nach Moskaugeflogen). Als er von e<strong>in</strong>em österreichischen Reporter gefragt wurde,warum man <strong>in</strong> der Öffentlichkeit immer noch ihn verantwortlich mache,erwiderte er aufbrausend: »Zu der Zeit war ich gar nicht Mitglied derFührungsspitze. Es wird wohl so gewesen se<strong>in</strong>: Zuerst hieß es, es sei ›dieRegierung‹ gewesen. Zwei oder drei Tage später war ich die Regierung.Die Masse kann eben nicht differenzieren.«ÁÎ Selbst wenn man ihm zugutehält, daß er mit der deutschen Sprache nicht vertraut ist, sche<strong>in</strong>en se<strong>in</strong>e348


Antworten unaufrichtig zu se<strong>in</strong>. Der Österreicher setzte ihn unter Druck:»Haben Sie gesagt, es war ›notwendig zur Wiederherstellung von Ruheund Ordnung‹, oder haben Sie es nicht gesagt?«Dreimal leugnete Nagy auch das: »Ne<strong>in</strong>, ne<strong>in</strong>, ne<strong>in</strong>!«Er fügte h<strong>in</strong>zu: »Ich habe ke<strong>in</strong>e derartigen Erklärungen abgegeben,und ich muß sagen, daß sie großen Schaden angerichtet haben.«Nächster Punkt auf der Tagesordnung jener Nacht vom 23. Oktoberwar die offizielle Ernennung von Imre Nagy zum M<strong>in</strong>isterpräsidenten anStelle von Hegedüs. Dieser sollte als stellvertretender Regierungschef imKab<strong>in</strong>ett bleiben, während Gerö se<strong>in</strong>en Posten als Parteivorsitzenderbehalten sollte. Da die Entfremdung zwischen Nagy und Gerö tief undirreparabel war, plädierte Kádár vernünftigerweise für den sofortigenRücktritts Gerös.ÁÏ (Kádár hatte für Nagys Ernennung gestimmt. Im Mai1957 bekannte er: »Trotz se<strong>in</strong>er vielen Fehler war ich davon überzeugt,daß er e<strong>in</strong> ehrlicher Mann sei, der auf der Seite der Arbeiterklassestand.«)ÁÌAls man ihm den Posten des M<strong>in</strong>isterpräsidentzen anbot, knüpfte ImreNagy nur e<strong>in</strong>e Bed<strong>in</strong>gung daran; man müsse ihm die Möglichkeit zuumfassenden Wirtschaftsreformen geben.ÁÓ Natürlich befand sich Nagy <strong>in</strong>e<strong>in</strong>er schwierigen Lage. Er war immer noch e<strong>in</strong> Niemand, hatte ke<strong>in</strong>enPosten <strong>in</strong>nerhalb der Partei, und die Versammelten waren ihm überwiegendfe<strong>in</strong>dlich ges<strong>in</strong>nt: Die Zusammensetzung des Zentralkomiteeshatte sich seit se<strong>in</strong>er öffentlichen Verurteilung im April 1955 kaumgeändert.ÁÔ Stal<strong>in</strong>isten wie István Hidas und László Piros sprachen vonNagy und se<strong>in</strong>en Anhängern grimmig als »Komplizen der Faschisten, die<strong>in</strong> diesem Augenblick <strong>in</strong> der Hauptstadt wüten«. Nagys Ernennung fandohne jedes Zeremoniell statt, war aber legal, und ihre Legalität wurde vonStaatspräsident Dobi bestätigt, lange nachdem sie bereits zu e<strong>in</strong>erpe<strong>in</strong>lichen Angelegenheit geworden war.ËÊGegen 4 Uhr morgens wurde <strong>in</strong> der Parteizentrale bekannt, daß dasFunkhaus <strong>in</strong> die Hände der Aufständischen gefallen sei. In aller Frühebeschlossen Hegedüs, Piros und der Verteidigungsm<strong>in</strong>ister Bata, über den349


Rundfunk, der jetzt von Lakihegy, außerhalb der Stadt, sendete, e<strong>in</strong>Ausgehverbot zu erlassen, das den Leuten untersagte, während des ganzenVormittags die Straßen zu betreten. Diese Verlautbarung wurde um 8.20Uhr verbreitet. E<strong>in</strong>er von Nagys Anhängern weckte ihn sofort und erzählteihm dies. Wütend ordnete Nagy e<strong>in</strong>en Widerruf des Ausgehverbots an.Dies war der erste offene Konflikt zwischen zwei divergierenden Strömungen<strong>in</strong>nerhalb der Führungsspitze. Die e<strong>in</strong>en me<strong>in</strong>ten, man könne dieUnruhen mit Gewalt unterdrücken, die anderen glaubten an den Erfolge<strong>in</strong>es diplomatischen Vorgehens.Als der Morgen graute, trafen immer mehr Sowjettruppen e<strong>in</strong>. Siekamen vom Südwesten und drangen über die Hügel von Buda und überdie Freiheitsbrücke und die Margaretenbrücke <strong>in</strong> die Stadt e<strong>in</strong>. E<strong>in</strong>igehielten auf den Brücken, andere bezogen Stellungen auf der Uferstraßeund vor Regierungsgebäuden. Gegen sechs Uhr früh kamen aus Ceglédweitere Panzer, sie passierten die Außenbezirke bei Pesterzsébet undSoroksár.Die russischen Soldaten waren schußfreudig; sie belegten Straßen undGebäude mit schwerem Masch<strong>in</strong>engewehrfeuer. Über die Üllöi út rolltegegen 6 Uhr morgens e<strong>in</strong>e endlose sowjetische Marschkolonne – gepanzerteMannschaftswagen mit Truppen aus Várpalota.ËÁ Sie beschossen diemit Sandsäcken geschützten Masch<strong>in</strong>engewehrnester, die Oberst Kömüvesauf den Dächern der Kossuth-Kaserne hatte e<strong>in</strong>richten lassen; andereeröffneten das Feuer <strong>in</strong> der Nähe des Schlachthofs. und auf der SándorNagy utca.Doch das Funkhaus war nicht mehr zu retten. Das gegenüberliegendeGebäude war von Aufständischen besetzt. In den Büros zur Straßenseitelagen Leichen herum, die Munition war ausgegangen. Frau Benke hattedie ganze Nacht tapfer durchgehalten, aber <strong>in</strong> den letzten M<strong>in</strong>uten hattesie doch das Gefühl, daß sie <strong>in</strong> der Parteizentrale se<strong>in</strong> sollte. Sie fragtePéter Erdös: »Me<strong>in</strong>en Sie, ich sollte das Funkhaus verlassen?« Gegen 8Uhr gelang es ihnen, Gerö telephonisch zu erreichen. Se<strong>in</strong>e Stimme klangverschlafen und gereizt. Sie entschuldigten sich, sagten aber, daß sie <strong>in</strong>wenigen M<strong>in</strong>uten kapitulieren müßten. Er versprach Verstärkungen.350


Auf diese Verstärkungen hatten sie allerd<strong>in</strong>gs schon die ganze Nachtgewartet. Die überlebenden Verteidiger suchten Zuflucht <strong>in</strong> Umkleideräumenim h<strong>in</strong>teren Teil des Gebäudes. Unter ihnen befanden sich auche<strong>in</strong>ige Mitglieder der ersten Straßen-Delegation – sie waren die ganzeNacht dageblieben und hatten sich sogar an der Verteidigung beteiligt.Besorgt fragten mehrere von ihnen Erdös, ob sie behaupten dürften, sieseien verhaftet und daran geh<strong>in</strong>dert worden, das Gebäude zu verlassen.Jetzt dachte jedermann nur noch an sich selbst. E<strong>in</strong>ige Jungen undMädchen aus e<strong>in</strong>em K<strong>in</strong>dergarten waren ebenfalls <strong>in</strong> dem Gebäudegefangen und trugen dazu bei, e<strong>in</strong>e Art Berl<strong>in</strong>er Bunkeratmosphäre zuerzeugen. In e<strong>in</strong>er Ecke saß e<strong>in</strong>e junge Frau, die still vor sich h<strong>in</strong> we<strong>in</strong>te;auf e<strong>in</strong>em Sofa lag e<strong>in</strong> verwundeter ÁVH-Soldat. Der Parteisekretär desRundfunks rief: »Raus mit ihm auf den Korridor, se<strong>in</strong>etwegen werden wirnoch alle umgebracht.« Erdös zog se<strong>in</strong>e Walther-Pistole und erklärte, derVerwundete bleibe dort, wo er sei. Die ÁVH-Soldaten warteten mit verbissenenGesichtern auf das E<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gen der Rebellen. Man fand Zivilmäntelfür sie. Erdös überließ den fünf Funktionären des M<strong>in</strong>isteriums, dienur ihre ÁVH-Ausweise hatten, se<strong>in</strong>e eigenen Personalpapiere, se<strong>in</strong>enRundfunkausweis, se<strong>in</strong>en Personalausweis und se<strong>in</strong>en Führersche<strong>in</strong>, umjedem e<strong>in</strong>e Chance zum Entkommen zu geben. Dann versteckte er se<strong>in</strong>ePistole <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Sessel.Über die Bródy utca hatte sich e<strong>in</strong>e unheimliche Stille gesenkt. DieToten wurden aus dem Gebäude getragen und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Reihe vor demHaupte<strong>in</strong>gang niedergelegt.ËË Etwa dreißig überlebende ÁVH- undArmeeoffiziere hatten sich vor den siegreichen Rebellen <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Konferenzzimmerim ersten Stock geflüchtet. Die Rebellen riefen: »Nicht schießen!«Ihre Opfer riefen ebenfalls im Chor: »Nicht schießen!« Das war das Endeder Schlacht.Wenige Augenblicke später öffnete sich die Tür des Zimmers, <strong>in</strong> demPéter Erdös und se<strong>in</strong>e Gruppe Zuflucht gesucht hatten, junge Männer, mitMasch<strong>in</strong>enpistolen bewaffnet, stürmten here<strong>in</strong>. Erdös besaß die Geistesgegenwart,den ersten E<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gl<strong>in</strong>g, e<strong>in</strong>en dicken dreißigjährigen Mannmit e<strong>in</strong>er blauen Mütze, von dessen Gürtel Munitionsmagaz<strong>in</strong>e und Hand-351


granaten baumelten, mit e<strong>in</strong>er Umarmung zu begrüßen. Der Mann hatte <strong>in</strong>der e<strong>in</strong>en Hand e<strong>in</strong>e russische MP, <strong>in</strong> der anderen e<strong>in</strong>en Revolver. Erstellte sich als Bruder e<strong>in</strong>es jugendlichen vor, der 1947 h<strong>in</strong>gerichtetworden war, weil er vor die Budapester Stadthalle e<strong>in</strong>e Höllenmasch<strong>in</strong>egelegt hatte (die Bombe war nicht losgegangen). Jetzt nahm er persönlichRache für se<strong>in</strong>en Bruder. Erdös wies se<strong>in</strong>e Entlassungspapiere aus demGefängnis vor. Die Rebellen fragten ihn nach den anderen Anwesendenim Zimmer. Er identifizierte die ÁVH-Soldaten als Journalisten undempfahl den Rebellen, sie sollten die anderen veranlassen, sichauszuweisen – er wußte ja, daß sie echte Presseausweise hatten. Dann griffsich Erdös e<strong>in</strong>e Masch<strong>in</strong>enpistole, richtete sie auf se<strong>in</strong>e ehemaligenKollegen und »eskortierte« sie nach draußen. Dort sagte er ihnen, siesollten sich so schnell wie möglich davonmachen.Nachdem Erdös das Zimmer verlassen hatte, verschafften sich anderebewaffnete Männer E<strong>in</strong>tritt und w<strong>in</strong>kten den Mann mit der blauen Mützeheran. Sie nahmen den verwundeten ÁVH-Soldaten mit und verließen allezusammen den Raum. Nun trat e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er Mann <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em dunklen Anzuge<strong>in</strong>, es war der schielende Anführer. »Me<strong>in</strong>e Herren«, rief er, »ich gebeIhnen jetzt allen e<strong>in</strong>e Chance, Ihre Haut zu retten, unter der Bed<strong>in</strong>gung – «und hier machte er e<strong>in</strong>e Pause, um e<strong>in</strong>e Packung dr<strong>in</strong>gend ersehnterZigaretten herumzureichen – »daß Sie mit uns zusammen für die Freiheitunseres Volkes kämpfen!«Sekunde um Sekunde verstrich. Es gab e<strong>in</strong>ige, die ihre Bereitschafterklärten. Aber e<strong>in</strong> leichenblasser Mann trat zurück und erklärte mit festerStimme: »Ne<strong>in</strong>, ich will nicht kämpfen!« Zwei andere traten ebenfallszurück. Der schielende Mann wandte sich um und sagte zu den anderen:»In Ordnung. Stellt e<strong>in</strong>e Delegation zusammen. Ich möchte, daß e<strong>in</strong>eDelegation mit mir zur Akadémia utca geht!«Die Politoffiziere der Petöfi-Akademie, die sich im Funkhaus aufgehaltenhatten, wurden von den ÁVH-Gefangenen getrennt, die Rebellenlasen ihnen e<strong>in</strong>en anfeuernden Brief vor, den ihre Kameraden derstudentischen Massenversammlung am Tag zuvor geschickt hatten. DieRebellen forderten die Offiziere auf, die militärische Führung bei den352


Aktionen gegen die Russen zu übernehmen. Die Offiziere waren e<strong>in</strong>verstandenoder taten so, als seien sie e<strong>in</strong>verstanden, sie schienen zu allembereit – nur heraus aus diesem Leichenhaus. Auf der Straße verschwandensie heimlich.Frau Benke und ihre Kollegen kamen ungeschoren davon: dieRebellen erkannten sie nicht, sondern geleiteten sie sogar auf die Straße,um sie dort freizulassen. Die rund vierzig ÁVH-Gefangenen wurden <strong>in</strong>das Gewölbe geführt und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Kohlenkeller gesperrt, wo man ihnendie Epauletten, und ihre Mützen und Mäntel wegnahm. Hier warteten siestumm auf e<strong>in</strong>e grausame H<strong>in</strong>richtung. E<strong>in</strong>ige Stunden später entriegeltee<strong>in</strong> Student jedoch die Tür und rief ihnen zu: »Me<strong>in</strong>e Herren, Sie s<strong>in</strong>dfrei.«Als mit dem Morgengrauen <strong>in</strong> den Straßen das Heulen und Krachenvon Granaten e<strong>in</strong>setzte, begannen die Telephone auf dem Schreibtisch vonOberst Kopácsi zu schrillen.ËÈ Er war wie vom Donner gerührt über diee<strong>in</strong>gehenden Meldungen. Daß die Rote Armee 1945 so gewütet hatte, wardiesem kommunistischen Ex-Partisan verständlich. Aber man schrieb jetzt1956! Bleich vor Wut lugte er h<strong>in</strong>ter se<strong>in</strong>en Fenstern hervor und beobachtetedie vorbeirollenden T-54. Dann erschienen se<strong>in</strong>e beiden sowjetischenBerater mit weiten, ausgebeulten Hosen, die sie <strong>in</strong> aller Eile überihre Pyjamas gezogen hatten. Sie standen neben ihm, drehten mit zitterndenHänden ihre Velourshüte und starrten <strong>in</strong> die graue Dämmerung überdem Engels tér. Kopácsi sah, wie sie an ihren Nägeln kauten, währendmenschliche Schatten, die gegenüberliegende Anker köz entlanghuschten.Kurz danach hielt e<strong>in</strong> russischer Panzer. E<strong>in</strong> Mann der Besatzung stiegaus, um an dem Fahrzeug etwas zu richten. Plötzlich öffnete sich dasFenster e<strong>in</strong>es Hauses auf der Straße, und der Russe wurde mit e<strong>in</strong>eme<strong>in</strong>zigen gutgezielten Karab<strong>in</strong>erschuß niedergestreckt. Molotow-Cocktailssplitterten gegen den Panzer, der sofort <strong>in</strong> Flammen stand. Zwei der fünfBesatzungsmitglieder gelang es, auszusteigen – e<strong>in</strong>er verschwand <strong>in</strong> derDunkelheit, der zweite rannte quer über den Platz, direkt auf dasPolizeipräsidium zu. Nach zwanzig Metern war auch er, von e<strong>in</strong>er Kugelim Rücken getroffen, tot.353


Für e<strong>in</strong>en kurzen Augenblick sah Kopácsi an e<strong>in</strong>em der oberen Fensterdie Silhouette e<strong>in</strong>es Mannes mit e<strong>in</strong>er Masch<strong>in</strong>enpistole <strong>in</strong> der Hand unde<strong>in</strong>er Uniformmütze auf dem Kopf. Er hörte, wie h<strong>in</strong>ter ihm jemand mitkeuchender Stimme auf russisch die Worte hervorstieß: Graschdanskajawo<strong>in</strong>a – Bürgerkrieg.354


27Neue Gewehre begleichenalte RechnungenFRÜH UM 6.30 Uhr läutete der Wecker <strong>in</strong> der Wohnung gegenüber demStadtpark.Á Der amerikanische Diplomat Gaza Katona stellte das Radioan. Es brachte e<strong>in</strong>en Aufruf, die Straßen vor 9 Uhr nicht zu betreten, weilmit »plündernden konterrevolutionären Banden« aufgeräumt würde. GazaKatona zog sich an, g<strong>in</strong>g h<strong>in</strong>unter und wartete auf den stellvertretendenMilitärattaché Major Gleason. Hohläugig wegen Schlafmangels fuhren siegeme<strong>in</strong>sam durch den anhaltenden Nebel stadte<strong>in</strong>wärts.Bei Tagesanbruch konnten sie die nächtlichen Schäden erkennen.Heckenschützen hatten offensichtlich auf die Russen geschossen, derenE<strong>in</strong>treffen Katona miterlebt hatte. Unten am Flug war der Nebel nochdicht, doch konnten sie sowjetische Panzer sehen, die auf dem Kossuth tér<strong>in</strong> Stellung gegangen waren. Während der Fahrt zählten sie die T-54-Panzer, die Sturmgeschütze, die gepanzerten Wagen und die 57-mm-Flakgeschütze, die im Laufe der Nacht e<strong>in</strong>getroffen waren; sie kamen aufsechsunddreißig Panzer, vermuteten aber e<strong>in</strong>e weit größere Anzahl –wenigstens e<strong>in</strong> Regiment mußte bereits hier se<strong>in</strong>. Der größte Teil derInnenstadt schien sich <strong>in</strong> den Händen der Rebellen zu bef<strong>in</strong>den. AmOktagon wurden Gewehre und Munition aus e<strong>in</strong>em requirierten SISausgegeben – das Nummernschild wies aus, daß es bis gestern nacht derWagen e<strong>in</strong>es M<strong>in</strong>isters gewesen war. In der Wesselényi utca rissen Frauenund K<strong>in</strong>der Pflasterste<strong>in</strong>e heraus, um Barrikaden zu bauen.Aber das Regime hatte e<strong>in</strong>en festen Absperr<strong>in</strong>g um se<strong>in</strong>e Schlüssel-355


stellungen gezogen. Sowjetische Panzer hatten die ungarischen Panzerwagenersetzt, die vorher das Verteidigungsm<strong>in</strong>isterium <strong>in</strong> der Honvédutca und das ÁVH-Hauptquartier am Jászai Mari tér verteidigt hatten.Drei Stal<strong>in</strong>-Panzer standen an dieser Seite der Margaretenbrücke. Vor demnahen Westbahnhof sah man e<strong>in</strong>en ausgebrannten Straßenbahnwagen.Über den Fluß war e<strong>in</strong> Verteidigungsr<strong>in</strong>g um den aus der Kriegszeitstammenden Bunker unter dem Gellért-Hügel gezogen worden, wo jetztder Rundfunksender aus der umkämpften Bródy utca untergebrachtworden war. Im Radio hörte man e<strong>in</strong> eierndes Tonband mit Kammermusik.Als die amerikanischen Diplomaten um 8.30 Uhr ihre Gesandtschafterreichten, schrillten die Telephone. Katona nahm den Hörer des erstenApparats ab und hörte e<strong>in</strong>e Stimme sagen: »Am Funkhaus kämpft immernoch die ÁVH, sowjetische Truppen versuchen, Herr der Lage zu werden,die Straßen s<strong>in</strong>d voll von Leichen.«»Wie viele s<strong>in</strong>d es?«»Kann man nicht übersehen, aber <strong>in</strong> der Akadémia utca und um dasVerteidigungsm<strong>in</strong>isterium ist e<strong>in</strong>e regelrechte Schlacht gegen sowjetischeTruppen im Gange.«Die Rundfunknachrichten, die jetzt vom Bunker kamen, entsetztensogar die eifrigsten Anhänger Imre Nagys aus der vergangenen Nacht. Um8.13 Uhr hatte das Regime das neue Zentralkomitee und Nagys Ernennungzum M<strong>in</strong>isterpräsidenten bekanntgegeben. Um 8.45 Uhr verbreitete derRundfunk die Meldung, Nagy habe das Standrecht über das ganze Landverhängt: Jede Person, die mit illegalen Waffen angetroffen oderversuchen würde, die Republik zu stürzen, sollte auf der Stelle erschossenwerden. Um 9 Uhr meldete der Rundfunk offiziell, was die meistenBürger von Budapest schon längst mit eigenen Augen gesehen hatten – dieIntervention sowjetischer Truppen. Den Hörern wurde versichert, diefremden Truppen seien »auf E<strong>in</strong>ladung« gekommen. Um 9.20 Uhr wurdee<strong>in</strong> Ausgehverbot bis 14 Uhr erlassen.Auf den Straßen ersche<strong>in</strong>en Handzettel, die Nagys Ernennung356


verkünden. Doch ist se<strong>in</strong> Name bereits unauslöschlich verbunden mit demnun beg<strong>in</strong>nenden Blutbad. Von e<strong>in</strong>em Kellerfenster aus beobachtet derAngestellte István Tollas, wie e<strong>in</strong>e große Anzahl Demonstranten – ihremärmlichen Aufzug nach zu schließen hauptsächlich Arbeiter – fünfrussischen Panzern gegenüberstehen, die bebend und fauchend mitten aufdem Kálv<strong>in</strong> tér halten.Ë Selbst als die Panzer über ihre Köpfe h<strong>in</strong>weg zufeuern beg<strong>in</strong>nen, bis Ziegelste<strong>in</strong>e und Mörtel von den Wänden auf sieniederprasseln, weichen sie nicht von der Stelle. Aber die nächste Feuergarbelegt sie nieder wie e<strong>in</strong>e Mähmasch<strong>in</strong>e das Getreide. Tollas verbirgtdas Gesicht <strong>in</strong> den Händen, er kann den entsetzlichen und unerwartetenAnblick nicht ertragen. Er preßt se<strong>in</strong> gestohlenes Gewehr an die Wangeund fängt an, <strong>in</strong> bl<strong>in</strong>der Wut auf die Panzer zu schießen. Daraufh<strong>in</strong>belegen die Russen das Gebäude, <strong>in</strong> dem er sich bef<strong>in</strong>det, mit Granaten.»Dies geschah zwischen 9 und 10 Uhr vormittags«, sagt Tollas.Niedergeschmettert von der Bekanntgabe des Standrechts eilten e<strong>in</strong>igekommunistische Schriftsteller – darunter Zelk und Benjám<strong>in</strong> – wieder zurAkadémia utca, drängten sich durch die sowjetischen Panzer undversuchten, die Partei von dieser Torheit abzubr<strong>in</strong>gen. Diesmal wurden sieauf der Stelle h<strong>in</strong>ausgewiesen. Sie kamen zurück, erholten sich von ihrerNiederlage und beschlossen, nicht wieder dorth<strong>in</strong> zu gehen. Nagy, der sich<strong>in</strong> der Parteizentrale befand, hatte nicht die ger<strong>in</strong>gsten Bedenken. ImLaufe des Vormittags besprach er zusammen mit se<strong>in</strong>em Justizm<strong>in</strong>isterund Öffentlichen Ankläger E<strong>in</strong>zelheiten des Standrechts, er wies denM<strong>in</strong>ister an, jeglichen Mißbrauch des Standrechts zu verh<strong>in</strong>dern, es aber –wenn nötig – rücksichtslos anzuwenden. »Ich unterzeichnete das Gesetzgegen Mittag«, bestätigte Nagy <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Prozeß.Nagys erste Regierungshandlungen brachten auch die politischVerantwortlichen bei »Radio Free Europe« <strong>in</strong> München <strong>in</strong> Verlegenheit.Die Exil-<strong>Ungarn</strong>, die beim RFE arbeiteten, durften ihren persönlichenRegungen, diesen marxistischen M<strong>in</strong>isterpräsidenten mit Schimpf undSchande zu überschütten, nicht folgen. Die sofort erlassenen Richtl<strong>in</strong>ienan diesem Morgen lauteten: »Zu diesem Zeitpunkt s<strong>in</strong>d noch ke<strong>in</strong>e357


vorschnellen Urteile über die Aktionen der neuen kommunistischenFührer <strong>in</strong> Budapest und Warschau zu fällen. Daß Nagy ausländischeTruppen zur Wiederherstellung der Ordnung herbeirief, muß er selbstverantworten. Das kann er nur, wenn er se<strong>in</strong>e Versprechungen hält undversucht, e<strong>in</strong> Klima der Feiheit und materieller Zufriedenheit herzustellen,wonach das Volk sich sehnt . . . «Die Gerüchte aus Budapest überschwemmten das Land an jenemMorgen wie e<strong>in</strong>e langsame Flutwelle. In der Nähe von Cegléd pflügte derTraktorfahrer Béla Harmatzy-Simon auf se<strong>in</strong>er Kolchose lange, gleichmäßigeFurchen.È Nach e<strong>in</strong>iger Zeit riefen e<strong>in</strong> paar Bauern, die sich ane<strong>in</strong>em Ende des Feldes bei e<strong>in</strong>em Häuschen versammelt hatten, ihm zu:»Komm her und höre zu!«Er schüttelte den Kopf. Als er beim nächsten Mal se<strong>in</strong>en Traktor amEnde e<strong>in</strong>er Furche wendete, riefen sie: »Imre Nagy ist M<strong>in</strong>isterpräsidentgeworden! Komm doch mal her!« Aber Béla schüttelte den Kopf, wendeteden Traktor und begann, e<strong>in</strong>e neue Furche zu ziehen.Als er sich endlich überreden ließ, war se<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziger Kommentar: »Dasist gut. Das bedeutet das Ende der Kollektive!«Die Bauern freuten sich; <strong>in</strong> ihrer Vorstellung teilten sie ihre Kolchosebereits untere<strong>in</strong>ander auf. E<strong>in</strong> Funktionär strahlte: »Nun brauche ich nichtmehr Parteisekretär zu se<strong>in</strong>!«Doch als Béla am Ende der nächsten Furche anlangte, gab es schonwieder e<strong>in</strong>e neue Meldung: Imre Nagy war es gewesen, der sowjetischeTruppen aufgefordert hatte, e<strong>in</strong>zugreifen und die Ordnung wiederherzustellen.Dies hatte wütende Ausrufe zur Folge: »Wir wollen nichts mit ihmzu tun haben!«Budapest erwachte.Bus- und Straßenbahnl<strong>in</strong>ien waren lahmgelegt, man hörte gelegentlichGeknatter von Geschützfeuer. »Die Stadt war tot«, sagte e<strong>in</strong>e Student<strong>in</strong>.Niemand g<strong>in</strong>g zur Arbeit.«Í Der Filmdirektor Rodriguez schickte se<strong>in</strong>eKameraleute aufs Geratewohl los – es hatte ke<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n, ihnen genaueOrte anzugeben.Î Es gab ke<strong>in</strong>e Zeitungen. Als Imre Nagy mittags im358


Rundfunk sprach, verhallten se<strong>in</strong>e Worte über leeren Werkbänken. Ine<strong>in</strong>igen der größten Fabriken wie zum Beispiel den Láng Masch<strong>in</strong>enbauwerkenund der Gottwald-Fabrik waren selbst zur Mittagsschicht nurvierzig bis fünfzig Mann erschienen.Um 7 Uhr morgens rollten die ersten russischen Panzer über dasStraßenpflaster der Csepel-Insel. Als der Rundfunk bekanntgab, daß»plündernde Banden von Konterrevolutionären« den Frieden störten, sahe<strong>in</strong> siebzehnjähriger Oberschüler rot.Ï Er rannte nach oben, um e<strong>in</strong>esse<strong>in</strong>er selbstgefertigten, abgesägten Gewehre vom Speicher zu holen,versteckte es unter se<strong>in</strong>em Mantel und verließ die armselige Behausungse<strong>in</strong>er Familie. Se<strong>in</strong> Vater, e<strong>in</strong> Fabrikelektriker, sah, was er vorhatte, undrief ihm nach: »Tu, was du für richtig hältst! Ich würde <strong>in</strong> de<strong>in</strong>em Alternicht anders handeln!« Die Mutter we<strong>in</strong>te und versuchte, ihn zurückzuhalten– er war ihr e<strong>in</strong>ziger Sohn. Zusammen mit se<strong>in</strong>en beidenFreunden, e<strong>in</strong>em angehenden Priester und e<strong>in</strong>em Masch<strong>in</strong>enbaulehrl<strong>in</strong>g,rannte er zum Zentrum von Csepel. E<strong>in</strong>e große Menge hatte sich vor demörtlichen Partei- und DISZ-Büro versammelt, und man hörte das Knatternvon Gewehrfeuer zwischen den Verteidigern des Gebäudes und derMenge. An anderer Stelle hatten junge Männer e<strong>in</strong>e Druckerei gestürmtund verlangten, die Vierzehn Forderungen zu drucken. Drei von ihnenwurden von der Polizei niedergeschossen. Daraufh<strong>in</strong> begann die Menge,erbarmungslos die Polizisten e<strong>in</strong>zeln abzuknallen. Die Druckmasch<strong>in</strong>enliefen an, und Bündel blutbespritzter Flugblätter wurden an die Mengeverteilt.Um 7 Uhr trat die Frühschicht der Vere<strong>in</strong>igten Elektrizitätswerke imNorden von Budapest an. Viele von ihnen hatten die großen Demonstrationenbereits am vorhergehenden Nachmittag nach dem Passieren derKontrolluhr gesehen. Als sie jetzt dabei waren, die Uhr zu stechen, traf e<strong>in</strong>Lastwagen mit bewaffneten Jungarbeitern e<strong>in</strong>, die anf<strong>in</strong>gen, auf den RotenStern auf dem Dach zu schießen. Fabrikwächter schlossen krachend dieHaupte<strong>in</strong>gänge, doch waren bereits genügend Arbeiter da, die <strong>in</strong> dieRäume der MÖHOSZ (der Fabrikverteidigungsmiliz) e<strong>in</strong>drangen und dieGewehre an sich rissen. E<strong>in</strong>e Funktionär<strong>in</strong> versuchte, sie daran zu h<strong>in</strong>dern,359


wurde jedoch zur Seite gedrängt.Ì Diese bewaffnete, furchterregendeMasse von Arbeitern strömte durch die endlosen, nördlichen VororteBudapests zum Stadtzentrum, ihre Reihen wurden durch Verstärkungenaus anderen Fabriken immer größer. An der Ecke der Rákóczi út teilte e<strong>in</strong>Student die führerlosen Arbeiter <strong>in</strong> kle<strong>in</strong>ere Gruppen e<strong>in</strong> (es war e<strong>in</strong>eEigentümlichkeit dieses <strong>Aufstand</strong>s, daß die Arbeiter widerspruchslos denjungen Intellektuellen Folge leisteten); er gab ihnen die Parolen aus undschickte sie <strong>in</strong> die Nähe der amerikanischen Gesandtschaft.In der Kilián-Kaserne hatte sich die Stimmung während der Nachtverschlechtert, nachdem man dort aus den gegenüberliegenden Häusernvon Rebellen beschossen worden war. Die Waffenkammern waren vonAufrührern gestürmt und ausgeraubt worden. Oberst Maléter erfuhr davondurch den Kommandeur der Kaserne, Hauptmann Lajos Csiba. Über 200Soldaten hatten sich außerdem den Aufrührern angeschlossen. Maléterschickte se<strong>in</strong>en Stellvertreter, Oberstleutnant Horváth, <strong>in</strong> die Kaserne undforderte von der knapp zwei Kilometer entfernten, <strong>in</strong> der Üllöi utcagelegenen Kossuth-Militärakademie e<strong>in</strong>e Kompanie an, um die immernoch e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>genden Rebellen vom Gelände der Kilián-Kaserne zuvertreiben.Die aus Fabriken, Arsenalen und Waffenkammern erbeuteten Waff en,die den nicht mehr regierungstreuen Truppen bereitwillig überlassenwurden, verteilte man an den verschiedensten Stellen der Stadt. DerBusfahrer Zoltán Szabó kam ungefähr um 9 Uhr <strong>in</strong> se<strong>in</strong> gemietetesZimmer <strong>in</strong> der Nähe der Kilián-Kaserne, unmittelbar neben demBoulevard, zurück, er sah Lastwagen voll Waffen <strong>in</strong> den Seitenstraßen.Man händigte ihm e<strong>in</strong>e Masch<strong>in</strong>enpistole und zwei Handgranaten aus. Erer<strong>in</strong>nerte sich: »Wir schossen <strong>in</strong> Richtung József körút, wo ab und zusowjetische Panzer auftauchten. Während des Morgens feuerte ich aufe<strong>in</strong>en russischen Panzerwagen.«ÓDort, wo die Arbeit trotz der Ereignisse weiterg<strong>in</strong>g, war man geteilterAnsicht. E<strong>in</strong> fünfundzwanzig Jahre alter Architekturstudent traf aufbesorgte Mienen <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Architekturbüro. Se<strong>in</strong>e älteren Kollegen360


warfen ihm vor: »Habt ihr das gewollt, als ihr mit eurer friedlichenDemonstration anf<strong>in</strong>gt?«Ô Und e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>undzwanzigjähriger angehenderJournalist, der zusammen mit János Gereben von den Montagsnachrichtendas umgestürzte Stal<strong>in</strong>-Denkmal besichtigte, war über die fremdenGestalten erschreckt, die jetzt vorbeieilten: Dies waren nicht mehr diejungen Idealisten, die gestern Nachmittag im Sonnensche<strong>in</strong> über dieMargaretenbrücke marschiert waren – dies war die Arbeiterklasse,Männer mit ledernen Gesichtern, Muskeln wie Stahl und fe<strong>in</strong>dseligenBlicken.ÁÊ Sie trugen völlig neue Gewehre, die noch von Öl glänzten, undwaren dabei, alte Rechnungen zu begleichen. »Daraus kann nichts Guteswerden«, sagte Szabó zu se<strong>in</strong>em Freund.An diesem Morgen fuhr Ferenc Gaál, e<strong>in</strong> siebenundzwanzigjährigerVolksarmeeoffizier und Parteimitglied, mit Frau und K<strong>in</strong>d von Nyiregyházanach Budapest; ab Debrecen war die Straße mit russischen Kolonnenund Panzern überfüllt, die von der sowjetischen Grenze vordrangen.ÁÁ InPestszentlör<strong>in</strong>c – e<strong>in</strong>er entfernteren Vorstadt von Budapest – war dieStraße durch fe<strong>in</strong>dselige Menschenmassen blockiert. Als er dasWagenfenster herunterkurbelte, glaubte Gaál Geschützfeuer zu hören.Junge Kerle hämmerten auf se<strong>in</strong> Wagendach und riefen: »Nimm denRoten Stern von der Mütze!«Verblüfft gehorchte Gaál Man warf ihm e<strong>in</strong> Flugblatt zu. »Schließdich uns an! Schließ dich der Revolution an!« Gaál las die VierzehnForderungen. Warum nicht? Er schickte Frau und K<strong>in</strong>d <strong>in</strong> e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>esHaus, <strong>in</strong> dem sie Zuflucht fanden, und fuhr zur örtlichen Flakartilleriekaserne,um Hilfe zu suchen – die man ihm verweigerte –, dann kehrte erzurück und half den Leuten, e<strong>in</strong>e Barrikade auf der Straße unter e<strong>in</strong>erEisenbahnbrücke zu errichten. Bereitwillige Hände kippten Güterwagenüber die Brüstung auf die Hauptstraße. Andere Männer fuhren los, umWaffen zu holen. Dann g<strong>in</strong>gen sie <strong>in</strong> Deckung und warteten auf dasErsche<strong>in</strong>en der nächsten russischen Panzer.Der Rundfunk forderte die Bevölkerung dr<strong>in</strong>gend auf, die Straßen bis9 Uhr zu meiden und zu verh<strong>in</strong>dern, daß bewaffnete Rebellen <strong>in</strong> ihre361


Wohnung e<strong>in</strong>drängen. Die Ausgehverbote wurden ignoriert. Der sechsundzwanzigjährigeChemiker János Ottó g<strong>in</strong>g neugierig stadte<strong>in</strong>wärts, umherauszuf<strong>in</strong>den, warum er eigentlich der Straße fernbleiben sollte.ÁË AmMoskva tér traf er auf e<strong>in</strong>e Gruppe K<strong>in</strong>der, die leere Flaschen sammelten.»Was wollt ihr mit diesen Flaschen?« fragte er.Sie sagten es ihm. Sie hatten <strong>in</strong> den sowjetischen Partisanenkriegsfilmen,die e<strong>in</strong>en Teil ihrer allgeme<strong>in</strong>en Erziehung bildeten, gesehen, wieman Molotow-Cocktails fabriziert.Er riet ihnen: »Gebt euch gar nicht erst mit Benz<strong>in</strong> ab – nehmt Nitroglyzer<strong>in</strong>!«Sie nahmen diesen hilfreichen Fremden mit <strong>in</strong> ihr Schullabor, er zeigteihnen, wie man Nitro herstellt. Er produzierte genug Flüssigkeit, umhundert Flaschen zu füllen. Dann g<strong>in</strong>g er nach Hause.E<strong>in</strong>e Gruppe Gymnasiasten holte e<strong>in</strong>e Straßenbahn aus dem Depot undraste damit auf falschen Gleisen stadte<strong>in</strong>wärts <strong>in</strong> Richtung des Szent-István-Krankenhauses. Bei jedem Halt stiegen kampfeslustige Leute zu.Es herrschte e<strong>in</strong>e angeregte Stimmung. Die Jugendlichen hatten dasGefühl, großen Abenteuern entgegenzujagen. Aber bald waren die Massenso dichtgedrängt, daß die Straßenbahn nicht mehr weiterkonnte. DieK<strong>in</strong>der stiegen aus und liefen weiter bis zur Kreuzung Üllöi út, wo dieKilián-Kaserne steht. Von e<strong>in</strong>em qualmenden russischen Lastwagenschlug ihnen e<strong>in</strong> fürchterlicher Gestank entgegen.Plötzlich ertönten Rufe: »Die Russen kommen!«Die Menge zerstreute sich, als zwei Panzer an e<strong>in</strong>er Ecke sichtbarwurden. Stille senkte sich herab, sie wurde von e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>zigen Rufunterbrochen: »Erschießt die Scheißkerle!« Und aus allen Richtungensetzte e<strong>in</strong> Geknatter von Handfeuerwaffen e<strong>in</strong>. Die Jugendlichen versuchten,<strong>in</strong> der Kaserne Deckung zu f<strong>in</strong>den, aber die Soldaten warfen siewieder h<strong>in</strong>aus, gerade <strong>in</strong> dem Augenblick, als e<strong>in</strong>e heftige Explosion dasGebäude erschütterte. E<strong>in</strong> Panzer g<strong>in</strong>g <strong>in</strong> Flammen auf – e<strong>in</strong> Jugendlicherhatte mit e<strong>in</strong>em Molotow-Cocktail e<strong>in</strong>en Volltreffer erzielt. E<strong>in</strong> russischerSoldat wuchtete sich aus dem Panzerluk und wurde sofort von Kugeln362


durchlöchert. Er rutschte langsam zu Boden, während die Menge aus ihrerDeckung hervorstürzte, ihn mit Füßen trat und bespie.ÁÈDie Rebellen begannen jetzt, die Polizeireviere und Bezirksparteibüroszu besetzen, Waffen herauszuholen und sie auf den Straßen zu verteilen.Die ersten Berichte über sowjetische Panzer, die <strong>in</strong> die Menge schossen,wurden verbreitet. Etwa um 9 Uhr ratterten zwei Panzer gegen den Marxtér eröffneten das Feuer und töteten zwei Fußgänger. E<strong>in</strong> Photographnamens Hajdú machte Aufnahmen von dem Demonstrationszug, der um10.30 Uhr die Stal<strong>in</strong> utca h<strong>in</strong>untermarschierte und <strong>in</strong> Sprechchören rief:»Russen raus!« und »Wir s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e Faschisten!« Zehn M<strong>in</strong>uten später,als der Zug den Len<strong>in</strong> körút erreichte, eröffneten sowjetische Panzer, dieam Westbahnhof standen, mehrere hundert Meter entfernt das Feuer,trafen e<strong>in</strong>en jungen Soldaten und erschossen e<strong>in</strong>en jugendlichen, der nachvorn gelaufen war, um diesem Hilfe zu leisten.ÁÍGleich nach Imre Nagys, Fazekas’ und Jánosis Abfahrt zum Parlamenttér hatte sich se<strong>in</strong>e Tochter <strong>in</strong>s benachbarte Haus zur Mutter begeben.ÁÎSie brachten ihre beiden K<strong>in</strong>der Ferkó und Katal<strong>in</strong> zu Bett, blieben langeauf, um auf Neuigkeiten aus der Stadt zu warten, aber es kamen ke<strong>in</strong>e.Schließlich legten sie sich beide schlafen, krank vor Sorge, da sie nichtsvon ihren Ehemännern gehört hatten. Am anderen Morgen bemühte sichFrau Nagy, telephonisch herauszuf<strong>in</strong>den, was <strong>in</strong>zwischen geschehen war.Sie rief Vásárhelyi an und versuchte, auch Gyula Háy zu erreichen:»Wissen Sie, wo Imre ist? Er kam die ganze Nacht nicht nach Hause.« Sieerfuhr, daß beide Männer noch im Zentralkomitee seien, aber die Telephonzentraledort lehnte es ab, sie zu verb<strong>in</strong>den. Nagys Tochter versuchte,zu Ferenc Münnich durchzukommen; er war e<strong>in</strong> alter Freund aus ihrengeme<strong>in</strong>samen Moskauer Jahren. Münnich war beschäftigt, vielleicht mitse<strong>in</strong>er Geliebten. Mittlerweile unterrichteten Freunde telephonisch FamilieNagy über die schrecklichen Kampfereignisse. György Heltai kam vonnebenan herüber, um ihnen mitzuteilen daß der Rundfunk die WiederernennungImre Nagys als M<strong>in</strong>isterpräsident bekanntgegeben habe.In der Akadémia utca brachen die alten Unstimmigkeiten wieder aus.363


Gerö überreichte Nagy das Manuskript e<strong>in</strong>er Rundfunkansprache undsagte: »Hier, sprich das auf Tonband!« Nagy las es und weigerte sich. Alsneue alarmierende Nachrichten über marschierende Menschenmassene<strong>in</strong>g<strong>in</strong>gen, bat Gerö Nagy, im Text Änderungen vorzunehmen, wie er siefür richtig halte. Der Entwurf g<strong>in</strong>g mehrmals h<strong>in</strong> und her, bis Nagy nichtweiter nachgeben wollte und Gerö e<strong>in</strong>verstanden war, den Text so zusenden, wie er war.ÁÏDie Lichter dieses »ideologischen Leuchtturms« der Partei drohten zuverlöschen. Die führerlosen Kommunisten kämpften mit ihrem Gewissen.Der achtunddreißigjährige Schriftsteller Miklós Molnár war zunächst festdavon überzeugt, daß alle Anzeichen auf e<strong>in</strong>e gewöhnliche »Konterrevolution«h<strong>in</strong>deuteten – bis e<strong>in</strong>e ältliche Dame ihn während desVormittags ansprach und e<strong>in</strong>fach fragte: »Was machen unsere Jungens?«ÁÌSchuldbewußt eilte Molnár zu Kopácsi <strong>in</strong>s Polizeipräsidium undverbrachte dort den Rest des Tages zusammen mit e<strong>in</strong>er immer größerwerdenden Gruppe rebellischer Journalisten. Gegen 9 Uhr wurde sogardieses moderne Gebäude am Deák tér aus verschiedenen gegenüberliegendenHäusern beschossen. Die Büros an der Straßenfront warenunbenutzbar, ihre Wände von Schüssen durchsiebt. Ob die Menge diesesGebäude mit der ÁVH <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung brachte oder ob es nur e<strong>in</strong>gedankenloserAngriff auf jedes Anzeichen von Autorität war –, Kopácsisaß jedenfalls <strong>in</strong> der Klemme. Er hatte nur wenig Munition, und se<strong>in</strong>M<strong>in</strong>isterium lehnte jede Hilfe ab: »Wir werden selbst angegriffen!«schnauzte e<strong>in</strong> Funktionär, als Kopácsi anrief. »Und was den E<strong>in</strong>satz vonPanzern anlangt, geben Sie sich ke<strong>in</strong>en Illusionen h<strong>in</strong>, Kopácsi!« BeimVerteidigungsm<strong>in</strong>isterium erklärte sich e<strong>in</strong> ehemaliger Partisanenkamerad,László Földes, bereit, Munition herüberzuschicken, falls er e<strong>in</strong>en Wegfände, diese abzuholen. Kopácsi war schweißgebadet <strong>in</strong> se<strong>in</strong>enHemdsärmeln, obwohl e<strong>in</strong> kühler W<strong>in</strong>d durch die zertrümmerten Fensterblies. Er telephonierte mit e<strong>in</strong>em ihm bekannten Generalmajor desArmeehauptquartiers. Der General sagte: »Ich will versuchen, e<strong>in</strong>igePanzer h<strong>in</strong>überzuschicken. Halten Sie aus!«Kopácsis M<strong>in</strong>ister verlangte e<strong>in</strong>e Erklärung, warum er es versäumt364


habe, das ganze Gewicht der regulären Polizei zugunsten des Regimes undgegen die Aufrührer e<strong>in</strong>zusetzen. »Man gibt ihnen sogar die Waffenzurück«, protestierte Piros. Kopácsi leugnete nicht; er sagte später aus,gänzlich unter dem E<strong>in</strong>fluß von Nagys Ansichten gestanden zu haben.Durch György Fazekas und die anderen Schriftsteller sei ihm e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>glichnahegelegt worden, daß es sich um e<strong>in</strong>e »re<strong>in</strong>e und demokratischeRevolution« handelte. Zweimal hörte er Ferngespräche zwischen Fazekasund Nagy mit. Waren nicht Aczél und die anderen Schriftsteller gleichnach ihren Gesprächen mit dem Alten im Parlament hierhergekommen?ÁÓKopácsi beschloß, Piros’ Proteste zu ignorieren.Die Rundfunknachrichten brachten die Mitglieder der Nagy-Gruppe <strong>in</strong>Verlegenheit. Das Zentralkomitee hatte Gerö als Parteiführer bestätigt; daskam e<strong>in</strong>em direkten Schlag gegen die öffentlichen Forderungen gleich.Ferenc Donáth und Gyula Kállai waren zu Sekretären bestimmt worden.Zugleich meldete der Rundfunk die Wahl von Kállai József Kóból,Sekretär des Budapester Ersten Bezirks, Nagy, Szántó und Losonczy <strong>in</strong>das Politbüro. Sándor Erdei rief Losonczy <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Wohnung an und teilteihm die Neuigkeit mit: »Du bist Mitglied des Zentralkomitees!«ÁÔ Donáthrief auch Losonczy an und suchte ihn dann auf. Geme<strong>in</strong>sam beschlossensie, die Wahl nicht anzunehmen. Sie waren wütend über den E<strong>in</strong>satz vonSchußwaffen gegen die Rebellen; sie me<strong>in</strong>ten, Gerö müsse gehen, undauch die Russen sollten <strong>Ungarn</strong> verlassen. Sie schrieben e<strong>in</strong>en zwei Seitenlangen Brief an das Zentralkomitee.Um die Mittagszeit rief Losonczy den Schriftstellerverband an und batum dessen Unterstützung bei der Suche nach e<strong>in</strong>em neuen Zentralkomiteeund e<strong>in</strong>er neuen Regierung. Zu dem Schriftsteller István Márkus sagte er:»Ich denke an e<strong>in</strong>e Regierung der nationalen E<strong>in</strong>heit auf breiter Basisunter Führung von Imre Nagy.«ËÊIn der ungesunden Abgeschlossenheit der Akadémia utca war Nagysowohl von der Kritik se<strong>in</strong>er Freunde als auch von der Stimmung derBevölkerung isoliert. Während das weitgehend Nagy-fe<strong>in</strong>dliche Zentralkomiteee<strong>in</strong>e neue Sitzung anberaumte, war es ihm unmöglich, e<strong>in</strong>en365


klaren Gedanken zu fassen. E<strong>in</strong> eifersüchtiger Kampf wütete zwischenden rechten und l<strong>in</strong>ken Flügeln, jeder dachte nur daran, Nagys brüchigesPrestige für se<strong>in</strong>e eigenen Ambitionen auszunutzen. Se<strong>in</strong>e Freunde Löcsei,Gimes und andere beschworen ihn, e<strong>in</strong>en unabhängigeren Standort zubeziehen, sie wollten ihn aus dieser Bunkeratmosphäre herausholen.ËÁAber er ließ sich nicht dazu bewegen. Dies war se<strong>in</strong> Zuhause.Zehn M<strong>in</strong>uten nach 12 Uhr mittags hielt Imre Nagy se<strong>in</strong>e Rundfunkansprache.Se<strong>in</strong>e Stimme klang nervös. Er wiederholte den Aufruf an dieAufrührer, ihre Waffen bis 14 Uhr niederzulegen. Er versprach e<strong>in</strong>eAmnestie, rief zu Ruhe und Ordnung auf und versicherte ebenfalls, se<strong>in</strong>en»Neuen Kurs« vom Juni 1953 wiederaufleben zu lassen – als sei jenesgeschmacklose Manifest <strong>in</strong> Flammenlettern auf die Fahnen der Aufrührergeschrieben: »unter der Führung der Kommunisten«. Er beschuldigte»fe<strong>in</strong>dselige Elemente«, die Gefühle des Volkes gegen die Volksrepublikund die »Volksmacht« aufzupeitschen.Mit donnernder Stimme rief er: »Ordnung, Ruhe, Diszipl<strong>in</strong> – das solljetzt die Parole se<strong>in</strong>, das soll jetzt für uns alle gelten!«Dies mochte für die Parteizentrale stimmen, aber draußen auf derStraße lauteten die Parolen ganz anders:Das Volk wollte die Russen aus dem Lande haben und verlangte jetztauch freie Wahlen.Péter Kende telephonierte an jenem Morgen mit Miklós Vásárhelyi,um über Nagys Proklamation des Standrechts zu diskutieren. Vásárhelyisagte ihm: »Ich habe versucht, den Alten Herrn zu f<strong>in</strong>den. Ke<strong>in</strong>e Spur vonihm.« Am Nachmittag rief Frau Nagy Vásárhelyi an: »Bitte geh h<strong>in</strong>über <strong>in</strong>die Akadémia utca«, bat sie. »Der arme Imre ist dort ganz alle<strong>in</strong>, dusolltest zu ihm gehen und ihm beistehen. Warum hast du den Alten Herrndort alle<strong>in</strong> gelassen?« Sachlich erklärte ihr Vásárhelyi »Wenn Onkel Imremich und me<strong>in</strong>e Freunde dort sehen möchte, kann er uns e<strong>in</strong>en Wagenschicken oder mich rufen. Ich kann nicht ungeladen dort ersche<strong>in</strong>en!«In Wahrheit waren Nagys Anhänger völlig verunsichert. Sie warenbetroffen über die Verhängung des Standrechts und über das E<strong>in</strong>greifender Sowjets. Der Alte Herr hatte sich den Verfechtern des harten Kurses366


ausgeliefert. Vásárhelyi – e<strong>in</strong>er der fähigsten Politiker des Landes – bliebden ganzen Tag <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Wohnung, während Freunde von der anderenSeite des Flusses ihm telephonisch erschütternde Berichte über dieStraßenkämpfe lieferten.Aus den Rundfunknachrichten konnte jeder <strong>in</strong>telligente Menschheraushören, daß der <strong>Aufstand</strong> immer größere Ausmaße annahm. DieHilflosigkeit des Regimes war durch das verhängte Ausgehverbot und dieständig verlängerten Fristen für e<strong>in</strong>e Amnestie offensichtlich geworden:Die Nachrichtensprecher versicherten um 12.10 Uhr, um 13.20 Uhr undum 13.50 Uhr, daß jedermann, der bis 14 Uhr die Waffen niedergelegthabe, trotz des Standrechts nicht bestraft werde. Um 14 Uhr wurde dieFrist jedoch nochmals bis 18 Uhr verlängert. Unterdessen verbreitete derRundfunk wenig überzeugende Berichte über aufständische Gruppen, diesich den Forderungen zur Übergabe gebeugt hätten. Drei Stunden späterwiederholte sich der ganze Vorgang, um 17.45 Uhr gaben Rundfunksprecherbekannt: »Es bleiben noch 15 M<strong>in</strong>uten, um der Todesstrafe zuentgehen.«Ohne Beziehung auf die vorhergegangenen Bemühungen, brachte manum 18.12 Uhr e<strong>in</strong>en erneuten Aufruf, sich zu ergeben.Dieses unwürdige Abgleiten <strong>in</strong> die Anarchie g<strong>in</strong>g den ganzen Tag überweiter. Die Rebellen kämpften, sie ignorierten das Ausgehverbot, dieAufrufe, die T-54, die Polizeipatrouillen und die kle<strong>in</strong>en staubbedecktenHaufen, die e<strong>in</strong>st ihre Mitbürger oder Fe<strong>in</strong>de gewesen waren.Den wachsenden Lärm übertönte die beschwörende Stimme Nagysund se<strong>in</strong>er kampfbereiten Rundfunkleute, die versuchten, die Rebellen zubändigen. Jeder »Strohmann« wurde <strong>in</strong> diese dramatische Schlacht e<strong>in</strong>gespannt.Aufrufe erg<strong>in</strong>gen im Namen des Petöfi-Kreises, Appelle wurdenan Eltern gerichtet, »Sportkameraden« kamen zu Wort. Längst vergesseneNamen wurden aus der politischen Mottenkiste geholt, um die ältereGeneration zu bee<strong>in</strong>drucken. Zoltán Tildy, Politiker der Kle<strong>in</strong>landwirtepartei,der unfähige Staatspräsident von 1946 bis 1948: Árpád Szakasits,Tildys Nachfolger; Erzbischof József Grösz und Richard Horváth,Präsident des gleichgeschalteten Friedensrates der katholischen Priester.367


Die Massenorganisationen der Partei und der Gewerkschaftskongreß, derJournalistenverband und die Patriotische Volksfront klagten im Chor überden <strong>Aufstand</strong>. Radio Kossuth brachte sentimentale Aufrufe populärerPersönlichkeiten wie Gyula Háy, der <strong>in</strong> beleidigtem Ton versicherte, daßdoch nun »unser Mann« Imre Nagy an der Macht und alles weitereKämpfen s<strong>in</strong>nlos sei. »Dies ist die Botschaft eures euch liebendenFreundes Gyula Háy, des Schriftstellers . . . «Als »e<strong>in</strong>ige Zuhörer« fragten, warum sich sowjetische Truppen <strong>in</strong>ihrer Stadt befänden, beschwor sie der Rundfunk: »Arbeiter vonBudapest! Heißt unsere Freunde und Verbündeten herzlich willkommen!«Wie war es um Miklós Vásárhelyis Gefühle bestellt?»Ich hatte zwei Empf<strong>in</strong>dungen«, sagte Vásárhelyi nachdenklich. »Dieerste war Überraschung. Wir haben nie geglaubt, daß aus der <strong>in</strong>tellektuellenGärung, die wir herbeigeführt hatten, sich b<strong>in</strong>nen vierundzwanzigStunden e<strong>in</strong>e solche Massenbewegung erheben könne. Die zweite warDepression, als mir zu Ohren kam, daß Imre Nagy den Posten desM<strong>in</strong>isterpräsidenten angenommen habe – von diesem Moment an wußteich, daß alles verloren war. Wir hatten über Jahre h<strong>in</strong>aus e<strong>in</strong> hohes Maß anmoralischem und politischem Kapital angesammelt; aber nun hatte HerrNagy die Rolle des M<strong>in</strong>isterpräsidenten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Regierung angenommen,die genau die gleiche war wie zwei Tage zuvor – <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Regierung,gegen die wir gekämpft hatten. Er war das Oberhaupt e<strong>in</strong>es Regimes, dasdas Standrecht ausgerufen hatte. Er war M<strong>in</strong>isterpräsident, als dierussischen Truppen e<strong>in</strong>griffen. Ich hatte leidenschaftliche Diskussionenmit Losonczy an diesem Tag, dem 24. Oktober. Wir waren verzweifelt.Wir verstanden nicht, wieso der Alte Herr e<strong>in</strong>e solche Lösung akzeptierenkonnte.«ËË368


28Jedermann hat zwei GründeDIEPROMINENTEN Namen, die bisher die Seiten dieses Buchesbeherrschten, treten nun <strong>in</strong> den H<strong>in</strong>tergrund. Die Revolution – denIntellektuellen entglitten – ist jetzt <strong>in</strong> der Hand des Volkes. Auf der Bühneersche<strong>in</strong>en namenlose Bürger, die nie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Parteizeitung – und dasheißt, <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er Zeitung – mit Namen erwähnt worden s<strong>in</strong>d und es niemalswerden, bewaffnet mit Gewehren, Handgranaten und anderen dilettantischenHilfsmitteln des <strong>Aufstand</strong>s, und trotzen der kaltblütigen Militärmachtihrer imperialistischen Tyrannen. Den Besatzungen der sowjetischenPanzer schlägt wütendes Sperrfeuer entgegen.Die meisten dieser Straßenkämpfen bleiben bis zum Schluß namenlos.In westlichen Vernehmungsakten werden viele von ihnen nur alsNummern oder mit Vornamen beziehungsweise Decknamen geführt. Abere<strong>in</strong>ige Männer s<strong>in</strong>d doch zur Legende geworden, nicht weil e<strong>in</strong> zynischerRedakteur Helden zur Steigerung der Auflage brauchte, sondern weil siee<strong>in</strong>e Art <strong>in</strong>st<strong>in</strong>ktiver Führerschaft bewiesen hatten, die man nur mitehrfürchtigem Staunen betrachten kann. Diese Namen wurden von Mundzu Mund, von Straße zu Straße, weitergegeben. Schließlich fanden sieihren Platz <strong>in</strong> der Volkssage der Nation, lange nachdem der Henker ihrersterblichen Hülle e<strong>in</strong> gräßliches Ende bereitet hatte.Da ist Oberst Mecséri, der Kommandant der Panzerdivision – e<strong>in</strong>er derwenigen Offiziere, die ihren Männern befohlen haben, auf die Russen zuschießen. Da ist József Dudás, dessen zerlumpte Truppe das Druckereigebäudeder Partei besetzt und e<strong>in</strong>e Zeitung unter dem Namen Unabhängigkeitgründet. Da ist Hauptmann Pál<strong>in</strong>kás, der den gefangenen369


Kard<strong>in</strong>al M<strong>in</strong>dszenty befreit und nach Budapest br<strong>in</strong>gt. Da s<strong>in</strong>d »KapitänNemo«, der e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>heit der regulären Volksarmee befehligt, die zu denRebellen übergeht, und Sándor Angyal – e<strong>in</strong> schlanker Jungarbeiter ausCsepel, der e<strong>in</strong>en Rollkragenpullover trägt und se<strong>in</strong> Hauptquartier <strong>in</strong> derTüzoltö utca, <strong>in</strong> der Nähe der Kilián-Kaserne auf schlägt. Se<strong>in</strong>e Truppekämpft bis Mitte November. Dann wird man ihn gefangennehmen undh<strong>in</strong>richten. Die meisten dieser Kampfgruppen stammen aus den Arbeiterviertelnvon Budapest oder aus der Gegend der Kilián-Kaserne, derMúzeum körút und der Rákóczi út. Drüben <strong>in</strong> Buda entstehen tagsübervier Hauptgruppen. Ihr Sitz ist <strong>in</strong> Óbuda, Rózsadomb, Széna tér und amGellért-Hügel. E<strong>in</strong> ehemaliger Leutnant der Volksarmee, Emánuel Buttkovszky,übernimmt das Kommando über diese Rebellen von Buda.Nicht alle Führer des <strong>Aufstand</strong>es werden für ihre Taten mit dem Lebenbezahlen. Die Brüder Ödön und Ernö Pongrácz, Arbeiter, Mitte Zwanzig,können <strong>in</strong> den Westen flüchten. Ernö befand sich unter den Tausenden vordem Parlament. Als er spät <strong>in</strong> der Nacht von Motorradfahrern erfährt, daßsich sowjetische Panzer von der Fehérvári út nähern, läßt er Barrikadenbauen, um die Sowjets aufzuhalten. E<strong>in</strong> weiterer Bruder, Kristóf Pongrácz,füllt an e<strong>in</strong>er Tankstelle Fässer mit Benz<strong>in</strong> und rollt sie mitten auf dieStraße. Die Teerdecke explodiert <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Feuermeer und zw<strong>in</strong>gt denersten Panzer zum Halten, während die dicht folgenden dreizehn anderenPanzer <strong>in</strong> Panik aufe<strong>in</strong>ander auffahren. Als der Morgen dämmert, haltendie Brüder e<strong>in</strong>en vorbeifahrenden Lastwagen an, der sie mit <strong>in</strong> die Stadtnimmt. An der Kreuzung der Üllöi út stoßen sie auf e<strong>in</strong>e großeMenschenmenge, die vor den Geschossen Schutz <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Eckgebäude,nämlich der Kilián-Kaserne gesucht hat.ÁHier ist der Kampf noch <strong>in</strong> vollem Gange. Die nächtlichen E<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gl<strong>in</strong>ges<strong>in</strong>d zwar h<strong>in</strong>ausgeworfen worden, aber die Kaserne steht untere<strong>in</strong>em vernichtenden Feuer aus mehreren benachbarten Gebäuden. Als diedrei jungen Waffen-Fans von der Csepel-Insel bei der Kilián-Kasernee<strong>in</strong>treffen, um mitzukämpfen, werden sie grob zurückgewiesen. »Wir s<strong>in</strong>dvon Csepel, wir kommen, um euch zu helfen«, rufen sie durch e<strong>in</strong> Megaphondie mit Glas übersäte Straße h<strong>in</strong>unter. Doch die e<strong>in</strong>zige Antwort ist370


e<strong>in</strong> Kugelhagel.Ë Irgend jemand ruft: »Sowjetpanzer kommen!« DiePanzer rasseln vorbei, gefolgt von drei schwarzen Limous<strong>in</strong>en, aus denen<strong>in</strong> die Menge geschossen wird. E<strong>in</strong>e andere Kolonne sowjetischer Panzerund gepanzerter Fahrzeuge kommt den Körút herunter. An der Ecke wirdder letzte Mannschaftstransportwagen von e<strong>in</strong>er Kugel <strong>in</strong> denVorderreifen getroffen. Während er schleudernd zum Stillstand kommt,versucht e<strong>in</strong> junger, russischer Soldat die Schnellfeuerkanone zu bedienen,wird aber sofort erschossen. E<strong>in</strong> Jugendlicher wirft e<strong>in</strong>en Molotow-Cocktail auf das Fahrzeug, e<strong>in</strong> älterer Mann zündet es mit e<strong>in</strong>emStreichholz an. Die Ausstiegsluke öffnet sich, und Russen mitStahlhelmen stürzen heraus. Ke<strong>in</strong>er von ihnen kommt sehr weit. DasMasch<strong>in</strong>engewehr wird aus dem qualmenden Wrack geborgen und ganz <strong>in</strong>der Nähe <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Schule <strong>in</strong> der Práter utca <strong>in</strong> Stellung gebracht.Jeder kle<strong>in</strong>e Sieg steigert die Zuversicht der Aufständischen. DieSowjets s<strong>in</strong>d nicht unüberw<strong>in</strong>dlich. Ödön Pongrácz entdeckt e<strong>in</strong>egeschlossene Tankstelle <strong>in</strong> der Corv<strong>in</strong>-Passage; er stemmt das Vorhängeschloßauf und holt sich noch mehr Benz<strong>in</strong>. Irgend jemand sagt ihm, daßim Hause Nr. 4 e<strong>in</strong> leeres Arbeiterwohnheim ist. Die Keller dieser altenGebäude s<strong>in</strong>d durch Tunnel verbunden – e<strong>in</strong> Überbleibsel der Luftangriffevon 1944 –, und so s<strong>in</strong>d die Brüder Pongrácz <strong>in</strong> der Lage, ihre Festung zuvergrößern. Von der Corv<strong>in</strong>-Passage aus schießt die Gruppe aufvorbeifahrende russische Panzerwagen. Beim nächsten Panzer verklemmtsich die Raupenkette, und das Ungeheuer fährt so lange im Kreis, bis e<strong>in</strong>Molotow-Cocktail es <strong>in</strong> Flammen setzt. Bevor der Tag zu Ende ist, habendiese Rebellen sogar e<strong>in</strong>e Panzerabwehrkanone erbeutet. Sie wird auf denE<strong>in</strong>gangsstufen des Corv<strong>in</strong>-K<strong>in</strong>os <strong>in</strong> Stellung gebracht. Und schon bald istder 200 Meter breite Streifen der Straße zwischen der Kilián-Kaserne undder Corv<strong>in</strong>-Passage durch zusammengeschossene russische Militärfahrzeugeblockiert. Der Gestank von verbranntem Fleisch ist unerträglich.Am Geschützrohr der Pak hängt e<strong>in</strong> Plakat mit der Aufschrift: »Die Showwird auf allgeme<strong>in</strong>en Wunsch verlängert!«Die Verteidiger der Budapester Parteizentrale am Republik tér s<strong>in</strong>d371


noch nicht <strong>in</strong> Aktion getreten, aber sie s<strong>in</strong>d schon ziemlich nervös.È Seitder Abenddämmerung s<strong>in</strong>d Trupps von Rebellen vorbeigezogen, e<strong>in</strong>igedarunter sichtbar bewaffnet. Drei Männer nähern sich dem Gebäude undrichten ungeniert e<strong>in</strong> Luftgewehr und e<strong>in</strong>en Karab<strong>in</strong>er auf die Wachtposten.Sie werden auf der Stelle verhaftet. Im Lauf des Morgensersche<strong>in</strong>en drei sowjetische Panzer, die von e<strong>in</strong>em Armeehauptmannbefehligt werden. Zusammen mit e<strong>in</strong>em gepanzerten Mannschaftswagen,der mit sowjetischen Soldaten, ungarischen Offizieren und e<strong>in</strong>em Dolmetscherbesetzt ist, gehen sie vor dem Gebäude <strong>in</strong> Stellung.Müde und unrasiert kehrt Imre Mezö von den nächtlichenKonferenzen <strong>in</strong> der Akadémia utca zurück. Der ÁVH-Leutnant Várkonyibefragt ihn über die Verteidigungsmaßnahmen für das Gebäude. Mezömacht ihn auf e<strong>in</strong>en Durchgang aufmerksam, der vom Parteigebäude zumbenachbarten Sitz der kommunistischen E<strong>in</strong>heitsorganisation der JugendDISZ führt – er müsse dr<strong>in</strong>gend bewacht werden. Mezö veranlaßt dasVerteidigungsm<strong>in</strong>isterium, fünfzig weitere Karab<strong>in</strong>er, drei Munitionskästenund zwei Kästen mit Handgranaten zu schicken; sie werden an dieParteifunktionäre ausgegeben, die Zuflucht <strong>in</strong> dem Gebäude gesuchthaben. Den ganzen Tag über werden sie von zwei Unteroffizieren <strong>in</strong> derBedienung dieser Waffen unterwiesen. Mezö versucht, auch für dieBezirksleitungen der Partei, die überall <strong>in</strong> der Stadt verstreut s<strong>in</strong>d, Waffenzu bekommen, aber irgendwelche Stockungen sche<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>getreten zuse<strong>in</strong>.In der Akadémia utca bemüht sich die Partei, mit der Krise auf diee<strong>in</strong>zige ihr mögliche Art und Weise fertig zu werden: Sie ernennt Unterausschüsse<strong>in</strong> die verdiente Persönlichkeiten, wie Zoltán Vas und AntalApró aufgenommen werden, man schickt sie zum Verteidigungsm<strong>in</strong>isterium.Es gibt auch e<strong>in</strong> Militärkomitee – Imre Mezö wird zu se<strong>in</strong>em Mitgliedernannt –, dieses Komitee trifft mit Generalen des Verteidigungsm<strong>in</strong>isteriumszusammen, um über die Bewaffnung der örtlichen Parteibezirksstellen<strong>in</strong> der ganzen Stadt zu diskutieren.ÍDies wurde allmählich dr<strong>in</strong>gend. Während des ganzen 24. Oktobersnahmen die Angriffe auf örtliche Parteilokale zu. Wütenden Menschen-372


mengen gelang es, die Entfernung der Parteischilder im XVIII. und XIX.Bezirk durchzusetzen. Im 11. Bezirk <strong>in</strong> Buda und auf der Csepel-Inselwurden die Parteibüros belagert. Die Telephonzentrale der roten K-Leitung <strong>in</strong> dem geduckten Parteigebäude am Republik tér wurde mitAnrufen überschüttet: Die örtlichen Bonzen riefen nach Waffen, Truppenund Panzerwagen, um sich vor den wütenden Werktätigen zu schützen.Mezös Stab gab diese verzweifelten Appelle an die Akadémia utca weiter.Die Antwort waren Versprechungen – aber diese Versprechungen klangenimmer hohler, je länger sich der Tag h<strong>in</strong>zog. Es gelang ihnen zwar,Uniformen der Volksarmee für die örtliche Bezirkszentrale zu bekommen–, aber ohne Waffen waren die Uniformen s<strong>in</strong>nlos. Vom X. Bezirk kamdie Meldung, daß das dortige Gefängnis von den Rebellen angegriffenwürde. Bis zum Nachmittag waren mehrere lokale Parteibüros <strong>in</strong> dieHände der Aufständischen gefallen. Als die Dunkelheit e<strong>in</strong>brach, erfuhrMezö mit bösen Vorahnungen, daß das Depot <strong>in</strong> der Timót utca und dieLampart-Waffenfabrik ebenfalls gestürmt worden seien. Die Machtverhältnisseverschoben sich immer mehr zuungunsten des Regimes.ÎRegierungstruppen hatten <strong>in</strong>zwischen das Nationalmuseum wiedererobert,von dem aus während der ganzen Nacht das Funkhaus beschossenworden war. Der Fußboden zwischen den Ausstellungsstükken warübersät mit Hunderten von Patronenhülsen, Handgranaten, Zündern undBenz<strong>in</strong>flaschen. Überall brannte es, aber da immer noch Kämpfe <strong>in</strong>diesem Gebiet wüteten, konnte die Feuerwehr nicht durchkommen. Gegen13.30 Uhr stand das ganze Gebäude <strong>in</strong> Flammen. Das Museum branntevöllig aus, se<strong>in</strong>e berühmte M<strong>in</strong>eral- und paläontologische Sammlung undse<strong>in</strong>e Bibliothek wurden Opfer der Flammen.Die Universitäten und Schulen wurden nicht geöffnet, Läden undBüros blieben geschlossen. Zehntausende junger Männer und Frauenströmten auf die Straßen und suchten nach Waffen. Verzweifelte Väterdurchkämmten die Straßen auf der Suche nach ihren Söhnen. AlleJugendlichen e<strong>in</strong>es Appartmenthauses, <strong>in</strong> dem der fünfundvierzigjährigefrühere Luftwaffenhauptmann Imre Szabó Nyirádi wohnte, nahmen an denKämpfen teil. Auch er verließ das Haus, um sich ihnen anzuschließen. In373


der Vármegye utca, nahe dem Astoria-Hotel, wollte e<strong>in</strong>e Gruppe vonZwölfjährigen lernen, wie man mit Gewehren umgeht. E<strong>in</strong>ige ältereMänner hatten ihnen bereits beigebracht, wie man Handgranaten scharfmacht und wirft und wie man Panzer angreift. Der Luftwaffenoffizier liefnach Hause und tippte mehrere Durchschläge mit Anleitungen für denNahkampf – daß man zum Beispiel niemals von demselben Punkt auszweimal angreift, und so weiter.Ï Von Tag zu Tag wurde dieGuerillataktik vernichtender. So konnte e<strong>in</strong> Aufständischer beiläufig aufdem Bürgersteig schlendern mit e<strong>in</strong>er Hand <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Mantel, <strong>in</strong> dem e<strong>in</strong>ePistole verborgen war: Wenn er e<strong>in</strong>em russischen Soldaten begegnete,brauchte er nur den Lauf <strong>in</strong> Höhe der l<strong>in</strong>ken Schulter zu heben, er konnteden Mann erschießen, ohne daß die Waffe sichtbar wurde.ÌE<strong>in</strong> siebzehnjähriger Gymnasiast, der an der Ecke der Práter utcawohnte, traf <strong>in</strong> der Nähe se<strong>in</strong>er Schule e<strong>in</strong>ige Freunde und beschloßzusammen mit ihnen, sich den Kämpfen anzuschließen.Ó Sie besetzten dasSchulgebäude. Wie aus dem Nichts hervorgezaubert, waren plötzlich dreiMasch<strong>in</strong>engewehre, Munition und später weitere Handfeuerwaffen da.Bald hatten sich über 300 jugendliche dort versammelt, darunter mehrerejunge Soldaten. E<strong>in</strong>er der besten Freunde des Gymnasiasten wurde derAnführer der Gruppe, bis er wenige Tage später fiel. Zehnbis zwölfjährigejungen wurden ausgeschickt, um über »fe<strong>in</strong>dliche« Bewegungen zuberichten. Nach e<strong>in</strong>er Weile übernahm e<strong>in</strong> Hauptmann der regulärenPolizei das Kommando über die Gruppe. Natürlich waren nicht alleAngehörigen der Corv<strong>in</strong>-Allee-Schar Heilige: E<strong>in</strong> e<strong>in</strong>be<strong>in</strong>iger Mannwollte sich ihnen anschließen; die Me<strong>in</strong>ung war geteilt, aber er hatte zwei»Kanonen« und etwas Munition mitgebracht, also nahm man ihn auf.Wahrsche<strong>in</strong>lich war es János Messz, unter dem Namen »Holzbe<strong>in</strong>«bekannt: E<strong>in</strong> Krim<strong>in</strong>eller, der sechzehnmal vorbestraft war wegen Diebstahlsund Vagabundierens; se<strong>in</strong>e Bande zählte schließlich über achtzigMann, darunter nicht wenige, die aus dem Gefängnis geflohen waren. Unddann gab es noch »Bijou«, der Krim<strong>in</strong>alpolizei besser unter dem NamenGábor Dil<strong>in</strong>kó bekannt, der sieben Vorstrafen wegen Diebstahlsabgesessen hatte.Ô374


Das ungarische Verteidigungsm<strong>in</strong>isterium hatte 6700 Soldaten undfünfzig Panzer auf dreißig verschiedene Stellen verteilt, aber sie warenpraktisch ohne Instruktionen.ÁÊ Die wichtigsten Gebäude wurden vongepanzerten Fahrzeugen der Sowjets abgeschirmt. Gegen 14 Uhr rasseltee<strong>in</strong> Sowjetpanzer an der Panzersperre <strong>in</strong> der Akadémia utca vorbei undhielt vor der Parteizentrale; das Luk öffnete sich, und zwei Russen mitf<strong>in</strong>steren Gesichtern kletterten steifbe<strong>in</strong>ig aus dem Fahrzeug. Es warenAnastas Mikojan und Michail A. Suslow. Mikojan, stellvertretenderM<strong>in</strong>isterpräsident der Sowjetunion, war e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er, schnurrbärtigerArmenier, von dem se<strong>in</strong>e ihn bewundernden Mitarbeiter sagten, erbrauche ke<strong>in</strong>en Schirm, wenn es regne – er sei so schlau, daß er jedemRegentropfen ausweiche. Se<strong>in</strong> schwarzes Haar war jetzt grau gesprenkelt.Der dreiundfünfzigjährige Suslow, Sohn e<strong>in</strong>es Kle<strong>in</strong>bauern, war derKremlexperte für mitteleuropäische Angelegenheiten.Beide hatten die Entwicklung <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> genau verfolgt. Zur Zeit desRajk-Begräbnisses hatten sie im Kreml mit hohen ungarischen FunktionärenGeheimverhandlungen geführt. Die Russen waren nicht sonderlichbegeistert von dem Gezänk zwischen Gerö und Hegedüs auf der e<strong>in</strong>en undNagy und Kádár auf der anderen Seite, dessen Zeugen sie wurden. DieStimmung war gereizt. Niemand setzte sich, alle standen nervös herum.Zoltán Vas war mitten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em großen Streit mit Gerö.»Warum mußtest du diese Rundfunkrede halten?«Gerö: »Wegen der Sowjets!«Wütend erwiderte Vas: »Du hättest lieber erst an die <strong>Ungarn</strong> und nichtan die Sowjets denken sollen!«ÁÁMikojan g<strong>in</strong>g scharf <strong>in</strong>s Gericht mit Gerö, er überschüttete denörtlichen Chef der sowjetischen Abwehr mit Vorwürfen, weil man Sowjettruppenangefordert hatte. Tatsächlich wurden noch an diesem TageBefehle an die sowjetischen Soldaten ausgegeben, das Feuer nur dann zueröffnen, wenn auf sie geschossen würde. Aber dazu war es bereits zuspät.ÁË Die <strong>Ungarn</strong> befanden sich im offenen Kampf mit den sowjetischenStreitkräften und der ÁVH, den e<strong>in</strong>zigen regierungstreuen Truppen. Die375


ungarische Volksarmee sah untätig zu.Die meisten Aufrührer hatten wahrsche<strong>in</strong>lich kaum e<strong>in</strong>e Ahnung, wiesie dazu gekommen waren, plötzlich Waffen <strong>in</strong> der Hand zu haben und aufden Straßen zu kämpfen. Die Russen sahen sich Scharen vontodesmutigen jugendlichen gegenüber – Studenten, Lehrl<strong>in</strong>gen und selbstSchulk<strong>in</strong>dern, denen es gleichgültig war, ob sie lebten oder starben. Rundelf Prozent der unter zwanzig Jahre alten <strong>Ungarn</strong> nahm aktiv an denKämpfen während des <strong>Aufstand</strong>s teil; und neunzehn Prozent der ZwanzigbisDreißigjährigen.ÁÈ Aber die über Dreißigjährigen waren vorsichtiger –nur fünf Prozent der Dreißig- bis Fünfzigjährigen kämpften aktiv mit unde<strong>in</strong> Prozent von denen, die noch älter waren: Sie wußten, was Kriegbedeutet, viele von ihnen hatten sowjetischen Panzern mit weit besserenWaffen gegenübergestanden, als sie die Jugendlichen jetzt zur Verfügunghatten. Sie wußten, wie ger<strong>in</strong>g die Erfolgschancen waren.Die Nachrichten aus Warschau hatten <strong>in</strong> Wash<strong>in</strong>gton Erstaunenhervorgerufen. Die Amerikaner wurden durch diese osteuropäischenUnruhen vollständig überrumpelt. Präsident Eisenhower befand sichgerade <strong>in</strong> New York, wo er von fähnchenschw<strong>in</strong>genden Mädchen mitAnsteckplaketten »I like Ike« bejubelt wurde. Ike war <strong>in</strong> der entscheidendenPhase der Kampagne für se<strong>in</strong>e Wiederwahl, und se<strong>in</strong>e Beraterwaren unschlüssig. CIA-Chef Allan Dulles rief se<strong>in</strong>en Bruder, den Außenm<strong>in</strong>ister,an und murmelte, nach se<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung müsse man doch irgendetwas tun, aber er wisse nicht genau, was. Den Machtwechsel <strong>in</strong> Polennannte er »e<strong>in</strong>e der dramatischsten Ereignisse seit ChruschtschowsRede«.ÁÍDie jetzt e<strong>in</strong>treffenden Nachrichten aus <strong>Ungarn</strong> erregten allgeme<strong>in</strong>eBestürzung. John Foster Dulles telephonierte am 24. Oktober um 18 Uhrmit dem amerikanischen Botschafter bei den Vere<strong>in</strong>ten Nationen, Lodge:»Offensichtlich weiten sich die Kämpfe <strong>in</strong> großem Umfang aus, und esgibt klare Anzeichen beträchtlicher sowjetischer militärischer Aktivität <strong>in</strong>diesem Gebiet, mit dem Versuch, die Unruhen zu unterdrücken. Wirerwägen die Möglichkeit, die Angelegenheit vor den Weltsicherheitsrat zu376


<strong>in</strong>gen.«Dulles teilte Lodge se<strong>in</strong>e Sorgen mit: »Man wird uns jetzt vorwerfen,daß dies e<strong>in</strong> großer geschichtlicher Augenblick sei: Die <strong>Ungarn</strong> erhebensich und s<strong>in</strong>d bereit zu sterben, während wir völlig überrumpelt s<strong>in</strong>d undnichts getan haben.«Lodge zögerte. Der Außenm<strong>in</strong>ister bat ihn zu überlegen, welcheSchritte man bei den Vere<strong>in</strong>ten Nationen unternehmen sollte und ob manvielleicht auch die Briten und Franzosen gew<strong>in</strong>nen könne, morgen e<strong>in</strong>enentsprechenden Antrag zu unterstützen.»Ich werde das gleich vorbereiten«, sprach Lodge <strong>in</strong>s Telephon. »Aberich werde nichts unternehmen, bevor ich wieder von Ihnen gehört habe.«Die Menschen <strong>in</strong> den großen Prov<strong>in</strong>zstädten Debrecen, Szeged undMiskolc hatten nicht erst auf e<strong>in</strong> Stichwort aus Budapest gewartet. InDebrecen, der zweitgrößten Prov<strong>in</strong>zstadt, hatten schon Tage vor dem<strong>Aufstand</strong> <strong>in</strong> Budapest Studentenversammlungen stattgefunden. Am 23.Oktober veröffentlichte das lokale Parteiblatt Néplap nur e<strong>in</strong>e entschärfteForm der hier beschlossenen Zwanzig Punkte, worauf es Protestmärschezur Zeitung und zur Parteizentrale gab. Am Nachmittag kam derStraßenverkehr zum Erliegen, alle Roten Sterne auf den Wagen warenverschwunden. Auch von den wichtigsten Gebäuden der Stadt wurde e<strong>in</strong>Roter Stern nach dem anderen abmontiert. Unter Druck wurde e<strong>in</strong>e neueAusgabe der Néplap veröffentlicht, <strong>in</strong> der die Forderungen wahrheitsgetreuabgedruckt waren. Als sich e<strong>in</strong>e größere Menschenmenge demPolizeipräsidium näherte, eröffnete die Polizei das Feuer und tötete e<strong>in</strong>enälteren Schuhmacher und e<strong>in</strong>en anderen Mann. Danach brach e<strong>in</strong>eregelrechte Revolution aus, worauf das Parteikomitee des Bezirksverspätet se<strong>in</strong>e Unterstützung verkündete. Mit Zustimmung der Parteiwurde e<strong>in</strong> zwanzig Mann starkes sozialistisches Revolutionskomiteegebildet, dem Fabrikarbeiter, Wissenschaftler, Studenten und Landarbeiterangehörten. Bezeichnenderweise wurden <strong>in</strong> Debrecen die erstenArbeiterräte e<strong>in</strong>geführt, die dann die Leitung der Fabriken übernahmen.ÁÎAuch <strong>in</strong> Szeged, im Süden <strong>Ungarn</strong>s, kam es zu Unruhen. Als die377


Budapester Ereignisse bekannt wurden, verbarrikadierten sich die Parteibonzennoch <strong>in</strong> derselben Nacht <strong>in</strong> den ÁVH-Kasernen. E<strong>in</strong>ige fuhren aufLastwagen <strong>in</strong> die Hauptstadt, andere flohen nach Rumänien oderJugoslawien.Durch die dunklen Straßen marschierten Studenten und riefen <strong>in</strong>Sprechchören: »<strong>Ungarn</strong>, marschiert mit uns! Freiheit und Demokratie!Russen raus!« Die Arbeiter hatten sich Waffen angeeignet, aber es kam zuke<strong>in</strong>en Schießereien. Als die Frühschicht <strong>in</strong> den Fabriken <strong>in</strong> Szeged ausden umliegenden Dörfern zur Arbeit anrückte, sendete Radio Budapestweder Nachrichten noch Wetterberichte – sondern nur Tanzmusik.Zuweilen konnte man im H<strong>in</strong>tergrund e<strong>in</strong> Krachen, wie von Karab<strong>in</strong>erfeuer,hören. Mit ernsten Gesichtern zogen Demonstranten mit denNationalfarben und schwarzen Fahnen durch die Straßen. Mittags wußtejedermann <strong>in</strong> Szeged vom <strong>Aufstand</strong> <strong>in</strong> der Hauptstadt. Als wollten sie denErnst der Situation unterstreichen, rollten gepanzerte Mannschaftswagender Sowjets von Transsylvanien kommend auf dem Wege nach Budapestdie Kossuth utca h<strong>in</strong>unter. Auch <strong>in</strong> Szeged tobte die Volksmenge und rißüberall sowjetische Embleme herunter. E<strong>in</strong> achtzehnjähriger Jungarbeiterwurde getötet, sonst kam es aber zu ke<strong>in</strong>en weiteren Schießereien.ÁÏZur selben Zeit brachen auch <strong>in</strong> Miskolc, der großen Industriestadt <strong>in</strong>der Nähe der tschechoslowakischen Grenze, Unruhen aus. Die Sensationdes 24. Oktober war hier e<strong>in</strong> Leitartikel <strong>in</strong> der örtlichen Zeitung ÁszakMagyaroszág des amtierenden Parteichefs vom Bezirk Borsod, RudolfFöldvári: Er übte vernichtende Kritik an Gerös Rundfunkansprache underklärte, daß von nun an der Bezirk Borsod weder das Regime noch diePartei unterstützen werde. Die Bürgersteige waren voll von Menschen, diewie gewöhnlich zur Arbeit g<strong>in</strong>gen, viele von ihnen trugen Kofferradios,um Nachrichten zu hören. An jenem Abend saß Árpád Sultz, e<strong>in</strong>achtundzwanzigjähriger katholischer Theologiestudent – e<strong>in</strong>e Seltenheitim kommunistischen <strong>Ungarn</strong> –, wie gewöhnlich mit se<strong>in</strong>en Freunden <strong>in</strong>der Espresso-Bar »Avas« nahe der Sz<strong>in</strong>va-Brücke.ÁÌ Alle redeten über denLeitartikel <strong>in</strong> der Zeitung. Sultz war viermal von der ÁVH verhaftetworden und im Kloster Tihany e<strong>in</strong>gesperrt – e<strong>in</strong>em von Stacheldraht378


umzäunten Gefangenenlager für Priester. Die ÁVH hatten ihm vier Zähneausgeschlagen, zwei Rippen und e<strong>in</strong>en F<strong>in</strong>ger gebrochen und ihmGeschlechtshormone <strong>in</strong>jiziert – e<strong>in</strong> beliebter Trick der ÁVH gegenüberzum Zölibat verpflichteten Katholiken. In se<strong>in</strong>er Zelle hatte man ihn mitTonbandaufnahmen gequält, deren Klänge er gegenüber den Amerikanernals »halluz<strong>in</strong>atorisch« bezeichnete. Außerdem mußte er sich dieFolterungen anderer Gefangener anhören.Plötzlich entstand vor dem Café e<strong>in</strong> Tumult. Sultz sah e<strong>in</strong>e Kolonnerussischer Truppen, die, offenbar aus der Tschechoslowakei kommend,soeben e<strong>in</strong>getroffen waren. Die Russen hielten auf der Hauptstraße an, siesuchten nach dem Weg, der südlich nach Budapest führte. Inzwischenhatte sich e<strong>in</strong>e fe<strong>in</strong>dselige Menschenmenge gebildet und auf die Brückebegeben, so daß die Panzer nicht passieren konnten. Zuerst setzten sichdie Menschen, und dann legten sie sich auf das Kopfste<strong>in</strong>pflaster derBrücke. Der russische Kommandeur fuhr <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Stabswagen nach vorn,stieg aus und begann den Leuten, Vorwürfe zu machen. Aber die <strong>Ungarn</strong>s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> heißblütiges Volk und nicht so leicht e<strong>in</strong>zuschüchtern. Die Mengeumdrängte se<strong>in</strong>en Wagen, wuchtete ihn über das Brückengeländer undstürzte ihn <strong>in</strong> den Fluß. Dann wurden die Reifen der Lastwagenaufgeschlitzt. Sultz erschien auf dem Schauplatz im selben Augenblickwie se<strong>in</strong>e alten Bekannten, die ÁVH-Soldaten. Schüsse wurden <strong>in</strong> die Luftgefeuert und Verhaftungen vorgenommen.In Cegléd schlossen sich etwa 5000 der 45.000 E<strong>in</strong>wohner der Stadt andiesem Tage der Erhebung an, sie entwaffneten die Polizei, zertrümmertendas Büro des öffentlichen Anklägers und verbrannten die Akten.ÁÓ Für dennächsten Tag wurde e<strong>in</strong>e öffentliche Wahl angekündigt. Etwa tausendLeute erschienen zu der Versammlung, darunter vierhundert Industriearbeiter.Auch aus der Landbevölkerung kamen viele hundert Menschen,die zum erstenmal seit dem Kriege wieder ihre Lederstiefel geputzt hatten.E<strong>in</strong> Traktorfahrer sprach versehentlich von »Genossen«, er wurde von derVersammlung sofort ausgepfiffen. Das Beispiel Cegléd bewies, daß dieTage der Partei gezählt waren.379


Ke<strong>in</strong> Wunder, daß die Moskauer Alarmglocken schrillten. Bis zumAbend des 24. Oktober verbreiteten sich die wildesten Gerüchte <strong>in</strong> dersowjetischen Hauptstadt. Zwar stand kaum etwas <strong>in</strong> den MoskauerZeitungen, aber aus den Berichten westlicher Diplomaten g<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>deutighervor, daß die Lage <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> zehnmal ernster war als <strong>in</strong> Polen. Es wardie Rede von bewaffneten Zusammenstößen und Unruhen. Die besorgtenBotschaften des Ostblocks erfuhren nur wenig vom wortkargen sowjetischenAußenm<strong>in</strong>isterium. Der jugoslawische Botschafter Veljko Micunovicvermutete, daß man möglicherweise schon bald den Zusammenbruchdes sowjetischen Imperiums erleben werde: Es hatte an se<strong>in</strong>er weichstenStelle, <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong>, gekracht. E<strong>in</strong>ige Russen me<strong>in</strong>ten, der Westen bereitesich allen Ernstes auf e<strong>in</strong>en Krieg gegen das »sozialistische Lager« vor.ÁÔZweifellos bee<strong>in</strong>flußte diese E<strong>in</strong>schätzung Chruschtschows Reaktionen.Am Abend des 24. Oktober bat er Micunovic zu sich. Der sowjetischeFührer machte ke<strong>in</strong>en Versuch, se<strong>in</strong>e Besorgnisse zu verbergen.Schäumend vor Wut, erklärte er, daß <strong>in</strong> Budapest Blut vergossen wordensei. Der Westen sei schuld; antisowjetische Elemente hätten zu denWaffen gegen das sozialistische Lager und die Sowjetunion gegriffen.»Der Westen versucht, die Resultate des Zweiten Weltkrieges zurevidieren«, brüllte Chruschtschow. »In <strong>Ungarn</strong> haben sie angefangen,und sie werden jeden sozialistischen Staat <strong>in</strong> Europa, e<strong>in</strong>en nach demanderen, zu zerstören suchen. Aber der Westen hat sich verrechnet.«Dann änderte sich se<strong>in</strong> Ton. Er vertraute dem Botschafter an, se<strong>in</strong>erAnsicht nach sei die Zeit für Jugoslawien gekommen, der Sache desSozialismus <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> e<strong>in</strong>en echten Dienst zu er-weisen. Der Botschaftersollte Tito e<strong>in</strong>e persönliche Botschaft überbr<strong>in</strong>gen – e<strong>in</strong>e kompromißloseBotschaft, <strong>in</strong> der nachdrücklich betont würde, daß der Kreml bereit sei,Gewalt mit Gewalt zu beantworten.»Die sowjetische Führung ist sich dar<strong>in</strong> absolut e<strong>in</strong>ig«, versicherteChruschtschow.Weite Teile Budapests waren jetzt <strong>in</strong> der Hand des Volkes. E<strong>in</strong> großesGebiet <strong>in</strong>nerhalb der City um die Kilián-Kaserne und das Corv<strong>in</strong>-K<strong>in</strong>o380


konnte von regierungstreuen Kräften nicht mehr betreten werden. Weheden ÁVH-Männern, die hier <strong>in</strong> die Hand der Rebellen fielen. E<strong>in</strong> sehrausdrucksvolles Photo von e<strong>in</strong>em Mann im Ledermantel und e<strong>in</strong>em Hutmit schmaler Krempe ist erhalten geblieben, der von triumphierendenRebellen an der Kaserne vorbei weggeführt wird zwecks »weiterer Vernehmung«,wie es <strong>in</strong> der Bildunterschrift heißt, gefolgt von Anwohnern –Männern, die ihn neugierig anstarren, und Frauen, die ihre E<strong>in</strong>kaufsnetzetragen.Wer waren diese unbekannten, namenlosen Gesichter auf den Photosmit Flaschen, Paketen, Gewehren <strong>in</strong> der Hand? Unter dem E<strong>in</strong>fluß se<strong>in</strong>ereigenen Propaganda suchte das Regime nach Rädelsführern, um Beweisefür das E<strong>in</strong>sickern von Agenten der CIA und aus Adenauers Deutschlandsowie von verbannten Anhängern Horthys zu haben. Sie fanden ke<strong>in</strong>e.Verstörte ÁVH-Männer kämpften sich durch das Knäuel polypenartigerFangarme <strong>in</strong> der Hoffnung, den Führer der Rebellion zu f<strong>in</strong>den – e<strong>in</strong> Hirn,e<strong>in</strong>en Kopf, dessen H<strong>in</strong>richtung den ganzen <strong>Aufstand</strong> zu e<strong>in</strong>em schnellenZusammenbruch führen würde. Aber sie stießen nur auf immer neueFangarme, die sich zupackend über jede Straße und über jeden Platz derStadt ausstreckten. Dieser Mangel an Führern war zugleich Schwäche undStärke des gesamten <strong>Aufstand</strong>s. War e<strong>in</strong> Fangarm abgehackt, wuchsenanderswo neue hervor.Dieser <strong>Aufstand</strong> zerstörte e<strong>in</strong>e der heiligsten Überzeugungen desMarxismus. Faschisten und Reaktionäre hielten sich heraus, während dasProletariat der antisowjetischen Sache <strong>in</strong> Scharen beitrat. Die meistenKampfschäden wurden <strong>in</strong> Arbeitervorstädten Budapests wie Köbánya undCsepel angerichtet und auch <strong>in</strong> Industriestädten wie Eger, Györ, Miskolcund Pécs.ËÊ Sogar Staatsangehörige aus anderen kommunistischen Ländernmachten mit. Nordkoreanische Studenten schlossen sich dem <strong>Aufstand</strong>an. Zwei Wochen zuvor war e<strong>in</strong>e große polnische Studentendelegationangekommen, auch diese Polen griffen zur Waffe und traten zum Kampfan.ËÁ E<strong>in</strong>er der Rädelsführer der Corv<strong>in</strong>-Passage war der früheregriechische Partisan Iorgos Nikos. »Ich kämpfte gegen den britischenImperialismus <strong>in</strong> Griechenland«, hörte man ihn sagen. »Dann suchte ich381


Zuflucht hier <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong>, und das hat mich für alle Zeiten vom Kommunismuskuriert!«ËËDie Motive der Aufständischen waren tiefgründig und oft überraschend.Amerikanische Psychiater analysierten Hunderte dieserMenschen nur wenige Wochen nach den Ereignissen.Nehmen wir den Fall e<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>unddreißigjährigen Biochemikers, dersich h<strong>in</strong>ter den Fenstern des Universitätsgebäudes verschanzt hat.ËÈ Ererlebt, wie vor dem Funkhaus das erste Blut fließt, und bleibt dann mitse<strong>in</strong>en Freunden <strong>in</strong> der Stadt zusammen, bis gegen 4 Uhr morgens dieersten russischen Panzer anrollen. Sie eilen zusammen zum Universitätsgebäudean der Üllöi út. Hier drückt man dem Biochemiker e<strong>in</strong>en Karab<strong>in</strong>er<strong>in</strong> die Hand. Bei der Bildung e<strong>in</strong>es revolutionären Fakultätsrats am25. Oktober wird ihm die Verantwortung für den Nachschub im Bereichder Universität übertragen. Er ist bewaffneter Revolutionär geworden.Fünf Monate später bef<strong>in</strong>det sich dieser Mann <strong>in</strong> New Yersey undweist voller Stolz auf e<strong>in</strong>e Narbe an der Hüfte, die von e<strong>in</strong>em Schrapnellsplitterstammt. Er wird e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>gehenden mediz<strong>in</strong>ischen und psychologischenUntersuchung unterzogen. Draußen fahren friedlich brummendWagen über den Rutgers Campus. Die Bäume werden wieder grün. Allessche<strong>in</strong>t sehr weit weg von <strong>Ungarn</strong> zu se<strong>in</strong>.Auf wen hat er nun eigentlich geschossen? Die Antwort verblüfft diePsychoanalytiker, als sie tiefer <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e K<strong>in</strong>dheit e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gen. Er hat e<strong>in</strong>hohes <strong>in</strong>tellektuelles Niveau, aber er ist e<strong>in</strong>deutig servil: Als e<strong>in</strong>ziger dervierzig Aufständischen, die Dr. George Devereux befragt hat, bittet dieserMann um Erlaubnis, sich setzen zu dürfen. Zu se<strong>in</strong>en ersten K<strong>in</strong>dheitser<strong>in</strong>nerungengehören die Güter des Fürsten Esterházy, wo se<strong>in</strong> Vater e<strong>in</strong>e<strong>in</strong>facher Gärtner war. Es war e<strong>in</strong>e Märchenwelt von Fürsten und Fürst<strong>in</strong>nen.Er er<strong>in</strong>nert sich, während se<strong>in</strong>er Pubertät sexuelle Phantasien gehabtzu haben, deren Gegenstand die Fürst<strong>in</strong> war. Er schildert sie als süße undliebenswerte Person, während der Fürst krankhaft arrogant gewesen sei.»Ich überprüfte diese Behauptung bei e<strong>in</strong>er Befragung der Nichte desFürsten«, erklärt Devereux, <strong>in</strong>dem er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Akte über den Fall H50F382


lättert, »und sie sagte, der Fürst sei so sehr Fürst gewesen, daß von e<strong>in</strong>emMenschen nicht mehr viel übrigblieb. Was die Fürst<strong>in</strong> betraf, so war diesevöllig wahllos <strong>in</strong> ihren Geschlechtsbeziehungen. Sie trug Kleider mite<strong>in</strong>em so tiefen Dekolleté, daß – wie H50F es ausdrückte – ›nur derheilige Geist sie zusammenhalten konnte‹.«E<strong>in</strong> Kollege äußert Zweifel: »Was hat das alles damit zu tun, denMann zu verlassen, e<strong>in</strong> Freiheitskämpfer zu werden?« Devereux lächelt:»Wie der bedeutende Philosoph J. P. Morgan e<strong>in</strong>mal sagte, ›jeder hat zweiGründe für se<strong>in</strong>e Handlungen – e<strong>in</strong>en triftigen und e<strong>in</strong>en eigentlichen‹.«E<strong>in</strong> triftiger Grund wäre der Status des Biochemikers als Sohn e<strong>in</strong>es Leibeigenen<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em fürstlichen Hofstaat. »Zunächst e<strong>in</strong>mal«, fährt Devereuxfort, »mußte er revoltieren, nur – ich spreche jetzt, als ob ich Marxistwäre! – daß er gegen die falschen Leute revoltierte. Anstatt die fürstlicheFamilie zu töten, revoltierte er gegen die Fe<strong>in</strong>de der Familie! Er schoß mitse<strong>in</strong>em Karab<strong>in</strong>er zwar auf die Kommunisten, aber psychologisch gesehenschoß er auf die Familie des Fürsten.«Der skeptische Kollege bohrt weiter: »Warum mußte er das Ganze aufden Kopf stellen?«Devereux seufzt. »Aus demselben Grund, der ihn nicht erkennen ließ,daß se<strong>in</strong>e sexuellen Phantasien über die Fürst<strong>in</strong> <strong>in</strong> Wirklichkeit durch ihrtiefes Dekolleté und ihre verführerische Art hervorgerufen wurden«,erwidert er. »Weil es zu eng verknüpft war mit se<strong>in</strong>em Ödipuskomplexgegenüber se<strong>in</strong>en Eltern.«»Sie wollen damit sagen, daß dieser Mann <strong>in</strong> sich den Keim e<strong>in</strong>erRevolte entwickelt hat und daß es ihm aufgrund se<strong>in</strong>er eigenencharakterlichen Struktur nicht möglich war, sich mit den Kommunisten zuidentifizieren? Dies würde mehr offenbart haben, als er hätte verkraftenkönnen?« Devereux nickt zustimmend: »Es hätte beides enthüllt: denFürstenhaß und den Elternhaß.« Der Kollege hat es begriffen: »Deshalb ister also Revolutionär geworden . . . «» . . . deshalb schoß er auf die, die für ihn geschossen haben!«vollendet Dr. Devereux den Satz.In e<strong>in</strong>em Gebäude der Universität an der Üllöi út – Tausende von383


Meilen östlich von Rutgers und e<strong>in</strong> halbes Jahr vorher – preßt e<strong>in</strong> zornigerBiochemiker beim Anblick e<strong>in</strong>es sowjetischen Soldaten se<strong>in</strong>en Karab<strong>in</strong>eran die Wange und drückt ab.Es gibt zwei Millionen verschiedene Menschen im Budapest desOktobers 1956: jeder hat se<strong>in</strong>e eigene Vorgeschichte, und fast alle habenihre »zwei Gründe«, sich gegen ihre Tyrannen aufzulehnen.384


29ParlamentsplatzBUDAPEST, 25. OKTOBER, 6 UHR. E<strong>in</strong>e dunstige Morgensonne dr<strong>in</strong>gtallmählich durch den Frühnebel über der Donau. In der Bródy utca stehenungarische und russische Truppen bereit, bei Tagesanbruch die Aufständischen,die das Funkhaus besetzt halten, zu vertreiben. Verteidigungsm<strong>in</strong>isterGeneraloberst István Bata hat se<strong>in</strong>en Soldaten befohlen, bisMittag »alle konterrevolutionären Elemente <strong>in</strong> der Hauptstadt« zuvernichten. Allmählich breitet sich über Stadt und Land e<strong>in</strong> Generalstreikaus. Um 6.30 Uhr gesendete Rundfunkappelle, den öffentlichen Verkehrwiederaufzunehmen und die Geschäfte und Büros wie immer zu öffnen,werden mißachtet. Es gibt ke<strong>in</strong>en Straßenbahnverkehr, und die meistenBüros und Läden bleiben selbst drei Stunden nach dem morgendlichenAusgehverbot geschlossen. Über außerhalb der Stadt gelegene Rundfunksenderverkündet e<strong>in</strong>e Stimme: »Liebe Zuhörer <strong>in</strong> der Stadt, heute morgenkönnen Sie nicht Ihr gewöhnliches Programm hören, weil die Ereignisse<strong>in</strong> Budapest unsere Redakteure und Kollegen geh<strong>in</strong>dert haben, ihr Rundfunkprogrammvorzubereiten.«Bei der amtlichen ungarischen Nachrichtenagentur MTI auf dem Naphegy hängen Wolldecken vor den Fenstern, Flaschen s<strong>in</strong>d zum Schutzgegen Splitter mit Tüchern umhüllt, und die Redakteure hocken unterihren Schreibtischen und debattieren über Imre Nagys Entscheidung, dieRussen herbeizurufen. Aus neunzehn Außenbüros gehen laufend überFernschreiber wahrheitsgetreue Berichte über Aufruhr, Tumulte undVergeltungsmaßnahmen e<strong>in</strong>. Aus Miskolc kommen grauenvolle Meldungenüber Ausschreitungen der ÁVH. Die patriotischen Gemüter erhitzen385


sich immer mehr. Die Redakteure beschließen, den Rundfunk nicht mehrmit Nachrichten zu versorgen – »er verbreitet doch nur Lügen«. LeitendeRedakteure versuchen, Verb<strong>in</strong>dung mit dem M<strong>in</strong>isterpräsidentenaufzunehmen, aber man weiß nicht, wo Nagy ist. Dann versucht man,János Kádár über se<strong>in</strong>en Nebenanschluß der K-Leitung zu erreichen. E<strong>in</strong>eFrau ist am Apparat. Als man ihr über die Vorgänge <strong>in</strong> Miskolc berichtet,ruft die Frau empört: »Alles Lügen!« und knallt den Hörer h<strong>in</strong>.ÁAber die Wahrheit nicht sehen wollen, macht die Sache nicht besser.Erbleichende Parteifunktionäre lesen auf dem Ticker im Fernschreibraumvon MTI, daß <strong>in</strong> Debrecen e<strong>in</strong> Revolutionskomitee die Macht übernommenhat. István Kossa, e<strong>in</strong>er der letzten unverbesserlichen Stal<strong>in</strong>isten,ruft bei der Agentur an und beschimpft die Redakteure, weil sie <strong>in</strong> ihrerNachrichtengebung nicht die offizielle Darstellung verbreiten, daß der<strong>Aufstand</strong> im wesentlichen bereits verpufft sei.ËWährend der Nacht hat es nur vere<strong>in</strong>zelt Schießereien gegeben, so daßdie amerikanischen Diplomaten schon glauben, die Kämpfe hätten nachgelassen.Aber <strong>in</strong> den Frühsendungen des Rundfunks ist von neuenKämpfen <strong>in</strong> der Nähe des Palasthotels und des Funkhauses die Rede. Um6.45 Uhr berichtet der Nachrichtensprecher, die Feuerwehr bemühe sichimmer noch, den Brand des Museums e<strong>in</strong>zudämmen. Außerdem stündenWohnhäuser und Geschäfte <strong>in</strong> Flammen. Um 8.23 Uhr wird gemeldet,Rebellen versuchten, das Fernsprechamt zu stürmen. Die amerikanischeGesandtschaft schätzt die Stärke der sowjetischen Truppen, die <strong>in</strong> derersten Nacht des <strong>Aufstand</strong>s <strong>in</strong> die Stadt rollten, auf »e<strong>in</strong>e motorisierteInfanteriedivision«, und diese sei hauptsächlich nach wie vor <strong>in</strong> dieKämpfe verwickelt. Die ungarischen Streitkräfte werden immer nochzurückgehalten. Aufständische schießen vom Dach des amerikanischenAppartementhauses am Széchenvi tér, russische Masch<strong>in</strong>engewehreerwidern das Feuer, durchlöchern die Mauern des Gebäudes undzertrümmern die Fenster.Die Flußnebel ziehen noch immer am Parlament vorbei, als e<strong>in</strong> Wagender amerikanischen Gesandtschaft sich unauffällig dem Platz nähert. Der386


Kossuth Lajos tér ist e<strong>in</strong> länglicher, gepflasterter Platz, der auf derFlußseite von dem neogotischen Parlamentsgebäude überragt wird, auf dergegenüberliegenden Seite bef<strong>in</strong>det sich das Landwirtschäftsm<strong>in</strong>isterium,das <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em fünfzig Jahre alten, mit Arkaden geschmückten Gebäudeuntergebracht ist. Neben Tom Gleason, der am Steuer desGesandtschaftswagens sitzt, ist Gaza Katona eifrig damit beschäftigt, dieauf den Platz <strong>in</strong> Stellung gegangenen sowjetischen Panzerwagen zu photographieren.ÈAm Tage zuvor hatte der freie Mitarbeiter von AssociatedPress, Endre Marton, hier über fünfzig sowjetische T-34 gezählt. IhreBesatzungen sche<strong>in</strong>en sehr jung zu se<strong>in</strong>.Auch der amerikanische Attaché Brice C. Meeker fährt durch die Stadtund sieht die starken Absperrungen, die von den Sowjets um dasParlament, das Verteidigungsm<strong>in</strong>isterium und das ÁVH-Hauptquartiergezogen worden s<strong>in</strong>d. Meeker entdeckt, daß sich im Stadtpark russischeArtillerie e<strong>in</strong>gräbt. An den Kreuzungen der Hauptverkehrsstraßen stehenPanzer. Jede Brücke ist von sechs Tanks blockiert, die nur Fußgängerpassieren lassen. Die scharfsichtige Frau e<strong>in</strong>es US-Gesandtschaftsangehörigenzählt sechsundsiebzig sowjetische Mannschaftstransportwagenmit motorisierten Feldküchen, die aus östlicher Richtung <strong>in</strong> dieStadt kommen. Die Kennzeichen der Kraftfahrzeuge haben e<strong>in</strong> »F« alsAnfangsbuchstaben, wie sie der Landwirtschafts-Attaché »durch purenZufall« erst vor kurzem <strong>in</strong> Rumänien gesehen hatte.ÍDie Akadémia utca mit ihrer Parteizentrale ist an beiden Enden vonungarischen und russischen Panzern abgeriegelt. Seit der Frühe hatte sichder Rundfunkreporter Péter Erdös <strong>in</strong> dem Gebäude aufgehalten. Er warvon Valéria Benke gebeten worden, e<strong>in</strong>en Artikel für die Parteizeitung zuschreiben. Er setzt sich an e<strong>in</strong>e Schreibmasch<strong>in</strong>e. Aber kaum hat erangefangen, als der mächtige Erste Sekretär der Budapester KP, IstvánKovács, here<strong>in</strong>kommt und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Ecke des Raumes kurz mit Frau Benkeflüstert. Erdös bekommt nur das Wort megbízhatatlan – »unzuverlässig«mit. Valéria Benke, die sowieso <strong>in</strong> nervöser Verfassung ist, bricht <strong>in</strong>Tränen aus. Sie geht zu Erdös und legt den Arm um se<strong>in</strong>e Schulter: »Bitte,387


Genosse Erdös, verlassen Sie das Haus. Los, gehen Sie weg!«Er steht auf, zieht die angefangene Seite aus der Schreibmasch<strong>in</strong>e undverläßt den Raum. Frau Benke ruft h<strong>in</strong>ter ihm her: »Und noch e<strong>in</strong>s – bitte,versuchen Sie, die Leute davon abzuhalten, zum Parlament zu gehen!«Als Erdös später darüber nachdenkt, wird ihm klar, daß Kovács FrauBenke aufgefordert haben muß, das Haus von allen unzuverlässigenElementen zu räumen. Er zieht daraus den Schluß, daß irgende<strong>in</strong>emilitärische Entscheidung getroffen worden ist, und zwar e<strong>in</strong>e Aktion, dieden unglückseligen Lauf der D<strong>in</strong>ge ändern soll. Erdös kommt an demFünf-Sterne-Hotel Astoria vorbei, russische Panzer stehen davor.ÎDer sechsunddreißigjährige Journalist Tamás Aczél g<strong>in</strong>g nach Hause,um e<strong>in</strong> Bad zu nehmen und sich e<strong>in</strong> frisches Hemd anzuziehen.Ï Seit demBeg<strong>in</strong>n des <strong>Aufstand</strong>s hatte er dies mehrmals am Tage gemacht, denn erwar der Me<strong>in</strong>ung, »wennschon e<strong>in</strong>e Revolution, dann mit Stil«. GroßeMenschenmassen strömten, noch zwanzig Häuserblocks vom Parlamententfernt, bereits durch die Rákóczi út. An diesem Morgen sollte wieder e<strong>in</strong>Demonstrationszug zum Parlament marschieren, wo jedermann Imre Nagyvermutete. Zwar hatte der Rundfunk um 7.30 Uhr noch e<strong>in</strong>mal auf dasVersammlungsverbot h<strong>in</strong>gewiesen, aber niemand kümmerte sich darum.Die Autorität der Regierung verfiel immer mehr, die Menschenmassenwaren der sichtbare Beweis dafür. Inzwischen hatten sich etwa 800 bis900 Männer und Frauen versammelt, die die Rákóczi út von Bürgersteigzu Bürgersteig blockierten, und immer mehr Menschen kamen h<strong>in</strong>zu. Aufden damals aufgenommenen Photos sieht man Leute, die die neueNationalfahne, ohne kommunistisches Emblem, schwenken, und e<strong>in</strong>riesiges grün-rot-weißes Banner, das an der Spitze des Zuges die ersteReihe der Demonstranten wie e<strong>in</strong>e Schürze umhüllt.Ganz vorn marschieren zwei Männer, die um die von der ÁVHermordeten Mitstreiter trauern und e<strong>in</strong>e schwarze Fahne tragen. Wie dieLok vor e<strong>in</strong>em langen Zug beim Anfahren immer mehr Dampf ausstößt,begann die Menge jetzt ihre ersten Parolen zu schreien: »Der Rundfunklügt!« – »Piszkos Gerö!« [Gerö ist e<strong>in</strong>e Ratte!] und »Russen raus!«388


Für gewöhnlich ist die Rákóczi út e<strong>in</strong>e der belebtesten Verkehrsadernder Stadt. Aber jetzt waren ihre großen Hotels und Bürohäuser von denKämpfen verwüstet. Die Stromleitungen der Straßenbahnen warenheruntergerissen; wahrsche<strong>in</strong>lich hatten sie ke<strong>in</strong>en Strom, aber niemandmochte sie berühren, um das herauszuf<strong>in</strong>den. An der Kreuzung Rákóczi út– Károly körút hatten Leute, die wie Péter Erdös schon frühzeitig hiervorbeigekommen waren, russische Panzer und Mannschaftstransportwagenentdeckt, die regungslos <strong>in</strong> der Nähe des Hotels Astoria Wachehielten. Ausländische Journalisten, die <strong>in</strong> dem Hotel untergebracht waren,hatten am Vortage die neuen Kämpfe um das Funkhaus beobachtenkönnen, als Panzer und Infanterie versuchten, die Heckenschützen <strong>in</strong> derBródy utca herauszuholen. Jetzt waren die Fensterscheiben vieler Lädenzertrümmert, die Fassaden der Häuser mit E<strong>in</strong>schlägen übersät und dieW<strong>in</strong>dschutzscheiben von manchem teuren Wagen mit ausländischenNummernschildern von Kugeln zersplittert.Anfangs beachteten sie e<strong>in</strong>ander gar nicht – die russischen Panzer unddie marschierenden Demonstranten. Und als sie es taten, konnte sowiesoke<strong>in</strong>e der beiden Seiten etwas dagegen tun. Die Panzerluken warengeschlossen, die Kanonenrohre wiesen <strong>in</strong> die entgegengesetzte Richtung.Die vorderen Reihen des Demonstrationszuges konnten nicht halten,ohne von den nachfolgenden niedergetrampelt zu werden. So stieg mane<strong>in</strong>fach über die stählernen Ungeheuer, angeführt von e<strong>in</strong>emJugendlichen, der e<strong>in</strong>e Fahne <strong>in</strong> die Mündung e<strong>in</strong>er Panzerkanone steckte.Studenten hämmerten auf die geschlossenen Panzertürme und riefen densowjetischen Besatzungen zu, herauszukommen. Unter großern Gelächtergeschah bei den anderen regungslosen Panzern das gleiche. Da öffnetesich e<strong>in</strong> Luk und e<strong>in</strong> russischer Leutnant steckte se<strong>in</strong>en Kopf heraus. Esgab e<strong>in</strong>en kurzen Wortwechsel zwischen ihm und den Demonstranten, die<strong>in</strong> der Schule oder <strong>in</strong> der Gefangenschaft Russisch gelernt hatten, undschließlich kletterten alle Sowjetsoldaten heraus. Sie setzten sich auf dasDach ihrer Fahrzeuge. Es kam zu e<strong>in</strong>drucksvollen Szenen, die jungenMänner küßten und umarmten sich. Sowjetische und ungarische Uniformmützenwurden ausgetauscht. Natürlich konnte nicht jeder sehen, was dort389


vor sich g<strong>in</strong>g. Es gab viele unterschiedliche Darstellungen. E<strong>in</strong>Augenzeuge erzählt: »An der Ecke Körút und Rákóczi út sah ich e<strong>in</strong>igerussische Panzer, die sich friedfertig verhielten, obgleich die Menge e<strong>in</strong>edrohende Haltung e<strong>in</strong>nahm . . . sie hängten e<strong>in</strong>e ungarische Fahne heraus.«ÌE<strong>in</strong> Deutscher, der zwei Filmrollen von diesen Szenen aufnahm,gab als Zeitpunkt 9.30 Uhr bis 10 Uhr vormittags an.Ó Und e<strong>in</strong> Diplom<strong>in</strong>genieurberichtete: »Als die Menge die Panzer erreicht hatte, hielt sie anund begann zu rufen, denn viele von ihnen konnten Russisch sprechen. Sieübersetzten den Sowjets ihre Parolen: ›Wir s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e Faschisten! Wirs<strong>in</strong>d ungarische Arbeiter!‹Ô Die russischen Soldaten verhielten sich <strong>in</strong>ke<strong>in</strong>er Weise fe<strong>in</strong>dselig. Sie verbrüderten sich mit den jugendlichen <strong>in</strong> derMenge und e<strong>in</strong>ige K<strong>in</strong>der kletterten auf die Panzer.« E<strong>in</strong>er der Russenhatte offenbar e<strong>in</strong>en Befehl gegeben, denn plötzlich wurden die Motorenangeworfen, wobei die ohrenbetäubenden Auspuffrohre Wolken vonMörtelstaub vom Boden <strong>in</strong> die Luft wirbelten. Die Panzer setzten sich <strong>in</strong>Bewegung und rollten schwerfällig den Körút h<strong>in</strong>unter <strong>in</strong> Richtung desWestbahnhofs.Da dies auch der Weg zum Parlament war, folgten die Demonstrantenden russischen Panzern – e<strong>in</strong> merkwürdiger Anblick, der zu weiterenVermutungen und Gerüchten Anlaß gab.ÁÊ E<strong>in</strong>er der Panzer drehte bei undverschwand rechts <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Seitenstraße. Die vier anderen rollten weiter,immer noch mit ungarischen Fahnen und Passagieren »geschmückt«. Alsdie Demonstranten an der amerikanischen Gesandtschaft vorbeikamen,schätzte Endre Marton ihre Zahl auf 2000. E<strong>in</strong>ige Leute w<strong>in</strong>kten undriefen: »Warum helft ihr uns nicht?« Der Gesandtschaftsattaché GazaKatona machte zwei Photos von den russischen Panzern, die an demGebäude vorbeirasselten.Péter Hanák, e<strong>in</strong> schlanker, nervöser Professor mit dunklem Haar unde<strong>in</strong>er Hakennase, war den ganzen vorhergehenden Tag zu Hausegeblieben.ÁÁ Er war erschöpft, nachdem er zusammen mit se<strong>in</strong>en Kollegenmarschiert war und aus der Ferne die Massen beobachtet hatte, die sichvor dem Parlament versammelten. Als dann am nächsten Tage überall390


Straßenkämpfe ausbrachen, blieb er zu Hause und schützte e<strong>in</strong>e Erkältungvor. Aber mehrere Freunde von der Universität hatten angerufen, darunterauch der beliebte Dekan der philosophischen Fakultät, Professor Zoltán I.Tóth. Tóth war etwa zehn Jahre älter als er, aber sie hatten als Historikerdasselbe Arbeitsgebiet: Osteuropäische Nationalitäten-Probleme im 19.Jahrhundert. Und sie waren zusammen im Ausland gewesen. Tóth bat ihndr<strong>in</strong>gend, doch am nächsten Morgen zu e<strong>in</strong>er Konferenz imUniversitätsgebäude zu ersche<strong>in</strong>en.In der Philosophischen Fakultät im Innern der Stadt wurden die beidenProfessoren am Morgen des 25. Oktober sofort von heftigdemonstrierenden Studenten umr<strong>in</strong>gt. Man übergab den beiden e<strong>in</strong> Papier,auf dem die Studenten vier oder fünf Hauptforderungen notiert hatten,unter anderem verlangten sie e<strong>in</strong>e Amnestie für verhaftete Revolutionäreund e<strong>in</strong>e neue Regierung. Man bat die Professoren, das Papier der Leitungder Universität oder der Parteiführung zu überreichen. Die beidenHochschullehrer g<strong>in</strong>gen zum Hauptverwaltungsgebäude der Universitätbei der Rechtsakademie, die etwa 300 oder 400 Meter entfernt <strong>in</strong> derKecskeméti utca lag, um den Rektor, Professor János Beér, aufzusuchen.Dort erfuhren sie, daß Beér zusammen mit Professor György Székely, demDozenten für Mittelalterliche Geschichte, gerade auf dem Weg zurParteizentrale <strong>in</strong> der Akadémia utca sei. Der Parteisekretär der Universität,Csiky Szász, riet den beiden, ebenfalls sofort h<strong>in</strong>überzugehen und sich derDelegation des Rektors anzuschließen.Zu Fuß brachen dann Tóth, Hanák und e<strong>in</strong> dritter Hochschullehrer,István Kató, auf und g<strong>in</strong>gen auf Nebenstraßen, parallel zu dem riesigenDemonstrationszug, der sich <strong>in</strong> Richtung Parlament wälzte, zur Parteizentrale.Zur selben Zeit führten die sowjetischen Emissäre Suslow undMikojan e<strong>in</strong> weiteres Spitzengespräch <strong>in</strong> der Akadémia utca. Wie es hieß,überhäuften die beiden Russen Gerö mit Vorwürfen, weil er Moskaudurch se<strong>in</strong>e »übertriebenen und verzerrten« Berichte zu e<strong>in</strong>er bewaffnetenIntervention <strong>in</strong> Budapest getrieben habe. Suslow riet ihm, zurückzutreten,und als Gerö mit der Behauptung widersprach, Moskau brauche ihn, damit391


die Partei nicht ause<strong>in</strong>anderbreche, entgegnete Mikojan: »Dank Ihrerunglaublichen Dummheit hat sich die Partei bereits <strong>in</strong> Nichts aufgelöst!«ÁËIn der Parteizentrale breiteten sich Verwirrung und Panik aus, als dieForderung der Volksmassen, Imre Nagy erneut zu sehen, bekannt wurde.Mitten <strong>in</strong> den Beratungen zertrümmerte e<strong>in</strong>e Masch<strong>in</strong>engewehrsalve dieFenster des Sitzungssaales im Politbüro – Hegedüs glaubte, die Schüsseseien von Buda gekommen – und durchlöcherte die Wand knapp e<strong>in</strong>enMeter über ihren Köpfen.ÁÈ Die ÁVH versprach, sie würde dieParteiführer verteidigen, und richtete im Keller e<strong>in</strong>en Raum her, <strong>in</strong> den dieKonferenz verlegt wurde.ÁÍ Nagy machte ke<strong>in</strong>e Anstalten, sich derBevölkerung zu zeigen.In der Wohnung von Miklós Vásárhelyi auf der anderen Seite desFlusses kl<strong>in</strong>gelte um zehn Uhr morgens das Telephon. Der Anruf kam vone<strong>in</strong>em Polizeioberst namens Gyula Oszkó, der zur Zeit des Rajk-Prozessesim Gefängnis gesessen hatte. Oszkó hatte, offensichtlich aus eigenemAntrieb, angerufen, um den Vorschlag zu machen, Imre Nagy <strong>in</strong> derAkadémia utca aufzusuchen. Er telephonierte dann mit Losonczy, derebenfalls bereit war, mitzukommen. »Feri Donáth und ich schreibengerade e<strong>in</strong>en Brief an das Zentrakomitee, um unsere Haltung darzulegen.Das ist sehr gut, denn wir wüßten sonst nicht, wie wir <strong>in</strong> die Akadémiautca h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>kommen!«ÁÎEtwa zwanzig M<strong>in</strong>uten später fuhren sie mit Oszkós russischemPobieda alle zusammen zur Akadémia utca.Die Straße befand sich im Belagerungszustand. Vásárhelyi sahungarische Soldaten <strong>in</strong> der Uniform der »folyamörség«, der Matrosen derDonauflotte, die aber <strong>in</strong> Wirklichkeit wahrsche<strong>in</strong>lich verkleidete ÁVH-Männer waren. Beide Enden der Straße waren durch Panzer abgeriegelt,sie mußten fünfmal ihre Ausweise zeigen, bevor sie zum Haupte<strong>in</strong>gangder Parteizentrale gelangten. Vásárhelyi, Losonczy und Donáth ließenImre Nagy Bescheid sagen, mußten aber <strong>in</strong> der zugigen E<strong>in</strong>gangshallewarten, da sich der M<strong>in</strong>isterpräsident noch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Konferenz mit demPolitbüro befand.392


Als Nagy schließlich zu ihnen herunterkam, ergriff als erster Losonczydas Wort – er stand Imre Nagy näher als die beiden anderen. Er setzte demneuen Premier ihre Me<strong>in</strong>ung ause<strong>in</strong>ander, daß dies nämlich e<strong>in</strong> großer,nationaler <strong>Aufstand</strong> und ke<strong>in</strong>eswegs e<strong>in</strong>e »Konterrevolution« sei. »Wirstimmen nicht mit der gegenwärtigen Haltung der Regierung übere<strong>in</strong> – mitdem russischen E<strong>in</strong>greifen, dem Ausnahmezustand und anderem.« AuchVásárhelyi und Donáth sprachen, aber nicht lange: Nagy war kurzangebunden.Vielleicht war er müde und erschöpft. Er hatte nun schon zwei Tagehier verbracht und trug immer noch denselben zerknautschten Anzug.Schon nach wenigen M<strong>in</strong>uten warf er e<strong>in</strong>en Blick auf se<strong>in</strong>e Armbanduhrund sagte: »Gut, Genossen, aber ich habe jetzt ke<strong>in</strong>e Zeit. Wir s<strong>in</strong>d mitten<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er wichtigen Konferenz des Politbüros, auch die sowjetischenGenossen s<strong>in</strong>d hier. Ich muß zurück.«Die drei Männer fühlten sich durch die kühle Zurückhaltung ihresalten Freundes verletzt. Nagy hätte ihnen ja auch sagen können:»Genossen, ich teile eure Ansichten, aber die überwältigende Mehrheit derkollektiven Führung des Parteibüros ist anderer Me<strong>in</strong>ung, und dieseAnsicht haben wir zu vertreten.« Er hätte es tun können, aber er tat esnicht. Er warf nicht mal e<strong>in</strong>en Blick auf ihre Petition. Die drei verließendas Gebäude und g<strong>in</strong>gen zum Wirtschaftswissenschafts-Institut <strong>in</strong> derNádor utca, wo Feri Donáth arbeitete.Der Zeitunterschied zwischen Budapest und Wash<strong>in</strong>gton D.C. beträgtsechs Stunden. Es ist kurz nach Mitternacht, der 25. Oktober, als derFernschreiber im State Department plötzlich zu rattern beg<strong>in</strong>nt. Seit demspäten Nachmittag des 23. Oktober hat John Foster Dulles ke<strong>in</strong>erleidirekte Nachrichten mehr von der amerikanischen Gesandtschaft <strong>in</strong>Budapest erhalten.ÁÏ Und bis zum Nachmittag des 29. Oktober wird ihnauch ke<strong>in</strong> Kabel erreichen. Aber nun wird e<strong>in</strong>e ungewöhnlicheFernschreibverb<strong>in</strong>dung direkt mit der amerikanischen Gesandtschafthergestellt, und es gel<strong>in</strong>gt, den Fernschreibern <strong>in</strong> Budapest, sie währenddes ganzen Tages aufrechtzuerhalten.ÁÌ Amerikanische Beamte stellen den393


schweren Apparat auf den Fußboden, damit er aus dem Schußbereichkommt. Dann übermittelt Budapest die ersten Worte: »Alles klar« und»Verb<strong>in</strong>dung vorläufig hergestellt«.Fünf Stunden lang schweigt der Fernschreiber am Ende der Leitung <strong>in</strong>Wash<strong>in</strong>gton. Dann fängt die Masch<strong>in</strong>e plötzlich mit Unterbrechungen anzu surren und tickert folgende Nachricht: »Schreibe auf dem Fußboden.E<strong>in</strong>e große Straßenschlacht . . . hat eben vor dem Gesandtschaftsgebäudestattgefunden. Sche<strong>in</strong>t <strong>in</strong> Richtung Parlament weitergegangen zu se<strong>in</strong>.Amerikaner wahrsche<strong>in</strong>lich alle O.K. und <strong>in</strong> Sicherheit. Straßenkämpfewieder aufgeflammt, jetzt Panzer im E<strong>in</strong>satz.«Erneute Pause. Der Fernschreiber <strong>in</strong> Wash<strong>in</strong>gton tickert: »Bitte amGerät bleiben, Chef kommt <strong>in</strong> den Telex-Raum.«»Verstanden, wird gemacht.«»Hier ist er. Haben Sie im Augenblick irgendwelche Fragen?«Der Mann, der den Fernschreiber <strong>in</strong> Budapest bedient, kriecht auf demFußboden und f<strong>in</strong>gert auf den Tasten. »Hier e<strong>in</strong>ige Neuigkeiten: 10.45Uhr Parlamentsplatz voll von Menschen . . . «Immer neue Menschenmassen strömten auf dem sonst verlassenenKörút zum Parlament zusammen. E<strong>in</strong> Panzer, der regungslos an e<strong>in</strong>erStraßenkreuzung wartete, feuerte mehrere hundert Meter vor demherannahenden Zug e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>zelnen Schuß ab.ÁÓ Vielleicht schoß er aufe<strong>in</strong>en Heckenschützen. Die Fassade e<strong>in</strong>es Hauses auf der gegenüberliegendenSeite der Bajcsy Zsil<strong>in</strong>szky út stürzte zusammen und bedeckteden Bürgersteig und den halben Fahrdamm mit Trümmern. FerencReményi und mehrere andere Leute g<strong>in</strong>gen e<strong>in</strong>ige M<strong>in</strong>uten lang <strong>in</strong> e<strong>in</strong>emGeschäft <strong>in</strong> Deckung. Als sie wiederauftauchten, feuerte e<strong>in</strong> andererrussischer Panzer <strong>in</strong> schneller Folge zwei Granaten ab – jede Druckwellezersplitterte Hunderte von Fensterscheiben, die Scherben verteilten sichwie Konfetti über der Straße. Wieder gab es ke<strong>in</strong>en erkennbaren Grund.Die Menge lief erneut ause<strong>in</strong>ander, fand sich aber wenige M<strong>in</strong>uten späterwieder zusammen. Verbissen wurde der Marsch fortgesetzt. Die Panzermachten plötzlich e<strong>in</strong>e Rechtsschwenkung und rasselten die Stal<strong>in</strong> utcah<strong>in</strong>auf zum Stadtpark. Reményi erschien es vernünftiger, sich durch die394


Nebenstraßen zur L<strong>in</strong>ken, unabhängig von den anderen zum Parlamentsplatzdurchzuschlagen. Zehn Häuserblocks lagen noch vor ihm.In der amerikanischen Gesandtschaft hatte der US-GeschäftsträgerSpencer Barnes se<strong>in</strong>en Mitarbeiter Gaza Katona an die E<strong>in</strong>gangstürgeschickt, damit er für Fragen der draußen wartenden <strong>Ungarn</strong> zurVerfügung stünde. Es hatte sich e<strong>in</strong>e größere Menschenmenge angesammelt.E<strong>in</strong>ige Leute baten um Dosenmilch für ihre Babys, andereverlangten Waffen und Munition. Auf dem Parlamentsplatz, nur zweiHäuserblocks entfernt, wuchs der Tumult. Spencer Barnes, sonst e<strong>in</strong>äußerst gelassener Mann, fuhr sich mit den F<strong>in</strong>gern durch se<strong>in</strong> grauesHaar, er ließ sofort die Rolläden schließen. Verärgert lief Katona zurChefetage im zweiten Stockwerk. Die Frau des Zeitungsreporters JohnMacCormac war bereits dort und versuchte, durch die Schlitze zu blicken.»Ich schlage vor, daß wir wenigstens e<strong>in</strong>e Jalousie hochziehen, damitwir den Platz überblicken können«, sagte Katona.Sie strahlte. »Bravo, dafür b<strong>in</strong> ich auch!«Sie öffneten den nach <strong>in</strong>nen führenden Fensterflügel. Nebenbei ließKatona e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<strong>in</strong>halb Meter langes, rot-weiß-grünes Band nach untenflattern. Er hatte es zur Feier des letzten Unabhängigkeitstages am 15.März gekauft. Die Leute draußen auf der Straße entdeckten das Band, unde<strong>in</strong> aufgeregtes Murmeln wurde laut. Mehrere Leute w<strong>in</strong>kten zu denFenstern der Gesandtschaft h<strong>in</strong>auf. Gegen 10.45 Uhr war der Platz vordem Haus leer, nachdem die Menge auf den Kossuth Lajos tér vor demParlament geströmt war.ÁÔAmerikanische Diplomaten, die zum Parlamentsplatz kamen, schätztendie Zahl der dort versammelten Menschen auf 20.000 Hunderte waren aufLastwagen dah<strong>in</strong> gelangt, andere fuhren auf beschlagnahmten Fahrzeugenoder auf dem Dach russischer Panzer. Alles sah aus wie vor zwei Tagen,als der <strong>Aufstand</strong> begonnen hatte – nur war jetzt heller Tag, und an allenvier Ecken des Platzes standen sowjetische Panzer. Wieder drängte siche<strong>in</strong>e ungeheuere Menge unbewaffneter Menschen auf diesem Platz undrief <strong>in</strong> Sprechchören: »Wir wollen Imre Nagy!« und »Laßt dieGefangenen frei!«ËÊ395


Die wildesten Gerüchte kursierten. E<strong>in</strong> Mann rief John MacCormaczu: »Die Russen s<strong>in</strong>d auf unserer Seite. Sie haben gesagt, sie wollen nichtauf ungarische Arbeiter schießen.« MacCormac schrieb an diesem Tag <strong>in</strong>se<strong>in</strong>em Bericht: »Die russischen Panzerbesatzungen schienen dieseBehauptung zu bestätigen, denn sie lachten und w<strong>in</strong>kten den Menschenzu.« AP-Korrespondent Endre Marton sah zwei Sowjetpanzer und e<strong>in</strong>enPanzerwagen aufkreuzen, auf denen zahlreiche junge <strong>Ungarn</strong> hockten. Dierussischen Soldaten gr<strong>in</strong>sten verlegen. Immer mehr Leute kletterten überdie Fahrzeuge, <strong>in</strong> der Annahme, daß die Russen tatsächlich auf ihrer Seiteseien: Die selbstbewußten <strong>Ungarn</strong> waren offenbar davon überzeugt, daßdas große russische Volk ihnen auf ihrem Wege folgen würde.Ferenc Reményi trat unter die Arkaden des Landwirtschaftsm<strong>in</strong>isteriums,von dort hatte er e<strong>in</strong>en guten Überblick über den Platz biszum Parlamentsgebäude. Inzwischen war e<strong>in</strong>e dreiköpfige Delegation imParlament e<strong>in</strong>getroffen, um Imre Nagy aufzusuchen. Sie hatte ke<strong>in</strong>eAhnung, daß Nagy sich immer noch <strong>in</strong> der Parteizentrale <strong>in</strong> der Akadémiautca aufhielt.Im 8000 Kilometer entfernten Wash<strong>in</strong>gton tickert wieder der Fernschreiber.E<strong>in</strong> paar Leute stehen vor dem Apparat und schauen zu, wie dieMetallhebel auf das Papier hämmern.»Schweres Geschützfeuer aus der Umgebung des Parlaments. Mitgliederder Gesandtschaft berichten . . . e<strong>in</strong>zelne sowjetische Panzer aufder Seite der Demonstranten, ungarische Fahnen auf den Panzern,Menschen aus der Menge fahren mit. Radio Budapest berichtet vonvere<strong>in</strong>zelten Gruppen, die <strong>in</strong> der Stadt kämpfen. Empfiehlt den Leuten, dieStraßen zu meiden. Große Menschenmenge vor dem Parlament, jetzt vonSowjetpanzern zerstreut, die über die Köpfe h<strong>in</strong>wegschießen. E<strong>in</strong>igePanzer <strong>in</strong> der Hand der Demonstranten haben sich aus der Umgebung desParlaments zurückgezogen. Weiterh<strong>in</strong> starkes Geschützfeuer <strong>in</strong> Hörweiteder Gesandtschaft, offensichtlich von Panzerkanonen.«Der Budapester Fernschreiber macht e<strong>in</strong>e Pause, die Papierrolle drehtsich und die Tasten tickern wieder: »Irgendwelche Fragen?«396


In Wash<strong>in</strong>gton ist es erst fünf Uhr früh, und die Leute, die wichtigeFragen stellen könnten, schlafen noch.Kurz vor 11 Uhr näherten sich die drei Universitätsprofessoren Tóth,Hanák und Kató der Akadémia utca. Von ihrem Rektor ke<strong>in</strong>e Spur – erhatte offenbar die Absperrungen vor der Parteizentrale bereits passiert. Esdauerte mehrere M<strong>in</strong>uten, bis ihre Ausweise von Russen und ÁVH-Offizieren geprüft worden waren. Der Posten am E<strong>in</strong>gang des Gebäudesfragte, was sie wollten. Tóth sagte: »Wir gehören zu der Universitätsdelegation,die bereits dr<strong>in</strong>nen ist. Ich b<strong>in</strong> Zoltán Tóth, der Dekan.«Unbee<strong>in</strong>druckt knallten die Wachen ihnen die Tür vor der Nase zu.Verschreckt und unschlüssig standen die drei Hochschulprofessorenauf dem Bürgersteig. Der Tumult, der vom Parlamentsplatz zur Akadémiautca herüberdrang, wurde immer bedrohlicher. In diesem Augenblickertönte e<strong>in</strong>e Salve von Kanonenschüssen. Wie auf Kommando eröffnetenwenige Sekunden später auch die Panzer, die <strong>in</strong> dieser Straße <strong>in</strong> Stellungwaren, das Feuer. Mit ohrenbetäubendem Krachen schossen die Panzerihre Granaten die Straße h<strong>in</strong>unter zum Parlamentsplatz: Offensichtlichzielten sie über die Köpfe der Menschen h<strong>in</strong>weg, denn Hanák sah, wie dieE<strong>in</strong>schläge am anderen Ende der Flugbahn Ziegelstaub und Rauch vonden gegenüberliegenden Gebäuden aufwirbelten.Auch Gaza Katona konnte <strong>in</strong> der amerikanischen Gesandtschaft dasplötzliche Krachen des Geschützfeuers hören, das von den hohenHäuserwänden um den Platz widerhallte. Das Bild auf dem Platzveränderte sich auf e<strong>in</strong>mal. Von Panik erfaßt, stob die Menge ause<strong>in</strong>ander.Die russischen Panzerwagen setzten sich plötzlich <strong>in</strong> Bewegung, sieschüttelten die verdutzten <strong>Ungarn</strong> ab, die auf den Fahrzeugen gehockthatten.In e<strong>in</strong>em engen, geschlossenen Raum ist schwer auszumachen, auswelcher Richtung plötzlich e<strong>in</strong>setzendes Schießen kommt. Die meistenAugenzeugen waren der Me<strong>in</strong>ung, die ersten Schüsse seien oben vomLandwirtschaftsm<strong>in</strong>isterium abgefeuert worden. Es seien nervöse ÁVH-Posten gewesen, die das Parlament schützen wollten, <strong>in</strong> der Me<strong>in</strong>ung, die397


Menge habe es stürmen wollen. Sie mögen recht haben: das kommunistischeRegime hat seitdem immer so getan, als habe diese Schießerei garnicht stattgefunden – sie wurde weder <strong>in</strong> den Parteizeitungen noch <strong>in</strong>späteren offiziellen Veröffentlichungen erwähnt. Aber das Chaos undGemetzel auf dem Parlamentsplatz, das am 25. Oktober 1956 um 11.10Uhr morgens begann, war harte Wirklichkeit. Schreiende Menschenliefen, um sich <strong>in</strong> Sicherheit zu br<strong>in</strong>gen, auf die massiven Tore desParlaments zu, aber die Wachen hielten diese Tore geschlossen. Dieverstörten russischen Panzerbesatzungen begannen zu schießen,möglicherweise sogar <strong>in</strong> Erwiderung des plötzlichen Beschusses von denDächern. Endre Marton sah, wie e<strong>in</strong> Panzer wie wild um sich schoß, dannkamen drei Panzerwagen voller Sowjetsoldaten angefahren. Aber auch sieschossen <strong>in</strong> die Luft.Ferenc Reményi rannte die Arkaden h<strong>in</strong>unter und entkam mit heilerHaut <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e der Nebenstraßen.Gaza Katona photographierte die <strong>in</strong> Panik geratenen Menschenmassen,die über den Freiheitsplatz flüchteten, von der amerikanischenGesandtschaft aus – die Bilder er<strong>in</strong>nerten unangenehm an Szenen ausPetrograd im Jahre 1917. Er hörte, wie weitere Feuerstöße abgegebenwurden, die von Rufen und Schreien übertönt wurden.Der Fernschreiber im State Department <strong>in</strong> Wash<strong>in</strong>gton tickert geradeneue Nachrichten. »Mr. Barnes, Mr. Rogers, Mr. Katona, Mr. Clark, Mr.Meeker, Mr. Nyerges usw. kauern auf dem Fußboden im Telexraum, umdem Geschützfeuer zu entgehen.«»Glauben Sie, daß sich die Kämpfe noch ausweiten werden?« fragtWash<strong>in</strong>gton.Die Antwort des Orakels kl<strong>in</strong>gt wenig trostreich: »Haben ke<strong>in</strong>eMöglichkeit, das <strong>in</strong> Erfahrung zu br<strong>in</strong>gen. Es ist aber sehr wahrsche<strong>in</strong>lich,daß sie sich ausweiten.«Auf dem Parlamentsplatz hat das Morden jedoch gerade erstbegonnen. E<strong>in</strong> Assistent an der TH sowie e<strong>in</strong> anderer Zeuge hatten den398


E<strong>in</strong>druck, daß sich die Russen quer über den Platz gegenseitig mit MGsund Panzerkanonen beschossen.ËÁ Als die Panik und das heilloseDurche<strong>in</strong>ander nachließen, war der Platz leer bis auf die Panzer, die Totenund die Verwundeten. Alle waren vermutlich Opfer e<strong>in</strong>es hysterischenMißverständnisses. Auf den Bildern sieht man die Menschen <strong>in</strong> allenmöglichen Verrenkungen flach auf dem Bauch liegen: Frauen <strong>in</strong> billigenHerbstmänteln, die ihre Handtaschen an sich pressen, wachsbleicheFabrikarbeiter, jugendliche und Studenten. Endre Marton entdeckte e<strong>in</strong>enToten <strong>in</strong> den Arkaden und drei Leichen auf den Straßenbahnschienen.John MacCormac zählte von se<strong>in</strong>em Platz aus e<strong>in</strong> Dutzend leblose Körper.Auf e<strong>in</strong>em Photo sieht man dreizehn Gefallene auf e<strong>in</strong>em nur zehn Meterbreiten Straßenstück. Niemand war neugierig genug, dazubleiben undgenau zu zählen.Wie betäubt standen die drei Universitätsprofessoren auf dem Bürgersteigvor der Parteizentrale, sie sahen sich mit erschreckten Blicken an.Das Schießen hatte aufgehört. Doch gerade, als sie noch darüberdebattierten, was sie nun machen sollten, tauchte plötzlich e<strong>in</strong> gepanzerterMannschaftswagen mit zwanzig ungarischen Soldaten von rechts aus e<strong>in</strong>erNebenstraße auf. Die Männer brachten e<strong>in</strong> Masch<strong>in</strong>engewehr auf e<strong>in</strong>emDrehgestell <strong>in</strong> Stellung und schossen aus unmittelbarer Nähe auf dierussischen Soldaten, die sich um ihre Panzer drängten. Offensichtlichwaren diese <strong>Ungarn</strong> <strong>in</strong> Wut geraten und führten aus Rache für das Blutbadauf dem Parlamentsplatz auf eigene Faust e<strong>in</strong>e Strafexpedition gegen dieRussen durch.Péter Hanák war wie verste<strong>in</strong>ert. Er war nie Soldat gewesen – als Judebrauchte er ke<strong>in</strong>en Kriegsdienst zu leisten; statt dessen war er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>Konzentrationslager e<strong>in</strong>gewiesen worden. Aber er besaß genugGeistesgegenwart, sich flach <strong>in</strong> den R<strong>in</strong>nste<strong>in</strong> h<strong>in</strong>ter e<strong>in</strong>en Panzer zuwerfen. Kugeln durchsiebten die Häuserwände und zertrümmerten dieFenster, während die Explosion der Granaten die Straße erschütterte.Er rief Professor Tóth zu: »Zoltán, bloß weg von hier! Wenn uns diePanzer nicht überrollen, dann töten uns Granaten oder Kugeln!«399


Tief gebückt rannten sie zur Parteizentrale. Die Posten vor demGebäude sahen sie kommen – drei Männer <strong>in</strong> Zivil, die im Zickzack durchStaub und Rauch auf sie zu liefen. Sofort feuerten die Wachen ihreMasch<strong>in</strong>enpistolen auf sie ab. Hanáks rechtes Be<strong>in</strong> wurde von e<strong>in</strong>erHandgranate aufgerissen. Dadurch fiel er noch gerade rechtzeitig zuBoden, aber Tóth wurde von acht Schüssen <strong>in</strong> den Kopf getroffen. Manließ se<strong>in</strong>en Leichnam mit dem Gesicht auf der Erde vor dem E<strong>in</strong>gangliegen. Hanák lebte noch, aber er hatte e<strong>in</strong>en schweren Schock erlitten.Erst jetzt erlaubte man ihnen, im Innern des Gebäudes Zuflucht zunehmen. Hilfreiche Hände brachten Hanák und Kató <strong>in</strong>s Kellergeschoß.Dort befand sich e<strong>in</strong>e Erste-Hilfe-Station. Leute mit schweren Verwundungen,die vordr<strong>in</strong>glich behandelt wurden, füllten den Raum. E<strong>in</strong> Arzt gabHanák e<strong>in</strong>e Morphiumspritze und kümmerte sich dann um die anderenVerletzten. Der Lärm des Geschützfeuers und das Krachen der E<strong>in</strong>schlägewar auch noch hier unten zu hören.Die Zahl der Toten wurde von MacCormac, dem Reporter der NewYork Times, mit 170 angegeben.ËË E<strong>in</strong> Beamter der britischen Gesandtschaftbehauptete, zwölf Lastwagen mit Leichen gesehen zu haben, dieabtransportiert wurden; Kopácsi sah m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>en Lastwagen, der aufder Fahrt zum Friedhof e<strong>in</strong>e lange Blutspur auf der Straße h<strong>in</strong>terließ. Imgesamten Regierungsviertel, dem fünften Bezirk, wurden laut offiziellerStatistik während des <strong>Aufstand</strong>s 106 Menschen getötet.ËÈNicht die tatsächliche Verlustzahl war entscheidend, sondern dieGerüchte – die von Hunderten von Todesopfern sprachen. Die Mengemachte Gerö dafür verantwortlich – aber viele verfluchten auch ImreNagy, von dem sie annahmen, daß er sich <strong>in</strong>s Parlamentsgebäudezurückgezogen hatte. Die Vorstellung, daß er dieses Gemetzelgutgeheißen haben könnte, weckte fe<strong>in</strong>dselige Gefühle gegenüber se<strong>in</strong>emNamen.Polizeipräsident Sándor Kopácsi war es endlich gelungen, Imre Nagytelephonisch zu erreichen.»Der Mob verlangt Gerös Kopf!« sagte er zu ihm.400


Nagy schien schlecht gelaunt zu se<strong>in</strong>. »Die Genossen vomsowjetischen Politbüro gehen gerade weg«, erwiderte er. »Gerö istabgesetzt. Kádár ist se<strong>in</strong> Nachfolger als Erster Sekretär.«Kopácsi unterbrach ihn: »Genosse Nagy, auf dem Parlamentsplatz hates 300 Tote gegeben – Ihre Regierung ist mit dem Blut unschuldigerMenschen befleckt!«Mit e<strong>in</strong>em Mal änderte sich Nagys Ton.ËÍLosonczy und Donáth machten ihr Dokument fertig und g<strong>in</strong>gen zurAkadémia utca zurück. In weiten Sprüngen eilten sie von Haus zu Haus,sie suchten Schutz vor dem Kugelhagel, der immer noch die Straßenunsicher machte. Vásárhelyi g<strong>in</strong>g nach Hause. Unterwegs überholte ihne<strong>in</strong> Lastwagen, der bis oben mit Leichen vollgepackt war.In der Akadémia utca näherte sich die Stimmung offener Panik. DieParteiführung hatte sich der Forderung Mikojans gebeugt und bereitsbeschlossen, daß Gerö den Vorsitz abgeben müsse. Losonczy las demimmer noch überwiegend fe<strong>in</strong>dseligen Zentralkomitee das Dokument vor,<strong>in</strong> dem es hieß: »Diese Ereignisse s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e Konterrevolution, sonderne<strong>in</strong>e Revolution!« In dem Brief wurde ferner festgestellt, daß dieEreignisse draußen die logische Folge der Politik der Partei seien. DerVorstoß blieb erfolglos. Mit Ausnahme des Chefs der Parteizeitung FreiesVolk, Márton Horváth, stimmten alle, e<strong>in</strong>schließlich Nagy, Lukács undSzántó für die Fortsetzung der zuvor festgelegten Politik. Die Ereignissedraußen im Lande waren e<strong>in</strong>e »Konterrevolution« und solltenentsprechend geahndet werden. Gerö erklärte aufgeregt: »Wollt ihr denn,daß der Mob da draußen mich lyncht?!«Donáth übergab dann Kádár als Nachfolger Gerös den Brief. Dar<strong>in</strong>erklärten er und Losonczy offiziell ihren Rücktritt als Sekretäre desZentralkomitees und des Politbüros. Kádár bat sie, ihre Entscheidungvorläufig nicht öffentlich bekanntzugeben.Als Professor Hanák wieder zur Bes<strong>in</strong>nung kam, lag er auf demFußboden im Keller der Parteizentrale, rechts neben e<strong>in</strong>er Passage, die zu401


e<strong>in</strong>em ruhigeren, besser verteidigten Teil der Straße führte. Durch hoheFenster sah man <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Korridor, <strong>in</strong> dem Topfpalmen standen. Nache<strong>in</strong>er Weile, noch immer halb benommen vom süßen Morphium,entdeckte er die immer größer werdende Lache se<strong>in</strong>es Bluts. Durch denSchleier se<strong>in</strong>er Betäubung sah er, wie e<strong>in</strong>e eigenartige Schar von Leutenan ihm vorbeidrängte: es war die Führungsgarde der Partei, die me<strong>in</strong>te, essei an der Zeit, das Haus zu verlassen, bevor es gestürmt und sie allegelyncht würden.Voran lief Gerö und rief: »Los, laßt uns gehen! Geht doch!«Die anderen waren weniger aufgeregt. Imre Mezö, der neue Parteisekretärder Budapester KP, hatte schon gefährlichere Situationen <strong>in</strong>se<strong>in</strong>em Leben durchgestanden: Er sprach mit tiefer, wohlkl<strong>in</strong>genderStimme. In ihrer Mitte-entdeckte Hanák Imre Nagy und Mikojan, diebeide von dichtem Zigarrenrauch umhüllt waren. Losonczy, Piros undApró waren auch dabei. Hanák sah ke<strong>in</strong>erlei Anzeichen, daß Nagy unterDruck stand – wie se<strong>in</strong>e Verteidiger später behaupten würden. Im Gegenteil,Nagy war sich offensichtlich bewußt, der Mann der Stunde zu se<strong>in</strong>.Die Nachhut bildete Károly Kiss, der drohend mit e<strong>in</strong>em Revolverherumfuchtelte für den Fall, daß Rebellen auf der Bildfläche ersche<strong>in</strong>ensollten.Im Vorbeigehen entdeckte Nagy mit hochgezogenen Augenbrauen dieblutbefleckte Gestalt Péter Hanáks, den er als Universitätskollegen kannte:»Genosse Hanák Was ist Ihnen denn passiert?«Mit schmerzverzerrter Miene erwiderte Hanák »Da draußen ist e<strong>in</strong>eSchießerei gewesen.« Offenbar hatte Nagy davon ke<strong>in</strong>e Ahnung.ËÎMittags war Professor Hanák verbunden und konnte sich derUniversitätsdelegation anschließen, die sich aus Beér, Székely und demstellvertretenden Rektor der Universität, Kardos, zusammensetzte. DasRadio wurde angestellt, es verkündete um 12.33 Uhr, daß Gerö als ErsterSekretär der Partei von Kádár abgelöst worden sei. Kádár selbst sprachetwas später. Dann wurde Hanák <strong>in</strong>s Krankenhaus gebracht.Nach der Schießerei vor der amerikanischen Gesandtschaft hörte mannur noch e<strong>in</strong> dumpfes Geschrei von der Straße. Das schwere Feuer402


verebbte. Die Mitarbeiter der Gesandtschaft erhoben sich vom Fußboden.Der Telexapparat wurde wieder auf se<strong>in</strong>en Tisch gesetzt, und derFernschreiber tippte e<strong>in</strong>e neue Mitteilung für Wash<strong>in</strong>gton: »Da wir nochVerb<strong>in</strong>dung haben, können wir Sie davon <strong>in</strong>formieren, daß immer nochviele Leute vor der amerikanischen Gesandtschaft stehen und um Hilfebitten.«Die Menschen drängten mit aller Macht gegen das geschlosseneEisentor, das den Haupte<strong>in</strong>gang versperrte. Gaza Katona stellte sich vordie Tür und versuchte, durch das Eisengitter die Menschen zu beruhigen:»Wir haben alles gesehen, wir haben das Massaker gesehen, und wirhaben es nach Wash<strong>in</strong>gton berichtet.«Aber die Menge war <strong>in</strong>zwischen zu e<strong>in</strong>er unkontrollierbaren Masseangewachsen, und der Lärm nahm zu. Spencer Barnes war blaß vorAufregung. Er entwarf e<strong>in</strong>e kurze Verlautbarung, trat auf den kle<strong>in</strong>enBalkon h<strong>in</strong>aus und las sie vor, während Katona und der USIA-OffizierAnton Nyerges se<strong>in</strong>e Worte Satz für Satz mit lauter Stimme übersetzten:»Wir verstehen Ihre Situation.«»Wir haben sie unserer Regierung so genau wie möglich berichtet.«»Bitte, haben Sie Verständnis, daß wir selbst nichts tun können.«»Dies ist Sache unserer Regierung und der Vere<strong>in</strong>ten Nationen.«»Wir s<strong>in</strong>d seit Jahren <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> und glauben, Ihre Situation zuverstehen.«Danach zerstreute sich der größte Teil der Menge, offensichtlichunzufrieden. Rufe wurden laut: »Gebt uns Waffen, wir werden selberkämpfen« und »Wo s<strong>in</strong>d die Vere<strong>in</strong>ten Nationen? – sie sollen Truppenschicken!«E<strong>in</strong>e Frau <strong>in</strong> mittleren Jahren und ihr Junge liefen über dieSeitenstraße, die Perczel Mór utca, nahe der Gesandtschaft, als e<strong>in</strong>egelbbraune Pobieda-Limous<strong>in</strong>e um die Ecke des kle<strong>in</strong>en Straßenmarktsh<strong>in</strong>ter dem Gesandtschaftsgebäude bog. Beim Schleudern geriet sie aufden Bürgersteig, streifte e<strong>in</strong>en Baum und stoppte, fast hätte sie die beidenFußgänger gegen die Hauswand gedrückt. Zwei Männer sprangen aus dem403


Wagen und verschwanden <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em H<strong>in</strong>terhof. Der amerikanischeMilitärattaché identifizierte den Wagen anhand des Nummernschildes alse<strong>in</strong> Fahrzeug der ÁVH. Mit großer Geschw<strong>in</strong>digkeit fuhr e<strong>in</strong> weitererWagen <strong>in</strong> die Straße, offenbar verfolgte er den ersten. Mehrere Männersprangen heraus und liefen h<strong>in</strong>ter den beiden anderen her. Fünf M<strong>in</strong>utenspäter tauchten sie aus dem H<strong>in</strong>terhof wieder auf, sie taten so, als würdensie sich Blut von den Händen waschen, und erklärten der an Ort und Stelleversammelten Menschenmenge, sie hätten die beiden flüchtenden Männergetötet. (Wie Katona später erfuhr, hatte man beide Männer an den Armengepackt und ihre Köpfe wie Rammböcke gegen die Backste<strong>in</strong>mauergeschmettert. E<strong>in</strong>e Ambulanz brachte die Leichen weg.)Das Volk hatte sich entschlossen, Rache zu nehmen. Wehe demjenigen,der <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Ledermantel mit dem Kennzeichen der Sicherheitspolizeigefaßt wurde. In der Nähe der amerikanischen Gesandtschaft wardie Volksmenge dabei, e<strong>in</strong>en Mann im Ledermantel umzubr<strong>in</strong>gen – erkonnte ke<strong>in</strong>e Papiere vorweisen –, als der e<strong>in</strong>undzwanzigjährige BuchhalterZsigmond Varga ihm zu Hilfe eilte. Die Menge fiel auch über ihnher, die beiden wurden nur gerettet, weil zufällig e<strong>in</strong> bewaffneter Passantvorbeikam, der Varga von Ansehen kannte.ËÏ Aber der Mob ließ sich nichtso leicht von se<strong>in</strong>er Absicht abbr<strong>in</strong>gen: Der Reporter John MacCormacwar Zeuge, wie e<strong>in</strong> anderer Mann im Ledermantel, angeblich ÁVH-Angehöriger, von der Menge ergriffen, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en H<strong>in</strong>terhof geschleppt undgelyncht wurde. Nicht weit von dieser Stelle entfernt fiel e<strong>in</strong> bewaffneterKerl über den dreiundvierzigjährigen Gärtner István Elias her, dessenkräftige Konstitution etwas von se<strong>in</strong>em Auf enthalt im Arbeitslager undse<strong>in</strong>er Partisanenvergangenheit verriet, und prangerte ihn öffentlich alsÁVO-Mann an.ËÌ »Du Dummkopf!« rief Elias und riß sich los, »trägt e<strong>in</strong>ÁVO solche Stiefel?« und er zeigte auf se<strong>in</strong>e Gummistiefel, die er amMorgen auf der Staatsfarm von Soroksár angezogen hatte.»Verstanden. Bitte dranbleiben. Halte Verb<strong>in</strong>dung so lange wiemöglich aufrecht. Hoffe, Sie können Verb<strong>in</strong>dung halten, bis Offizierekommen.«404


Der Mann am Fernschreiber <strong>in</strong> Wash<strong>in</strong>gton übermittelt derGesandtschaft <strong>in</strong> Budapest e<strong>in</strong>e Mitteilung. In Budapest ist es bereitsfrüher Nachmittag, <strong>in</strong> Wash<strong>in</strong>gton aber noch früh am Morgen.»Hoffe ebenfalls«, antworten die Metallhebel des Apparats, die dasTelex des unsichtbaren Fernschreibers <strong>in</strong> Budapest übermitteln. Er fügth<strong>in</strong>zu: »Offenbar haben wir Freunde im Telegraphenamt.«E<strong>in</strong>e anonyme Hand unterbricht die 8000-km-Fernschreibverb<strong>in</strong>dung:»Wenn ihr uns me<strong>in</strong>t – bestimmt!«»Verstanden!«405


30Der Polizist auf demSperrholzstuhlÜBER NACHT ist aus der klassenlosen marxistischen Gesellschaft e<strong>in</strong> neuerStamm froher, ehrlicher Menschen entstanden. E<strong>in</strong> vierundfünfzigjährigerIngenieur, der, mit der Pfeife im Mund, auf se<strong>in</strong>em Motorroller durch dieInnenstadt fährt, will gerade wie gewöhnlich se<strong>in</strong>en Abkürzungsweg überden beschädigten Kálv<strong>in</strong> tér abschneiden, als er im letzten Augenblicksich selbst zurechtweist: »Ne<strong>in</strong>! Wir müssen jetzt alle gut se<strong>in</strong>!« Es ist e<strong>in</strong>ganz seltsames Gefühl, wie er später bekennt: E<strong>in</strong> Gefühl, das er vorvielen Jahren zuletzt nach e<strong>in</strong>em Kirchenbesuch erlebt hat.ÁEs gibt ke<strong>in</strong>e Plünderungen. E<strong>in</strong> Reporter des BoulevardblattesMontagsnachrichten meditiert über die von Schmutz und Blut verschmiertenSchaufenster und schreibt: »Durch die großen Löcher <strong>in</strong> denFensterscheiben blicken uns Schuhe, Kleider und silberne Teller mitblasser, aber stolzer Miene wie aus e<strong>in</strong>em Spiegel an. Weiter unten <strong>in</strong> derStraße s<strong>in</strong>d Uhren, deren Herzschlag stillsteht, wie der der Toten. Kaffee,Zukker, Schuhe, Silberteller, Schmalz und Mehl bleiben unberührt. Unddas zu e<strong>in</strong>er Zeit, <strong>in</strong> der bei vielen Familien die letzten Vorräte seit demVortag aufgebraucht s<strong>in</strong>d.« In e<strong>in</strong>er Konditorei fehlen zwei StückeKuchen auf e<strong>in</strong>em Tablett: An ihrer Stelle liegt e<strong>in</strong>e 5-For<strong>in</strong>t-Münze. Aufder anderen Straßenseite sche<strong>in</strong>t der Sturm durch e<strong>in</strong> Schaufenster gefegtzu haben. Zwischen den Trümmern liegen e<strong>in</strong>e MG-Patrone und e<strong>in</strong>e ause<strong>in</strong>em Schulbuch herausgerissene Seite, auf der die Worte stehen: »AlleWaren s<strong>in</strong>d beim Hausmeister. Wir plündern nicht.«Ë406


E<strong>in</strong> Lehrer der Technischen Hochschule berichtet: »Mit ähnlich großerSorgfalt bemühte man sich, jegliche Äußerung . . . von verstecktem Antisemitismus<strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> zu verh<strong>in</strong>dern. Als wir spät am Nachmittag nachHause fuhren, hielten wir für e<strong>in</strong>ige M<strong>in</strong>uten am Móricz Zsigmond körtér,um uns die Zerstörungen anzuschauen . . . Wir sahen e<strong>in</strong>en Koffer vollerGeld, der mitten im Schaufenster e<strong>in</strong>es Ladens lag. Der Platz war übersätmit zerbrochenen Fensterscheiben, Mörtel und Mauerste<strong>in</strong>en.«ÈDiese unnatürliche Ehrlichkeit hielt während des ganzen <strong>Aufstand</strong>s an.Zyniker könnten sagen, so kann man ke<strong>in</strong>e Revolution machen, aberdie <strong>Ungarn</strong> s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> k<strong>in</strong>dliches, e<strong>in</strong>faches Volk. Vier Tage späterwiderlegte die amerikanische Gesandtschaft <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er vertraulichenMitteilung die These des Kreml, die Aufständischen seien Faschisten oderGangster, die es nur auf das Plündern abgesehen hätten: Mitglieder derGesandtschaft hatten selbst zertrümmerte Schaufenster gesehen, <strong>in</strong> denendie Auslagen unberührt waren und jemand mit Lippenstift auf die Resteder Glasscheibe gemalt hatte: »So plündern wir!«E<strong>in</strong>e kaum merkbare Änderung der Stimmung liegt <strong>in</strong> der Luft.Bischof Péterfalvy eilt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er griechisch-orthodoxen Soutane von e<strong>in</strong>erGruppe zur anderen und fragt, auf wen sie schießen, dann geht er mitunverhüllter Neugier weiter, um zu sehen, wo überall noch geschossenwird. Man sieht Menschen, die vor e<strong>in</strong>er Bäckerei nach Brot Schlangestehen. E<strong>in</strong> Lastwagen voll Lebensmittel fährt vorüber mit e<strong>in</strong>em Plakat:»Brot für die Bevölkerung von Budapest von den Bürgern vonKörmend!«Í Es folgen weitere Lastwagen, die Mehl, rote Bete und Rüben<strong>in</strong> die kämpfende Hauptstadt br<strong>in</strong>gen. Charakteristisch ist das Verhaltender Arbeiter der Staatsfarm von Soroksár: Jeden Morgen schicken sie 800Liter Milch <strong>in</strong> die Zentren des Widerstands, zum Schriftstellerverband,zum Polizeipräsidium, <strong>in</strong> die Corv<strong>in</strong>-Passage, die Kilián-Kaserne und zurTüzoltó utca.An diesem Tag geschieht folgendes: E<strong>in</strong> Angestellter des StaatlichenKrankenhauses <strong>in</strong> Angyalföld geht zum Südbahnhof, um e<strong>in</strong>igeSendungen abzuholen und spricht dabei den Bahnhofsbeamten unwillkürlichmit Genosse an.407


»Ich b<strong>in</strong> ke<strong>in</strong> Genosse mehr«, ruft der Beamte. »Dieses Wort hataufgehört zu existieren!«ÎGyörgy Kilián war e<strong>in</strong> Ungar, der irgendwo <strong>in</strong> den vom Kriegverwüsteten Sierras Spaniens se<strong>in</strong> Leben gelassen hatte. Se<strong>in</strong> Name wärelängst vergessen, wenn nicht die frühere Maria-Theresia-Kaserne an e<strong>in</strong>erwichtigen Straßenkreuzung an der Üllöi út nach ihm umbenannt wordenwäre.Inzwischen mußte auch der Name Kilián mit dem Meißel von demGebäude abgeschlagen werden – zu viele Menschen er<strong>in</strong>nern sich daran,aber aus anderen Gründen. Die Kasernengebäude aus grauem Ste<strong>in</strong>wurden 1845 um drei Innenhöfe herum gebaut. Sie s<strong>in</strong>d vier Stockwerkehoch und von roten Ziegeln überdacht. Der Hauptausgang zurgeschäftigen Durchgangsstraße der Üllöi út ist e<strong>in</strong> dreifacher überwölbter100 Meter langer Torweg zwischen Innenhöfen und Straße. FünfzehnZentimeter dicke, mit Eisen beschlagene Eichenholztüren verschließendiesen E<strong>in</strong>gang. An jeder Seite dieser Unterführung liegt e<strong>in</strong>e Wachstube.Die Außenfenster <strong>in</strong> Straßenhöhe s<strong>in</strong>d durch massive, schmiedeeiserneGitter geschützt. Es ist e<strong>in</strong> idealer Stützpunkt, e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Festung mittenim Herzen der Stadt.Der Kommandeur der Kaserne, Hauptmann Lajos Csiba, er<strong>in</strong>nert sichspäter: »Wir waren von der Außenwelt hermetisch abgeschlossen undwußten nicht, was draußen geschah. Anfangs versuchten die Rebellen, mitGewalt e<strong>in</strong>zudr<strong>in</strong>gen, um an die Waffen heranzukommen. Deshalb war eszwischen uns und den Rebellen zum Schußwechsel gekommen. Als amMorgen des 25. Oktober die Beschießung schlimmer wurde, telephonierteich mehrfach mit dem Verteidigungsm<strong>in</strong>isterium.«ÏCsibas Anruf wurde durch den Offizier vom Dienst, Oberst PálMaléter, entgegengenommen. Verteidigungsm<strong>in</strong>ister István Bata erteilteihm daraufh<strong>in</strong> den Befehl, fünf Panzer zu übernehmen, um dieAufständischen <strong>in</strong> dem Gebiet um die Kilián-Kaserne zu bekämpfen.ÌLen<strong>in</strong> hat e<strong>in</strong>mal gesagt, wenn Kommunisten Massen führen wollten,müßten sie sie um Haupteslänge überragen.Ó Maléter, e<strong>in</strong>e große, staat-408


liche Ersche<strong>in</strong>ung, war e<strong>in</strong> solcher Führer. Er g<strong>in</strong>g zum Jászai Mari tér amFlug, wo das 33. Panzerregiment zum Schutz des ÁVH-Hauptquartiers <strong>in</strong>Stellung gegangen war, und befahl dem Kommandeur Ferenc Pallós, ihmfünf Panzer zu überlassen. Maléter kletterte <strong>in</strong> den T-34 des HauptmannsJános Tari, um durch die Stadt zur Kaserne zu fahren.Gegen 11 Uhr kam der Kampfverband dort an. Auf dem Parlamentsplatzhatte das Blutbad gerade begonnen. Maléter befahl se<strong>in</strong>em Fahrer,vor der Kaserne beizudrehen und im Rückwärtsgang durch das Haupttorzu fahren. Zunächst blieb er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Panzer sitzen, während von Zeit zuZeit e<strong>in</strong> Melder aus dem Gebäude kam, um se<strong>in</strong>e Befehle entgegenzunehmen.Schließlich ließ er den Kommandeur der Kaserne zu sichkommen.Hauptmann Lajos Csiba war e<strong>in</strong> nervöser achtundvierzigjährigerHeeresoffizier mit feistem Gesicht und stechenden Augen h<strong>in</strong>ter e<strong>in</strong>errandlosen Brille. Jeder schien auf jeden zu schießen. Maléter telephonierte<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er der Wachstuben am Tor mit dem M<strong>in</strong>isterium, während Csibaneben ihm stand und sich nervös auf die Lippen biß. Wie aus denAufzeichnungen <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en persönlichen Akten hervorgeht, sprach Maléterlängere Zeit mit dem Chef der Operationsabteilung, Major K<strong>in</strong>dlovics. »Erberichtete, daß er die Ordnung wiederherstelle und die Kämpfer unterKontrolle br<strong>in</strong>ge.« E<strong>in</strong> Offizier des Verteidigungsm<strong>in</strong>isterium sagte späterals Zeuge aus: »Maléter telephonierte mehrfach mit dem Verteidigungsm<strong>in</strong>isteriumund teilte mit, daß er <strong>in</strong> Kämpfe mit den Aufständischenverwickelt und deshalb nicht <strong>in</strong> der Lage sei, sich persönlich zurückzumelden.«ÔInzwischen war offenbar e<strong>in</strong> S<strong>in</strong>neswandel <strong>in</strong> dem Obersten vor sichgegangen. Vielleicht war er über den Anblick sich gegenseitig bekämpfender<strong>Ungarn</strong> erschüttert; vielleicht gewann der Patriot <strong>in</strong> ihm dieOberhand – oder der Opportunist.Csiba erwähnte, man habe e<strong>in</strong> Dutzend Rebellen gefangengenommen,Maléter sagte <strong>in</strong>teressiert: »Ich möchte sie sehen.«Als die Gefangenen <strong>in</strong> die Wachstube geführt wurden, holte sichMaléter e<strong>in</strong>en jugendlichen mit frischem Gesichtsausdruck aus der Gruppe409


heraus und überhäufte ihn mit Fragen nach den Motiven für se<strong>in</strong>eTeilnahme am <strong>Aufstand</strong>. Vielleicht erkannte sich Maléter wie er vorzwanzig Jahren war, <strong>in</strong> dem offenen und <strong>in</strong>telligenten Gesicht des Jungenwieder. Furchtlos sprach der junge Mann von den Vierzehn Punkten undzog dann se<strong>in</strong> verschlissenenes KP-Mitgliedsbuch heraus, <strong>in</strong> dem sich e<strong>in</strong>zusammengefaltetes Flugblatt befand. Maléter las es. In diesemAugenblick war Maléter nahe daran umzukippen. Es war der Augenblick,wenn die Achterbahn auf ihrem Zahnradgetriebe die Spitze erklommen hatund dann <strong>in</strong> freiem Fall <strong>in</strong> die Tiefe stürzt. »Als ich auf dem Schauplatzder Kämpfe ankam«, berichtete er e<strong>in</strong>e Woche später, »überzeugte ichmich, daß die Freiheitskämpfer treue Söhne des ungarischen Volkeswaren.« Er fügte h<strong>in</strong>zu: »Ich teilte dem M<strong>in</strong>ister mit, daß ich zur anderenSeite übergegangen sei.« Dann schickte er alle aus der Wachstube undtelephonierte alle<strong>in</strong> mit jemandem, zweifellos vom M<strong>in</strong>isterium. LautHauptmann Csiba ordnete das Verteidigungsm<strong>in</strong>isterium folgendes an:»Nicht schießen, außer zur Selbstverteidigung; auf der Kaserne dieNationalflagge mit herausgeschnittenem Emblem aufziehen. Maléter sollhandeln, wie er es für richtig hält.«Als der Oberst zurückkehrte, sprach er zu dem jungen Gefangenen:»Ich lasse euch alle frei. Geht zurück zu euren Kameraden und sagt ihnen,daß ich e<strong>in</strong>en Waffenstillstand anbiete. Wir s<strong>in</strong>d alle <strong>Ungarn</strong>.«Der Junge strahlte. Maléter wiederholte: »Ke<strong>in</strong>er schießt! Weder ihr,noch wir!«Er streckte dem jungen Mann die Hand entgegen. E<strong>in</strong> paar Leute, diedieses unerwartete Ergebnis miterlebten, klatschten laut Beifall. DasSchießen ebbte ab.Panzerkommandant János Tari berichtete: »An diesem Nachmittageröffeten wir mehrmals das Feuer auf die Rebellen <strong>in</strong> der Corv<strong>in</strong>-Passage.Maléter ordnete Feuere<strong>in</strong>stellung an. Er verbot uns zu schießen undbefahl, die Panzer zu verlassen und die Geschütze nach rückwärts zurichten. Zur selben Zeit ließ er die ungarische Flagge über den Kasernenhissen, nachdem das republikanische Emblem herausgeschnitten wordenwar. Hunderte von bewaffneten Personen drangen <strong>in</strong> die Kaserne e<strong>in</strong>, sie410


umr<strong>in</strong>gten uns, wobei sie verschiedene Parolen riefen.«ÁÊZur gleichen Zeit, an diesem 25. Oktober, steuern auch die politischenSchachzüge der Engländer und Franzosen und der Israelis im Mittelmeere<strong>in</strong>em Höhepunkt zu. Der US-Geheimdienst CIA berichtet Eisenhowervon Verstärkungen der britischen und französischen Luftwaffe aufZypern, Malta und <strong>in</strong> Marseille. Spionageflugzeuge haben auf israelischenFlugplätzen Geschwader von Mystère-Flugzeugen entdeckt, und seit MitteOktober ist der amtliche Verkehr über den Atlantik e<strong>in</strong>em bedeutsamenSchweigen unterworfen, die Kodebrecher der National Security Agencyverzeichnen dagegen e<strong>in</strong>e auffallende Zunahme des Funkverkehrszwischen Paris und Israel. Während dieser Wochen drängt Eisenhowerse<strong>in</strong>e früheren Alliierten, man solle die Zeit gegen Oberst Gamal Nasserarbeiten lassen, bis er isoliert sei. (»In me<strong>in</strong>er ganzen Korrespondenz mitMr. Eden habe ich dr<strong>in</strong>gend Geduld empfohlen«, erklärte Eisenhowervertraulich am 9. November. »Aber über zehn Tage lang g<strong>in</strong>g Mr. Edenweder schriftlich noch telephonisch auf me<strong>in</strong>e Botschaften e<strong>in</strong>.«)ÁÁEisenhowers Freund, Außenm<strong>in</strong>ister John Foster Dulles, bef<strong>in</strong>det sichebenfalls <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Dilemma. Während er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Amtssitz, <strong>in</strong> Wash<strong>in</strong>gtonsVirg<strong>in</strong>ia Avenue sitzt, würde Dulles gern politisches Kapital aus denUnruhen <strong>in</strong> Osteuropa schlagen, aber er will um ke<strong>in</strong>en Preis alsMitschuldiger an dem Blutvergießen ersche<strong>in</strong>en. An diesem Morgenkonferieren Ike und Dulles zweimal telephonisch. Dulles empfiehlt e<strong>in</strong>Vorgehen der Vere<strong>in</strong>ten Nationen, fügt aber h<strong>in</strong>zu, daß man erst e<strong>in</strong>maldie weitere Entwicklung <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> abwarten solle. Se<strong>in</strong> Protokollchef,Botschafter Wiley T. Buchanan, ist darüber äußerst verärgert, denn er hathäufig gehört, wie Dulles sagte: »Wenn der Eiserne Vorhang jemalsanfangen sollte zu zerbröckeln, dann wird er ganz zerstört werden – undzwar schnell.« Nun, wo es soweit ist, rührt Dulles ke<strong>in</strong>en F<strong>in</strong>ger.Und dabei gibt es verborgene Möglichkeiten, die die Amerikanerausnutzen könnten, vorausgesetzt, daß der Wille dazu besteht. »Ich weißnicht, ob Sie es wissen«, schrieb später e<strong>in</strong>er der e<strong>in</strong>flußreichsten BeraterEisenhowers vertraulich e<strong>in</strong>em Freund beim State Department, »aber <strong>in</strong>411


e<strong>in</strong>em westeuropäischen Land befand sich während des ungarischen<strong>Aufstand</strong>s e<strong>in</strong>e ganze Schiffsladung von Panzerbüchsen, die man nachBudapest hätte schicken können – aber das wurde von uns verh<strong>in</strong>dert.«ÁËWährend also die CIA und ihr Sprachrohr »Radio Free Europe« dasMegaphon vor den Mund halten, versuchen Eisenhower und Dulles dieEntwicklung abzubremsen.In Wash<strong>in</strong>gton ist Frühstückszeit, als Dulles e<strong>in</strong>en Anruf aus Chicagobekommt. Vizepräsident Richard Nixon möchte wissen, ob er etwas zu<strong>Ungarn</strong> sagen solle. Dulles ist der Me<strong>in</strong>ung, daß dies wünschenswert sei.»Die brutale Unterdrückung wird überall e<strong>in</strong>en schlechten E<strong>in</strong>druckmachen«, me<strong>in</strong>t er voll Genugtuung. Aber er rät zur Vorsicht: »Wirwollen nichts anheizen. Nixon kann sich beschränken auf ›Liebe zurHeimat‹, auf ›die <strong>in</strong>dividuelle Freiheit wird überleben und aufblühen‹ und›heute ist das ganze Gebiet der sowjetischen Satelliten e<strong>in</strong>e gärendeMasse‹. Er kann sagen, daß man voller Hoffnung <strong>in</strong> die Zukunft schaut,wenn nationale Unabhängigkeit und Freiheit wiederhergestellt se<strong>in</strong>werden.«Alter und Erfahrung <strong>in</strong> Fragen der Macht haben bei Wash<strong>in</strong>gtonsPolitikern zu Zynismus geführt. Die Vere<strong>in</strong>ten Nationen bef<strong>in</strong>den sich <strong>in</strong>New York, <strong>in</strong>nerhalb des Gravitationsfeldes von Wash<strong>in</strong>gton. AmerikanischeUN-Delegierte arbeiten eifrig h<strong>in</strong>ter den Kulissen dagegen, daß eszu irgendwelchen Sympathiebekundungen für die Regierung Imre Nagykommt: »Das s<strong>in</strong>d gefährliche Kommunisten mit besonders schlechtemRuf.«ÁÈ Als um 11 Uhr der amerikanische UN-Botschafter Henry CabotLodge jr. anruft, um zu empfehlen, daß die Vere<strong>in</strong>ten Nationen entsprechendder UN-Charta Schritte unternehmen, ist Dulles weiterh<strong>in</strong>vorsichtig: »Wir wollen den Sowjets ke<strong>in</strong>e Gelegenheit geben, uns für dieUnruhen verantwortlich zu machen.«Um 13 Uhr ruft Dulles jedoch den Präsidenten <strong>in</strong> New York an undlegt ihm dr<strong>in</strong>gend nahe, e<strong>in</strong>e Erklärung zu <strong>Ungarn</strong> abzugeben. DerRedeentwurf, den Dulles ihm vorliest, hält sich eng an die Argumente, dieSpencer Barnes am Morgen aus Budapest übermittelt hat.ÁÍ Barnes hatempfohlen, e<strong>in</strong>en Vergleich mit 1848 zu ziehen, als sich <strong>Ungarn</strong> ebenfalls412


<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Freiheitskampf gegen russische Truppen befand. Ferner schlägter e<strong>in</strong>e amerikanische Erklärung vor, wonach die Forderungen derAufständischen lediglich die Menschenrechte darstellen, auf die jedesfreie Volk e<strong>in</strong>en Anspruch hat. Das kl<strong>in</strong>gt alles recht harmlos. Barnes hatauch empfohlen, Ike erklären zu lassen, daß »der E<strong>in</strong>satz sowjetischerTruppen, ungarische Menschen niederzuschießen, gegen jedesSittengesetz verstößt und e<strong>in</strong> Beweis dafür ist, daß <strong>Ungarn</strong> lediglich e<strong>in</strong>esowjetrussische Kolonie ist, deren Menschen mit ihrer Forderung nachdemokratischen Freiheiten zur Anwendung nackter Gewalt berechtigts<strong>in</strong>d«.Ike hört Dulles zu und sagt dann: »Ich glaube, es könnte ganz gut se<strong>in</strong>,<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Schlußsatz noch etwas über die Gefühle des amerikanischenVolkes <strong>in</strong> dieser Situation zu sagen.«Nach kurzer Diskussion notiert Dulles folgende Formulierung: »Indiesem Augenblick schlägt das Herz Amerikas dem Volk von <strong>Ungarn</strong>entgegen.« Es ist re<strong>in</strong>e Augenwischerei von Eisenhower und kaumgeeignet, das Blut <strong>in</strong> den Adern sowjetischer Kommandeure erstarren zulassen. Aber selbst diese Worte beunruhigen Dulles.Er ruft Jacob Beam, e<strong>in</strong>en se<strong>in</strong>er Osteuropa-Experten, an und liest ihmden Satz vor.ÁÎ Er fragt: »Könnte e<strong>in</strong> solcher Satz so aufgefaßt werden,daß man uns der Mitschuld an den Schießereien bezichtigen könnte?«Beam versichert ihm: »Ich glaube nicht. Der Satz ist sehr gut.«Am späten Nachmittag f<strong>in</strong>det Dulles e<strong>in</strong>e Mitteilung vor, er mögese<strong>in</strong>en Bruder, den CIA-Boß anrufen. Allen Dulles berichtet ihm, dasCIA-f<strong>in</strong>anzierte Ungarische Nationalkomitee <strong>in</strong> New York platze vorIdeen und er fürchte, daß man dort voreilig handeln könnte, <strong>in</strong>dem mansich, wie er sich ausdrückt, »über die Lat<strong>in</strong>os« an die Vere<strong>in</strong>ten Nationenwende. Er habe sie aufgefordert, nichts ohne vorherige Konsultation zuunternehmen. Foster erläutert Allen, daß es se<strong>in</strong>e Taktik sei, die D<strong>in</strong>geaufzuhalten, um erst e<strong>in</strong>mal die Entwicklung abzuwarten. E<strong>in</strong>e halbeStunde später ruft der Präsident wieder an. Auch Ike me<strong>in</strong>t, es wärebesser, wohlüberlegt als vorschnell zu handeln. »Ich glaube, wir sollten <strong>in</strong>dieser Angelegenheit nicht alle<strong>in</strong> vorgehen«, sagt er und fügt h<strong>in</strong>zu: »Es413


würde so aussehen, als ob wir es aus <strong>in</strong>nenpolitischen . . . « er läßt denSatz unvollendet. Aber als er sagt, es sollten wenigstens die wichtigstenNatoländer sich jeglicher Aktion anschließen, warnt ihn Dulles: »Siewerden sehr ungern geme<strong>in</strong>same Sache mit uns machen und es als e<strong>in</strong>amerikanisches Wahlmanöver ansehen.«Ike bleibt hartnäckig: »Ich möchte aber doch von unseren Alliiertenhören – und selbst, wenn es nur e<strong>in</strong>e widerwillige Zustimmung ist.Morgen früh b<strong>in</strong> ich wieder <strong>in</strong> Wash<strong>in</strong>gton, und wir werden dann gleichals erstes darüber reden.«Abschließend sagt er: »Das Schlimmste wäre, wenn man unsvorwerfen könnte, wir hätten nur e<strong>in</strong> sche<strong>in</strong>bares Interesse an der Sache.«Danach erklärt Foster Dulles se<strong>in</strong>em Bruder und dem UN-BotschafterLodge, man werde an die anderen Unterzeichnerstaaten des Friedensvertragese<strong>in</strong> Schreiben richten, um deren Auffassung <strong>in</strong> Erfahrung zubr<strong>in</strong>gen. Zu Lodge sagt Dulles: »Wenn sie dagegen s<strong>in</strong>d, haben wirwenigstens e<strong>in</strong>en Grund, nicht zu handeln!«Bis zum Abend hat das State Department e<strong>in</strong> Arbeitspapier entworfen,<strong>in</strong> dem e<strong>in</strong>e re<strong>in</strong>e UN-Aktion empfohlen wird. Lodges Zustimmung, die <strong>in</strong>e<strong>in</strong>em Telegramm um 19 Uhr zum Ausdruck kommt, wirft e<strong>in</strong>bezeichnendes Schlaglicht auf die hohlköpfige Außenpolitik der Vere<strong>in</strong>igtenStaaten im Jahre 1956. »Selbst wenn endgültige Aktion durchsowjetisches Veto blockiert wird, würde die Initiative neben e<strong>in</strong>er Hebungdes Ansehens der USA auch zu e<strong>in</strong>er Steigerung des Prestiges derVere<strong>in</strong>ten Nationen <strong>in</strong> den Augen der Satellitenvölker beitragen, die jetztdie UN-Organisation wegen ihrer früheren Versäumnisse, ihre Not zurKenntnis zu nehmen, nur sehr ger<strong>in</strong>gschätzen.«In dem Telegramm hat Lodge folgendes ausgearbeitet: Die USA sollene<strong>in</strong>e, wie er es nennt, relativ milde Entschließung begünstigen, gegen diedie Sowjets unweigerlich ihr Veto e<strong>in</strong>legen, wonach die Amerikaner dieEntsendung von UN-Beobachtern nach <strong>Ungarn</strong> empfehlen können. »Dieskönnte e<strong>in</strong>en guten E<strong>in</strong>druck von Vernünftigkeit und Aufrichtigkeiterwecken«, me<strong>in</strong>t Lodge. Abschließend heißt es <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Telegramm:»Wir werden die größte Unterstützung f<strong>in</strong>den, wenn wir zuschlagen,414


solange das Eisen heiß ist.«ÁÏChruschtschow spürte das Zögern der Vere<strong>in</strong>igten Staaten genau undbeschloß zu bluffen. Als der jugoslawische Botschafter Veljko Micunovicmit Chruschtschows dr<strong>in</strong>gender Botschaft zu Tito reiste, verhärtete sichdie Haltung des Kreml. Die sowjetische Presse schilderte den <strong>Aufstand</strong> <strong>in</strong>der üblichen marxistischen Term<strong>in</strong>ologie – danach war es e<strong>in</strong>e »vornAusland angestiftete Konterrevolution«.ÁÌ Von dem scharfs<strong>in</strong>nigen US-Botschafter <strong>in</strong> Moskau Charles Bohlen kam e<strong>in</strong>e dr<strong>in</strong>gende Warnung. Ine<strong>in</strong>er Depesche aus Moskau vom 25. Oktober wies er darauf h<strong>in</strong>, daß ese<strong>in</strong>en äußersten Stichtag gäbe: Die Sowjets seien gezwungen, spätestensbis zum 6. November, wenn die traditionellen Ansprachen des Regimes imBolschoj-Theater fällig wären, e<strong>in</strong>e endgültige Lösung der ungarischenKrise herbeizuführen.ÁÓIn München erhalten die Nachrichtenleute von »Radio Free Europe«folgende Richtl<strong>in</strong>ien: »Wer die sowjetischen Truppen herbeigerufen hat,ist letzten Endes weniger wichtig als die Frage, ob Nagy willens und <strong>in</strong>der Lage ist, se<strong>in</strong> Versprechen zu erfüllen und die Russen für immer zue<strong>in</strong>em vollständigen Rückzug zu veranlassen.« In Budapest ist derRundfunksender an diesem Tage, dem 25. Oktober, noch immer <strong>in</strong> derHand der Regierung: Das Radio br<strong>in</strong>gt ke<strong>in</strong> Wort über die Schießereienauf dem Parlamentsplatz. Es gibt nur verlogene Appelle, die Ruhe zubewahren, und wiederholt Ankündigungen, daß Imre Nagy <strong>in</strong> Kürze e<strong>in</strong>eRundfunkansprache halten werde.Um 13.05 Uhr knackt und kracht es <strong>in</strong> den Lautsprechern, und e<strong>in</strong>evöllig verwirrte Bevölkerung erfährt von ihrer überglücklichen Reaktionauf die Entlassung Gerös. »In Angyalföld umarmten und küßten sich dieArbeiter. Die Menschen beflaggten ihre Häuser mit der Nationalfahne.Überall herrschte großer Jubel. Auf dem Körút, auf dem Múzeum körútund anderswo wurden die Nationalhymne und die Marseillaise gespielt.«Die tatsächliche Situation war weniger erfreulich für das Regime.415


Um 15 Uhr trat der örtliche Waffenstillstand im Bereich der Kilián-Kaserne <strong>in</strong> Kraft. Oberst Maléter trat auf die Üllöi út h<strong>in</strong>aus und stand mitgespreizten Be<strong>in</strong>en wie e<strong>in</strong> Vogel Strauß <strong>in</strong> Uniform vor dem Haupttorneben dem T-34, der ihn dort h<strong>in</strong>gebracht hatte. Er überragte die ihnhuldigende Menge um Haupteslänge. E<strong>in</strong> junger Mann drängte sich bis zuihm durch. Er trug e<strong>in</strong> Kossuth-Wappen, das er selbst angefertigt hatte.Maléter gab ihm die Erlaubnis, das Emblem an der Fassade des Gebäudesanstelle des Sowjetsterns anzubr<strong>in</strong>gen. Im Laufe des Nachmittagsbesuchte e<strong>in</strong>e Delegation bewaffneter Rebellen die Kilián-Kaserne undfragte Maléter was die Soldaten benötigten. »Brot«, erwiderte Maléter undbald danach rollte e<strong>in</strong> Bus <strong>in</strong> den Hof, der voll bepackt mit frischem Brotwar.Gegenüber der Kilián-Kaserne an der Üllöi út verstärkten die Freiheitskämpferihre Stellungen <strong>in</strong> der Corv<strong>in</strong>-Passage. Sie hatten ihrHauptquartier <strong>in</strong> dem birnenförmigen Corv<strong>in</strong>-K<strong>in</strong>o aufgeschlagen, das vonsiebenstöckigen Wohnhäusern umgeben war – e<strong>in</strong>e Insel <strong>in</strong> der Mittee<strong>in</strong>es unsche<strong>in</strong>baren Innenhofs. Hunderte von Aufständischen g<strong>in</strong>gen <strong>in</strong>dem K<strong>in</strong>ogebäude e<strong>in</strong> und aus. Man gab an die Rebellen Ausweise <strong>in</strong>Form von Karten aus. Jeder wollte e<strong>in</strong>en solchen Ausweis haben. Als derBusfahrer Zoltán Szabó vorbeikam, sah er, daß die Rebellen <strong>in</strong>zwischenzwei Panzerabwehrgeschütze zur Verfügung hatten, er entdeckte zahlreicheSoldaten unter ihnen.ÁÔ Draußen auf der Straße stand e<strong>in</strong> Posten,der jedesmal e<strong>in</strong> Handzeichen gab, wenn e<strong>in</strong> russischer Panzer vorbeirollte.Im selben Augenblick feuerte die Pak durch die Corv<strong>in</strong>-Passageauf die Panzer. Danach fuhren sie sehr viel schneller und belegten dieHäuser an beiden Seiten mit Granatf euer. Bald lag die ganze Umgebung<strong>in</strong> Trümmern.Zwei 155-mm-Geschütze auf Selbstfahrlafette wurden an derKreuzung der Üllöi út kampfunfähig gemacht – e<strong>in</strong>em wurde dieRaupenkette zerschossen, das andere fuhr auf den Havaristen auf. Genauan dieser Stelle wurde e<strong>in</strong>e lange, motorisierte Kolonne sowjetischerPanzerabwehrkanonen, Zugmasch<strong>in</strong>en und Mannschaftswagenzusammengeschossen – ihre ausgebrannten Fahrzeugwracks bedeckten die416


Straße, solange die Kämpfe andauerten.ËÊ In der kommunistischen JugendorganisationDISZ hatten die Aufständischen gelernt, wie man als Partisankämpft. Es war aufregend, genau so, wie es der sowjetische AutorFadejew <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buch Die junge Garde beschrieben hatte; und zahlloseKriegsfilme hatten den Untergrundkampf <strong>in</strong> allen Formen dargestellt:Heldenhafte russische Partisanen waren auf Nazipanzer geklettert undhatten sie <strong>in</strong> Brand gesetzt, <strong>in</strong>dem sie Benz<strong>in</strong>flaschen auf dem Kühlergrillzerschmetterten. Die ungarischen Jugendlichen wußten jetzt, wie man dasmacht.In e<strong>in</strong>em Schullabor hatte man e<strong>in</strong>en Glasballon mit Nitroglyzer<strong>in</strong>entdeckt und todesmutig zum Corv<strong>in</strong>-K<strong>in</strong>o transportiert, wo ChemiestudentenFlaschen mit der tödlichen, hochempf<strong>in</strong>dlichen Flüssigkeitfüllten. An anderer Stelle wurden die Hauptstraßen mit grüner Seife undÖl e<strong>in</strong>geschmiert, und wenn die russischen Panzerbesatzungen herauskletterten,um ihre Ungetüme von der schlüpfrigen Masse zu befreien,wurden sie von Scharfschützen abgeschossen.ËÁDer italienische Zeitungskorrespondent Bruno Tedeschi beobachtete,wie e<strong>in</strong> sechzehnjähriger Bursche e<strong>in</strong>e sowjetische Panzerkolonne angriff,die von der Szabadság hid [Freiheitsbrücke] nach Norden auf sie zurollte.Man hörte, wie das Rasseln und Quietschen der Panzerketten immer näherkam, als die Kolonne die Bartók Béla út heraufkam. Diese Straßen warenzu breit, um Molotow-Cocktails zu werfen, und e<strong>in</strong>zelne Handgranatenkonnten den T-34 nichts anhaben. Deshalb hatten die Rebellen mehrereHandgranaten zu e<strong>in</strong>er geballten Ladung zusammengebunden. Der Jungetrug e<strong>in</strong>e dreifarbige Armb<strong>in</strong>de. »Me<strong>in</strong>e Mutter hat sie angenäht«, erklärteer atemlos. Er nahm die geballte Ladung – sechs zusammengebundeneHandgranaten – und sagte: »Ich mach das alle<strong>in</strong>.« Dann rannte er h<strong>in</strong>tere<strong>in</strong>em Panzer her. Es gelang ihm, die Ladung direkt auf das Dach zuwerfen, aber sie fiel wieder auf den Boden. Der Junge hob sie wieder aufund klammerte sich am Turm des Panzers fest, während die Sekundenverrannen. Mit e<strong>in</strong>em gewaltigen Feuerblitz explodierte der Panzer undnahm den jungen mit <strong>in</strong> die Ewigkeit.ËËE<strong>in</strong> e<strong>in</strong>undzwanzigjähriger Bürogehilfe, der am vorhergehenden Tage417


neugierig <strong>in</strong> der Stadt umhergelaufen war und überall Leichen gesehenhatte, hörte die Rundfunkappelle und kehrte an se<strong>in</strong>en Arbeitsplatzzurück.ËÈ In se<strong>in</strong>em Büro konnte man den Lärm hören, der vom nurwenige hundert Meter entfernten Parlamentsplatz herüberdrang, undbeobachten, wie verirrte Kugeln <strong>in</strong> den gegenüberliegenden Gebäudene<strong>in</strong>schlugen. Plötzlich drang e<strong>in</strong>e Kugel durchs Fenster und tötete denPförtner der Firma. Das Büro wurde geschlossen. E<strong>in</strong> Freund sagte: »Laßuns die Kämpfe anschauen!« Als sie vor dem Corv<strong>in</strong>-K<strong>in</strong>o standen, wurdeder Freund von e<strong>in</strong>em Granatsplitter getroffen. Er war auf der Stelle tot.»Ich war wütend und tödlich erschrocken«, erzählte der junge Mannspäter se<strong>in</strong>en amerikanischen Interviewern. Er nahm e<strong>in</strong>em toten Russendie Masch<strong>in</strong>enpistole ab und kämpfte während der folgenden fünf Stundenan der Seite der Corv<strong>in</strong>-Rebellen.Nach den Vorfällen auf dem Parlamentsplatz drängten mehrereTausend Demonstranten zur britischen Gesandtschaft. Fünfzig Personenglückte es, <strong>in</strong> das Gebäude zu gelangen. Leslie Fry, der weltmännischebritische Gesandte, kam herunter und hörte sich ihren atemlos vorgetragenenBericht an. E<strong>in</strong> Mann, der sich verständlicher als die anderenausdrücken konnte, protestierte gegen die Behauptung des Regimes, dieSowjettruppen hätten entsprechend den Bestimmungen des WarschauerPaktes <strong>in</strong>terveniert – dieser Pakt sah e<strong>in</strong>e Hilfe der Sowjets nur für denFall e<strong>in</strong>es Angriffs auf <strong>Ungarn</strong> von außen vor. Die Demonstranten batendie britische Regierung, diese »Aggression« vor die Vere<strong>in</strong>ten Nationenzu br<strong>in</strong>gen. Fry versicherte ihnen: »Ich tue me<strong>in</strong> Äußerstes, um me<strong>in</strong>eRegierung über die Ereignisse auf dem laufenden zu halten.« (Se<strong>in</strong>eGesandtschaft hatte e<strong>in</strong>en eigenen Sender.)ËÍMit dem Ruf »Die Arbeiter werden ermordet, wir wollen Hilfe«, zogdie Menge weiter zur amerikanischen Gesandtschaft. Vor der österreichischenMission stellte der Gesandte gerade e<strong>in</strong>en Konvoi zur Fahrt <strong>in</strong>Richtung Grenze zusammen. Der Reporter des Wiener Blattes NeuerKurier war wegen e<strong>in</strong>es Ausreisevisums zur Fremdenpolizei gegangen.Als er aus dem Keller des Hotels Astoria wiederauftauchte, fand er se<strong>in</strong>enWagen mit zertrümmerter W<strong>in</strong>dschutzscheibe und beschädigter418


Karosserie vor. »Sie wollen Budapest verlassen?« fragte der Polizist. »Ichwürde davon abraten. Wir haben gehört, daß Teile unserer Armeeunterwegs nach Györ s<strong>in</strong>d. Sie haben sich abgesetzt.« In der Nähe derWiener Gesandtschaft hörte man erneutes Knattern von MG-Feuer. DieMenge wurde nervös. E<strong>in</strong>e Frau klammerte sich an ihn. »S<strong>in</strong>d SieDeutscher? Österreicher? Ja? S<strong>in</strong>d Sie verheiratet? Ne<strong>in</strong>? Ich habe e<strong>in</strong>ehübsche Tochter, nehmen Sie sie mit, heiraten Sie das Mädel, sie mußheraus aus diesem Hexenkessel!ËÎImre Nagy hat beschlossen, e<strong>in</strong>en neuen Innenm<strong>in</strong>ister zu ernennenanstelle von Piros, der durch se<strong>in</strong>e stal<strong>in</strong>istische Vergangenheit kompromittiertwar. Nun werden Polizei und ÁVH Dr. Ferenc Münnichunterstellt, der bis vor zwei Tagen noch Botschafter <strong>in</strong> Belgrad war.Münnich ist e<strong>in</strong>er der <strong>in</strong>teressantesten Persönlichkeiten des modernen<strong>Ungarn</strong>. Er wurde als Sohn gebildeter bürgerlicher Eltern <strong>in</strong> der Prov<strong>in</strong>zFejér geboren. Jetzt ist er fünfundsechzig Jahre alt, e<strong>in</strong> wohlbeleibter,zäher Mann und harter Tr<strong>in</strong>ker, der vierzig Jahre Kriege und Revolutionenüberlebt hat. Er pflegt zu sagen: »Ich habe e<strong>in</strong>fach Glück, immer geradean der Stelle zu stehen, wo die Kugeln nicht auftreffen.« Er hatpersönlichen Charme, er gefällt den Frauen, er spricht mehrere Sprachen.Als Sekretär von Béla Kun mußte er nach dem Zusammenbruch derungarischen Räterepublik <strong>in</strong>s Exil gehen. Nach 1920 lebte er <strong>in</strong> derSowjetunion, kämpfte <strong>in</strong> Spanien unter dem Namen »Otto Flatter« undbekleidete an der Stal<strong>in</strong>gradfront e<strong>in</strong>en hohen sowjetischen militärischenRang. Er genießt das persönliche Vertrauen Chruschtschows.Wahrsche<strong>in</strong>lich hat er e<strong>in</strong>e hohe Position <strong>in</strong>nerhalb des NKWD. Obgleicher von Rajk zum Chef der Budapester Polizei ernannt worden war,überstand Münnich die Säuberungen unversehrt. Er heiratete e<strong>in</strong>erussische Frau, wurde ihrer aber überdrüssig. Rákosi verweigerte ihm dieErlaubnis, sich scheiden zu lassen. 1947 verliebte sich Münnich auf e<strong>in</strong>emBall <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Sekretär<strong>in</strong> Etelka. Sie ist 35 Jahre jünger als er, e<strong>in</strong>e lebhafte,gebildete junge Frau, die ihn anhimmelt. Um sich se<strong>in</strong>en Jahrenanzupassen, färbt sie sich ihr kastanienbraunes Haar grau. Der erste Weg419


dieses geborenen Revolutionärs nach se<strong>in</strong>er Rückkehr nach Budapest am23. Oktober führt ihn <strong>in</strong> ihre Wohnung <strong>in</strong> der Stadt. Er war mit demselbenZug aus Belgrad gekommen wie Gerö und Hegedüs. Wenige M<strong>in</strong>utennach se<strong>in</strong>er Ankunft ersche<strong>in</strong>t auch Etelka und berichtet ihm von demAufruhr <strong>in</strong> den Straßen.Am Nachmittag des 25. Oktober drückt Ferenc Münnich se<strong>in</strong>e Zigarreaus und eilt zu Imre Nagy <strong>in</strong> die Akadémia utca. Der Posten desInnenm<strong>in</strong>isters ist ganz nach se<strong>in</strong>em Geschmack. Er arbeitet eng mit demneuen sowjetischen Berater des M<strong>in</strong>isteriums, General Iwan Serow,zusammen. Während der nächsten Tage wird Münnich mehrere Male dasHaus verlassen und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em sowjetischen Panzer-wagen mit unbekanntemZiel – wahrsche<strong>in</strong>lich ist es die Sowjetbotschaft – verschw<strong>in</strong>den.Es ist überflüssig zu sagen, daß im heutigen Budapest e<strong>in</strong>e Straße nach Dr.Münnich benannt ist, um die Rolle zu unterstreichen, die er spielte,nachdem er das Eckbüro im Innenm<strong>in</strong>isterium übernommen hatte.Das Gerücht vom Blutbad auf dem Parlamentsplatz hat nichts vonse<strong>in</strong>er Wirkung verloren. Gegen 15 Uhr streifte e<strong>in</strong>e rachedurstige Mengedurch die Straßen. Wo war das ÁVH-Hauptquartier? Nur wenige wußtenes genau, also zog man zum Polizeipräsidium der Stadt, dem Sitz vonOberst Kopácsi am Deák tér, mit der weißen, von Kugeln zersplittertenFassade. Bald war der Platz voll von Tausenden zorniger Menschen, diebereit waren, jeden Insassen des Hauses <strong>in</strong> Stücke zu zerreißen. E<strong>in</strong>igewaren bewaffnet, niemand war freundlich ges<strong>in</strong>nt.ËÏ Kopácsi hörtedrohende Rufe: »Herunter mit dem Stern!«Der Polizeipräsident litt Höllenqualen. Der Sowjetstern auf dem Dachwar Teil se<strong>in</strong>es Lebens – er war Symbol der großen kommunistischenBrüderlichkeit, für die er gekämpft, konspiriert, getötet und gelebt hatte:E<strong>in</strong> halbes Dutzend Ordensspangen an se<strong>in</strong>er Uniform zeigten den Sternvon Moskau.»Nehmt den Stern herunter!« Die wenigen heilen Fensterscheibenklirrten, so laut wurde das Brüllen. Kopácsi überwand se<strong>in</strong>en Stolz undgab den Befehl, den Stern herunterzuholen. Es gab spöttischen Beifall,420


aber die Menschenmenge wollte noch mehr: »Laßt die Gefangenen frei!«wurde gerufen. »Wenn ihr uns nicht h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>laßt, werden wir die Türen e<strong>in</strong>schlagen.«Kopácsis Leute warfen e<strong>in</strong>en kurzen Blick auf die neben den Fensternaufgestapelten Tränengasgranaten. Aber der untersetzte Oberst dachteweiter: Das nächste würde e<strong>in</strong> Feuergef echt zwischen se<strong>in</strong>en Männernund der Menge draußen se<strong>in</strong>, die Folge wäre wahrsche<strong>in</strong>lich e<strong>in</strong>Massenlynchen. Er griff sich e<strong>in</strong>en Sperrholzstuhl und fragte nach zweiFreiwilligen, die mit ihm h<strong>in</strong>ausgehen und sich der Menge stellen sollten.Zwei Polizisten, se<strong>in</strong> Fahrer und e<strong>in</strong> narbengesichtiger Offizier vom XIV.Bezirk, traten vor. Sie schnallten ihre Koppel mit der Pistole ab undbegaben sich nach unten auf den Platz.Anfangs nahmen die Menschen gar ke<strong>in</strong>e Notiz von ihnen, als sie sichihren Weg durch die Menge bahnten.Das Geschrei war ohrenbetäubend.»Aufmachen!« – »In drei M<strong>in</strong>uten!«In der Mitte des Platzes stieg Kopácsi auf den Stuhl, bat um Ruhe undbegann zu sprechen. Die Menge verharrte <strong>in</strong> dumpfem, eisigemSchweigen. Kopácsi sagte ihnen, wer er war, und forderte sie auf, e<strong>in</strong>eDelegation von fünf Männern zur Inspektion <strong>in</strong>s Polizeipräsidium zuentsenden. »Sie können alle Freiheitskämpfer, die sie f<strong>in</strong>den, freilassen,aber nicht die Krim<strong>in</strong>ellen.«Unter Führung von Kopácsis beiden Begleitern g<strong>in</strong>gen fünf Männer <strong>in</strong>das Gebäude. Er blieb auf dem Platz und wippte auf se<strong>in</strong>em Stuhl, bis allejungen Revolutionäre, die dort festgehalten waren, das Gebäude verlassenhatten. Jemand aus der Menge rief: »Kopácsi, gib uns wenigstens Waffenund Munition!«Er lächelte etwas gequält: »Die Polizei von Budapest ist dazu da, dieöffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten. Wie können wir das mit bloßenHänden tun?« Dann ergriff er se<strong>in</strong>en Stuhl und g<strong>in</strong>g <strong>in</strong> aller Ruhe <strong>in</strong>sPolizeipräsidium zurück.Der Russisch sprechende, <strong>in</strong> Moskau ausgebildete Imre Nagy, seit421


1930 sowjetischer Bürger, schob se<strong>in</strong>e Manschette zurück und warf e<strong>in</strong>enkurzen Blick auf die klotzige goldene Armbanduhr an se<strong>in</strong>em l<strong>in</strong>kenHandgelenk: 15.25 Uhr. Er räusperte sich und begann dann, <strong>in</strong> dasMikrophon zu sprechen. Se<strong>in</strong>e Stimme klang bekümmert, und was ersagte, war wieder enttäuschend. Doppelzüngig sprach er von denTumulten e<strong>in</strong>es Volksaufstands, für den er e<strong>in</strong>e »kle<strong>in</strong>e Zahl von Konterrevolutionärenund Provokateuren« verantwortlich machte; er plädiertedafür, den russischen Soldaten bis zum Schluß zu vertrauen. »Diesowjetischen Truppen, deren E<strong>in</strong>greifen <strong>in</strong> die Kämpfe imlebenswichtigen Interesse unserer sozialistischen Ordnung erforderlichwar, werden zurückgezogen, sobald Ruhe und Ordnung wiederhergestellts<strong>in</strong>d.« Se<strong>in</strong>e Reformversprechen waren die üblichen Phrasen. DieZuschauer wurden aufmerksam, als er verkündete, was wie e<strong>in</strong>Zugeständnis klang: Er habe Verhandlungen mit dem Kreml über e<strong>in</strong>enRückzug der Sowjets aus <strong>Ungarn</strong> aufgenommen auf der Grundlage des»proletarischen Internationalismus« und der »nationalen Unabhängigkeit«,was für e<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n diese Schlagworte auch immer haben mochten.ËÌDie Rebellen hatten <strong>in</strong>zwischen damit begonnen, Flugblätter undPlakate zu drucken, deren Texte allerd<strong>in</strong>gs noch une<strong>in</strong>heitlich und unvollständigwaren. E<strong>in</strong> an diesem Nachmittag verteiltes Flugblatt rief zumGeneralstreik auf, endete aber mit den Worten »Es lebe die neue Regierungunter der Führung von Imre Nagy«. Von e<strong>in</strong>em Balkon des Verlagsgebäudesder Volksarmee Roter Stern <strong>in</strong> der Bajcsy Zsil<strong>in</strong>szky út warf e<strong>in</strong>Armeeoffizier bündelweise Flugblätter h<strong>in</strong>unter – das Manifest e<strong>in</strong>er»neuen provisorischen revolutionären Regierung und des nationalenVerteidigungskomitees«. Auf den Flugblättern wurden die Abschaffungdes Kriegsrechts, e<strong>in</strong>e Amnestie, die Entwaffnung der ÁVH und <strong>Ungarn</strong>sAustritt aus dem Warschauer Pakt gefordert.ËÓDie Russen erlitten immer schwerere Verluste. Vor dem Polizeipräsidiumhielt e<strong>in</strong> Stal<strong>in</strong>panzer, aus dem zwei Leichen – Panzersoldaten,die von Heckenschützen erschossen worden waren – ausgeladen und aufe<strong>in</strong>en wachsenden Berg von Gefallenen auf dem dah<strong>in</strong>terliegendenParkplatz geschafft wurden. Der russische Panzerkommandant, e<strong>in</strong> Major,422


der, nach se<strong>in</strong>em Geruch und Bartwuchs zu urteilen, m<strong>in</strong>destens zwei oderdrei Tage nicht aus dem Panzer herausgekommen war, schleppte sich <strong>in</strong>das Präsidium, um die beiden sowjetischen Berater von Kopácsiaufzusuchen: »Es ist furchtbar«, sagte er schluchzend. »Seit gesternmorgen habe ich fast alle me<strong>in</strong>e Männer verloren. Wir haben wedergeschlafen noch gegessen. Was soll ich bloß den Eltern dieser beidenJungen sagen?«Als am späten Nachmittag die Dämmerung here<strong>in</strong>gebrochen war,schickte Spencer Barnes sämtliche Mitarbeiter der amerikanischenGesandtschaft mit Ausnahme der diensthabenden Beamten nach Hause.Noch immer drängten sich fahnenschwenkend und Nationalhymnens<strong>in</strong>gend zweitausend Menschen vor dem E<strong>in</strong>gang. Tom Rogers las mitunsicherer Stimme der Menschenmenge draußen die improvisierteVerlautbarung von Spencer Barnes vor. »16.31 Uhr Ortszeit«, schrieb derFernschreiber der Gesandtschaft. Rogers diktierte dem Mann amFernschreiber e<strong>in</strong>e Botschaft für Wash<strong>in</strong>gton: »Wenn Sie irgendwelcheVorschläge haben, was wir <strong>in</strong> Zukunft sagen können, lassen Sie es unsbitte wissen.« Aber bis 17 Uhr hatte das State Department noch immerke<strong>in</strong>e Vorschläge anzubieten: »Es sei denn, Sie könnten wiederum unserMitgefühl zum Ausdruck br<strong>in</strong>gen . . . « Dies sollte der letzte offizielleKontakt bis zum Abend des 29. Oktober se<strong>in</strong>.Gegen 20 Uhr verließ Gaza Katona die Gesandtschaft. Als er zu Hauseankam, fuhr e<strong>in</strong> offener Armeelastwagen mit Soldaten und e<strong>in</strong>em halbenDutzend Zivilisten vorbei, die alle an Kopf oder Gliedern verbundenwaren. Er verschwand <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Wohnung, ließ die Rolläden herunter undstellte se<strong>in</strong> Ampexgerät auf, um das entfernte Geknatter der Masch<strong>in</strong>engewehreund das charakteristische dumpfe Ballern sowjetischer Mörserund Artillerie, das jetzt vom Stadtpark herüberklang, auf Band aufzunehmen.Nach dem Abendessen stellte er das Radio an und suchte dieKurzwellenfrequenz ab. Die »Stimme Amerikas« berichtete bereits überdas Massaker auf dem Parlamentsplatz aufgrund e<strong>in</strong>er Meldung, die JohnMacCormac mit <strong>in</strong>offizieller Genehmigung der Gesandtschaft per Fernschreibernach Wash<strong>in</strong>gton überschrieben hatte.423


Bald nach E<strong>in</strong>bruch der Dunkelheit fuhr h<strong>in</strong>ter der offiziellen Residenzder amerikanischen Botschaft e<strong>in</strong> Panzer auf. E<strong>in</strong> maskierter Mann <strong>in</strong>mittleren Jahren kletterte über den Zaun und klopfte an die Terrassentür.Er sprach erst französisch und dann deutsch mit e<strong>in</strong>er Diplomatenfrau undbat sie, e<strong>in</strong>en Brief entgegenzunehmen und ihn an die Vere<strong>in</strong>ten Nationenweiterzuleiten. Unterzeichnet war das Schreiben mit »Ungarischekämpfende Jugendorganisation«. Der Mann erklärte: »Ich b<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er derFührer der Freiheitskämpfer. Man hatte mich sechs Jahre lang imGefängnis festgehalten. Ich b<strong>in</strong> hierhergekommen, weil man mich <strong>in</strong> IhrerGesandtschaft erwarten könnte. Wir haben noch genug Munition für zweiTage. Wir wissen, daß wir nicht gew<strong>in</strong>nen können, aber wir werdenweiterkämpfen.«Die Frau gab die Botschaft des maskierten Mannes telephonisch derGesandtschaft durch, und gegen Abend wurde e<strong>in</strong>e grobe Übersetzung desTextes <strong>in</strong>offiziell nach Wash<strong>in</strong>gton übermittelt: »An die Vere<strong>in</strong>tenNationen. Dies ist im Namen der ungarischen Jugend und ihrerKameraden unter den Arbeitern geschrieben, die an Sie appelliert. Wirkämpfen ohne Aussicht auf Erfolg unter diesem roten Terror . . . Wirsehen, daß die Politik unserer Regierung nur Moskau dient und sich imvölligen Gegensatz zu den Wünschen der ungarischen Nation bef<strong>in</strong>det.«Die Botschaft schilderte die Kämpfe um das Funkhaus und das Verlagsgebäudeder Zeitung Freies Volk und fuhr dann fort: »Wir teilen denVere<strong>in</strong>ten Nationen mit, daß dies ke<strong>in</strong>e Revolution mehr ist, sondern, daßwir gegen sowjetische Soldaten kämpfen, e<strong>in</strong>e Art menschlicher Wesenjenseits jeglicher Vorstellung . . . Wir bitten die Vere<strong>in</strong>ten Nationen,dieses Memorandum zu diskutieren. Wir ungarischen jugendlichen wollen<strong>Ungarn</strong> bleiben. Wenn wir <strong>in</strong> diesem aussichtslosen Kampf sterben, dannsoll unser Tod e<strong>in</strong>e Mahnung für das Regime se<strong>in</strong>. Bitte betet für uns.«Als er g<strong>in</strong>g, sagte der Mann: »Zeigen Sie es ke<strong>in</strong>em <strong>Ungarn</strong>.Vergessen Sie, daß Sie mich jemals gesehen haben. Schicken Sie dieBotschaft nach drüben. Ich kämpfe seit zwei Tagen, ohne geschlafen zuhaben. Im Panzer wartet man auf mich. Wir könnten etwas Kaffeegebrauchen – draußen s<strong>in</strong>d noch drei Männer von mir.«424


Die Frau machte das Licht aus und gab dem Maskierten e<strong>in</strong>ige mitKaffee gefüllte Bierflaschen, die er se<strong>in</strong>en Kameraden mitnahm. »Es tutmir leid, wegen des Zauns«, sagte er. Die Männer, die im Panzer auf ihnwarteten, waren über die Flaschen ebenso erfreut wie über den Kaffee.ËÔ425


31Die Dämme brechen»SIE HABEN von dem <strong>Aufstand</strong> gehört«, sagt e<strong>in</strong> Werkzeugmacher mitstöhnender, näselnder Stimme e<strong>in</strong> halbes Jahr später zu dem amerikanischenForscher Dr. George Devereux. »Und doch können Sie nichtwissen, wie es wirklich war. Ich habe daran teilgenommen. Ich schoßunter dem Donner der Kanonen. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie e<strong>in</strong>eNation auf diesen Gedanken gekommen ist – ohne Führung oder Planung.Die Leute kämpften um Waffen. Man stieß sich gegenseitig weg undsagte: ›Gib mir das Gewehr! Ich weiß, wie man damit umgeht!‹ «ÁSe<strong>in</strong>e Augen glänzen, als er sich die Szene <strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerung ruft.Schweißperlen bilden sich auf se<strong>in</strong>em schmalen Gesicht mit dem kle<strong>in</strong>enSchurrbart. Er strahlt die fe<strong>in</strong>dselige Ges<strong>in</strong>nung der Arbeiterklasse aus.»E<strong>in</strong> 75-t-Panzer mit e<strong>in</strong>er 11-cm-Kanone kam die Déli utca herunter, undsofort stürzten die zwölf und vierzehn Jahre alten jungen aus denTorwegen, kletterten h<strong>in</strong>auf, öffneten das Turmluk und schütteten Benz<strong>in</strong>h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>. E<strong>in</strong> dreizehnjähriges Mädchen sah, wie sich auf dem Körút e<strong>in</strong>Panzer näherte und wild um sich schoß. Das Mädchen rannte zu dem Tankund schleuderte e<strong>in</strong>e Flasche. Die Russen bekamen es mit der Angst undbegannen zu schießen, aber sie wich nicht von der Stelle und schüttetenoch zwei Flaschen über dem Tank aus, der gleich danach explodierte.Wir hatten lediglich Masch<strong>in</strong>enpistolen, Gewehre, Granaten undMolotow-Cocktails . . . «Auch die anderen großen Städte wurden von den Unruhen erschüttert.Zu ihnen gehörte Györ (Raab), das zwei Stunden von Budapest entferntauf halbem Wege nach Wien liegt, e<strong>in</strong>e Stadt mit 60.000 E<strong>in</strong>wohnern und426


den großen Wilhelm-Pieck-Werken, die Lokomotiven und Eisenbahnwagenherstellen. Vier Budapester Studenten hatten hier am 23. OktoberFlugblätter verteilt, als sich ÁVH-Agenten auf sie stürzten und sieverhafteten. E<strong>in</strong>en Tag lang herrschte e<strong>in</strong>e unerträgliche Spannung <strong>in</strong> derStadt. E<strong>in</strong> Polizeimajor äußerte zuversichtlich die Me<strong>in</strong>ung, dieBudapester Ereignisse würden sich hier nicht wiederholen – sowohlArbeiter als auch Soldaten verurteilten die »faschistische Konterrevolution«<strong>in</strong> der Hauptstadt. E<strong>in</strong> Kommunist der alten Garde war wenigeroptimistisch: »Glauben Sie mir«, sagte er, »hier braucht nur e<strong>in</strong> Mann mite<strong>in</strong>er rot-weiß-grünen Fahne auf der Hauptstraße zu ersche<strong>in</strong>en, dannbricht die Partei <strong>in</strong> zehn M<strong>in</strong>uten zusammen. Und e<strong>in</strong>e Stunde später s<strong>in</strong>dsämtliche jetzigen Parteiführer jenseits der Grenze <strong>in</strong> der Tschechoslowakei.«ËEs waren prophetische Worte: Am selben Nachmittag erschien auf derHauptstraße, der Baross utca, e<strong>in</strong> kommunistischer Agitator an der Spitzevon etwa zwanzig Leuten; er trug die Fahne. Innerhalb der nächstenhalben Stunde war die Menge h<strong>in</strong>ter ihm auf mehrere tausend Menschenangewachsen. Über dem Rathaus wurde die Nationalflagge gehißt, mitdem <strong>in</strong>zwischen vertrauten Loch <strong>in</strong> der Mitte, wo das kommunistischeWappen herausgeschnitten worden war. Dann kletterte der Agitator aufdas Dach und entfernte den Roten Stern, während die Menge zumKomitatsparteikomitee weitermarschierte. Unter den Demonstrantenbefanden sich viele Kommunisten, die sich mit ihren Idealen verratenfühlten – Männer wie Gábor Földes, e<strong>in</strong> begabter Jude, dem die Funktionäreden Besuch der Universität verweigert hatten. Dennoch war es ihmirgendwie gelungen, Regisseur des Städtischen Theaters zu werden.Földes war e<strong>in</strong> närrischer, aber zugleich tapferer Mann – närrisch genug,um im selben Atemzug unvere<strong>in</strong>bare Parolen wie »Wir wollen Freiheit!«und »Es lebe die Partei!« zu rufen, aber auch so tapfer, daß er späterwegen se<strong>in</strong>er Rädelsführerschaft während dieser Tage den Weg zumGalgen antrat. Die Partei rief ungarische und russische Panzer zu Hilfe,die ihr Hauptquartier verteidigen sollten. Den Panzersoldaten standen aberbald über 10.000 erregte Menschen gegenüber.427


Földes stellte sich auf die Stufen zum E<strong>in</strong>gang des Gebäudes undforderte die Parteifunktionäre auf, Budapest über die Forderung derWerktätigen von Györ zu unterrichten, die kämpfenden Rebellen <strong>in</strong>Budapest nicht als Faschisten zu bezeichnen. »Es s<strong>in</strong>d Freiheitskämpfer –und sie kämpfen auch für unsere Freiheit!« Wenige M<strong>in</strong>uten danachwarfen die ungarischen Panzer ihre Motoren an und rollten davon,während ihre Besatzungen zum Zeichen des Respekts ihre Mützeschwenkten. Die Menge jubelte: »Wir s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e Sklaven mehr!« Dierussischen Panzer blieben mit geschlossenen Turmluks stehen. Sie hattenihre Befehle: In Györ gaben sie ke<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>zigen Schuß ab, weder jetztnoch später, selbst als man sie bespuckte.ÈInzwischen hatten sich auch die Industriearbeiter den Rebellenangeschlossen – sie dementierten die Roten Sterne von ihren Fabriken.Als sie die Gefängnistore aufbrachen, um die politischen Gefangenen zubefreien, eröffnete die ÁVH das Feuer und tötete e<strong>in</strong> Mädchen und zweiMänner, bevor sie überwältigt werden konnten.Í Nur vier oder fünf ÁVH-Männer fielen <strong>in</strong> die Hände der Rebellen, die Offiziere waren geflüchtet,die meisten von ihnen <strong>in</strong> die Tschechoslowakei. Zuvor hatten sie fast alleAkten verbrannt, nur e<strong>in</strong> Gefängnisregister von 1951 wurde nochentdeckt. Es enthielt die Namen von 699 Gefangenen, nur bei e<strong>in</strong>em standdie Bemerkung »entlassen«. Die meisten der Gefangenen warenKraftfahrer, Arbeiter, Kellner, Mechaniker – alles kle<strong>in</strong>e Leute, derenLeben von der ÁVH und deren Funktionären für immer zerstört war.ÎViele Gefangene wurden freigelassen. Die vier Budapester Studenten fandman <strong>in</strong> Gummizellen.Von Györ breitete sich die Flut der Revolution weiter nach Westen ausbis nach Mosonmagyaróvár, e<strong>in</strong>er Doppelstadt, die nur siebzehn Kilometervon der österreichischen Grenze entfernt liegt.Ï In den Fabrikenwurde die Parole ausgegeben, aus Solidarität mit den Arbeitern <strong>in</strong> Budapestsolle am Freitag e<strong>in</strong> kurzer Protestmarsch von Moson nach Magyaróvárstattf<strong>in</strong>den. E<strong>in</strong>e Frau, die im städtischen Kraftwerk beschäftigt war,berichtete: »Zum ersten Mal begann jedermann im Werk über Politik zu428


eden.« Gegen 10 Uhr morgens versammelten sich die meisten Städter undzogen zu den Armeekasernen, um den Roten Stern von dort zu entfernen.Teilnehmer des Demonstrationszuges waren vor allem Studenten derLandwirtschaft und Arbeiter von der Kühne-Fabrik und vom Bauxitwerk.Sie kamen an e<strong>in</strong>er ÁVH-Kaserne vorbei; s<strong>in</strong>gend näherten sie sich demGebäude. Dort lagen ÁVH-Soldaten <strong>in</strong> zwei MG-Stellungen <strong>in</strong> Deckung,außerdem dreißig schwerbewaffnete Verteidiger <strong>in</strong> Schützengräben. Alsdie Menge herankam, trat e<strong>in</strong> ÁVH-Kommandeur vor und rief: »Halt!Was wollen Sie?« Die Marschkolonne drängte weiter. Der Offizier zogse<strong>in</strong>e Pistole und gab e<strong>in</strong>en Warnschuß ab. Dann eröffneten die MG-Schützen das Feuer, Handgranaten wurden geworfen. Die 400 Demonstrantenliefen ause<strong>in</strong>ander und liegen Tote und Verwundete auf derStraße zurück. Neunundfünfzig Zivilisten starben. Die reguläre Polizeischloß sich daraufh<strong>in</strong> dem <strong>Aufstand</strong> an und entwaffnete die ÁVH.Das Massaker von Mosonmagyaróvár war e<strong>in</strong>er der blutigstenZwischenfälle des <strong>Aufstand</strong>s. Es ereignete sich, was um so schlimmerwar, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Stadt, durch die jeder westliche Journalist auf dem Wegenach Budapest kam. Als der junge italienische Zeitungsreporter BrunoTedeschi am nächsten Tag die Friedhofskapelle aufsuchte, zählte er diedort nebene<strong>in</strong>ander aufgebahrten Leichen. »Fast alle waren, soweit ich dasbeurteilten konnte, noch sehr jung. Der Blutgeruch mischte sich mit demDuft der Blumen, die von der Bevölkerung dort niedergelegt wordenwaren; er erfüllte die ganze Friedhofskapelle.«ÌSeit dem die Alliierten 1945 bei der Befreiung von Dachau jedendeutschen Soldaten, der auf dem Gelände des KZ angetroffen wurde, aufder Stelle hatten h<strong>in</strong>richten lassen, ist niemals so schnell wiederVergeltung geübt worden wie <strong>in</strong> Magyaróvár Die Bürger liegenVerstärkungen aus Györ kommen. Der Theaterregisseur Gábor Földesleitete an jenem Nachmittag die Strafexpedition. Als sie e<strong>in</strong>trafen, war dieÁVH-Kaserne von fast allen Angehörigen der Truppe verlassen.Ó DreiOffiziere waren noch da; ihr Kommandeur war geflohen. Zwei der dreiOffiziere wurden totgeschlagen. Als der überlebende ÁVH-Mann <strong>in</strong>sKrankenhaus gebracht wurde, hielt sich dort gerade e<strong>in</strong>e dreiundzwanzig429


Jahre alte Fabrikarbeiter<strong>in</strong> namens Flora Pötz auf, die schon immer gernÄrzt<strong>in</strong> werden wollte. Der Mann war vollkommen zusammengeschlagen,niemand wollte sich um ihn kümmern. Da kniete sie nieder und verbandihn. Er hatte e<strong>in</strong>en Schädelbruch und e<strong>in</strong>e schwere Gehirnerschütterung.Immer wieder stöhnte er: »Jesus, Jesus.«ÔIn Magyaróvár wurde e<strong>in</strong> Revolutionsrat gegründet. Viele Leutewaren verwundert, daß dessen Vorsitzender der frühere Parteisekretär desKraftwerks, Béla Nagy, war, den man e<strong>in</strong> Jahr zuvor abgesetzt hatte.Verschiedenen Leuten fiel auch auf, daß <strong>in</strong> der Revolutionshierarchieehemalige Funktionäre auftauchten, die die Armb<strong>in</strong>de der Rebellenangelegt hatten. Dazu gehörten auch frühere ÁVH-Leute, selbst derStudiendirektor der Städtischen Landwirtschaftsschule, der bislang e<strong>in</strong>erder fanatischsten Anhänger des Regimes war.Am Sonntag fand e<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>same Trauerfeier für die Opfer statt. Vordem Krankenhaus und dem Rathaus h<strong>in</strong>gen schwarze Fahnen. DieGemüter erhitzten sich, und die Menge drang <strong>in</strong> das Krankenhaus e<strong>in</strong>, woder verwundete ÁVH-Mann zur Behandlung e<strong>in</strong>geliefert worden war.Man fand ihn, e<strong>in</strong>e Zigarre rauchend, auf e<strong>in</strong>er Bahre. Der Chefarzt zucktenur die Schultern und ignorierte die Proteste von Flora Pötz, während dieMenge den Offizier nach draußen schleppte. Wie e<strong>in</strong> Fabrikarbeitererzählte, appellierte e<strong>in</strong> Jude an die Menge <strong>in</strong> beschwörenden Worten, denMann <strong>in</strong> Frieden zu lassen: »Was wollt ihr von dem armen Kerl, er ist jahalbtot!« Er wurde sofort zum Schweigen gebracht: »Willst du auch e<strong>in</strong>enSchlag <strong>in</strong> die Fresse?« Der blutige Leichnam des ÁVH-Mannes wurde anden Füßen an e<strong>in</strong>er Platane <strong>in</strong> der Len<strong>in</strong> utca, der Hauptstraße der Stadt,aufgehängt. »Das war das Ende der Gewalttätigkeiten«, berichtet derFabrikarbeiter.ÁÊBei »Radio Free Europe« war man der Me<strong>in</strong>ung, jetzt sei die Zeit reif,daß auch die anderen von Moskau unterdrückten Nationen zum <strong>Aufstand</strong>schritten. Die neuen Propagandarichtl<strong>in</strong>ien lauteten: »Die Ereignisse <strong>in</strong><strong>Ungarn</strong> sollten den Führern aller unterdrückten Ländern als dr<strong>in</strong>gendeWarnung dienen, soweit wie möglich und unverzüglich Unabhängigkeit430


und Freiheit anzustreben. Sonst werden sie sicher mit derselben Situation,<strong>in</strong> der sich ihre Genossen <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> jetzt bef<strong>in</strong>den, konfrontiert werden.«E<strong>in</strong> politisches Resümee wurde der Zentrale von RFE <strong>in</strong> New Yorkper Fernschreiber übermittelt. Dar<strong>in</strong> hieß es: »Sofortiger Rückzugsowjetischer Truppen dr<strong>in</strong>gend notwendig, wenn Regierung überlebenwill.« Die Sendungen von »Radio Free Europe« waren bisher fast diee<strong>in</strong>zige zentrale Anleitung für die Rebellen. Spencer Barnes <strong>in</strong> Budapestwar sich darüber im klaren, daß es verschiedene Gruppen gab – e<strong>in</strong>igehandelten ruhig und verantwortungsbewußt, andere benahmen sich wieverzweifelte Wahns<strong>in</strong>nige, die allmählich von der ÁVH ausmanövriertwurden. Die Gesandtschaft stellte fest, ihrem E<strong>in</strong>druck nach habe diesowjetische Führung versucht, das Blutvergießen so ger<strong>in</strong>g wie möglichzu halten. Doch diese anfängliche Zurückhaltung <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit derwachsenden Tapferkeit der Aufständischen verlängerte den Kampf undgab den Rebellen die Möglichkeit, e<strong>in</strong>e Organisation aufzubauen, »die sieanfangs offensichtlich nicht hatten«.ÁÁSeit der Demonstration an jenem Spätnachmittag hatte es <strong>in</strong> derUmgebung der Gesandtschaft ke<strong>in</strong>e weiteren Zwischenfälle mehrgegeben. Aber an anderer Stelle flackerten die Kämpfe bei Dunkelheitwieder auf. Um 21.30 Uhr begann auf der anderen Seite des Flusses, nahedem Moszkva tér, e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>stündige Schlacht, und man konnte noch bisnach Mitternacht schweres Geschützfeuer hören. Barnes nahm an, daßman nun, nachdem die Straßen leerer geworden waren, Jagd aufAufständische machte. Aber bei Tagesanbruch des 26. Oktober hörte derKampflärm nicht auf, er nahm während des Tages noch an Stärke zu.Sowjetische Infanterie wurde bei den Kämpfen offenbar nicht e<strong>in</strong>gesetzt.Aber ab 7 Uhr morgens traf man <strong>in</strong> der Nähe der amerikanischenGesandtschaft ungarische Militärpatrouillen, die Fußgänger anhielten undkontrollierten. Auf Veranlassung von Barnes mußten die Amerikaner, dieim Széchenyi-Wohngebäude untergebracht waren, <strong>in</strong> dasGesandtschaftsgebäude übersiedeln; sie waren von starken sowjetischenVerbänden e<strong>in</strong>geschlossen, die das ÁVH-Hauptquartier und dasVerteidigungsm<strong>in</strong>isterium abschirmten. Die amerikanischen Familien431


hatten die Nacht im Keller verbracht.Gegen Mittag bahnte sich e<strong>in</strong>e Entwicklung an, die den Amerikanernbedeutsam erschien: E<strong>in</strong>e formelle Opposition entstand offenbar draugenim verborgenen. E<strong>in</strong>em unbekannten Mann war es gelungen, an denPatrouillen vorbei <strong>in</strong> die Gesandtschaft zu gelangen. Er gab sich als Führere<strong>in</strong>er Gruppe zu erkennen, die am vorhergehenden Tage Tausende vonFlugblättern <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Heeresdruckerei hergestellt hatte. Er sprach von derBildung e<strong>in</strong>er neuen Regierung und behauptete, <strong>in</strong> der vergangenen NachtImre Nagy mit e<strong>in</strong>er vierköpfigen Delegation aufgesucht zu haben. »Nagyhat allen unseren Forderungen zugestimmt«, sagte er. »Aber er verlangt,daß wir ihn als Führer der gegenwärtigen, legal gebildeten Regierungunterstützen.«Er schrieb se<strong>in</strong>en Namen und se<strong>in</strong>e Telephonnummer auf. DieGesandtschaft war <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er heiklen Situation, war aber bereit, ihnanzuhören, ohne jedoch direkt mit ihm zu verhandeln. Der Mann kehrteum 15 Uhr zurück und fragte um Rat, was die »neue Regierung« tun solleund wie man e<strong>in</strong> <strong>in</strong>ternationales Tribunal nach <strong>Ungarn</strong> br<strong>in</strong>gen könne.»Nagy wird alles tun, um das gegenwärtige Regierungssystem <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong>aufrechtzuerhalten«, warnte er. »Für den Fall, daß der Widerstand nichtaufhört, sieht Nagy furchtbare Folgen voraus. Die Mitglieder me<strong>in</strong>erneuen Regierung s<strong>in</strong>d davon überzeugt, daß Nagy auch me<strong>in</strong>t, was er sagt.Wir haben erfahren, daß acht russische Panzer heute morgen den Len<strong>in</strong>körút h<strong>in</strong>untergefahren s<strong>in</strong>d und die Häuser auf beiden Seiten der Straßezusammengeschossen haben. Weder ich noch irgende<strong>in</strong> anderer Aufständischer«,fügte er h<strong>in</strong>zu, »glauben an Nagys Versprechungen, daß sichdie sowjetischen Truppen zurückziehen, wenn die Waffen schweigen.«Die Gesandtschaft versprach, Wash<strong>in</strong>gton so schnell, wie die Nachrichtenverb<strong>in</strong>dungenes erlaubten, zu <strong>in</strong>formieren.Inzwischen weigerte sich allerd<strong>in</strong>gs die Nachrichtenagentur MTI, dieverschlüsselten Telegramme der Gesandtschaft weiterzuleiten. Gegen 19Uhr schickte Spencer Barnes e<strong>in</strong> Telegramm, <strong>in</strong> dem dies alles geschildertwurde, aber es kam erst 56 Stunden später <strong>in</strong> Wash<strong>in</strong>gton an. In e<strong>in</strong>emanderen Telegramm betonte er: »Entscheidende Frage im Augenblick . . .432


ist Größe der <strong>Aufstand</strong>sorganisation. Sie verfügen über Zeitungsdruckmasch<strong>in</strong>en.E<strong>in</strong>ige Sowjetpanzer s<strong>in</strong>d zwar durch Feuer vernichtet, doch(gibt es) ke<strong>in</strong>e Beweise für e<strong>in</strong>en organisierten E<strong>in</strong>satz von Molotow-Cocktails . . . was nach unserer Me<strong>in</strong>ung erstes Anzeichen e<strong>in</strong>er zentralenFührung der Aufständischen wäre. Diese Frage ist von größter Wichtigkeit,weil Existenz e<strong>in</strong>er Aufständischenbewegung, unabhängig von ihrermilitärischen Stärke, e<strong>in</strong>e andere Behandlung des Falls bei den Vere<strong>in</strong>tenNationen zur Folge haben würde. Gesandtschaft wird alle Informationendarüber unverzüglich weiterleiten.«Während des ganzen 26. Oktober dauerten die geheimen Richtungskämpfe<strong>in</strong>nerhalb des Zentralkomitees an. An diesem Morgen war es demstellvertretenden M<strong>in</strong>isterpräsidenten András Hegedüs gelungen, dieersten paar Stunden Schlaf seit Beg<strong>in</strong>n des <strong>Aufstand</strong>es zu f<strong>in</strong>den; undzwar auf e<strong>in</strong>em Sofa <strong>in</strong> Gerös Arbeitszimmer. Plötzlich wurde Hegedüsvon e<strong>in</strong>em jungen Funktionär, entweder Lajos Ács oder Béla Szalai, ausdem Schlaf geweckt. »Es ist schrecklich, man will die ÁVH auflösen! Siemüssen etwas dagegen unternehmen!« Mit zerzaustem Haar undzerknittertem Anzug stürzte Hegedüs <strong>in</strong> den Sitzungssaal und hielt e<strong>in</strong>elange Rede gegen Nagys Plan. »Wenn wir das tun, was Genosse Nagyverlangt«, sagte er, »liefern wir die ÁVH-Leute dem Massenterror aus.«Der Plan wurde, allerd<strong>in</strong>gs nur vorläufig, fallengelassen.Imre Nagy und se<strong>in</strong>e drei Gefolgsleute Donáth, Losonczy und Lukácsg<strong>in</strong>gen geme<strong>in</strong>sam zum Angriff auf das alte System über. Sie forderten diePartei auf, sich öffentlich davon loszusagen, ehe Moskau se<strong>in</strong> gefährlichesVerdammungsurteil über den Volksaufstand als »faschistischen Putsch«fällen würde. Die stal<strong>in</strong>istische Mehrheit im ZK weigerte sich. Hegedüsgibt jetzt zu: »Zu diesem Zeitpunkt hielt ich es immer noch für e<strong>in</strong>eKonterrevolution.«ÁË E<strong>in</strong> ZK-Mitglied rief wütend: »Hier ist Verrat imSpiel. Und die Verräter s<strong>in</strong>d mitten unter uns, hier <strong>in</strong> der Parteizentrale!«ÁÈDer gerissene Altkommunist Ferenc Donáth er<strong>in</strong>nert sich: »Das ganzeZentralkomitee war anwesend, über hundert Leute. Nur wir beidevertraten diese Me<strong>in</strong>ung – und nur e<strong>in</strong> Mitglied des ZK unterstützte uns,433


und das war der Chefredakteur Márton Horváth. Alle anderen stimmtengegen uns: Hegedüs, Gerö, Marosán, der Budapester Parteisekretär IstvánKovács, und Jenö Házi äußerten sich e<strong>in</strong>deutig. Danach erklärten wirKádár, daß wir unsere abweichende Me<strong>in</strong>ung nicht öffentlichbekanntgeben würden. Wir wollten jedoch an weiteren Sitzungen des ZKnicht teilnehmen.«ÁÍAngesichts der Situation auf den Straßen baten Nagys Freunde darum,vorsichtshalber <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Schützenpanzerwagen nach Hause gebracht zuwerden. Das war nicht vor Samstag morgen, den 27. Oktober, möglich.Inzwischen richteten auch sie sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em der Büros <strong>in</strong> der Akadémiautca häuslich e<strong>in</strong>. Als e<strong>in</strong> Schützenpanzer am nächsten Morgen losfuhr,um die beiden über die Margaretenbrücke heimzufahren, stieß er <strong>in</strong> der Föutca mit e<strong>in</strong>em Panzer zusammen, wobei Donáth e<strong>in</strong>e leichteGehirnerschütterung davontrug und mehrere Tage zu Hause bleibenmußte.Nach e<strong>in</strong>em Erdbeben überfluten die Wasser e<strong>in</strong>es Sees das ganzeLand: Auch <strong>in</strong> den von Budapest weiter entfernten Städten kam es zuverspäteten Unruhen. E<strong>in</strong> oder zwei Tage lang zögerten diese Städte:Vielleicht war es Trägheit, vielleicht unzureichende Nachrichtenverb<strong>in</strong>dungen,vielleicht schierer Unglaube. Es gab e<strong>in</strong>ige kle<strong>in</strong>e,symbolische Aktionen. So wurde das sowjetische Mahnmal <strong>in</strong> Harkányzerstört. Unruhe entstand unter den Industriearbeitern; alle größerenFabriken wurden geschlossen, mit Ausnahme der Lebensmittel- undKonsumgüter<strong>in</strong>dustrie. In den Kohlenzechen traten die Bergleute <strong>in</strong> e<strong>in</strong>enBummelstreik und förderten nur noch Kohle zur Energieversorgung derStädte und Geme<strong>in</strong>den. Als sich die unglaubliche Nachricht verbreitete,daß die Russen nicht unsterblich und die ÁVH nicht unbesiegbar sei unddaß sogar das Parteigefüge zusammenbreche, griffen die verblüfftenBauern nach ihren Heugabeln – und das nicht, um die Ernte e<strong>in</strong>zubr<strong>in</strong>gen.Hier waren die Funktionäre oft kle<strong>in</strong>e Leute, die man zur Strafe fürirgendwelche Vergehen <strong>in</strong> die Prov<strong>in</strong>z geschickt hatte, oder unbedeutendelokale Opportunisten. Volksarmee und ÁVH waren auf dem Lande nur434


dünn gesät.Manchmal verhielten sich die Bauern passiv – als sympathisierendeBeobachter des <strong>Aufstand</strong>es. Sie fielen über die ungeliebten Kolchosen her,jedermann wollte der erste bei der großen Verteilung se<strong>in</strong>: Von denStaatsgütern, den Kolchosen und den Traktorstationen holte man sichlandwirtschaftliche Geräte, Masch<strong>in</strong>en und Vieh. Manche Bauern entschlossensich, freiwillig weiterzuarbeiten, um die kämpfenden Aufständischenmit Lebensmitteln zu versorgen. Typisch war der Fall e<strong>in</strong>es siebenundzwanzigjährigenAgronomen auf e<strong>in</strong>er Traktorstation bei Kézs, deralle Produktionsgenossenschaften im Namen des Arbeiterrats, <strong>in</strong> den ergerade gewählt worden war, aufforderte, zwei LastwagenladungenLebensmittel für Budapest beizusteuern. Er bekam tatsächlich vierundzwanzigWagenladungen zusammen; siebzig Mann meldeten sichfreiwillig, um die Lkws zur Hauptstadt zu fahren.ÁÎWeiter draußen im Lande stieß die Revolution aber auch auf Widerstand.In Balassagyarmat hatte der siebenundvierzig Jahre alte TischlerLászló Palkovics genügend Gründe, um sich zu beklagen: »Wenn sichzwei Fremde begegneten, genügte es, mit dem Kopf zu nicken, um zuverstehen, was der andere me<strong>in</strong>te: Uns geht es schlecht.«ÁÏ Dann kamene<strong>in</strong>ige Studenten aus Budapest und organisierten e<strong>in</strong>e Kundgebung.15.000 Menschen erschienen, um daran teilzunehmen: Sie demonstrierten,entfernten kommunistische Embleme und sangen die ungarische Nationalhymnevor dem russischen Ehrenmal. Doch das Denkmal wurde nichtzerstört. Dann wurde e<strong>in</strong> Revolutionsrat gebildet, der se<strong>in</strong>e Anordnungenvon Radio Budapest entgegennahm, was lediglich Verwirrung zur Folgehatte. Der Rat rief e<strong>in</strong>en Generalstreik aus, aber Palkovics me<strong>in</strong>te: »Wiesollte ich den Leuten erklären, daß ihre Tischlerarbeiten nicht vor demW<strong>in</strong>ter fertig würden, nur weil es <strong>in</strong> Budapest e<strong>in</strong>e Revolution gab?« Inder Kle<strong>in</strong>stadt g<strong>in</strong>g das Leben wie gewöhnlich weiter, nur daß ke<strong>in</strong>e Zügefuhren.Die e<strong>in</strong>zige Verordnung, die Palkovics billigte, war die Auflösung derGenossenschaften: »Wir alle wollten wieder unabhängige Handwerker435


se<strong>in</strong>.« Nachdem er zwei Tage diskutiert und widersprüchlichen Parteiphrasengelauscht hatte, ergriff Palkovics Hammer und Hobel undverkündete: »Ich nehme me<strong>in</strong>e Sachen mit nach Hause.« Die anderenpackten ebenfalls ihr Werkzeug e<strong>in</strong>, die Handwerksgenossenschaft löstesich von selbst auf.In den Straßen der größeren Städte gab es oft »kle<strong>in</strong>e Budapests«. Biszum 25. Oktober hatten die Wogen der Revolution Szeged, Györ, Pécs,Szolnok, Miskolc, Magyaróvár, Szombathely und Hatvan erreicht. NeunzehnAußenbüros der Nachrichtenagentur MTI lieferten wahrheitsgetreueBerichte über die Ereignisse im Lande an die Zentralredaktion <strong>in</strong>Budapest, wo sie von den neuen revolutionären Zeitungen gedrucktwurden.ÁÌ Zwischenfälle wurden auch aus Nagykanizsa, Veszprém, Egerund Gyöngyös gemeldet. Nur e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziges Mal griffen hier die sowjetischenTruppen e<strong>in</strong>, und zwar <strong>in</strong> der Zechenstadt Várpalota – MTI hattemehrere Tote und Verwundete gemeldet. Mobilisierte Studententrupps ausBudapest fuhren im Lande umher, um Propaganda zu verbreiten. DieFührung jeder e<strong>in</strong>zelnen Gruppe war unterschiedlich; es waren Intellektuelleund Studenten, ehemalige Gefangene und Deserteure. Die lokalenRundfunkstationen wurden von der Bevölkerung übernommen, Parteibürosniedergebrannt, ÁVH-E<strong>in</strong>heiten vertrieben oder umgebracht, währenddie Informanten, die aufgrund der erbeuteten ÁVH-Akten identifiziertwerden konnten, rücksichtslos gejagt und liquidiert wurden.Jedermann wollte nun wissen, wer die Informanten gewesen waren. InSárvár, e<strong>in</strong>er Stadt mit rund 10.000 E<strong>in</strong>wohnern, befand sich das ÁVH-Hauptquartier gegenüber dem Pfarrhaus. Dem Ortspfarrer und katholischenPriester Ferenc Mikes haben die dortigen Geheimagenten ihrLeben zu verdanken.ÁÓ Man kam übere<strong>in</strong>, die geheimen ÁVH-Akten <strong>in</strong> derPfarrei zu verstecken, um das Leben der Informanten zu retten. Dieneugierigen Kirchenmänner warfen selbst e<strong>in</strong>en Blick <strong>in</strong> die Akten undentdeckten zu ihrem Schrecken, daß drei Priester die ÁVH regelmäßig mitInformationen über ihre Amtsbrüder versorgt hatten.436


In Debrecen, e<strong>in</strong>er Stadt von 140.000 E<strong>in</strong>wohnern, nahe der rumänischenGrenze, hatten die Unruhen zur selben Zeit wie <strong>in</strong> Budapestbegonnen. Auch hier hatte es Studentenversammlungen und öffentlicheDeklarationen gegeben. An jenem Abend demonstrierten 2000 Menschen,die über die geänderte Version ihrer Forderungen, wie sie das ParteiorganNéplap veröffentlicht hatte, empört waren. Von den Straßenbahnwagenwaren die Roten Sterne bereits verschwunden. Vor den Augen e<strong>in</strong>eraufgeregten Menschenmenge kletterten drei jugendliche auf das Dach desehemaligen Tisza-Palais, wo jetzt die Eisenbahndirektion ihren Sitz hatte.Sie schlugen auch dort den Roten Stern ab. »Ich wußte, die Revolutionhatte begonnen«, sagte e<strong>in</strong>e Frau.ÁÔ Bis zum späten Abend waren alleRoten Sterne verschwunden, bis auf den vor dem Polizeihauptquartier. DiePolizisten eröffneten das Feuer und töteten e<strong>in</strong>en älteren Schuhmacher.Die Stadtverwaltung wurde von e<strong>in</strong>em »revolutionären sozialistischenKomitee« übernommen.Während der ersten Nacht <strong>in</strong> Budapest hatte die ÁVH-Zentrale <strong>in</strong> derHauptstadt offenbar alle Außenstellen <strong>in</strong> der Prov<strong>in</strong>z angewiesen, potentielleUnruhestifter festzusetzen. Im Bergbaugebiet von Pécs nahe derjugoslawischen Grenze, das als traditionelle Hochburg des Nationalismusgalt, schwärmte die ÁVH am nächsten Morgen aus und steckte jeden <strong>in</strong>sGefängnis, der e<strong>in</strong>e schlechte Kaderakte hatte.ËÊAm 25. Oktober hatte der lokale Rundfunksender verkündet, daß fürdas gesamte Gebiet des Kreises Baranya e<strong>in</strong> Revolutionsrat gebildetworden sei. Um 2.20 Uhr früh, am 26. Oktober, verbreitete die Rundfunkstatione<strong>in</strong>e dr<strong>in</strong>gende Proklamation des örtlichen ÁVH-Kommandeurs,Oberst György Bradacs: »Achtung! Achtung! Ausgangsverbot, Ausgangsverbot!Bis auf weiteres verhänge ich hiermit e<strong>in</strong> Ausgehverbot im Stadtgebietvon Pécs bis 5 Uhr früh.« Anschließend dementierte er, daßirgendwelche städtischen Behörden sich dem Revolutionskomitee angeschlossenhätten. »Jeder, den wir zu fassen bekommen, wird auf der Stellegehenkt«, verkündte Bradacs.Das war leichter gesagt als getan. Die Bergleute traten sofort <strong>in</strong> denAusstand, und bei Tagesanbruch beschloß Bradacs, alle freizulassen, die437


er zwei Tage zuvor verhaften ließ.Gegen 11.45 Uhr am 26. Oktober hatte der Rundfunksender offensichtlichden Besitzer gewechselt: »Widerstandsgruppen K<strong>in</strong>izsy undZr<strong>in</strong>yi sofort melden! Bis weitere Befehle folgen, bleibt es bei demAngriffsziel.« Prof. Csikor, Dozent der Militärwissenschaften an derUniversität von Pécs und früherer Offizier der Volksarmee, wurde zumKommandeur der städtischen Rebellen ernannt; zu se<strong>in</strong>em Stabschefwurde e<strong>in</strong>er der freigelassenen Gefangenen gewählt, e<strong>in</strong>fünfunddreißigjähriger Biochemiker der Universitätskl<strong>in</strong>ik von Pécs,dessen Vater hoher Offizier unter Horthy gewesen war. Er hatte selbst amKrieg als Hauptmann teilgenommen.ËÁAm 27. Oktober verlangte der Revolutionsrat auf e<strong>in</strong>er Versammlungim Rathaus die Verhaftung von Bradacs – e<strong>in</strong>ige forderten sogar »schnelleVolksjustiz« gegen den Mann. Die Lage konnte sehr kritisch werden:Bradacs hatte noch 1200 ÁVH-Soldaten unter Waffen. Aber die Jugendbrigadeder Universität drang kampflos <strong>in</strong> se<strong>in</strong> Hauptquartier e<strong>in</strong>. Bradacsblieb noch so lange, wie es nötig war, um der Revolution Treue zuschwören, dann verschwand er.Die Revolution <strong>in</strong> Pécs schien gesiegt zu haben, aber die Rebellenhatten sich bereits e<strong>in</strong>ige schwere Versäumnisse zuschulden kommenlassen: Der ÁVH-Kommandeur, Oberst Bradacs war ihnen entwischt; siehatten die Parteizentrale nicht nach Waffen durchsucht; die grüne ÁVHwar nicht entwaffnet worden <strong>in</strong> der Annahme, daß diese Männer derRevolution loyal gegenüberstünden; die wichtigsten Parteifunktionärewaren entkommen; und sie hatten nicht bemerkt, daß die ungarischeEisenbahn e<strong>in</strong> eigenes Fernmeldenetz besaß.Hunderte von russischen Panzern rollten auf ihrem Wege zurHauptstadt durch Kecskemét. Hier hatten Demonstranten mehrere RoteSterne abgerissen; die Polizei hatte der Menge etwa 200 Karab<strong>in</strong>erüberlassen. Als e<strong>in</strong>e sowjetische Division dieses Gebiet besetzte, kam esdennoch kaum zu Schießereien. Die Stadt blieb vorerst unter kommunistischerHerrschaft. Erst als am 28. Oktober die revolutionären Erfolge438


von Budapest bekannt wurden, wendete sich das Blatt. Die E<strong>in</strong>wohnerzogen zum Rathaus, warfen die Kommunisten h<strong>in</strong>aus und bildeten e<strong>in</strong>enRevolutionsrat.ËËIn Westungarn vollzog sich der Machtwechsel nach den blutigenEreignissen von Magyaróvár schnell und ohne Schwierigkeiten. Mit Hilfevon Arbeitern aus Györ und Mosonmagyaróvár entwaffnete dieBevölkerung von Sopron die ÁVH. In dem näher an Budapest gelegenenTatabánya übernahm die Bevölkerung nach zwei Tagen der Ungewißheitam 26. Oktober das örtliche Parteikomitee und die Büros des Innenm<strong>in</strong>isteriums.E<strong>in</strong> provisorisches revolutionäres Arbeiter- und Soldatenkomiteewurde gebildet. Am selben Tag veranstalteten mehrere tausendMenschen vor dem Parteibüro <strong>in</strong> Zalaegerszeg e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>drucksvolle,diszipl<strong>in</strong>ierte Demonstration. Obgleich aus dem Gebäude e<strong>in</strong>ige Schüsseauf die Menge abgegeben wurden, griffen weder die reguläre Polizei nochdie Volksarmee oder die ÁVH e<strong>in</strong>, deren Angehörige am nächsten Tagentwaffnet wurden. Die Häuser und Waffen der ÁVH wurden demArbeiterrat ausgeliefert.In Westungarn wurde Györ zum Mittelpunkt des <strong>Aufstand</strong>s. Im Nordostenwar es die Industriestadt Miskolc, die Distriktshauptstadt vonBorsod, nahe der tschechoslowakischen Grenze, die – welche Ironie desSchicksals – der Geburtsort vieler führenden Kommunisten des Landeswar.Hier hatte es schon seit dem 24. Oktober revolutionäre Unruhengegeben. Bei den Stahlwerken hatte man e<strong>in</strong>en Arbeiterrat gewählt. AmMorgen des 25. Oktober telephonierte e<strong>in</strong> Freund mit Árpád Sultz, e<strong>in</strong>emAugenzeugen: »Es f<strong>in</strong>det e<strong>in</strong>e große Demonstration statt, zu der derArbeiterrat aufgerufen hat.« Er nahm e<strong>in</strong> Taxi und schloß sich demDemonstrationszug an, der gerade auf dem Weg zum Stadtzentrum war.ËÈEs war das schon vertraute, sich ständig wiederholende, erregende Bild:Sprechchöre riefen Parolen, man entfernte die Roten Sterne undschwenkte Nationalfahnen.Bei e<strong>in</strong>er Massenversammlung auf dem Gelände der Universität von439


Miskolc wurde e<strong>in</strong> aus zweiundsiebzig Mitgliedern bestehender ArbeiterundSoldatenrat gebildet. Fünf Stunden lang folgte e<strong>in</strong>e Rede der anderen,während e<strong>in</strong>e große Menschenmenge bei jeder Forderung, die erhobenwurde, applaudierte. E<strong>in</strong>undzwanzig Forderungen wurden aufgestellt:Abzug der Russen, Auflösung der ÁVH und Bildung e<strong>in</strong>er neuenRegierung. Als der örtliche Parteisekretär e<strong>in</strong>e Ansprache halten wollte,wurde er von der Rednertribüne h<strong>in</strong>untergestoßen. Im Verlauf derVersammlung kam es zwischen Armee und Polizei auf der e<strong>in</strong>en und demneuen Rat auf der anderen Seite zu e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>igung. Kurz danach beganne<strong>in</strong> Geheimsender Miskolc mit der Verbreitung der harten Forderungen.Am nächsten Tag, dem 26. Oktober, rotteten sich vor dem Polizeipräsidium<strong>in</strong> Miskolc zahlreiche Menschen zusammen und verlangten dieFreilassung junger Leute, die bei früheren Demonstrationen verhaftetworden waren. Vergeblich wartete der ÁVH-Hauptmann László Csurkeauf Instruktionen, dann verlor er die Geduld. Se<strong>in</strong>e Leute eröffneten dasFeuer auf die Menge, die ause<strong>in</strong>anderstob. Aber bald danach kehrte siezurück, zusammen mit Bergleuten aus Szuhakálló, die mit Dynamitstangenbewaffnet waren. Diese Männer sprengten die Türen desGebäudes und töteten mehrere Offiziere, die sich im Inneren befanden.Anschließend schlug die Menge auf Csurke e<strong>in</strong> und versuchte, ihn zulynchen. Sie verstümmelte se<strong>in</strong>en besten Freund István Mohai. Als dieDämmerung e<strong>in</strong>brach, hatte der Arbeiterrat alles unter Kontrolle. Amnächsten Tag ließ er folgende Erklärung über den Rundfunk verbreiten:»Stal<strong>in</strong>istische Provokateure haben die gerechte Bestrafung durch dasVolk erhalten.«ËÍ Die sowjetische Garnison rührte sich nicht.Nach dem 26. Oktober nahm die Zahl der Rebellensender, die denÄther beherrschten, ständig zu. Radio Pécs und Radio Nyiregyháza fielen<strong>in</strong> die Hände der Aufständischen. Auch der starke Sender Györ wurde vonRebellen übernommen. Er konnte <strong>in</strong> Westeuropa abgehört werden, undse<strong>in</strong>e heißen Themen wurden sofort von der mächtigen Stimme desSenders »Radio Free Europe« wiedergegeben. Später g<strong>in</strong>g auch derSender Mosonmagyaróvár zur anderen Seite über, und nachdem am 27.440


Oktober Radio Szombathely (Ste<strong>in</strong>amanger) <strong>in</strong> revolutionärer Hand war,konnte man die Stimme von »Sender Freies Györ« <strong>in</strong> ganz Westungarnempfangen.Radio Budapest, das se<strong>in</strong>e Sendungen aus e<strong>in</strong>em schwer bewachtenAushilfsstudio verbreitete, war immer noch fest <strong>in</strong> der Hand derFunktionäre. E<strong>in</strong> Dozent der TH berichtete: »In den ersten Tagen derRevolution hörte man nichts anderes, als die Stimme von Szepesi-Friedländer, der verkündete, daß die Polizei wieder ›den und denfaschistischen Konterrevolutionär‹ gefangen habe.«ËÎ Rundfunk und Zeitungendes Regimes hatten jegliche Autorität verloren. Am 26. Oktober,gegen 5.30 Uhr morgens, hatte Radio Budapest e<strong>in</strong>en beschwörendenAppell an die Bevölkerung gerichtet, die Straßen den ganzen Tag nicht zubetreten – mit Ausnahme derjenigen, die für wichtige öffentliche Dienstewie Gas, Elektrizität und Telephon arbeiteten. Der Aufruf wurdemißachtet. Gegen lo Uhr kam es wieder zu schweren Kämpfen, diesesmalam Boráros tér. Daraufh<strong>in</strong> änderte der Rundfunk se<strong>in</strong>en Standpunkt underlaubte der Bevölkerung schließlich doch, auszugehen – um Lebensmittele<strong>in</strong>zukaufen. Als an jenem Morgen das Parteiorgan Freies Volk wiedererschien, beschwor es <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Leitartikel e<strong>in</strong>e unbee<strong>in</strong>druckte Öffentlichkeit,doch nicht zu vergessen, daß die drei neuen ParteisekretäreKádár, Donáth und Gyula Kállai jahrelang <strong>in</strong> Rákosis Gefängnissengesessen hatten. Doch das Déjà-vu-Erlebnis war <strong>in</strong> der Öffentlichkeitvorherrschend.Die wahre Stimme des Volkes war immer deutlicher zu vernehmen <strong>in</strong>heimlich gedruckten revolutionären Zeitungen und Flugblättern. Überalltauchten Handzettel auf, <strong>in</strong> denen die Abdankung des immer nochunsichtbaren M<strong>in</strong>isterpräsidenten Imre Nagy gefordert wurde, den man alsVerräter bezeichnete. Bisher unbekannte neue Zeitungen wurden <strong>in</strong> allerÖffentlichkeit von Zeitungsverkäufern angeboten. Am 26. Oktoberentdeckte Katona e<strong>in</strong> Blatt, das sich Honvéd nannte, und e<strong>in</strong> anderes, dasunter dem Titel Forradálmi Ifjuság [Revolutionäre Jugend] erschien. Esherrschte immer noch politische Übere<strong>in</strong>stimmung l<strong>in</strong>ks von der Mitte.441


Hunderte von Journalisten waren während der Rákosi-Ära verfolgtworden. Nun konnten sie wieder schreiben und publizieren. Am 26.Oktober brachte Géza Losonczy im New-York-Palast se<strong>in</strong> neues BlattMagyar Nemzet [Ungarische Nation] heraus. Auf großes Interesse stießbei der Bevölkerung e<strong>in</strong>e neue Boulevardzeitung, die <strong>in</strong> demselben Hausgedruckt wurde und sich Igazság [Wahrheit] nannte. Herausgeber warGyula Oberszovsky; zu dem etwa e<strong>in</strong> Dutzend Journalisten der Redaktiongehörten László von Zircz, der heute <strong>in</strong> Düsseldorf lebt, und János Bárdi,der jetzt <strong>in</strong> der Bundesrepublik Deutschland e<strong>in</strong>e große Zeitung herausgibt.Zeitungsverleger während e<strong>in</strong>es <strong>Aufstand</strong>s zu se<strong>in</strong>, war e<strong>in</strong> gefährlichesVergnügen: Man hatte die Druckmasch<strong>in</strong>en und das Zeitungspapier,aber ke<strong>in</strong>e Buchhaltung, die die Rentabilität überwachte. DerChefredakteur stand mit den Arbeiterräten <strong>in</strong> telephonischer Verb<strong>in</strong>dung,man bildete sich e<strong>in</strong>e Me<strong>in</strong>ung und druckte sie. »Jeder wußte, was manwollte: Die Russen mußten weg. Alles andere war sekundär«, er<strong>in</strong>nert sichBárdi. Die Wahrheit hatte e<strong>in</strong>en gefährlichen, satirischen Ton – siedruckte spöttische Überschriften über e<strong>in</strong>en Artikel, <strong>in</strong> dem von derPlünderung e<strong>in</strong>es Juweliergeschäftes durch russische Soldaten berichtetwurde: »Konterrevolutionäre Plünderer <strong>in</strong> Budapest, Diebstähle durchbewaffnete Männer . . . « Es waren atemberaubende Tage <strong>in</strong> Budapest.Márton, der stellvertretender Chef redakteur geworden war, standplötzlich e<strong>in</strong>em Fremden gegenüber, der an se<strong>in</strong>emRedaktionsschreibtisch saß und e<strong>in</strong> Gewehr re<strong>in</strong>igte. »Für kollaborierendeJournalisten haben wir ke<strong>in</strong>en Platz«, sagte der fremde Mann und jagteMárton mit vorgehaltener Pistole aus se<strong>in</strong>em eigenen Zimmer.Offensichtlich handelte es sich hier um e<strong>in</strong>e Verwechslung.ËÏAuch die Sozialdemokraten erhielten ihre alte Zeitung Népszava[Volksstimme] wieder. Am 26. Oktober veröffentlichte sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>erAusgabe von nur e<strong>in</strong>er Seite e<strong>in</strong>en Artikel mit e<strong>in</strong>er Balkenüberschrift, <strong>in</strong>dem e<strong>in</strong>e neue nationale Regierung auf breiter politischer Basis gefordertwurde. Dar<strong>in</strong> hieß es: »Die neu zu bildende Regierung muß unverzüglichVerhandlungen mit dem Ziel e<strong>in</strong>es Abzugs der sowjetischen Truppen ausunserem Lande aufnehmen.« Bezeichnenderweise verlangte der Schrift-442


stellerverband lediglich den Rückzug »auf ihre früheren Stellungen«,während die Gewerkschaftsvertreter den »Rückzug . . . aus dem Lande«forderten. E<strong>in</strong> Programm, das Professoren und Studenten entworfenhatten, verlangte sogar »freies Geleit zum Verlassen des Landes fürdiejenigen sowjetischen Soldaten, die auf die Seite des ungarischenVolkes übertraten«.Die Zeitung enthüllte ferner, daß e<strong>in</strong>e Arbeiterdelegation aus demKomitat Borsod erschienen war, um dem M<strong>in</strong>isterpräsidenten bestimmteForderungen zu unterbreiten. Die Meldung stimmte. Es war die erste e<strong>in</strong>erReihe aggressiver Delegationen, die von Stund an Imre Nagy unter Drucksetzten und es ihm unmöglich machten, se<strong>in</strong>e eigene Politik zu treiben:denn diese Delegationen verfügten über e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>dustrielle Muskelkraft, diesie offen ausspielten, <strong>in</strong>dem sie <strong>in</strong> ihrem Gebiet den Generalstreikerklärten. Während e<strong>in</strong>e Arbeiterdelegation aus Borsod unter Führung vonRudolf Földvári persönlich <strong>in</strong> Budapest erschien, schickte der neugewählte Arbeiterrat von Miskolc e<strong>in</strong> Telegramm an Imre Nagy, <strong>in</strong> demse<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>undzwanzig Forderungen aufgeführt waren, die jetzt e<strong>in</strong>en sowjetischenTruppenabzug aus <strong>Ungarn</strong> bis spätestens 1. Januar e<strong>in</strong>schlossen.Unterdessen hatte der »Sender Freies Miskolc« für die Kommune Borsode<strong>in</strong>en Generalstreik für alle Arbeiter <strong>in</strong> nicht lebenswichtigen Betriebenausgerufen, und zwar »unabhängig von Nagys Antwort«.Von nun an schien Nagy ständig Zugeständnisse zu machen, obgleicher immer e<strong>in</strong>en verhängnisvollen Schritt nachh<strong>in</strong>kte. Am 26. Oktober um13 Uhr brachte Radio Budapest Imre Nagys Antwort. Er versprach:»Heute abend oder morgen früh wird e<strong>in</strong>e neue Regierung derpatriotischen Volksfront gebildet.« Um den Rebellen den W<strong>in</strong>d aus denSegeln zu nehmen, versprach Nagy sogar, sämtliche Forderungen desArbeiterrats von Miskolc zu akzeptieren. Dieses Versprechen wurde <strong>in</strong>späteren Nachrichtensendungen nicht mehr erwähnt.ËÌ Um 16.45 wurdee<strong>in</strong>e Verlautbarung des Zentralkomitees verbreitet, die e<strong>in</strong>e noche<strong>in</strong>geschränktere Version enthielt: Die neue PVF-Regierung, die von ImreNagy gebildet wurde, wollte Verhandlungen mit dem Kreml über e<strong>in</strong>enRückzug der sowjetischen Truppen »<strong>in</strong> ihre Garnisonen« aufnehmen,443


sobald Ruhe und Ordnung wiederhergestellt wären. Aber selbst dieseunzureichende Verpflichtung fehlte, als die Verlautbarung des ZK vierStunden später im Rundfunk wiederholt wurde.ËÓAm 26. Oktober fiel auch das rote Csepel, die Industrie<strong>in</strong>sel im SüdenBudapests, <strong>in</strong> die Hände der Rebellen. Das Polizeigebäude wurde gestürmtund die Zellen mit Gewalt geöffnet, um die <strong>in</strong> den vorhergehenden Tagendort e<strong>in</strong>gesperrten Menschen zu befreien. Dann plünderte der Mob dasHaus der Partei. Hier wurde beobachtet, wie die Tochter des Vorsitzendendes Stadtrats, József Kalamár, <strong>in</strong> die Menge schoß und ÁVH-Leute ausden Fenstern feuerten, bevor sie sich im Keller versteckten. Mit Feuerwehrschläuchentrieb man sie aus dem Haus. Das geräumige Gebäudewurde vierundsechzig dankbaren Familien aus Csepel als Wohnraum zurVerfügung gestellt.ËÔScharen bewaffneter und triumphierender Rebellen säuberten dieSlums von Csepel von Funktionären, die ihnen das Leben zur Höllegemacht hatten. Erster auf ihrer Liste war Kalamár selbst: Der e<strong>in</strong>undsechzigjährige,Sohn e<strong>in</strong>es Straßenarbeiters, war seit 1918 Lagerverwalterim Stahlwerk Manfred Weiss hier <strong>in</strong> Csepel gewesen und hatte e<strong>in</strong> langesStrafregister wegen Agitation, Schlägereien und Arbeitsverweigerung, bisdie Werksleitung ihn als Unruhestifter auf die schwarze Liste setzte und ernicht mehr beschäftigt wurde. Zehn Mann verfolgten ihn und entdecktenihn schließlich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Schule <strong>in</strong> der Szent István út Nr. 170 <strong>in</strong> derStadtmitte. Man schleppte ihn <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e leere Wohnung des Hauses Nr. 153und erschoß ihn. Se<strong>in</strong>e Leiche wurde mit Füßen getreten und se<strong>in</strong> Mundmit Sand gefüllt. Es hieß, er habe, als er entdeckt wurde, den Russengerade e<strong>in</strong>e Funkmeldung durchgegeben.ÈÊ Am selben Tage erschien derfünfunddreißigjährige Dreher András Bordás <strong>in</strong> dem stillgelegten Stahlwerk,um se<strong>in</strong>en Lohn abzuholen. Ob das, was nun passierte, deshalbgeschah, weil er als e<strong>in</strong>er der verhaßten Stachanow-Arbeiter den Kossuth-Preis erhalten hatte oder ob er tatsächlich e<strong>in</strong> ÁVH-Mann war, wird <strong>in</strong> denDarstellungen nicht erwähnt. Plötzlich rief jemand: »Das ist der Ávo, dergestern das K<strong>in</strong>d erschossen hat!« E<strong>in</strong>e Beschuldigung war444


gleichbedeutend mit Schuld: E<strong>in</strong> Pistolenschuß ertönte, und auch Bordáswar tot.ÈÁIn der Stadt lichteten sich die Reihen der loyalen Kommunisten. Ine<strong>in</strong>er Wohnung im Vorort Budakeszi wurde der sechzigjährige Direktordes Kriegshistorischen Museums, Sándor Sziklai, der unter dem NamenPéter Ladi für die Sache der Sowjets dreißig Jahre lang auf den Schlachtfeldernvon Zentralasien bis Spanien gekämpft hatte und nach 1948 <strong>in</strong> dieungarische Volksarmee e<strong>in</strong>getreten war, umgebracht – ebenso fielen derlokale Parteisekretär Lajos Kiss und se<strong>in</strong> Schwiegersohn den Rebellenzum Opfer.ÈË Die Aufständischen fegten e<strong>in</strong>e Photographie vomSchreibtisch Sziklais, die er von Ferenc Münnich erhalten hatte, als siebeide 1940 <strong>in</strong> Frankreich <strong>in</strong>terniert waren. Auf die Rückseite hatteMünnich geschrieben: »Konzentrationslager s<strong>in</strong>d nur e<strong>in</strong>e erzwungeneUnterbrechung unseres Weges, aber es bedeutet nicht, daß wir unserenWillen zum Kampf aufgeben.«Die Macht glitt Münnich und se<strong>in</strong>en Leuten aus den Händen. WiePilze schossen überall im Lande Arbeiterräte hervor. Typisch dafür warÓvár, wo den <strong>in</strong> ihrer Fabrik versammelten Arbeitern e<strong>in</strong>e flüchtiggetippte Liste mit Kandidaten ausgehändigt und drei oder vier Namendann <strong>in</strong> geheimer Abstimmung gewählt wurden. Aus diesen Fabrikrätenwurde dann für die ganze Stadt e<strong>in</strong> Arbeiterrat gewählt.ÈÈIn Budapest war es nicht anders. Am 25. Oktober kehrte der WerkzeugmacherFerenc Töke <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Telephonfabrik zurück, nachdem erzwei Tage an den Straßenkämpfen teilgenommen hatte.ÈÍ Der nationaleGewerkschaftsrat SZOT hatte offiziell zur Wahl von Arbeiterräten <strong>in</strong> jederFabrik aufgefordert. Die Arbeiter fügten sich, aber ganz und gar nicht so,wie die Partei es erwartet hatte: In ihrem Kulturhaus versammelten sich800 der 3000 Arbeiter und sahen, daß sich dieselben alten Funktionäre vorihnen auf der Tribüne drängten – Direktor, Parteisekretär und Betriebsrat.Jeder Name, der für den neuen Arbeiterrat vorgeschlagen worden war,wurde von der Versammlung niedergeschrien. Dann wählte manfünfundzwanzig aufrechte Männer aus den eigenen Reihen, darunter auch445


Töke. Diese Männer stimmten auf der Stelle für e<strong>in</strong>en Streik, bis dasRegime ihre Forderungen anerkannt habe: An erster Stelle stand derRückzug der sowjetischen Truppen aus <strong>Ungarn</strong>.Die zentrale Parteiführung geriet aus Furcht vor den politischenGefahren, die ihr durch diese Ad-hoc-Gremien drohte, <strong>in</strong> Panik. So offenwie möglich drängte die Akadémia utca Parteimitglieder, die neuen Arbeiterrätezu unterwandern, und gab dem Parteiapparat <strong>in</strong>nerhalb derGewerkschaften deutlich zu verstehen, daß man die Wahlen nachbewährtem Muster durchführen sollte.ÈÎ Radio Budapest verkündete daraufh<strong>in</strong>,das Zentralkomitee habe »jedem Patrioten und Jugendlichen,jedem Kommunisten« die Aufgabe gestellt, sich den neugebildetenArbeiterräten anzuschließen. »Verliert ke<strong>in</strong>e Zeit, <strong>in</strong> jeder Fabrik, <strong>in</strong>jedem Haus Komitees zur Aufrechterhaltung der Ordnung zu gründen.«ÈÏDie schwerste Bedrohung des Prestiges der Regierung geht von denWiderstandszentren aus, die immer noch die Stellung <strong>in</strong> Budapest halten.Sie werden laufend verstärkt aus dem Inneren des Landes: Am 26.Oktober treffen aus Dorog 290 junge Männer im Alter von sechzehn bise<strong>in</strong>undzwanzig Jahren e<strong>in</strong>; die meisten s<strong>in</strong>d Söhne von Bergleuten.ÈÌ DieStraßen <strong>in</strong> der Hauptstadt bieten e<strong>in</strong> bizarres Bild: Es gibt lange Schlangennach Brot, und auch vor den Lebensmittelgeschäften warten geduldigeMenschen. Aufständische mit Gewehren <strong>in</strong> der Hand hasten an ihnenvorbei. Es gibt große Ansammlungen von Neugierigen, die von e<strong>in</strong>emKampfplatz zum anderen eilen. Beherrscht wird das Straßenbild von denPanzern, die entweder bewegungslos an Verkehrsknotenpunkten wiePanther auf das Rascheln ihres Opfers im Dickicht lauern oder ihreGeschützrohre schwenken, um zu feuern, oder mit rasselnden Panzerkettenvorbeirollen, während oben auf den Fahrzeugen fünfzehn oderzwanzig fahnen- und gewehreschw<strong>in</strong>gende Aufständische hocken, begleitetvon aufgeregten, langhaarigen jugendlichen auf Fahrrädern.Ganz <strong>in</strong> der Nähe ballert das Geschütz e<strong>in</strong>es Panzers. Den Bruchteile<strong>in</strong>er Sekunde später dröhnen die Schallwellen des Knalls gegen dasTrommelfell, und schon fallen die Trümmer der Vorderfront e<strong>in</strong>es446


entfernten Gebäudes krachend auf dem Bürgersteig zusammen. Die Leutestieben ause<strong>in</strong>ander, dann sammeln sie sich wieder und setzen ihren Wegfort. Seit den frühen Morgenstunden des 26. Oktober haben sowjetischePanzer die Kilián-Kaserne, die nun unter dem Kommando von OberstMaléter steht, und die gegenüberliegenden Häuser am Üllöi út mitGranatfeuer belegt.ÈÓ Häuserfronten brechen, große Staubwolken verbreitend,mit dumpfem Krachen zusammen, Molotow-Cocktails zerbersten,MG-Feuer vermischt sich mit dem Schreien der Verwundeten.In der Kaserne brüllt Maléter mit grimmigem Gesicht se<strong>in</strong>en M<strong>in</strong>isteran. Leutnant Péter Gosztony hört, wie er schreit: »Will die Regierung aufdiese Weise die Ordnung <strong>in</strong> Budapest wiederherstellen?« General Bataerwidert irgend etwas, Maléters Miene verf<strong>in</strong>stert sich. »In diesem Fallemuß ich Sie davon <strong>in</strong> Kenntnis setzen, daß ich auf den ersten Sowjetpanzer,der sich der Kilián-Kaserne nähert, das Feuer eröffnen lasse!« Esist pure Angeberei. Se<strong>in</strong>e jungen Soldaten haben kaum Waffen – allenfallsKarab<strong>in</strong>er und Masch<strong>in</strong>enpistolen, aber ke<strong>in</strong>e schweren MGs oder Handgranaten.Er befiehlt den Schützen, auf das Sehrohr der Sowjetpanzer zuzielen, während die Soldaten, die mit Masch<strong>in</strong>enpistolen ausgerüstet s<strong>in</strong>d,auf die die Panzer begleitenden Infanteristen schießen sollen. Aber diesowjetischen Kommandeure riskieren es nicht, Fußsoldaten auf die Straßezu schicken. Der verbissene Widerstand der Insassen der Kilián-Kasernewird <strong>in</strong> der ganzen Stadt bekannt. Unbee<strong>in</strong>druckt von der Tatsache, daßihnen die Kugeln um die Ohren sausen, führen Männer Bauernwagen mitBrot, Fleisch und lebendem Geflügel <strong>in</strong> den Innenhof der Kaserne. DieBauern wollen ke<strong>in</strong>e Bezahlung. Sie wollen aber unbed<strong>in</strong>gt denaußergewöhnlichen Mann sehen.Se<strong>in</strong>e frühere Frau Maria Maléter überquert auf dem Heimweg geradedie Kettenbrücke, als sie e<strong>in</strong>en alten Bekannten aus ihrer HeimatstadtKassa (Kaschau) trifft: »Hast du von dem Oberst <strong>in</strong> der Kilián-Kasernegehört? Niemand weiß, wer er ist, aber man sagt – jeder se<strong>in</strong>er Schüsseerledigt e<strong>in</strong>en russischen Panzer!« Am nächsten Tag weiß die ganze Stadtse<strong>in</strong>en Namen. Das Telephon läutet den ganzen Tag. Das ist der wahre PálMaléter, den sie geheiratet hat. Ihr zehnjähriges Söhnchen Pál möchte am447


liebsten sofort losziehen und bei der Kaserne mitkämpfen – Maria mußihn <strong>in</strong> der Wohnung e<strong>in</strong>schließen. Trotzdem malt er kle<strong>in</strong>e Flugblätter undläßt sie nach unten auf die Straße flattern: »Werft die Russen h<strong>in</strong>aus!« –»Die Russen s<strong>in</strong>d schlecht, glaubt ihnen nicht!«ÈÔAber aus den anderen Ostblockländern gelangen alarmierende Nachrichtennach Budapest. Am Abend des 26. Oktober notiert e<strong>in</strong> amerikanischerBotschaftsangehöriger <strong>in</strong> se<strong>in</strong> Tagebuch, der Militärattaché habeInformationen über die Ankunft neuer sowjetischer Truppen aus derSowjetunion erhalten. Was führt der Kreml jetzt im Schilde?448


32Geteilte SchuldICH BESUCHTE Generaloberst Pawel Iwanowitsch Batow, den Oberbefehlshaberder sowjetischen Truppen, die <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> e<strong>in</strong>marschiert waren. Er istjetzt über Achtzig, vierschrötig und stämmig. Wie bei den meistenGenerälen der Sowjetarmee vermitteln se<strong>in</strong>e steifen Schulterstücke denE<strong>in</strong>druck, als sei e<strong>in</strong> Kleiderbügel <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Uniform vergessen worden. Erhat eisgraues Haar, e<strong>in</strong>e breite, rechteckige Stirn. Die hellen, wäßrigenAugen wirken nahezu farblos, se<strong>in</strong>e straffe Gesichtshaut ist von ledernerBräune, die ausgeprägten Backenknochen geben ihm e<strong>in</strong> f<strong>in</strong>steres,strenges Aussehen. Se<strong>in</strong>e Stimme kl<strong>in</strong>gt befehlend und nachdrücklich. Erspricht <strong>in</strong> vollständigen Sätzen über se<strong>in</strong>e Kriegser<strong>in</strong>nerungen, derenFakten und Zahlen auf fünf abgegriffenen Schreibmasch<strong>in</strong>enseiten vorihm auf dem Tisch liegen.Se<strong>in</strong> Moskauer Büro ist e<strong>in</strong>fach möbliert. Die Fenster haben weißeSpitzenvorhänge, an der Wand hängt e<strong>in</strong>e le<strong>in</strong>ene, zusammenrollbareGeneralstabskarte der deutsch-russischen Front von 1945, auf der derVormarsch se<strong>in</strong>er 65. Armee von Stal<strong>in</strong>grad nach Rostock e<strong>in</strong>gezeichnetist. E<strong>in</strong> Konferenztisch, e<strong>in</strong>e mit hellblauem Leder gepolsterte Tür und e<strong>in</strong>Porträt von Leonid Breschnew vervollständigen die Ausstattung desZimmers, e<strong>in</strong>ige Schaukästen s<strong>in</strong>d mit Orden und Modellen von Waffenund den Siegesdenkmälern von Berl<strong>in</strong> und Warschau gefüllt. Batow hatviele Schlachten geschlagen: Se<strong>in</strong>e sämtlichen Auszeichnungen wiegenzusammen dreie<strong>in</strong>halb Kilogramm, er trägt statt dessen Ordensspangen –zwölf Reihen hat er <strong>in</strong> Schlachten von Spanien bis Stal<strong>in</strong>grad erworben.Unter ihnen entdecke ich den rot-blauen Orden der Oktoberrevolution,449


e<strong>in</strong>e Auszeichnung, die nicht e<strong>in</strong>mal se<strong>in</strong> Verteidigungsm<strong>in</strong>ister besitzt.General Batow verbreitet e<strong>in</strong>e Atmosphäre gewichtiger Autorität. Alsdas Telephon h<strong>in</strong>ter ihm läutet, wendet er nicht den Blick von se<strong>in</strong>emZuhörer ab, er weiß, daß se<strong>in</strong> Sekretär den Hörer abnehmen wird. Anfangsist die Unterhaltung mit ihm freundlich und ungezwungen. Ich lasse ihnzunächst alle<strong>in</strong> reden, um dann behutsam auf die Nachkriegsjahre zukommen, als er Marschall Gretschkos Generalstabschef beim Oberkommandodes Warschauer Paktes war, und dann zum ungarischen<strong>Aufstand</strong> selbst: 1955 wurde General Batow Oberbefehlshaber desWehrkreises Karpathen mit Sitz <strong>in</strong> Lwow (Lemberg); se<strong>in</strong> Wehrkreisumfaßte elf Wehrbezirkskommandos <strong>in</strong> der Ukra<strong>in</strong>e, mit dem WehrkreisKiew auf der rechten und Odessa auf der l<strong>in</strong>ken Seite.In Lwow – bis 1945 polnisch – fühlte er sich zu Hause. »Es war fest <strong>in</strong>sowjetischer Hand«, sagt er lächelnd. »Und ich traf viele me<strong>in</strong>er altenFreunde, die Armeen <strong>in</strong> Bulgarien, <strong>in</strong> der Tschechoslowakei und <strong>in</strong><strong>Ungarn</strong> geführt hatten. Es waren Offiziere, die ich <strong>in</strong> Spanien kennenlernte,wie zum Beispiel den Genossen Hoffmann, den Verteidigungsm<strong>in</strong>isterder Deutschen Demokratischen Republik.«ÁIch greife das Wort <strong>Ungarn</strong> auf. Er versteift sich und beg<strong>in</strong>nt zu»mauern«; se<strong>in</strong>e Stimme wird abweisend. Mehrmals schlägt er fast aufden Tisch – aber er hält mit se<strong>in</strong>er Faust e<strong>in</strong>ige Millimeter vor derTischplatte <strong>in</strong>ne, so als ob Porzellan darauf stünde, das er nicht zerbrechenmöchte.»Es war me<strong>in</strong>e Pflicht, die Befehle me<strong>in</strong>er Vorgesetzten auszuführen,das war alles«, erklärt er nachdrücklich. Ich frage ihn nach se<strong>in</strong>en Er<strong>in</strong>nerungenüber den Ausbruch des <strong>Aufstand</strong>s. Er schildert e<strong>in</strong>en dramatischenTelephonanruf des sowjetischen Verteidigungsm<strong>in</strong>isters Marschall Schukowmitten <strong>in</strong> der Nacht: »Es war am 23. oder 24. Oktober. Schukowsagte zu mir: ›Wenn Sie nicht schnell machen, werden Sie denAmerikanern gegenüberstehen; also: beeilen Sie sich!‹ Zwei Stundenspäter wurden me<strong>in</strong>e Truppen <strong>in</strong> Marsch gesetzt.«Batow überquerte die Grenze und drang bis Szolnok, e<strong>in</strong>er Stadt <strong>in</strong>Ostungarn vor. »Persönlich war ich nicht Zeuge der Kämpfe. Ich befand450


mich <strong>in</strong> Szolnok, als mich der Befehl des Verteidigungsm<strong>in</strong>isterserreichte, nach Lwow zurückzukehren. Me<strong>in</strong>e Truppen wurden demBefehl von Marschall Konjew unterstellt.«Über dem Theiß-Fluß und dem Flugplatz lag dichter Nebel. Batow undse<strong>in</strong> Stab flogen, sich nach dem Gelände orientierend, <strong>in</strong> ger<strong>in</strong>ger Höhezurück. »Aber, Befehl ist Befehl! Das <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> stationierte Armeekorpswurde von General Larschenko geführt. Ich hatte ihn schon gekannt, als er<strong>in</strong> den dreißiger Jahren <strong>in</strong> Moskau noch Zugfuhrer <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Regiment <strong>in</strong>der Proletarischen Division gewesen war. Als die Konterrevolutionausbrach, befahl Larschenko se<strong>in</strong>en Soldaten, sich herauszuhalten, selbstdie Truppen, die von me<strong>in</strong>em und vom Wehrkreis Odessa nach <strong>Ungarn</strong>geschickt worden waren, hatten strikten Befehl, das Feuer nicht zueröffnen; es war ihnen ausdrücklich verboten worden. Während der erstenfünf Tage haben wir nicht e<strong>in</strong>mal zurückgeschossen.«Dies ist zwar stark vere<strong>in</strong>facht, entspricht aber im wesentlichen derWahrheit. Ich erkläre, von mehreren Quellen ungefähr dasselbe erfahrenzu haben. »Ich ents<strong>in</strong>ne mich genau«, fährt Batow mit gerötetem Gesichtfort: »In zwei sowjetischen Städten <strong>in</strong> den Karpathen, Uschgorod undMukatschewo, schlugen wir etwa achtzehn Feldlazarette auf, um die vonden Konterrevolutionären verwundeten Soldaten zu behandeln. Erst spätererwiderten wir das Feuer. Von da an g<strong>in</strong>gen unsere Verluste beträchtlichzurück.«Ich versuche, die Befehlskette von Moskau bis zu den sowjetischenPanzerkommandeuren <strong>in</strong> Budapest zu ergründen. Batow erklärt, daß nachder E<strong>in</strong>schaltung Konjews die Anordnungen des Kreml direkt an dieseng<strong>in</strong>gen.Er er<strong>in</strong>nert sich noch genau an e<strong>in</strong>e ganze Eisenbahnladung ausgebrannterPanzerwracks, die an der Grenzstation von Chop ankamen.»Ich muß Sie bitten, wenn Sie diese Frage untersuchen, nicht zuvergessen, daß wir das Feuer nur erwiderten. Wir warteten lange«, sagteer. Se<strong>in</strong>e Fäuste nähern sich wieder der Tischplatte, diesmal schlägt er zu,daß die Aschbecher klappern. »Wir waren sehr geduldig.«Während me<strong>in</strong>es Besuchs <strong>in</strong> Moskau versuche ich, Juri V. Andropow,451


den sowjetischen Botschafter <strong>in</strong> Budapest aus dem Jahre 1956, zu treffen.Ich weiß, daß er e<strong>in</strong>e dezidierte Me<strong>in</strong>ung darüber hat, wie dieKremlführung die Krise handhabte. Aber er ist gerade sehr beschäftigt.Andropow war e<strong>in</strong>er der <strong>in</strong>telligentesten sowjetischen Diplomaten. Alshoher NKWD-Offizier und als Diplomat sprach er viele Sprachen,darunter auch hervorragend Ungarisch. Da er als Hafenkommandantwährend des Krieges alliierte Geleitzüge abzufertigen hatte, sprach erauch e<strong>in</strong> gutes Englisch – se<strong>in</strong> Interesse galt jedoch vor allem den schönenKünsten; er las gerne Oscar Wilde, wegen dessen e<strong>in</strong>gehender Kenntnisder englischen Klassengesellschaft. Seit 1953 wirkte er an der BudapesterBotschaft, war e<strong>in</strong> enger Freund von M<strong>in</strong>isterpräsident Hegedüs undbekleidete seit 1956 e<strong>in</strong>e Stellung, die etwa der e<strong>in</strong>es Gauleiters <strong>in</strong>besetzten Gebieten glich. Er galt als pro-ungarisch, denn er scheute sichnicht, unter Arbeiter und Bauern zu gehen, um deren wahre E<strong>in</strong>stellung zuerfahren. Andropow hatte wenig Zeit für Imre Nagy, den er für»diszipl<strong>in</strong>los« hielt. Wie János Kádár war Andropow e<strong>in</strong> »Apparatschik«,dem die Macht wichtiger war als die Ideologie der Partei.In Moskau sprach ich jedoch mit e<strong>in</strong>em Beamten, der sich anfolgendes er<strong>in</strong>nerte: »Als ich e<strong>in</strong> ganz junger Diplomat war, im Frühjahr1957, im ersten Semester der diplomatischen Akademie, erschien zuunserem Erstaunen der frühere Botschafter Andropow und hielt uns e<strong>in</strong>enanderthalbstündigen Vortrag über die Ereignisse <strong>in</strong> Budapest und se<strong>in</strong>eeigene Rolle dabei. Andropow war kurz zuvor aus Budapest abberufenworden. Ich und die anderen zwanzig Anwesenden waren erstaunt. Protokollwurde nicht geführt. Energisch auftretend, führte Andropow etwa aus:›Im Leben e<strong>in</strong>es Diplomaten muß man auf alles gefaßt se<strong>in</strong>, auch Ihnen,me<strong>in</strong>e Herren, als künftigen Botschaftern, kann so etwas passieren!‹ Ergab offen zu verstehen, daß er Fehler gemacht hatte, er wollte <strong>in</strong> diesemkle<strong>in</strong>en Kreis die Wahrheit darüber sagen. ›Den <strong>Ungarn</strong> oder gar denWestmächten die Schuld an dem <strong>Aufstand</strong> zuzuschieben, ist nicht richtig‹,sagte Andropow. ›Auch wir Russen haben e<strong>in</strong>en Teil Schuld daran zutragen!‹ «Ë452


Im Oktober 1956 starben <strong>in</strong> Budapest die jungen Soldaten von GeneralBatow, General Larschenko und Juri Andropow. Viele von ihnen wußtenweder, wo sie waren, noch, warum sie dort waren. E<strong>in</strong>ige glaubten, <strong>in</strong>Berl<strong>in</strong> wieder gegen Hitlers »Horden« zu kämpfen. Sterben mußten sie aufjeden Fall. Der schockierte italienische Journalist Ilario Fiore spannte e<strong>in</strong>Notizblatt se<strong>in</strong>er Gesandtschaft <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Olivetti-Reiseschreibmasch<strong>in</strong>eund tippte am 24. Oktober folgendes <strong>in</strong> se<strong>in</strong> Tagebuch: »Um sieben Uhrmorgens kam e<strong>in</strong> Hotelangestellter und sagte, nahe dem Molotow tér –dem Platz unterhalb der Straße, die die Kettenbrücke überquert – lägentote Soldaten, möglicherweise Russen. E<strong>in</strong> britischer Kollege und ichbeschlossen, das anzusehen . . . Die Zeit schritt voran, aber noch hatte sichder Nebel nicht ganz aufgelöst, und man konnte nicht weiter als zehnMeter sehen. Nach e<strong>in</strong>igen M<strong>in</strong>uten waren wir auf dem Platz. An e<strong>in</strong>erEcke lagen die Leichen von vier Soldaten. An der Khakiuniform und demroten Stern an Kragen und Käppi erkannte ich, daß es Russen waren. Sielagen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Reihe entlang der Mauer des Platzes, mit unversehrtenGesichtern, aber e<strong>in</strong>e gewaltige Explosion hatte ihre Uniformen über derBrust aufgerissen, ihre Waffenröcke waren über und über mit Blutbedeckt. Die Aufständischen hatten von e<strong>in</strong>er entfernten Ecke des Platzesaus e<strong>in</strong>en Schützenpanzer mit Handgranaten und Masch<strong>in</strong>engewehrenangegriffen. Während wir noch dort standen, traf e<strong>in</strong>e ungarischeAmbulanz e<strong>in</strong>. E<strong>in</strong>ige Zivilisten <strong>in</strong> Begleitung e<strong>in</strong>es russischen Offiziersstiegen aus und brachten die Leichen fort. Niemand sprach e<strong>in</strong> Wort, aberder sowjetische Hauptmann war schweißbedeckt, er konnte se<strong>in</strong>e Gefühlekaum verbergen.«Dies war erst der Anfang der sowjetischen Verluste jenes Tages: »Wirstanden gerade vor dem Donau-Hotel, als e<strong>in</strong>e russische Panzerpatrouille<strong>in</strong> Richtung Molotow tér vorüberrollte, wo die vier Soldaten getötetworden waren . . . der Spitzenpanzer mußte am Ufer e<strong>in</strong>ige Meter vor demPlatz stoppen, während der letzte etwa zwanzig Meter vor der Stelle, wowir <strong>in</strong> Deckung gegangen waren, anhielt. E<strong>in</strong> sowjetischer Soldat aus demletzten Panzer ergriff e<strong>in</strong> Gewehr und spähte nach vorne: <strong>in</strong>zwischenlichtete sich der Nebel – durch e<strong>in</strong>en aus Buda aufkommenden W<strong>in</strong>d. Der453


Russe bemerkte nicht die drei oder vier Aufständischen, die aus e<strong>in</strong>emGäßchen zur Rechten kamen, fachmännisch <strong>in</strong> Deckung g<strong>in</strong>gen und aufihn zielten. E<strong>in</strong>en Augenblick später traf ihn e<strong>in</strong>e Salve direkt <strong>in</strong> die Brust,während e<strong>in</strong>e zweite die Wände und Reifen des Schützenpanzers durchlöcherte.Die Aufständischen warteten nicht, bis der Panzerturm des T-34zu ihnen herumschwenkte – sie verschwanden <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e der Seitenstraßen.E<strong>in</strong> Trupp Soldaten sprang aus den Fahrzeugen und rannte vorbei, umdem verwundeten Kameraden zu helfen. Sie holten ihn herunter undtrugen ihn zu der Stelle, wo wir vor den Kugeln <strong>in</strong> Deckung gegangenwaren. Die drei Soldaten, die ihren sterbenden Kameraden trugen,warteten auf den Stufen des DonauHotels, während me<strong>in</strong> britischerKollege und ich versuchten, die Drehtür für sie zu öffnen – sie hatten unsZeichen gemacht, daß sie ihn h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>tragen wollten. Der Soldat stöhnte,se<strong>in</strong>e Brust war aufgerissen, er blutete auch am Hals; aber es gelang nicht,ihn durch die Drehtür zu br<strong>in</strong>gen – wegen se<strong>in</strong>er Waffen oder wegense<strong>in</strong>er gespreizten Arme und Be<strong>in</strong>e. Der Zwischenraum war nicht breitgenug, sie mußten ihre Bemühungen aufgeben. Das Blut lief noch immerauf die Stufen, und als sie den armen Kerl niedersetzten, fielen Fleischstückevon ihm ab. ›Es ist die Leber‹, sagte e<strong>in</strong>er der Umstehenden.Niemals hätte ich gedacht, daß so viel Blut aus e<strong>in</strong>em Körper strömenkann. Die Trage mit dem sterbenden Mann wurde abgesetzt, jemand g<strong>in</strong>gfort, um e<strong>in</strong>en Arzt zu holen. Der Sterbende wiederholte immer wieder e<strong>in</strong>e<strong>in</strong>ziges Wort. Ich fragte jemand, den ich mit e<strong>in</strong>em Sowjetoffizier hatteRussisch reden hören, was das Wort bedeute. ›Mutter‹, sagte er,›Mutter‹.«ÈDie kämpfende Hauptstadt war erfüllt von widersprüchlichenGerüchten. E<strong>in</strong>ige besagten, es kämen immer mehr Russen <strong>in</strong>s Land,andere, die Sowjets zögen ab. Durch Flüsterpropaganda wurde diegespenstische Behauptung verbreitet, die SS-Division »Hunyadi« seibereit, <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> e<strong>in</strong>zufallen; andere aufgeregte Jugendliche behaupteten,mit Bestimmtheit erfahren zu haben, die deutsche Bundeswehr sei bereits<strong>in</strong> Österreich und stünde unmittelbar vor dem E<strong>in</strong>marsch <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong>. Diesowjetischen Soldaten schienen nicht besser <strong>in</strong>formiert zu se<strong>in</strong>. »Woher454


kommt Ihr?« fragte e<strong>in</strong> Student e<strong>in</strong>en sowjetischen Soldaten.Í »Aus demKaukasus!« – »Warum kämpft Ihr?« Der Soldat zeigte auf das russischeKriegerdenkmal jenseits des Flusses auf dem GellertBerg. »Sa mir! Fürden Frieden!«Hartnäckig hielten sich Gerüchte, russische Soldaten seien desertiertund <strong>in</strong> Massen <strong>in</strong>s antisowjetische Lager übergelaufen. Der DolmetscherGyörgy Lovas beobachtete, wie zwölf Sowjetpanzer und e<strong>in</strong>e Lastwagenkolonneauf der Budaer Seite der Margaretenbrücke ankamen.Î Offenbarkonnten sie nicht weiter und blieben stehen. Später sah er, daß dieselbenPanzer ungarische Fahnen gehißt hatten.Der italienische Gesandte Fabrizio Franco schrieb am 25. Oktober <strong>in</strong>se<strong>in</strong> Tagebuch: »Artillerie- und Gewehrfeuer erreichten um halb elf Uhrvormittags e<strong>in</strong>en Höhepunkt, dann kam es zu e<strong>in</strong>er regelrechten Schlacht.In diesem Augenblick erfuhren wir, daß sich die sowjetischen Panzerbesatzungenmit den Rebellen verbrüderten und daß sich an der Kettenbrückedie Russen gegenseitig beschossen.« Francos Quelle war offenbarder Journalist Fiore, der selbst Zeuge dieser Szene war. Fiores eigenerBericht, der an diesem Tag geschrieben wurde, vermeldet: »Ich war aufdem Weg zur Residenz des italienischen Gesandten Franco <strong>in</strong> Buda, alsh<strong>in</strong>ter dem Tunnel, der sich vor der Brücke zum Platz h<strong>in</strong> öffnet, e<strong>in</strong> Zugunbewaffneter Demonstranten anhielt. Zwischen den <strong>Ungarn</strong> und dennagelneuen russischen Panzern, die vor der Brücke standen, war kaumfünfzig Meter Abstand. Die russischen Soldaten bemannten die Panzertürmeihrer T-34, die Geschütze wurden ausgerichtet. Ich erwartete jedenAugenblick, daß sie das Feuer eröffnen würden. Am anderen Ende derBrücke, <strong>in</strong> Pest, war e<strong>in</strong>e wütende Schlacht im Gange. E<strong>in</strong> neuer kritischerAugenblick schien angesichts des heftigen Masch<strong>in</strong>engewehrfeuers derSowjets gekommen – es hatte den Ansche<strong>in</strong>, als hätte die russische Armeenach vierundzwanzigstündigem Zögern beschlossen, die Rebellen zuvernichten. Der Demonstrationszug der <strong>Ungarn</strong> näherte sich langsam denPanzern, als plötzlich das ›Wunder‹ geschah: Die Russen stiegen vonihren Panzern herunter und w<strong>in</strong>kten den <strong>Ungarn</strong>, als wollten sie siee<strong>in</strong>laden, ohne Furcht näher zu kommen. Sie mischten sich unter die455


Menge, sprachen mite<strong>in</strong>ander, und schließlich konnte man sehen, wieZivilisten zusammen mit den Soldaten auf die Panzer stiegen und dieselangsam herumschwenkten, bis sie das andere Ende der Brücke im Visierhatten. E<strong>in</strong> wenig später, während ich noch die historische Szeneungläubig beobachtete, eröffneten Kanonen und Masch<strong>in</strong>engewehre derPanzer das Feuer gegen Pest, wo wiederum andere sowjetische Soldatenam Ufer auf die Nester der Rebellen <strong>in</strong> diesem Gebiet feuerten. ZehnM<strong>in</strong>uten lang erzitterte die Stadt von diesem Duell zwischen jenen beidengegensätzlichen Fraktionen der russischen Armee, von denen e<strong>in</strong>e denaußergewöhnlichen Entschluß gefaßt hatte, dem ungarischen Volk bei derBefreiung se<strong>in</strong>es Landes von der Unterdrückung zu helfen.«Viele Menschen waren der Me<strong>in</strong>ung, selbst solche Verbrüderungenerlebt zu haben, und e<strong>in</strong>ige <strong>Ungarn</strong>, die zusammen mit zum Todeverurteilten sowjetischen Offizieren im Gefängnis sagen, bestätigtenspäter diese These. Außerdem sprachen zahlreiche Leute so gut Russisch,daß sie sich mit den sowjetischen Soldaten unterhalten konnten. BischofPéterfalvy hatte die Sprache <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em sibirischen Arbeitslager gelernt:»Ich habe mit e<strong>in</strong>em russischen Soldaten gesprochen, der zu den <strong>Ungarn</strong>übergelaufen war. Er hatte se<strong>in</strong>en Lastwagen gegen drei Flaschen Rume<strong>in</strong>getauscht.«Aber was wie e<strong>in</strong>e Verbrüderung aussah. war häufig nur e<strong>in</strong> Trick derPanzerkommandanten. Es gibt e<strong>in</strong> ungarisches Sprichwort: »Du kannste<strong>in</strong>en Russen <strong>in</strong> Butter und Brösel braten, aber er wird immer e<strong>in</strong> Russebleiben.«Ï Viele Besatzungen waren tagelang nicht aus ihren Panzernherausgekommen. Als die Kämpfe ihren Höhepunkt erreichten, stank es <strong>in</strong>den Panzern nach Exkrementen, die Vorräte wurden knapp, die Stimmungder Truppe war schlecht, und sie waren den Molotow-Cocktails hilflosausgeliefert. Die e<strong>in</strong>zige Alternative zur Kapitulation bestand dar<strong>in</strong>,Verbrüderung vorzutäuschen. E<strong>in</strong>er Quelle zufolge hatten dieKommandeure tatsächlich e<strong>in</strong>en solchen Befehl erteilt: Wenn Treibstoff,Proviant oder Munition ausgeht, lächelt den E<strong>in</strong>heimischen freundlich zu– und wartet, bis Nachschub kommt.ÌEs gab nur e<strong>in</strong>ige wenige wirkliche Überläufer. In Cegléd ließ der456


ussische Ortskommandant die Rebellen wissen, daß er nicht e<strong>in</strong>greifenwerde (er gehörte zu denen, die später h<strong>in</strong>gerichtet wurden).Ó An densowjetischen Kasernen <strong>in</strong> Szombathely h<strong>in</strong>gen Plakate mit der Aufschrift:»Wir werden nicht schießen, schießt nicht auf uns.« Westliche Zeitungenmit ihrem Wunschdenken, übertrieben diese D<strong>in</strong>ge jedoch weit über ihretatsächliche Bedeutung h<strong>in</strong>aus. In Györ sollen die Russen die Rebellenangeblich mit schweren Waffen versorgt haben. Diese Art von Legendenwurden von dem CIA-Bürochef <strong>in</strong> Wien entlarvt: Oberst Peer de Silvaerklärte, die Flüchtl<strong>in</strong>ge würden jeden sowjetischen Soldaten, den manunter ihnen entdeckt hätte, gelyncht haben. »Das CIA-Hauptquartier hattesich von dem Fieber jener Tage anstekken lassen und wurde e<strong>in</strong>begeisterter Anhänger dieser Schule e<strong>in</strong>es schöpferischen Journalismus«,berichtete er später. »Man deckte mich mit Fragen e<strong>in</strong>. Als ich bis <strong>in</strong>skle<strong>in</strong>ste nachwies, warum es ke<strong>in</strong>e sowjetischen Überläufer gegeben habe,erhielt ich lediglich die gereizte Antwort, ich sei nicht energisch genuggewesen.«ÔIn Wash<strong>in</strong>gton D.C. war Frühstückszeit, e<strong>in</strong> langes tödliches Schweigenbegann. Von der Budapester Gesandtschaft waren ke<strong>in</strong>e authentischenBerichte mehr gekommen, und es sollte fast achtzig Stunden dauern,bevor dieses Schweigen gebrochen wurde.In Budapest schrieb man den 26. Oktober. Es war 15 Uhr. SpencerBarnes hörte, daß die schweren Kämpfe <strong>in</strong> der Stadt andauerten, nur imUmkreis der amerikanischen Gesandtschaft war es noch ruhig. Vonse<strong>in</strong>em Schreibtisch aus sprach er gegen e<strong>in</strong>e Mauer des Schweigens,se<strong>in</strong>e unbeförderten Telegramme häuften sich vor ihm auf. Nach se<strong>in</strong>erpersönlichen Me<strong>in</strong>ung war es Zeit für Wash<strong>in</strong>gton, e<strong>in</strong> großes Risiko aufsich zu nehmen: E<strong>in</strong> Rebellenführer hatte mit der Gesandtschaft Kontaktaufgenommen. Er nannte sich Chef e<strong>in</strong>er »provisorischen Revolutionsführung«.Je länger Eisenhower e<strong>in</strong>er Entscheidung auswich, um sosicherer standen die Rebellen vor der Vernichtung oder vor e<strong>in</strong>erAmnestie – e<strong>in</strong>e Alternative, die Barnes als schlimm bezeichnete.ÁÊ Durch»völlige Untätigkeit«, führte er aus, würden die Vere<strong>in</strong>igten Staaten die457


sowjetische Niederschlagung des <strong>Aufstand</strong>s praktisch gutheißen. Es warBarnes nicht entgangen, daß Frankreich diese Sache vor die Vere<strong>in</strong>tenNationen gebracht hatte. Er schrieb: »Gesandtschaft ist ganz entschiedender Me<strong>in</strong>ung . . . daß US-Regierung diesen Fall vor UN br<strong>in</strong>gen sollte undihren ganzen E<strong>in</strong>fluß aufbieten muß, um die Weltme<strong>in</strong>ung zumobilisieren.« Die Zeit sei reif zu überlegen, wie man den Rebellen offenmaterielle Unterstützung gewähren könnte – »angesichts dieser heftigenReaktion gegen die sowjetische Herrschaft ist e<strong>in</strong> gewisses Risikogerechtfertigt«.ÁÁAber wie? E<strong>in</strong>ziger nichtkommunistischer Nachbar <strong>Ungarn</strong>s warÖsterreich. Es war neutral, und ke<strong>in</strong>e Macht konnte weder auf dem Landnochauf dem Luftwege Soldaten und Munition durch österreichischesGebiet schaffen. Das Ganze war e<strong>in</strong>e Frage, mit der sich nur der NationaleSicherheitsrat <strong>in</strong> Wash<strong>in</strong>gton beschäftigen konnte. Se<strong>in</strong>e Aufgabe war es,Empfehlungen über die Koord<strong>in</strong>ation <strong>in</strong>nen-, außen- und militärpolitischerProbleme zu geben. Gewöhnlich trat der Nationale Sicherheitsratdonnerstags zusammen, aber Eisenhower war mitten <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Wahlfeldzug,und so trat der Rat erst am Freitag morgen, dem 26. Oktober, imKab<strong>in</strong>ettssaal des Weißen Hauses zusammen. Erster Punkt der Tagesordnungwar: »Wichtige weltpolitische Entwicklungen, die die Sicherheit derUSA berühren.« Berichterstatter war Allen Dulles als Direktor der CIA:Er <strong>in</strong>formierte das Dutzend ernster Männer am Konferenztisch über diejüngsten Geheimberichte aus Polen, <strong>Ungarn</strong> und dem Nahen Osten.(Später erzählte er: »Wenn die Lagebesprechung irgendwie spannend waroder e<strong>in</strong>e drohende Krise im Lande X erläutert wurde, konnte esvorkommen, daß jemand sagte: ›Was sollen wir dagegen tun?‹ und ichsagte dann: ›Nun, das ist nicht me<strong>in</strong>e Sache, das ist Sache des Außenm<strong>in</strong>isters.‹« Außenm<strong>in</strong>ister war natürlich der andere Dulles, die Folgewar Gelächter am Konferenztisch.) Das Planungsbüro des NationalenSicherheitsrates wurde von Eisenhower angewiesen, e<strong>in</strong>e umfassendeAnalyse der Entwicklung <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> und Polen sowie über verschiedeneMöglichkeiten des Handelns vorzubereiten. An diesem Tag war niemand<strong>in</strong>nerhalb der Runde dafür, irgendwelche Schritte zu unternehmen. Harold458


Stassen warnte davor, jegliches Handeln könnte bei den Russen die Furchtwecken, der Westen wolle versuchen, <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> festen Fuß zu fassen.ÁËUngefähr zur selben Zeit, aber Tausende Meilen von diesem Schauplatzentfernt, machte sich Tom Rogers von der amerikanischen Gesandtschaftauf den Weg, um e<strong>in</strong>en Kollegen über den Fluß nach Buda zubr<strong>in</strong>gen. Dort errichteten die Aufständischen, ohne von Regierungstruppengeh<strong>in</strong>dert zu werden, ihre Barrikaden. Anton Nyerges, der Informationsoffizier,wollte noch vor E<strong>in</strong>bruch der Dunkelheit nach Hause. Sie fuhrenmitten durch den russisch besetzten Sektor – vorbei an den Panzern, diedas Parlament, das Innen- und das Verteidigungsm<strong>in</strong>isterium verteidigtenund Brückenköpfe auf dieser Seite des Flusses hielten. In ihremKombiwagen, mit der über der Motorhaube befestigten amerikanischenFahne, trafen sie auf nur ger<strong>in</strong>gen Zivilverkehr. An der Margaretenbrückewurden ihre Ausweispapiere durch russische und ungarische Patrouillenkontrolliert, dann manövrierte Rogers den Wagen vorsichtig zwischenzwei Panzern, deren Kanonen auf die andere Seite des Flusses gerichtetwaren, h<strong>in</strong>durch und fuhr nach Buda h<strong>in</strong>über.Auf Budaer Seite der Brücke sah es völlig anders aus. Die Brücke warunbewacht, <strong>in</strong> der Mártírok utca strömten fröhliche Menschen über denPlatz, als sei es e<strong>in</strong> Sonntagnachmittag im Frühl<strong>in</strong>g. Man klatschte undw<strong>in</strong>kte, als man die amerikanische Fahne sah. Am Széna tér, <strong>in</strong> der Näheder Baugruben für die neue Untergrundbahn, hatte man e<strong>in</strong>e Straßensperreaus Pflasterste<strong>in</strong>en und drei umgekippten Eisenbahnwaggons errichtet, diewährend der Nacht auf Straßenbahnschienen herangeschafft wordenwaren. Die Barrikade war bewacht von »gyennekek« – verschmutzten undf<strong>in</strong>ster entschlossenen Jugendlichen, die mit Gewehren und Handgranatenherumfuchtelten. Sie hielten den Kombiwagen an, prüften dieamerikanischen Ausweispapiere und durchsuchten die im Wagenmitgeführten Schlafsäcke nach versteckten Waffen. Dann fragten sie nachNeuigkeiten – Nachrichten von den Kämpfen <strong>in</strong> der Stadt und von derAußenwelt.Auf dem nächsten Platz entdeckte Rogers, daß der unpopuläre459


Nachkriegsname des Moszkva tér frisch übermalt worden war. AmSchloßberg ließ Rogers se<strong>in</strong>en Kollegen Nyerges aussteigen, dessenWohnung bald danach von sowjetischer Artillerie zerstört wurde, er fuhrdie steile, sich schlängelnde Straße wieder h<strong>in</strong>unter. Die Menschenmengewar <strong>in</strong>zwischen mutiger geworden. Rufe ertönten: »Wann wird unsAmerika helfen?« – »Was unternehmen die Vere<strong>in</strong>ten Nationen?« –»Wann kommt Hammarskjöld?«Vor se<strong>in</strong>em Haus sah Rogers se<strong>in</strong> K<strong>in</strong>dermädchen Marika und e<strong>in</strong>eMenschenmenge, die sich um e<strong>in</strong>en leichenblassen jungen Mann scharte.Marika hatte den »gyermekek« auf dem Széna tér Kaffee und Bettlakengebracht, die man zu Verbänden für die Verwundeten ause<strong>in</strong>anderriß.Außerdem hatte man sie gebeten, Kognak für diesen Mann zu besorgen,der von e<strong>in</strong>em vorbeifahrenden Sowjetpanzer angeschossen worden war.Sie hatte etwas Alkohol aus den Getränkeschrank des Diplomaten geholt.Rogers brachte den Verwundeten <strong>in</strong> der Wohnung e<strong>in</strong>es Freundes <strong>in</strong>Sicherheit. Schweigend fuhr er dort h<strong>in</strong>. Die beiden hatten sich kaumetwas zu sagen – der verwundete Aufständische und der amerikanischeDiplomat.Um 17.50 Uhr rief Eisenhower Außenm<strong>in</strong>ister Foster Dulles an. Ikesagte: »Ich habe darüber nachgedacht, was Stassen heute morgen <strong>in</strong> derKonferenz gesagt hat.« Er hatte das Gefühl, daß es den <strong>Ungarn</strong> vielleichtnicht so schlechtgehen würde, wenn man dem Kreml verläßlich erklärte,daß er ke<strong>in</strong>en Grund zu der Befürchtung habe, die NATO würdeversuchen, die angrenzenden Länder ihrem eigenen System anzugliedern.Deshalb sah es Eisenhower als wichtig an, solche Befürchtungen desKreml unverzüglich und vollständig zu zerstreuen. »Ich frage mich«, sagteer zu Dulles, »ob wir erklären sollten, daß wir ke<strong>in</strong> Interesse an diesenGebieten haben.« Er wußte nicht, <strong>in</strong> welcher Form man dies tun könne –vielleicht konnte es Mr. Dulles selbst <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Ansprache erwähnen, die eram nächsten Abend <strong>in</strong> Dallas halten wollte: »Es kann ke<strong>in</strong>e Rede davonse<strong>in</strong>, daß der Westen die Absicht hat, die <strong>Ungarn</strong> zu bee<strong>in</strong>flussen . . . Aberwenn sie dieselbe Freiheit genießen könnten, wie jetzt die Menschen <strong>in</strong>460


Österreich . . . «ÁÈAm selben Abend um 18.30 Uhr rief Foster Dulles UN-BotschafterCabot Lodge <strong>in</strong> New York an und empfahl, <strong>in</strong>offiziell mit den Russen imWeltsicherheitsrat <strong>in</strong> diesem S<strong>in</strong>ne zu sprechen. (Er erwähnte auch Vermutungenüber gewisse Pläne Großbritanniens, Frankreichs und Israels.»Es sieht auf der ganzen L<strong>in</strong>ie schlecht aus. Wir wissen nicht, was dieEngländer und Franzosen bei ihren letzten Verhandlungen vere<strong>in</strong>barthaben, aber ich glaube, sie werden kämpfen.«) H<strong>in</strong>sichtlich <strong>Ungarn</strong>serörterten die Franzosen und Engländer mit den Vere<strong>in</strong>igten Staaten dieMöglichkeit, den Fall vor den Weltsicherheitsrat zu br<strong>in</strong>gen. Lodgebetonte: »Wir werden viel verlieren, wenn wir nichts unternehmen.« E<strong>in</strong>ehalbe Stunde später rief Dulles Präsident Eisenhower an: »Ich habe mirGedanken über Ihre Worte gemacht und möchte gerne wissen, ob Siedamit e<strong>in</strong>verstanden s<strong>in</strong>d, wenn ich etwas <strong>in</strong> dem S<strong>in</strong>ne sage, daß wir alleihre wahre Unabhängigkeit wünschen und daß diese Unabhängigkeit dieeuropäische Situation und das Problem der europäischen Sicherheitverändern würde.« Eisenhower war e<strong>in</strong>verstanden. »Nach den Abendzeitungensieht es so aus, als ob der <strong>Aufstand</strong> sich ausbreitet.« Dulleskündigte an, er werde Selwyn Lloyd e<strong>in</strong> Kabel schicken mit derdr<strong>in</strong>genden Empfehlung, den Fall <strong>Ungarn</strong> vor den Weltsicherheitsrat zubr<strong>in</strong>gen, um den Amerikanern die Gelegenheit für private Gespräche mitden Russen zu geben. Eisenhower stimmte zu: »Sagen Sie Lloyd, es seifurchtbar, aber wir würden unsere Pflicht versäumen, wenn wir nichtsunternehmen.«Nach drei Tagen hat sich der Charakter der Straßenkämpfe verändert.Von den 15.000 Studenten, die ursprünglich auf die Straße gegangen s<strong>in</strong>d,haben sich etwa zwei Drittel zurückgezogen. Die Männer, die jetzt mitGewehren und Molotow-Cocktails herumhantieren, s<strong>in</strong>d größtenteils mitLederjacken bekleidete Schläger und Rowdies aus den IndustriegebietenAngyalföld und Ferencváros. E<strong>in</strong> Zeuge erklärt: »Sie strebten nicht nachidealistischen Zielen. Die Gründe ihrer Heldentaten waren Abenteuerlustund die Tatsache, daß sie die Kämpfe als e<strong>in</strong>e Art Sport betrachteten.«ÁÍ461


Achtzig bis neunzig Prozent aller verwundeten Rebellen, die <strong>in</strong> Krankenhäusernbehandelt wurden, waren Jungarbeiter, weniger als fünf ProzentStudenten.ÁÎ E<strong>in</strong> Gynäkologe <strong>in</strong> mittleren Jahren sagte zu se<strong>in</strong>er Frau <strong>in</strong>e<strong>in</strong>em österreichischen Flüchtl<strong>in</strong>gslager: »Das s<strong>in</strong>d ja ganz furchtbareLeute hier – das, was wir ›proli‹ zu nennen pflegten,Lumpenproletariat.«ÁÏAuch nach dreitägigen Straßenkämpfen gibt es unter den Rebellennoch immer ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>heitliche Führung, obgleich e<strong>in</strong>zelne Gruppen sichbereits zusammenschließen. Die Stal<strong>in</strong>isten hatten schon vor langer Zeitdie Opposition liquidiert, die meisten Antikommunisten von Bedeutungwaren längst <strong>in</strong>s Ausland geflüchtet. Es gab zahlreiche frühere politischeGefangene, aber diejenigen, die im Land geblieben waren, konnten sichnicht e<strong>in</strong>igen. Der Lastwagenfahrer Zoltán Benkö, e<strong>in</strong> früherer Insasse desKonzentrationslagers Recsk, g<strong>in</strong>g <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Theater, wo e<strong>in</strong> Treffen frühererpolitischer Gefangener stattfand.ÁÌ »Die Szene auf der Bühne warunglaublich«, erzählte er später se<strong>in</strong>em Interviewer. »Die Leute ranntendurche<strong>in</strong>ander, rempelten e<strong>in</strong>ander an und rissen sich gegenseitig dasMikrophon aus der Hand . . . E<strong>in</strong> Freund griff zum Mikrophon, übergab esmir und verkündete, daß ich etwas zu sagen wünschte.« Benkö sah sichplötzlich zum Vorsitzenden gewählt. Se<strong>in</strong>e Aktivitäten führten zu nichts.Die <strong>in</strong>tellektuellen Reform-Kommunisten – Schriftsteller und Journalisten– spielten fast überhaupt ke<strong>in</strong>e Rolle bei der Führung des <strong>Aufstand</strong>s;sie waren die »Niemande« dieser Revolution. Sie waren lediglichSchreiberl<strong>in</strong>ge, die mit ihren Lobpreisungen Stal<strong>in</strong>s nur dazu beigetragenhatten, Ketten für ihre weniger gebildeten Landsleute zu schmieden. Eswaren die Redakteure, die durch ihre freiwillige Zensur geholfen hatten,auch die letzten Ventile der allgeme<strong>in</strong>en Unzufriedenheit zu verschließen,so daß e<strong>in</strong>e Explosion des ganzen kommunistischen Dampfkessels diee<strong>in</strong>zige Lösung war. Zwei Tage nach Beg<strong>in</strong>n des <strong>Aufstand</strong>s brachten diekommunistischen Schriftsteller und Intellektuellen ängstlich stotternd ihreEntrüstung zum Ausdruck, aber ihr kümmerlicher Protest wurde von denunbesungenen, e<strong>in</strong>fachen und vergessenen Menschen zunichte gemacht,die aus der dunklen Anonymität der Gefängnisse aufgetaucht waren, um462


Führer der Revolution zu se<strong>in</strong>.E<strong>in</strong> solcher Mann war József Dudás.ÁÓ Niemand hatte je zuvor vonihm gehört; und auch heute kennen nur wenige Menschen <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong>se<strong>in</strong>en Namen. Am 3. Dezember 1956 hatte ihn die Prawda alsSchlüsselfigur des »konterrevolutionären Putsches« bezeichnet. Nochimmer erweckt se<strong>in</strong> Name Haß bei den L<strong>in</strong>ken. An e<strong>in</strong>er Stelle heißt esvon ihm: »Er brachte das Körnchen Wahns<strong>in</strong>n mit, das <strong>in</strong> jeder Revolutionkeimt.«ÁÔ Ferenc Ilosvay, der l<strong>in</strong>ksorientierte Journalist derMontagsnachrichten, behauptete: »Er war e<strong>in</strong> Abenteurer, e<strong>in</strong> Autokrat.Er terrorisierte und plünderte. In se<strong>in</strong>em Hauptquartier befand sich e<strong>in</strong>H<strong>in</strong>richtungsraum.« (Aber Ilosvay erzählte später se<strong>in</strong>en Interviewern mitTränen <strong>in</strong> den Augen, wie se<strong>in</strong>e eigene Frau und se<strong>in</strong>e K<strong>in</strong>der vonrussischen Panzern getötet wurden und er sie mit se<strong>in</strong>en eigenen Händenbegraben hatte. Dabei war er nicht e<strong>in</strong>mal verheiratet, geschweige dennVater).ËÊ Der ehemalige kommunistische Journalist und Jude Tamás Aczélbehauptete, Dudás habe sich den Antisemitismus nutzbar gemacht – aberer übersah, daß Dudás mehrere Juden für se<strong>in</strong>e revolutionäre Zeitungarbeiten ließ.ËÁ »Dudás war nur e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er Kondottiere. In se<strong>in</strong>emHauptquartier stand e<strong>in</strong> Tisch, auf dem Geld, Pistolen undMasch<strong>in</strong>enpistolen zwischen zwei Kerzen lagen. Er hat die furchtbarstenH<strong>in</strong>richtungen durchgeführt.«Die Zahl der Legenden über József Dudás war Legion. Aber selbst dieWahrheit ist ungewöhnlich. Er war kräftig gebaut, wie e<strong>in</strong> Automechanikerirgende<strong>in</strong>er Kraftfahrzeugwerkstatt, von dunkler Gesichtsfarbe, er hattedie scharfen Gesichtszüge e<strong>in</strong>es Fußballtra<strong>in</strong>ers. Er war <strong>in</strong> Siebenbürgengeboren, e<strong>in</strong> gelernter Masch<strong>in</strong>enbau<strong>in</strong>genieur. (Im Weißbuch desRegimes hieß es später: »Er war angeblich Ingenieur, aber wo, wann undwie er se<strong>in</strong> Diplom bekommen hatte, bleibt e<strong>in</strong> Rätsel.«) Zehn se<strong>in</strong>erdreiundvierzig Jahre hatte er aus politischen Gründen im Gefängnisverbracht. Die Rumänen sperrten ihn 1936 wegen se<strong>in</strong>er Zugehörigkeitzur illegalen Kommunistischen Partei sieben Jahre e<strong>in</strong>. Davon verbrachteer, nach e<strong>in</strong>em mißglückten Fluchtversuch, zwei Jahre <strong>in</strong> Ketten.ËË Nachse<strong>in</strong>er Entlassung g<strong>in</strong>g er nach Budapest <strong>in</strong> den Untergrund gegen die463


Nazis. E<strong>in</strong> Jahr später, im September 1944, schickte ihn das Horthy-Regime als Vertreter der Widerstandsbewegung zu geheimen Waffenstillstandsverhandlungennach Moskau.ËÈ Nach dem Kriege brach er jedochmit der Kommunistischen Partei und kandidierte im August 1945 bei denKommunalwahlen für die Partei der Kle<strong>in</strong>landwirte, auf deren Liste ere<strong>in</strong>en Sitz im Budapester Stadtrat erlangte. E<strong>in</strong> siebenundzwanzigjährigerJournalist, der für se<strong>in</strong>e revolutionäre Zeitung arbeitete, berichtete: »Erwar e<strong>in</strong>e der wenigen Persönlichkeiten, die nicht vom Stal<strong>in</strong>ismusverdorben worden waren.«ËÍ E<strong>in</strong> Jahr später war er wieder politischerGefangener, der aufgrund derselben falschen Beschuldigungen verurteiltwurde wie se<strong>in</strong> Kampfgefährte Béla Kovács (»konterrevolutionäre Verschwörungzum Sturz der Regierung«). László Rajk ließ se<strong>in</strong>en altenGenossen aus dem Widerstand für kurze Zeit frei, aber im November 1948wurde er wiederum e<strong>in</strong>gekerkert, erst <strong>in</strong> E<strong>in</strong>zelhaft im Internierungslager<strong>in</strong> Budapest-Süd und dann im Konzentrationslager Recsk.Pál Jónás, e<strong>in</strong> Studentenführer, der mit ihm zusammen <strong>in</strong> Recsk saß,schrieb später: »Hier erfuhr ich, daß sich der überzeugte und gründlichgeschulte Materialist Dudás unter dem E<strong>in</strong>fluß der halbmystischenSchriften der großen englischen Astronomen und Mathematiker Sir ArthurEdd<strong>in</strong>gton und Sir James Jeans der Religion zugewandt hatte.« Nachdemer schließlich im Jahre 1954 von Imre Nagy amnestiert worden war, fandDudás Beschäftigung als e<strong>in</strong>facher Arbeiter <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Budapester Fabrik.ËÎWenn es nicht zu dem <strong>Aufstand</strong> gekommen wäre, würde er wohl den Restse<strong>in</strong>es Lebens an der Werkbank verbracht haben: Aber <strong>in</strong> unmittelbarerNähe se<strong>in</strong>er Wohnung im 11. Bezirk war e<strong>in</strong>er der Brennpunkte derKämpfe um die Hauptstadt, und er g<strong>in</strong>g dorth<strong>in</strong>, um die Führung desWiderstandszentrums um den Széna tér zu übernehmen.Dudás hatte diesen <strong>Aufstand</strong> weder angezettelt, noch nahm er direkt anden Straßenkämpfen teil; aber er besaß persönliche Anziehungskraft unddas politische Wissen, um die Situation zu nutzen. Er führte die erstenGespräche mit se<strong>in</strong>en künftigen Unterführern. Er gründete e<strong>in</strong> nationalesRevolutionskomitee und überließ e<strong>in</strong>em noch älteren Rebellenführer, derim ganzen Bezirk als »Onkel János« bekannt war, die Befehlsgewalt über464


die Kampftruppe, die am Széna tér und <strong>in</strong> der nahe gelegenen Maros utcaoperierte. Er selbst überquerte den Fluß und besetzte mit se<strong>in</strong>enproletarischen Kämpfern das Verlagsgebäude des Parteiorgans FreiesVolk, von wo aus er den nationalen, das ganze Land umfassendenWiderstand gegen die Funktionäre und die Russen organisierte.Er erkannte, daß se<strong>in</strong>e Organisation durch die Verteilung von Lebensmitteln<strong>in</strong> der von Kämpfen heimgesuchten Stadt großes Ansehengew<strong>in</strong>nen würde. Dabei er<strong>in</strong>nerte er sich an e<strong>in</strong>en Juden, den er imGefängnis von Szeged getroffen hatte. Dieser Mann leitete e<strong>in</strong>e Werkskant<strong>in</strong>eund arbeitete 1944 für das Internationale Rote Kreuz. Dudásschickte ihm am 25. Oktober e<strong>in</strong>e Aufforderung, ihn <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em bestimmtenCafé <strong>in</strong> der Nähe se<strong>in</strong>es Widerstandszentrums am Széna tér zu treffen. DerMann, Dr. Pál Szappanos erschien und traf ihn <strong>in</strong>mitten se<strong>in</strong>er Freundean.ËÏ »Ich brauche dr<strong>in</strong>gend Leute, denen ich vertrauen kann, und zwarviele«, sagte Dudás und ordnete an: »Du bist jetzt für die Lebensmittellieferungenaus dem Ausland verantwortlich. Du hast Erfahrungdurch de<strong>in</strong>e Tätigkeit für das Rote Kreuz.« Szappanos fuhr sofort an dieGrenze, um den Gütertransport für das kämpfende Budapest zuorganisieren.Die Vollversammlung der Vere<strong>in</strong>ten Nationen New York sollte erstam 12. November zu ihrer Eröffnungssitzung zusammentreten.ËÌ Am 27.Oktober, 13 Uhr, beantragten Frankreich, Großbritannien und dieVere<strong>in</strong>igten Staaten offiziell, der Weltsicherheitsrat möge sich mit derungarischen Frage befassen, angesichts der Tatsache, daß sowjetischeStreitkräfte »die Rechte des ungarischen Volkes brutal unterdrückten.«Ohne genaue Kenntnis der Entwicklung <strong>in</strong> Budapest wagten wederEisenhower noch Dulles zu handeln. Morgens führten sie noch e<strong>in</strong>Gespräch, bevor Dulles nach Texas flog, um se<strong>in</strong>e wichtige politischeRede <strong>in</strong> Dallas zu halten.ËÓ In se<strong>in</strong>er Ansprache stellte Dulles densowjetischen Satelliten Wirtschaftshilfe <strong>in</strong> Aussicht, falls diese Länderdurch die Abwendung von ihrer bisherigen marxistischen Politik <strong>in</strong>wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten sollten. Zur Beruhigung des465


Kreml machte er dabei e<strong>in</strong>deutig klar, daß dieses Angebot ke<strong>in</strong>eFallstricke enthalte: »Lassen Sie mich deutlich sagen«, sagte er, »daß dieVere<strong>in</strong>igten Staaten ke<strong>in</strong>en H<strong>in</strong>tergedanken bei dem Wunsch nachUnabhängigkeit der Satellitenstaaten haben. Unser unveränderter Wunschist es, daß diese Menschen, denen auch wir <strong>in</strong> unserem nationalen Lebenso viel verdanken, ihre Unabhängigkeit wiedererhalten, und daß sieRegierungen nach ihrem eigenen, freien Willen wählen sollten. Wirbetrachten diese Nationen nicht als mögliche militärische Verbündete.«Im Laufe des Tages forderte Dulles den amerikanischen UN-Botschafter Cabot Lodge auf, um die Unterstützung Kubas, Perus,Australiens, Irans, Ch<strong>in</strong>as und Belgiens nachzusuchen. Der Weltsicherheitsratwurde für den nächsten Tag e<strong>in</strong>berufen. Es war die ersteDr<strong>in</strong>glichkeitssitzung an e<strong>in</strong>em Sonntag seit 1950. Kurz nach 19 Uhrschickte das State Department Lodge zwei Telegramme. Das erste enthieltden Text der geplanten amerikanischen Erklärung, die <strong>in</strong> der Sitzungabgegeben werden sollte. (»Die Herzen aller freien Völker schlagen den<strong>Ungarn</strong> entgegen . . . Es ist nicht die Absicht me<strong>in</strong>er Regierung, demSicherheitsrat schon jetzt e<strong>in</strong>e Resolution vorzulegen. Wir möchtenzunächst e<strong>in</strong>mal hören, was die anderen Mitglieder des Rates zu sagenhaben. Wir wünschen, daß dieses Thema unverzüglich auf die Tagesordnungdes Sicherheitsrates gesetzt wird.«) Das zweite Telegrammerläuterte die vorgesehene Taktik: Die Sonntagssitzung sollte sich ohnegroße Debatte darauf beschränken, die ungarische Frage auf die Tagesordnungzu setzen, da man mit e<strong>in</strong>er heftigen sowjetischen Reaktionrechnete. »Außenm<strong>in</strong>isterium glaubt, Beschränkung der ersten Sitzung aufAnnahme der Tagesordnung wird uns größtmöglichen Spielraum geben,um den genauen Kurs festzustellen, den der Sicherheitsrat verfolgensollte, und Klarheit schaffen über die Art der e<strong>in</strong>zubr<strong>in</strong>genden Resolution.Darüber h<strong>in</strong>aus werden zusätzlich Informationen von der US-Gesandtschafterwartet, die zur Zeit mit der US-Regierung ke<strong>in</strong>e Verb<strong>in</strong>dung hat.Die Festlegung unseres Vorgehens beim Weltsicherheitsrat wird hierBeratungen auf höchster Ebene erfordern . . . «Nachdem Dulles weg war, bat das Außenm<strong>in</strong>isterium um den Besuch466


des ungarischen Missionschefs; aber Dr. Péter Kós, e<strong>in</strong> sowjetischerStaatsangehöriger, dessen richtiger Name Leo Konduktorow war, hieltsich bei den Vere<strong>in</strong>ten Nationen <strong>in</strong> New York auf, so daß an se<strong>in</strong>er Stelleder Erste Sekretär Tibor Zádor erschien. »Die Krawalle haben gesternabend aufgehört«, versicherte Zádor dem stellvertretenden Außenm<strong>in</strong>isterRobert Murphy. »E<strong>in</strong>zelne, verstreute Gruppen randalieren noch, aber dieSäuberungsaktionen machen Fortschritte.« Er bevorzugte das Wort»Krawalle« und gebrauchte es mehrere Male, <strong>in</strong>dem er h<strong>in</strong>zufügte, daß»faschistische Elemente« die berechtigten Forderungen der Studentenausgenutzt hätten. Das Außenm<strong>in</strong>isterium notierte: »Mr. Zádor konntenicht dazu veranlaßt werden, irgendwelche persönlichen Gefühle darüberzu äußern, daß ungarische Staatsangehörige von sowjetischen Truppenniedergeschossen werden.«ËÔUnterdessen kam es <strong>in</strong> Budapest zu ersten Kontakten zwischenRebellen und Vertretern der Polizei. Hauptmann »Nemo«, Kommandeure<strong>in</strong>er Volksarmee-E<strong>in</strong>heit, die zu den Rebellen übergegangen war,telephonierte mehrere Male mit dem Polizeipräsidenten Kopácsi undvermittelte außerdem telephonische Verb<strong>in</strong>dungen zwischen Kopácsi unddem Rebellenführer Angyal. Die Rebellen erklärten Kopácsi daß sie solange kämpfen würden, bis die Russen abzögen. Der Polizeioberst riefdann se<strong>in</strong>en Freund László Földes vom Verteidigungsm<strong>in</strong>isterium an, derihm den Rat gab, sich mit den Anführern der Aufständischen, wie Angyalund den Brüdern Pongrácz, zu treffen. Ort der Zusammenkunft war dasPolizeipräsidium. Die Rebellen fuhren mit e<strong>in</strong>em erbeuteten russischenSchützenpanzer auf den Parkplatz h<strong>in</strong>ter dem Präsidium, während der alteFreund des Polizeipräsidenten, Generalmajor István Kovács, undGeneralmajor Gyula Váradi, als Vertreter der Regierungstruppen, zu Fußerschienen.Kovács war 1944 zusammen mit e<strong>in</strong>igen anderen Generalen, die <strong>in</strong> derGefangenschaft gestorben waren, zu den Russen übergelaufen. NachTeilnahme an e<strong>in</strong>em Stabslehrgang <strong>in</strong> Moskau hatte man ihn mit e<strong>in</strong>emFallschirm wieder über <strong>Ungarn</strong> abgesetzt. Da e<strong>in</strong> hoher Parteifunktionär467


denselben Namen hatte, gaben ihm se<strong>in</strong>e Freunde den scherzhaftenSpitznamen »Kovács mit dem fetten Arsch«, doch galt er allgeme<strong>in</strong> alsehrenhafter Mann. Der Journalist György Fazekas, der Zeuge dieser ungewöhnlichenVerhandlungen im Polizeipräsidium war, bearbeitete Kovácsso lange, bis aus diesem verbissenen Streiter für den Kommunismus e<strong>in</strong>ebenso hartnäckiger Nationalist geworden war.ÈÊWährend der Verhandlungen gab es Kaffee und belegte Brote. AufErsuchen von Kovács wiederholte der ältere der Brüder Pongrácz dieForderungen der Rebellen: Wichtigster Punkt war der Abzug der Russenaus <strong>Ungarn</strong>. Kovács teilte ihnen mit, daß sich zur Zeit zwei Spitzenfunktionäredes sowjetischen Politbüros, Suslow und Mikojan, <strong>in</strong> Budapestaufhielten. Weiter fragte er, was für e<strong>in</strong> Regierungssystem dieRebellen <strong>in</strong>s Auge gefaßt hätten. Die Antworten waren verworren; es wardie Rede von freien Wahlen und e<strong>in</strong>em Mehrparteien-System. Nach dieserBegegnung fuhren die Rebellenführer im 100-km-Tempo mit ihremSchützenpanzer davon.ÈÁGegen 18 Uhr am 27. Oktober rief Präsident Eisenhower Außenm<strong>in</strong>isterDulles <strong>in</strong> Texas an.Dulles fragte: »Mr. President, haben Sie die Informationen über dieTruppenzusammenziehungen bei Zypern erhalten – dreißig bis dreiundsechzig<strong>in</strong> den letzten achtundvierzig Stunden.«»Ich kann e<strong>in</strong>fach nicht glauben«, erwiderte Eisenhower, »daß sichGroßbritannien <strong>in</strong> diese Sache h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>ziehen läßt.«468


33ZerfallINZWISCHEN WAREN aus aller Welt Reporter nach Budapest gekommen.Der vierunddreißig Jahre alte Wiener Korrespondent der italienischenZeitung Il Tempo, Ilario Fiore, war e<strong>in</strong> untersetzter, tr<strong>in</strong>kfreudiger Mannmit e<strong>in</strong>em Froschgesicht. Er sprach mit der müden Lässigkeit e<strong>in</strong>eserfahrenen Journalisten, der schon alles erlebt hat und der damit rechnet,es alles noch e<strong>in</strong>mal zu erleben. Zufällig war er am ersten Abend des<strong>Aufstand</strong>s nach Budapest gekommen. An und für sich wollte er nachWarschau. Er schrieb <strong>in</strong> se<strong>in</strong> Tagebuch: »Kurz nach 23 Uhr kam ich mitdem letzten regulären Zug von Wien auf dem Budapester Hauptbahnhofan. Der Bahnhof war menschenleer, nirgendwo e<strong>in</strong> Taxi. Ich entdecktee<strong>in</strong>en Kraftfahrer, der an se<strong>in</strong>em Motor herumbastelte. Ich sagte ihm, daßich <strong>in</strong> die Stadt zum Hotel Astoria müsse, aber er erklärte mir kurz undbündig, daß er mich nicht dort h<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gen würde: ›In der Stadt ist e<strong>in</strong>eRevolution ausgebrochen, und ich möchte nicht riskieren, me<strong>in</strong>en Wagenzu verlieren!‹ Ich flehte ihn an und bot ihm all me<strong>in</strong> ungarisches Geld an,das ich bei mir hatte, aber er schüttelte nur den Kopf. Gegen Mitternachtschließlich, nachdem ich ihn e<strong>in</strong>e halbe Stunde lang bedrängt hatte,änderte der alte Mann se<strong>in</strong>e Me<strong>in</strong>ung: Das Schießen nahm an Stärke zu. . . «ÁSydney Gruson von der New York Times war e<strong>in</strong>ige Tage zuvor nachPolen gefahren, um über die Posener Prozesse zu berichten. Von dort hatteer am 17. Oktober e<strong>in</strong>en Artikel geschickt, <strong>in</strong> dem von der Möglichkeite<strong>in</strong>es größeren Konflikts <strong>in</strong> Polen die Rede war. Am 22. Oktober hatte deraußenpolitische Redakteur des Blattes, Emanuel Freedman, das Gefühl,469


daß sich etwas zusammenbraute. Per Telegramm teilte er Gruson <strong>in</strong>Warschau mit: »Bitten Bigart, zu Ihnen zu kommen, sobald Visumvorliegt.« Homer Bigart flog am Abend des 23. Oktober von New Yorkab, kurz bevor die erste Meldung über Unruhen <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> um 4 Uhrmorgens über den Fernschreiber <strong>in</strong> der Zeitungsredaktion e<strong>in</strong>traf.ËE<strong>in</strong>e halbe Stunde zuvor hatte man <strong>in</strong> der Nachrichtenredaktion Schlußgemacht, die letzte Ausgabe verließ gerade die Rotationsmasch<strong>in</strong>en. JoeEisenberg eilte sofort vom Fernschreibraum zu Werner Wiskari, demSpätredakteur am Auslandstisch. Wiskari rief den stellvertretendenNachrichtenchef Lew Jordan zu Hause an. Jordan sagte: »Bereitet e<strong>in</strong>eExtraausgabe vor, wenn noch genug Leute dort s<strong>in</strong>d, um sie herauszubr<strong>in</strong>gen.«Als Vorspann zu John MacCormacs allgeme<strong>in</strong> gehaltenemNachmittagsbericht aus Budapest wurde e<strong>in</strong>e kurze Meldung gesetzt,während Jordan telephonisch e<strong>in</strong>e dreispaltige Schlagzeile diktierte. Aberdann begann e<strong>in</strong> redaktioneller Alptraum: Während der Morgen des 24.Oktober fortschritt, kam aus Budapest nichts als Schweigen. Freedmanschickte Drew Middleton <strong>in</strong> London e<strong>in</strong> Telegramm: »Bitte, telephonischVerb<strong>in</strong>dung mit MacCormac im Hotel Duna, Budapest, aufnehmen, um zuerfahren, ob er noch weiteres Material hat. AP Wien meldet, Nachrichtenverb<strong>in</strong>dungenmit Budapest offenbar abgeschnitten.« Alle Leitungenwaren tot – New York versuchte, über Warschau und Moskau durchzukommen,aber es dauerte noch zwei Tage, bis wieder e<strong>in</strong> Manuskriptvon MacCormac mit Hilfe des Fernschreibers der Gesandtschaft übermitteltwurde.MacCormac war e<strong>in</strong> Amerikaner irischer Abstammung, der gepunkteteKrawatten zu unauffälligen Anzügen trug, er hatte e<strong>in</strong>en schmalenSchnurrbart und das zufriedene Gr<strong>in</strong>sen e<strong>in</strong>es Journalisten, den der»Zufall« e<strong>in</strong>e ganze Woche vor Beg<strong>in</strong>n des <strong>Aufstand</strong>s mit se<strong>in</strong>er Fraunach Budapest geführt hatte. Seit 1948 war er nicht mehr im Landgewesen. Damals flüchtete er im Wagen des österreichischenBotschafters, nachdem er e<strong>in</strong>en W<strong>in</strong>k bekommen hatte, daß RákosisGeneralstaatsanwalt h<strong>in</strong>ter ihm her sei. E<strong>in</strong> Weißbuch hatte ihn als»Oberst John MacCormac des amerikanischen CIC« bezeichnet. Über470


e<strong>in</strong>es ist sich MacCormac im klaren: Wenn er geahnt hätte, was geschehenwürde, hätte er nicht se<strong>in</strong>e Frau, sondern Brief tauben mitgebracht. Erverfaßte se<strong>in</strong>en ersten Bericht für Times Square am 23. Oktober gegen 18Uhr, zur selben Zeit wie Sefton Delmer, und g<strong>in</strong>g dann mit se<strong>in</strong>er Frauund e<strong>in</strong>em Kollegen von der ungarischen Nachrichtenagentur essen. Alsdie Schießereien begannen, rief er – ebenso wie der Londoner DailyExpress – Mrs. Pollak <strong>in</strong> Prag an und diktierte ihr se<strong>in</strong>en Bericht. Kurzdanach waren alle Leitungen tot. MacCormac war selbst auf demParlamentsplatz, als das Blutvergießen begann, aber er hatte ke<strong>in</strong>eMöglichkeit mehr, se<strong>in</strong>e Story nach draußen zu schicken. In dieserH<strong>in</strong>sicht war Noel Barber von der Daily Mail ihnen allen überlegen. Demrobusten, nüchternen Mann aus Yorkshire war klar, daß es Fleet Street vorallem darauf ankam, die Story herauszubr<strong>in</strong>gen. Er hatte e<strong>in</strong>enösterreichischen Mietwagen und außerdem genug Benz<strong>in</strong> gehortet. Erer<strong>in</strong>nerte sich, bei se<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>reise aus Österreich vor zehn Tagen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>erGaststätte <strong>in</strong> Hegyeshalom frischen Gänsebraten gegessen zu haben. Erweckte den Wirt und veranlaßte ihn, e<strong>in</strong>ige Benz<strong>in</strong>kanister für ihn zuverstecken. Das war sehr schlau überlegt, denn jetzt waren alletelegraphischen Verb<strong>in</strong>dungen abgeschnitten, und se<strong>in</strong>e Konkurrentenwaren nicht <strong>in</strong> der Lage, ihre Berichte an ihre Heimatredaktionen weiterzuleiten.Als die Dämmerung am 26. Oktober here<strong>in</strong>brach, kämpfte sich Barberdurch bis zum letzten Kontrollpunkt, dann raste er mit se<strong>in</strong>em Borgwardquer durch Buda bis zur Kettenbrücke. Hier befand er sich plötzlich mittenim Kampfgetümmel. Junge Rebellen versuchten, die Straßensperre überden Fluß nach Pest aufzubrechen. Vor der Kettenbrücke hatten dieAufständischen aus Straßenbahn- und Autowracks Barrikaden errichtet.Mehrere trugen blutgetränkte Verbände, e<strong>in</strong>er starb <strong>in</strong> Barbers Armen,nachdem e<strong>in</strong>e Granate von e<strong>in</strong>em der beiden Sowjetpanzer auf der Mitteder Brücke die schwache Barrikade durchschlagen hatte. Aber <strong>in</strong> jenerNacht gewann Barber e<strong>in</strong>en wertvollen Freund: Dénes Horváth, e<strong>in</strong>ene<strong>in</strong>undzwanzigjährigen Volkswirt mit dicken Brillengläsern. Barber stellteihn als Dolmetscher an: »Ich zahle Ihnen jeden Tag 20 Pfund, wenn Sie an471


me<strong>in</strong>er Seite bleiben, solange ich hier b<strong>in</strong>.«Die Fahrt durch die Stadt war e<strong>in</strong> Alptraum. Es war, wie bei e<strong>in</strong>erBesichtigung des Schlachtfelds von EI-Alame<strong>in</strong>, während Rommel undMontgomery noch um die Entscheidung kämpften. Kompliziert wurdealles noch dadurch, daß die russischen und ungarischen Panzer vomgleichen Fabrikat waren und ihre Soldaten ähnliche Uniformen trugen.Jeder schoß auf jeden. Rebellen, Journalisten und Sensationslüsternewaren dabei.Erschöpft, unrasiert und zerzaust fuhr Barber noch <strong>in</strong> derselben Nachtan die Grenze zurück. Er trug immer noch denselben Anzug, den er schonwährend se<strong>in</strong>es E<strong>in</strong>kaufs bei Harrods anhatte. Den nervösen ÁVH-Grenzwachen zeigte er das Telegramm, das Imre Nagy ihm geschickthatte. Er fuhr sofort nach Nickelsdorf. Dort erwartete ihn Jeffrey Blythvon der Mail zitternd vor Kälte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em neuen Paletot, den er über se<strong>in</strong>enneuen Tropenanzug angezogen hatte. Noch vor zwei Tagen war Blyth <strong>in</strong>Kairo gewesen, wo er darauf wartete, daß die Bombe über Suez platzte.Als er jedoch merkte, daß se<strong>in</strong>e Kollegen plötzlich nach Österreichverschwanden, hatte er an Fleet Street telegraphiert, und man hatte ihm amnächsten Morgen geantwortet: »Auf dem schnellsten Weg nach Wien!«Barber übergab Blyth e<strong>in</strong>en siebzehn Seiten langen Bericht und mehrereFilmrollen. Blyth se<strong>in</strong>erseits händigte ihm mehrere Kartonsamerikanischer Zigaretten aus und fuhr dann zurück nach Wien. Gleich imersten Café meldete er e<strong>in</strong> Gespräch zur Daily Mail nach London an. Imrollenden E<strong>in</strong>satz nahmen Stenographen telephonisch se<strong>in</strong>en Bericht aufund schickten ihn Seite für Seite zum Setzmasch<strong>in</strong>enraum. Als er etwa dieHälfte se<strong>in</strong>er Story diktiert hatte, erschien der erste Stenograph wieder undrief <strong>in</strong>s Telefon: »Ich habe eben die ersten Exemplare bekommen, Ihr seidauf der Titelseite!« Mit ihrem exklusiven Augenzeugenbericht über dieblutigen Ereignisse hatten Noel Barber und die Daily Mail alle anderenZeitungen der Welt geschlagen.ÈIn aller Frühe bezog Barber e<strong>in</strong> Zimmer im Budapester Duna-Hotel.Dieses Hotel war e<strong>in</strong>e schmutzige Flohkiste am Donau-Kai, dessenFenster fast alle bereits zertrümmert waren. An e<strong>in</strong>em weißgedeckten472


Tisch im Restaurant entdeckte er se<strong>in</strong>en Konkurrenten Sefton Delmer, dermit f<strong>in</strong>sterer Miene endlose Texte <strong>in</strong> Blockbuchstaben auf Telegrammformularemalte (»Ich b<strong>in</strong> nicht fürs Tippen!«), die Fleet Street nieerreichen würden. Delmer hatte das Gespür oder die Ahnung – oder dieKontakte zur CIA –, die ihm sagten, daß <strong>in</strong> Budapest sich e<strong>in</strong>espektakuläre Story anbahne. Er war noch am Morgen vor dem Beg<strong>in</strong>n des<strong>Aufstand</strong>s nach e<strong>in</strong>em Essen im Wiener Hotel Sacher mit dem freienMitarbeiter des Express, Lawrence Davis, nach Budapest weitergereist.Aber der Triumph se<strong>in</strong>es Redakteurs, e<strong>in</strong>en Mann an Ort und Stelle zuhaben, schwand dah<strong>in</strong>, weil Delmer ke<strong>in</strong>e Vorkehrungen gegen e<strong>in</strong>eUnterbrechung der Nachrichtenverb<strong>in</strong>dungen getroffen hatte.»Ah, me<strong>in</strong> Lieber«, rief Delmer dem vorbeieilenden Barber nach.»Ke<strong>in</strong> Grund, nervös zu werden! Alle Verb<strong>in</strong>dungen s<strong>in</strong>d abgeschnitten.«Barber murmelte: »Tut mir leid, aber ich habe e<strong>in</strong>en Wagen draußen.Bitte, machen Sie nicht e<strong>in</strong>e schöne Freundschaft kaputt, <strong>in</strong>dem Sie michbitten, Ihr Manuskript mit h<strong>in</strong>auszubr<strong>in</strong>gen.«Die übrigen Zeitungsreporter aus aller Welt wurden immer noch ander Grenze von verwirrten Grenzbeamten festgehalten, die korrekte E<strong>in</strong>reisevisaverlangten. Am 27. Oktober brach der Damm. Sydney Smithvom Daily Express gab Gas, als der Schlagbaum für jemand andersgeöffnet wurde, und verschwand auf der Straße <strong>in</strong> Richtung Budapest. Derjunge Bruno Tedeschi vom Giornale d’Italia fand die Grenze praktischoffen – zur Überraschung des italienischen Botschafters Fabrizio Franco,der an Ort und Stelle beschloß, e<strong>in</strong>en Kurier <strong>in</strong> Begleitung von Tedeschiund Fiore mit ihren Berichten auf demselben Weg zurückzuschicken.ÍAssociated Press beorderte George Boultwood von Bonn nach Budapest,um mit ihrem dortigen Korrespondenten, dem gebürtigen <strong>Ungarn</strong> EndreMarton, zusammenzutreffen, der gerade aus politischer Gefangenschaftentlassen worden war. Für die Konkurrenz United Press flog AnthonyCavendish von Warschau <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Flugzeug, das Plasma aus Polen nach<strong>Ungarn</strong> brachte; die Masch<strong>in</strong>e landete 50 Kilometer südlich von Budapest,Cavendish fuhr per Anhalter zum Hotel Duna. Seymour Freid<strong>in</strong> von derNew York Post war bereits dort und jagte ihm e<strong>in</strong>en ersten Schrecken e<strong>in</strong>473


mit der anschaulichen Schilderung, wie e<strong>in</strong> schießwütiger russischerSoldat ihn um e<strong>in</strong> Haar umgelegt hätte.Paris Match schickte Jean-Pierre Pedrazz<strong>in</strong>i und Paul Mathias, umüber die Volkserhebung zu berichten. Pedrazz<strong>in</strong>i war e<strong>in</strong>er ihrer bestenPhotographen. Er hatte gerade erst geheiratet, war neunundzwanzig Jahrealt und sah mit se<strong>in</strong>en blonden Haaren aus wie e<strong>in</strong> griechischer Gott.Mathias war vor fünfunddreißig Jahren <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> geboren. Er hatte 1950aus se<strong>in</strong>er Heimat flüchten müssen, nachdem die Polizei ihn gezwungenhatte, e<strong>in</strong> Papier zu unterzeichnen, das e<strong>in</strong>en se<strong>in</strong>er besten Freunde, dergerade verhaftet worden war, belastete. Daraufh<strong>in</strong> hatte er sich entschlossen,se<strong>in</strong>e Heimat für immer zu verlassen. Er war groß und elegant,er hatte das magere Gesicht e<strong>in</strong>es Halbjuden und trat <strong>in</strong> der bombastischenArt se<strong>in</strong>er Landsleute auf. Inzwischen hatte er sich allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>igeManieren der Franzosen angewöhnt. Die Nacht hatte er <strong>in</strong> Wien verbracht,<strong>in</strong>dem er unruhig <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Hotelzimmer auf und ab g<strong>in</strong>g, bis Pedrazz<strong>in</strong>iaufwachte und protestierte: »Hör auf – du weißt ganz genau, daß duwieder zurückgehen kannst!« Unmittelbar nach se<strong>in</strong>er Ankunft <strong>in</strong>Budapest g<strong>in</strong>g er zum französischen Gesandten Jean Paul-Boncour. DerDiplomat äußerte sich nicht sehr ermutigend: »Sie s<strong>in</strong>d verrückt – dieRussen können jeden Augenblick zurückkommen. Ich kann nichts für Sietun, selbst wenn Sie jetzt auch französischer Staatsangehöriger s<strong>in</strong>d.«In Budapest ist immer noch ke<strong>in</strong> Ende der Kämpfe <strong>in</strong> Sicht. DerDiplomat Franco notiert <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Gesandtschaftstagebuch: »E<strong>in</strong>Schweizer Gesandtschaftssekretär machte uns darauf aufmerksam, daß dasUngarische Rote Kreuz um die Unterstützung des Internationalen RotenKreuzes bittet, weil ihm die e<strong>in</strong>fachsten, lebensnotwendigen D<strong>in</strong>ge fehlen.Die Schweizer Gesandtschaft hat ke<strong>in</strong>e Möglichkeit, diese Bitteweiterzuleiten. Wir haben jetzt <strong>in</strong> der Gesandtschaft Lebensmittelgesammelt (Brot, Teigwaren, Käse, Milch, We<strong>in</strong> und Konserven), washoffentlich für e<strong>in</strong>ige Tage ausreicht; wir s<strong>in</strong>d zur Zeit dreißig Personen,die hier zusammenleben.«Dieser <strong>Aufstand</strong> hat e<strong>in</strong>e ganz andere Färbung, als man sie von den474


Gemälden der großen Revolution der Geschichte kennt. Man wird anGoyas grausame Palette er<strong>in</strong>nert: verkrustetes Braun, das e<strong>in</strong>st warmes,helles Rot war; das schmutzige Khaki blutverschmierter Uniformen:okerfarbener Mörtel; backste<strong>in</strong>rote Schrammen, die die zerstörten Bauwerkeentstellen, hier und dort e<strong>in</strong> zusammengeschrumpfter, verbrannter,sienafarbener Flecken auf dem Teerpflaster, mit Kalk oder Salizylsäureüberschüttet.Vor den Augen teilnahmsloser Passanten vermodern Leichen imStraßenschmutz. Auf der Üllöi út ragt die steife schwarze Hand e<strong>in</strong>esverbrannten Sowjetsoldaten aus dem halboffenen Panzerturm.E<strong>in</strong> Anflug von grimmigem Humor liegt <strong>in</strong> der Luft. E<strong>in</strong>er derJournalisten der Zeitung Wahrheit geht ohne Furcht vor umhersausendenKugeln und krepierenden Panzergranaten heim <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Wohnung auf derRákóczi út, kehrt aber sofort wieder zur Redaktion zurück: »Ich muß denfalschen Fahrstuhlknopf Nr. 4 gedrückt haben. Plötzlich kam das ganzevierte Stockwerk herunter!« Die meisten revolutionären Redaktionsmitgliederessen im Bühnenklub. Hier hören sie, wie der Regisseur desNationaltheaters beiläufig e<strong>in</strong>en späten Gast fragt: »Was gibt es Neues?«Der Mann legt <strong>in</strong> aller Ruhe Hut und Mantel ab und sagt: »Ich b<strong>in</strong> geradean Ihrem Theater vorbeigekommen – Sie haben heute nur noch e<strong>in</strong> halbesHaus!« E<strong>in</strong> anderer Journalist der Wahrheit schreibt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Bericht:»Auf der Baross utca steht <strong>in</strong>mitten des Schreckens e<strong>in</strong>e Vogelscheucheaus e<strong>in</strong>er Russenuniform, <strong>in</strong> deren e<strong>in</strong>er Tasche e<strong>in</strong> Exemplar desParteiorgans Freies Volk und <strong>in</strong> der anderen e<strong>in</strong> Behälter mit Salizylsäuresteckt.«ÎDie Menschen <strong>in</strong> der Stadt blieben kaltblütig. In diesen Tagen verließder Historiker Professor Domokos Kosáry se<strong>in</strong>e sicheren vier Wände <strong>in</strong>Buda und riskierte e<strong>in</strong>en Gang zu e<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>en Geschäft auf demZsigmond Móricz körút, um Lebensmittel für se<strong>in</strong>e Mutter e<strong>in</strong>zukaufen.Vor dem kle<strong>in</strong>en Laden, der Milch und Schokolade verkaufte, war e<strong>in</strong>eziemlich lange Schlange. Als plötzlich zwei oder drei große russischePanzer vorbeirollten, sagte das junge Mädchen h<strong>in</strong>ter dem Ladentischbeiläufig: »Würden Sie bitte den Rolladen herunterlassen. Wenn man so475


viele Leute hier stehen sieht, könnte man möglicherweise auf unsschießen!«ÏDas Leben <strong>in</strong> Budapest geht se<strong>in</strong>en Gang, Seite an Seite mit derRevolution. An e<strong>in</strong>em Photographen fährt e<strong>in</strong> Lastwagen vorbei, aufdessen Trittbrett e<strong>in</strong>e Frau mit dem Gewehr im Anschlag steht. DerWagen hat se<strong>in</strong>en Besitzer gewechselt, e<strong>in</strong>e Kugel ist mitten durch dieW<strong>in</strong>dschutzscheibe geschlagen und hat e<strong>in</strong> rundes Loch h<strong>in</strong>terlassen. DerLastwagen ist voller Aufständischer: Arbeiter, Jugendliche, darunter auche<strong>in</strong>ige K<strong>in</strong>der. Auf den Bürgersteigen steht man Schlange nach Lebensmitteln,während Mädchen, die ihre Haare zu e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>fachen Pferdeschwanzzusammengebunden haben, zu zweien oder dreien durch dieStraßen marschieren, sie gehen gebückt unter dem Gewicht der Karab<strong>in</strong>eroder der schweren Pistolen, die an ihrem Gürtel herunterhängen. DieGesichter der K<strong>in</strong>der s<strong>in</strong>d müde und schmutzig, aber sie strahlen e<strong>in</strong>egrimmige Genugtuung aus. In George Orwells »1984« machen die K<strong>in</strong>dergeme<strong>in</strong>same Sache mit dem totalitären Regime und denunzieren ihreEltern, aber hier s<strong>in</strong>d die K<strong>in</strong>der unter anderen Verhältnissen aufgewachsen.Sie stehen auf der Seite ihrer Eltern. Jetzt kämpfen alle gegendie Kommunisten, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em letzten verzweifelten Versuch, den ihnenaufgezwungenen Glauben zu vertreiben.Stützpunkte der Partei, deren E<strong>in</strong>fluß <strong>in</strong> Budapest schwand, waren dieParteizentrale <strong>in</strong> der Akadémia utca und das Städtische Parteibüro auf demPlatz der Republik. Inzwischen waren diese Hauptquartiere <strong>in</strong> Festungenverwandelt worden. Fünfzig bewaffnete ÁVH-Soldaten bewachten dieFenster, während fünfzig weitere Getreue der Partei auf den Korridoren anKarab<strong>in</strong>ern ausgebildet wurden. Nach und nach fanden sich auch weitereloyale Verstärkungen e<strong>in</strong>, zum Beispiel Oberst József Papp von e<strong>in</strong>erPolizeistation der Vorstadt. Er war von Aufständischen verprügelt worden,nachdem das Revier von Kopácsi geschlossen worden war, aber er hielt esfür se<strong>in</strong>e Pflicht, bei der Verteidigung am Platz der Republik mitzuhelfen.Er forderte mehrere se<strong>in</strong>er Kameraden auf, mit ihm zu kommen, diesewaren aber der Me<strong>in</strong>ung, daß er se<strong>in</strong> Pflichtgefühl übertreibe. Papp sollte476


den Platz der Republik nicht lebend verlassen: Heute tragen e<strong>in</strong>e Straßeund e<strong>in</strong> Platz des VI. Bezirks se<strong>in</strong>en Namen.Am Morgen des 26. Oktober kehrte Imre Mezö, der Erste Sekretär derBudapester KP, zum Platz der Republik zurück. Er hatte an denzweitägigen Beratungen des Zentralkomitees <strong>in</strong> der Akadémia utca teilgenommen.Den Genossen se<strong>in</strong>es Stabes berichtete er über den »erfolglosenAngriff der Konterrevolutionäre« vom Vortage, verschwieg aber dieblutigen Ereignisse auf dem Parlamentsplatz. Für den fünfzigjährigenMezö war es e<strong>in</strong> langer und undankbarer Weg gewesen – von denSchlachtfeldern Spaniens bis zu diesem schwer zu beschreibendenlänglichen Parteigebäude. Als e<strong>in</strong>es von zehn K<strong>in</strong>dern e<strong>in</strong>er Bauernfamiliehatte er das Los se<strong>in</strong>er Mutter erleichtert, <strong>in</strong>dem er das Haus verließ und <strong>in</strong>e<strong>in</strong>e Schneiderlehre g<strong>in</strong>g. Unruhig und ehrgeizig, wie er war, emigrierte er1927, trat der belgischen KP bei, wurde zweimal <strong>in</strong> Spanien verwundetund <strong>in</strong> Frankreich <strong>in</strong>terniert. Er hatte viel gelesen, die WirtschaftsgeschichteSpaniens studiert, für französische Parteizellen <strong>in</strong> Syrien undim Libanon gearbeitet und sich dem französischen Widerstand angeschlossen,wobei er die e<strong>in</strong>wöchige dramatische Schlacht um Paris imAugust 1944 mitmachte. Im Juni 1945, fast zwanzig Jahre, nachdem er dieHeimat verlassen hatte, kehrte er wieder nach <strong>Ungarn</strong> zurück.Jetzt hatte Mezö beschlossen, der Hauptstadt zu zeigen, daß ihrestädtische Parteizentrale noch da war und sich wehrte. Er veranlaßte dieVerteilung von Handzetteln <strong>in</strong> der Stadt und forderte drei Journalisten auf,beim Austragen des Parteiorgans Freies Volk zu helfen. Das Blatt konntenur noch von gepanzerten Wagen aus verteilt werden. Er ließ MiklósSzántó zu sich kommen und beauftragte ihn, e<strong>in</strong> Redaktionsbüro für dieZeitung Esti Budapest [Budapester Abend] <strong>in</strong> der Parteizentralee<strong>in</strong>zurichten. Am nächsten Nachmittag zog der Redakteur Frigyes Vadásze<strong>in</strong>, am 28. begann man mit dem Drucken. Als die Zeitung auf denStraßen erschien, wurden die Exemplare bündelweise von aufständischenZeitungsverkäufern verbrannt. Dennoch hielt Mezö es für wichtig, zubeweisen, daß se<strong>in</strong> Komitee noch funktionierte.Ì477


Am 27. Oktober hatte Imre Nagy weitreichende Entscheidungengetroffen – aber er h<strong>in</strong>kte wie immer e<strong>in</strong>en Tag h<strong>in</strong>ter den Ereignissen her.Unterdessen hatten morgens um 10.30 Uhr die Frauen von zwei Rebellenführernder Frau e<strong>in</strong>es amerikanischen Gesandtschaftsangehörigen heimlichüber das Telephon e<strong>in</strong>en Vorschlag unterbreitet: Die Gesandtschaftsollte Imre Nagy e<strong>in</strong>en zwölfstündigen Waffenstillstand vorschlagen. Indieser Zeit wollte man versuchen, die Anführer der Aufständischen erstmit amerikanischen Beauftragten und dann mit Regierungsvertreternzusammenzubr<strong>in</strong>gen, um formelle Waffenstillstandsbed<strong>in</strong>gungen zuvere<strong>in</strong>baren. Spencer Barnes rief den stellvertretenden Außenm<strong>in</strong>ister an,der diesen Vorschlag aber voller Verachtung zurückwies und prahlte:»Die Banden werden vernichtet.«ÓDiese Prahlerei war verfrüht. Die Kilián-Kaserne war immer noch <strong>in</strong>der Hand der Aufständischen. Maléter schickte diejenigen Soldaten, dieke<strong>in</strong>e Waffen hatten oder nicht kämpfen wollten, <strong>in</strong> den h<strong>in</strong>teren Teil derKaserne. In e<strong>in</strong>em Fenster an der Ecke des Hauptgebäudes wurde e<strong>in</strong>schweres Masch<strong>in</strong>engewehr, das man von e<strong>in</strong>em abgeschossenen Sowjetpanzerabmontiert hatte, so <strong>in</strong> Stellung gebracht, daß es den Körút unddie Üllöi út beherrschte. Innerhalb der Unterführung des Haupte<strong>in</strong>gangswurde e<strong>in</strong>e starke Barrikade errichtet, damit der Gegner nicht zu denInnenhöfen vordr<strong>in</strong>gen konnte. An jenem Tage gelang es e<strong>in</strong>em altenFreund von Oberst Maléter, dem Landwirtschaftsexperten Gábor Magos,unter dem Vorwand, Milch liefern zu wollen, durch den sowjetischenBelagerungsr<strong>in</strong>g <strong>in</strong> die Kilián-Kaserne zu kommen. »E<strong>in</strong> ÁVH-Offizierhat mir erzählt, er wisse, wo das Regime se<strong>in</strong>e Geheimakten verwahrt«,sagte Magos. »Wollen wir sie uns nicht holen?« Maléter war mißtrauisch.Er riet se<strong>in</strong>em Freund, es mit jemand anderem zu versuchen. »Ich kannhier nicht weg. Wir s<strong>in</strong>d von russischen Soldaten e<strong>in</strong>geschlossen.«ÔAm Mittag unternahmen die Russen e<strong>in</strong>en schweren Panzerangriff aufden gesamten Gebäudekomplex. Die <strong>in</strong> der Corv<strong>in</strong>-Passage verstecktenGeschützbedienungen erzielten beachtliche Erfolge, und bald war dieganze Üllöi út von der Kaserne bis zur Liliom utca e<strong>in</strong> Panzerfriedhof.ÁÊDie Panzer feuerten auf jedes Fenster, wo sie e<strong>in</strong>en Schützen sahen. Bei478


jedem Kanonenschuß g<strong>in</strong>gen Tausende von Fensterscheiben der umliegendenHäuser zu Bruch. Auf der Vorderseite der Kaserne gab es ke<strong>in</strong>e<strong>in</strong>ziges heiles Fenster mehr. Als e<strong>in</strong>e Granate <strong>in</strong> dem Raum e<strong>in</strong>schlug,wo das schwere Masch<strong>in</strong>engewehr aufgebaut war, stürzte e<strong>in</strong>e Ecke desKasernengebäudes e<strong>in</strong>. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite fiel e<strong>in</strong>ganzes Haus <strong>in</strong> sich zusammen. Aber Maléters Männer rächten sich. Aufdem Ferenc körút explodierte e<strong>in</strong> sowjetischer Panzer. Se<strong>in</strong> Turm flogzehn Meter weit und landete auf der Straßenkreuzung neben e<strong>in</strong>emzusammengeschossenen Geschützrohr und se<strong>in</strong>er Lafette. E<strong>in</strong> Lastwagen,dessen Reifen abmontiert waren, brannte heftig. In e<strong>in</strong>iger Entfernunghielten vier weitere Panzer, e<strong>in</strong> sowjetischer Kampfwagen kam nicht mehrweiter, nachdem se<strong>in</strong>e l<strong>in</strong>ke Raupenkette abgeschossen worden war;danach geriet er <strong>in</strong> Brand.Das Schießen ließ nach, die Russen zogen sich zurück. In derKasernenwand waren sieben riesige E<strong>in</strong>schlaglöcher. E<strong>in</strong>e großeMenschenmenge strömte herbei, wurde aber durch e<strong>in</strong>en Absperr<strong>in</strong>g derAufständischen zurückgehalten. Als István Elias zur Corv<strong>in</strong>-Passage kam,um Milch und Lebensmittel vom Staatsgut Soroksár zu br<strong>in</strong>gen, hatten dieRebellen dreißig ÁVH- und Sowjetoffiziere <strong>in</strong> ihrer Gewalt.ÁÁ DieAufständischen wurden von e<strong>in</strong>em Reporter der polnischen ZeitungTribuna Ludu <strong>in</strong>terviewt. Unter ihnen befand sich e<strong>in</strong> junges Mädchen,deren Hauptfach Geschichte war: »Jetzt mache ich Geschichte, anstatt siezu studieren«, sagte sie.Am späten Abend rief e<strong>in</strong> sowjetischer Offizier Maléter an und bat ihnum se<strong>in</strong> E<strong>in</strong>verständnis, die Toten und Verwundeten, die vor der Kaserneauf der Straße lagen, durch se<strong>in</strong>e Soldaten bergen zu lassen. Malétererwiderte, se<strong>in</strong>e Männer würden alle Verwundeten nach dr<strong>in</strong>nen schaffen,wo sie ausreichend ärztlich betreut würden, sobald die Kämpfe e<strong>in</strong>gestelltseien. »Was die Toten betrifft, so ist es zu schwer, die Leichen aus denPanzerwracks zu bergen.«Draußen vorm Fenster war wieder e<strong>in</strong> Pferdewagen angekommen, derLebensmittel vom Lande brachte. Der Widerstand der Aufständischen <strong>in</strong>der Kaserne hatte sich offensichtlich überall herumgesprochen.479


Inzwischen hatte der Rundfunk große Neuigkeiten gemeldet. ImreNagy hatte e<strong>in</strong>er Umbildung se<strong>in</strong>es Kab<strong>in</strong>etts zugestimmt. Um 11.18 Uhrverkündete das Radio, daß er e<strong>in</strong>e nationale Regierung auf der Grundlagese<strong>in</strong>er patriotischen Volksfront gebildet habe. Es war e<strong>in</strong>e weitere widerwilligeKonzession an die Straße. Vier der siebenundzwanzig Kab<strong>in</strong>ettsmitgliederwaren nicht e<strong>in</strong>mal Kommunisten. Aber auf die Straße machtedas ke<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>druck. In e<strong>in</strong>em Kommentar von Gordon Brook-Shephardim Daily Telegraph hieß es: »Die <strong>in</strong> Mißkredit geratene kommunistischeFührung <strong>in</strong> Budapest versucht, ihre eigene Haut zu retten, <strong>in</strong>dem sie sichmit ihren früheren Gegnern verbündet.«ÁË Was bedeutete es schon, daß derbedeutende marxistische Philosoph György Lukács zum Kultusm<strong>in</strong>istergemacht wurde? Die Straße hatte ke<strong>in</strong>e Zeit, sich mit irgende<strong>in</strong>em von denneuen M<strong>in</strong>istern zu befassen. Von den vier neuen Gesichtern, JózsefBognár, Zoltán Tildy, Miklós Ribiánszky und Béla Kovács, war nur derletztere <strong>in</strong> den Augen der Öffentlichkeit nicht kompromittiert. Die altenund verhaßten Funktionäre waren immer noch im Amt: Männer wie derstellvertretende M<strong>in</strong>isterpräsident Antal Apró und Ferenc Erdei. Dievere<strong>in</strong>ten Bemühungen von Imre Nagy und Staatspräsident István Dobihatten es nicht vermocht, die verbitterten sozialdemokratischen Führerzum E<strong>in</strong>tritt <strong>in</strong> das Kab<strong>in</strong>ett zu bewegen. Politische Führerschaft konntendie Aufständischen nur von Béla Kovács, dem früheren Generalsekretärder Kle<strong>in</strong>landwirte-Partei erhoffen. Aber er war nur noch e<strong>in</strong> Schattense<strong>in</strong>er Selbst, die vielen Jahre <strong>in</strong> sowjetischer oder ÁVH-Haft (die am 27.Oktober vom Rundfunk verschämt als »Hausarrest« bezeichnet wurde),hatten ihn zu e<strong>in</strong>em kranken Mann gemacht. Nachdem er schließlich vonRákosi amnestiert worden war, verließ er am 8. oder 9. April denBudapester Ostbahnhof mit e<strong>in</strong>em Telegramm <strong>in</strong> der Tasche, das e<strong>in</strong>eE<strong>in</strong>ladung von Staatspräsident István Dobi enthielt.ÁÈ Im Parlament hatteer e<strong>in</strong> vierstündiges Gespräch mit Dobi und József Bognár, e<strong>in</strong>emParteifreund von den Kle<strong>in</strong>landwirten, der es verstanden hatte, sich beiden Kommunisten beliebt zu machen, und dem dadurch das Schicksal vonKovács erspart blieb. Kovács litt unter e<strong>in</strong>em angeborenen Herzfehler,480


durch den er sich zwei Gehirnschläge zugezogen hatte. Er hatte sichse<strong>in</strong>erzeit entschlossen, nach Pécs zurückzukehren, weil die Luft dortgesünder war, entweder politisch oder tatsächlich. Dort hatte er sich bisjetzt absolut still verhalten. Heimliche Kontakte verbanden ihn allerd<strong>in</strong>gsweiterh<strong>in</strong> mit der Nagy-Gruppe, und am 26. Oktober veranlaßte NagyStaatspräsident Dobi, ihm telephonisch mitzuteilen, daß der neueM<strong>in</strong>isterpräsident dr<strong>in</strong>gend wünsche, se<strong>in</strong>en illustren Namen <strong>in</strong> dernationalen Regierung zu sehen. Kovács stimmte zu – aber das warvoreilig, denn am nächsten Tage erfuhr er die Namen se<strong>in</strong>er üblenM<strong>in</strong>isterkollegen im neuen Kab<strong>in</strong>ett. Angewidert entwarf er e<strong>in</strong> Rücktrittsgesuch,Freunde rieten ihm aber, das Schreiben nicht abzuschikken.ÁÍNagys Veränderungen im Kab<strong>in</strong>ett waren nur kosmetischer Natur. Dietatsächliche Macht war immer noch <strong>in</strong> den Händen der Stal<strong>in</strong>isten. DasInnenm<strong>in</strong>isterium wurde von Dr. Ferenc Münnich geleitet. GeneralmajorIstván Bata wurde als Verteidigungsm<strong>in</strong>ister durch den nicht wenigermarxistischen Generalleutnant Károly Janza ersetzt. Die M<strong>in</strong>isterschworen sich, die Widerstandsgruppen zu liquidieren. Janza hatte nichtdie Absicht, Kompromisse mit den Rebellen e<strong>in</strong>zugehen. Kurz nach 15Uhr erteilte er se<strong>in</strong>en militärischen E<strong>in</strong>heiten über Rundfunk den Befehl,die Vernichtung der Rebellennester fortzusetzen und ihre »Kampfaufgabenauszuführen«.Münnichs erste öffentliche Erklärung nach se<strong>in</strong>er neuen Ernennungwar etwas versöhnlicher, enthielt aber, im Nachh<strong>in</strong>e<strong>in</strong> gesehen, drohendeUntertöne. In se<strong>in</strong>er Rundfunkerklärung, die e<strong>in</strong>e<strong>in</strong>halb Stunden nachse<strong>in</strong>er Ernennung gesendet wurde, heißt es: »Ich erwarte von allenAngehörigen der verschiedenen Organe des M<strong>in</strong>isteriums, daß sie ihreArbeit mit derselben vorbildlichen Pflichterfüllung tun wie bisher.« Wardies e<strong>in</strong> H<strong>in</strong>weis für die ause<strong>in</strong>andergetriebenen, demoralisierten ÁVOs,daß sie damit rechnen könnten, bald wieder an der Macht zu se<strong>in</strong>? DieseSprache rief sofort e<strong>in</strong>e Antwort der Rebellen hervor, die um 18.47 Uhrüber Sender Freies Györ kategorisch verlangten: »Die ÁVH muß entwaffnetund von der ungarischen Volksarmee übernommen werden.«Unterdessen hatte Nagy mit dem Zentralkomitee über Möglichkeiten481


zur Auflösung der Sicherheitspolizei, der ÁVH, diskutiert. Münnich ließSándor Kopácsi zu sich kommen.ÁÎ Der stämmige Polizeichef hatte ke<strong>in</strong>großes Vertrauen zu Münnich und erschien mit e<strong>in</strong>er bewaffneten Eskorte.Das M<strong>in</strong>isterium glich e<strong>in</strong>er Festung: In den Seitenstraßen standensowjetische Panzer mit himmelwärts gerichteten Geschützrohren. H<strong>in</strong>terjedem Fenster befanden sich Gewehre und Munitionskästen. Münnich ließKaffee und Kognak kommen und fragte Kopácsi ob und wie man dieÁVH auf humane Weise auflösen könne. »Können wir damit rechnen, daßSie Befehle ausführen?« fragte er.Als Kopácsi g<strong>in</strong>g, begleiteten ihn Münnichs stellvertretende M<strong>in</strong>isterBartos und Fekete, beides hohe ÁVH-Offiziere. Fekete sagte bittend:»Sándor, e<strong>in</strong>ige Genossen vom Partisanenverband möchten mit dir reden.«Die Partisanen waren von der Machtstellung und der hohen Bezahlung derÁVH <strong>in</strong> ihren besten Tagen angezogen worden, aber nun sahen sie e<strong>in</strong>Pogrom kommen, die Khaki-Uniform der ÁVH hatte ihre Anziehungskraftverloren. »Wir möchten alle hier rauskommen«, stammelte e<strong>in</strong>er. »Kannstdu uns nicht <strong>in</strong> de<strong>in</strong>em Präsidium unterbr<strong>in</strong>gen? Wir haben gehört, daß dues verstehst, mit dem Mob zu sprechen.«Nagy versuchte <strong>in</strong> der Zwischenzeit, se<strong>in</strong>e neuen Kab<strong>in</strong>ettsmitgliederzu versöhnlichen Rundfunkerklärungen zu überreden, aber vergebens.Professor Lukács sagte: »Wir wollen e<strong>in</strong>e sozialistische Kultur, die dengroßen und ehrwürdigen Errungenschaften des ungarischen Volkes würdigist.« Aber die Aufständischen wurden dadurch nicht animiert, jubelnd zurAkadémia utca zu eilen und Rosen auf se<strong>in</strong>en Weg zu streuen;sozialistische Kultur war etwas, was die Straße absolut nicht wollte.Schlimmer noch war, daß Nagys umgebildete Regierung auch imübrigen Lande ke<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>druck machte. »Rundfunk Freies Miskolc«lehnte rundweg ab: »Wir Werktätigen vom Komitat Borsod . . . werdenunseren Streik fortsetzen, bis unsere Forderungen, vor allem nach Abzugder Sowjettruppen, erfüllt s<strong>in</strong>d.« E<strong>in</strong>ige Zeit später, am selben Tag,betonte derselbe Rundfunksprecher: »Das ungarische Volk hat ke<strong>in</strong>Vertrauen zu e<strong>in</strong>igen Männern <strong>in</strong> Imre Nagys Regierung . . . Ne<strong>in</strong>, ne<strong>in</strong>,tausendmal ne<strong>in</strong> sagen Miskolc, Pécs, Györ und das ganze Komitat482


Borsod . . . Imre Nagy sollte den Mut haben, sich von Politikernloszusagen, die sich nur auf Waffen zur Unterdrückung des Volkesstützen.«Schwerfällig, aber entschlossen, setzte Moskau se<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>mal entschiedenen,mysteriösen Weg fort. Um e<strong>in</strong>er Verurteilung durch dieVere<strong>in</strong>ten Nationen zuvorzukommen, mußte die Legalität der sowjetischenIntervention hergestellt werden. An diesem Tage, dem 27. Oktober,nahm der sowjetische Botschafter Andropow Verb<strong>in</strong>dung mit se<strong>in</strong>emFreund, Nagys jungem stellvertretenden M<strong>in</strong>isterpräsidenten Hegedüs, aufund kam noch e<strong>in</strong>mal auf das allzu <strong>in</strong>formelle telephonische Ersuchenzurück, das die Akadémia utca vor vier Tagen an Moskau gerichtet hatte,das Ersuchen um sowjetische militärische Hilfe zur Niederschlagung des<strong>Aufstand</strong>s. Moskau wollte diese Forderung jetzt schwarz auf weißbesitzen: Andropow überreichte Hegedüs e<strong>in</strong> mit Schreibmasch<strong>in</strong>ebeschriebenes Papier und forderte ihn auf, Imre Nagys Unterschrift zubeschaffen. Dar<strong>in</strong> hieß es: »Im Auftrage der Regierung der ungarischenVolksrepublik bitte ich die Regierung der Sowjetunion, Truppen nachBudapest zu entsenden, um die Unruhen <strong>in</strong> Budapest zu beenden, dieOrdnung unverzüglich wiederherzustellen und die Voraussetzungen füre<strong>in</strong>e friedliche und konstruktive Aufbauarbeit zu schaffen.«ÁÏHegedüs eilte mit dem Dokument zum M<strong>in</strong>isterpräsidenten. AberNagy war ke<strong>in</strong> Narr: Als er dieses Ersuchen gebilligt hatte, war es s<strong>in</strong>nvollgewesen, aber jetzt nicht mehr. Er weigerte sich, es zu unterzeichnen.Hegedüs war empört über die nach se<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung unehrenhafte HaltungNagys. Heute sagt er: »In diesen Tagen dachte ich, daß nur Imre Nagy dieSituation retten konnte. Me<strong>in</strong> eigenes politisches Leben war am Ende; ichbegrüßte diese Tatsache. Ich konnte nunmehr <strong>in</strong> me<strong>in</strong>en eigentlichenBeruf zurückkehren, zur Soziologie.«ÁÌInzwischen wurden Nagys Palad<strong>in</strong>e immer aktiver. Die kommunistischeJournalistenschar, die im Polizeipräsidium Zuflucht gesucht hatte,wurde ständig größer. Kopácsi stellte ihnen se<strong>in</strong> Sekretariat zur Verfügung483


und erschien regelmäßig, um mit ihnen zu diskutieren.ÁÓ Die JournalistenAczél und Fazekas waren Tag und Nacht dort, am 27. Oktober erschienauch Gimes. Über hundert ÁVH-Männer hatten ebenfalls im PolizeigebäudeSchutz gesucht. Hier warteten sie das Unwetter ab, <strong>in</strong>dem sieKarten spielten oder endlos am Telephon schwatzten. Die JournalistenTibor Méray, Pál Löcsei und Péter Erdös hielten die Verb<strong>in</strong>dung zuKopácsi Nagy, zum Schriftstellerverband und zu anderen wichtigenStellen aufrecht. Kopácsi wurde oft von se<strong>in</strong>em Freund und NachbarnJózsef Szilágyi aufgesucht, den Nagy soeben zu se<strong>in</strong>em Kab<strong>in</strong>ettschefernannt hatte: Seit Beg<strong>in</strong>n des <strong>Aufstand</strong>s war dieser schwarzhaarige,breitschultrige Bauernsohn, leidenschaftlicher Anwalt und frühererPolizeioberst, überall dabeigewesen. Er war Zeuge jedes Gefechts, er warhier <strong>in</strong> Kopácsis Polizeipräsidium belagert worden. Auf e<strong>in</strong>em Photo siehtman, wie er mit e<strong>in</strong>em Strick <strong>in</strong> der Hand das Stal<strong>in</strong>denkmalh<strong>in</strong>aufklettert. Mit leuchtenden Augen erzählte er Kopácsi Dies ist e<strong>in</strong>erichtige, herrliche Revolution. Aus diesem Blutbad wird der erste unde<strong>in</strong>zig wahre demokratische sozialistische Staat entstehen!«ÁÔGeme<strong>in</strong>sam stellte man Listen mit Namen für Nagys neues Kab<strong>in</strong>ettauf. Die Schriftsteller und Journalisten versicherten Kopácsi daß das, wasjetzt geschah, e<strong>in</strong>e Revolution sei, e<strong>in</strong>e demokratische Bewegung. Kopácsiwar durch die Gegenwart der Schriftsteller e<strong>in</strong>geschüchtert, aber zugleichauch ermutigt durch ihre Unterstützung; er wies die verschiedenenPolizeibezirke der Hauptstadt an, Zusammenstöße zu vermeiden und jedeMöglichkeit zu Verhandlungen zu nutzen. Er sprach mit dem XI. und XII.Bezirk und sagte, sie sollten ihre Waffen niederlegen; der Polizei im V.,VI. und VII. Bezirk befahl er, sich mit ihren Waffen <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Polizeipräsidiumzu melden.Am selben Tage begab sich Aczél zusammen mit Gimes und Löcsei zuImre Nagy, um ihm zu berichten, was außerhalb se<strong>in</strong>er Festung, derParteizentrale, geschah. In ihrer Begleitung befand sich e<strong>in</strong>e zehnköpfigeDelegation junger Arbeiter aus Angyalföld. Die Begegnung dauerte dreiStunden, Szilágyi fragte Nagy geradeheraus: »Ist Ihnen klar, was <strong>in</strong> derStadt los ist?« und er fügte h<strong>in</strong>zu: »Wissen Sie, daß die Russen <strong>in</strong> Ihrem484


Namen zu Hilfe gerufen wurden?«Nagy wich der Frage aus und erwiderte: »Ich habe die Russen nichtgerufen, aber sie haben versucht, mich zu veranlassen, h<strong>in</strong>terher irgendetwaszu unterzeichnen.« »Und nicht ich war es«, fügte er h<strong>in</strong>zu, »der dasKriegsrecht proklamiert hat. Man hat lediglich me<strong>in</strong>e Unterschrift auf dieProklamation gesetzt.«Plötzlich redeten alle durche<strong>in</strong>ander, aber Nagy gebot Schweigen:»Seid geduldig, me<strong>in</strong>e Freunde. In diesem Augenblick werden wichtigeEntscheidungen getroffen – morgen wird e<strong>in</strong>e Erklärung veröffentlicht,die Sie alle zufriedenstellen wird. Dar<strong>in</strong> bestätigen wir, daß die Revolutione<strong>in</strong>e demokratische, nationale Revolution war und ke<strong>in</strong>e Konterrevolution,und wir werden weiter den Rückzug der sowjetischen Soldaten ausBudapest und andere wichtige Beschlüsse bekanntgeben.«Als Kopácsi mit ihnen zusammen <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Dienstwagen zumPräsidium zurückfuhr, waren alle sehr zufrieden.Was hatte Nagy veranlaßt, plötzlich so energisch aufzutreten? Wiesogab er schließlich den Forderungen der Rebellen nach? Die massivenZerstörungen und das Blutvergießen <strong>in</strong> der Hauptstadt waren vermutliche<strong>in</strong> Grund, aber e<strong>in</strong>e viel größere Gefahr drohte Parteichef Kádár und ihmselbst. In Westungarn kündigten die Rebellen, die über starke Rundfunksenderverfügten, e<strong>in</strong>en Marsch auf Budapest an, der zu e<strong>in</strong>emBürgerkrieg führen würde, falls Nagy nicht mit ihnen am gleichen Strangziehen sollte.Von diesem Tage an wurde die Kluft, die die Partei spaltete, immergrößer. Gimes g<strong>in</strong>g zum Verlagsgebäude Freies Volk, um dem ChefredakteurMárton Horváth beim Abfassen e<strong>in</strong>es Leitartikels für die nächsteAusgabe zu helfen. Dar<strong>in</strong> hieß es trotzig: »Wir stimmen nicht mit denenübere<strong>in</strong>, die die Ereignisse der letzten Tage e<strong>in</strong>fach als konterrevolutionärenfaschistischen Putschversuch abstempeln wollen. Schließlich undendlich müssen wir erkennen, daß sich <strong>in</strong> unserem Land e<strong>in</strong>e großenationale demokratische Bewegung entwickelt hat . . . «Dies war dieselbe Sprache, wie sie auch <strong>in</strong> dem Losonczy-Donáth-485


Memorandum zum Ausdruck kam, das vom Zentralkomitee abgelehntworden war. Die Veröffentlichung des Artikels beschwor e<strong>in</strong>en Ausbruchder Empörung herauf, die noch nachhallte, als der <strong>Aufstand</strong> längst vorüberwar. Kádár der se<strong>in</strong>en Irrtum widerrief, behauptete Monate später: »Dieserberühmte Leitartikel . . . führte, so könnte man sagen, fast zu e<strong>in</strong>emvollständigen moralischen Zusammenbruch der Verteidigung derVolksrepublik. Dieser Artikel entsprach nicht der Politik des Zentralkomitees.«ËÊJetzt begann der <strong>in</strong>terne Kampf gegen Nagys neue politische L<strong>in</strong>ie.Am Abend des 27. Oktober trat der Militärausschuß des Zentralkomiteesim Verteidigungsm<strong>in</strong>isterium zusammen und beschloß e<strong>in</strong>enGeneralangriff auf die Stützpunkte der Rebellen, der morgens um 5 Uhrbeg<strong>in</strong>nen sollte. Bei Tagesanbruch sollten alle Rebellen, die die Corv<strong>in</strong>-Passage, den Baross tér und den Széna tér sowie den Móricz Zsigmondkörtér hielten, vernichtet werden. Generalmajor István Kovács, der zuvordie Kilián-Kaserne und die Corv<strong>in</strong>-Passage aufgesucht hatte, wurde mitder Durchführung des Angriffs beauftragt. Unterstützt werden sollte erdabei von Oberst Miklós Szücs, jenem fetten ÁVH-Offizier, der vorsieben Jahren dem blutrünstigen Gábor Péter und se<strong>in</strong>em sowjetischenBoß Bielk<strong>in</strong> geholfen hatte, den Rajk-Prozeß vorzubereiten. UmMitternacht hielt Imre Mezö e<strong>in</strong> Treffen der leitenden Funktionäre derBudapester KP am Platz der Republik ab und unterrichtete se<strong>in</strong>e Genossenüber den dramatischen Plan.Imre Nagy verh<strong>in</strong>derte jedoch die Ausführung dieser Operation.Generalstabschef Lajos Tóth sagte später aus: »Er drohte mit se<strong>in</strong>emRücktritt als M<strong>in</strong>isterpräsident, wenn der Plan ausgeführt werden würde.«Am 28. Oktober um 4.30 Uhr morgens rief Nagy den Verteidigungsm<strong>in</strong>isterJanza an, um ihm dieselbe Botschaft zu übermitteln. »Wenn Siedie Corv<strong>in</strong>-Passage angreifen, trete ich zurück. Ich b<strong>in</strong> gegen jeglichesBlutvergießen.« Generalmajor István Kovács machte folgende handschriftlicheNotiz: »Nicht das Feuer auf den Wohnblock eröffnen, dieswürde, politisch gesehen, zu e<strong>in</strong>er sehr schwierigen Situation führen. IrnreNagy hat ausdrücklich angeordnet, diese Operation nicht auszuführen.«ËÁ486


Nagy wußte, daß der Marsch auf Budapest vermutlich unabwendbarwäre, wenn dieser Angriff stattf<strong>in</strong>den würde.487


34WaffenstillstandAM SONNTAG, den 28. Oktober 1956, wurde der Druck auf M<strong>in</strong>isterpräsidentImre Nagy immer stärker. Der Ausblick von se<strong>in</strong>em Büro imersten Stock der Akadémia utca, dem Hauptquartier des Zentralkomitees,war düster. Die Aufständischen identifizierten ihn öffentlich mit denUnterdrückungsmaßnahmen der letzten Wochen – mit dem E<strong>in</strong>satzsowjetischer Panzer und Sturmgeschütze gegen die Arbeiter und jungenLeute, die unter der ungarischen Fahne kämpften, mit dem Masch<strong>in</strong>engewehrfeuerder ÁVH auf die Volksmenge am Parlamentsplatz. DieVeränderungen <strong>in</strong>nerhalb des M<strong>in</strong>isterrats vom Vortag befriedigten dieRebellen <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er Weise. Ke<strong>in</strong>er der Stützpunkte der Aufständischen warliquidiert worden, und täglich meldeten sich neue Rebellensender imÄther. Die Hoffnung, daß der <strong>Aufstand</strong> schnellstens niedergeschlagen undvergessen se<strong>in</strong> würde, schwand, und die Überzeugung wuchs, daß nur e<strong>in</strong>baldiger Waffenstillstand e<strong>in</strong> Pogrom <strong>in</strong> Budapest, e<strong>in</strong>en Bürgerkrieg <strong>in</strong><strong>Ungarn</strong> verh<strong>in</strong>dern konnte.E<strong>in</strong>ige der stärksten Stellungen der Revolutionäre lagen jetzt <strong>in</strong> Buda,der westlichen Hälfte der Stadt, wo József Dudás das Kommando übernommenhatte. In der Nähe des Széna tér hatte Dénes Kovács e<strong>in</strong>enkle<strong>in</strong>en Trupp geführt, er überfiel aus dem H<strong>in</strong>terhalt Armeelastwagen, dieam Mittwoch mit Munition für die ÁVH-Truppen jenseits des Flusses <strong>in</strong>Pest <strong>in</strong> Richtung Margaretenbrücke fuhren. Mit der erbeuteten Munitionrichteten die Rebellen ihre Gefechtsstände <strong>in</strong> wabenförmigen Tunnels e<strong>in</strong>,die unterhalb des Széna tér für e<strong>in</strong>en U-Bahnhof gebaut worden waren.Am nächsten Tag fanden sie <strong>in</strong> János Szabó, e<strong>in</strong>em schurrbärtigen488


neunundfünfzigjährigen Bauern, ihren Führer, der aufgrund se<strong>in</strong>er onkelhaftenAutorität von da an bis zu se<strong>in</strong>er H<strong>in</strong>richtung als »Onkel János«bekannt wurde.Á Er hatte wegen »Spionage« und illegaler Grenzüberschreitungim Gefängnis gesessen und sah deshalb ke<strong>in</strong>e Veranlassung,die Roten zu lieben. Am 28. Oktober hatte Dudás ihn zum»Oberstleutnant« <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Privatarmee ernannt und ihm das ganze Gebietvom Széna und Moskva tér bis zur Maros utca anvertraut.Se<strong>in</strong>e Truppe führte e<strong>in</strong>ige bemerkenswerte Aktionen durch. Munitionholten sie sich aus den Arsenalen der Hüvösvölgy- und Bem-Kasernen.Dem Kommandeur, Oberst Kövágó, war von Szabós Stellvertreter, e<strong>in</strong>emvierunddreißigjährigen armenischen Auswanderer namens Kemal Ekren,am 26. Oktober e<strong>in</strong> Ultimatum von zehn M<strong>in</strong>uten gestellt worden. DieSzéna-tér-Kampfgruppe war mit tschechischen Revolvern, russischenMasch<strong>in</strong>enpistolen und Funkgeräten ausgerüstet. Sie kämpften mitPhantasie und Mut – <strong>in</strong>dem sie zum Beispiel russische Panzer durchfalsche Funkmeldungen <strong>in</strong> den H<strong>in</strong>terhalt lockten.Ë Am 27. Oktober wiesdie Regierung Nagy e<strong>in</strong>en Armeemajor der Bem-Kaserne an, über e<strong>in</strong>enWaffenstillstand zu verhandeln. Ekren erklärte, er handele auf Befehl»höherer Stellen«, womit wahrsche<strong>in</strong>lich Dudás geme<strong>in</strong>t war. (Er fügteunglaubwürdig h<strong>in</strong>zu, daß »morgen Verstärkungen aus Westdeutschlande<strong>in</strong>treffen würden«.) Ekren lehnte es ab, die Legalität der Regierung Nagyanzuerkennen. »Wir brauchen ke<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>zigen M<strong>in</strong>ister der Regierung«,erklärte er, »nicht e<strong>in</strong>mal Béla Kovács. Wir haben nämlich bereits dierichtigen Männer für alle M<strong>in</strong>isterposten.«ÈSo g<strong>in</strong>g der Kampf hier weiter, aber gewisse Garantien müssen denAnführern vom Széna und Moskva tér gegeben worden se<strong>in</strong>, denn amnächsten Tag, dem 28. Oktober gab Radio Budapest um 7.20 Uhr bekannt,daß Armee-Unterhändler mit den Rebellen vom Moskva tér nachverschiedenen e<strong>in</strong>leitenden Konferenzen <strong>in</strong> der vergangenen Nacht übere<strong>in</strong>e Waffenruhe verhandelten.E<strong>in</strong> sehr viel bedeutsamerer revolutionärer Kern hatte sich <strong>in</strong> Györ <strong>in</strong>Westungarn gebildet. Wilde Gerüchte breiteten sich aus, wonach ÖsterreichHeerese<strong>in</strong>heiten an der Grenze habe aufmarschieren lassen. Unter489


der städtischen Bevölkerung gärte es. Ständig kamen ausländische Wagenmit Journalisten und Lieferungen des Roten Kreuzes. Man hörte dieSender nichtkommunistischer Rundfunkstationen jenseits der Grenze.Jedes westliche Auto wurde umdrängt, die Journalisten herausgeholt, manzeigte ihnen die ÁVH-Kerker, die Tonbänder mit abgehörten Telephongesprächen,die schalldichten Folterkammern und die Blutflecken an denWänden – schließlich die zerbrochenen Äste und Blutspuren am Gehwegzum nahen Magyaróvár, wo der ÁVH-Soldat gelyncht worden war.Í Hier,<strong>in</strong> Györ, hatte sich die ÁVH aufgelöst, der Chef der Geheimpolizei war <strong>in</strong>die Tschechoslowakei geflohen, und der Militärkommandant hatte sichmit se<strong>in</strong>en Soldaten den Aufrührern angeschlossen.Von noch größerer Bedeutung war, daß die <strong>in</strong> Györ stationiertensowjetischen Soldaten sich aus allem herausgehalten hatten – sie warenentgegenkommender und lässiger geworden, so wie die deutschenOffiziere 1944 im besetzten Frankreich. Der sowjetische Kommandeurlehnte es entschieden ab, sich <strong>in</strong> die <strong>in</strong>ternen Angelegenheiten der <strong>Ungarn</strong>e<strong>in</strong>zumischen, und me<strong>in</strong>te: »Ich glaube, daß der <strong>Aufstand</strong> . . . gegen dietyrannischen Führer gerechtfertigt ist.«Î Als die Bürger von Györ ihnhöflich baten, die Grenzen der Stadt zu verlassen, verlagerte er zuvorkommendse<strong>in</strong>e Truppen <strong>in</strong> das nächste Dorf, nach Györszentiván, undschlug se<strong>in</strong> Lager <strong>in</strong> den benachbarten Wäldern auf. Die <strong>Ungarn</strong> warenverblüfft, aber dankbar und schickten Lebensmittel für se<strong>in</strong>e hungrigenSoldaten und Milch für die Familien. E<strong>in</strong>ige Tage später gab er e<strong>in</strong>eErklärung ab, um se<strong>in</strong>en persönlichen Ärger darüber zum Ausdruck zubr<strong>in</strong>gen, daß man se<strong>in</strong>e Soldaten provoziert habe: »Man bewarf sie mitSte<strong>in</strong>en und bespuckte sie«, erklärte er. Der Reporter der GyörerRebellenzeitung berichtete: »Als wir uns trennten, sagte mir dersowjetische Militärkommandeur, daß er uns <strong>in</strong> bester Er<strong>in</strong>nerung behaltenwerde.«ÏDer oppositionelle Kern <strong>in</strong> Györ begann sich am 27. Oktober herauszuschälen.Unter der Führung von György Szabó, e<strong>in</strong>em Metallarbeiter,der stets <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em blauen, fadensche<strong>in</strong>igen Anzug erschien, wurde e<strong>in</strong>Arbeiterrat gebildet. Außerdem konstituierte sich e<strong>in</strong> größeres politisches490


Gremium, e<strong>in</strong> NationalratÌ: Se<strong>in</strong> Name verriet höheren als nur örtlichenEhrgeiz. Die eigentliche Macht h<strong>in</strong>ter diesem Rat verkörperte e<strong>in</strong> lokalerPolitiker namens Attila Szigethy. Während der vergangenen Jahre war erder Kommunist Nr. 2 dieser Stadt gewesen. Vor se<strong>in</strong>em Übertritt zu ImreNagy während des Neuen Kurses war er führender Abgeordneter dergleichgeschalteten Nationalen Bauernpartei. Er war ungefähr fünfunddreißigJahre alt, e<strong>in</strong> stämmiger, breitschultriger, etwas gebückter Mannmit e<strong>in</strong>er dicken Brieftasche, die ebenso zu ihm zu gehören schien wiese<strong>in</strong> roter Walroßbart. Die Ansichten über ihn schwankten. Manche Leuteverglichen ihn mit dem wankelmütigen Imre Nagy.Ó Der jugoslawischeEx-Diplomat Lazarus Brankov, der nach se<strong>in</strong>er Entlassung aus demGefängnis nach Györ verbannt worden war, kritisierte ihn wegen se<strong>in</strong>erUnfähigkeit, Verantwortung zu delegieren.ÔUnter dem starren Blick e<strong>in</strong>es immer noch an der Wand hängendenLen<strong>in</strong>-Bildes hatte Szigethy e<strong>in</strong>en Rat nach dem Vorbild des russischen»Sowjet« <strong>in</strong>s Leben gerufen, der aus den <strong>in</strong>zwischen obligatorischgewordenen Arbeitern, Studenten und Intellektuellen bestand, aber auchvier militärische Delegierte als Mitglieder hatte. Die treibende Kraft h<strong>in</strong>terihm war die Menge draußen. Hunderte von Bürgern drängten sich ständigvor dem barocken Rathaus, begierig, neue Nachrichten vom <strong>Aufstand</strong> undrevolutionäre Proklamationen zu hören. Sie verlangten Taten undReformen, nicht bloß Worte. Das Komitee hielt Dauersitzungen ab. DerRuf nach e<strong>in</strong>em motorisierten Marsch zur Hauptstadt zur Durchsetzungihrer revolutionären Forderungen wurde immer lauter. Wichtigster Punkt:Die Russen sollten sofort das Land verlassen.Szigethy befand sich ständig unter Druck. Stets war er umgeben vonTelephonen, bewaffneten Revolutionswachen, Sekretär<strong>in</strong>nen und Heeresoffizieren.Das Zimmer hallte wider von den dumpfen Stößen derGewehrkolben auf den kahlen Holzfußböden. Jede Aktion wurde von runde<strong>in</strong>em Dutzend westlicher Reporter verfolgt, die ihm förmlich im Nackensaßen. Es war e<strong>in</strong> ständiges Kommen und Gehen, Flüstern, Schulterklopfenund Salutieren, während draußen noch immer e<strong>in</strong>e zum Teilbewaffnete und erregte Menge brodelte.491


E<strong>in</strong>e typische Sitzung dieses Nationalrats <strong>in</strong> Györ wird von zuverlässigenQuellen beschrieben. Szigethys Stellvertreter, György Szabó,erschien verspätet <strong>in</strong> Begleitung e<strong>in</strong>es sich wild gebärdenden Mannesnamens Lajos Somogyvári, der ihm e<strong>in</strong>e Pistole <strong>in</strong> den Nacken hielt. Eswurde behauptet, er sei von József Dudás geschickt worden. Somogyváriergriff das Wort und versuchte, e<strong>in</strong>e Rede über Imre Nagys Verrat <strong>in</strong>Budapest zu halten. Dann erzwang er sich Zugang zu e<strong>in</strong>em Balkon undhielt e<strong>in</strong>e zündende Ansprache an die Masse draußen; als Antwort aufse<strong>in</strong>e aufputschenden Worte entstand e<strong>in</strong> Tumult. E<strong>in</strong> ehemaliger Druckerund Sozialdemokrat drohte ihm Schläge an, falls er nicht den Mundhalte.ÁÊ Da Szigethy selbst noch nicht erschienen war, erklärte der tobendeMann die Sitzung e<strong>in</strong>fach für eröffnet, und e<strong>in</strong> Teil des neuen Rats wardamit e<strong>in</strong>verstanden. »In diesem Augenblick«, er<strong>in</strong>nerte sich der Druckerspäter, »hatten wir ke<strong>in</strong>e andere Wahl, als die Armee herbeizurufen undSomogyvári <strong>in</strong> Haft nehmen zu lassen.« Die Demokratie war vorerst noche<strong>in</strong>e zarte Blume im revolutionären Györ.ÁÁAm 27. Oktober um 23 Uhr gab Szigethy e<strong>in</strong>e Pressekonferenz. DieMenge draußen war <strong>in</strong>zwischen auf 1200 Personen angewachsen. Erstellte fest, daß er Imre Nagy weitgehend unterstütze, fügte aberunheilverkündend h<strong>in</strong>zu: »Es gibt D<strong>in</strong>ge, die die Regierung Nagy nochnicht gesagt hat.« Später am Abend, während die Menge draußen ihreAblehnung des umgebildeten Kab<strong>in</strong>etts Nagy lautstark zum Ausdruckbrachte, zwängte sich Szigethy auf e<strong>in</strong>en Stuhl h<strong>in</strong>ter e<strong>in</strong>em Schreibtisch,rief Budapest an und übermittelte se<strong>in</strong> erstes Ultimatum an die Regierung.Funktionäre versuchten vom Balkon aus die Menge zu beruhigen, aber eswar nicht leicht. »Wir haben genug Kommunismus gehabt«, hörte man dieLeute rufen. »Wir wollen e<strong>in</strong>e neue Regierung <strong>in</strong> Budapest!«Während er se<strong>in</strong>en Stal<strong>in</strong>-Schnurrbart drehte, klemmte Szigethy dasTelephon an e<strong>in</strong> Ohr, er verlangte, mit e<strong>in</strong>em Bevollmächtigten zusprechen.Der Druck auf Szigethy verstärkte sich. Man hörte erste Gerüchte überse<strong>in</strong>e Vergangenheit als Mitläufer. »Wir können ihm nicht hundertprozentigvertrauen«, äußerte der Stadtschreiber empört gegenüber dem492


Reporter der New York Times, Homer Bigart. E<strong>in</strong>e maßgebende Persönlichkeitmeldete sich am anderen Ende des Telephons, und Szigethydiktierte se<strong>in</strong> Ultimatum: »Das Volk und me<strong>in</strong> Nationalkomitee forderndie sofortige Bekanntgabe e<strong>in</strong>es Term<strong>in</strong>s für freie Wahlen, die <strong>in</strong>nerhalbvon zwei oder drei Monaten stattf<strong>in</strong>den sollen.« Er fügte die anderenbekannten Forderungen h<strong>in</strong>zu – sofortige Waffenruhe und Rückzug derRussen aus <strong>Ungarn</strong>. »Wir wollen noch heute nacht e<strong>in</strong>e klare Antwort«,rief er <strong>in</strong> den Apparat. Und: »Wir haben 10.000 Mann, die bereitstehen,nach Budapest zu marschieren.«E<strong>in</strong> Mann <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em schmutzigen Trenchcoat zupfte Bigart am Ärmelund flüsterte: »Die Russen br<strong>in</strong>gen 200 oder 300 Panzer vom Osten nach<strong>Ungarn</strong>. Wir hörten es soeben am Bahnhofstelegraphenamt. Es istamtlich.«ÁËAls es am Nachthimmel zu dämmern begann, startete der Reporter derDaily Mail Noel Barber, se<strong>in</strong>en Borgward und fuhr kreuz und quer durchdas Gebiet von Buda. Er beobachtete, wie die Russen ihre Stellungen anden Brücken <strong>in</strong>zwischen mit Feldartillerie, Panzern und Infanterieverstärkten. In der Umgebung des Moskva tér hatte am Vortrag e<strong>in</strong>ezwölfstündige Schlacht stattgefunden, das war nicht zu übersehen. Als erversuchte, nach Pest h<strong>in</strong>überzufahren, wurde er trotz weißer Fahne undUnion Jack am Wagen zurückgewiesen, er hatte jedoch auf der Brückee<strong>in</strong>en Drei-Tonnen-Lastwagen entdeckt und die Leichen des Fahrers undse<strong>in</strong>es Beifahrers, die man mit Mehl aus mit Bajonetten aufgeschlitztenSäcken überschüttet hatte. Man gab Barber zu verstehen, daß die SowjetsWaffen zwischen dem Mehl entdeckt hatten.Radio Budapest begann se<strong>in</strong>e Sendungen. Es war Sonntag, der 28.Oktober. In den Nachrichten hieß es, während der Nacht habe <strong>in</strong> der StadtRuhe geherrscht. »Es gab ke<strong>in</strong>e bewaffneten Zusammenstöße.« Um 6 Uhrwurde gemeldet, zwischen der Armee und verschiedenen Rebellenführernhätten Gespräche stattgefunden.ÁÈ Mit den Rebellen vom Széna undMoskva tér sei e<strong>in</strong> Waffenstillstand vere<strong>in</strong>bart worden.493


An der Kilián-Kaserne kämpfte immer noch Oberst Maléter. Aufbeiden Seiten gab es schwere Verluste. Hauptmann Illés, Vater von vierK<strong>in</strong>dern und seit 1945 Parteimitglied, war von e<strong>in</strong>em verwundeten sowjetischenPanzeroffizier erschossen worden; der Russe wurde gefangengenommenund sagte aus, se<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>heit sei von Rumänien aus nachBudapest geschickt worden. Zwei russische 122-mm-Geschütze aufSelbstfahrlafette waren nahe dem Café Valeria auf der Üllöi út <strong>in</strong> Stellunggegangen und nahmen systematisch die Kasernenecken unter Beschuß. Siewurden mit Molotow-Cocktails der Kämpfer von der Corv<strong>in</strong>-Passage zumSchweigen gebracht. Maléter erzählte später dem Reporter Sefton Delmer,e<strong>in</strong> ungarischer Offizier sei mit e<strong>in</strong>er weißen Fahne erschienen und habee<strong>in</strong> Exemplar der Zeitung Freies Volk mit Imre Nagys neuer Kab<strong>in</strong>ettslistezurückgelassen. »In se<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung«, sagte der Nachrichtensprecher andiesem Morgen, »stimmt das neue ungarische Kab<strong>in</strong>ett . . . mit denInteressen des ganzen ungarischen Volkes übere<strong>in</strong>, es wird die wichtigstenForderungen der sechzehn Punkte erfüllen.« Aber der Rebellenoberstwiederholte se<strong>in</strong>e Hauptforderungen: die Rote Armee müsse sich sofortaus Budapest und bis Mitte November aus ganz <strong>Ungarn</strong> zurückziehen; dieRebellen müßten politische Entscheidungen <strong>in</strong>nerhalb der Armee treffenund – dies war vielleicht die bitterste Pille – auch Imre Nagy müsseöffentlich se<strong>in</strong>e Zustimmung zum <strong>Aufstand</strong> erklären.Imre Nagy seufzte, als diese Botschaft ihn erreichte. Er war e<strong>in</strong> alterMann und für e<strong>in</strong>en solchen Widerstand nicht gewappnet. Er würdeweitere Konzessionen machen müssen. Er schleppte sich langsam wie e<strong>in</strong>tödlich getroffener Cowboy die staubige Bahn entlang, die dierebellischen Horden schon längst h<strong>in</strong>ter sich hatten. Er würde sie niee<strong>in</strong>holen können. Am Morgen hielt er mit den Emissären des Kreml,Mikojan und Suslow, e<strong>in</strong>e Geheimkonferenz ab. Er forderte freie Handzur Lösung der Krise. Als Vorbed<strong>in</strong>gung verlangte er, daß Hegedüs, Geröund die anderen Stal<strong>in</strong>isten <strong>Ungarn</strong> auf der Stelle verlassen müßten. Diebeiden Sowjetfunktionäre erklärten sich damit e<strong>in</strong>verstanden. Um il Uhrbenachrichtigte man Hegedüs davon und gab ihm bis zum Nachmittag494


Zeit, se<strong>in</strong>e Koffer für den Flug nach Moskau zu packen.ÁÍ Er sollte se<strong>in</strong>egesamte Familie mitnehmen, obgleich se<strong>in</strong>e Frau <strong>in</strong>nerhalb der nächstenfünf Tage das sechste K<strong>in</strong>d erwartete.Durch das nächste Ultimatum, das Szigethy über den Sender Györverkündete, wurde Nagy e<strong>in</strong>e Frist gesetzt. Er sollte den Befehl zur E<strong>in</strong>stellungder Kampfhandlungen erteilen und den sowjetischen Oberkommandierendenersuchen, das Feuer ebenfalls e<strong>in</strong>zustellen. »Wirerwarten Imre Nagys persönliche Antwort bis spätestens 8 Uhr.«Imre Nagys Büro rief Attila Szigethy an, der Rebellenführer stellte nunnoch maßlosere Forderungen. Ferenc Erdei, der jahrelang mit ihm <strong>in</strong> derBauernpartei gewesen war, vermittelte das Gespräch. Am Ende derLeitung <strong>in</strong> Györ war e<strong>in</strong> Reporter der Wiener Zeitung Echo Zeuge vonSzigethys Vorgehen. Er schrieb: »Unser Gespräch ist unterbrochen:Budapest ist wieder <strong>in</strong> der Leitung. Szigethy hört gespannt zu, dieKonversation dauert zehn M<strong>in</strong>uten. Unser Dolmetscher übersetzt Teile desGesprächs. Die ungarische Regierung ist bereit, die Besatzungstruppenzurückzuziehen. Die Regierung bietet Verhandlungen mit Szigethy an.Szigethys Reaktion: Ablehnung des Anerbietens. ›Solange noch aufunsere Bevölkerung <strong>in</strong> Budapest geschossen wird, werde ich nicht mitKommunisten sprechen. Der Rückzug der Besatzungstruppen ist e<strong>in</strong>Beschwichtigungsmanöver. Was ich verlange, ist e<strong>in</strong>e aus Patriotengebildete Regierung. Sie kann zunächst e<strong>in</strong>en provisorischen Charakterhaben, muß aber letztlich durch geheime Wahlen zusammengestelltwerden. Und alle Parteien sollen wiederum im Parlament vertreten se<strong>in</strong> –auch die Kommunisten, wenn es se<strong>in</strong> muß.‹ «ÁÎUm 13.20 Uhr gab Imre Nagy nach und befahl den Waffenstillstand.Das offizielle Kommuniqué wurde unerwartet von Radio Budapest verbreitet,es war von Imre Nagy persönlich unterzeichnet:»Die Regierung der Ungarischen Volksrepublik befiehltden sofortigen Waffenstillstand, um weiteres Blutvergießenzu verh<strong>in</strong>dern und e<strong>in</strong>e friedliche Entwicklung zu gewähr-495


leisten. Sie weist die Streitkräfte an, nur im Falle e<strong>in</strong>esAngriffs zu schießen.«Der entsprechende Befehl an die Truppen wurde von Janza undMünnich unterzeichnet.»Was war der wirkliche Grund für die kriegerischen Ause<strong>in</strong>andersetzungender vergangenen Tage <strong>in</strong> Budapest?« philosophierte RadioBudapest. »Verzögerung, Zeitverlust, die Unfähigkeit, die wirkliche Situationzu begreifen, und völlige Mißachtung des Volkswillens.«Nagy beugte sich praktisch allen Forderungen Szigethys und Maléters.Um 17.20 Uhr sprach er selbst im Rundfunk, und diese Rede war sowohldem Text als auch dem Inhalt nach aufsehenerregend. Vorbei war dieAnrede »Genosse« – vorbei auch der marxistisch-len<strong>in</strong>istische Jargon, derso trocken war wie abgestandener Kaffeesatz: In der Tat ist es kaumanzunehmen, daß Nagy die Rede selbst formuliert haben könnte. Anderemüssen geholfen haben. Mit den Worten des Leitartikels der MorgenausgabeFreies Volk erklärte er, der <strong>Aufstand</strong> sei ke<strong>in</strong>e »Konterrevolution«gewesen, wie manche behaupteten. »Die Regierung lehnt esab, die gewaltige Volksbewegung als Konterrevolution zu betrachten. Esist unbestreitbar, daß <strong>in</strong> dieser Bewegung e<strong>in</strong> großer nationaler und demokratischerImpuls wirksam geworden ist, der unser ganzes Volk umfaßtund e<strong>in</strong>t. Inmitten der Kämpfe wurde e<strong>in</strong>e Regierung der demokratischenund nationalen E<strong>in</strong>heit, der Unabhängigkeit und des Sozialismus geboren,die zum echten Ausdruck des Volkswillens geworden ist. Die ungarischeRegierung hat Verhandlungen e<strong>in</strong>geleitet, die e<strong>in</strong>e Neuordnung derBeziehungen zwischen der Ungarischen Volksrepublik und der Sowjetunionund die Frage des Abzugs der sowjetischen Truppen aus <strong>Ungarn</strong>zum Ziel haben. Nach der Wiederherstellung der Ordnung werden wire<strong>in</strong>e neue Staatspolizei aufstellen, die lediglich polizeiliche Funktionen zuerfüllen hat.«Aber wiederum waren die Rebellen <strong>in</strong> Györ Imre Nagy weit voraus.Um 15.30 Uhr hatten die Revolutionssender sich gemeldet. Nunverlangten die Rebellen nichts Ger<strong>in</strong>geres als die Auflösung des496


Warschauer Pakts. Zwei Stunden später ersuchten ihre Sprecher Nagy,direkte Verhandlungen mit den Delegationen der Budapester Rebellenüber die Bildung e<strong>in</strong>er geme<strong>in</strong>samen Regierung aufzunehmen. Um diesendef<strong>in</strong>itiven Forderungen Nachdruck zu verleihen, meldete der Rundfunk,daß die 30.000 Bergleute von Bal<strong>in</strong>ka den Streik fortsetzten; die Bergleutehätten ke<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>wände gegen e<strong>in</strong>e Teilnahme der Kommunistischen Parteiam Wahlkampf mit den anderen Parteien bei freien, fairen Wahlen: »DasVolk wird entscheiden, welche Partei ihr Vertrauen genießt.« Es war e<strong>in</strong>ironischer Unterton <strong>in</strong> diesen Worten.Und um 17.35 Uhr meldete der Rundfunk, daß das ZentralkomiteeNagys Erklärung gebilligt habe. Es war die letzte Amtshandlung des ZK:Es verzichtete von nun an auf die Parteiführung zugunsten e<strong>in</strong>es sechsköpfigenNotstandskomitees oder Präsidiums, dessen Sitze gleichmäßigverteilt waren zwischen Nagys Männern (Kádár, Nagy und Szántó) undden alten Stal<strong>in</strong>isten Apró, Kiss und Münnich. Diese Namen aus der Vergangenheitzeigten, daß die Partei sich immer weiter von den Arbeiternentfernte.Viele der 120 Mitglieder des Zentralkomitees hatten während diesernervenaufreibenden Woche die Nächte <strong>in</strong> ihrer Parteizentrale <strong>in</strong> derAkadémia utca verbracht. Am späten Abend des 28. Oktober war ihreLeidenszeit vorbei. Während dieses ganzen historischen Tages hatte dasKomitee <strong>in</strong> qualvollen Sitzungen getagt. In dem Bewußtse<strong>in</strong>, daß der Siegse<strong>in</strong>er Ideale nahe war, hatte Nagy neun oder zehn se<strong>in</strong>er engstenGefolgsmänner e<strong>in</strong>geladen, ihm <strong>in</strong> das Parteigebäude zu folgen sie durftenallerd<strong>in</strong>gs nicht der Sitzung beiwohnen, sondern mußten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>emNebenzimmer warten. E<strong>in</strong>er von ihnen, Miklós Vásárhelyi, er<strong>in</strong>nert sich:»Wir waren von morgens bis zum Abend <strong>in</strong> Erwartung des Ergebnisses <strong>in</strong>e<strong>in</strong> Zimmer e<strong>in</strong>geschlossen. Abends wurde uns dann die Entscheidungverkündet.« Das Komitee hatte beschlossen, die politische L<strong>in</strong>ie der KP zuändern – die bisherige sei nicht richtig gewesen. Widerstrebend wurdedem Volksaufstand nachträglich der Segen erteilt. Die Nachhut vonRákosis Leuten würde sich bald auf dem Weg nach Moskau bef<strong>in</strong>den.Die Reaktion der meuternden westlichen Prov<strong>in</strong>zen war e<strong>in</strong> Schock für497


das Regime – Nagy brauchte nicht lange darauf zu warten. E<strong>in</strong>eDelegation von vier Studenten der Universität Sopron fuhr nach Györ undverkündete dort über Rundfunk dem ganzen westlichen <strong>Ungarn</strong>, daß esnicht genüge, davon zu reden, die ÁVH »würde aufgelöst werden«: dasLand würde nur die Mitteilung akzeptieren, daß »die ÁVH aufgelöstworden ist«. Und die östlichen Prov<strong>in</strong>zen folgten laut und vernehmlich mitder Verkündung ihrer eigenen Ansichten: Um 18.40 Uhr berichtete derSender Freies Miskolc, nach Ansicht des Arbeiterrats Borsod sei Nagysumgebildetes Kab<strong>in</strong>ett kopflastig. »Es ist völlig überflüssig«, erklärte er,»zweiundzwanzig M<strong>in</strong>ister und drei stellvertretende M<strong>in</strong>isterpräsidentenzu haben.« Er schlug statt dessen e<strong>in</strong> vorläufiges Kab<strong>in</strong>ett vor, <strong>in</strong> demImre Nagy mit Béla Kovács als e<strong>in</strong>zigem stellvertretenden M<strong>in</strong>isterpräsidentenund e<strong>in</strong>er begrenzten Anzahl wichtiger M<strong>in</strong>isterien wieAuswärtiges Amt, Verteidigung, Innere Angelegenheiten, Außenhandel,Gesundheit, Transport und Verkehr regieren würde. E<strong>in</strong> am folgenden Tagverbreitetes Kommuniqué des Arbeiterrats Borsod forderte darüber h<strong>in</strong>ausnachdrücklich den sofortigen Rücktritt von Apró, Kiss und Szántó – allesMitglieder des Politbüros die schon seit langem die Achtung des Volksverwirkt hätten.ÁÏAm Abend des 28. Oktober stieg der ehemalige stellvertretendeM<strong>in</strong>isterpräsident Dr. Hegedüs mit se<strong>in</strong>er Familie vor se<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>enHaus auf dem Szabadság hegy <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Dienstwagen der Regierung, derihn zum sowjetischen Militärhauptquartier <strong>in</strong> Tököl außerhalb der Stadtbrachte. An der Gangway des sowjetischen Militärflugzeugs wartetenbereits Gerö, Piros und Bata mit ihren Familien. E<strong>in</strong>ige Stunden späterlandeten sie <strong>in</strong> Moskau und wurden zu e<strong>in</strong>er Datscha-Siedlung dessowjetischen Zentralkomitees gefahren. Von nun an glaubte Imre Nagy,die absolute Macht <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> zu besitzen.ÁÌAn diesem Nachmittag begann um 16 Uhr e<strong>in</strong>e dramatische Debatteim New Yorker UN-Gebäude. Es war das erste Mal seit 1950, daß derSicherheitsrat an e<strong>in</strong>em Sonntag zsuammengerufen wurde. Der Antragkam von Frankreich, Großbritannien und den Vere<strong>in</strong>igten Staaten. Péter498


Kós, <strong>Ungarn</strong>s <strong>in</strong> Rußland geborener Botschafter <strong>in</strong> Wash<strong>in</strong>gton, schienimmer noch für se<strong>in</strong>e alte Regierung – das <strong>Ungarn</strong> von Rákosi und Gerö –zu arbeiten: Bevor die Sitzung begann, überreichte er dem Generalsekretäre<strong>in</strong>e Protestnote gegen jegliche Debatte über die sowjetische E<strong>in</strong>mischung<strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Land. Unmittelbar danach bat der sowjetische DelegierteSobolew ums Wort und protestierte ebenfalls dagegen, <strong>Ungarn</strong> auf dieTagesordnung zu setzen. Neun der elf Mitglieder des Weltsicherheitsratsstimmten gegen Sobolew, während Jugoslawien sich der Stimme enthielt.Sobolew hatte die Stirn, die Debatte als »e<strong>in</strong>en Versuch, sich <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong>s<strong>in</strong>nere Angelegenheiten e<strong>in</strong>zumischen«, zu bezeichnen. Er betonte, daßnicht e<strong>in</strong>mal Imre Nagy e<strong>in</strong>e Beschwerde beim Weltsicherheitsrate<strong>in</strong>gelegt habe. »Die Westmächte versuchen, die Faschisten undreaktionären Elemente <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> zu unterstützen.«Lodge rief am nächsten Morgen Foster Dulles an und äußerte sichbefriedigt über Jugoslawiens Stimmenthaltung. Er schlug nun e<strong>in</strong>eResolution zur Überwachung der sowjetischen Streitkräfte vor, die vonneun Mächten e<strong>in</strong>gebracht werden sollte. Die Sitzung sollte am Donnerstag,dem 1. November, stattf<strong>in</strong>den, sagte Lodge, die Resolution danne<strong>in</strong>gebracht und »hängengelassen« werden.»Was halten Sie von e<strong>in</strong>er Beobachterkommission?« fragte Dulles.Lodge antwortete: »Die Engländer halten nichts davon.«An diesem Morgen fanden geheime Gespräche zwischen Lodge,Dulles und Frank Wilcox, dem Chef der UN-Abteilung im amerikanischenAußenm<strong>in</strong>isterium, statt. Mittags telegraphierte Lodge <strong>in</strong> New York anDulles, um den Aktionsplan zu bestätigen. Er würde mit den anderenMitgliedern des Weltsicherheitsrats über e<strong>in</strong>en Resolutionsentwurfverhandeln, der den Rückzug aller sowjetischen Truppen, die Abschaffungder politischen Polizei und der paramilitärischen Verbände <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong>fordere und der beantrage – wie er sich ausdrückte –, »den Rückzug durchUN-Beobachter <strong>in</strong> neutraler und ›objektiver‹ Weise überwachen zulassen«. Die grundlegende Taktik sei, so Lodge, »die Sitzung zu vertagen,ohne e<strong>in</strong>en Antrag auf Abstimmung zu stellen«.Wochen später sollten sich die Leute darüber den Kopf zerbrechen,499


warum im Weltsicherheitsrat ke<strong>in</strong>e Resolution über <strong>Ungarn</strong> zur Abstimmungvorgelegt wurde. Die Russen hätten zwar sofort e<strong>in</strong> Veto e<strong>in</strong>gelegt,aber dies hätte den Weg für e<strong>in</strong>e Debatte <strong>in</strong> der Vollversammlung geebnet,wo die wirkliche Macht dieses <strong>in</strong>ternationalen Gremiums liegt. Indemman die Angelegenheit auf der Tagesordnung »stehenließ«, waren derVollversammlung die Hände gebunden.Die nächsten Tage zeigten das UN-Gremium untätig und unwirksam.Telegramme wurden aufgehalten, dann verlegt und zuletzt dementiert;man verstrickte sich <strong>in</strong> den Schl<strong>in</strong>gen der eigenen bürokratischen Regelnund Prozeduren. Die Delegation der Vere<strong>in</strong>igten Staaten versäumte – entwederauf Anweisung von höchster Stelle oder durch bloße Unaufmerksamkeit– alle Möglichkeiten, bis es schließlich für alle Entscheidungen zuspät war.ÁÓ500


35Schlagbäume öffnen sichIN UNTERRICHTETEN Kreisen <strong>Ungarn</strong>s breitete sich Enttäuschung aus, weilder Weltsicherheitsrat sich ohne Abstimmung über irgende<strong>in</strong>e Resolutionvertagt hatte, es herrschte Niedergeschlagenheit über die fehlendeBereitschaft der Vere<strong>in</strong>igten Staaten, konkrete Hilfe anzubieten. JohnMacCormac berichtete <strong>in</strong> der New York Times, daß die <strong>Ungarn</strong> »nochimmer e<strong>in</strong>e rührende Verehrung für alles Amerikanische zeigen, aber esist sehr zweifelhaft, daß dies noch lange dauern wird«.ÁFür die amerikanische Gesandtschaft war die Situation am Morgen des28. Oktober immer noch voller unbeantworteter Fragen. Die österreichischeRegierung hatte dem amerikanischen und britischen Botschafter <strong>in</strong>Wien am 28. Oktober folgenden H<strong>in</strong>weis gegeben: »Wir verfügen überInformationen, wonach drei sowjetische Armeen, <strong>in</strong>sgesamt siebenundzwanzigDivisionen, aus Rumänien, der Tschechoslowakei und derUkra<strong>in</strong>e anrücken.« In e<strong>in</strong>em um 14 Uhr abgesandten Telegramm stellteSpencer Barnes fest, daß die Sowjetunion offensichtlich frische Truppenheranführte. »Auf diese Weise (ist es) möglich, die Herrschaft über Pestzu behalten, sie auf Buda auszudehnen und die Prov<strong>in</strong>zen zu säubern.« Ererwähnte jedoch die Möglichkeit, daß die steigende Anteilnahme desWestens die Russen zw<strong>in</strong>gen könnte, sich durch e<strong>in</strong>en Waffenstillstand,dem Verhandlungen folgen würden, aus der Affäre zu ziehen. Die Russenhatten bereits drei motorisierte Divisionen <strong>in</strong> Budapest. Sie hielten dieSchlüsselstellungen <strong>in</strong> der Stadt und blockierten die Donaubrücken. DieRebellen verfügten lediglich über e<strong>in</strong> paar Stützpunkte, <strong>in</strong> denen nochgekämpft wurde. Warum hatten sich die Russen nicht zu e<strong>in</strong>er Groß-501


offensive gegen die Aufständischen entschlossen? E<strong>in</strong> Telegramm, dasSpencer Barnes an diesem Abend nach Wash<strong>in</strong>gton schickte, begann mitden Worten: »Die gegenwärtige Lage ist völlig anormal, wenn dietatsächliche Situation richtig e<strong>in</strong>geschätzt wird.«ËWas hielt die Russen davor zurück, ihre bekannte eiserne Faustgegenüber den Rebellen zu gebrauchen? Gab es auf höchster Ebene imKreml Me<strong>in</strong>ungsverschiedenheiten? Oder wartete man <strong>in</strong> Moskau vollerZynismus auf irgende<strong>in</strong> anderes Weltereignis, das die eigenen Aktionenverschleiern könnte? Am Abend des 28. Oktober trug der italienischeGesandte folgendes <strong>in</strong> se<strong>in</strong> Tagebuch e<strong>in</strong>: »18 Uhr . . . Die Forderungender Rebellen nach Rückzug der sowjetischen Streitkräfte aus Budapests<strong>in</strong>d angenommen worden, und <strong>in</strong> Kürze soll über den Abzug dersowjetischen Truppen aus dem ganzen Land verhandelt werden . . . sagtNagy. Aber aus dem italienischen Rundfunk haben wir erfahren, daßSowjettruppen aus der Ukra<strong>in</strong>e, aus Rumänien und der Slowakei imAnmarsch s<strong>in</strong>d. Es gibt jedoch noch e<strong>in</strong>e andere Version, wonach NagyGefangener der Russen ist; diese Ankündigung, heißt es, diene lediglichdazu, die Rebellen <strong>in</strong> die Irre zu führen.« Am nächsten Tag berichteteSpencer Barnes <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Telegramm, daß die Aufständischen dr<strong>in</strong>gendauch moralische Unterstützung von höchster Ebene brauchten, »um ihnene<strong>in</strong>e bessere Ausgangsbasis für Verhandlungen und erhöhte Kampfkraftzu geben, wenn der Konflikt andauert«.ÈDie <strong>Ungarn</strong> genießen die ersten siegestrunkenen Stunden <strong>in</strong> vollenZügen, sie verdrängen alle bisherigen schlimmen Vorahnungen. Siebeg<strong>in</strong>nen, ihre Fe<strong>in</strong>de zu jagen und alte Rechnungen zu begleichen. DieVillen der kommunistischen Führer werden geplündert. Die Rebellengründen mit e<strong>in</strong>er solchen schwunghaften Begeisterung Arbeiterräte,revolutionäre Komitees, private Armeen, Zeitungen und politischeParteien, daß sie das ferne Rasseln der Panzerketten, die sich vom Ostenher nähern, überhören. Der Äther ist erfüllt vom Stimmengewirr zahlloserRebellensender auf den ungarischen Wellenlängen. Mehrere Städte –Miskolc, Pécs, Debrecen und Nyiregyháza – unterstützen die Forderungen,die der Sender »Freies Györ« Imre Nagy gestellt hatte. Sie502


glauben, daß ihre vere<strong>in</strong>te Weisheit die Schurkenstreiche der Kommunisten<strong>in</strong> Budapest schneller verh<strong>in</strong>dern kann, als Nagy und Kádár sie sichausdenken.An der Lóránt utca <strong>in</strong> Budapests wohlhabendem XII. Bezirk ist derSchlagbaum, der bis noch vor wenigen Tagen Neugierige von derpalastartigen Villa des gestürzten Diktators Rákosi ferngehalten hatte,geöffnet. Es ist nicht lange her, da bewachten Posten <strong>in</strong> verstecktenSchilderhäusern den »geliebten Führer, unseren weisen Lehrer und teurenVater, Stal<strong>in</strong>s besten ungarischen Gefolgsmann, den Genossen. MátyásRákosi«. Vor se<strong>in</strong>em Zwölf-Zimmer-Haus bef<strong>in</strong>det sich e<strong>in</strong> terrassenförmigangelegter Garten. Daneben liegt e<strong>in</strong>e riesige Garage. Auf demDach s<strong>in</strong>d zwei Antennen – e<strong>in</strong>e für Fernsehen, die andere für e<strong>in</strong>enKurzwellensender.Í Im Inneren herrscht düsteres Schweigen. Dicke, roteTeppiche auf den Treppenstufen schlucken jeden Laut. Bücherbordezieren die Wände des Wohnzimmers: Alle Bücher s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> russischerSprache gedruckt, sche<strong>in</strong>en aber nie gelesen worden zu se<strong>in</strong>. Die Bilders<strong>in</strong>d Reproduktionen russischer Gemälde. H<strong>in</strong>ter e<strong>in</strong>em bef<strong>in</strong>det sich e<strong>in</strong>eK<strong>in</strong>ole<strong>in</strong>wand – die Filmrollen tragen russische Titel, aber Rákosis Fernsehgerätstammt aus Westdeutschland. Auf der Stereoanlage liegenPhotoalben mit Aufnahmen, die Rákosi <strong>in</strong> den verschiedensten Posenzeigen. Im oberen Stockwerk steht e<strong>in</strong> prachtvolles amerikanischesKlavier, das se<strong>in</strong> Monogramm an der Seite trägt. Silberne Zigarettendosenund Aschbecher s<strong>in</strong>d überall im Zimmer verteilt.Die letzten Bewohner haben das Haus offenbar <strong>in</strong> größter Eileverlassen. Papiere s<strong>in</strong>d über dem Schreibtisch verstreut. Die letzteAusgabe der Prawda ist offensichtlich ungelesen. Auf dem Schreibtischliegt e<strong>in</strong> Briefumschlag, den Rákosi von se<strong>in</strong>em Geheimpolizeicheferhalten hat. Er ist leer, aber auf ihm stehen die Worte: »Genosse Rákosiich erbitte diese beiden Briefe bis 8 Uhr mit Anweisungen zurück. GáborPéter, 31. Juli 1948.« Welchem bedauernswerten Opfer wurden dieseBriefe e<strong>in</strong>st zum Verhängnis? Auch Rákosis Parteimitgliedsbuch wirdgefunden. Wenn man es mit den ebenfalls im Schreibtisch entdecktenGehaltsstreifen vergleicht, stellt sich heraus, daß der große Diktator bei503


e<strong>in</strong>em fürstlichen E<strong>in</strong>kommen von über 40.000 For<strong>in</strong>t lediglichbescheidene 160 For<strong>in</strong>t Mitgliedsbeitrag zahlte. Die Rebellen betreten dasstrahlendblaue Badezimmer mit se<strong>in</strong>en Waagen und Sprossenwänden undden Wandschränken, die mit allen Arten von Vitam<strong>in</strong>tabletten vollgestopfts<strong>in</strong>d. Sie staunen über die Hoenson-Zigarren, die teuren französischen undspanischen Schnäpse, die We<strong>in</strong>e und Kognaks aus der ganzen Welt. Siehaben genug gesehen; als sie gehen, sche<strong>in</strong>t Stal<strong>in</strong>s übergroßes Porträtihnen mit e<strong>in</strong>em boshaften Seitenblick auf Wiedersehen zu sagen.Der Sekretär der Budapester KP, Imre Mezö, rechnete mit e<strong>in</strong>emPogrom. Am Morgen des 28. Oktober appellierte er von se<strong>in</strong>em Parteigebäudeaus an den Militärausschuß des Zentralkomitees, ihm zuverlässigeOffiziere der Volksarmee zu schicken, die bei der Aufstellunge<strong>in</strong>er Arbeitermiliz helfen sollten.Î Um 15 Uhr beorderte dasVerteidigungsm<strong>in</strong>isterium Oberst Lajos Tóth zusammen mit zehnStabsoffizieren zum Republikplatz, wo man sich unverzüglich an dieArbeit machte. In Tóths Begleitung befand sich e<strong>in</strong> erfahrener Politruk,Oberst János Asztalos, der die Aufgabe hatte, die propagandistischeSchulung der Offiziere, die <strong>in</strong> jedem Bezirk mit der Ausbildung der Milizbeauftragt waren, zu leiten. Mezö stellte ihnen vier Räume im erstenStockwerk zur Verfügung, die auf die Straße h<strong>in</strong>ausg<strong>in</strong>gen. Nach kurzerE<strong>in</strong>weisung durch Oberst Tóth schwärmten die Heeresoffiziere aus, umdie Parteibüros <strong>in</strong> den e<strong>in</strong>zelnen Bezirken der Stadt aufzusuchen.An jenem Abend berief Mezö e<strong>in</strong>e Sitzung aller Bezirkssekretäre derBudapester KP e<strong>in</strong> und versprach ihnen Waffen für die Aufstellung derArbeitermilizen. Als jemand fragte: »Sollen wir verhandeln oderschießen?« antwortete Mezö mit der ganzen Autorität e<strong>in</strong>es befehlsgewohntenParteifunktionärs: »Wenn ihr die Macht habt, gebraucht sie!Schießt! Dies ist e<strong>in</strong>e Konterrevolution!«Aber die alte Partei war zusammengebrochen. Die Macht war jetzt aufder Seite der Rebellen. Mezö hatte zwar Waffen und Uniformen, dazu vierleere Depots, von denen aus sie an die Arbeitermilizen verteilt werdensollten – aber die Milizen existierten nur <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Phantasie. Im übrigenhatte er nur e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>zigen Lastwagen, um die Vorräte zu verteilen – und504


der fiel alsbald <strong>in</strong> die Hände der Rebellen. Als er schließlich e<strong>in</strong>en Ersatzwagenerhalten hatte, weigerten sich die Werktätigen, die Heeresuniformenanzuziehen.E<strong>in</strong> Gefühl der Hilflosigkeit erfüllte das Parteigebäude am Platz derRepublik. Beim Abhören von Gesprächen über das Telephonnetz derregulären Polizei erfuhren Imre Mezös e<strong>in</strong>same und verängstigteMitarbeiter, daß Polizeipräsident Kopácsi sich weigerte, über 350Polizisten, die <strong>in</strong> ihren Kasernen <strong>in</strong> der Mosonyi utca, ke<strong>in</strong>e 200 Meterentfernt, <strong>in</strong> Bereitschaft standen, zur Überwachung der Ausgangsbeschränkungenoder des Standrechts oder zur Verteidigung der Parteifunktionäree<strong>in</strong>zusetzen.»Sabotage!« Das war das Wort, das die loyalen Untergebenen vonImre Mezö gebrauchten. Er schickte e<strong>in</strong>en se<strong>in</strong>er Leute zu Kopácsi DerPolizeipräsident zuckte lediglich die Achseln. Er stand jetzt von vielenSeiten unter Druck. E<strong>in</strong> Behördenangestellter namens István Eliaspiesackte ihn ständig, doch Polizeikräfte für die Verkehrsregelungabzustellen, wenn schon für nichts anderes. Aber, so sagte Elias, Kopácsiunternahm überhaupt nichts, und bald begannen fünfzehnjährige Jungenals Verkehrspolizisten aufzutreten.Ï Elias drängte auch auf die sofortigeVere<strong>in</strong>igung der zivilen und militärischen Rebellengruppen, um e<strong>in</strong>erichtige Verteidigungsmacht für die Revolution aufzustellen. AberKopácsi zuckte wiederum nur mit den Achseln.Ebenso wie Sándor Kopácsi wünschten sich auch Tausende ungarischerIntellektueller, die Blutvergießen und Kampf verabscheuten, weitweg von hier zu se<strong>in</strong>. E<strong>in</strong> verängstigter Intellektueller wurde e<strong>in</strong>igeMonate später von den Amerikanern analysiert – e<strong>in</strong> vierschrötiger,kahlwerdender, nachlässig gekleideter Budapester Volkswirt vonvierunddreißig Jahren.Ì Er war hoch<strong>in</strong>telligent, aber er hatte sichentschlossen, der Partei beizutreten und marxistische Ökonomie zu lehren,er nutzte se<strong>in</strong> Wissen, um e<strong>in</strong> Privatvermögen anzuhäufen. Se<strong>in</strong>e Motivewaren vielfältig und ungewöhnlich. »Der vorherrschende Zug se<strong>in</strong>erPersönlichkeit ist der Wunsch nach e<strong>in</strong>em bestimmten Status, nach505


Anerkennung und Macht«, sagte die Psychiater<strong>in</strong> Dr. Maria E. Nagy,nachdem sie ihn im März 1957 <strong>in</strong>terviewt hatte. »Was immer er tut, machter, um zu beweisen, daß mehr aus ihm geworden ist, als se<strong>in</strong> Vater vonihm erwartet hat. Se<strong>in</strong> Bedürfnis nach Macht und Bewunderung stammtdarüber h<strong>in</strong>aus von se<strong>in</strong>em Kastrationskomplex – das wurde besondersdeutlich beim Rohrschach-Bilder-Test«, fügte sie h<strong>in</strong>zu.Ihr Kollege Dr. Sigmund Mazey me<strong>in</strong>te, dieser Mann habe e<strong>in</strong>Doppelspiel getrieben. »Im Deutschen nennen wir das e<strong>in</strong>en Mitläufer«,erklärte er. Mazey sagte, dies sei der Grund gewesen, warum er se<strong>in</strong>enWagen den Rebellen, die am Schloßberg kämpften, zum Transport vonMunition und Verwundeten zur Verfügung gestellt habe: Er hatte ke<strong>in</strong>eandere Wahl und me<strong>in</strong>te wohl, daß ihn diese Geste bei den Revolutionärenbeliebt machen würde. E<strong>in</strong> typischer Zaungast. E<strong>in</strong>e Ratte.Der Psychiater George Devereux vergleicht diesen Fall mit e<strong>in</strong>erenttäuschenden Erfahrung, die er während des Krieges erlebt hatte, als erversuchte, Geheimagenten für den OSS anzuwerben. »Bei e<strong>in</strong>em jungenAnthropologen stellte sich heraus, daß er etwas Siamesisch sprechenkonnte. Ich bat ihn zu mir, aber nach e<strong>in</strong>igem Herumstottern erklärte ermir, daß es für die Kriegsanstrengungen nützlicher wäre, wenn er h<strong>in</strong>tere<strong>in</strong>em Schreibtisch <strong>in</strong> Wash<strong>in</strong>gton säße . . . « Voller Bitterkeit fügteDevereux h<strong>in</strong>zu: »Ich glaube, daß e<strong>in</strong> Intellektueller, der ke<strong>in</strong>e sozialeVerpflichtung übernehmen will, sondern an se<strong>in</strong>er Stelle se<strong>in</strong> Autoschickt, e<strong>in</strong> sehr unangenehmer Mensch ist!« Und vor se<strong>in</strong>em geistigenAuge ließ er all die tapferen Männer vorbeiziehen, die mit ihm auf derFallschirmjägerschule waren – richtige Intellektuelle von Pr<strong>in</strong>ceton undMichigan und Duke –, und dann rief er aus: »Dieses ist e<strong>in</strong>e Art vonParasiten, für die das Intellektuelle lediglich e<strong>in</strong> Weg ist, Geld zuverdienen, sie könnten genausogut Krämer, Wurstfabrikant odererfolgreiche Prostituierte se<strong>in</strong>. Ich glaube, e<strong>in</strong> solcher Mann ist e<strong>in</strong>fachzum Erfolg verdammt, weil er niemals aufhört, e<strong>in</strong> Dreckskerl zu se<strong>in</strong>.«Devereuxs Vorgesetzter runzelte mißbilligend die Stirn. »Wir verstehenIhre Gefühle, aber wir müssen zwischen dem Anthropologischen und demUngarischen zu unterscheiden wissen«, belehrte er ihn. »Ich hoffe, Sie506


fühlen sich jetzt besser.«Nachdem Nagy e<strong>in</strong>en Waffenstillstand proklamiert hatte, flauten dieKämpfe ab. Budapest atmete freier. E<strong>in</strong> Revolutionskomitee der Intellektuellenwar im Entstehen – es setzte sich zusammen aus Mitgliedern desPetöfi-Kreises, der Studentenvere<strong>in</strong>igung MEFESZ und den Verbändender Schriftsteller, Journalisten, Künstler und Musiker, die natürlich allekommunistische Organisationen waren. Die treibende Kraft war dervierundfünfzigjährige György Markos, e<strong>in</strong> westlich orientierter Dozentder Wirtschaftsgeographie. Se<strong>in</strong> Kollege, Professor Tamás Nagy, er<strong>in</strong>nertsich: »E<strong>in</strong>es Tages hat mich Markos angerufen und erzählt, daß solch e<strong>in</strong>Organ existiert. Er hat gesagt, daß wir Reformkommunisten dar<strong>in</strong>tonangebend se<strong>in</strong> würden.« (Der Professor fügte jetzt h<strong>in</strong>zu: »Das warme<strong>in</strong>e größte Enttäuschung. Ich habe gedacht, daß die große Mehrheit desungarischen Volkes sich den Reformkommunisten freudig anschließenwürde. E<strong>in</strong>e Selbsttäuschung!«) Versammlungsort war die Aula derJuristischen Universität. Professor Nagy verlor sehr bald das Interesse.»Das Komitee hat absolut nichts getan. Es hat nur geredet, geredet!«Später verabschiedeten die Intellektuellen e<strong>in</strong>e Zehn-Punkte-Erklärung, <strong>in</strong>der unter anderem freie Wahlen gefordert wurden. Außerdem sollte der23. Oktober, »der Tag, an dem unser nationaler Befreiungskampfbegann«, zum allgeme<strong>in</strong>en Feiertag erklärt werden. Zu den Unterzeichnerngehörten die Schriftsteller Sándor Erdei, Sándor Haraszti,Miklós Vásárhelyi, Sándor Fekete und Hochschuldozenten wie ProfessorNagy, Professor Iván Kádár, ebenso wie Gábor Tánczos und Balázs Nagyvom Petöfi-Kreis.ÓNoch bedeutungsvoller war, daß die Intellektuellen beschlossenhatten, e<strong>in</strong>e Privatarmee aufzustellen, nachdem Imre Nagy dieNotwendigkeit der Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung betont hatte.Der revolutionäre Militär<strong>in</strong>strukteur der Universität, Oberst István Marián,der e<strong>in</strong>e große Rolle bei der Organisation der Massendemonstration am23. Oktober gespielt hatte, baute e<strong>in</strong>e Miliz aus Studenten mitmilitärischer Erfahrung auf: <strong>in</strong>sgesamt »drei Bataillone« mit über 1200Mann. Dazu kam der letzte Jahrgang der TH-Studenten, die den Sommer507


<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em militärischen Ausbildungslager verbracht hatten und jetztzurückkehrten, wobei sie ihre Ausrüstung mitbrachten – e<strong>in</strong> DutzendPanzer, mehrere Flakgeschütze und Funkwagen. Diese irreguläre Trupperichtete ihren Befehlsstand <strong>in</strong> Kopácsis überfülltem Polizeipräsidium e<strong>in</strong>unter dem vere<strong>in</strong>igten Oberbefehl von Oberst Marián und Kopácsipersönlich. Professor László Blücher, der <strong>in</strong> diesem HauptquartierWachdienst tat, erzählte später, es sei e<strong>in</strong> ständiges Kommen und Gehengewesen, e<strong>in</strong> »Who’s Who« des <strong>Aufstand</strong>es, <strong>in</strong> dem auch die zarte,weißhaarige sozialdemokratische Führer<strong>in</strong> Anna Kéthly nicht fehlte.Gleichzeitig hockten unten im Keller Scharen von ÁVH-Leuten, denenKopácsi Asyl gewährt hatte, um sie vor der Volkswut zu schützen.ÔIn Kopácsis Hauptquartier begegnete man auch e<strong>in</strong>er hohen, schlankenGestalt mit e<strong>in</strong>deutig militärischer Haltung – Generalleutnant Béla Király.Obgleich er erst zweiundvierzig Jahre alt war, hatte er e<strong>in</strong>e ungewöhnlicheMilitärkarriere h<strong>in</strong>ter sich. Seit dem 10. Oktober hatte er sich im Lazarettbefunden. Aufgrund der üblichen falschen Beschuldigungen hatte er fünfJahre <strong>in</strong> Rákosis Gefängnissen verbracht und war noch nicht völligwiederhergestellt. Aber jetzt, wo sich e<strong>in</strong> Regimewechsel abzeichnete,hoffte er, wieder e<strong>in</strong>en hohen Posten <strong>in</strong> der Armee e<strong>in</strong>nehmen zu können.Nach der feierlichen Umbettung von Rákosis Opfer General Pálffy, diekurz nach der Trauerfeier für Rajk stattfand, hatte er e<strong>in</strong> kurzes Gesprächmit se<strong>in</strong>em früheren Offizierskameraden Ferenc Jánosi geführt, der jetztImre Nagys Schwiegersohn war. Der würdevoll-beleibte Jánosi hatteversprochen, die Angelegenheit <strong>in</strong> die Hand zu nehmen. Aber jetzt war dieVolkserhebung dazwischengekommen.Im Lazarett hatte Király Nagys Rundfunkansprache gehört und amselben Tage, dem 28. Oktober, e<strong>in</strong>ige Zeilen auf e<strong>in</strong>en Notizzettelgeschrieben, um Jánosi an ihre frühere Unterredung zu er<strong>in</strong>nern: »LieberFeri«, schrieb er. »Dieser Sache möchte ich me<strong>in</strong>e ganze Kraft, me<strong>in</strong>eBegeisterung und me<strong>in</strong>e bescheidenen Kenntnisse widmen.« Er fügteh<strong>in</strong>zu: »Me<strong>in</strong> lieber Feri, ich bitte Dich, Dir das zu überlegen und an dieseD<strong>in</strong>ge zu denken: an me<strong>in</strong>e Vergangenheit, an die Tatsache, daß ich e<strong>in</strong>harter Arbeiter b<strong>in</strong>, an die fünf Jahre, die ich im Gefängnis verbracht habe508


. . . B<strong>in</strong> ich nicht der ideale Mann, um an dieser Aufgabe mitzuwirken?«Ungeniert bat Király um e<strong>in</strong>en hohen Posten im Stab des neuenVerteidigungsm<strong>in</strong>isteriums.ÁÊNur e<strong>in</strong>en Tag später sollte er die Antwort empfangen.Im schwer beschädigten Verlagsgebäude des Parteiorgans Freies Volkversammelten sich am Nachmittag die Redakteure <strong>in</strong> dem nochgrößtenteils <strong>in</strong>takten dritten Stock, um die – wie sich später herausstellte –allerletzte Ausgabe zusammenzustellen. Draußen rasselten sowjetischePanzer vorbei, es war die erste Phase des von Imre Nagy angeordnetenRückzugs. Me<strong>in</strong>ungsverschiedenheiten spalteten die Redaktion: E<strong>in</strong>igeblieben dem Zentralkomitee, ganz gleich, wie die neue Richtung aussah,treu, andere betrachteten sich als Sprachrohr des wankelmütigen M<strong>in</strong>isterpräsidentenNagy. In e<strong>in</strong>em Nebenzimmer trafen sich e<strong>in</strong>ige der <strong>in</strong>früheren Jahren gefeuerten Zeitungsleute und diskutierten über e<strong>in</strong> eigenesFreies Volk <strong>in</strong> Konkurrenz zum Parteiorgan. Aber nach e<strong>in</strong>igem H<strong>in</strong> undHer beschlossen sie alle, an der bevorstehenden Ausgabe mitzuarbeiten.ÁÁMárton Horváth, der Chefredakteur, machte auf e<strong>in</strong>em halben BogenZeitungspapier <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er flüssigen Handschrift Notizen.»Harasz.« Diese Notiz sollte ihn daran er<strong>in</strong>nern, den Vorsitzenden derJournalistenunion zur Abgabe e<strong>in</strong>er offiziellen Erklärung zu veranlassen.Dann: »Wiederbelebung« und »Löhne auf dem Lande«, zwei Themen, dieer <strong>in</strong> der nächsten Ausgabe aufgreifen wollte. Darunter schrieb er:»Rebellen plündern nicht.« Offensichtlich sollte dies e<strong>in</strong>e Ausgabe derParteizeitung werden, die sich wesentlich von den früheren unterschied.Danach »Arbeiterräte <strong>in</strong> Fabriken«. Anschließend notierte er noch zweimögliche Autoren für den Leitartikel des kommenden Tages. Jemandsagte: »Wie steht es mit dem Bericht ›Vor dem Parlament‹!?« Damit ware<strong>in</strong> Augenzeugenbericht von dem Blutbad geme<strong>in</strong>t. Horváth nickte,notierte es und schrieb anschließend »Aufmacher über Regierungsbildung«und e<strong>in</strong> »Offener Brief an Nagy«. Dieser Brief war überholt, alsImre Nagy wenige Stunden später die Auflösung der ÁVH und denRückzug der Sowjets verkündete. E<strong>in</strong> Artikel mit der Überschrift »DieSowjetarmee« wurde vorgeschlagen. Horváth nickte wieder zustimmend509


und notierte das Thema. Dann wandte er sich verächtlich dem Prawda-Artikel zu, der die Überschrift trug: »Zusammenbruch des volksfe<strong>in</strong>dlichenAbenteuers <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong>.« Er notierte: »Antwort auf die Prawda« undbeauftragte Miklós Molnár mit dieser Arbeit.Jede Stunde gab es Neuigkeiten. Als die Ausgabe <strong>in</strong> Druck g<strong>in</strong>g,befaßte sich der Aufmacher jedoch mit dem sowjetischen Truppenabzug –»Der erste Schritt auf dem Weg zur Rückkehr zu ihren Standorten«, hießes dar<strong>in</strong>, »sie verlassen unser nationales Territorium«. Dann folgte e<strong>in</strong>eErklärung von Polens Parteichef Gomulka, daß das ganze ZeterundMordiogeschrei vorüber sei. Es wurden auch Telegramme aus denProv<strong>in</strong>zen sowie die Zehn-Punkte-Erklärung der Intellektuellen abgedruckt.E<strong>in</strong>s fehlte jedoch seltsamerweise: der Artikel über das Blutbadauf dem Parlamentsplatz, der ordnungsgemäß geschrieben, gesetzt undkorrigiert worden war. Er war von unbekannter Hand vor dem Umbruchherausgenommen und durch irgend etwas anderes ersetzt worden. GegenMitternacht liefen die Rotationsmasch<strong>in</strong>en an.Etwa zur gleichen Zeit kam der Anführer der Rebellengruppe amSzéna tér, Kemal Ekren, aus se<strong>in</strong>em geheimen Hauptquartier, um erneutmit den Offizieren der Bem-Kaserne zu verhandeln. Da er e<strong>in</strong>en H<strong>in</strong>terhaltfürchtete, befahl er se<strong>in</strong>en Leuten, das Feuer zu eröffnen, falls er nicht bis23 Uhr zurück se<strong>in</strong> sollte. Ekren machte den Vorschlag, e<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>sameTruppe zur Überwachung des Waffenstillstands aufzustellen. DerKommandeur der Kaserne schlug Patrouillen vor, die jeweils aus e<strong>in</strong>emPolizisten, e<strong>in</strong>em Soldaten und e<strong>in</strong>em Aufständischen bestehen sollten;aber Ekren verlangte e<strong>in</strong>en zusätzlichen Aufständischen für jedePatrouille.Beide Seiten kamen zu e<strong>in</strong>em Kompromiß, und damit war EkrensHerrschaft über e<strong>in</strong>en beträchtlichen Teil Budas anerkannt: Das Gebieterstreckte sich von der Margareten- zur Kettenbrücke und schloß e<strong>in</strong>engroßen Teil des Schloßberges e<strong>in</strong>. Se<strong>in</strong>e Truppe war nicht sonderlichdiszipl<strong>in</strong>iert – Onkel János (Szabó) rannte den ganzen Tag mit e<strong>in</strong>erumgehängten Masch<strong>in</strong>enpistole herum und neigte dazu, trotz des510


Waffenstillstands wahllos auf verdächtige Kraftfahrzeuge und Motorradfahrerzu schießen, die den Széna tér überquerten.E<strong>in</strong>e Zeitlang kam es noch zu vorübergehenden Schießereien, da dieRebellen weitere Rechnungen zu begleichen hatten. An jenem Abendempfand Noel Barber Mitleid mit se<strong>in</strong>em Kollegen Sefton Delmer vomDaily Express. Er nahm ihn <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Wagen mit und fuhr mit ihm durchdie Stadt, um die Auswirkungen der Feuere<strong>in</strong>stellung anzuschauen. Es ware<strong>in</strong>e trügerische Waffenruhe, viele Leute bezweifelten, daß die Russenwirklich abzogen. In der Bródy utca bewachten zwei Sowjetpanzer dasschwerbeschädigte Funkhaus. Das Verteidigungsm<strong>in</strong>isterium war immernoch von sowjetischen T-54 abgeschirmt.Gegen 22 Uhr lenkte Barber se<strong>in</strong>en Wagen auf den Szent István körút.Wenige Augenblicke später trat aus dem Schatten e<strong>in</strong>e dunkle Gestalthervor, rief irgend etwas und zersiebte den Wagen mit e<strong>in</strong>em Kugelhagel.Die W<strong>in</strong>dschutzscheibe zersplitterte. Barber sackte, von e<strong>in</strong>er Kugel amKopf getroffen, h<strong>in</strong>ter se<strong>in</strong>em Führersitz zusammen: Das Blut lief ihmübers Gesicht, so daß er nichts mehr sehen konnte. Delmer kletterte ausdem Wagen und rief auf deutsch dem verschw<strong>in</strong>denden Schützen zu: »Wirs<strong>in</strong>d Journalisten, nicht schießen!« Dann setzte er sich h<strong>in</strong>ter das Steuerdes von Kugeln durchlöcherten Borgward und brachte ihn auf zwei plattenReifen aus der Schußl<strong>in</strong>ie. Barber stöhnte: »Um Himmels willen, br<strong>in</strong>genSie mich zur Gesandtschaft.« Dort erhielt Barber Erste Hilfe, dann brachteman ihn <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Landrover <strong>in</strong>s Krankenhaus. Als er wieder zu sich kam,sah er, wie der stämmige Delmer <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em weißen Kittel sich über ihnbeugte: »Machen Sie sich ke<strong>in</strong>e Sorgen, alter Junge«, rief der Mann vomExpress mit dröhnender Stimme. »Bald ist das Schlimmste überstanden.«Sefton Delmer machte natürlich aus diesem Ereignis e<strong>in</strong>e sensationelleMeldung. Aber er war e<strong>in</strong> Gentleman: Er diktierte dem britischenGesandten Bunny Fry se<strong>in</strong>en Bericht und bat ihn, dafür zu sorgen, daßdieser ausschließlich an die Daily Mail, se<strong>in</strong> Konkurrenzblatt, gelangte.ÁËSo endete der 28. Oktober 1956, der Sonntag, an dem Imre Nagygegenüber den wichtigsten Forderungen der Rebellen kapitulierte: <strong>Ungarn</strong>hatte jetzt e<strong>in</strong> völlig umgebildetes, nicht-kommunistisches Kab<strong>in</strong>ett und511


se<strong>in</strong>e Zusage, daß die ÁVH aufgelöst und die sowjetischen Truppenabgezogen würden. Stolz verkündete der Rundfunk am nächsten Morgenum 7 Uhr: »Immer mehr Menschen eilen durch die Straßen von Budapest,um ihre Arbeit aufzunehmen . . . Ruhe und Ordnung s<strong>in</strong>d wiederhergestellt.«Dann wurde der Versuch unternommen, die Straßenbahn- undBusfahrer zu veranlassen, ihre Arbeit wiederaufzunehmen.Auf der anderen Seite des Atlantik <strong>in</strong> Wash<strong>in</strong>gton war man ebenfallserleichtert. John Foster Dulles rief Präsident Eisenhower um 8 Uhr frühan, um ihn zu beglückwünschen; die Nachrichten aus dem Nahen Ostenwaren ebenfalls gut: Israel hatte noch nichts gegen Ägypten unternommen.Ike sagte: »Die D<strong>in</strong>ge sehen heute morgen an beiden Fronten –<strong>Ungarn</strong> und Israel – etwas besser aus als gestern abend.«Dulles fügte h<strong>in</strong>zu: »Ich beabsichtige, Botschafter Bohlen anzuweisen,die sowjetische Regierung über den Passus me<strong>in</strong>er Rede <strong>in</strong> Dallas zu<strong>in</strong>formieren, den wir beide formuliert haben – und zwar die Erklärung, daßwir diese Satellitenländer nicht als mögliche militärische Verbündetebetrachten.«»Gute Idee«, sagte Ike. »Und wenn Sie e<strong>in</strong>mal dabei s<strong>in</strong>d, könnten Sieauch Kontakt mit Nehru aufnehmen. Er könnte sich als e<strong>in</strong> nützlicher<strong>in</strong>formeller Verb<strong>in</strong>dungsmann zu den Russen erweisen. Auf diese Weisewürden wir zwei Fliegen mit e<strong>in</strong>er Klappe schlagen: Wir ziehen Indienaus der sowjetischen E<strong>in</strong>flußsphäre zu uns herüber, und wir können Unterhandlungenmit den Russen aufnehmen, wenn sie <strong>in</strong> politischenSchwierigkeiten s<strong>in</strong>d. Vielleicht kann man mit ihnen jetzt vernünftigerreden als jemals, seit Chruschtschow an der Macht ist.«Dulles stimmte zu. »Sie stehen vor ernsten Problemen. Aber«, warnteer, »wir müssen außerordentlich vorsichtig se<strong>in</strong> und alles unterlassen, was<strong>in</strong> den Satellitenländern so aufgefaßt werden könnte, als würden wir sieverraten und h<strong>in</strong>ter ihrem Rücken mit ihren verhaßten Herren undMeistern verhandeln.«ÁÈ512


36Das sagte SchukowMONTAG, 29. OKTOBER 1956. John MacCormac meldete der New YorkTimes: »Der siebente Tag der ungarischen Revolution ist angebrochen,und trotz des Rückzugsversprechens der neuen ungarischen Regierungpatrouillieren immer noch sowjetische Soldaten <strong>in</strong> den Straßen von Budapest.«ÁUnd der altgediente kommunistische Redakteur Iván Boldizsárschrieb e<strong>in</strong>en mutigen Leitartikel <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Montagsnachrichten: »SauberesBlatt! So überschrieben wir unsere erste Ausgabe vor vier Wochen. . . In diesen vier Wochen haben wir erlebt, wie die ungarische Nation <strong>in</strong>Blut und Selbstaufopferung und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em unbeschreiblichen Heroismuswiedergeboren wurde. Niemals hat es <strong>in</strong> der Geschichte e<strong>in</strong>e Revolutiongegeben wie diese: E<strong>in</strong>e ganze Stadt erhebt sich ohne Waffen zurVerteidigung von Wahrheit und Freiheit. Wenn die sowjetischen Truppenabziehen sollen, dann muß Frieden auf den Straßen von Budapestherrschen.«»Wie lange wird es noch dauern?« fragte Boldizsár »VierundzwanzigStunden? Achtundvierzig? Die ganze Welt blickt auf uns. Das Schicksaldes Landes hängt von uns ab. Jede Revolution siegt zweimal: e<strong>in</strong>mal aufden Straßen durch Blut und Tod; und dann folgt der wirkliche Sieg <strong>in</strong>unseren Seelen, <strong>in</strong> unserer Arbeit, im Leben selbst. Der erste Sieg hat nurS<strong>in</strong>n, wenn wir auch den zweiten err<strong>in</strong>gen. Und wir werden es . . . «Welche Gefühle bestürmten Imre Nagy an diesem Morgen? DieBewegung, der er fünfunddreißig Jahre se<strong>in</strong>es Lebens gewidmet hatte, wardabei, ihre größte Schlacht zu verlieren. In se<strong>in</strong>em Innern tobte der Kampfzwischen dem <strong>Ungarn</strong> und dem Kommunisten.Ë Seitdem das Zentral-513


komitee anerkannt hatte, daß es ke<strong>in</strong>e Konterrevolution sei, war e<strong>in</strong>e neueSituation entstanden. Nagy beschloß, se<strong>in</strong>en Posten als Vorsitzender desM<strong>in</strong>isterrats anzutreten und <strong>in</strong> die Amtsräume zurückzukehren, die ererstmalig 1953 <strong>in</strong>nehatte. Gegen 9 Uhr kehrte er der Akadémia utca denRücken und begab sich zum Parlament, dem konstitutionellen Sitz derVolksmacht. Als der Schriftsteller Tibor Méray mit mehreren Kollegen <strong>in</strong>der Akadémia utca e<strong>in</strong>traf, waren sie erstaunt, den M<strong>in</strong>isterpräsidentenfrisch rasiert und lächelnd anzutreffen, wie er gerade die Treppeh<strong>in</strong>unterg<strong>in</strong>g.È»Wie geht es euch, me<strong>in</strong>e K<strong>in</strong>der?« fragte Nagy strahlend. Er wurdesogleich von Passanten umdrängt. »Wie geht es weiter?« rief jemand.»Gehen die sowjetischen Soldaten nach Hause?«Nagy lächelte. »Es wird für alles gesorgt. Ihr müßt an eure Arbeitgehen, ich gehe an me<strong>in</strong>e Arbeit, und dann wird alles gut werden.«Als erste Amtshandlung ließ er das provisorische Rundfunkstudio vonder Akadémia utca <strong>in</strong> das Parlamentsgebäude verlegen. Dann widmete ersich der Regierungsneubildung. Gegen 9 Uhr ließ er Vásárhelyi kommen,der bis 1953 se<strong>in</strong> Presse- und Informationschef gewesen war, und bot ihmdenselben Posten wieder an. Vásárhelyi erschien <strong>in</strong> Begleitung von Erdös.Als sie die Treppen zu den Amtsräumen von Nagy im ersten Stockh<strong>in</strong>aufstiegen, sagte Vásárhelyi: »Weißt du, wir machen den größtenFehler unseres Lebens. E<strong>in</strong> kluger Politiker geht nicht durch den Schmutz.Er wartet, bis e<strong>in</strong> anderer den größten Dreck ausgemistet hat, und erstdann kommt er.«Í Dr<strong>in</strong>nen bei Nagy entschuldigte er sich höflich: »Ichfühle mich nicht besonders gut«, sagte er und g<strong>in</strong>g nach Hause <strong>in</strong> se<strong>in</strong>eWohnung <strong>in</strong> der Hankóczy utca, auf der anderen Seite des Flusses. (InWirklichkeit war er ke<strong>in</strong>eswegs krank, sondern rechnete damit, daß sichdie Situation rasch verschlechtern würde.)ÎNach der Feuere<strong>in</strong>stellung gab es e<strong>in</strong>en Massenandrang von»Rekruten« bei den Rebellen <strong>in</strong> der Kilián-Kaserne und der Corv<strong>in</strong>-Passage. Oberst Maléter befahl se<strong>in</strong>e Offiziere zu sich und erklärte ihnen:»Ich brauche Offiziere, die bereit s<strong>in</strong>d, Tag und Nacht ihre Pflicht zu tun.Wenn irgend jemand me<strong>in</strong>t, daß er aus familiären Rücksichten oder aus514


anderen Gründen sich uns nicht anschließen will, so erhält er Urlaub.«Da nicht genug Waffen vorhanden waren, sortierten se<strong>in</strong>e Offizieremehrere hundert Mann aus, bis nur noch diejenigen übrigblieben, die mitWaffen umgehen konnten. Daraus wurden dann drei Kompanien gebildet:e<strong>in</strong>e dieser Kompanien, 150 Mann, die von Csepel gekommen waren,wurden mit Waffen ausgerüstet, die beiden anderen wurden zurTrümmerbeseitigung e<strong>in</strong>gesetzt.Ï Inzwischen belagerten Journalisten undKameraleute den E<strong>in</strong>gang zur Unterführung, während die Menge draußenstündlich größer wurde. Um das Geschützrohr e<strong>in</strong>es T-34-Panzers hatteman e<strong>in</strong>en Lorbeerkranz gehängt. Pferdewagen und Lkws kamen denganzen Tag über an, beladen mit Fleisch, Butter, Geflügel und sogar mite<strong>in</strong>em lebenden Schwe<strong>in</strong>; außerdem gab es Rot-Kreuz-Pakete aus Österreich– Sard<strong>in</strong>en, Käse, Schokolade und Tabak. Die Kasernenküchenverpflegten sowohl Soldaten als auch Rebellen.Wie schwarze Schlacke am Rand e<strong>in</strong>es noch glühenden Vulkansbildeten sich <strong>Ungarn</strong>s alte Parteien wieder. Die Parteien der Kle<strong>in</strong>landwirteund Sozialdemokraten erwachten zu neuem Leben. Ihre Führerhatten durch ihre jahrelange E<strong>in</strong>kerkerung resigniert. Ihr Parteivermögenwar von den Kommunisten während der Jahre von Rákosis Salamitaktikaufgezehrt worden. Die sozialdemokratische Führer<strong>in</strong> Anna Kéthly war1950 <strong>in</strong>s Gefängnis gesperrt und 1954 körperlich und seelisch gebrochenwieder freigelassen worden. Viele ihrer Genossen wie András Révészwurden wegen »bewaffneter Konspiration« und »Spionage für DenisHealey« zum Tode verurteilt. Das Vorstandsmitglied der britischenLabour Party hatte 1946 die sozialdemokratische Zeitung Volksstimmebesucht. Das Todesurteil war <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Freiheitsstrafe umgewandelt worden.Révész wurde im November 1955 mit 150 anderen Sozialdemokratenwieder freigelassen.ÌEr wohnte drei Häuserblocks von der Kilián-Kaserne entfernt – ke<strong>in</strong>eschlechte Gegend, doch am 29. Oktober waren alle Fensterscheiben <strong>in</strong>se<strong>in</strong>er Wohnung durch die tagelangen Panzergefechte draußen auf derStraße zertrümmert. Er befand sich gerade beim Holzhacken im Keller, als515


se<strong>in</strong>e Tochter h<strong>in</strong>unterkam und sagte: »E<strong>in</strong>ige Herren s<strong>in</strong>d mit de<strong>in</strong>emVater gekommen. Sie lassen fragen, ob du bereit bist, e<strong>in</strong> Zusammentreffenmit Anna Kéthly zu arrangieren.« Er wischte sich die Hände ab,g<strong>in</strong>g nach oben und fand Sándor Gáspár, den Gewerkschaftsvorsitzenden,und Zoltán Horváth, den ehemaligen Chefredakteur der Zeitung Volksstimme,vor, die die Kommunisten se<strong>in</strong>em Vater damals weggenommenhatten.Ó Révész bedauerte, daß er sich die Hände abgewischt hatte. Fürdiese Bonzen hatte er ke<strong>in</strong>e Zeit. Gáspár flehte: »Wir s<strong>in</strong>d gekommen, umSie zu bitten, die Gewerkschaften zu retten. Ihr Sozialdemokraten seid dieletzte Hoffnung der Gewerkschaften, nachdem die Kommunistische Parteizusammengebrochen ist!« Révész ließ sich überreden, mit Anna Kéthly zusprechen. Er nahm ihren Wagen und sagte ihnen, sie sollten zu Fuß <strong>in</strong> ihrGewerkschaftshaus zurückgehen.Die sozialdemokratische Führung hatte sich gerade zu e<strong>in</strong>erBesprechung versammelt, als er dort erschien. Zusammen mit AnnaKéthly traf er József Fischer und den kränkelnden Generalsekretär GyulaKelemen an. Anna Kéthly weigerte sich entschieden, die Gewerkschaftsdelegationzu empfangen. Warum auch? Die Kommunisten hatten jeglicheUnterstützung <strong>in</strong> der Bevölkerung verloren. Sie bat Révész mit ihnen zuverhandeln. Er fuhr zum Gewerkschaftshaus und stellte Gáspár zweiBed<strong>in</strong>gungen, bevor überhaupt Gespräche <strong>in</strong> Frage kamen: 1. <strong>Ungarn</strong>müsse se<strong>in</strong>e Beziehungen zu dem kommunistenfreundlichen Weltgewerkschaftsbundabbrechen; Gáspár g<strong>in</strong>g darauf e<strong>in</strong>, zwei Tage späterentschloß er sich zu diesem Schritt. Die zweite Bed<strong>in</strong>gung war, daß <strong>in</strong> denFührungsgremien der neuen Gewerkschaften 70 Prozent Sozialdemokratenund nur 30 Prozent Kommunisten sitzen dürften; wieder stimmten dieKommunisten zu. Die Partei erhielt auch ihre Zeitung Volksstimmezurück, und <strong>in</strong> ihren Redaktionsstuben <strong>in</strong> der Conti utca, e<strong>in</strong>erNebenstraße der Rákóczi út, begannen leidenschaftliche Diskussionen:Sollten sie der Koalitionsregierung unter Nagy beitreten oder nicht? Sieverfügten über ke<strong>in</strong>e Geldmittel, aber es gab ke<strong>in</strong>en Mangel an neuenMitgliedern: Hunderte von Leuten, die sich um Aufnahme bemühten,blockierten laut Vilmos Zentai, der mit der Reorganisation der Partei516


etraut war, die Straßen.Ô Anna Kéthly hatte sich noch nicht entschieden,ob sie dem Nagy-Kab<strong>in</strong>ett beitreten. sollte, als sie zusammen mit AndrásRévész nach Wien zur Konferenz der Sozialistischen Internationale fuhr.Am 24. Oktober trafen sich auch frühere Mitglieder der Kle<strong>in</strong>landwirte-Partei.Unter Führung von József Kövágó, Sándor Kiss, demVorsitzenden des Bauernverbandes, und Tivadár Pártay, wurde die Parteiwieder <strong>in</strong>s Leben gerufen. Die Opportunisten unter ihren Mitgliedern, diemit den Kommunisten kollaboriert hatten, Männer wie Dobi, Bognár undOrtutay, wurden ausgeschlossen. Als größte Oppositionspartei vor derMachtübernahme Rákosis verfügte sie über großen E<strong>in</strong>fluß, und ihrGeneralsekretär Béla Kovács konnte Imre Nagy harte Bed<strong>in</strong>gungendiktieren. Man zog wieder <strong>in</strong> das alte Parteigebäude <strong>in</strong> der Semmelweisutca. Die sowjetisch-ungarische Gesellschaft mußte das Feld räumen.ÁÊEbenso wie die Petöfi-Partei wurde am 25. Oktober auch die NationaleBauernpartei mit ihrem Hauptquartier <strong>in</strong> der Dorottya utca wiedergegründet. Sie trennte sich von Kollaborateuren wie Ferenc Erdei, denNagy zum stellvertretenden M<strong>in</strong>isterpräsidenten ernannt hatte.ÁÁ Dersechsundvierzigjährige Erdei wurde allgeme<strong>in</strong> abgelehnt, aber er war e<strong>in</strong>eder treibenden Kräfte <strong>in</strong> Nagys Regierung. Erdei hatte auf denRebellenführer <strong>in</strong> Györ, Attila Szigethy, großen E<strong>in</strong>fluß; Szigethy telephonierteständig entweder mit Erdei oder mit dessen Frau Joci, die e<strong>in</strong>efanatische Kommunist<strong>in</strong> war.ÁËAm Abend des 28. Oktober begann der sowjetische Rückzug ausBudapest. Am nächsten Morgen meldete Freies Volk den Abzug auf derTitelseite, aber die Öffentlichkeit hatte sich daran gewöhnt, nichts zuglauben, was im Parteiorgan gedruckt wurde. Außerdem merkten dieLeute zunächst nur sehr wenig von irgende<strong>in</strong>em Truppenabzug, als sieihre arg mitgenommenen Läden wiedereröffneten. Man hörte das vertrauteGeräusch, das den Bombenangriffen folgt, wenn das zersplitterte Glaszusammengekehrt und die E<strong>in</strong>schußlöcher mit Brettern vernagelt werden.Bei Tagesanbruch patrouillierten immer noch an verschiedenen Stellenrussische Soldaten – <strong>in</strong> der offiziellen Begründung hieß es, daß die517


Ordnung noch nicht völlig wiederhergestellt sei. Prof. BlücherÁÈ sahsowjetische Stabswagen <strong>in</strong> der Stadt umherfahren, deren Insassen anhandihrer Karten die Stadt <strong>in</strong>spizierten. Es war schwer zu verstehen, warum siesich so verhielten, wenn sie doch abziehen wollten.Die Russen beherrschten die Kunst des Verschleierns, sie wußten, wieman e<strong>in</strong>en Truppenrückzug vortäuscht – wenn es überhaupt e<strong>in</strong>e F<strong>in</strong>tewar. Auf der Straße nach Süden hatte der sowjetische Exodus begonnen.An jenem Morgen fuhren am UP-Korrespondenten A. J. Cavendishsechzig Panzer <strong>in</strong> Richtung Süden vorüber – schwerfällig wie Zirkuselefantenrumpelten sie <strong>in</strong> langer Reihe h<strong>in</strong>tere<strong>in</strong>ander, sie rutschten an dieSeite, als e<strong>in</strong> Lastwagen auf e<strong>in</strong>er Öllache <strong>in</strong>s Schleudern geriet.Angeführt von zwei Schützenpanzern und zehn T-54, rollte e<strong>in</strong> andererKonvoi von Panzern und blut- und ölverschmierten Mannschaftstransportwagendurch den kühlen Nebelschleier, der vom Fluß heraufzog,nach Süden, vorbei an haßerfüllten Bauern, die vor ihnen ausspuckten, mitder Arbeit <strong>in</strong>nehielten und sie anstarrten. Die russischen Panzersoldaten,die erschöpft und grimmig <strong>in</strong> ihren schwarzen Lederhelmen vor sich h<strong>in</strong>blickten, führten ihre Toten mit sich: Lastwagen waren mit Leichenvollbepackt wie mit verrottendem Müll; auf dem Dach e<strong>in</strong>es stählernenKolosses lag die Leiche e<strong>in</strong>es Soldaten, die mit Stricken angebunden war;se<strong>in</strong>e leeren Augen starrten auf das zurückbleibende Budapest, das ihngetötet hatte. Seit dem Jahr 1945 hatte die Rote Armee nirgends e<strong>in</strong>enRückzug angetreten, es sei denn aus kampftaktischen Gründen. War diesauch nur e<strong>in</strong> taktischer Rückzug?Der sowjetische Außenm<strong>in</strong>ister Dimitrij Schepilow gab offiziellbekannt, daß »<strong>in</strong> den letzten vierundzwanzig Stunden, genaugenommen <strong>in</strong>den letzten vierundsechzig Stunden, ke<strong>in</strong>e sowjetischen Truppen <strong>in</strong><strong>Ungarn</strong> e<strong>in</strong>getroffen seien«.In der Stadt herrschte am Nachmittag Ruhe. Gelegentlich hörte mannoch das Bellen e<strong>in</strong>er Panzerkanone oder den scharfen Knall e<strong>in</strong>es Karab<strong>in</strong>erschusses.Die sowjetischen Truppen zogen sich allmählich zurück.Überall herrschte e<strong>in</strong> unbeschreiblicher Gestank nach alten Häusern,518


Mörtelstaub, verwesendem Fleisch, Kloaken, <strong>in</strong> der Luft h<strong>in</strong>g Pulverdampf.Aufräumungsarbeiten waren im Gange, überall begegnete manprovisorischen Ambulanzen, Ärzten und Leuten <strong>in</strong> weißen Kitteln, die soblutverschmiert waren wie bei Schlachthofarbeitern. E<strong>in</strong> Lastwagen mitder Aufschrift »Leichen« rumpelte vorbei.Aus Angst vor e<strong>in</strong>em Machtvakuum rief Imre Nagy den PolizeipräsidentenKopácsi an und beauftragte ihn damit, e<strong>in</strong>e Nationalgarde zurAufrechterhaltung der Ordnung aufzustellen, die sowohl aus Polizisten alsauch aus Rebellen bestehen sollte. Kopácsi erhielt ferner den Auftrag, e<strong>in</strong>Revolutionskomitee für die Ordnungskräfte zu schaffen. Leiter sollteirgend jemand mit militärischer Erfahrung se<strong>in</strong>. Vertreter der Rebellengruppentrafen sich im Polizeipräsidium und entschieden sich für GeneralBéla Király.ÁÍ Drei Aufständische besuchten ihn im Krankenhaus. Erkleidete sich an und wurde <strong>in</strong>s Polizeipräsidium gebracht. E<strong>in</strong> Lastwagenvoll bewaffneter jugendlicher begleitete ihn. Er und Kopácsi arbeitetensofort zu treffende Maßnahmen aus: Sie waren sich dar<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ig, daß manweder dem Innenm<strong>in</strong>ister noch dem Verteidigungsm<strong>in</strong>ister trauen könne.Das neue Revolutionskomitee würde sowohl Münnich als auch Janza zuüberwachen haben, während die neue revolutionäre Nationalgarde Ruheund Ordnung wiederherstellte.Király rechnete nicht mit Hilfe vom Verteidigungsm<strong>in</strong>isterium. DerJournalist Tamás Aczél, der das M<strong>in</strong>isterium besuchte, nannte es nachse<strong>in</strong>er Rückkehr <strong>in</strong>s Polizeipräsidium e<strong>in</strong>en »Klub aufgescheuchterHühner und Generale«. Den General Jenö Hazi beschrieb er als arrogantund selbstbewußt. Generalleutnant Károly Janza, den Nagy am 27.Oktober zum neuen Verteidigungsm<strong>in</strong>ister ernannt hatte, war e<strong>in</strong>kahlköpfiger, untersetzter Offizier mit lebhaften Zügen; aber er hatte se<strong>in</strong>eKarriere während der Amtszeit Rákosis gemacht. Alle Offiziere <strong>in</strong>Schlüsselstellungen waren <strong>in</strong> Moskau ausgebildet, sie würden jeglichenVersuch der Regierungstruppen unterb<strong>in</strong>den, sich mit den Aufständischenzusammenzutun.ÁÎ Zu ihnen gehörten Generale wie Béla Székely, e<strong>in</strong>kommunistischer Agent und früherer stellvertretender Führer derBauernpartei; ferner Gyula Uszta, e<strong>in</strong> ehemaliger Partisan, der jetzt e<strong>in</strong>e519


Armee führte, und Lajos Gyurkó, e<strong>in</strong> früherer Parteif unktionär, der dasArmeekorps <strong>in</strong> Kecskemét befehligte. Am h<strong>in</strong>terhältigsten war GeneralIstván Szabó, der stellvertretende Verteidigungsm<strong>in</strong>ister und Chef desHeerespersonalamtes: e<strong>in</strong> <strong>in</strong> der Sowjetunion ausgebildeter früherertschechoslowakischer Staatsangehöriger, der 1938 nach Moskau emigriertwar. Dort wurde er Direktor e<strong>in</strong>er Munitionsfabrik und brach alleB<strong>in</strong>dungen zu <strong>Ungarn</strong> ab, als Horthy 1941 die Sowjetunion angriff. »Ichb<strong>in</strong> Bürger der Tschechoslowakei und vor allem Kommunist«, war se<strong>in</strong>eständige Redensart. Király hatte den Verdacht, daß diese Generale,mochten sie auch jetzt ihre kommunistischen Insignien abgelegt haben,diese stets <strong>in</strong>sgeheim <strong>in</strong> Reichweite hielten, um sie sich wiederanzuheften, sobald es die Situation erlaubte.Ungarische Luftwaffenoffiziere standen vor e<strong>in</strong>em Rätsel, als dieSowjets ihre Kontrolle über die Flugplätze, den Flughafen von Budapestsowie Budaörs und Tököl verstärkten. Gleichlautende Berichte kamen ausSzentkirály-Szabadja – zwischen Veszprem und Balaton –, aus Kecskemétund Szolnok. Die ungarische Luftwaffe verfügte über 400 Masch<strong>in</strong>en aufsechs Militärflugplätzen (<strong>in</strong> Pápa, Székesfehévár, Kaposvár, Kiskunlacháza,Kalocsa, Kunmadaras), die bisher nicht der Kontrolle sowjetischerStreitkräfte unterstanden. Am Morgen, des 29. Oktober rief dasungarische Luftwaffenoberkommando ehemalige Weltkriegsteilnehmermit Kampferfahrung an und lud sie zu e<strong>in</strong>er Geheimkonferenz <strong>in</strong> se<strong>in</strong>Hauptquartier auf dem Szent Imre Herceg út. Zu diesem Kreis gehörteauch Imre Nyirádi.ÁÏ Der fünfundvierzigjährige ehemalige Frontkämpferwar als Luftwaffenmajor an der Ostfront im E<strong>in</strong>satz gewesen; bis zurFeuere<strong>in</strong>stellung am Vortag hatte er den Straßenkämpfern taktischeRatschläge gegeben.Ebenso wie er hatten auch der Oberkommandierende, Oberst FerencNádor, und se<strong>in</strong> Stellvertreter, Oberst Zsolt, am Zweiten Weltkrieg teilgenommen.»Wir würden gern die russischen Streitkräfte selbst angreifen«,erklärte Oberst Nádor, »aber wir riskieren es nicht. Wir haben jedochfestgestellt, daß den Russen der Treibstoff ausgeht und daß sie nicht genugInfanterie hier <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> haben. Wie wäre es, wenn wir ihre Nach-520


schubwege bombardieren würden?«Nyirádi und se<strong>in</strong>e Kameraden waren skeptisch, allerd<strong>in</strong>gs auspolitischen Gründen. Wenn sich der Plan Nádors vor allem auf frühereHorthy-Offiziere stützte, würde das Regime dies sicherlich gleich als»faschistische Intervention« diffamieren. Nyirádi begann, sich Notizen zumachen: Nádor erklärte, als Bombenziele kämen die Grenzbrücke beiZáhony, der sowjetische Militärflugplatz bei Tököl und der Flughafen vonSzentkirály <strong>in</strong> Frage, außerdem die russischen Nachschubwege über dieTheiß. Ungarische Fallschirmtruppen würden bei Komárom abgesetztwerden, um die Grenzbrücke zur Tschechoslowakei zu sperren. Danachkönnten die Masch<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>sätze gegen sowjetische Truppenansammlungen<strong>in</strong> Budapest fliegen.E<strong>in</strong> solcher Angriff hatte natürlich nur S<strong>in</strong>n, wenn der Westen mitmachte.In dem am Rande der Hauptstadt gelegenen Budakeszi hatte e<strong>in</strong>eungarische Abhörkampanie, die den ausländischen Funkverkehr überwachte,festgestellt, daß die amerikanische Luftwaffe E<strong>in</strong>heiten <strong>in</strong> Westdeutschland<strong>in</strong> Alarmbereitschaft versetzte.ÁÌ Die e<strong>in</strong>zig sichere Möglichkeitherauszuf<strong>in</strong>den, was der Westen vorhatte, war, daß Nádor zusammenmit General Király nach München flog. Wenn die NATO ke<strong>in</strong>ebewaffnete Unterstützung garantieren konnte, sollte Király weiter nachSpanien fliegen und sich an General Franco wenden. (»Wir glaubten, daßSpanien uns unterstützen könnte, weil es nicht Mitglied der NATO war«,erklärte Nyirádi später.) Falls Nádor mit leeren Händen zurückkommensollte, würden die 400 ungarischen Militärflugzeuge Bomben werfen,solange die Vorräte reichten, und dann geschlossen nach Münchenflüchten. Aber bald darauf entdeckte man e<strong>in</strong>en technischen »Haken«: Diemeisten Bomben lagerten meilenweit von ihren Zündern entfernt.Dennoch begab sich Nádor zum Parlamentsgebäude, um die Erlaubnis fürse<strong>in</strong>en Plan und für die Flüge nach München und Madrid zu erwirken. Inse<strong>in</strong>er Abwesenheit setzten die Offiziere e<strong>in</strong>en Term<strong>in</strong> fest. DieBombardierung sowjetischer Nachschubwege sollte <strong>in</strong> zwei Tagenbeg<strong>in</strong>nen und den ganzen Tag andauern.521


Unter Führung des gutmütigen Professors der Wirtschaftsgeographie,Tamás Nagy, g<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>e Delegation von Intellektuellen zum M<strong>in</strong>isterpräsidenten,der <strong>in</strong>zwischen <strong>in</strong>s Parlamentsgebäude umgezogen war.Sowjetische Panzer bewachten noch immer das Gebäude. Sie hocktenbewegungslos und aufgebläht wie Küchenschaben vor e<strong>in</strong>em schwarzenApfelgehäuse. Es handelte sich um Panzer mit den vertrauten rundenTürmen und den weit ause<strong>in</strong>andergezogenen großen Nummern an derSeite. Ihre Geschütze waren seitwärts <strong>in</strong> die Luft gerichtet. Die Delegationbegab sich <strong>in</strong> das Gebäude, wo sie dem stellvertretenden M<strong>in</strong>isterpräsidentenFerenc Erdei begegnete. Er sagte, er wäre bereit, der Delegation zuhelfen. Doch niemand hatte Zeit für Erdei. Die Delegierten bestandendarauf, den M<strong>in</strong>isterpräsidenten selbst zu sehen. Tamás Nagy er<strong>in</strong>nertsich: »Es war schwer, mit dem Imre Nagy persönlich zu sprechen, er warsehr beschäftigt, sehr viele Delegationen standen draußen vor se<strong>in</strong>emZimmer. Als er endlich erschien, sah er schrecklich müde aus, wir konntenihn nur e<strong>in</strong> paar Sekunden sprechen.« Die Intellektuellen rieten Imre Nagyvor allem, er solle die Werktätigen bewaffnen. Der Tonfall des M<strong>in</strong>isterpräsidentenwurde bitter: »Das ist zur Zeit unmöglich, weil e<strong>in</strong> großer Teilder Arbeiterschaft jetzt unzuverlässig ist«, sagte er.ÁÓGegen 17.30 Uhr kehrte Oberst Nádor zum Luftwaffenhauptquartierzurück und teilte mit: »General Király hat verlangt, daß wir uns zurückhalten,bis er grünes Licht gibt. Also wird es ke<strong>in</strong>e Bombardierung geben– das würde außerhalb <strong>Ungarn</strong>s lediglich als faschistische Provokationangesehen werden. Wir müssen uns wegen unserer Freiheit an dieSowjetunion wenden, denn die Russen stehen uns näher als der Westen.«Dennoch fügte Nádor h<strong>in</strong>zu: »Laßt uns aber auf alle fälle bereit se<strong>in</strong>,Bomben zu werfen. Ich werde den Befehl geben, wenn es sich alsnotwendig erweist.«Als Nádor diese Erklärung <strong>in</strong> Budapest abgab, wuchs <strong>in</strong> Wash<strong>in</strong>gtondie Verwirrung. Um 10.22 Uhr rief John Foster Dulles se<strong>in</strong>en Bruder, denCIA-Direktor, an und sagte: »Es gibt e<strong>in</strong>e Menge E<strong>in</strong>zelheiten, die sich522


jetzt zu e<strong>in</strong>em Gesamtbild zusammenfügen, das auf e<strong>in</strong>e enge Zusammenarbeitzwischen den Franzosen und den Israelis h<strong>in</strong>weist.«Allen Dulles war derselben Me<strong>in</strong>ung und erwähnte, die militärischenVorbereitungen auf Zypern und die Mystère-Flugzeuge, die man <strong>in</strong> Israelgesichtet hatte. Er berichtete, daß der amerikanische Luftwaffenattaché <strong>in</strong>Tel Aviv Gerüchte gehört habe, wonach e<strong>in</strong> israelisches Schiff dieDurchfahrt durch den Suezkanal erzw<strong>in</strong>gen solle, um e<strong>in</strong>en Kampf zuprovozieren. »Sorge macht mir«, sagte Allen Dulles, »daß e<strong>in</strong> Funken imNahen Osten den Sowjets die Möglichkeit geben könnte, D<strong>in</strong>ge zu tun, diesie sonst nicht tun können – nämlich die Uhr <strong>in</strong> Mitteleuropa zurückzustellen.«Aber auch <strong>in</strong> Moskau herrschte Verwirrung über die sowjetischePolitik gegenüber <strong>Ungarn</strong>. Die vor kurzem <strong>in</strong>s Exil gegangenen ungarischenFührer – Gerö, Hegedüs und Piros – wurden nicht konsultiert. Vonse<strong>in</strong>em Krankenbett aus sagte der Ex-Diktator Rákosi grollend zumungarischen Botschafter: »Kaum b<strong>in</strong> ich weg, geht alles drunter unddrüber!« Weder Molotow noch Marschall Schukow, der sowjetischeVerteidigungsm<strong>in</strong>ister, wollten irgendwelchen Plänen zur Neutralisierung<strong>Ungarn</strong>s zustimmen. Schukow verlangte, die »kapitalistische und imperialistischeMeuterei« zu zerschlagen. Genauso lauteten die Befehle, dieer Batow und Konjew gab.Während Polen und Jugoslawien sich am 28. Oktober gegen diesowjetische Auffassung, daß dies e<strong>in</strong>e Konterrevolution sei, ausgesprochenhatten, unterstützte der Rest des Sowjetblocks den Kreml. DieWarschauer Kommunisten verglichen anfangs Imre Nagy mutig mit ihremGomulka.In der polnischen Öffentlichkeit gab es große Sympathien für denungarischen <strong>Aufstand</strong>. Hilfsappelle fanden e<strong>in</strong> starkes Echo; Pfadf<strong>in</strong>derorganisierten Sammlungen von Plasma, Geld und Medikamenten. E<strong>in</strong>eoffizielle Masch<strong>in</strong>e flog die Güter nach Budapest. Das polnische Zentralkomiteeübermittelte Nagy und Kádár e<strong>in</strong>e von Gomulka und Cyrankiewiczunterzeichnete Erklärung, <strong>in</strong> der sie deren neues Programm,e<strong>in</strong>schließlich der Forderungen nach e<strong>in</strong>em Rückzug der sowjetischen523


Truppen, unterstützten. Parteizeitungen verurteilten <strong>in</strong> scharfer Formdiejenigen »brüderlichen« Zeitungsleute, die, wie Louis Saillant <strong>in</strong> Frankreich,den <strong>Aufstand</strong> als e<strong>in</strong>en konterrevolutionären faschistischen Putschbezeichneten oder die gar die Rebellen, wie es L’Humanité tat, als frühereVerbündete Hitlers bezeichneten.ÁÔ Diese Entwicklung barg alle Voraussetzungenfür e<strong>in</strong>e Spaltung <strong>in</strong>nerhalb des Ostblocks <strong>in</strong> sich.Am 29. Oktober unterstützte Pek<strong>in</strong>g die Auffassung Schukows: die»Konterrevolution« müsse zerschlagen werden.ËÊ Unterdessen begann sichdie offizielle politische L<strong>in</strong>ie der Sowjets abzuzeichnen. Die Bürger derSowjetunion wußten nicht e<strong>in</strong>mal, daß E<strong>in</strong>heiten der Roten Armee <strong>in</strong>Budapest kämpften, geschweige denn, daß Nagy ihren Rückzug verlangthatte; die Propagandathese der Prawda lautete, Imperialisten stecktenh<strong>in</strong>ter dem Ganzen. Der »<strong>Aufstand</strong>« wurde zunächst als »Myatyesch«oder Meuterei und dann etwas nostalgischer als Putsch bezeichnet; derRundfunk unterdrückte jegliche Erwähnung der Entrüstung <strong>in</strong> Budapestüber diese Auffassung.ËÁAn jenem Tage trat das Präsidium des Obersten Sowjet zusammen. SirWilliam Hayter, der britische Botschafter, sah, wie e<strong>in</strong>e schwarze SIS-Limous<strong>in</strong>e nach der anderen durch die Kreml-Tore fuhr. Als diesowjetischen Führer Chruschtschow, Bulgan<strong>in</strong>, Molotow und Schepilowspäter am Nachmittag auf zwei diplomatischen Empfängen erschienen,waren sie bedeutend besserer Laune als vorher.ËË Offensichtlich hatte mane<strong>in</strong>e Lösung gefunden. Bei den Empfängen <strong>in</strong> der türkischen und derafghanischen Botschaft wurde beobachtet, wie Chruschtschow undBulgan<strong>in</strong> sich trennten, um mit Sir William Hayter und Charles BohlenGespräche zu führen. Die längste Unterredung über <strong>Ungarn</strong> führte Bohlenmit Verteidigungsm<strong>in</strong>ister Marschall Schukow, der als Gast auf demtürkischen Empfang war.Schukow war e<strong>in</strong> stämmiger Mann mit e<strong>in</strong>er breiten Brust und e<strong>in</strong>emgutgelaunten Gesicht, aus dem e<strong>in</strong> energischer Unterkiefer hervortrat.Se<strong>in</strong>e Augen wirkten heller, se<strong>in</strong> Haar kürzer als zu der Zeit, als se<strong>in</strong>eSoldaten <strong>in</strong> das besiegte Berl<strong>in</strong> e<strong>in</strong>marschierten. Aber se<strong>in</strong>e aufrechteHaltung und die gewölbte Brust unter se<strong>in</strong>er Uniform mit dem steifen524


Kragen bewiesen, daß er ke<strong>in</strong> Weichl<strong>in</strong>g war.Bohlen sprach ihn auf Imre Nagys gestrige Ankündigung an, wonachdie sowjetischen Truppen Budapest unverzüglich verlassen würden;Verhandlungen mit dem Ziel e<strong>in</strong>es völligen Rückzugs aus <strong>Ungarn</strong> solltene<strong>in</strong>geleitet werden. Ausweichend erwiderte Schukow: »Ich b<strong>in</strong> nichtbefugt, für die sowjetische Regierung auf Ihre Frage zu antworten.« (Derschmallippige Außenm<strong>in</strong>ister Schepilow, der sonst überhaupt nichts sagte,erwiderte später gereizt: »Ich habe alles gesagt, was darüber zu sagenist.«) Schukow wies unheilverkündend darauf h<strong>in</strong>, daß <strong>in</strong> NagysRundfunkrede nicht die Rede von e<strong>in</strong>em »sofortigen« Rückzug ausBudapest gewesen sei und daß die sowjetischen Soldaten dort bleibenwürden, bis Nagy ihren Abzug fordere oder bis »die Ordnungwiederhergestellt sei«. Und dann behauptete er sogar: »Während derletzten vierundzwanzig Stunden oder sogar vierundsechzig Stunden s<strong>in</strong>dke<strong>in</strong>e sowjetischen Truppen nach <strong>Ungarn</strong> geschickt worden. Die Zahl derdort bef<strong>in</strong>dlichen Truppen ist ausreichend für ihren Zweck.« Fernerbehauptete er, sowjetische Soldaten hätten erst dann das Feuer eröffnet,nachdem ihre Offiziere von den Rebellen getötet worden seien, und <strong>in</strong> denletzten achtundvierzig Stunden hätten die sowjetischen Soldaten überhauptnicht mehr geschossen. Ungläubig hob Bohlen se<strong>in</strong>e Augenbrauen.Außerdem, setzte Schukow h<strong>in</strong>zu, unterstünden die sowjetischen Truppen<strong>in</strong> Budapest dem ungarischen Verteidigungsm<strong>in</strong>ister und nicht ihm. Wenigüberzeugend fügte er h<strong>in</strong>zu: »Es ist e<strong>in</strong>e Regierung gebildet worden, dieunsere Unterstützung und die Unterstützung des ungarischen Volkesbesitzt.« Im Gegensatz zu ausländischen Zeitungsmeldungen habe es unterden sowjetischen Soldaten auch ke<strong>in</strong>e Überläufer zu den Rebellengegeben.Jeglicher sowjetische Rückzug aus <strong>Ungarn</strong> war e<strong>in</strong>e Frage, die alleMitglieder des Warschauer Pakts betraf.ËÈ In aller Deutlichkeit wiesBohlen darauf h<strong>in</strong>, daß die NATO ke<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>mischung fremder Truppenbei den <strong>in</strong>neren Angelegenheiten ihrer Mitgliedsländer vorsehe. Dies riefdie Erwiderung Schukows hervor, daß der Warschauer Pakt dassozialistische Lager vor jeder Bedrohung zu schützen habe. E<strong>in</strong> <strong>in</strong>ternes525


E<strong>in</strong>greifen sei vorgesehen, selbst wenn dies im Pakt nicht ausdrücklicherwähnt werde. Er führte Polen als Beispiel für die sowjetische Zurückhaltungan und fügte heftig werdend h<strong>in</strong>zu: »Es gab mehr als reichlichTruppen <strong>in</strong> Ostdeutschland, Weißrußland und Polen – man hätte siezerquetschen können wie Fliegen.«Bohlen schloß aus Schukow Äußerungen, daß die Sowjetunion sichentschlossen hatte, zunächst den Widerstand <strong>in</strong> der Hauptstadt zu brechenund die Prov<strong>in</strong>zen erst später zu säubern. »In diesem Licht«, telegraphierteder Botschafter nach Wash<strong>in</strong>gton, »sche<strong>in</strong>t Nagys Erklärung <strong>in</strong> der Nachtvom 28. Oktober über den sowjetischen Truppenrückzug aus Budapest,mit stillschweigendem sowjetischen E<strong>in</strong>verständnis, nichts anderes als e<strong>in</strong>Trick zu se<strong>in</strong>, um die Aufständischen zur Kampfe<strong>in</strong>stellung zu veranlassen.«Noch bevor dieser diplomatische Empfang <strong>in</strong> Moskau zu Ende g<strong>in</strong>g,verbreitete-Radio Budapest um 17 Uhr e<strong>in</strong>e aufsehenerregende Nachricht:Die ÁVH-Sicherheitspolizei war aufgelöst worden. Der Innenm<strong>in</strong>ister, Dr.Münnich, zog sich mit se<strong>in</strong>en Mitarbeitern <strong>in</strong>s Parlament zurück. DasGebäude <strong>in</strong> der Attila József utca wurde von e<strong>in</strong>em Polizeiaufgebot undStudenten übernommen. Es war voller Waffen und Munition sowie ÁVH-Uniformen, die eilends gegen die neuen Polizeiuniformen ausgetauschtworden waren. Schon seit dem 21. Oktober, zwei Tage vor dem <strong>Aufstand</strong>,hatten ÁVH-Männer ganze Bündel von Akten <strong>in</strong> die Keller gebracht;Tausende davon waren systematisch vernichtet worden – die Zerreißmasch<strong>in</strong>enauf den oberen Stockwerken hatten unablässig geknirscht undihre Papierschnitzel ausgespien, bis die Drahtkörbe vor jeder Masch<strong>in</strong>eüberliefen. Die Geheimakten waren mit Kohlenkarren zur Vernichtung <strong>in</strong>den Heizungskeller gebracht worden. Aber zur Verbrennung war ke<strong>in</strong>eZeit mehr gewesen – <strong>in</strong>nerhalb von dreißig M<strong>in</strong>uten mußten sämtlicheÁVH-Angehörigen das Gebäude kampflos räumen.ËÍ Wie Münnich undse<strong>in</strong>e üblen Genossen vorausgesehen hatten, sollte die gegenwärtigeStimmung im Lande bei e<strong>in</strong>er Auflösung der ÁVH zu e<strong>in</strong>em Pogromführen.526


Die wirklichen Verbrecher hatten schon vor langem falsche Uniformenangezogen und waren geflüchtet, sie überließen den Lynchkommandosdie kle<strong>in</strong>en Fische – oft waren es unschuldige Rekruten, diegar ke<strong>in</strong>en Anteil an den jahrelangen schweren Verbrechen ihrerVorgesetzten hatten. Für diese Männer begann e<strong>in</strong> Alptraum. In ihrenneuen Polizeiuniformen waren sie <strong>in</strong> der ganzen Stadt geächtet. Siekonnten nicht <strong>in</strong> ihre Wohnungen zurückkehren. Sie konnten sich nichtder Menge stellten, die sich nicht mehr vor ihnen fürchtete. Sie konntensich mit ihrem Geld ke<strong>in</strong> Asyl erkaufen, ja sie konnten nicht e<strong>in</strong>mal Hilfevon den sowjetischen Truppen erwarten, die nun demonstrativ ausBudapest abzogen. Was wußten die seit langem leidenden <strong>Ungarn</strong> vonhoher Politik oder Strategie? Auf e<strong>in</strong>em Photo sieht man Patrioten <strong>in</strong> derNähe der Kilián-Kaserne, die e<strong>in</strong>en f<strong>in</strong>ster blickenden Mann mit Filzhutund langem Mantel zum »Verhör« abführen.Die Volkswut war archaisch, primitiv und brutal. Fast hätte sich der<strong>Aufstand</strong> zu e<strong>in</strong>em antisemitischen Pogrom entwickelt: Die zumeistjüdischen ÁVH-Funktionäre wurden gnadenlos aus ihren Verstecken aufgestöbert. Mehr als e<strong>in</strong>em diplomatischen Beobachter kam der Gedanke,daß das Ganze irgendwie auf lange Sicht zum Nutzen des Kreml arrangiertworden sei. Spencer Barnes äußerte sich besorgt, daß die kommunistischePropaganda aus dem latenten Antisemitismus politisches Kapital schlagenkönnte. Er berichtete Wash<strong>in</strong>gton von e<strong>in</strong>em ÁVH-Major, dessen Lebendurch vier Rebellen gerettet wurde, sie hatten der Menge erzählt, se<strong>in</strong>Lynchtod könne ihrer Sache schaden. Die Menge riß ihm die Kleider vomLeibe und ließ ihn laufen.ËÎAnderswo gab es ke<strong>in</strong>e Gnade. Der ÁVH-Hauptmann Ferenc Tóth, derkraushaarige Vater von zwei kle<strong>in</strong>en K<strong>in</strong>dern, wurde <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Wohnungnahe dem Len<strong>in</strong> körút von e<strong>in</strong>er Patrouille der Nationalgarde entdeckt, dievon e<strong>in</strong>em brillentragenden Elektriker, Antal Mayer, geführt wurde;Mayer hatte sich 1944 freiwilig für die Waffen-SS gemeldet. Der Mob fielüber Tóth her und hängte ihn an e<strong>in</strong>em Straßenbaum auf.ËÏ E<strong>in</strong> andererÁVH-Offizier wurde auf der nahe gelegenen Aradi út gelyncht: Diezehntausend For<strong>in</strong>t Papiergeld, die man <strong>in</strong> der Tasche des Leutnants527


gefunden hatte, wurden <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en offenen Mund gestopft. Neu h<strong>in</strong>zukommendenPassanten erzählte man, daß er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Wohnung flüchtenwollte und Frau und K<strong>in</strong>der erschossen habe, weil sie ihn nicht e<strong>in</strong>lassenwollten.Die Ausschreitungen der Aufständischen schockierten weltweit dieöffentliche Me<strong>in</strong>ung. L<strong>in</strong>ientreue kommunistische Zeitungen schlugenKapital aus Bildern und Photos, die <strong>in</strong> diesen Tagen aus <strong>Ungarn</strong> kamen.Für den Nachmittag hatte der Budapester Parteisekretär Imre Mezöe<strong>in</strong>e Sitzung <strong>in</strong> der Parteizentrale am Republikplatz anberaumt. Erglaubte, daß nur e<strong>in</strong> Mann die Partei retten könne – der neue GeneralsekretärJános Kádár. Nachdem man Kádár telephonisch unterrichtet hatte,kam er am Abend von der Akadémia utca herüber. Was er und Mezö untervier Augen diskutierten, weiß man nicht, aber Mezö berichtete späterse<strong>in</strong>en Mitarbeitern: »Das Zentralkomitee ist handlungsunfähig. Wirwissen, was wir wollen, aber wir s<strong>in</strong>d alle<strong>in</strong>.« Kádárs e<strong>in</strong>zige Bittebestand dar<strong>in</strong>, jeden »konterrevolutionären Akt« und jede Greueltatsorgfältig zu registrieren. In völliger Unkenntnis der Stimmung draußenim Lande beschlossen Mezös Genossen, daß fünfzehn Funktionäre <strong>in</strong> dennächsten beiden Tagen die wichtigsten Fabriken besuchen und vor denArbeitern sprechen sollten. Mezö selbst fühlte sich unwohl: irgend etwasschien sich gegen den Republikplatz zusammenzubrauen. Dreimal war e<strong>in</strong>leichtes Flugzeug <strong>in</strong> niedriger Höhe über das Gebäude h<strong>in</strong>weggeflogen,offensichtlich, um das Gebiet zu erkunden. Aber für wen und warum?Als der ÁVH-Leutnant István Tompa se<strong>in</strong>e vorgesetzte Behörde überdie schw<strong>in</strong>denden Lebensmittelvorräte unterrichtete, teilte ihm dasM<strong>in</strong>isterium die überraschende Nachricht mit, daß die ÁVH nicht mehrexistiere – die Regierung Nagy habe sie aufgelöst. Die Stimmung <strong>in</strong> demGebäude sank auf den Nullpunkt. Tompa gab sich die größte Mühe, se<strong>in</strong>eLeute davon zu überzeugen, daß dies lediglich die operativen ÁVH-E<strong>in</strong>heiten betreffe und daß Sicherheitskräfte jetzt nötiger denn jegebraucht würden. Aber se<strong>in</strong> Stellvertreter Leutnant Várkonyi sagtese<strong>in</strong>en Leuten, die <strong>in</strong> dem Gebäude lagen, die Wahrheit: »Die Regierung528


steht nicht mehr h<strong>in</strong>ter euch.« Und Imre Mezö teilte ihnen bekümmert mit:»Es gibt ke<strong>in</strong>en gesetzlichen Zwang mehr für irgend jemanden, nochhierzubleiben.« Die ÁVH-Männer schienen sich über ihre mißliche Lagenicht klar zu se<strong>in</strong> – oder vielleicht doch, denn niemand entschloß sich, dasGebäude zu verlassen. E<strong>in</strong> oder zwei Stunden später erschienen fünfzigArtilleriekadetten, um bei der Verteidigung des Parteihauses Beistand zuleisten. Sie wurden jedoch aufgefordert, unverzüglich wieder zu verschw<strong>in</strong>den.Auch die drei sowjetischen Schützenpanzer, die das Gebäudebewacht hatten, wurden <strong>in</strong> Übere<strong>in</strong>stimmung mit Nagys Forderung nachRückzug aller Sowjettruppen aus der Stadt abgezogen: Hauptmann V. N.Kutikow, der Kommandant, meldete sich offiziell gegen 16 Uhr bei Mezöab. E<strong>in</strong>em Schützenpanzer gelang die sichere Rückkehr zum Sammelplatz,die beiden anderen wurden auf der Rákóczi út und dem Baross térüberfallen und ihre Besatzungen niedergemacht.Mezö und se<strong>in</strong>e Genossen überkam e<strong>in</strong> Gefühl totaler Isolation. DiePartei hatte ihre Zeitung und das Rundfunkmonopol e<strong>in</strong>gebüßt: Sokonnten sie nicht mehr die öffentliche Me<strong>in</strong>ung diktieren, und ihrePrivatarmee war auf e<strong>in</strong>e Handvoll verängstigter und hungriger Männerzusammengeschmolzen, die <strong>in</strong> schlechtsitzenden neuen Polizeiuniformensteckten.Man bat den Chef des Partisanenverbandes, László Földes, um Hilfe.Földes versprach, gegen Abend 120 ehemalige Partisanen zu schicken.Aus dem Luftschutzkeller wurden Wolldecken geholt und auf demFußboden des kle<strong>in</strong>en Konferenzzimmers ausgebreitet. Die ÁVH-Offiziere zeigten sich noch immer davon überzeugt, daß sie das Gebäudeverteidigen könnten, aber die Funktionäre waren weniger optimistisch.István Kertész, Imre Mezö und Dezsö Nemes führten Várkonyi vomBoden bis zum Keller durch das ganze Gebäude, um e<strong>in</strong>en Fluchtwegauszumachen. Schließlich wählten sie e<strong>in</strong>en Weg, der vom Notausgangdes Privatk<strong>in</strong>os <strong>in</strong> den H<strong>in</strong>terhof der Wohnhäuser führte, die auf dieRákóczi út h<strong>in</strong>ausg<strong>in</strong>gen. Man fand e<strong>in</strong>e Leiter und lehnte sie gegen dieTrennungsmauer.529


An diesem Tage attackierte e<strong>in</strong>e Volksmenge auf dem Freiheitsplatzvor der amerikanischen Gesandtschaft das sowjetische Ehrenmal. E<strong>in</strong>Feuerwehrmann stieg auf e<strong>in</strong>er Drehleiter h<strong>in</strong>auf und befestigte e<strong>in</strong> Seil andem Roten Stern. Dann zog e<strong>in</strong> Feuerwehrwagen mit e<strong>in</strong>er W<strong>in</strong>de denObelisk herunter; er stürzte ächzend zu Boden, e<strong>in</strong> amerikanischerDiplomat filmte die Szene. Der Stern wurde mit Schweißbrennernabgeschnitten, und e<strong>in</strong>ige Arbeiter, die gerade Lastwagen mit Lebensmittelnvon Szolnok <strong>in</strong> die Hauptstadt gebracht hatten, kamen herüber undüberreichten der amerikanischen Gesandtschaft feierlich e<strong>in</strong>en Klumpendes Alum<strong>in</strong>iumsterns als Zeichen ihrer Verbundenheit.Der amerikanische Beitrag zum <strong>Aufstand</strong> war bis jetzt äußerst ger<strong>in</strong>g.Zur beherrschenden Stimme des <strong>Aufstand</strong>s war »Radio Free Europe«geworden. Täglich fanden fernschriftliche Diskussionen über die e<strong>in</strong>zuschlagendeTaktik zwischen der Leitung <strong>in</strong> München und den maßgebendenHerren im Wolkenkratzer an der Park Avenue Nr. 2 <strong>in</strong>Manhattan statt.Tatsächlich schraubten die Rebellensender ihre Forderungen ständighöher. Nagys Feuere<strong>in</strong>stellung genügte »Free Europe« nicht mehr. Kaumhatte die Nagy-Regierung die Waffenruhe ausgerufen, da drängte RFE dieRebellen, sie zu ignorieren. Oberst Bell (Deckname e<strong>in</strong>es ungarischenEmigranten) verkündete an diesem Tage über Rundfunk den Rebellen:»Imre Nagy und se<strong>in</strong>e Genossen wollen lediglich die Geschichte desTrojanischen Pferdes <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er raff<strong>in</strong>ierten, modernen Form wiederholen.Die Feuere<strong>in</strong>stellung ist e<strong>in</strong> Trojanisches Pferd, das die BudapesterRegierung braucht, um solange wie möglich an der Macht zu bleiben.«Am selben Tag konnten Hörer des RFE »Janus« hören, der die <strong>Ungarn</strong> <strong>in</strong>ihrer Muttersprache daran er<strong>in</strong>nerte, daß mehr als e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> EuropasGeschichte die Sieger am Konferenztisch verloren hatten, was sie auf denSchlachtfeldern gewonnen hatten: »Jetzt ist es Zeit, alle Kräfte zusammenzufassen,um sicherzustellen, daß der Sieg im Krieg auch e<strong>in</strong> Sieg imFrieden bleibt. Das Opfer so vieler junger, tapferer Männer im Kampfgegen die sowjetische Tyrannei darf nicht umsonst gewesen se<strong>in</strong>. DemSieg der Waffen muß e<strong>in</strong> politischer Sieg folgen!«530


In Budapest herrschte jetzt, nachdem die ÁVH verschwunden war, derMob. Es war, als sei die letzte Ausgabe von Freies Volk nie gedrucktworden. Obgleich auf dem Titelblatt das alte Kossuth-Wappen prangte,das offiziell als nationales Wahrzeichen wieder e<strong>in</strong>geführt worden war,blieb die Öffentlichkeit mißtrauisch: Die Zeitung war immer noch dasOrgan des Zentralkomitees. E<strong>in</strong> sowjetischer Schützenpanzer mußte dieZeitung verteilen. Passanten stürzten sich auf die Zeitungsbündel undrissen sie <strong>in</strong> tausend Stücke. »Lest nicht diesen Mist«, rief e<strong>in</strong> jungerMann. »Alles, was die Kommunisten drucken, dient nur den Russen.« –»Darum müssen ihre Soldaten es auch verteilen«, me<strong>in</strong>te e<strong>in</strong> anderer.ËÌAuf dem nahe gelegenen Lujza Blaha tér erschien plötzlich e<strong>in</strong>Lastwagen mit Masch<strong>in</strong>engewehren, e<strong>in</strong>e bewaffnete Menge drang <strong>in</strong> dasGebäude von Freies Volk e<strong>in</strong>. Die Partisanen zogen ihre Stiefel undDrillichanzüge aus, zerrissen ihre Partisanenausweise und mischten sichunter die auf den Gängen umherirrenden Leute. Die wenigen zurückgebliebenenFunktionäre entschuldigten sich: »Wir müssen mit derParteizentrale telephonieren« – sie verschwanden. Nur zwei stämmigeArbeiter traten, Schraubenschlüssel schw<strong>in</strong>gend, den E<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gl<strong>in</strong>genentgegen.Die ersten Pistolenschüsse fielen. Doch da stieg e<strong>in</strong> Mitarbeiter vonFreies Volk, e<strong>in</strong> siebenundzwanzig Jahre alter jüdischer ehemaligerFabrikarbeiterËÓ, auf die Treppenstufen und rief mit lauter Stimme: »Wirs<strong>in</strong>d hier Journalisten, die unterschiedliche Grundsätze vertreten. Wirhaben zehn Jahre lang gelogen. Ich habe gelogen, me<strong>in</strong> Kollege hier hatgelogen!« – und dabei deutete er mit dem Schraubenschlüssel auf e<strong>in</strong>enwenig erfreuten Herrn Szatmáry – »aber wir werden nie wieder lügen.«Man hörte Stimmen: »Erschießt sie, wir wollen nicht wieder zumNarren gehalten werden.« Aber andere riefen: »Schreibt was das Volkwill!« Die Rebellen flüsterten mite<strong>in</strong>ander, dann senkten sie die Waffen,und ihr Anführer, der möglicherweise Dudás war, trat vor und küßte denRedner spontan auf beide Wangen. »In Ordnung«, sagte er lächelnd. »Dumachst e<strong>in</strong>e Zeitung. Aber sorge dafür, daß sie gut wird.«531


József Dudás, der höchste Rebellenführer <strong>in</strong> Buda, hatte das Gebäudebesetzt. Am Vortag hatte er die Bildung se<strong>in</strong>es ungarischen nationalenRevolutionskomitees mit sich selbst als Vorsitzendem bekanntgegeben. Ine<strong>in</strong>er Fünfundzwanzig-Punkte-Erklärung sagte er dem Nagy-Regime denKampf an und verkündete, daß er und se<strong>in</strong>e Männer sich weigerten, dieRegierung anzuerkennen. Zu se<strong>in</strong>en Forderungen gehörte der Austritt<strong>Ungarn</strong>s aus dem Warschauer Pakt.ËÔ Aber Dudás erkannte, daß er dafüre<strong>in</strong>e Zeitung brauchte. So war er mit se<strong>in</strong>en Ges<strong>in</strong>nungsgenossen über dieDonau marschiert und hatte das Verlagsgebäude des Parteiorgans FreiesVolk besetzt.ÈÊ Mit se<strong>in</strong>er Frau als Sekretär<strong>in</strong> begann er se<strong>in</strong>e eigeneZeitung Magyar Függetlenség [Ungarische Unabhängigkeit] herauszugeben.E<strong>in</strong>ige beschäftigungslose Journalisten, die er <strong>in</strong> dem Gebäudeangetroffen hatte, halfen ihm. Zu ihnen gehörten Redakteure derParteizeitung Budapester Abend, die durch ihre eigenen Drukker zumSchweigen gebracht worden waren, weil diese sich weigerten, die sche<strong>in</strong>heiligenProteste von Péter Kós beim Weltsicherheitsrat zu drucken.ÈÁ DasGebäude war stark beschädigt. Die Fenster waren zertrümmert, Möbel undWände von Kugeln durchlöchert. Aber das Telephon funktionierte und dieRotationsmasch<strong>in</strong>en ebenfalls. Die Partei mochte vor dem Zusammenbruchstehen, aber e<strong>in</strong>e ihrer wichtigsten E<strong>in</strong>richtungen war noch <strong>in</strong>Betrieb: kisbúgó, das geheime Telephonsystem. Dudás schaltete sich <strong>in</strong>die rote K-Leitung e<strong>in</strong>, belauschte Gespräche von Parteifunktionären, gabüber diese Leitung se<strong>in</strong>en eigenen, weit entfernten Außenposten Befehleund hörte mit, wenn die Partei Geheimberichte über sowjetische Truppenbewegungenan den Grenzen empf<strong>in</strong>g.ÈËEr richtete sich im ersten Stock e<strong>in</strong> und brachte se<strong>in</strong>e besten Leutevom Széna tér herüber. Hier, h<strong>in</strong>ter e<strong>in</strong>em Absperr<strong>in</strong>g erbeuteter Panzer,Masch<strong>in</strong>engewehrnester und revolutionärer Wachen, bildete dieserbemerkenswerte Mann se<strong>in</strong>e Rekruten aus und begann mitten <strong>in</strong> denRevolutionswirren alles, was er brauchte, <strong>in</strong>s Leben zu rufen: se<strong>in</strong>e Partei,se<strong>in</strong>e Armee, se<strong>in</strong>e Zeitung, se<strong>in</strong>en Propagandaapparat. Dr. Szappanos,der für das Heranschaffen der Verpflegung von der Grenze verantwortlich532


war, sagte: »Ich weiß nicht genau, wer die Leute um ihn waren. Icher<strong>in</strong>nere mich, daß György Egri dazugehörte, ebenso wie György Faludy. . . In dem Durche<strong>in</strong>ander konnte man die Leute nicht erkennen.«Dudás Anhänger waren e<strong>in</strong>e wilde Mischung aus Studenten undStraßenbahnschaffnern, Professoren und Prostituierten; sie hantiertenständig mit Handfeuerwaffen, so daß es gefährlich war, auf die Gängeh<strong>in</strong>auszutreten.ÈÈ Inmitten dieses Wirbels saß der hart arbeitende,hemdsärmelige, fanatische Rebellenführer József Dudás, der die Ansammlungsich drängender Mikrophone und klickender Kameras verabscheute,er trank ständig Tee mit Zitrone aus e<strong>in</strong>er Flasche, griff über dieMasch<strong>in</strong>enpistole, die auf se<strong>in</strong>em Schreibtisch lag, nach dem roten K-Telephon und plante blutige Rache für Recsk.E<strong>in</strong> Augenzeuge, der Lkw-Fahrer Zoltán Benkö, berichtete: »Er war soradikal <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Erwartungen und <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Aktivitäten, daß stets jemandbei ihm se<strong>in</strong> mußte, der ihn beruhigte.«ÈÍ E<strong>in</strong>e polnische Journalist<strong>in</strong>schilderte se<strong>in</strong>e Rebellenschar als anständig, tapfer und aufrichtig.Mehrere Männer zeigten ihr sogar ihre Parteimitgliedsausweise. E<strong>in</strong>Journalist der polnischen Zeitschrift Nowa Kultura me<strong>in</strong>te, Dudás seikrankhaft ehrgeizig, aber er habe ihm versichert: »Wir werden ke<strong>in</strong>eRechtsgruppen oder Faschisten dulden.«ÈÎ Über se<strong>in</strong> nationales Revolutionskomiteesagte e<strong>in</strong> Mann: »Es war e<strong>in</strong> Staat im Staate. Wo immerich auch h<strong>in</strong>kam, gab es e<strong>in</strong> Komitee, das sich dem Dudás-Revolutionsratangeschlossen hatte.«ÈÏDie erste Ausgabe der Ungarischen Unabhängigkeit wurde am Abenddes 29. Oktober fertiggestellt.ÈÌ Der Chefredakteur, e<strong>in</strong> früherer Parteijournalist,hatte den Posten von Dudás persönlich erhalten.ÈÓ Der Mannberichtete später: »Ich hatte ihn im Gefängnis getroffen. Er war sehr froh,jemand zu f<strong>in</strong>den, dem er se<strong>in</strong>e Zeitung anvertrauen konnte. Aber Dudáshatte e<strong>in</strong>en Fehler: Er wollte alles selbst tun. Er schrieb gleichzeitig e<strong>in</strong>enArtikel, <strong>in</strong> dem er der Armee erklärte, was sie zu tun hatte, und e<strong>in</strong>enanderen, wie man Budapest mit Lebensmittel versorgen sollte . . . « Dudásbenötigte kaum Reporter – die Nachrichten, Kurzgeschichten und Artikelströmten ganz von selbst <strong>in</strong>s Redaktionsgebäude.533


Dudás’ vorläufiges Ziel war durchaus vernünftig – er wollte alle revolutionärenKräfte zusammenfassen, um Imre Nagy e<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>same Frontgegenüberzustellen. Dieser Plan wurde vom revolutionären Komitee derIntellektuellen sehr ernst genommen. Am 29. Oktober besuchten sie ihn.Sie fanden ihn an se<strong>in</strong>em Schreibtisch mit tiefen R<strong>in</strong>gen unter denermüdeten Augen. Se<strong>in</strong>e Stimme war heiser vom Telephonieren. Währendder ganzen Konferenz g<strong>in</strong>gen Setzer und Journalisten e<strong>in</strong> und aus underbaten Anweisungen für neue Flugschriften und die Genehmigung für dieKorrekturfahnen der ersten Ausgabe der Unabhängigkeit. Zwischendurchstapften auch bewaffnete Revolutionäre ohne große Umstände here<strong>in</strong>.E<strong>in</strong>er meldete: »Wir haben soeben e<strong>in</strong>en Panzer erbeutet, wo sollen wirihn e<strong>in</strong>setzen?« Gegenüber den Intellektuellen verteidigte Dudás hartnäckigdie harte L<strong>in</strong>ie se<strong>in</strong>er Flugblätter: »Man muß darauf hören, was dieStraße will!« sagte er. »Man muß den Kontakt zu den Massen halten. Istdieser Kontakt nicht mehr da, ist man verloren! In dem Augenblick, woNagy uns verspricht, was wir verlangen, werde ich me<strong>in</strong>e ganze Autoritätfür ihn e<strong>in</strong>setzen, um Ruhe und Ordnung wiederherzustellen.« DieIntellektuellen beschlossen, e<strong>in</strong> Zusammentreffen zwischen Dudás undImre Nagy zu arrangieren.ÈÔDie dogmatischeren kommunistischen Schriftsteller wie Gimes undMolnár hatten es abgelehnt, Dudás zu helfen. Sie g<strong>in</strong>gen die Straße zumNew-York-Palast h<strong>in</strong>unter. Aber auf den Druckpressen befand sich bereitsdas offen antikommunistische Blatt Igazság [Wahrheit], das Gyula Oberszovskyund der kränkelnde Bühnenautor József Gáli herausbr<strong>in</strong>genwollten. Es sollte ebenfalls am nächsten Tag ersche<strong>in</strong>en. Gimes lehnte diepolitische E<strong>in</strong>stellung dieses Blattes ab und beschloß, im früherenVerlagsgebäude von Freies Volk e<strong>in</strong> weiteres neues Blatt MagyarSzabadság [Ungarische Freiheit] zu gründen.ÍÊ Etwa fünfzig Journalistensagten ihre Mitarbeit zu. Dudás hielt mehrere Stockwerke besetzt, aber erwar klug genug, auch den kommunistischen Journalisten e<strong>in</strong>e Ecke zumArbeiten zu überlassen, und sie trafen e<strong>in</strong> Gentlemen’s Agreement,e<strong>in</strong>ander ke<strong>in</strong>e Schwierigkeiten zu machen.Das Nagy-Regime war bestürzt über den plötzlichen Verlust se<strong>in</strong>es534


Pressemonopols. Es reagierte <strong>in</strong> der üblichen kommunistischen Weise. Injener Nacht befahl Münnich Polizeipräsident Kopácsi, zum Verlagsgebäudezu gehen, Gimes zu verhaften und die Zeitung zu beschlagnahmen.Kopácsi rückte mit fünfundzwanzig Polizisten an, aber Dudáshatte bewaffnete Posten auf den Straßen, die ihn zurückwiesen: »Wirerkennen weder Imre Nagy noch se<strong>in</strong>e Regierung an«, sagte e<strong>in</strong>er. »Wirwollen ke<strong>in</strong>e Kommunisten als Führer des Landes, unserer Armee oderunserer M<strong>in</strong>isterien. Und wir wollen nicht, daß jemand von Imre Nagymitten <strong>in</strong> der Nacht hier herumschnüffelt! Sagt Nagy, er solle ke<strong>in</strong>eweitere Patrouillen schicken, sondern mit Dudás persönlich verhandeln.«ÍÁAus der Perspektive Wash<strong>in</strong>gtons hatte sich die Lage am Suezplötzlich erheblich verschlechtert. An jenem Nachmittag rief John FosterDulles gegen 17.15 Uhr e<strong>in</strong>en se<strong>in</strong>er Presseberater an und sagte: »Es siehtso schlecht aus, daß wir unsere Hilfe für Israel e<strong>in</strong>stellen müssen.« Israelglaubte nicht, daß die Vere<strong>in</strong>igten Staaten das riskieren würden. E<strong>in</strong>eStunde später berief Präsident Eisenhower e<strong>in</strong>e Geheimsitzung mit denbeiden Dulles-Brüdern e<strong>in</strong>.Als Jeffry Blyth von der Daily Mail an diesem Abend im BudapesterHotel Duna abstieg, erwartete ihn e<strong>in</strong> Telegramm se<strong>in</strong>er Zeitung ausLondon: »Post nimmt wieder Telegramme für <strong>Ungarn</strong> an. Hoffen deshalb,daß Sie dieses erreicht. Dank Ihren tapferen Bemühungen. Waidmannsheilund gute Reise.«Der von Kugeln durchsiebte Borgward se<strong>in</strong>es Kollegen Noel Barberstand immer noch vor der britischen Gesandtschaft. Blyth kippte denInhalt der Benz<strong>in</strong>kanister <strong>in</strong> den Tank se<strong>in</strong>es Ford Taunus. Dann traf ersich mit Peter Stephens vom Daily Mirror zu e<strong>in</strong>er Rundfahrt durch dieStadt.Immer wieder wurden sie von Leuten angehalten, die ihnen zuriefen:»Wann kommen die Briten?« Aber die Briten waren gerade dabei, sichwoanders zu engagieren.535


37Oberst KopácsiDIE UNGARISCHEN und sowjetischen Interessen begannen jetzt, e<strong>in</strong>anderzuwiderzulaufen. Um zu beweisen, daß Imre Nagy nicht mehr Herr derLage war und deshalb die Rückkehr der Sowjettruppen unumgänglich sei,mußte der Kreml <strong>in</strong> Budapest e<strong>in</strong>e unsichere Lage schaffen. Die Aufständischenh<strong>in</strong>gegen waren, um ihre Position zu festigen, an e<strong>in</strong>erWiederherstellung von Ruhe und Ordnung <strong>in</strong>teressiert. Am Abend des 29.Oktober arbeiteten General Béla Király und Polizeipräsident SándorKopácsi e<strong>in</strong>en Plan zur Überwachung des Verteidigungs- und Innenm<strong>in</strong>isteriumsund zur Errichtung e<strong>in</strong>er Nationalgarde aus. Das lief auf dieSchaffung e<strong>in</strong>er revolutionären Armee h<strong>in</strong>aus. Irgend jemand rief ImreNagy an, und der war bereit, sie zu empfangen. Während se<strong>in</strong>es Prozesseserklärte er, daß Zoltán Tildy Király empfohlen habe. »Tildy schilderte ihnals e<strong>in</strong>en ausgezeichneten Organisator und sagte, es würde schwer se<strong>in</strong>,jetzt e<strong>in</strong>en passenderen Mann für diesen Posten zu f<strong>in</strong>den als ihn.«ÁDrei Lastwagen mit bewaffneten Männern begleiteten Király auf demWege zum Parlament, wo er Nagy se<strong>in</strong>en ausgearbeiteten Organisationsplanvorlegen wollte. Er nahm zwei Reporter, e<strong>in</strong>en jungen Armeeoffizier,e<strong>in</strong>en Arbeiter und zwei Studenten mit. Er selbst trug e<strong>in</strong>en alten,dunkelblau gefärbten Militärmantel. Es war etwa Mitternacht, als sie <strong>in</strong>e<strong>in</strong>en hübsch e<strong>in</strong>gerichteten Raum geführt wurden, <strong>in</strong> dem zahlreicheSekretär<strong>in</strong>nentische aufgestellt waren. Bedauernd sagte Nagy zu Király:»Ich kann mich nicht an Ihren Namen er<strong>in</strong>nern.«Király fühlte sich nicht sehr geschmeichelt. Er sagte Nagy, wer er war,und legte ihm den Organisationsplan vor. Nagy ließ sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Sessel536


fallen, um das Dokument zu lesen, während Tildy auf der Sessellehne saß.Der M<strong>in</strong>isterpräsident änderte hier und da e<strong>in</strong> Wort, dann setzte er se<strong>in</strong>eUnterschrift neben die Királys.Als Király vom Parlament zum Polizeipräsidium zurückkehrte, wurdeer von e<strong>in</strong>igen Männern des Revolutionskomitees der Armee erwartet.»Im Verteidigungsm<strong>in</strong>isterium f<strong>in</strong>det gerade e<strong>in</strong>e Sitzung statt«, sagten sieund luden ihn dazu e<strong>in</strong>. Zwei Wagen mit jungen, Masch<strong>in</strong>enpistolenbewaffnetenMännern begleiteten ihn bis zur Empfangshalle desM<strong>in</strong>isteriums. Das Verteidigungsm<strong>in</strong>isterium war noch immer vonsowjetischen Panzern bewacht, und die Neuankömml<strong>in</strong>ge wurden nachWaffen durchsucht, bevor sie <strong>in</strong> den Sitzungssaal g<strong>in</strong>gen. Die Konferenzhatte bereits um Uhr nachts begonnen. Als erstes erläuterte GeneralleutnantVáradi, der Kommandeur der Panzertruppen, die Anweisungendes M<strong>in</strong>isteriums. Die Besucher fanden nur wenig Gefallen daran. Dannlegten die revolutionären Heeresoffiziere ihre Forderungen auf den Tisch.Als Király h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>geführt wurde, gab es Proteste gegen den »Verfemten«.Generalleutnant Váradi protestierte: »Bei se<strong>in</strong>em Prozeß im Jahre 1951hat Király gestanden, e<strong>in</strong> Verschwörer und Saboteur zu se<strong>in</strong>. Ich war e<strong>in</strong>erder Richter, die ihn verurteilten!« E<strong>in</strong> Student hob drohend se<strong>in</strong>eMasch<strong>in</strong>enpistole und gebot Schweigen: »General Király waren Sie e<strong>in</strong>Spion oder nicht?« Mit leidenschaftlichen Worten bestritt Király dies,worauf es zu lauten Beifallsrufen kam. In der Sitzung wurde er alsKommandeur der Budapester Streitkräfte bestätigt.Zur selben Zeit, als sich die Vertreter der Soldatenräte und der aktivenrevolutionären Offiziere trafen, tagten oben im Gebäude regierungstreueOffiziere, um e<strong>in</strong>en revolutionären Militärrat zu gründen. Gewählt wurdenvor allem Generale des alten, abgewirtschafteten Systems, die es vorherversäumt hatten, die nationalen Interessen ihres Landes zu wahren, unddie alsbald wieder das gleiche tun sollten.Als Budapest am Morgen des 30. Oktober 1956 erwachte, herrschtetiefe, wohltuende Ruhe: ke<strong>in</strong>e Schüsse ertönten, ke<strong>in</strong>e Straßenbahnensurrten, ke<strong>in</strong>e Fabriken waren <strong>in</strong> Betrieb – nur e<strong>in</strong>ige wenige Kraftfahrzeugemit flatternder Nationalfahne bahnten sich ihren Weg durch die537


Trümmer. Vere<strong>in</strong>zelte sowjetische Panzerwagen fuhren rasselnd vorbei.Es waren die Reste des Kampfverbandes, der den VIII. Bezirk seit denfrühen Morgenstunden geräumt hatte und nun durch ungarische E<strong>in</strong>heitenersetzt werden sollte. Die Menschen nahmen ihre Hüte ab und drängtensich mitten im Straßengewühl um e<strong>in</strong>en Handwagen, auf dem sich e<strong>in</strong>e<strong>in</strong>facher, hölzerner Sarg befand. E<strong>in</strong> we<strong>in</strong>endes älteres Ehepaar, derene<strong>in</strong>ziger Sohn bei den Straßenkämpfen <strong>in</strong> diesem Bezirk gefallen war,schob diesen Karren.An den Zeitungsständen wurden neue, unbekannte Zeitungenangeboten. Es waren knallig aufgemachte, zwei oder vier Seiten starkeBoulevardblätter. Ihre Artikel führten e<strong>in</strong>e aggressive Sprache: Siebrachen den Stab über den langweiligen, wankelmütigen und pathetischenImre Nagy und trieben ihn immer weiter nach rechts. Überall an denWänden und Fenstern der von den Kämpfen schwer mitgenommenenRákóczi út prangte die Parole: Russki haza – Russen, geht nach Hause.Das Mißtrauen gegenüber Radio Budapest dauerte an. Überall wurdenmit Schreibmasch<strong>in</strong>e geschriebene oder mit Kreide oder T<strong>in</strong>te gemalteFlugblätter verteilt; e<strong>in</strong>ige waren auf erbeutetem, fe<strong>in</strong>stem Papiergedruckt. Am Sitz der revolutionären Studenten und Intellektuellen <strong>in</strong> derUniversität tobten bewaffnete jugendliche herum. In der Druckereiklapperten die Vervielfältigungsapparate und spuckten die neuestenAppelle an das Regime heraus: »Imre Nagy soll sagen, wer diesowjetischen Truppen herbeigerufen hat!«Ë Auf e<strong>in</strong>em Wandplakat hießes: »Ungarische Patrioten! Die Regierung hat uns wieder verraten, dieSowjettruppen ziehen nur aus Budapest ab. Wir trauen der RegierungNagy nicht mehr!« Auf den Wandkritzeleien kam e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>deutigeRechtsneigung zum Ausdruck: »Ruft den Streik aus!« – »Wir brauchenke<strong>in</strong>en Kommunismus.« – »Freiheit für M<strong>in</strong>dszenty!« – »Freie Wahlen«und, durchaus zutreffend: »Wir brauchen ke<strong>in</strong>e Arbeiterräte – dieKommunisten haben ihre F<strong>in</strong>ger dr<strong>in</strong>!«Um 8 Uhr früh hörte schließlich auch der Kampf bei der Kilián-Kaserne auf. John MacCormac fuhr e<strong>in</strong>e Stunde später h<strong>in</strong>über, um sichden Kampfplatz anzusehen. Die Zerstörungen waren schlimmer als alles,538


was er als Kriegsberichterstatter im Zweiten Weltkrieg gesehen hatte. Se<strong>in</strong>Wagen wurde von e<strong>in</strong>er Schar unrasierter Männer und Jugendlicherumr<strong>in</strong>gt. Ihre Gesichter waren grau vor Müdigkeit. MacCormac fragte sie:»Um welche Zeit habt ihr kapituliert?« Verächtlich erwiderte e<strong>in</strong>er vonihnen <strong>in</strong> ausgezeichnetem Deutsch: »Wir haben niemals kapituliert. DieRussen s<strong>in</strong>d gegangen, und wir s<strong>in</strong>d herausgekomrnen.« Oberst Maléterwurde von e<strong>in</strong>er begeisterten Menge umlagert, die ihn auf die Schulternhob und ihn bat, zum Parlament zu gehen und Verteidigungsm<strong>in</strong>ister zuwerden. Maléter antwortete: »Ich b<strong>in</strong> Soldat und ke<strong>in</strong> Politiker.« Jemandrief: »Dann geh zum Parlament und sag, daß wir die Waffen nichtniederlegen, wenn sie es wollen, weil unsere Forderungen noch nichterfüllt s<strong>in</strong>d!«Sie trugen Masch<strong>in</strong>enpistolen, Pistolen, Handgranaten – e<strong>in</strong> zehnjährigerJunge hielt sich an e<strong>in</strong>em Gewehr fest, das größer als er selbstwar. In e<strong>in</strong>er Nebenstraße warf MacCormac e<strong>in</strong>en Blick <strong>in</strong> e<strong>in</strong>echirurgische Kl<strong>in</strong>ik, <strong>in</strong> die vierzig Tote und 500 Verwundete e<strong>in</strong>geliefertworden waren und deren Operationssaal während des erfolglosenVersuchs der Russen, die Kasernen zu stürmen, von e<strong>in</strong>em Geschoßhagelgetroffen wurde. Die Rebellen sollten ihre Waffen um 9 Uhr niederlegen.Aber nur wenige befolgten diesen Befehl. In der Szilárd Rökk utca imVIII. Bezirk umz<strong>in</strong>gelte e<strong>in</strong>e Gruppe Jugendlicher heimlich e<strong>in</strong>en Panzer,erschoß die Besatzung durch die offene Turmluke und nahm dieMasch<strong>in</strong>enpistole des Fahrers an sich.In der städtischen Parteizentrale saß nun, nachdem man demunpopulären István Kovács den Laufpaß gegeben hatte, Imre Mezö alsführender Parteifunktionär. Er fühlte sich äußerst unbehaglich. Gegen 9Uhr hatte er Ansammlungen von bewaffneten Leuten bemerkt, die sich aufder andern Seite des Platzes befanden. E<strong>in</strong>ige Männer kamen herüber undfragten den Polizisten vom Dienst, ob dr<strong>in</strong>nen ÁVOs seien. E<strong>in</strong>igeMutigere erzwangen sich E<strong>in</strong>tritt <strong>in</strong> das Gebäude, sprachen ÁVH-Soldatenan und verlangten, deren Ausweise zu sehen. Es gab e<strong>in</strong> kurzes Geplänkel,der Wortführer wurde festgehalten und zu Imre Mezö gebracht, der den539


ÁVH-Kommandeur kommen ließ.Und dann begann die wilde Schlacht am Republikplatz. Als LeutnantVárkonyi <strong>in</strong> Mezös Büro trat, wurden die ersten Schüsse quer über denPlatz abgefeuert. Glas splitterte, <strong>in</strong>nerhalb weniger M<strong>in</strong>uten waren sämtlicheFenster zertrümmert. We<strong>in</strong>ende Frauen wurden <strong>in</strong> das Kesselhausgebracht, während die Wachen das Feuer erwiderten. Die Heeresoffiziere,die an der Besprechung über die Bildung e<strong>in</strong>er Miliz teilgenommen hatten,bewaffneten sich mit Gewehren und beteiligten sich an der Verteidigung –sie hatten ke<strong>in</strong>e andere Wahl. Die Schützen schossen h<strong>in</strong>ter Bäumen undvon e<strong>in</strong>er Mulde <strong>in</strong> den Gärten nach oben <strong>in</strong>s Gebäude: die Kugelnschlugen <strong>in</strong> die Decke der Zimmer. Aber bald hatten die RebellenStellungen <strong>in</strong> den den Platz umgebenden Wohnhäusern und auf Dächernbezogen, so daß die Kugeln die Wände trafen und Möbel zersplitterten.Mezö hatte schon früher im Feuer gestanden. Er kroch von e<strong>in</strong>emRaum zum andern und beschwor die Schützen, den Pöbel nicht so naheheranzulassen, daß er das Gebäude stürmen könnte. »Es wird nur e<strong>in</strong>eoder zwei Stunden dauern«, versicherte er. »Das Zentralkomitee wirdniemals e<strong>in</strong>en solchen Angriff dulden!«Er irrte. Entweder war es Absicht von höherer Stelle, Märtyrer für diekommunistische Sache zu machen, oder die übliche marxistischeUnfähigkeit, Gefühllosigkeit und Stümperei – für Mezö und se<strong>in</strong>e Leutewürde es jedenfalls ke<strong>in</strong>e Rettung geben.Unterdessen begann General Király gemäß den Anweisungen vonNagy mit dem Aufbau e<strong>in</strong>er revolutionären Nationalgarde. Waffen mußtenverteilt und rund 26.000 bisherige Rebellen angeworben werden. Királywünschte auch e<strong>in</strong>en eigenen Generalstab. Etwa um die Mittagszeit suchteer den Verteidigungsm<strong>in</strong>ister auf und verlangte die Wiedere<strong>in</strong>setzung vonvierzig früheren Kameraden, die Rákosi aus der Armee ausgestoßen hatte.General Janza war e<strong>in</strong>verstanden und ordnete ihm General Imre Kovácsals Chef des Stabes zu. Király kannte ihn nicht persönlich, aber dieserschien ihm loyal gegenüber der Revolution zu se<strong>in</strong>.È Die erste Gruppefrüherer Offiziere – viele von ihnen trugen noch Gefängniskleidung –540


meldete sich bei ihm im Polizeipräsidium. Király stattete sie behelfsmäßigmit Polizeiuniformen aus, Waffen wurden großzügig verteilt. Kopácsisagte später aus: »Irgend jemand brauchte bloß im Namen irgende<strong>in</strong>errevolutionären Gruppe zu kommen, dann erhielt er fünfzig Karab<strong>in</strong>er.« Eroder Király unterschrieben m<strong>in</strong>destens für 15.000 bis 20.000 Gewehre, diewährend der nächsten vier Tage ausgegeben wurden. Gegen KirálysUnterschrift wurden alle<strong>in</strong> im Arsenal der Timót utca 2206 Karab<strong>in</strong>er, dreiMasch<strong>in</strong>engewehre, zwei schwere MGs und e<strong>in</strong>hundert Handgranatensowie 1339 automatische Pistolen ausgeliefert.ÍZu diesem Zeitpunkt, am 30. Oktober, rang man <strong>in</strong> Moskau nochimmer mit dem Problem, wie man den <strong>Aufstand</strong> unterdrücken könne. DreiJahre später gab Nikita S. Chruschtschow <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Rede vor Fabrikarbeitern<strong>in</strong> Budapest zu: »Während dieser für die ungarische Arbeiterklasseso kritischen Tage haben wir sowjetischen Kommunisten darüberdiskutiert, wie man ihnen helfen könne . . . E<strong>in</strong>ige unserer Genossenfragten, ob die ungarischen Genossen es wohl richtig verstehen würden,wenn wir zu ihrer Hilfe eilen würden.«ÎErst e<strong>in</strong>mal mußten die Kämpfe beendet werden. Alles andere hatteZeit bis später. Deshalb schickte das Präsidium des ZK Mikojan undSuslow erneut nach Budapest mit e<strong>in</strong>er offiziellen Erklärung derSowjetregierung über die Beziehungen der UdSSR zu den anderensozialistischen Staaten – e<strong>in</strong>em Dokument, das im Ton so revisionistischwar, daß es unverständlich se<strong>in</strong> würde, wäre es nicht Teil e<strong>in</strong>es zynischenPlans gewesen, e<strong>in</strong>e aus dem Bündnis ausbrechende Nation zu täuschen.Es wurde am selben Tage von Radio Moskau verbreitet und am nächstenTage <strong>in</strong> voller Länge von der Prawda gedruckt und war e<strong>in</strong> letzterVersuch, die erhitzten Gemüter zu beruhigen und Zeit zu gew<strong>in</strong>nen, bevores zu e<strong>in</strong>er allgeme<strong>in</strong>en Volkserhebung kommen würde. In demDokument erklärte sich die Sowjetunion bereit, mit den anderensozialistischen Ländern, Angehörigen des Warschauer Vertrages, dieFrage der <strong>in</strong> den genannten Ländern bef<strong>in</strong>dlichen sowjetischen Truppen zuerörtern. Es wurden »direkte Fehler« sowie Verletzungen und Fehler541


zugegeben, die das Pr<strong>in</strong>zip der Gleichberechtigung <strong>in</strong> den Beziehungenzwischen den sozialistischen Ländern bee<strong>in</strong>trächtigten. In dem Dokumentwurde versichert, daß der Kreml bereit sei, mit der Regierung derUngarischen Volksrepublik und den andern Angehörigen des WarschauerVertrages entsprechende Verhandlungen über den Aufenthalt dersowjetischen Truppen auf ungarischem Territorium auf zunehmen. DieseTruppen hätten <strong>in</strong>zwischen den Befehl bekommen, sich aus Budapestzurückzuziehen, sobald die Regierung Nagy es wünschte. (Natürlich hatteNagy e<strong>in</strong>e solche Forderung bereits gestellt. Dies wurde <strong>in</strong> dersowjetischen Presse natürlich nicht erwähnt.)Etwa zur selben Zeit (30. Oktober, 19 Uhr) sprach Charles Bohlen, deramerikanische Botschafter <strong>in</strong> Moskau, auf e<strong>in</strong>em Abendempfang imKreml Marschall Schukow auf se<strong>in</strong>e Behauptung vom Vortag an, daß diesowjetischen Truppen <strong>in</strong> Budapest während der letzten achtundvierzigStunden ke<strong>in</strong>en Schuß mehr abgegeben hätten. »In allen westlichenRundfunksendungen wird berichtet, daß die sowjetische Artillerie <strong>in</strong> derStadt schießt.« Schukow bestritt dies, aber erklärte nunmehr rundweg:»Die sowjetischen Streitkräfte haben bereits den Befehl erhalten, die Stadtzu verlassen.« Dies war e<strong>in</strong>e dramatische Umkehrung se<strong>in</strong>er Erklärungvom Vortage. Er begleitete se<strong>in</strong>e Worte mit e<strong>in</strong>er ungeduldigen Geste, alsob er sagen wollte: »Sollen sie selber sehen, wie sie fertig werden.«Bohlen wollte ihn fragen, ob dies bedeute, daß <strong>in</strong> Budapest Ruhe undOrdnung soweit wiederhergestellt seien, daß Nagy die volle Regierungsgewaltwieder übernehmen könne, oder ob sich die sowjetischen Streitkräfteauf Nagys Wunsch zurückzögen trotz der dort bestehendenSituation; aber <strong>in</strong> diesem Augenblick trat Molotow h<strong>in</strong>zu und begann,Fragen über den Nahen Osten zu stellen.Ï Nach e<strong>in</strong>iger Überlegunggewann der Botschafter von Schukow den E<strong>in</strong>druck, daß die sowjetischenMilitärs für e<strong>in</strong> hartes Durchgreifen sowohl <strong>in</strong> Polen als auch <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong>e<strong>in</strong>traten. Schukow wirkte »frustriert«. Bohlen berichtete um 22 Uhr nachWash<strong>in</strong>gton: »Die Sowjetführer e<strong>in</strong>schließlich Chruschtschow, Bulgan<strong>in</strong>,Molotow, Kaganowitsch machten e<strong>in</strong>en viel düstereren E<strong>in</strong>druck alsgestern, es ist möglich, daß Schukows Erklärung e<strong>in</strong>e über Nacht gefaßte542


Me<strong>in</strong>ungsänderung darstellt, die durch uns hier unbekannte Ereignisse <strong>in</strong><strong>Ungarn</strong> hervorgerufen worden ist.«Beobachter, die mit den Methoden der Sowjets vertraut waren,konnten deutlich erkennen, daß der Kreml Imre Nagy an der langen Le<strong>in</strong>elaufen ließ, an der er sich dann selbst aufhängen sollte. Marschall Titosandte e<strong>in</strong>e vertrauliche Botschaft, <strong>in</strong> der er Nagy bat, se<strong>in</strong>eSamthandschuhe auszuziehen, solange es noch Zeit sei, und sowohlgegenüber den Stal<strong>in</strong>isten als auch gegenüber dem Mob auf der Straßescharf durchzugreifen. Er verband dies mit e<strong>in</strong>em öffentlichen Appell andie ungarische Partei, das Blutvergießen zu beenden. Die vertraulicheBotschaft wurde Nagy mündlich durch Géza Losonczy übermittelt, der zudiesem Zwecke vom jugoslawischen Botschafter e<strong>in</strong>geladen worden war.ÌCharles Bohlen warnte Wash<strong>in</strong>gton ebenfalls, daß die Ereignisseaußerhalb der sowjetischen Grenzen sich schnell weiterentwickelten unddaß die sowjetische Politik trotz der verblüffenden Erklärung des Kremlsich wieder ändern könnte, »falls die Nagy-Regierung nicht mehr Herr derLage ist und wenn die, wie es <strong>in</strong> der sowjetischen Erklärung heißt, ›Kräfteder schwarzen Reaktion und der Konterrevolution‹ ans Ruder gelangensollten, könnte ihre E<strong>in</strong>stellung gegenüber e<strong>in</strong>em Truppenrückzug sehrwohl revidiert werden«.ÓSpencer Barnes nannte <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Bericht aus Budapest die Situationan diesem Nachmittag e<strong>in</strong>e »gefährliche Sackgasse, die möglicherweisezur Anwendung der ›eisernen Faust der Sowjets‹ führen könnte«. Es seiunwahrsche<strong>in</strong>lich, sagte er, daß die Russen freie Wahlen akzeptierenwürden, aber sie würden möglicherweise ihre Truppen zurückziehen,wenn sie sicher se<strong>in</strong> könnten, daß e<strong>in</strong>e neue Regierung nicht antisowjetische<strong>in</strong>gestellt sei. Aber wer könnte der Führer e<strong>in</strong>er solchenRegierung se<strong>in</strong>? Imre Nagys Prestige schien mit jedem Tag mehr zuschw<strong>in</strong>den. Barnes empfahl, sich so schnell wie möglich für e<strong>in</strong>eUnterstützung der Aufständischen zu entscheiden, damit diese für denlangen Kampf gegen die Russen gewappnet seien.ÔDie ersten Schüsse pfiffen über den Republikplatz und trafen das543


Hauptquartier der Budapester KP. Imre Mezö rief telephonisch verzweifeltum Hilfe. In se<strong>in</strong>em mit Glassplittern übersäten Büro im zweiten Stockblickte er <strong>in</strong> bleiche, angespannte Gesichter. Der Aufenthalt <strong>in</strong> diesemGebäude, trotz der bekanntgegebenen Auflösung der ÁVH und derwachsenden Gefahr von der Straße, hatte nur dann e<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n, wenn dasRegime bereit war, starke Kräfte zu se<strong>in</strong>er Verteidigung zur Verfügung zustellen. Dies war Mezös e<strong>in</strong>zige Hoffnung.Radio Budapest verlor ke<strong>in</strong> Wort über den erbitterten Kampf, aber dieNachricht verbreitete sich über die ganze Stadt. Reporter und Bildberichterstattereilten herbei. Jean-Pierre Pedrazz<strong>in</strong>i von Paris Match ware<strong>in</strong>er der ersten, die auf dem Platz erschienen. Das Hämmern derMasch<strong>in</strong>engewehre erschütterte ihn nicht – es handelte sich ja um e<strong>in</strong>enKampf, der sich ausschließlich unter <strong>Ungarn</strong> abspielte. Er befestigte se<strong>in</strong>Teleobjektiv am Griff e<strong>in</strong>es Gewehrkolbens und richtete es auf bewaffneteRebellen, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Torweg standen. Se<strong>in</strong>en Kollegen Paul Mathias bater: »Du sprichst doch Ungarisch, geh mal h<strong>in</strong>über und frage ihn, warum erkämpft!« Er wies auf e<strong>in</strong>en jungen Mann mit weigern Schal, der nebene<strong>in</strong>em jungen Mädchen stand. Geduckt lief Mathias über die Straße. DerMann senkte se<strong>in</strong>en Karab<strong>in</strong>er und sagte: »Ich arbeite <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Lkw-Fabrik. Me<strong>in</strong> Vater erzählt immer, daß diese Fabrik früher e<strong>in</strong>emKapitalisten gehörte, der den ganzen Profit e<strong>in</strong>steckte. Aber dieLastwagen blieben wenigstens <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong>!« Er wischte sich mit demHandrücken über den Mund und fuhr fort: »Ich will Ihnen sagen, was jetztgeschieht: Wir machen sie fertig, wir verladen sie <strong>in</strong> Güterzüge, und abgeht’s nach Rußland!«Auf dem Platz erschien e<strong>in</strong> erbeuteter T-34, dessen Masch<strong>in</strong>engewehrewie wild feuerten. Als der Life-Photograph John Sadovy se<strong>in</strong>e Kameraschußbereit machte, g<strong>in</strong>gen mehrere Rebellen h<strong>in</strong>ter dem Panzer, derlangsam auf das Gebäude zurollte, <strong>in</strong> Deckung. Kugeln prasselten auf diePanzerung. Sadovy erhielt e<strong>in</strong>en Streifschuß, filmte aber weiter. Vor denWochenschaukameras krochen bewaffnete Rebellen auf der Erde undstopften Patronen <strong>in</strong> die MG-Gurte, während andere Männer Verwundeteaus der Feuerl<strong>in</strong>ie holten; e<strong>in</strong>e Krankenschwester suchte h<strong>in</strong>ter e<strong>in</strong>em544


Baum Schutz. Auf der anderen Seite brannte e<strong>in</strong> Fahrzeug. E<strong>in</strong> Munitionswagenerschien und brachte Granaten, die sofort <strong>in</strong> den Panzerh<strong>in</strong>e<strong>in</strong>gereicht wurden. E<strong>in</strong> Rotkreuzhelfer im weißen Kittel wurdegetroffen, Sadovy filmte ihn, als er sich auf der Erde krümmte. Leuteriefen zum Parteigebäude h<strong>in</strong>auf: »Nicht schießen, wir schickenSanitäter!« Aber dies war ke<strong>in</strong> Krieg, <strong>in</strong> dem <strong>in</strong>ternationale Regeln galten– dies war e<strong>in</strong> Bürgerkrieg, und es wurde weitergeschossen. E<strong>in</strong> Krankenträger<strong>in</strong> weißem Kittel wurde von e<strong>in</strong>em Treffer niedergestreckt. Gebücktrannten vier Mann aus e<strong>in</strong>em niedrigen Tor, um ihn auf e<strong>in</strong>er Bahre zubergen.Den Verteidigern im Innern des Gebäudes wurde immer klarer, daß sieauf sich selbst gestellt waren. Gegen 11 Uhr telephonierte ÁVH-LeutnantVárkonyi mit der Szamuelly-ÁVH-Kaserne um Hilfe: Der diensthabendeOffizier lehnte ab, und es gab böse Worte auf beiden Seiten. Mezö, OberstAsztalos und Frau József Csikesz – e<strong>in</strong>e Funktionär<strong>in</strong> – riefen verzweifeltjedes ihnen bekannte Amt und jede Behörde um Hilfe. Der Beschuß vonder Kenyérmezö utca wurde schwerer. E<strong>in</strong> ausgebildeter Scharfschützelief von e<strong>in</strong>em Zimmer zum anderen und versuchte, die Baumschützenabzuschießen. Mehrmals fielen leblose Körper von den Bäumen, e<strong>in</strong>Beweis dafür, daß auch die Rebellen Verluste hatten. Aber das Feuer aufdas Gebäude kam von vielen Seiten, und durch den Staub und Rauch derVorderzimmer hörte Mezö das Schreien und Stöhnen der Verwundeten.Sie wurden zum Verb<strong>in</strong>den <strong>in</strong> den Heizungskeller gebracht.Polizeipräsident Sándor Kopácsi, der se<strong>in</strong>en Dienstrang und se<strong>in</strong>enPosten der Partei verdankte, tat nichts, um se<strong>in</strong>en <strong>in</strong> Not geratenenGenossen zu helfen. Er war jetzt auf der Seite der Rebellen. Derjugoslawische Zeitungsreporter Vlado Teslic hielt sich gerade bei ihm auf,als das Telephon des Polizeichefs läutete und ihm die Nachricht von demAngriff der Rebellen auf das städtische Parteibüro übermittelt wurde.Kopácsi machte se<strong>in</strong>e <strong>in</strong>zwischen vertraut gewordene Geste der Hilflosigkeit.»Der Oberst zuckte resigniert die Achseln«, telegraphierte Teslicder Borba nach Belgrad.Als Gerüchte über die Kämpfe gegen 11 Uhr den Rebellenführer545


József Dudás erreichten, befand dieser sich gerade im Setzmasch<strong>in</strong>enraum,um die nächste Ausgabe se<strong>in</strong>er Zeitung zu überwachen. Er ließ sichmit dem Parlament verb<strong>in</strong>den und erklärte dem M<strong>in</strong>isterpräsidenten <strong>in</strong>scharfem Ton: »Ich werde soeben davon unterrichtet, daß unschuldigePassanten vom Parteigebäude auf dem Republikplatz beschossen werden.Ich habe deshalb die Freiheitskämpfer angewiesen, dieses Gebiet zusäubern.«ÁÊ Er schickte etwa dreißig bewaffnete Männer zum Platz, auch»Onkel János« entsandte e<strong>in</strong>en Trupp vom Széna tér.Gegen Mittag hörte Imre Mezö, daß das Geschütz des T-34 zuschießen begann. Das Gebäude bebte bei jedem Aufschlag, als der Panzersich e<strong>in</strong>schoß. E<strong>in</strong>e Innenwand brach zusammen und begrub zweiSoldaten lebendig unter sich. E<strong>in</strong> sowjetisches Flugzeug kreiste kurz überdem Gebäude und verschwand wieder. Auf den Dächern der gegenüberliegendenRákóczi út erschien e<strong>in</strong> bewaffneter Trupp. Er wurde nache<strong>in</strong>em viertelstündigen Feuergef echt zwar vertrieben, aber im Gebäudewurde die Munition knapp, und e<strong>in</strong>e Parteifunktionär<strong>in</strong> mußte auf denKorridoren auf der Suche nach unbenutzten Patronen umherkriechen;Leutnant Várkonyi versuchte, die Hoffnung auf Verstärkung wachzuhalten.Die Stimmung verbesserte sich. Doch da brachte e<strong>in</strong> Telephonanrufdes Verteidigungsm<strong>in</strong>isteriums die lakonische Antwort: »DasFlugzeug hat ke<strong>in</strong>erlei Mob auf dem Republikplatz entdeckt. DieAngreifer können nicht so stark se<strong>in</strong>, daß unsere Unterstützung nötigwäre.«Überall <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> ist es das gleiche Bild. Ungeh<strong>in</strong>dert von derSicherheitspolizei beherrschen revolutionäre Scharen die Straße. Dieglücklicheren Funktionäre werden lediglich aus ihrem Amt gefeuert;e<strong>in</strong>ige werden geschlagen, andere gelyncht, e<strong>in</strong>er wird wie e<strong>in</strong>emittelalterliche Hexe ertränkt. An diesem Tage, dem 30. Oktober, bekenntder Kommunist der alten Garde, Zoltán Szántó, e<strong>in</strong>em Journalisten imParlament: »Glauben Sie mir, wir s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e Sadisten. Aber wir könnenfür diese <strong>Ungarn</strong> ke<strong>in</strong> Mitleid empf<strong>in</strong>den . . . Gegenüber dem Volk s<strong>in</strong>dVerbrechen begangen worden. Die Kommunisten haben Schuld auf sich546


geladen. Das Volk hat recht. Wir müssen mit dem Volk zusammengehen.Es ist bereits sehr spät, was die Partei betrifft.« Was Szántó nichterkannte, war, daß diese kurzsichtige und blutdürstige Rache auf langeSicht niemand anders helfen würde als ihrem mächtigen Tyrannen, derSowjetunion.Während se<strong>in</strong> alter Freund Imre Mezö um se<strong>in</strong> Leben kämpfte, brachteM<strong>in</strong>isterpräsident Imre Nagy unmerklich die Kommunistische Parteih<strong>in</strong>ter sich. Auf den Parlamentsplatz h<strong>in</strong>ausblickend, erklärte er e<strong>in</strong>emReporter: »Ich b<strong>in</strong> Kommunist, ich war immer Kommunist und ich werdeals Kommunist sterben. In diesen Straßen stirbt der Kommunismus, weiler zum Imperialismus geworden ist.«ÁÁ In der Akadémia utca hat Nagye<strong>in</strong>e Partei zurückgelassen, die nur noch dem Namen nach existiert; ihre800.000 Mitglieder haben sie verlassen. Er ist <strong>in</strong> die Räume desM<strong>in</strong>isterpräsidenten <strong>in</strong> diesem schmutzigen Parlamentsgebäude gezogenund hat sich mit Panzern, Soldaten und Männern umgeben, denen ertrauen kann.Die Haupte<strong>in</strong>gänge des Parlaments s<strong>in</strong>d verschlossen, die purpurundgoldgeschmückten Gänge s<strong>in</strong>d dunkel, und die schwach leuchtendenLüster sche<strong>in</strong>en mehr Schatten als Licht zu spenden. Mitglieder der neuenRegierung drängen sich <strong>in</strong> den geräumigen verräucherten Zimmern,während Journalisten kommen und gehen. Arbeiterdelegationen mit aufNotizzetteln gekritzelten »Forderungen« warten darauf, vorgelassen zuwerden, milchbärtige Studenten stehen schüchtern herum. Telephonekl<strong>in</strong>geln, und <strong>in</strong> jeder Ecke hocken Leute mit müden Augen. Alles wirktsehr improvisiert. E<strong>in</strong> polnischer Journalist ersche<strong>in</strong>t. Géza Losonczy,neuerd<strong>in</strong>gs zum Staatsm<strong>in</strong>ister ernannt, führt ihn herum und bedauert, daßer noch ke<strong>in</strong> Büro oder e<strong>in</strong>e Sekretär<strong>in</strong> hat. Er spricht über dieSchwierigkeiten, die Nagy bei der Erweiterung se<strong>in</strong>er Regierung hat. »Sieist noch nicht abgeschlossen«, sagt er. »Aber die Sozialdemokraten verhaltensich ablehnend. Sie ziehen es vor, abzuwarten.«ÁËFrau József Balogh, e<strong>in</strong>e Sekretär<strong>in</strong> von Imre Nagy, nimmt e<strong>in</strong>enAnruf entgegen und eilt dann <strong>in</strong> die M<strong>in</strong>isterratssitzung, um ihn über dieVorgänge am Republikplatz zu <strong>in</strong>formieren. Sie hat ihm schon e<strong>in</strong>mal547


Berichte der Partei über Ausschreitungen der Rebellen überreicht, aber erhat sie beiseite geschoben: »Sie s<strong>in</strong>d übertrieben«, sagt er jetzt. Sieverschließt sie <strong>in</strong> ihrem Safe, ist aber nervös und fürchtet, daß die rasendeMenge als nächstes zu ihnen kommen und sie alle lynchen könnte. Nagyschnauzt sie an: »Ke<strong>in</strong>e Panikmache!« Er versucht, das Verteidigungsm<strong>in</strong>isteriumund die Polizei anzurufen, kommt aber aus irgende<strong>in</strong>emGrund nicht durch.ÁÈDas Leben der Parteiführer, die <strong>in</strong> dem Gebäude auf dem Republikplatz<strong>in</strong> der Falle saßen, näherte sich dem Ende. Die Menge warmittlerweile bis <strong>in</strong> Wurfweite vorgedrungen. Molotow-Cocktails hattenzahlreiche Räume <strong>in</strong> Brand gesetzt. Die Registratur war e<strong>in</strong>Flammenmeer. Versuche, das Feuer e<strong>in</strong>zudämmen, wurden durchScharfschützen verh<strong>in</strong>dert, die <strong>in</strong> dem slowakischen Studentenheim an derEcke sagen. E<strong>in</strong>ige Mitarbeiter rieten zur Kapitulation, aber Imre Mezöschüttelte den Kopf. Er rief den M<strong>in</strong>isterpräsidenten Nagy persönlich an.E<strong>in</strong>e Stimme antwortete: »Er ist <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Konferenz.«Das Verteidigungsm<strong>in</strong>isterium hatte mehrere Panzer zum Platzgeschickt. Der Kommandeur des Panzerregimentes 33, Oberst Ede Virágh,wählte sorgsam die Mannschaften aus und gab die genaue Lage desGebäudes an, das sie befreien sollten. Er selbst zog es allerd<strong>in</strong>gs vor, denkle<strong>in</strong>en Kampfverband nicht persönlich zu führen. Bei dem Ersche<strong>in</strong>ender Panzersoldaten auf dem Platz riefen die Leute: »Die ÁVH hat aufunsere Verwundeten geschossen!« Der MG-Schütze e<strong>in</strong>es Panzersverschoß daraufh<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en ganzen Patronengurt gegen das Parteigebäude.Dies führte im Innern des Panzers zu e<strong>in</strong>er heftigen Debatte. DerKommandant me<strong>in</strong>te, es könne nichts Gutes dabei herauskommen, auf dasParteihauptquartier zu schießen. Der Panzer scherte aus. Später sah manihn schwerfällig wie e<strong>in</strong>en bösartigen Elefanten die Rákóczi út h<strong>in</strong>aufundh<strong>in</strong>unterrumpeln. Die anderen drei Panzer blieben und begannen,systematisch Granaten auf das bereits qualmende Gebäude zu feuern, bise<strong>in</strong> riesiges Loch <strong>in</strong> der Fassade klaffte. Dezsö Nemes und e<strong>in</strong> paar andereFunktionäre fuhren fort, das Feuer zu erwidern. Sie hatten zum Schutz548


gegen Rauch und aufgewirbelten Staub nasse Tücher um den Mundgebunden.Inzwischen war es 13.30 Uhr geworden. Die Soldaten <strong>in</strong> dem Raumüber dem E<strong>in</strong>gang hatten die Hauptlast des Kampfes zu tragen. Sie warenentweder tot, wie gelähmt oder schwer verwundet. Größe Mauerbrockenfielen krachend nieder, als Imre Mezö noch e<strong>in</strong>mal die Nummer desVerteidigungsm<strong>in</strong>isteriums wählte. Das Besetztzeichen erklang. Mezöwandte sich Oberst Asztalos zu und bat ihn, sich weiter zu bemühen,während er selbst versuchen wollte, den M<strong>in</strong>isterpräsidenten anzurufen.Imre Nagy war immer noch <strong>in</strong> der Konferenz. Als Mezö Nagys Sekretär<strong>in</strong>bat, ihm doch wenigstens e<strong>in</strong>e Mitteilung zu übermitteln, erwiderte sie:»Ich habe ihm schon vor e<strong>in</strong>er ganzen Weile e<strong>in</strong>en Notizzettel h<strong>in</strong>gelegt,aber er hat mich ausgeschimpft, weil ich ihn mit gegenstandslosenGerüchten belästige.« Mezö knallte den Hörer auf die Gabel.Über dem Platz lag e<strong>in</strong>e dichte Wolke vom Rauch der brennendenKraftfahrzeuge. In ihrem Schutze rannten die Gewehrschützen von Baumzu Baum, sie krochen immer näher an den Haupte<strong>in</strong>gang, mit Masch<strong>in</strong>engewehren,Karab<strong>in</strong>ern, Benz<strong>in</strong>flaschen und antiquierten Fl<strong>in</strong>ten <strong>in</strong> denFäusten. Gegen 14 Uhr waren sie <strong>in</strong> das benachbarte Gebäude derJugendorganisation DISZ e<strong>in</strong>gedrungen. ÁVH-Leutnant Tompa und se<strong>in</strong>eacht Männer hielten sie <strong>in</strong> Schach. Es war jetzt unmöglich, dasParterregeschoß zu erreichen, da die Treppe unter Beschuß lag. Inmehreren Räumen brannte es, die Flammen züngelten durch das Gebäude.Hustend vor Rauch telephonierte Mezö noch e<strong>in</strong>mal mit dem M<strong>in</strong>isterium.Die kühle Antwort lautete: »Wir können nicht helfen.«Jetzt war alles aus. Die Offiziere der Armee und der ÁVH sowie dieParteifunktionäre versammelten sich. Mezö schlug vor, die Rebellen zubitten, wenigstens Frauen und K<strong>in</strong>der h<strong>in</strong>auszulassen. Oberst Asztalos undOberst Papp knöpften ihre Armeeuniformen zu und richteten sich auf.János Asztalos, e<strong>in</strong> dunkelhaariger Mann mit hoher Stirn, auf den vierK<strong>in</strong>der zu Hause warteten, wurde vor achtunddreißig Jahren als Sohne<strong>in</strong>es Flickschusters <strong>in</strong> der Slowakei geboren. Seit se<strong>in</strong>er Jugend war eraktiv <strong>in</strong> der Partei. 1948 trat er <strong>in</strong> die Armee e<strong>in</strong>. Oberst József Papp549


wurde <strong>in</strong> Budapest geboren und aufgezogen. Er war über vierzig, hatteaber e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>dergesicht. Er war <strong>in</strong> die Klempnerlehre gegangen und 1950<strong>in</strong> die Artillerie e<strong>in</strong>getreten. Er fragte sich, ob er wohl se<strong>in</strong>e beiden Söhnewiedersehen werde. Alle beschworen Mezö, sich nicht selbst nachdraußen zu wagen: »Ihr Gesicht ist zu bekannt.«Aber Mezö beharrte darauf, und so beschlossen die beiden Obersten,mit ihm zusammen zu gehen. Asztalos war optimistisch: »Wenn sie e<strong>in</strong>enOffizier mit Ihnen zusammen sehen, so wird sie das schon bee<strong>in</strong>drucken.«Aus der Kant<strong>in</strong>e wurde e<strong>in</strong> weißes Tischtuch geholt und an e<strong>in</strong>emStück Holz befestigt. Asztalos befahl Várkonyi: »Schließen Sie die Tür,sowie wir draußen s<strong>in</strong>d, und schießen Sie nicht, wenn wir mit bewaffnetenKonterrevolutionären zurückkommen.«Mezö schob erst die weiße Fahne durch die Tür, dann trat erzusammen mit den beiden Obersten h<strong>in</strong>aus. Man hörte Rufe: »Nichtschießen.« – »Sie kapitulieren!«Mezö g<strong>in</strong>g auf den Bürgersteig, und die beiden anderen folgten ihm.»Nicht schießen!« rief er.Der Bildberichterstatter John Sadovy, e<strong>in</strong> gebürtiger Tscheche, der dieEreignisse für das Life-Magaz<strong>in</strong> photographierte, hatte se<strong>in</strong>e Kamerasumgehängt und fünf Aufnahmen davon gemacht, wie die ersten Rebellentruppsmit e<strong>in</strong>er Nationalflagge <strong>in</strong> der Hand zum Haupte<strong>in</strong>gang rannten.Die Tür öffnete sich, e<strong>in</strong>e weiße Fahne erschien, Mezö und se<strong>in</strong>e Begleitertraten heraus. Auf Sadovys sechstem Bild sieht man, wie Oberst Asztalosfiel. »Se<strong>in</strong> Tod war der schnellste, den ich jemals gesehen habe«, sagtSadovy. »Er trat gr<strong>in</strong>send heraus, und Sekunden später g<strong>in</strong>g er zu Boden.Ich glaubte nicht, daß er erschossen worden war. Ich dachte, er seigestolpert.« Wieder ertönte e<strong>in</strong> Schuß, und jetzt fiel Mezö tödlichverwundet vornüber.Die Menge drängte vor und drückte, ihr Geschrei erstickte jedenanderen Laut. Die Rebellen stießen die Tür auf und zogen e<strong>in</strong>engutaussehenden Offizier heraus, dessen Gesicht weiß wie Kalk war. Erg<strong>in</strong>g etwa zehn Schritte mit erhobenen Händen und prallte zurück, als er550


se<strong>in</strong>e toten Kameraden sah. Die Leute h<strong>in</strong>ter ihm stießen ihn vorwärts. Erversuchte, etwas zu sagen. Plötzlich brach er, von e<strong>in</strong>er Kugel im Rückengetroffen, zusammen.Zwei weitere ÁVH-Männer wurden herausgezerrt. Im selben Augenblick,als die Gewehrkolben auf den Schädel des e<strong>in</strong>en Mannes niedersausten,während er vergeblich versuchte, se<strong>in</strong>en Kopf zu schützen,klickte der Verschlug von Sadovys Kamera wieder und noch e<strong>in</strong>mal. E<strong>in</strong>kurzer Feuerstoß – vorbei. Aus dem Innern des Gebäudes drangenSchreie, Flüche, Gewehrschüsse und das Splittern von zerbrechendemGlas. Sechs junge Offiziere <strong>in</strong> schlampigen Polizeiuniformen ohneRangabzeichen marschierten gesenkten Hauptes heraus, sie wurden umdie Ecke geführt und brutal gegen e<strong>in</strong>e Wand gestoßen. Zehnmal klickteder Verschluß von Sadovys Kamera, als sie zu ihrem Schöpfer geschicktwurden. Zwei andere, deren Hände unwillkürlich zum Gebet gefaltetwaren, stießen hervor: »Wir s<strong>in</strong>d nicht so schlecht, wie ihr glaubt.« –»Gebt uns e<strong>in</strong>e Chance, es zu beweisen!« Ke<strong>in</strong>e Chance. Nur wenigeMeter von ihnen entfernt sah Sadovy, wie sie kurzerhand niedergestrecktwurden. Wie wahns<strong>in</strong>nig feuerten die Revolverhelden noch auf dieoffenbar leblosen Körper. Wieder wurden zwei Männer an die Hauswandgestellt: Sadovy wechselte die Kamera, drückte den Auslöser, als sieversuchten wegzulaufen, dann wiederum, als sie sich hilfesuchend an dieZuschauermenge wandten, und noch e<strong>in</strong>mal, als sie getötet wurden. Dannkonnte er nicht mehr. Tränen liefen ihm die Wangen h<strong>in</strong>unter. Er war dreiJahre lang im Krieg gewesen, hatte aber niemals solche Szenen erlebt.Die überlebenden ÁVH-Leute im Innern des Gebäudes zogen sichunter Führung von Leutnant Várkonyi kämpfend <strong>in</strong> Richtung Heizungskellerund Luftschutzraum zurück. Die ersten Rebellen, mit denen siezusammenstießen, waren die Trupps von der Thököly út und dem Barosstér: Sie kamen von e<strong>in</strong>er Nebenstraße here<strong>in</strong>, während die Rebellen vonder Corv<strong>in</strong>-Passage, die das Gebäude vom Erkel-Theater aus beschossenhatten, durch den Haupte<strong>in</strong>gang e<strong>in</strong>drangen. Plündernd und zerstörendstürmte der Mob <strong>in</strong> das schwer beschädigte Haus. E<strong>in</strong> älterer, grauhaariger551


Mann, der mit der Menge e<strong>in</strong>gedrungen war, appellierte an die rasendeMenge, ke<strong>in</strong>e Gewalt zu üben, aber man war taub gegen alle Appelle. DieKorridore waren überfüllt von Rebellen und Rowdys, so wurde esparadoxerweise den Parteifunktionären leichtgemacht, unterzutauchen undzu entkommen – wenn sie nicht <strong>in</strong> Uniform waren, wie die unglücklichenÁVH-Rekruten.ÁÍZwei Journalisten der revolutionären Zeitung Wahrheit kamen <strong>in</strong> dasdüstere Parlamentsgebäude, um Imre Nagy aufzusuchen. »Dr<strong>in</strong>nenherrschte die bedrückende Atmosphäre e<strong>in</strong>es historischen Augenblicks«,sagte später e<strong>in</strong>er der Journalisten. »Die russischen Soldaten glichengroßen grauen Flecken auf dem roten Teppich.«ÁÎ Am Pressetisch saßFrau Piroska Vigyázó, die früher für Freies Volk gearbeitet hatte. Sieüberprüfte die Ausweise der Journalisten. Ganz nebenbei fragte sie: »Wasgibt es Neues draußen?« Oben tagte der M<strong>in</strong>isterrat, und vor dem Bürovon Nagy hasteten M<strong>in</strong>ister h<strong>in</strong> und her. Das Kab<strong>in</strong>ett debattierte übernoch weitergehende Zugeständnisse an die Straße. Gergely Szabó,M<strong>in</strong>ister der chemischen Industrie, stellte den beiden Journalisten diegleiche Frage: »Wie sieht es draußen aus?«Offensichtlich hatte man hier <strong>in</strong>zwischen von den Ereignissen amRepublikplatz gehört. Als Apró, Kiss und Tildy die Sitzung verließen,sagte Kiss stöhnend: »Wir werden noch alle gelyncht werden.«Der Mann der Stunde war jetzt nicht so sehr Imre Nagy, sondernZoltán Tildy. Er rückte <strong>in</strong>s Rampenlicht. Er war gefilmt worden, als er <strong>in</strong>se<strong>in</strong>em hübschen blauen Anzug und dem weiten Übermantel aus derKilián-Kaserne auftauchte. Er reichte Oberst Maléter nur bis zur Schulter,der sich mit ihm zusammen kurz den Photographen stellte. Maléter truge<strong>in</strong>en schweren Revolver an se<strong>in</strong>er rechten Hüfte, aber beide Männerlächelten. Tag und Nacht verbrachte Tildy <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Büro im Parlamentund mobilisierte die Führer der nichtkommunistischen Parteien. Er hatteNagy versichert, daß die Bildung neuer Parteien die Energien derAufständischen <strong>in</strong> andere Kanäle leiten würde. Inst<strong>in</strong>ktiv kämpfte Nagymit Händen und Füßen gegen diese Demokratisierung: »Das würde ja552


edeuten, wir geben die Diktatur des Proletariats auf!« protestierte er lautzu Miklós Gimes. »Dem werde ich niemals zustimmen!«ÁÏ Inzwischenwar es Tildy gelungen, ihn umzustimmen: Es schien die e<strong>in</strong>zigeMöglichkeit, wenn man e<strong>in</strong>en Marsch auf Budapest durch SzigethysMänner von Györ verh<strong>in</strong>dern wollte; die Entscheidung zugunsten e<strong>in</strong>erRegierung aus e<strong>in</strong>er Mehrparteienkoalition wurde vom M<strong>in</strong>isterratratifiziert.Kurz vor 14.30 Uhr versammelten sich der M<strong>in</strong>isterstab und wartendeDelegationen vor e<strong>in</strong>em Rundfunkgerät im Sekretariat des M<strong>in</strong>isterpräsidenten,um Ansprachen von Nagy, Tildy, Erdei und Kádár zulauschen. Nagys Stimme klang müde. Se<strong>in</strong>e Rede war farblos. Er verkündetedie Rückkehr zur Koalitionsregierung von 1945 und die Bildunge<strong>in</strong>es engeren Kab<strong>in</strong>etts, das aus ihm selbst, Tildy, Béla Kovács, Erdei,Losonczy, Kádár und »noch zu nom<strong>in</strong>ierenden« Sozialdemokratenbestehen solle. Er fügte h<strong>in</strong>zu: »Die nationale Regierung appelliert an dasHauptquartier des sowjetischen Oberkommandos, sofort mit dem Rückzugder sowjetischen Truppen aus Budapest zu beg<strong>in</strong>nen. Gleichzeitigmöchten wir das ungarische Volk davon unterrichten, daß wir unverzüglichVerhandlungen mit der Sowjetunion über den Rückzug allersowjetischen Truppen aus <strong>Ungarn</strong> aufnehmen.«E<strong>in</strong>e wirklich zündende Ansprache hielt Zoltán Tildy. Er war <strong>in</strong>se<strong>in</strong>em Element. Péter Kende stellte es so dar: »Tildy war wie elektrisiert– es war, als sei er plötzlich Herr der Lage geworden.« Mit leichtzitternder Stimme erklärte er, daß die Rebellen selbst das Beispiel derMärtyrer von 1848 übertroffen hätten, er versprach, daß der 23. Oktobere<strong>in</strong> nationaler Feiertag werden sollte, und verkündete feierlich: »Dienationale Regierung wird die Helden dieser Revolution mit militärischenEhren beisetzen und sich der Verwundeten sowie der Familien dieserHelden, die <strong>in</strong> den Kämpfen gefallen s<strong>in</strong>d, <strong>in</strong> großzügiger Weiseannehmen.«Tildy war e<strong>in</strong> neuer Mann geworden: Er war es, der jetzt die Universitätsrebellenaufforderte, ihm (und »auch M<strong>in</strong>isterpräsident Nagy«)Delegationen <strong>in</strong>s Parlament zu schicken, denn sie sollten e<strong>in</strong>e Miliz553


aufstellen. Tildy gab bekannt, daß der verräterische Péter Kós von denVere<strong>in</strong>ten Nationen abberufen worden sei, er verkündete öffentlich, daßdie Zwangsablieferungen von Getreide sofort gestoppt würden, und ererklärte, daß der Rundfunksender Nationaleigentum werden solle. Er g<strong>in</strong>gnoch weiter und versprach, was Imre Nagy nicht über sich br<strong>in</strong>gen konntezu sagen: »Freie Wahlen.«Freie Wahlen s<strong>in</strong>d dem Kommunismus ebenso verhaßt wie dasZeichen des Kreuzes e<strong>in</strong>em Vampir. Tildy wußte, daß sie das Schicksalder Kommunistischen Partei <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> für lange Zeit besiegeln würden.Auch Kádár wußte das, aber er erklärte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er staatsmännischen undritterlichen Rundfunkansprache unmittelbar danach: »Ich b<strong>in</strong> mit alleme<strong>in</strong>verstanden, was me<strong>in</strong>e Bekannten und Freunde Imre Nagy, ZoltánTildy und Ferenc Erdei, me<strong>in</strong>e respektierten und ehrenhafte Landsleute,vor mir gesagt haben.«Nach Beendigung der Rundfunkansprachen wurden die Delegationen<strong>in</strong> das leere Büro des M<strong>in</strong>isterpräsidenten geführt. Als Nagy aus demStudio zurückkam, erhoben sich alle und spendeten ihm Beifall.ÁÌ Erfühlte sich geschmeichelt. »Haben Sie me<strong>in</strong>e Rede gehört?« fragte er, under fuhr fort, ohne e<strong>in</strong>e Antwort abzuwarten: »Haben Sie irgendwelcheFragen?«E<strong>in</strong> Delegierter aus Sopron stand auf: »Genosse« Tildy unterbrach ihn:»Bitte gebrauchen Sie nicht die Anrede Genosse, sondern sagen Sie HerrM<strong>in</strong>isterpräsident.«»Herr M<strong>in</strong>isterpräsident, es gibt Gerüchte, denen zufolge Sie dieRussen herbeigerufen haben!« Tildy antwortete an se<strong>in</strong>er Stelle. »ImreNagy ist e<strong>in</strong> Ehrenmann, e<strong>in</strong> ungarischer Patriot. Er war es nicht, der dieRussen gerufen hat!« Nagy nickte: »Es war Hegedüs, der sieherbeigerufen hat.«E<strong>in</strong>e Stimmte ertönte: »Wir sollten uns für neutral erklären!« Nagygebot mit der Hand Schweigen: »Das will ich auch«, erklärte er. »Aber ichweiß nicht, wie ich das auf legale Weise tun kann.«Unruhe entstand, mehrere Rebellen von der Corv<strong>in</strong>-Passage stürzten <strong>in</strong>den Raum. »Die Russen schießen immer noch auf uns«, klagten sie. Imre554


Nagy wandte sich an János Kádár »Ich beauftrage den Staatsm<strong>in</strong>isterJános Kádár damit, das zu untersuchen.«»Laßt uns den Warschauer Pakt kündigen!« Nagy schüttelte den Kopf.»Das wird nicht möglich se<strong>in</strong>.« Mit sanfter Stimme fügte er h<strong>in</strong>zu, daßhier die Zustimmung des Parlaments erforderlich sei. Bei diesen Wortenwurden die Delegierten unruhig. »Wir haben e<strong>in</strong>e Revolution! Wir könnentun, was wir wollen!« Nagy sprach dann über die Suche nach e<strong>in</strong>ergeme<strong>in</strong>samen Formel und über <strong>in</strong>ternationales Recht. Die Gemütererhitzten sich. »Das ist Anarchie«, sagte er barsch. »Und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Anarchiekann ich nicht arbeiten. Ich würde es vorziehen, als erster zurückzutreten!«E<strong>in</strong>e Stimme ertönte <strong>in</strong> dem Durche<strong>in</strong>ander: »Das würde das Bestese<strong>in</strong>!« Daraufh<strong>in</strong> wurde es still, und der Sprecher wurde h<strong>in</strong>ausbefördert.Verstimmt erklärte Nagy: »Wir können nicht e<strong>in</strong>fach unsere Neutralitätverkünden – so wünschenswert sie se<strong>in</strong> mag. Es gibt gewisse Prozeduren,die e<strong>in</strong>zuhalten s<strong>in</strong>d.«Se<strong>in</strong>e nüchterne Stimme kühlte die Gemüter ab. Jemand fragte unruhig:»Sagen Sie uns, wann die Russen anfangen, Budapest zuverlassen.« Der M<strong>in</strong>isterpräsident erwiderte: »Sie haben bereits mit demAbzug begonnen. Vor diesem Gebäude bef<strong>in</strong>den sich schon ke<strong>in</strong>esowjetischen Panzer mehr.«Am Republikplatz versuchten Rebellen, den tödlich verwundetenOberst Papp auf die Be<strong>in</strong>e zu stellen. Er fiel immer wieder auf die Erde.Zwei Männer schleppten ihn zu e<strong>in</strong>em Baum am Bühnene<strong>in</strong>gang desErkel-Theaters. Se<strong>in</strong>e Füße wurden mit e<strong>in</strong>em dicken, schwarzen Kabelzusammengebunden, se<strong>in</strong> Gesicht und die obere Körperhälfte mit Benz<strong>in</strong>überschüttet, dann zog man ihn an den Füßen nach oben und warf e<strong>in</strong>angezündetes Streichholz auf ihn. Oberst Asztalos hatte e<strong>in</strong>en gnädigerenund schnelleren Tod gehabt. Jemand rief: »Hier ist e<strong>in</strong> Oberst!« Se<strong>in</strong>eLeiche wurde getreten und geschlagen. Der Pöbel schrie: »Schneidet ihmdas Herz heraus!« E<strong>in</strong> danebenstehender Rowdy, Jankó Piroska, nahm e<strong>in</strong>langes Messer und stieß es mehrmals <strong>in</strong> die Brust Asztalos’. Das Blut555


spritzte über den Regenmantel des Offiziers. Der tödlich verwundeteMezö wurde mit e<strong>in</strong>em Ambulanzwagen zum Krankenhaus <strong>in</strong> der SándorPéterffy utca gebracht.John Sadovy blieb lange genug, um die e<strong>in</strong>zige Frau, die lebend imParteigebäude gefaßt wurde, zu photographieren. Das Gesicht des jungenMädchens war leichenblaß. Plötzlich beobachtete er, wie jemand ausholteund sie schlug. Alle anderen folgten dem Beispiel, sie traten sie, zogen siean den Haaren und rissen ihr die Kleider vom Leib. Er machte fünfAufnahmen davon, drei weitere Photographien zeigen sie, wie sieschreiend auf der Erde lag. Sadovy machte e<strong>in</strong> Bild von den Rebellen, diedarüber debattierten, ob sie sie töten sollten. Sadovy filmte Rebellen, wiesie Gewehre, Munition, Bücher und Akten aus den Fenstern warfen. DieGegend war erfüllt von dem widerlichen Geruch brennenden Fleischesund verbrannten Papiers. Die Leute durchsuchten die Taschen der Toten,um zu beweisen, daß es ÁVH-Soldaten waren; e<strong>in</strong>e junge Rotkreuzschwesterkümmerte sich unauffällig um die nicht tödlich Verwundeten.Es gab e<strong>in</strong>en Tumult, als e<strong>in</strong> barhäuptiger junger Offizier, der KirkDouglas ähnlich sah, aus der Vordertür getrieben wurde. Er schienverächtlich zu lachen, als die Menge se<strong>in</strong>e Uniform herunterriß. Auch erwurde erschossen. Sadovy machte davon drei Aufnahmen: E<strong>in</strong>mal, wiesich der Mann unter dem Kugelhagel krümmt, dann, wie er über dieStraße geschleppt und mit kommunistischen Flugblättern und Büchernbedeckt wird, und schließlich, wie er <strong>in</strong> Brand gesetzt wird. Das letzteBild se<strong>in</strong>er Filmrolle zeigt den vierjährigen Sohn der Re<strong>in</strong>machefrau desGebäudes, wie er auf den Schultern e<strong>in</strong>es Rebellen nach draußen getragenwird. Die Menge schrie: »Rettet ihn, tötet ihn nicht!«Wem gehörten diese wie vom Wahns<strong>in</strong>n verzerrten Gesichter <strong>in</strong> derMenge? E<strong>in</strong> sechsunddreißig Jahre alter Werkzeugmacher, der mehrereTage lang ÁVH-Männer gejagt hatte, prahlte im April 1957: »Ich wardabei, als die ÁVOs erschossen wurden. Sie kennen das Bild, das <strong>in</strong> derBeilage des Life-Magaz<strong>in</strong>s Seite 34 erschien . . . Wir hatten nicht vor, siezu töten. Aber e<strong>in</strong> Mann schlug mich, und ich schlug zurück. Das war dasEnde.«ÁÓ E<strong>in</strong> anderes Gesicht gehört Huschi, e<strong>in</strong>em achtzehnjährigen556


Budapester Callgirl. Sie wurde später auf John Sadovys Fotos durchmehrere Klienten identifiziert und h<strong>in</strong>gerichtet.ÁÔInsgesamt waren siebzehn ÁVH-Männer nach draußen geschleppt undliquidiert worden. Die Menge war enttäuscht, denn man hatte ihr gesagt,daß über hundert von ihnen <strong>in</strong> dem Gebäude seien. Irgend jemand rief:»Es muß e<strong>in</strong>en Kellerausgang geben!« Massenhysterie brach aus. E<strong>in</strong>igeLeute behaupteten, sie kennten e<strong>in</strong>en halbfertigen U-Bahn-Tunnel, siewüßten etwas von unterirdischen Zellen und Kerkern. Man ließ e<strong>in</strong>enErdbagger kommen. Der Architekt des Gebäudes wurde geholt. DieRebellen wollten der Sache auf den Grund gehen. Irgendwie sollte dasBlutbad auf dem Republikplatz gerechtfertigt werden.Insgesamt wurden e<strong>in</strong>undfünfzig Menschen aus dem Gebäude von derMenge getötet. Der zweiundvierzigjährige ÁVH-Oberstleutnant LajosSzabó, der e<strong>in</strong>e traurige K<strong>in</strong>dheit <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Waisenhaus <strong>in</strong> der Slowakeiverbracht hatte, e<strong>in</strong> autodidaktischer Absolvent der Kossuth-Kriegsschule,wurde an se<strong>in</strong>en Füßen aufgehängt. Er h<strong>in</strong>terließ zwei kle<strong>in</strong>e Mädchen.Péter Lakatos, Lehrer an der Parteischule, zweiunddreißig, hatte bis 1945als Landarbeiter se<strong>in</strong> Brot verdient, dann war er der Partei beigetreten undwurde so etwas wie e<strong>in</strong> landwirtschaftlicher Experte. Er war an diesemTage lediglich zu Besuch <strong>in</strong> dem Gebäude gewesen. Auch er wurdeherausgeschleppt und <strong>in</strong> die E<strong>in</strong>geweide geschossen – er starb auf demOperationstisch. László Molnár hätte fast se<strong>in</strong> Schicksal geteilt. In letzterSekunde entdeckte man das Ex-Partisanenabzeichen an se<strong>in</strong>em Revers –wie Kopácsi berichtete – und ließ ihn, zwar verletzt, aber lebend laufen.Kopácsi rief Szilágyi an und sorgte dafür, daß er e<strong>in</strong>en Posten <strong>in</strong> ImreNagys Sekretariat bekam. Mezö starb nach zweitägigem Todeskampf. Intiefer Trauer nahm János Kádár Abschied von ihm im Krankenhaus undschwor Rache.In der Akadémia utca betrachtete Kádár, der Vorsitzende dessechsköpfigen Notstandskomitees, das von dem abgedankten Zentralkomiteeden Auftrag hatte, die ause<strong>in</strong>anderfallende Partei der Werktätigen557


<strong>Ungarn</strong>s zu führen, nachdenklich die h<strong>in</strong>terlassenen Trümmer: DieFührung war durch widerstreitende Me<strong>in</strong>ungen gelähmt. Die altenbürgerlichen Parteien e<strong>in</strong>schließlich der Sozialdemokraten waren aus demAbgrund des Vergessens wiederaufgetaucht, <strong>in</strong> den Rákosi sie gestürzthatte. In e<strong>in</strong>er Geheimrede acht Monate später sagte Kádár <strong>in</strong> allerDeutlichkeit über sie: »Die bürgerlichen Parteien, die zwischen dem 23.Oktober und dem 4. November wiedererstanden, e<strong>in</strong>schließlich derkonterrevolutionären Parteien, bildeten ke<strong>in</strong>e solche große Gefahr für dieDiktatur des Proletariats, wie die Sozialdemokraten. Wenn es gel<strong>in</strong>gt, dieArbeiterklasse zu spalten, bedeutet dies das Ende der Herrschaft desVolkes <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong>.«ËÊKádár sah der Niederlage se<strong>in</strong>er Partei gefaßt entgegen. Gut, sagte ersich s<strong>in</strong>ngemäß. Wir werden weitermachen – notfalls <strong>in</strong> der Opposition.Die schwächeren Mitglieder werden uns zweifellos verlassen. Aber diere<strong>in</strong>en, ehrlichen Kommunisten werden unseren Idealen treu bleiben. »Wirwerden kämpfen, wenn wir auch wieder von Grund auf beg<strong>in</strong>nen müssen,aber unter günstigeren und klareren Bed<strong>in</strong>gungen, zum Besten unsererIdeen, unseres Volkes, unserer Landsleute und unserer Heimat«, erklärteer am 30. Oktober 1956 <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Rundfunkrede.558


38H<strong>in</strong>ters Licht geführtWAHRSCHEINLICH HATTE die Sowjetunion schon die ganze Zeit mit e<strong>in</strong>er.Ablenkung gerechnet. Israel griff Ägypten an, und <strong>in</strong> geheimem E<strong>in</strong>verständnisbenutzten Großbritannien und Frankreich diese Aggression alsVor-wand, ihren eigenen Kle<strong>in</strong>krieg im Nahen Osten zu eröffnen.Bis zum Abend des 29. Oktober waren die anglo-amerikanischenBeziehungen auf den Nullpunkt gesunken. Im Gebäude der Vere<strong>in</strong>tenNationen sprach Henry Cabot Lodge jr. mit dem normaler-weiseliebenswürdigen britischen Botschafter Sir Pierson Dixon. Anschließendtelephonierte Lodge mit Dulles: »Es war, als ob e<strong>in</strong>e Maske gefallen sei.Dixon war sehr unfreundlich, er lächelte nicht.«Als Dulles am 30. Oktober um 10 Uhr das Weiße Haus aufsuchte –etwa zur selben Zeit, als <strong>in</strong> Budapest die Parteifunktionäre gelynchtwurden, gab es noch ke<strong>in</strong>e konkreten Nachrichten aus Israel. DieMorgenzeitungen vermuteten sogar, daß Israels Angriff lediglich e<strong>in</strong>weiterer »Grenzzwischenfall« sei. Aber die beiden Staatsmänner wußtendurch ihre Geheimdienste, daß es nur noch e<strong>in</strong>e Frage der Zeit war, bis dieBriten und Franzosen e<strong>in</strong>griffen.Um 11.30 Uhr rief Dulles Ike an: »Eden gibt <strong>in</strong> diesem Augenblicke<strong>in</strong>e Rundfunkerklärung ab, <strong>in</strong> der er wahrsche<strong>in</strong>lich die Landungbekanntgeben wird.«»Ne<strong>in</strong>, das habe ich nicht gewußt«, sagte Ike.»Wir werden versuchen, es über Funk aufzunehmen«, sagte Dulles.»Der Brennpunkt der Krise wird sich verschieben. Die Israelis werden <strong>in</strong>wenigen Stunden wieder zurück se<strong>in</strong>. Sie haben Ihre Mission erfüllt. Nun559


leibt die Frage, wie wir mit den Briten und Franzosen dort fertigwerden.«Eisenhowers Rat lautete: »Lassen wir sie vorläufig im eigenen Saftschmoren.«Tatsächlich hatten Anthony Eden und Guy Mollet zunächst e<strong>in</strong> aufzwölf Stunden befristetes Ultimatum an Ägypten und Israel gerichtet, dieKämpfe e<strong>in</strong>zustellen. »Ich habe selten etwas Geme<strong>in</strong>eres und Brutaleresgesehen«, sagte Dulles zu Ike. »Ich glaube, es hat ke<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n, darauf zuwarten, denn morgen werden sie ebenfalls e<strong>in</strong>marschiert se<strong>in</strong>.«»An wen werden sich die Ägypter wenden?« fragte Ike.»Wahrsche<strong>in</strong>lich an die Russen«, sagte Dulles bedrückt.Im Laufe des Nachmittags rief Ike Dulles an, um ihm e<strong>in</strong>enBriefentwurf für Eden vorzulesen. Dulles konnte dazu nur sagen: »Da istnoch etwas anderes – die große Tragödie besteht dar<strong>in</strong>, daß im selbenAugenblick, wo das ganze Sowjetgebäude zusammenzubrechen droht, dieBriten und Franzosen genau <strong>in</strong> der gleichen Lage <strong>in</strong> der arabischen Welts<strong>in</strong>d.«ÁVordr<strong>in</strong>glichstes Ziel Wash<strong>in</strong>gtons war es, die Sowjettruppen zurE<strong>in</strong>stellung der Kämpfe zu veranlassen und dann Voraussetzungen fürihren Rückzug aus <strong>Ungarn</strong> zu schaffen. »Mit Rücksicht auf das Nagy-Regime und se<strong>in</strong>en Wunsch, die sowjetischen Truppen loszuwerden«, soerklärte Dulles am 30. Oktober <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Zirkularnote an ausländischeBotschaften, »enthalten sich die Vere<strong>in</strong>igten Staaten jeder Me<strong>in</strong>ungsäußerungüber ihre E<strong>in</strong>stellung zu Nagy. Gewisse Anzeichen sprechenjedoch dafür, daß das Regime e<strong>in</strong> Täuschungsmanöver versucht, umWiderstand zu brechen. Die Vere<strong>in</strong>igten Staaten werden darauf h<strong>in</strong>wirken,daß Versprechungen e<strong>in</strong>gehalten werden . . . «Während der nächsten vier Tage war die Aufmerksamkeit derWeltöffentlichkeit von <strong>Ungarn</strong> abgelenkt. Schließlich zogen die Russenoffenbar tatsächlich aus Budapest ab. Die Gefahr schien vorüber zu se<strong>in</strong>,und die Reporter begannen, das Land zu verlassen. Emanuel Freedman,Auslandschef der New York Times, schickte Elie Abel der die Berichter-560


stattung von Wien aus wahrnahm, e<strong>in</strong> Kabel: »Möchte, daß [Homer]Bigart sobald wie möglich nach Israel geht. Informierte El Al Flug 206,der heute hier abgegangen ist, morgen 17 Uhr Paris verläßt und Mittwochgegen Mitternacht <strong>in</strong> Israel e<strong>in</strong>trifft.«Da die Russen sche<strong>in</strong>bar abzogen, veränderte sich das Gesicht derStadt. Die revolutionäre Boulevardzeitung Wahrheit kam mit derSchlagzeile: »Verräter Péter Kós als UN-Delegierter gefeuert« heraus undbrachte Augenzeugenberichte aus der Kilián-Kaserne. E<strong>in</strong>e fast euphorischeStimmung herrschte, und e<strong>in</strong>e »große Welle der Ehrlichkeit« breitetesich aus, wie e<strong>in</strong> Student es nannte.Ë Er sagte: »Der Schriftstellerverbandveranstaltete e<strong>in</strong>e Sammlung für die H<strong>in</strong>terbliebenen von Gefallenen des<strong>Aufstand</strong>s. Niemand rührte das Geld an, obwohl es unbewacht auf derStraße lag.« Als die Revolution schließlich die fanatischen Kommunistenaus den Studios von Radio Budapest vertrieben hatte und zum erstenmalum 20.35 Uhr wieder die Stimme »Freies Radio Kossuth« ertönte, hörteman lange vergessene, beliebte Stimmen wieder am Mikrophon. Auch dasLäuten der Mittagsglocken wurde wieder übertragen.Die <strong>in</strong>ternationalen Fernsprechverb<strong>in</strong>dungen waren wiederhergestellt,aber die Russen hörten alle Auslandsgespräche ab, und das Echo derStimmen <strong>in</strong> der Leitung erschwerte zuweilen das Diktieren. Die dreiSchwestern, die die Telephonzentrale im Hotel Duna bedienten, verdientene<strong>in</strong> Vermögen, <strong>in</strong>dem sie Verb<strong>in</strong>dungen immer nur für den jeweilsHöchstbietenden herstellten. Michel Gordey, der jüdische Reporter desFrance-Soir, umg<strong>in</strong>g diese Schwierigkeit, <strong>in</strong>dem er se<strong>in</strong>e Zeitungveranlaßte, ihn stündlich anzurufen.Alberto Cavallari, der für den Corriere della Sera berichtete, g<strong>in</strong>g andiesem Abend über den Republikplatz. Die Leichen von fünfzehnRebellen waren <strong>in</strong>zwischen mit Blumen geschmückt. Die Bürgerspazierten auf dem Rasen umher. E<strong>in</strong> untersetzter ÁVH-Oberst h<strong>in</strong>g, wiese<strong>in</strong>erzeit Mussol<strong>in</strong>i, mit dem Kopf nach unten an e<strong>in</strong>er Platane. Untere<strong>in</strong>em anderen Baum lag e<strong>in</strong>e verstümmelte Leiche. Um sie herum stande<strong>in</strong>e größere Menschenmenge von Angehörigen der Arbeiterklasse, ohneKrawatte, mit offenem Hemd: die Arbeiter trugen Eisenbahnermützen,561


Baskenmützen und Lederjacken. Zwei Leute hatten Gewehre bei sich.E<strong>in</strong>e Frau <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em schmutzigen langen Mantel und Hosen, die e<strong>in</strong>eZigarette rauchte und e<strong>in</strong>e alte Fl<strong>in</strong>te unter den Arm geklemmt hatte, standzwischen ihnen. Auf mehreren Leichen war offenbar herumgetrampeltworden. Die Stiefel hatte man gestohlen. E<strong>in</strong> Toter lag im R<strong>in</strong>nste<strong>in</strong>,umgeben von Photos von Militärparaden auf dem Roten Platz <strong>in</strong> Moskau,die aus e<strong>in</strong>em Album gerissen worden waren. E<strong>in</strong> Buch von Stal<strong>in</strong> laggeöffnet über den toten Augen e<strong>in</strong>es anderen Funktionärs, während aufse<strong>in</strong>er Brust Photos von Rákosi ausgebreitet waren. Auf e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>enMeter hohen Scheiterhaufen verbrannte Propagandaliteratur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>ernassen, öligen Rauchwolke.ÈIn den blutbespritzten Räumen des Gebäudes durchstöberten Leute dieTrümmer. Im Laufe des Tages besuchten bewaffnete Männer Jeffrey Blythvon der Daily Mail im Hotel Duna und schütteten e<strong>in</strong>en Sack voll ÁVH-Akten auf se<strong>in</strong>em Bett aus – Spionagephotos und rot versiegelteDokumente. E<strong>in</strong>ige dieser Schätze landeten <strong>in</strong> der amerikanischenGesandtschaft. E<strong>in</strong> Mann sagte: »Sehen Sie, dies war me<strong>in</strong>e Kaderakte!«Die Beute enthielt auch grüne, unzerbrechliche Schallplatten, auf denendie Telephongespräche der Gesandtschaft aufgezeichnet worden waren.Gaza Katona verpackte sie und schickte sie an <strong>in</strong>teressierte Stellen <strong>in</strong>Wash<strong>in</strong>gton.ÍUm 15.30 Uhr beobachteten amerikanische Diplomaten am Freiheitsplatz,wie ÁVH-Soldaten die gegenüberliegenden Gebäude besetzten undbald danach mehrere hundert Menschen vor den geschlossenen Torenerschienen. Spencer Barnes fürchtete e<strong>in</strong> Feuergefecht und schickte se<strong>in</strong>eMitarbeiter vom Fenster weg. Die Menge rief den Namen von OberstMaléter und verlangte die Freilassung von Kard<strong>in</strong>al M<strong>in</strong>dszenty, derimmer noch von der ÁVH irgendwo außerhalb Budapests festgehaltenwurde. Gaza Katona schrieb <strong>in</strong> se<strong>in</strong> Tagebuch: »E<strong>in</strong> junger Anführer, Type<strong>in</strong>es Partisans, sche<strong>in</strong>t der Hauptsprecher der Volksmenge zu se<strong>in</strong>.« Alsdie Demonstranten gegen 16 Uhr abzogen, schickte die Botschaftfolgendes Telegramm nach Wash<strong>in</strong>gton:562


»Große Mengen unbewaffneter Demonstranten bef<strong>in</strong>densich <strong>in</strong> diesem Augenblick auf dem Marsch zum Parlamentmit folgenden Forderungen:1. M<strong>in</strong>dszenty soll M<strong>in</strong>isterpräsident werden;2. Oberst P. Maléter, der Führer der <strong>in</strong> der Kaserne amÜllöi út e<strong>in</strong>gesperrten Soldaten, sollVerteidigungsm<strong>in</strong>ister werden;3. Rückzug der Sowjettruppen aus dem Lande bis zum 15.November;4. Wenn die Forderungen nicht erfüllt werden, sollIntervention des Westens gefordert werden.Während des ganzen Tages befand sich die Bevölkerungvon Budapest <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Zustand psychologischer Raserei.«Î»Radio Free Europe« fuhr fort, den Widerstandszentren Richtl<strong>in</strong>ien zuübermitteln.Ï Am 30. Oktober wurde New York von München <strong>in</strong>formiert:»Verfolgen gleiche L<strong>in</strong>ie wie vorher, halten Schritt mit den Forderungender Aufständischen, unterstreichen Bedeutung der Fortsetzung desGeneralstreiks der Arbeiter bis zum Abzug der sowjetischen Truppen.Unterstreichen Notwendigkeit der Geschlossenheit der aufständischenKräfte.« Später schickten die leitenden Beamten <strong>in</strong> München nochfolgendes Kabel: »Politische L<strong>in</strong>ie bleibt die gleiche: lediglich Taktikändert sich stündlich, um mit den Ereignissen Schritt zu halten. Unterstreichenjetzt die Notwendigkeit wirklicher freier Wahlen, echterReformen anderer Parteien unter aufrichtigen Führern, die die Evakuierungder Sowjettruppen garantieren, und vor allem Aufrechterhaltung derAutorität der Revolutionsräte und Bildung e<strong>in</strong>er neuen Polizei durch sieund unter ihnen.«Tausende von Rundfunkgeräten waren auf »Radio Free Europe«e<strong>in</strong>gestellt. Der Sender zitierte die Forderung der Rebellen von Miskolc,den Streik gegen das Nagy-Regime fortzusetzen. »Liebe Zuhörer«, sagtean diesem Tage die ölig schmeichelnde Stimme aus München, »<strong>in</strong> dieserStunde s<strong>in</strong>d die streikenden ungarischen Arbeiter die Hoffnung und der563


Stolz des ganzen Landes, und ich darf wohl sagen, der Stolz der Arbeiterder ganzen freien Welt und der freiheitsliebenden Völker . . . Mit denWaffen hat das ungarische Volk bereits e<strong>in</strong>en Sieg errungen; nun mußnoch der politische Sieg folgen durch den geme<strong>in</strong>samen, entschlossenenund heroischen Streik der Arbeiter.«Die Aufständischen <strong>in</strong> Ostungam hatten ihre eigenen konkretenGründe, Imre Nagy nicht zu trauen. Mittags berichtete der Sender FreiesMiskolc, daß seit Beg<strong>in</strong>n des <strong>Aufstand</strong>s sowjetische Truppen <strong>in</strong> densowjetischen Grenzort Csaroda geströmt seien. »Wofür s<strong>in</strong>d neuesowjetische Truppen nötig?« fragte Radio Miskolc. »Die Regierung mußdie Wahrheit sagen, sie soll sich an ihr Versprechen halten.« Späterverbreitete der Sender e<strong>in</strong>e neue Mitteilung: »In diesem Augenblick wirdaus Kisvárda gemeldet, daß Tausende von Panzern <strong>in</strong> unser Lande<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gen. Motorisierte Infanterie rückt auf Nyiregyháza vor. Neuerussische Verbände! Marschall Schukow, weißt du das?«Ì Der Aufschreiwurde überall gehört. In Tatabánya appellierte der Arbeiterrat an Nagy,bei den Vere<strong>in</strong>ten Nationen zu protestieren, falls sie sowjetischen Truppensich nicht an die Vere<strong>in</strong>barung über ihren Abzug halten sollten.ÓAn jenem Tage stand Árpád Sultz auf dem Heizerstand e<strong>in</strong>es leerenGüterzugs, der <strong>in</strong> Richtung sowjetische Grenze dampfte. Die Aufständischen<strong>in</strong> Miskolc hatten ihn geschickt, um die Wahrheit herauszuf<strong>in</strong>den.Der Lokführer war Ukra<strong>in</strong>er – ke<strong>in</strong> Freund von Moskau. Er hatteSultz e<strong>in</strong>e sowjetische Eisenbahneruniform geliehen, und Sultz arbeitetefür ihn als Heizer. Vom Grenzpunkt Záhony fuhren sie nach Osten durchChop nach Uschgorod und Lwow <strong>in</strong> der Ukra<strong>in</strong>e. Güterzüge vollerrussischer Panzer und Soldaten fuhren an ihnen <strong>in</strong> Richtung <strong>Ungarn</strong>vorbei. Am nächsten Tag kehrten die Männer <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Güterzug zurück,der mit Kriegsmaterial beladen war.Die ernsteste Bedrohung der Autorität Nagys g<strong>in</strong>g immer noch vonGyör <strong>in</strong> Transdanubien oder Westungarn aus. Hier hatte e<strong>in</strong> umfassenderGeneralstreik begonnen – e<strong>in</strong> Beweis für die Macht des RebellenführersAttila Szigethy. Er hatte e<strong>in</strong>e Gegenregierung gebildet, e<strong>in</strong>en »transdanubischenNationalrat«.Ô Se<strong>in</strong>e erste Sitzung fand am 30. Oktober statt.564


Unter den 400 Delegierten, die sich ihren Weg durch Györs e<strong>in</strong>drucksvollesRathaus bahnten, waren Vertreter der weiter entfernten Bezirke wieBorsod und Bács-Kiskun und vom zentralen Arbeiterrat, der <strong>in</strong> Csepelkonstituiert worden war. E<strong>in</strong>e Delegation der Budapester TH schlug vor,Nagy sollte formell die Neutralität <strong>Ungarn</strong>s erklären.ÁÊ Szigethy selbsthatte ke<strong>in</strong> Programm. Der Chef<strong>in</strong>genieur der örtlichen Eisenwaggon-Fabrik, Zsebök, e<strong>in</strong> Freund von Szigethy, empfahl, daß man <strong>in</strong> Budapesttagen sollte – jeder Bezirk würde zehn aufrechte Männer entsenden,Budapest vielleicht siebzig, und diese, Männer sollten e<strong>in</strong>fach das Parlamentsgebäudeübernehmen und sich selbst als Parlament konstituieren.Dann könnten sie den Abzug der russischen Truppen verlangen und dieVere<strong>in</strong>ten Nationen anrufen.Szigethy war nicht ganz so verwegen.ÁÁ Die Debatte <strong>in</strong> dem rauchgeschwängertemRatssaal wogte h<strong>in</strong> und her. Draufgänger verlangten,man solle die Westmächte um Hilfe bitten und <strong>in</strong> der Zwischenzeit e<strong>in</strong>enGroßangriff auf Nagys Streitkräfte unternehmen. In e<strong>in</strong>em Bericht derungarischen Nachrichtenagentur über diese Konferenz heißt es, Szigethy<strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Eigenschaft als Vorsitzender habe sich gegen e<strong>in</strong>e »ellenkormany«[Gegenregierung] gegen Budapest ausgesprochen. Szigethy warnteauch vor Aktionen, die die Errungenschaften des <strong>Aufstand</strong>s aufs Spielsetzen könnten.Gerade rechtzeitig erreichte Györ die Nachricht von Nagys jüngstenKonzessionen – se<strong>in</strong>em neuen engeren Kab<strong>in</strong>ett, dem drei Nichtkommunistenangehörten, und vom Beg<strong>in</strong>n der Verhandlungen über e<strong>in</strong>ensowjetischen Rückzug. Die Delegierten beschlossen, nun Szigethy nachBudapest zu entsenden, um Imre Nagy persönlich ihre Forderungen zupräsentieren. Ihre wesentlichen Punkte waren: geheime Mehrparteien-Wahlen im Januar; die gründliche Überprüfung aller militärischenBeförderungen, vom Oberst an aufwärts, durch e<strong>in</strong> Vertrauensmänner-Gremium; angemessene Vertretung der Rebellen <strong>in</strong> jeder <strong>in</strong>terimistischenRegierung und <strong>Ungarn</strong>s Neutralität. Sollte Nagy nicht zustimmen, dannwürden die Delegierten Verhandlungen mit den Rebellenführern <strong>in</strong>Budapest aufnehmen mit dem Ziel, e<strong>in</strong>e neue Regierung zu bilden. Sie565


waren sogar der Me<strong>in</strong>ung, auf die Unterstützung der Armee <strong>in</strong>Westungarn rechnen zu können.Die Aussicht auf e<strong>in</strong>e Gegenregierung, die von e<strong>in</strong>er patriotischenArmee unterstützt würde, war e<strong>in</strong> ziemlicher Schlag für die Leute um ImreNagy. So hatten viele der blutigsten Bürgerkriege <strong>in</strong> der Geschichtebegonnen – <strong>in</strong> jüngster Zeit der Krieg <strong>in</strong> Spanien, <strong>in</strong> dem viele von ihnenmitgekämpft hatten. Für János Kádár war es ke<strong>in</strong>e Schwärmerei, wenn er<strong>in</strong> späteren Reden immer wieder darauf zurückkam; <strong>in</strong> düstersten Farbenschilderte er die Gefahr, die dem Land drohte, e<strong>in</strong> neues Korea zu werden,wenn Wash<strong>in</strong>gton Westungarn gegen den von den Sowjets unterstütztenOsten des Landes bewaffnete.ÁËIn dieser Situation empf<strong>in</strong>g Imre Nagy unerwartete Besucher ausMoskau – Anastas Mikojan und Michail Suslow. Die sowjetischenSpitzenfunktionäre waren mit dem Text der Erklärung, die am nächstenTage <strong>in</strong> Moskau veröffentlicht werden sollte, nach Budapest zurückgekehrt.ÁÈDas Präsidium hatte viel Sorgfalt auf ihre Abfassung verwendet.Das Dokument sollte offensichtlich als massive Beruhigungsdrogedienen, um das Gespenst der Revolution, das <strong>in</strong> Mitteleuropaumherg<strong>in</strong>g, e<strong>in</strong>zuschläfern. Auf den ersten Blick schien es, als sei derKreml bereit, den Satelliten zu erlauben, ihren eigenen Kurs zubestimmen. Die Frage der Truppenstationierung sollte von den Warschauer-Pakt-Staatendiskutiert werden. Vom <strong>Aufstand</strong> <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> sprachdas h<strong>in</strong>terhältige Kreml-Dokument <strong>in</strong> öliger und zustimmender Spracheals »berechtigter und fortschrittlicher Bewegung der Werktätigen«. Etwasobskur heißt es dann weiter: »Da das weitere Verbleiben der sowjetischenTruppene<strong>in</strong>heiten <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> Anlaß für e<strong>in</strong>e noch größere Verschärfungder Lage se<strong>in</strong> könnte, gab die Sowjetregierung ihrem MilitärkommandoAnweisung, die sowjetischen Truppene<strong>in</strong>heiten aus der Stadt Budapestabzuziehen, sobald die ungarische Regierung dies für notwendig erachtet.Zugleich ist die Sowjetregierung bereit, mit der Regierung der UngarischenVolksrepublik und den anderen Teilnehmern des WarschauerVertrages entsprechende Verhandlungen über den Aufenthalt der sowjet-566


ischen Truppen auf ungarischem Boden zu führen.«Mit ziemlicher Gewißheit machten Mikojan und Suslow die Erklärungvon der Zustimmung Nagys abhängig: die Sowjettruppen hätten es nichtvermocht, die Unruhen irgendwie zu beschwichtigen. Mikojan fragte, ober mit den früheren Führern der nichtkommunistischen Koalitionsparteienzusammentreffen könne. Er rief Zoltán Tildy an und fragte: »Können wiruns sehen?« Se<strong>in</strong> Kollege von der Kle<strong>in</strong>landwirte-Partei, József Kövágó,riet ihm: »Versuchen Sie, die offizielle sowjetische Haltung zum Mehrparteiensystemund zum Austritt aus dem Warschauer Pakt herauszuf<strong>in</strong>den. . . Wir möchten wissen, ob sie die Entscheidungen unsererRegierung anerkennen.«ÁÍ Tildy sprach e<strong>in</strong>e Stunde mit Mikojan underklärte nach se<strong>in</strong>er Rückkehr: »Er hat alles akzeptiert.«Jedenfalls schien es so.Seltsam genug versicherten anonyme Anruf er bei den revolutionärenRundfunksendern den Zuhörern, die Russen zögen sich zurück, und gegen19 Uhr verkündete Radio Budapest: »Marschall Schukow hat den Befehlzum Rückzug der sowjetischen Truppen gegeben . . . In Záhony ist derRückzug <strong>in</strong> vollem Gang . . . Wir bitten die Öffentlichkeit, Diszipl<strong>in</strong> zuwahren und den ungestörten Abmarsch der Truppen zu unterstützen.«Gegen 19 Uhr teilte der Sender Györ mit, daß der »Post<strong>in</strong>spektor vonZáhony« telephonisch gemeldet habe: »Das E<strong>in</strong>strömen weiterer sowjetischerTruppen bei Beregsurány hat aufgehört. Massen von sowjetischenSoldaten verlassen das Land bei Záhony.« Gegen 19.40 Uhr verbreiteteder Sender Freies Miskolc ohne Kommentar e<strong>in</strong>en ähnlichen Bericht, derwenige M<strong>in</strong>uten zuvor anonym vom Eisenbahnknotenpunkt Nyiregyházadurchtelephoniert worden war. Und zehn M<strong>in</strong>uten später lautete dieNachricht: »Sowjetische Panzer auf dem Marktplatz, ihre Besatzungenfragten nach dem Weg nach Záhony.«Offensichtlich führte jemand die Rebellen h<strong>in</strong>ters Licht. Miklós Fodor,Sprecher der Rebellen von Borsod, erklärte triumphierend über RadioMiskolc: »Das bedeutet, daß unser glorreicher Freiheitskampf zu Ende ist.Ungarisches Blut ist nicht umsonst vergossen worden.«ÁÎUm se<strong>in</strong>en Teil der Vere<strong>in</strong>barungen mit den Russen e<strong>in</strong>zuhalten,567


mußte Imre Nagy zunächst die Ordnung wiederherstellen. Das bedeutete,daß er Verb<strong>in</strong>dung mit den Revolutionsführern, wie Oberst Maléter, demHeld der Belagerung der Kilián-Kaserne, aufnehmen mußte. Zoltán Vas,den Nagy während der Krise mit der Lebensmittelversorgung vonBudapest betraut hatte, kannte Maléter persönlich – er hatte ihn aus denKriegsgefangenen an der russischen Front für die Partisanenausbildungausgewählt. Über Rundfunk übermittelte Vas Maléter e<strong>in</strong>e Botschaft: ersolle e<strong>in</strong>e bestimmte Nummer anrufen. Wenn Maléter sich telephonischmeldete, würde e<strong>in</strong> Wagen ihn abholen und zu Imre Nagy br<strong>in</strong>gen.ÁÏNagy war ferner bereit, auch József Dudás, den wichtigsten Führer derBudapester Straßenkämpfen, zu empfangen. Die Begegnung wurde auf 17Uhr festgesetzt.ÁÌ Dudás war die ganze Nacht aufgewesen und hatte anse<strong>in</strong>er Zeitung gearbeitet. Er machte e<strong>in</strong>en erschöpften E<strong>in</strong>druck, als dieIntellektuellen kamen und ihn um 16 Uhr abholten. Als sie g<strong>in</strong>gen, packteihm se<strong>in</strong>e Frau e<strong>in</strong>e Flasche Tee mit Zitrone e<strong>in</strong>.Die Intellektuellen baten Dudás zunächst mit <strong>in</strong> ihr Hauptquartier <strong>in</strong>der Universität zu kommen. Müde stimmte Dudás zu und w<strong>in</strong>kte e<strong>in</strong>ebewaffnete Eskorte herbei, die ihm folgen sollte. In der Universität trafensie Géza Losonczy und Ferenc Donáth, die – wie er – Jahre <strong>in</strong> politischerHaft verbracht hatten. Losonczy behauptete, Nagy werde ihn zumInnenm<strong>in</strong>ister machen: Dies gäbe ihm e<strong>in</strong>e Chance, die unerwünschtenElemente aus der Partei zu entfernen.Dudás hörte kaum zu. Er konnte wenig mit »Eierköpfen« anfangen.Außerdem war er so müde, daß er kaum zusammenhängende Sätzesprechen konnte. Schließlich schnitt er Losonczy das Wort ab: »Laßt unsgehen. Wir wollen jetzt zum Parlament.«Unterdessen hatte Nagys Sekretär József Szilágyi se<strong>in</strong>en FreundOberst Kopácsi angerufen und ihm mitgeteilt, daß Nagy denPolizeipräsidenten persönlich sehen wolle. »<strong>Ungarn</strong> braucht die Kräftevon Gesetz und Ordnung, über die Sie verfügen«, sagte Szilágyi Kopácsitraf General Király, der sich bereits im Parlamentsgebäude aufhielt. Nache<strong>in</strong>er Weile tauchte Nagy aus den <strong>in</strong>neren Räumlichkeiten des Hauses auf,568


wo er <strong>in</strong> russischer Sprache mit Anastas Mikojan verhandelt hatte.Mikojan stand offensichtlich unmittelbar vor se<strong>in</strong>er Rückkehr nachMoskau. Er trug e<strong>in</strong>en eleganten Mantel über dem Arm. Nagy stellte ihmKirály und Kopácsi vor: »Dies s<strong>in</strong>d die künftigen Kommandeure derungarischen Streitkräfte.«ÁÓDer Parteisekretär János Kádár war auch dabei. Er wandte sich an denPolizeipräsidenten: »Wir reformieren die Partei, Genosse Kopácsi – alsungarische Arbeiterpartei. Wir stellen gerade e<strong>in</strong> provisorisches Politbürozusammen mit Genosse Nagy, mir, Losonczy, György Lukács, Donáthund Szántó, alles Leute, die unter Rákosi gelitten haben. Wir möchten Sieauch dabeihaben, Kopácsi.«Voller Stolz akzeptierte Kopácsi Das war e<strong>in</strong>e Sache nach se<strong>in</strong>emHerzen – vielleicht konnte er doch noch etwas vom Sozialismus retten.Später schrieb er: »Zusammen mit Imre Nagy beschlossen wir, zweiDivisionen [Nationalgarde] von <strong>in</strong>sgesamt 26.000 Mann aufzustellen, dieausreichen würden, Budapest b<strong>in</strong>nen weniger Tage von allen dubiosenElementen, von Deklassierten und anderen machthungrigen Abenteurern,zu säubern.«Immer mehr Delegationen versammelten sich <strong>in</strong> dem dunkelwerdendenParlamentsgebäude. József Dudás und se<strong>in</strong>e Begleiter fandenes praktisch unbewacht vor. E<strong>in</strong>er von ihnen murmelte: »Mit vierzig gutenLeuten könnten wir die Regierung hier ausräuchern und den Ladenübernehmen!« In scharfem Ton fragte Dudás ob sie alle ihre Waffenabgegeben hätten, wie er es verlangt hatte. Zwei Mann hatten es nichtgetan, und Dudás verstaute ihre Pistolen <strong>in</strong> der Handtasche se<strong>in</strong>er Frau; erwünschte ke<strong>in</strong>erlei Mißverständnisse.Nagys Vorzimmer war voll von Journalisten und Funktionären desAncien régime wie József Bognár, der seit dem 27. Oktober e<strong>in</strong>er vonNagys drei stellvertretenden M<strong>in</strong>isterpräsidenten war. Als früheresMitglied der Kle<strong>in</strong>landwirte-Partei hatte er seit 1946 jedem Kab<strong>in</strong>ettangehört. Die Besucher wurden gebeten, sich zu setzen. Übertriebenfreundlich fragte Bognár, was er für sie tun könne. Dudás antwortete kurz:569


»Zunächst können Sie mir e<strong>in</strong>en Krug Wasser holen, und dann lassen Sieuns alle<strong>in</strong>!«Während sie auf Nagy warteten, erläuterte Dudás welche Forderungener zu stellen gedenke – und zwar grundsätzlich den Austritt des Landesaus dem Warschauer Pakt und Neutralität wie Österreich. In derZwischenzeit plane er e<strong>in</strong>e Großkundgebung, die <strong>in</strong>nerhalb von zweiTagen im Sportstadion der Hauptstadt stattf<strong>in</strong>den sollte mit Delegationenaus dem ganzen Land.Imre Nagy trat e<strong>in</strong>, setzte sich zwischen Dudás und dessen Frau underklärte s<strong>in</strong>ngemäß: »Die Revolution ist siegreich, das E<strong>in</strong>parteien-Systemist abgeschafft! Me<strong>in</strong>e Regierung beruht auf dem Pr<strong>in</strong>zip derdemokratischen Zusammenarbeit, wie die Koalitionsregierung von 1945.Es ist e<strong>in</strong>e re<strong>in</strong>e und lautere Revolution, und es liegt nun an euch, ihrenErfolg auf Dauer zu sichern. Die Ordnung muß wiederhergestellt werden.Das können am besten diejenigen tun, die die Hauptlast der Kämpfegetragen haben.« Es gebe immer noch H<strong>in</strong>dernisse, fügte Nagy h<strong>in</strong>zu. Ererwähnte die Schlagzeile <strong>in</strong> der Morgenausgabe von Dudás Zeitung: »Wirlehnen das jetzige Regime ab.« Angesichts der heiklen Situation, sagte er,würde er es vorziehen, wenn Herr Dudás <strong>in</strong> Zukunft sich solcherprovozierenden Sprache enthalten würde. Mit e<strong>in</strong>er müden Bewegungstrich sich Dudás über die Stirn. »Selbst <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er jüngsten Zusammensetzung«,betonte er, »ist Ihr umgebildetes Kab<strong>in</strong>ett für uns völligunannehmbar. Wir akzeptieren Kommunisten, die unter Rákosi imGefängnis gesessen haben, wie Losonczy und Kádár, aber wir wollenke<strong>in</strong>e unverbesserlichen Opportunisten, wie sie sich hier noch <strong>in</strong> denKorridoren herumdrücken, Männer wie József Bognár und Ferenc Erdei.Wir wollen ke<strong>in</strong>en von ihnen.« Er fuhr fort: »Wir wollen, daß Sie an die<strong>in</strong>ternationalen Gremien herantreten und sie auffordern, e<strong>in</strong> Waffenstillstandskomiteenach <strong>Ungarn</strong> zu entsenden. Wir haben ke<strong>in</strong>e Zeit zuwarten. Es ist jetzt an der Zeit, daß die Regierung führt. Wenn Sie dieseBed<strong>in</strong>gungen erfüllen, biete ich Ihnen die volle Unterstützung me<strong>in</strong>erPerson und me<strong>in</strong>er Männer an.« Von Bewegung und Übermüdung überwältigt,brach Dudás <strong>in</strong> Tränen aus. Auch se<strong>in</strong>e Frau begann zu we<strong>in</strong>en.570


Vielleicht hatte sie e<strong>in</strong>e Vorahnung, wie das Ganze enden würde.Man e<strong>in</strong>igte sich auf e<strong>in</strong> Kommuniqué. Der M<strong>in</strong>isterpräsident rief FrauFerenc Molnár, e<strong>in</strong>e se<strong>in</strong>er Sekretär<strong>in</strong>nen, here<strong>in</strong>, und Dudás diktiertee<strong>in</strong>en entsprechenden Text. Nagy erklärte sich e<strong>in</strong>verstanden, und dieZeitung Unabhängigkeit veröffentlichte es am nächsten Tage.ÁÔ Es lautete:»Am 30. Oktober 1956 um 18 Uhr wurde zwischen dem M<strong>in</strong>isterpräsidentenImre Nagy und Vertretern der bewaffneten, revolutionärenFreiheitskämpfer, dem Nationalen Revolutionsrat und der revolutionärenIntelligenz und Studentenschaft Verb<strong>in</strong>dung aufgenommen. József Dudáswar der Sprecher der Freiheitskämpfer. Die Besprechungen wurden <strong>in</strong>e<strong>in</strong>er freundschaftlichen Atmosphäre geführt, und es wurde beschlossen,daß der M<strong>in</strong>isterpräsident die Empfehlung der Freiheitskämpfer derRegierung unterbreite.«ËÊBevor er g<strong>in</strong>g, bat der M<strong>in</strong>isterpräsident sie, mit e<strong>in</strong>er fünfzehnköpfigenAbordnung der nationalen Polizei, die im Nebenzimmer wartete,zu sprechen. Sie wurde von Gyula Oszkó, dem Vorsitzenden desRevolutionsrats der nationalen Polizei, und e<strong>in</strong>em Generalmajor derPolizei, László Pocze, angeführt. Für die Zeitschrift der ungarischenPolizei Magyar Rendör wurde e<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>same Erklärung entworfen,wonach die Polizeibehörden sich mit den revolutionären Elementenverbündet hätten; gleichzeitig wurden alle Mitglieder der Polizeiaufgefordert, sich ebenso zu verhalten und mit den Revolutionsräten <strong>in</strong>den Bezirken zusammenzuarbeiten. Außerdem wurde beschlossen, e<strong>in</strong>eVerb<strong>in</strong>dung zwischen den Freiheitskämpfern und den Polizeikräftenherzustellen; Dudás sollte die dreißig gefangenen ÁVH-Leute denPolizeibehörden übergeben. Oszkós Revolutionsrat versprach, die ÁVH-Leute, die immer noch <strong>in</strong> Polizeiuniform herumliefen, zu entlarven unddie Schuldigen e<strong>in</strong>em ordentlichen Gerichtsverfahren zuzuführen.ËÁInzwischen g<strong>in</strong>gen Kádár und Münnich weg, um die anderenführenden Rebellen zu treffen. Gegen 19.30 Uhr begannen sie, mit denVertretern der Kampftrupps zu sprechen, die die Straßen <strong>in</strong> BudapestsVIII. und IX. Bezirk beherrschten. (Zu den anwesenden Rebellenführerngehörten »zwei Offiziere, e<strong>in</strong> paar Arbeiter und Studenten, e<strong>in</strong> Schrift-571


steller und e<strong>in</strong> Friseur«.)ËË Die Taktik der fanatischen Marxisten Kádárund Münnich lautete offensichtlich: Wenn du sie nicht schlagen kannst,verbünde dich mit ihnen; falls das nicht gel<strong>in</strong>gt, sorge dafür, daß e<strong>in</strong>Überangebot an rivalisierenden Komitees entsteht. Die Folge war dieBildung e<strong>in</strong>es revolutionären Jugendkomitees, das die Kilián-Kaserne unddie Rebellentruppen <strong>in</strong> der Corv<strong>in</strong>-Passage sowie <strong>in</strong> der Tüzoltó, Tompaund Berzenczey utca befehligen und offiziell e<strong>in</strong>e friedensstiftende Rolle<strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit dem Revolutionskomitee des Armeekommandos übernehmensollte. Es hatte außerdem die öffentlichen Gebäude, die bishervon den <strong>in</strong>zwischen aufgelösten ÁVH-E<strong>in</strong>heiten bewacht wurden, zuschützen.Unterdessen war auch Pál Maléter erschienen, um Imre Nagy imParlament aufzusuchen. Er kam von der Kilián-Kaserne. Er war vonüberragender Größe – <strong>in</strong> der Menschenmenge sah es aus, als ob er auf denSchultern der anderen getragen würde. Er war überhaupt nicht der Type<strong>in</strong>es meuternden Obersten, wie Nagy es erwartet hatte. Er nahm Haltungan und grüßte militärisch: »Ich werde alle Befehle, die Ihre Regierung mirerteilt, ausführen.« Der M<strong>in</strong>isterpräsident und Zoltán Tildy machten auchihn, ebenso wie Király und Kopácsi, ausdrücklich auf die Notwendigkeitaufmerksam, Ruhe und Ordnung <strong>in</strong> den Straßen wiederherzustellen. Eswar nach Mitternacht, als Maléter <strong>in</strong> die Kilián-Kaserne zurückkehrte.Als an diesem Abend die ersten sowjetischen E<strong>in</strong>heiten Budapestverließen und der Schutz öffentlicher Gebäude auf die neugebildeteNationalgarde überg<strong>in</strong>g, meldete sich e<strong>in</strong> neuer Revolutionsrat zu Wort:Mehrere Heeresoffiziere hatten sich an diesem Tage getroffen und imVerteidigungsm<strong>in</strong>isterium e<strong>in</strong>en Revolutionsrat der ungarischen Volksarmeegegründet.ËÈ Se<strong>in</strong> Vorsitzender war e<strong>in</strong> Kommunist, der GeneralmajorLör<strong>in</strong>c Kána. Schon an diesem Nachmittag holte er zu se<strong>in</strong>emersten Schlag gegen die Moskowiter aus. Kurz vor 18 Uhr meldete derRundfunk, dieses neue Gremium habe Generalmajor Lajos Tóth, denersten stellvertretenden Verteidigungsm<strong>in</strong>ister und Chef des Generalstabes,sowie die Generäle Jenö Házi, Ferenc Hidvégi und GeneralleutnantIstván Szabó entlassen. Die Tatsache, daß der eigentliche Wurm im572


Gehäuse der Verteidigungsm<strong>in</strong>ister General Janza selbst war und daßdieser noch heimlich Verb<strong>in</strong>dung mit Moskau unterhielt, hatte man nichterkannt: Die Revolutionäre glaubten, daß er Imre Nagy und <strong>Ungarn</strong>gegenüber loyal sei und nicht etwa gegenüber der Sowjetunion.Das Auftreten dieser revolutionären Körperschaft im regulärenArmeekommando komplizierte die SpitzengIiederung. Dies war wohlauch die Absicht; denn e<strong>in</strong> völlig anderes Überwachungsgremium, dasvon General Király aufgestellt wurde, war bereits am 30. Oktober um22.40 Uhr durch M<strong>in</strong>isterpräsident Imre Nagy »anerkannt und bestätigt«worden. Nagy erteilte ihm den Auftrag, e<strong>in</strong>e neue »Wehrmacht« aus dergegenwärtigen Armee, Polizei, Revolutionären, Arbeitern und Jugendbrigadenaufzubauen; das Király-Gremium sollte so lange tätig se<strong>in</strong>, bisdie neue Regierung gewählt und ihr Amt angetreten hatte. Doch nun ludder Revolutionsrat der Volksarmee Polizei, Nationalgarde und andererevolutionäre Verbände für 2 Uhr nachts zu e<strong>in</strong>er Konferenz imVerteidigungsm<strong>in</strong>isterium e<strong>in</strong>.Obgleich es bereits Mitternacht war, als József Dudás <strong>in</strong> das Verlagsgebäudeund se<strong>in</strong> Hauptquartier zurückkehrte, setzte er sich dennoch,müde, wie er war, nieder, um noch e<strong>in</strong>en Leitartikel zu schreiben.Erschüttert über viele D<strong>in</strong>ge, die er gesehen hatte, schrieb er mit bitterenWorten: »Die jetzige sogenannte Koalitionsregierung vertritt nicht dasVolk. Unsere Hoffnungen ruhen immer noch auf Imre Nagy, aber wirwiederholen, daß unsere Forderungen sofort erfüllt werden müssen . . . ZuFerenc Erdei und József Bognár sagen wir nur: ›Seid ihr immer noch nichtzufrieden? Selbst der Samt der Stühle, auf denen ihr sitzt, ist rot vom Bluteurer Brüder. Wir wollen arbeiten . . . Schaut, daß ihr uns aus dem Wegegeht!‹ «Allmählich wuchsen Imre Nagy die D<strong>in</strong>ge über den Kopf. Nicht nur,daß Szigethy drohte, e<strong>in</strong>e Gegenregierung aufzustellen, nun verbreiteteRadio Budapest gegen 19 Uhr e<strong>in</strong> Ultimatum der Luftwaffe: Wenn dieSowjettruppen nicht b<strong>in</strong>nen zwölf Stunden Budapest verließen, würde dieLuftwaffe <strong>in</strong> Aktion treten. An diesem Abend fuhr Nagy nach Hause, um573


die Kleidung zu wechseln und se<strong>in</strong>e Frau zu sehen. Zwei Lastwagen mitPolizisten begleiteten den Präsidentenwagen. György Fazekas stand aufdem Trittbrett e<strong>in</strong>es der Lkw mit e<strong>in</strong>em Ellbogen auf dem Dach desFahrerhauses und e<strong>in</strong>er Masch<strong>in</strong>enpistole <strong>in</strong> der Hand. Nagy fuhr imPräsidentenwagen.ËÍZu allem Überfluß wurde am 30. Oktober Kard<strong>in</strong>al M<strong>in</strong>dszentyentdeckt und freigelassen. Die Forderung der Rebellen nach Freilassungund vollständiger Rehabilitierung des verfolgten Kirchenfürsten warwährend des Tages immer lauter geworden. Aber das Letzte, was sichNagy jetzt wünschte, war, daß dieser fanatische, alte Kirchenführer nachBudapest zurückkehrte: Das hieße, die Liberalisierung zu weit treiben.Erst an diesem Nachmittag hatte Zoltán Tildy e<strong>in</strong>er Arbeiterdelegationerklärt, er sei der Me<strong>in</strong>ung, M<strong>in</strong>dszenty sollte auf se<strong>in</strong>en Sitz nachEsztergom zurückkehren. Aber <strong>in</strong> Budapest erschienen an denHäuserwänden Plakate, auf denen nach se<strong>in</strong>em Aufenthaltsort gefragtwurde. Die Antworten erschienen, mit Bleistift geschrieben, auf denPlakaten selbst.ËÎ Er wurde auf e<strong>in</strong>em Gehöft <strong>in</strong> Felsöpetény von der ÁVHunter Hausarrest gehalten.Bei Beg<strong>in</strong>n des <strong>Aufstand</strong>s hatte man dem Kard<strong>in</strong>al se<strong>in</strong> Rundfunkgerätweggenommen, und die ÁVH hatte vergeblich versucht, ihn zuveranlassen, den Ort »um se<strong>in</strong>er eigenen Sicherheit willen« zu verlassen.Der alte Mann weigerte sich. Der übereifrige János Horváth, Chef desAmtes für kirchliche Angelegenheiten bei der Regierung, machte e<strong>in</strong>enletzten Versuch, ihn zum Verlassen des Orts zu bewegen. Inzwischenversammelten sich Dorfbewohner, die von dem Ersche<strong>in</strong>en des Panzerspähwagensangelockt worden waren. Um 22.05 Uhr erschienen zweiPanzer aus Rétság mit Armeeoffizieren. Der ÁVH-Wachtrupp, nervösgeworden durch den Anblick der sich versammelnden Dorfbewohner, diemit Hämmern, Hacken und Sicheln erschienen, übergab M<strong>in</strong>dszentybereitwillig an General Gyula Váradi, den Kommandeur des Panzerkorps.Der stellvertretende Kommandeur der Panzerschule, Graf Antal Pál<strong>in</strong>kás,wurde dem Kard<strong>in</strong>al zugeteilt.ËÏ Major Pál<strong>in</strong>kás stellte sich dem Kard<strong>in</strong>alvor, <strong>in</strong>dem er unwillkürlich se<strong>in</strong>en alten aristokratischen Namen nannte:574


»Pallavic<strong>in</strong>i!« Váradi g<strong>in</strong>g nach Budapest, kehrte aber nicht zurück, denner war Mitglied des dortigen Armee-Revolutionsrats. Kurz danach riefMajor Pál<strong>in</strong>kás die Regierung an, M<strong>in</strong>dszenty sei soeben befreit worden.Der Kard<strong>in</strong>al, sagte der Major, wolle e<strong>in</strong>en triumphalen E<strong>in</strong>zug <strong>in</strong> se<strong>in</strong>enPalast auf dem Schloßhügel halten.In der gegenwärtigen, erregten Stimmung konnte das zu denschlimmsten Auswüchsen nationalen Jubels und Pomps führen. ZoltánTildy befahl Major Pál<strong>in</strong>kás den Kard<strong>in</strong>al persönlich nach Budapest zugeleiten. Die unauffällige Fahrt sollte vor der Morgendämmerungangetreten und der Kard<strong>in</strong>al dann <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Palast zurückgeführt werden.Der schlanke, fast zahnlose Pál<strong>in</strong>kás war gegen Ende des ZweitenWeltkrieges Panzerleutnant gewesen; statt zu kämpfen, hatte er esvorgezogen, sich den Russen zu ergeben, und se<strong>in</strong>en aristokratischenNamen hatte er gegen den e<strong>in</strong>es schlichten Antal Pál<strong>in</strong>kás e<strong>in</strong>getauscht.Für kurze Zeit war er Királys Adjutant <strong>in</strong> der ungarischen Volksarmeegewesen. Zufällig lebten e<strong>in</strong>ige se<strong>in</strong>er angeheirateten Verwandten <strong>in</strong>e<strong>in</strong>em Vorort direkt neben dem Chefhenker der ÁVH. Bisher hatte erdiesen Nachbarn immer nur kurz gegrüßt – später sollte er sozusagendessen »Kunde« werden – zur Strafe dafür, daß er den Kard<strong>in</strong>al nachBudapest zurückgebracht hatte.ËÌWährend der Nacht verbreitete Radio Moskau den Text derhistorischen Erklärung, die Mikojan und Suslow Nagy bereits gezeigthatten.ËÓ Um 4.40 Uhr wurde sie über den ungarischen Rundfunk verlesen.Es schien e<strong>in</strong> totaler Sieg zu se<strong>in</strong> – David hatte den sowjetischen Goliath<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Woche der Rebellion geschlagen. Es klang wie e<strong>in</strong>eBankrotterklärung der gesamten sowjetischen Militärstrategie seit 1944.Der Schweizer Journalist Dr. Roland Nitsche schilderte die Szene fürse<strong>in</strong>e Zeitung: »Es ist unbeschreiblich, was <strong>in</strong> den M<strong>in</strong>uten nach dieserRadionachricht <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> geschieht. Menschen, die e<strong>in</strong>ander völlig fremds<strong>in</strong>d, fallen sich <strong>in</strong> die Arme und we<strong>in</strong>en vor Freude . . . Moskau wargeschlagen worden. Geschlagen von e<strong>in</strong>er Nation, die zehn lange JahreKetten getragen und diese Ketten <strong>in</strong> nur wenigen Tagen zerrissen hatte.«575


Die Emigranten beim »Radio Free Europe« <strong>in</strong> München gerieten <strong>in</strong>e<strong>in</strong>en Zustand der Euphorie. Die politisch Verantwortlichen beim RFEempfahlen, die volltönenden Worte e<strong>in</strong>es anderen Mannes von 1940 zuübernehmen: »Dies ist <strong>Ungarn</strong>s schönste Stunde. Niemals haben so vieleso Entscheidendes so wenigen zu verdanken.«576


39Chruschtschow ändertse<strong>in</strong>e Me<strong>in</strong>ungAM 31. OKTOBER 1956, zwei Stunden nach Mitternacht, trafen sich 200revolutionäre Armeeoffiziere im Verteidigungsm<strong>in</strong>isterium, das immernoch von sowjetischen Panzern umr<strong>in</strong>gt war. Dies war e<strong>in</strong> seltsamesMerkmal dieser Revolution. Aber es gab noch e<strong>in</strong>e andere Eigentümlichkeit:Das widersprüchliche, melodramatische Ultimatum, das zurselben Zeit über den Rundfunk vom Luftwaffenkommando verbreitetwurde und das den sowjetischen Botschafter Juri V. Andropowaufforderte, sich für e<strong>in</strong>en sofortigen Rückzug der sowjetischen Streitkräftee<strong>in</strong>zusetzen: »Andernfalls«, drohte dieses Ultimatum an, »werde dieLuftwaffe zur Unterstützung dieser Forderung aller ungarischenWerktätigen <strong>in</strong> Aktion treten.«E<strong>in</strong>e größere Provokation gegenüber dem Kreml war kaum vorstellbar.Dennoch sollten wenige Tage später sowjetische Generale dem »rebellierenden«Luftwaffenkommandeur Oberst Ferenc Nádor helfen, aus se<strong>in</strong>emZufluchtsort zu entkommen, und selbst <strong>in</strong> späteren Jahren passierte ihmnichts; er erhielt vielmehr e<strong>in</strong>en hohen Posten bei der ungarischennationalen Luftfahrtl<strong>in</strong>ie, e<strong>in</strong> Schicksal, das <strong>in</strong> scharfem Kontrast zu demse<strong>in</strong>er weniger glücklichen, aber vielleicht aufrichtigeren Rebellenkameradenstand.Während die letzten dramatischen Worte des Ultimatums über RadioBudapest im Äther ertönten: »Mit dem Volk durch Feuer und Wasser«,fuhren Wagen vor dem E<strong>in</strong>gang des Verteidigungsm<strong>in</strong>isteriums <strong>in</strong> der577


Markó utca vor, und Revolutionsoffiziere eilten <strong>in</strong>s Innere des Gebäudes.E<strong>in</strong>ladungen für die Zusammenkunft waren ausgegangen im Namen desneugegründeten »Revolutionsrats der ungarischen Volksarmee«.Á 250Männer waren anwesend, die ebenso wie das e<strong>in</strong>ladende Gremium denRevolutionsrat des nationalen Polizeikommandos und das revolutionäreKomitee der Grenzwachen repräsentierten.Ë Diese Offiziere wählten e<strong>in</strong>»Nationales Revolutionskomitee für Verteidigung«È, das aus zwanzigOffizieren bestand. Dazu gehörten Maléter, Váradi – der Panzerkorpskommandeur,der vor wenigen Stunden an der Befreiung von Kard<strong>in</strong>alM<strong>in</strong>dszenty beteiligt war –, der besagte Oberst Nádor, Oberst AndrásMárton von der Zr<strong>in</strong>yi-Akademie und Oberstleutnant Marián, derMilitär<strong>in</strong>strukteur der Technischen Hochschule, der die Studentenbatailloneaufgestellt hatte.Í General Béla Király wurde zum Vorsitzendengewählt. E<strong>in</strong>ige ihrer Entscheidungen waren harmloser Natur: Um 8 Uhrfrüh wurde verkündet, daß auf Druck dieses revolutionären RatsVerteidigungsm<strong>in</strong>ister General Janza Änderungen an der Heeresuniformbefohlen habe – von nun an würden die Soldaten das traditionelleKossuth-Wappen an ihren Mützen tragen. Andere Entscheidungen warenweiterreichend: Király, Maléter und Nádor beschlossen, die Armee zureorganisieren, um die Verräter, die seit 1948 durch Moskau <strong>in</strong> ihreReihen e<strong>in</strong>geschleust worden waren, auszustoßen. Aber es gab auchBeschlüsse, die zur Unruhe führen würden. Diese Revolutionsoffiziereverlangten nicht weniger als den Austritt ihres Landes aus demWarschauer Pakt. Dies war e<strong>in</strong>e militärische Drohung, die ihre Partner<strong>in</strong>nerhalb des Warschauer Paktes zwang, die ungarische Volkserhebungernst zu nehmen.Inzwischen befand sich Kard<strong>in</strong>al M<strong>in</strong>dszenty mit fanatisch glühendenAugen auf dem Wege <strong>in</strong> die Hauptstadt. Seit se<strong>in</strong>er Verhaftung und demProzeß waren acht Jahre vergangen. Als er um 6 Uhr früh die Heereskaserne<strong>in</strong> Rétság verließ, versprach der reaktionäre Kirchenmann dendraußen wartenden Dorfbewohnern- »Me<strong>in</strong>e Söhne, ich werde dortweitermachen, wo ich vor acht Jahren aufgehört habe.«Î578


Major Pallavic<strong>in</strong>i brachte ihn <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Panzerspähwagen, der von vierPanzern begleitet war, nach Budapest. Es war sehr früh für e<strong>in</strong>e solcheFahrt. Der Rundfunk des Regimes verschleierte den wirklichen Grund fürdiese frühen Stunden mit folgenden Worten: »Aufgrund der Unsicherheitauf den Straßen wurde der Primas morgens zwischen 6 und 6.15 Uhr nachBudapest gebracht.« Der wirkliche Grund war, daß Imre Nagy ke<strong>in</strong>eDemonstrationen zugunsten Se<strong>in</strong>er Em<strong>in</strong>enz wünschte. Nachdem sich dasEreignis herumgesprochen hatte, versammelte sich e<strong>in</strong>e riesige frommeMenschenmenge vor se<strong>in</strong>er Residenz <strong>in</strong> der engen, gepflasterten Uri utca,um vor ihm niederzuknien und Rosen auf se<strong>in</strong>en Weg zu streuen. Beise<strong>in</strong>er Ankunft verkündete der Rundfunk Nagys Rehabilitationsdekret –e<strong>in</strong> Dekret, das ebenso ungewöhnlich, ungesetzlich und autokratisch warwie die ursprünglichen Vorgänge des Jahres 1948.In dieser Nacht war es vorbei mit der <strong>in</strong> Miskolc herrschendenEuphorie. Die sowjetischen Streitkräfte, die so viel Aufhebens um ihrenRückzug gemacht hatten, schienen jetzt über Záhony und Nyiregyházazurückzukehren. Erschreckte Revolutionäre <strong>in</strong> Miskolc riefen Zoltán Tildy<strong>in</strong> Budapest an. Imre Nagy wurde geweckt. Er erklärte sich damite<strong>in</strong>verstanden, im Laufe des Tages das Kab<strong>in</strong>ett zusammenzurufen, umdiese neue Entwicklung zu beraten. In Budapest selbst waren beimMorgengrauen immer noch e<strong>in</strong>ige sowjetische Soldaten zu sehen. Aufdem Stal<strong>in</strong>platz widerstanden die Stiefel des alten Diktators jedemVersuch, sie von ihrem Sockel herunterzuholen. Kameraleute filmtenLastwagen der Rebellen, auf denen Männer Fahnen oder Gewehreschwenkten, und gepanzerte Fahrzeuge, die mit dem neuenKossuthWappen geschmückt waren. Die Straßen waren noch immer vollerTrümmer, Trambahnwagen lagen quer auf dem Pflaster und h<strong>in</strong>gen <strong>in</strong>ihren eigenen Oberleitungen fest. Irgend jemand hatte auf e<strong>in</strong>Panzerwrack die Worte geschrieben: »Sowjetische Kultur.«Von anderer Hand war mit rotem Stift überall auf Plakate der Satzgemalt worden: Nem kele kommunizmus! E<strong>in</strong> alter Mann <strong>in</strong> e<strong>in</strong>emabgetragenen Mantel und e<strong>in</strong>em verblichenem Hut übersetzte dies für579


e<strong>in</strong>en polnischen Journalisten: »Wir wollen ke<strong>in</strong>en Kommunismus.« Undmit e<strong>in</strong>er Stimme, die von Haß erfüllt war, fügte der Mann se<strong>in</strong>en eigenenKommentar h<strong>in</strong>zu: »Niemand <strong>in</strong> diesem Lande will Kommunismus. Vomkle<strong>in</strong>sten K<strong>in</strong>d bis zum ältesten Mann will niemand Kommunismus. Wirhaben genug davon. Für immer!«ÏIm Laufe des Morgens wurden die sowjetischen Panzer vor demParlament und anderen öffentlichen Gebäuden abgezogen. Allzu selbstsicherverkündete der Rundfunk um 8 Uhr früh, daß alle sowjetischenStreitkräfte Budapest verlassen hätten. Sofort erschienen Plakate mit derAufschrift: »Radio Kossuth lügt!« Und e<strong>in</strong>e Stunde später hieß es imRundfunk bedauernd: »Zahlreiche Hörer haben ebenfalls protestiert . . . Esbef<strong>in</strong>den sich noch immer sowjetische Panzer vor dem Verteidigungsm<strong>in</strong>isterium,dem Innenm<strong>in</strong>isterium und vor der sowjetischen Botschaft.«Aber das Verteidigungsm<strong>in</strong>isterium versprach, daß die letzten sowjetischenPanzer am Vormittag verschw<strong>in</strong>den würden. Um 9 Uhr stand derPhotograph Hajdú an der Ecke der Mártírok utca und photographierte dieabziehenden Russen. Dies wurde sofort durch mit Bleistift geschriebenenWandplakate bestätigt: »Radio Kossuth hat aufgehört zu lügen.« DieEpisode vermittelte den E<strong>in</strong>druck, als beziehe Nagys Regierung ihreInformationen vor allem von den Wandanschlägen der Rebellen.ÌSelbst <strong>in</strong> der amerikanischen Gesandtschaft wurden die Zweifel überMoskaus wahre Absichten im Laufe des Morgens zerstreut. SpencerBarnes’ Kundschafter fuhren im Stadtzentrum umher und stellten fest, daßder sowjetische Rückzug e<strong>in</strong>e Tatsache war. Die sowjetischen Panzerwaren weniger geworden, zwei Brücken waren frei und Geschützstellungenverlassen. E<strong>in</strong>ige wenige Soldaten standen noch an denStraßenkreuzungen, aber sie wurden von <strong>Ungarn</strong> begleitet, bis auch sieabzogen. Gegen 11 Uhr hielten bewaffnete Rebellen die Ordnung <strong>in</strong> denGebieten, um die sie gekämpft hatten, aufrecht. Beamte der Gesandtschaftberichteten Spencer Barnes, daß, obgleich e<strong>in</strong> sowjetischer Soldat <strong>in</strong>ungarischer Uniform gesehen worden war, der allgeme<strong>in</strong>e sowjetischeRückzug während der Nacht begonnen habe. Russische Diplomaten undOffiziere versammelten sich am Kai, um die Donaufähre zu besteigen. Die580


Bevölkerung säumte die Brückengeländer. Es waren meistens Männer <strong>in</strong>Mänteln, Pelzmützen, Baskenmützen und Regenmänteln, die dort miternsten Gesichtern zuschauten; nur die Herbstsonne schien freundlich.ÓImmer mehr verstörte Russen erschienen <strong>in</strong> offenen Lastwagen. Sie trugenalle Arten von Koffern und braunen Pappkartons. Paul Mathias von ParisMatch sah, wie e<strong>in</strong> Telephon-Klappenschrank von e<strong>in</strong>em Lastwagenabgeladen wurde. Die Frauen waren manikürt und trugen Pelzmäntel undKopftücher. Die russischen K<strong>in</strong>der waren adrett gekleidet und drücktenihre Puppen an sich.Spencer Bames begann e<strong>in</strong> Dr<strong>in</strong>glichkeitstelegramm nach Wash<strong>in</strong>gton,das er um 13 Uhr abschickte, mit dem widerwilligen E<strong>in</strong>geständnis:»Dramatische Lageänderung über Nacht brachte heute früh Gewißheit,daß diese ungarische Revolution geschichtliche Tatsache geworden ist.«Aber er stand vor e<strong>in</strong>em Rätsel – und gab es auch zu: »Ich selbst hätte esniemals geglaubt, daß die <strong>Ungarn</strong> diesen Rückzug ohne stärkste westlicheUnterstützung hätten erreichen können.«Die hohen sowjetischen Emissäre <strong>in</strong> Budapest erzählten jedem, derbereit war, ihnen zuzuhören, daß Moskau se<strong>in</strong>e Truppen abziehe. Indiesem S<strong>in</strong>ne äußerte sich – laut Maléter – auch der sowjetische M<strong>in</strong>isterAnastas Mikojan gegenüber Staatsm<strong>in</strong>ister Károly Kiss.Ô Mit Sicherheitsagte Mikojan dies auch Tildy: Die Truppen, sofern sie sich unter denBestimmungen des Warschauer Pakts <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> befänden, solltenzurückgezogen werden. Auf dem Parlamentsgebäude war bereits e<strong>in</strong>egroße Nationalfahne gehißt worden. Als Tildy Mikojan h<strong>in</strong>ausgeleitete,eilte Anna Kéthly h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> – die Sozialdemokraten hatten gerade ihre neueFührung gewählt und wollten jetzt mit der Regierung verhandeln. Siewurde von Dr. András Révész, dem neuen stellvertretenden ErstenSekretär der KP, erwartet. Er berichtete ihr, daß er für die erste Ausgabeder Parteizeitung Népszava [Volksstimme] den Leitartikel schreibe, aberAnna Kéthly rief aus: »Merken Sie denn gar nicht, was geschehen ist! Esist unglaublich! Die Russen verlassen <strong>Ungarn</strong>.« Tildy trat h<strong>in</strong>zu undbestätigte, ja, die Russen seien tatsächlich dabei, abzurücken.ÁÊGegen 11 Uhr erschien die Feuerwehr und begann, den e<strong>in</strong>e Tonne581


schweren Roten Stern abzumontieren, der sich <strong>in</strong> 90 Meter Höhe auf demParlamentsgebäude befand.Spencer Barnes’ Mitarbeiter Gaza Katona fuhr durch die Stadt. Inse<strong>in</strong>em Tagebuch notierte er: »Wenn die Leute die kle<strong>in</strong>e amerikanischeFlagge und den rot-weiß-grünen Wimpel an me<strong>in</strong>em Wagen sehen,w<strong>in</strong>ken sie freudig und rufen als Gruß, was sie <strong>in</strong> englischer Sprachekennen: ›Hello‹ oder ›Good morn<strong>in</strong>g, Mister‹ oder ›Hello to PresidentEisenhower‹.«ÁÁ Die Gesandtschaft empfahl Wash<strong>in</strong>gton <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Telegrammdie baldige Abgabe e<strong>in</strong>er offiziellen Erklärung – möglicherweisedie Zusage von Wirtschaftshilfe und politische Gespräche. WährendEisenhower <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Bericht an die Nation über »Wirtschaftshilfe« fürPolen und <strong>Ungarn</strong> sprach, betonte er zugleich, daß die Vere<strong>in</strong>igten Staaten»ke<strong>in</strong>e neuen Verbündeten <strong>in</strong> Osteuropa« suchten. Am 1. Novemberbehauptete RFE, diese Erklärung sei »möglicherweise e<strong>in</strong> entscheidenderamerikanischer Beitrag zum Kampf um die Freiheit . . . , der deutlichdarauf abziele, sowjetische Bedenken, ihre Besatzungstruppen zurückzuziehen,zu zerstreuen«.Chruschtschow sah das anders. Alles lief nach Plan: Diese <strong>Ungarn</strong>legten endlich ihre Waffen nieder. Präsident Eisenhowers erneuterVerzicht auf irgendwelche strategischen Interessen an den Satellitenstaatenfand nicht die ger<strong>in</strong>gste Anerkennung bei Chruschtschow. Erwußte jetzt, daß er alles riskieren konnte, ohne das Ger<strong>in</strong>gste fürchten zumüssen, um <strong>Ungarn</strong> wiederzugew<strong>in</strong>nen.»Es ist e<strong>in</strong> Nervenkrieg«, sagte e<strong>in</strong> führender Mann von »Radio FreeEurope« <strong>in</strong> München im Funkhaus an der Isar. »Er erfordert e<strong>in</strong>e feste,mutige Haltung.« Die Nachrichtenleute wurden aufgefordert, die Rebellenzur Fortsetzung des Kampfes anzufeuern; und zwar, <strong>in</strong>dem man ihnene<strong>in</strong>en Überblick darüber gab, was sie bereits erreicht hatten.ÁË RFE<strong>in</strong>formierte se<strong>in</strong>e Kontrolleure <strong>in</strong> New York: »[Wir] dienen nach wie vorals Sprecher und Kommunikationszentrum für die Forderungen und Pläneder Revolutionäre; können dies jetzt besser als bisher tun, denn wirerhalten mehr Informationen über die Lage im Lande durch eigene und582


andere Quellen.«E<strong>in</strong>e typische Propagandasendung von RFE verlangte an diesem Tage:»Die M<strong>in</strong>isterämter des Inneren und der Verteidigung s<strong>in</strong>d noch immer <strong>in</strong>kommunistischer Hand. Laßt das nicht zu, Freiheitskämpfer! Hängt eureGewehre nicht an die Wand! Fördert ke<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziges Stück Kohle undke<strong>in</strong>en Tropfen Öl für die Regierung <strong>in</strong> Budapest, bis ihr nicht die <strong>in</strong>nerenAngelegenheiten des Landes und se<strong>in</strong>e Verteidigung übernommen habt!«Und »Oberst Bell« paukte se<strong>in</strong>en Hörern e<strong>in</strong>: »Die kommunistischenFührer, die dort niemals etwas zu suchen hatten, müssen ihre Posten <strong>in</strong> derArmee aufgeben! Kameraden, Freiheitskämpfer! Verlangt die Posten desVerteidigungsm<strong>in</strong>isters, des Oberkommandierenden und des Stabschefsfür euch!«Bei Revolutionen <strong>in</strong> kommunistischen Ländern schießen Komitees wiePilze aus der Erde. Auf e<strong>in</strong>er Massenversammlung <strong>in</strong> der Kilián-Kaserneum 11 Uhr morgens wurde wieder e<strong>in</strong> neues Revolutionskomiteeausgebrütet – diesmal mit dem Ziel, die revolutionäre Begeisterung derbewaffneten Aufständischen <strong>in</strong> andere Bahnen zu lenken.ÁÈ Rund hundertMann versammelten sich <strong>in</strong> der Halle, darunter Király, Oberst Maléter,Kopácsi und Marián sowie der Anführer der Corv<strong>in</strong>-Passage, GergelyPongrácz. Das neue Komitee, das Revolutionskomitee der SicherheitskräfteÁÍ,sollte versuchen, die reguläre Polizei, die Fabrikwachen und diebewaffneten Rebellenverbände <strong>in</strong> Királys Nationalgarde oder Nemzetörségzusammenzuschließen, um die Ordnung wiederherzustellen.ÁÎDie revolutionären Offiziere und die Aufständischen erschienen,begleitet von ihren Leibwachen, <strong>in</strong> Kettenfahrzeugen. Sie fuhren an ausgebranntenLastwagen, abgeschossenen Panzern, provisorischen Gräbernund an den Trümmern schwerer russischer Feldgeschütze vorbei. Auf e<strong>in</strong>Geschütz war die Parole gep<strong>in</strong>selt: »Schrott sichert den Frieden!«Maléters T-34 stand noch immer e<strong>in</strong>gekeilt im E<strong>in</strong>gang der Kaserne.Se<strong>in</strong> Büro war <strong>in</strong>zwischen zu e<strong>in</strong>em Beratungsraum geworden. Es warvoll von Rebellen <strong>in</strong> jeglicher Verkleidung, von der adretten Matrosenuniformder Donauflotte bis zum Räuberzivil. Es kamen immer neue583


Delegationen – von der Schiffswerft Ganz, den Gummiwerken, demWestbahnhof, von den aufständischen Verbänden vom Széna tér, derTompa utca und der Corv<strong>in</strong>-Passage; auch der Schriftstellerverband warvertreten. Am E<strong>in</strong>gang präsentierten e<strong>in</strong> Soldat und e<strong>in</strong> Aufständischer dasGewehr.Pál Maléter übernahm den Vorsitz. An se<strong>in</strong>er Uniformjacke klimpertendie Orden – e<strong>in</strong>schließlich der Partisanenmedaille und e<strong>in</strong>em hohensowjetischen Orden, der ihm von Marschall Mal<strong>in</strong>owski verliehen wordenwar. Er eröffnete die Diskussion, <strong>in</strong>dem er kurzerhand se<strong>in</strong>e Kandidatenfür das Amt vorschlug – den verb<strong>in</strong>dlichen Király als Kommandeur derNationalgarde und den proletarischeren Polizeipräsidenten Kopácsi alsse<strong>in</strong>en Stellvertreter. Mehrere Stimmen waren dagegen: Beide Männerwaren Kommunisten, und die Rebellen hatten während der ersten beidenTage Verluste sowohl bei den Kämpfen um Kopácsis Polizeipräsidium alsauch bei der Kilián-Kaserne h<strong>in</strong>nehmen müssen. Pongrácz beschuldigteMaléter, e<strong>in</strong> Mörder zu se<strong>in</strong> – er habe viele se<strong>in</strong>er Kameraden <strong>in</strong> derCorv<strong>in</strong>-Passage getötet. E<strong>in</strong> blonder junger Mann mit e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>telligentenGesicht protestierte dagegen, daß niemand die Dudás-Truppe vertrat, die<strong>in</strong>zwischen der am besten organisierte Rebellenverband war. Es seiDudás’ eigene Schuld, nicht dabeizuse<strong>in</strong>, erwiderte Maléter er seie<strong>in</strong>geladen worden. Danach beschuldigte e<strong>in</strong> Mann <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er LederjackeMaléter erregt, e<strong>in</strong>en Aufständischen von der Corv<strong>in</strong>-Passage verprügeltund ihm se<strong>in</strong>e Masch<strong>in</strong>enpistole oder, wie er es nannte, se<strong>in</strong>e »Gitarre«weggenommen zu haben. Maléter erwiderte, daß er <strong>in</strong> den Taschen desMannes Armbänder entdeckt habe und daß der Betreffende froh se<strong>in</strong>könne, so gut davongekommen zu se<strong>in</strong>. Danach schüttelten sie e<strong>in</strong>anderdie Hände.ÁÏBei dieser Zusammenkunft wurden mehr Wunden aufgerissen alsgeheilt. General Király erklärte, er möge den hochgestochenen Panzeroberstnicht. Oberst Maléter sagte später aus: »Vom ersten Augenblick anwar ich dagegen, Rebellen bei der Aufstellung der Streitkräfteheranzuziehen.« Die Konferenz akzeptierte jedoch Királys Vorschlag,vom nächsten Tage an e<strong>in</strong>e vorschriftsmäßig konstituierte Nationalgarde,584


die aus Männern der Armee und der Rebellenverbände zusammengesetztwar, <strong>in</strong>s Leben zu rufen.Unmittelbar danach wurde Maléter ans Telephon gerufen. Als erzurückkehrte, schloß er die Sitzung mit der Erklärung: »Das Sekretariatdes M<strong>in</strong>isterpräsidenten hat mich soeben <strong>in</strong>formiert, daß e<strong>in</strong>e Meute vonmehreren hundert Leuten das Innenm<strong>in</strong>isterium sowie das Institut derArbeiterbewegung gestürmt hat und dabei ist, die Akten wegzutragen.ÁÌOberst Kopácsi! Sorgen Sie dafür, daß das M<strong>in</strong>isterium befreit wird, sodaß e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>heit der Nationalgarde se<strong>in</strong>en Schutz übernehmen kann. Ichselbst werde mit e<strong>in</strong>em Zug zu dem Institut gehen. Solche Ausschreitungenspielen direkt <strong>in</strong> die Hände der Sowjets.«Mittags zogen sich die letzten Sowjetpanzer, die das Verteidigungsm<strong>in</strong>isteriumbewacht hatten, zurück. Dreizehn M<strong>in</strong>uten später verkündeteder Rundfunk diese Tatsache. Nach e<strong>in</strong>er weiteren halben Stundeberichtete Spencer Barnes nach Wash<strong>in</strong>gton: »Partisanen jagen ÁVH-E<strong>in</strong>heiten, dies wird vermutlich noch e<strong>in</strong>ige Zeit so weitergehen. Plünderungens<strong>in</strong>d praktisch nicht vorgekommen . . . Der Gesandtschaft wurdenauch ke<strong>in</strong>e Anzeichen von antisemitischen Ausschreitungen bekannt.«E<strong>in</strong>ige Stadtteile standen unter der Kontrolle von Dudás, sie wurdennicht von der neuen Nationalgarde von Király überwacht: Gut bewaffneteTrupps griffen die Parteizentrale an, überprüften Verdächtige undverhafteten ÁVH-Leute. Der jugoslawische Journalist Vlado Teslic hörte<strong>in</strong>e heisere Stimme aus dem Lautsprecher: »Wir legen die Waffen nichtnieder! Die Regierung wird uns nicht unterwerfen! Bis zum Abzug allersowjetischen Truppen aus <strong>Ungarn</strong>, bis zum Widerruf aller bishergeschlossenen Verträge und bis zur Abhaltung neuer Wahlen bleiben wiran der Macht.« Kurz danach erfährt Teslic die Forderungen der Rebellenführer:Sie wollen e<strong>in</strong>e provisorische Regierung, der seitens derKommunisten nur Nagy und Kádár und von den Kle<strong>in</strong>landwirten nur BélaKovács angehören sollen. Dudás hält Zoltán Tildy für korrumpiert durchse<strong>in</strong>e Vergangenheit. Alte Ressentiments gegen Tildy blieben bestehen.585


Die letzten Sowjetpanzer, die die ÁVH-Gebäude <strong>in</strong> der Stadt beschützthatten, warfen um 12.20 Uhr ihre Motoren an und verschwanden aus demBlickfeld.Im Innern des Parlamentsgebäudes tagte Nagys neues Kab<strong>in</strong>ett. DerFührer der Kle<strong>in</strong>landwirte-Partei, Béla Kovács war noch zu krank, um ander Sitzung teilzunehmen. Die Vorsitzende der Sozialdemokraten, AnnaKéthly, befand sich zusammen mit Révész auf dem Wege nach Wien, wosie zur Teilnahme an e<strong>in</strong>er Konferenz der Sozialistischen Internationalee<strong>in</strong>geladen worden war. An erster Stelle der Tagesordnung standen<strong>in</strong>offizielle Berichte vom frühen Morgen, daß sowjetische Truppen imNordosten immer noch über die Grenze strömten.Aber dann wurde der Prawda-Text der Kreml-Erklärung here<strong>in</strong>gebracht.Sie schien noch befriedigender zu se<strong>in</strong> als der Entwurf, denMikojan am Vortag aus Moskau mitgebracht hatte. Die ganze Kab<strong>in</strong>ettsrunde<strong>in</strong> Nagys M<strong>in</strong>isterrat atmete erleichtert auf. (Glücklicherweisekannten sie noch nicht die nächste Ausgabe der Prawda, <strong>in</strong> der dieRebellen wiederum als Söldner der Imperialisten denunziert wurden.) FürNagy schien es jetzt das wichtigste, die Verhandlungen mit den Russenaufzunehmen. Der Kreml durfte nicht das Nachsehen haben. Auf ke<strong>in</strong>enFall würde Nagy erlauben, daß der ger<strong>in</strong>gste Zweifel an der guten Absichtder Sowjets laut würde.»Nagy und se<strong>in</strong>e Gruppe beschlossen, den Morgenbericht geheimzuhalten«,erklärte später der kommunistische stellvertretende Außenm<strong>in</strong>isterGyörgy Heltai. »Alle Sitzungsteilnehmer waren sich darübere<strong>in</strong>ig, daß es unbed<strong>in</strong>gt erforderlich war, sowjetische Garantien dafür zuerhalten, daß das E<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gen der Truppen nicht fortgesetzt würde.«ÁÓDementsprechend lautete die Antwort auf die von Rebellen währendder vergangenen Nacht geäußerten Zweifel, die Nagy dem Rundfunkübermittelte. Sie wurde um 13.20 Uhr verbreitet und war so ausweichendwie das Orakel von Delphi: »Ich kann Ihnen erneut versichern, daß es zurSchaffung e<strong>in</strong>es unabhängigen, freien und demokratischen <strong>Ungarn</strong>kommt.«ÁÔ586


Laut Heltai wurde die Sitzung durch das E<strong>in</strong>treffen e<strong>in</strong>es Telegrammsunterbrochen. Nagy las es und sagte dann: »Die britischen und französischenLuftstreitkräfte bombardieren Ägypten.«Losonczy rief aus: »Hol sie der Teufel!«Nagy blickte auf se<strong>in</strong>e große Schaffhausener Armbanduhr und lächeltegequält:»Mikojan erwartet uns«, sagte er. »Gehen wir!«In Wash<strong>in</strong>gton griff Foster Dulles zum Telephon, um Eisenhower vonden erschreckenden Ereignissen im Nahen Osten zu <strong>in</strong>formieren: Diebritischen und französischen Luftstreitkräfte hatten Ägypten – nichtjedoch Israel – angegriffen, um ihrem Ultimatum Nachdruck zu verleihen.Eisenhowers Stimme klang nach dem E<strong>in</strong>druck von Dulles bedrückt. E<strong>in</strong>Augenzeuge erlebte, wie John Foster Dulles, außer sich geraten, <strong>in</strong> se<strong>in</strong>enAmtsräumen im Außenm<strong>in</strong>isterium <strong>in</strong> Wash<strong>in</strong>gton erregt auf und ab liefund stöhnte: »Das muß man sich e<strong>in</strong>mal vorstellen! Daß die Menschen <strong>in</strong>diesen Tagen und <strong>in</strong> dieser Zeit so etwas tun können!«ËÊDie ganze Welt stellte sich h<strong>in</strong>ter Amerika <strong>in</strong> der Verurteilung derbritisch-französischen Aktion. Im UN-Gebäude beglückwünschte jedermann,vom Kellner bis zum Liftboy, den amerikanischen BotschafterCabot Lodge. Lodge rief Ike an, um ihn aufzumuntern: »UN-GeneralsekretärHammarskjöld hat mir e<strong>in</strong>e Note überreicht: ›Dies ist e<strong>in</strong>er derschwärzesten Tage der Nachkriegszeit. Gott sei Dank, daß Sie sich soverhalten haben. Dies wird Ihnen viele Freunde machen.‹ «Aus den Akten von John Foster Dulles geht die Entrüstung se<strong>in</strong>erPolitikerkollegen hervor. Vizepräsident Richard Nixon rief um 8.30 Uhraus Detroit an und sprach sich für e<strong>in</strong> Vorgehen gegen die Briten undFranzosen aus. Dulles vertraute ihm se<strong>in</strong>e Überzeugung an, daß Israel»ausgenutzt« worden sei. Aber er fügte h<strong>in</strong>zu: »Wir werdenwahrsche<strong>in</strong>lich unsere wichtigsten wirtschaftlichen Hilfspläne für Israelaussetzen müssen.« Nixon warnte: »Dann verlieren Sie jüdischeStimmen.« Dulles erklärte Nixon: »Nur zwei D<strong>in</strong>ge s<strong>in</strong>d wichtig vomStandpunkt der Geschichte aus: dies ist der Anfang des Zusammenbruchs587


des sowjetischen Imperiums. Die Idee, daß wir uns von Großbritannienund Frankreich bei überholten politischen Methoden mitschleifen lassen,ist überholt. Dies ist e<strong>in</strong>e Unabhängigkeitserklärung – sie können nichtmehr damit rechnen, uns für e<strong>in</strong>e Politik dieser Art <strong>in</strong> Anspruch zunehmen.«Angesichts der Vorgänge am Suez wurde die Strategie gegenüber<strong>Ungarn</strong> auf Eis gelegt. Bis zur nächsten Sitzung des Nationalen Sicherheitsratsam ersten November konnte ohnedies nichts Entscheidendesunternommen werden. Seit neun Jahren war dies das höchste Entscheidungsgremium:An den Sitzungen nahmen Eisenhower, Nixon, die AußenundVerteidigungsm<strong>in</strong>ister sowie die Chefs der amerikanischen Generalstäbeteil.Se<strong>in</strong>e Archive waren voller politischer Direktiven, um jedem unvorhergesehenenEreignis wirksam begegnen zu können. Osteuropa hatte bisvor kurzem unter der strengen Geheimdirektive NSC 5608 gestanden.ËÁAber angesichts der Ereignisse <strong>in</strong> Polen und <strong>Ungarn</strong> war diese Direktivevon der Planungsgruppe revidiert worden, und die neue Direktive NCS5616 sollte erst auf der Sitzung am 1. September beraten werden. Siewurde zunächst den Generalstabschefs zur Stellungnahme zugeleitet.Diese wiederum übergaben sie ihrem »Jo<strong>in</strong>t Strategic Survey Committee«,um sie vom militärischen Standpunkt aus zu begutachten.ËË Die Geheimhaltungdieser Direktive war noch nicht völlig aufgehoben, aber dieStellungnahme der JCS, die dem Verteidigungsm<strong>in</strong>ister nach der Sitzungdes JCS am 31. Oktober zug<strong>in</strong>g, ließ erkennen, daß es um e<strong>in</strong>enumstrittenen »Abrüstungsvorschlag« und bestimmte »Zusicherungen«geht (die offensichtlich sogar über das h<strong>in</strong>ausgehen, was MarschallSchukow im Auftrage Eisenhowers zugesichert worden war, wonach dieUSA nicht an den Satelliten als mögliche Verbündete <strong>in</strong>teressiert seien).Auf jeden Fall wurden diese »Zusicherungen« beanstandet, weil sie »dazuführen könnten, daß jeglicher E<strong>in</strong>fluß der Vere<strong>in</strong>igten Staaten auf dieRegierung, die <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> gebildet wurde, untergraben werde, <strong>in</strong> Zukunftkönnten uns diese militärischen ›Zusicherungen‹ Nachteile br<strong>in</strong>gen«.Der Entwurf des Nationalen Sicherheitsrats enthielt auch Vorschläge588


für die Reduzierung von US-Streitkräften – offensichtlich e<strong>in</strong> weitererVersuch, sowjetische Befürchtungen zu zerstreuen, die Generalstabschefswiesen jedoch darauf h<strong>in</strong>, daß der Kreml schon seit langem versucht habe,die USA zum völligen Abzug ihrer Truppen aus Europa zu veranlassen.Als Gegenleistung machte der Kreml trügerische Versprechungen übersowjetische Truppenreduzierungen. »E<strong>in</strong> solcher Schritt würde denhöchsten Interessen der Vere<strong>in</strong>igten Staaten und ihrer europäischenVerbündeten schaden«, warnten die Generalstabschefs am 31. Oktoberden Verteidigungsm<strong>in</strong>ister. »Darüber h<strong>in</strong>aus könnte er angesichts derungewissen Entwicklung, die sich jetzt <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> abzeichnet, dazu führen,daß lokale Ereignisse den Rückzug der sowjetischen Streitkräfte ausdiesem Land erzw<strong>in</strong>gen, ohne daß die Vere<strong>in</strong>igten Staaten <strong>in</strong> dieseAngelegenheit verwickelt werden.« Dies war auch die Hoffnung vonDulles – <strong>in</strong> Budapest sollte M<strong>in</strong>isterpräsident Imre Nagy die Russen dazubr<strong>in</strong>gen, ihre Truppen abzuziehen.Am meisten beschäftigt Dulles jetzt die Suez-Krise. Am 31. Oktoberum 16 Uhr wird er von Bill Jackson von der CIA angerufen: »Ichbeschäftige mich gerade mit der Tagesordnung für die morgige Sitzungdes Nationalen Sicherheitsrats – es wird e<strong>in</strong>en Bericht des Geheimdienstsund die Unterlagen über die Satelliten geben. Wollen Sie über Suezberichten?« Dulles erwidert lediglich: »Ja.«Um 8.30 Uhr am nächsten Morgen telephoniert Dulles mit Eisenhowerwegen der Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates und er<strong>in</strong>nert ihn: »Derwichtigste Teil der Diskussion wird der über die Satellitenstaaten se<strong>in</strong>.«Eisenhower ist damit nicht e<strong>in</strong>verstanden. Se<strong>in</strong>e Sekretär<strong>in</strong>, Ann Whitman,hört das Gespräch <strong>in</strong> ihrem Büro ab und notiert: »Es wurdebeschlossen, soweit ich es mitbekommen habe, daß die Diskussion überdie Satelliten nur kurz se<strong>in</strong> sollte und daß sich die Debatte vor allem aufdas Thema Ägypten gegen Israel, Frankreich und Großbritannien konzentrierensolle.«Es kam schließlich, wie es kommen mußte. Suez verdrängte <strong>Ungarn</strong>von der Tagesordnung des NSC, als dieser am 1. November im WeißenHaus zusammentrat. Eisenhower wurde zwar vom CIA-Direktor ebenso589


wie über den Nahen Osten auch über die Vorgänge <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> und Polen<strong>in</strong>formiert. Aber tatsächlich beraten wurde nur über Suez, während dieBehandlung des Themas <strong>Ungarn</strong> – Direktive NSC 5616 – auf geme<strong>in</strong>samenBeschluß »bis zur nächsten Sitzung« vertagt wurde.ËÈ Über <strong>Ungarn</strong>sollte vom Nationalen Sicherheitsrat erst wieder am 15. November beratenwerden.ËÍAnschließend unterhielt sich Dulles privat mit Eisenhower.ËÎ Eisenhowerer<strong>in</strong>nerte ihn daran, daß er am vorhergehenden späten Abend gesagthabe, er wolle den Suez-Krieg so schnell wie möglich zu e<strong>in</strong>em Endebr<strong>in</strong>gen. Das bedeutete Schritte der Vere<strong>in</strong>ten Nationen gegen die Britenund Franzosen. Für 17 Uhr desselben Tages, am 1. November, wurde e<strong>in</strong>eDr<strong>in</strong>glichkeitssitzung der Vollversammlung anberaumt. Eisenhower batFoster Dulles dr<strong>in</strong>gend, persönlich nach New York zu gehen, um dieEntschließung, <strong>in</strong> der e<strong>in</strong> Waffenstillstand gefordert werden sollte, derVollversammlung vorzulegen. CIA-Direktor Allen Dulles berichtetespäter: »Ich glaube, es war e<strong>in</strong>e der schwierigsten Entscheidungen, vor derme<strong>in</strong> Bruder stand – und ich weiß, er war entsetzt darüber, daß er zu denVere<strong>in</strong>ten Nationen gehen sollte, um die Briten und Franzosen praktischzum Rückzug aufzufordern.«ËÏIn Moskau liegen die Prioritäten genau umgekehrt. <strong>Ungarn</strong> nimmte<strong>in</strong>en großen Teil der Beratungen des Präsidiums des ZK e<strong>in</strong>. Kaum hatRadio Moskau am späten 30. Oktober die Erklärung des Kreml über se<strong>in</strong>eBeziehung zu den Satellitenstaaten verbreitet, als die Nachricht vombritischen und französischen Ultimatum an Ägypten bekannt wird. DieNeuigkeit ruft e<strong>in</strong> lebhaftes Gemurmel im Präsidium hervor. Drei Tagespäter erklärte Nikita S. Chruschtschow e<strong>in</strong>em Diplomaten – der es <strong>in</strong>se<strong>in</strong>em Tagebuch notiertËÌ –, daß dies zu e<strong>in</strong>er, wie er es nannte –»günstigen Situation« für die sowjetische Intervention <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> geführthabe.Chruschtschow steht vor e<strong>in</strong>er historischen Entscheidung. Er kannweder e<strong>in</strong>e NATO-Präsenz <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> zulassen, noch kann er se<strong>in</strong>e Maßnahmenzu lange h<strong>in</strong>auszögern. Schließlich kann jeden Augenblick e<strong>in</strong>590


Pogrom die übriggebliebenen, Funktionäre im Lande liquidieren. Er kannjeden Augenblick se<strong>in</strong>e Truppen <strong>in</strong> die ungarische Hauptstadt zurückschickenund den <strong>Aufstand</strong> brutal niederschlagen, vor allem, wenn NagysSicherheitskräfte erst e<strong>in</strong>mal die Freiheitskämpfer geschwächt und entwaffnethaben. Aber die Ch<strong>in</strong>esen sprechen sich gegen e<strong>in</strong>e Rückkehr aus.Mao Tse-tung hat e<strong>in</strong>e Delegation geschickt, die das Problem mit denrussischen Gegenspielern diskutiert. Sie wird angeführt von Liu Shao-chi,e<strong>in</strong>em gewichtigen und weisen Mann. Chruschtschow konferiert mit denCh<strong>in</strong>esen <strong>in</strong> Lipky, auf e<strong>in</strong>er Datscha, die e<strong>in</strong>st Stal<strong>in</strong> gehörte. Siediskutieren die ganze Nacht, und der Ch<strong>in</strong>ese rät: »Sie sollten aus <strong>Ungarn</strong>h<strong>in</strong>ausgehen und es der Arbeiterklasse überlassen, es wiederaufzubauenund mit der Konterrevolution fertig zu werden.«Zuerst ist Chruschtschow e<strong>in</strong>verstanden, aber dann wendet jemand e<strong>in</strong>,daß die Arbeiter das neue <strong>Ungarn</strong> möglicher-weise schätzen lernenkönnen, besonders die anfälligen jungen <strong>Ungarn</strong>. Er wechselt mehrmalsse<strong>in</strong>e Me<strong>in</strong>ung, und jedesmal eilt Liu zum Telephon, um Mao zukonsultieren. Bedenken, daß es bereits mitten <strong>in</strong> der Nacht sei, wischt erbeiseite: »Mao ist wie e<strong>in</strong>e Eule, er arbeitet die ganze Nacht«, sagt derCh<strong>in</strong>ese. Es ist fast Morgen, als die Beratungen zu Ende gehen, und dieEntscheidung ist gefallen – gegen die Anwendung von Gewalt.Im Laufe des Tages f<strong>in</strong>det e<strong>in</strong>e Sitzung des Präsidiums des ZK statt,und Chruschtschow berichtet über die Beratungen. Aber er fügt h<strong>in</strong>zu, daßer die Entscheidung noch e<strong>in</strong>mal überschlafen habe und sie zu unsicherf<strong>in</strong>de. In düsteren Farben malt er gegenüber se<strong>in</strong>en Kollegen e<strong>in</strong> Bild,»was geschehen mag, wenn wir der ungarischen Arbeiterklasse nicht dieHand zur Hilfe reichen« – womit er die Partei me<strong>in</strong>t –, »bevor die konterrevolutionärenElemente ihre Reihen geschlossen haben«.Die Debatte dauert Stunden. Inzwischen kommen die Nachrichtenvom britisch-französischen Angriff auf Ägypten. Schließlich stimmt dasPräsidium mit Chruschtschow dar<strong>in</strong> Übere<strong>in</strong>, daß man sich nicht weigernkönne, den ungarischen Genossen zu helfen. Man fragt Marschall Konjew,den Oberkommandierenden der Warschauer-Pakt-Truppen: »Wie langewird es dauern, <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> die Ordnung wiederherzustellen und die591


konterrevolutionären Kräfte zu schlagen?«Konjew denkt nach und erwidert: »Drei Tage, nicht mehr.«Zu diesem Zeitpunkt bef<strong>in</strong>det sich Liu zusammen mit se<strong>in</strong>erDelegation bereits auf dem Moskauer Flughafen. Das gesamte Präsidiumdes Obersten Sowjets – zehn der bekanntesten Namen der Sowjetunion –eilt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Autokonvoi dorth<strong>in</strong>, um den Ch<strong>in</strong>esen die neue Entscheidungmitzuteilen.Liu bemerkt lediglich: »Ich glaube, Genosse Mao wird dieseEntscheidung billigen.«Ahnungslos, was die nächste Zukunft ihnen br<strong>in</strong>gen würde,marschierten die <strong>Ungarn</strong> entschlossen <strong>in</strong> die Vergangenheit zurück. GroßeMenschenmengen versammelten sich am Schloßhügel <strong>in</strong> der Hoffnung,ihren befreiten Kard<strong>in</strong>al und Fürstprimas M<strong>in</strong>dszenty zu sehen. Niemals,seit SS-Fallschirmjäger 1943 Benito Mussol<strong>in</strong>i aus se<strong>in</strong>em Berggefängnisgeholt hatten, hatte die Befreiung e<strong>in</strong>es Menschen die Nachrichtenredakteure<strong>in</strong> solche Aufregung versetzt. Um 13 Uhr kabelte Daily Mailihrem Budapester Korrespondeten Jeffrey Blyth: »Sie machen Ihre Sachegut und stehen ganz oben, trotz anderer Ereignisse. M<strong>in</strong>dszentys Rückkehrjetzt auf der ersten Seite, und (wir) wissen, daß Sie alles tun werden, ume<strong>in</strong> Interview zu bekommen. Agenturen melden, daß er möglicherweiseaufgefordert wird, <strong>in</strong> die Regierung e<strong>in</strong>zutreten.«Italienische Zeitungsreporter waren bereits zum Kard<strong>in</strong>al vorgedrungen.Alberto Cavallari, der mittags zusammen mit dem italienischenGesandten se<strong>in</strong>e Aufwartung machte, fand die Residenz <strong>in</strong> e<strong>in</strong>emBlumenmeer und von zwei ungarischen Panzern bewacht. Vom Balkonwehte die blau-weiße Fahne des Primas. Sie überquerten e<strong>in</strong>en Innenhofdes von Bomben beschädigten Palastes und stiegen die düstere Treppe zue<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>en Appartement h<strong>in</strong>auf, wo e<strong>in</strong> Panzeroffizier mit e<strong>in</strong>erMasch<strong>in</strong>enpistole <strong>in</strong> der Ecke stand. Der Kard<strong>in</strong>al befand sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>emkle<strong>in</strong>en, niedrigen Zimmer, das voll von Priestern war. Die e<strong>in</strong>zige Uhr <strong>in</strong>diesem Zimmer war am 26. Dezember um 9.40 Uhr angehalten worden,dem Tag, an dem er vor acht Jahren verhaftet worden war. Der italienische592


Gesandte Fabrizio Franco bemerkte: »Em<strong>in</strong>enz müssen sehr müde se<strong>in</strong>.«M<strong>in</strong>dszenty w<strong>in</strong>kte ab. »Ne<strong>in</strong>, ich habe mich acht Jahre lang ausgeruht.«Herzlich drückte er Cavallaris Hand – der Journalist spürte, daß sie vorErregung bebte. »Wir können am Freitag weiterreden, nachdem icherfahren habe, was <strong>in</strong> der Welt geschehen ist, während ich weg war.«Als die Italiener auf dem Heimweg die Kettenbrücke passierten, wares 13 Uhr. Man hörte noch gelegentliches Gewehrfeuer. E<strong>in</strong>e großeMenschenmenge drängte sich vor dem Innenm<strong>in</strong>isterium – um dasGebäude zu plündern – und verfolgte den Abzug der letzten Panzer. DerWagen der Italiener fuhr h<strong>in</strong>ter e<strong>in</strong>em Lkw mit Aufständischen, der dieNachhut e<strong>in</strong>er russischen Panzerkolonne bildete und sie bis zum Heldenplatzbegleitete. Ganze Familien säumten die Straßen, um e<strong>in</strong>en letztenBlick auf diese unwillkommenen Gäste zu werfen, die ihr Land zwölfJahre lang ertragen mußte.Nicht alle E<strong>in</strong>wohner waren begeistert, die Sowjettruppen abziehen zusehen. Imre Nagys Mitarbeiter ergriff e<strong>in</strong> Gefühl der Panik – sie hattenAngst vor dem Mob. An diesem Tage mußte Nagy se<strong>in</strong>e verängstigte,erschöpfte Sekretär<strong>in</strong>, Frau Balogh, mehrfach zur Ordnung rufen. Sieschluchzte: »Aber ich habe uniformierte Männer gesehen, die gelynchtworden s<strong>in</strong>d!«Ungerührt erwiderte Imre Nagy: »Ke<strong>in</strong>e Panik, Frau!«ËÓUm 17 Uhr verkündete der Rundfunk, daß der M<strong>in</strong>isterrat Király zumMilitärkommandeur von Budapest ernannt habe und daß General LajosTóth, e<strong>in</strong>er der höchsten Offiziere der Armee, entlassen worden sei. Anse<strong>in</strong>e Stelle sei Oberst Maléter getreten, der auch Tóths Posten als ersterstellvertretender Verteidigungsm<strong>in</strong>ister übernehmen werde: Der dickeGeneralmajor István Kovács würde Tóths anderes Amt als Chef desGeneralstabs übernehmen. In der Radiomeldung hieß es: »Um Mißverständnissezu vermeiden, weisen wir darauf h<strong>in</strong>, daß dies nicht derselbeIstván Kovács ist . . . wie der bekannte frühere Erste Sekretär des BudapesterZentralkomitees der KP.«Im Verlagsgebäude der Zeitung Freies Volk stand die nächste Ausgabe593


von József Dudás’ Unabhängigkeit vor der Fertigstellung. Sie enthielt e<strong>in</strong>eunheimliche, wahrheitswidrige und blutdürstige Darstellung der gestrigenSchlacht am Republikplatz.ËÔ (»E<strong>in</strong> ÁVH-General kam herausgerannt undhielt e<strong>in</strong> blondes, vierjähriges K<strong>in</strong>d vor sich wie e<strong>in</strong> Schild, um se<strong>in</strong>eeigene Haut zu retten. Aber er konnte se<strong>in</strong> Leben nicht retten. Das Volkfällte das Urteil über ihn, se<strong>in</strong>e aufgedunsene Leiche wurde an den Füßenan e<strong>in</strong>em Baum aufgehängt und mit Blut beschmiert, als e<strong>in</strong>e Warnungund als schreiender Beweis se<strong>in</strong>er Schuld.«)Die Menge begann, systematisch alle sowjetischen Denkmäler e<strong>in</strong>schließlichdes riesigen Siegesmales auf dem Gellért-Hügel zu zerstören.Ungesetzliche Erschießungen dauerten den ganzen Tag an, währendrevolutionäre Horden ihre Opfer aufstöberten.ÈÊ E<strong>in</strong>e Orgie von Mordenund Zerstörungen nahm ihren Anfang. Um 15 Uhr empfahl SpencerBarnes Wash<strong>in</strong>gton, die westliche Presse täte gut daran, ke<strong>in</strong>e »Greuelgeschichtenzu br<strong>in</strong>gen«. Er hatte das dunkle Gefühl, daß h<strong>in</strong>ter diesenschlimmen Szenen e<strong>in</strong>e geheime Strategie stand.KP-Sekretär János Kádár mußte mitansehen, wie das Nagy-Regimeimmer weiter nach rechts schlitterte. E<strong>in</strong>ige Wochen später erklärte er:»Durch se<strong>in</strong>e Unfähigkeit und Passivität unter dem Ansturm der Konterrevolutiondeckte und schützte er praktisch den mörderischen konterrevolutionärenweißen Terror . . . Wenn er machtlos war, hätte erzurücktreten und dem Lande und der ganzen Welt erklären müssen, daßKonterrevolutionäre die Kommunisten und andere progressive Patrioten,Arbeiter und Mitglieder der Intelligenz <strong>in</strong> den Straßen von Budapestumbrachten.«ÈÁNach Gesprächen mit Mikojan und dem angesehenen ParteiphilosophenGyörgy Lukács <strong>in</strong> der Akadémia utca über die Erneuerungder Kommunistischen Partei unter e<strong>in</strong>em anderen Namen, begann Kádárum Unterstützung zu werben. Er wies Mikojan warnend darauf h<strong>in</strong>, daßdie alte ungarische Partei der Werktätigen hoffnungslos im revolutionärenMorast zu vers<strong>in</strong>ken drohe. Mikojan riet ihm, alles daranzusetzen, diePartei gründlich zu reformieren, notfalls <strong>in</strong> der Opposition. Kádár wandtesich an den Polizeipräsidenten Oberst Kopácsi und erklärte ihm: »Wir594


eformieren unsere Partei – Kopácsi – als Ungarische SozialistischeArbeiterpartei. Wir s<strong>in</strong>d gerade dabei, e<strong>in</strong> provisorisches Politbürozusammenzustellen mit Genosse Nagy, mir, Losonczy, György LukácsDonáth und Szántó – alles Leute, die unter Rákosi verfolgt wurden. Wirmöchten Sie auch dabeihaben, denn die öffentliche Me<strong>in</strong>ung hat Sie,Kopácsi ausgewählt.«An diesem Abend rief Lukács Gyula Háy an: »Gruß von Kádár«, sagteer. »Er lädt dich, Tibor Déry und mich sowie e<strong>in</strong> oder zwei andereSchriftsteller e<strong>in</strong>, dem Vorbereitungskomitee für die neue Partei beizutreten.«Háy dachte darüber nach, lehnte dann aber ab. Ke<strong>in</strong>er dere<strong>in</strong>geladenen Schriftsteller machte mit. Von dem siebenköpfigen Vorbereitungskomitee,das Kádár am nächsten Tage bekanntgab, kam nur erselbst ungeschoren davon. E<strong>in</strong>er wurde gehenkt, e<strong>in</strong>er wurde imGefängnis umgebracht, die anderen vier wurden von Kádárs Richtern <strong>in</strong>sGefängnis geworfen.Was war geschehen, daß Kádár so umschwenkte? Hatte er heimliche<strong>in</strong>en W<strong>in</strong>k über den Stimmungsumschwung im Kreml bekommen?An diesem Tage sprach der jugoslawische Botschafter DaliborSoldatic e<strong>in</strong>e halbe Stunde mit Nagy. Sie unterhielten sich <strong>in</strong> deutscherSprache. Soldatic war e<strong>in</strong> typischer Dalmat<strong>in</strong>er, liebenswürdig, gutaussehendund elegant. Wahrsche<strong>in</strong>lich drängte er Nagy erneut, härter sowohlgegen die Russen als auch gegen die Aufständischen vorzugehen.Nachdem er gegangen war, begab sich Imre Nagy zusammen mit Kádár zue<strong>in</strong>er abschließenden Konferenz mit Mikojan und Suslow <strong>in</strong> die Akadémiautca, bevor die sowjetischen Emissäre nach Moskau zurückkehrten.Das Gebäude des Zentralkomitees war bereits unter Kontrolle derNationalgarde. Im Vorraum wartete e<strong>in</strong>e Anzahl Männer mit ausdruckslosenGesichtern, <strong>in</strong> dunklen Übermänteln und russischen Mützen, unterden hohen Marmorsäulen auf die Rückkehr von Mikojan und Suslow.Nagy sprach die beiden auf die umstrittenen Truppenbewegungen an.Nachher versicherte er se<strong>in</strong>em Kab<strong>in</strong>ett, daß die Russen sie alsRout<strong>in</strong>eangelegenheit bezeichnet und ihre Bereitschaft bestätigt hätten,595


mit Verhandlungen über die Revision des Warschauer Pakts zu beg<strong>in</strong>nen.Nagy bat sie, ihre Vertreter sowie Ort und Zeit für Verhandlungen überden sowjetischen Rückzug zu benennen.Nach e<strong>in</strong>er Weile kam Nagy aus Kádárs Zimmer. Auch Münnich, derf<strong>in</strong>stere Innenm<strong>in</strong>ister, war dabei und zeigte e<strong>in</strong> schmieriges Gr<strong>in</strong>sen.Anschließend tauchten Mikojan und Suslow auf. Beide Männer trugendunkelblaue Paletots. Auch Suslow gr<strong>in</strong>ste über das ganze Gesicht.E<strong>in</strong> Journalist von Oberszovskys revolutionärer Zeitung Wahrheit warune<strong>in</strong>geladen <strong>in</strong> das Gebäude e<strong>in</strong>gedrungen und hatte sich neben die Türgestellt. Die beiden Kremlherren schüttelten auch ihm die Hand, als sie zuihren wartenden Panzerwagen h<strong>in</strong>auseilten. (»Wir waren gleichberechtigtePartner« – schrieb der Reporter triumphierend –, »die ungarische Presseund die Vertreter der Sowjetregierung.«)ÈËDie Panzerkolonne rollte davon und brachte die Russen zum Flugplatz.Sie fuhren dabei denselben Weg, auf dem Rákosi im Juli und erstvor drei Tagen Gerö, Hegedüs und Piros Budapest verlassen hatten.Als Nagy <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Amtsräume im Parlament zurückkehrte, versammeltesich dort schon wieder e<strong>in</strong>e größere Menschenmenge. Die Leutewaren unfreundlich, auf ihren Gesichtern stand blankes Mißtrauen. JeffreyBlyth schrieb <strong>in</strong> der Daily Mail, e<strong>in</strong>ige Leute hätten gerufen: »Weg mitder Regierung von Mördern!« Nagy erkannte, daß es e<strong>in</strong> großer Fehlergewesen war, der Öffentlichkeit nicht klarzumachen, daß er an derIntervention der russischen Panzer schuldlos war. Jetzt begann er, offenanzudeuten, daß er getäuscht worden sei. Blyth schrieb: »Am 29. Oktobermachte er Gerö und Hegedüs dafür verantwortlich und schilderte, wie sieversucht hatten, ihn zur Unterzeichnung e<strong>in</strong>es Papiers zu veranlassen, <strong>in</strong>dem er die Schuld auf sich nehmen sollte.«ÈÈ Am 31. Oktober wurde <strong>in</strong>Flugblättern des revolutionären Studentenkomitees e<strong>in</strong>e gespenstischeVersion verbreitet: »Es ist offensichtlich, daß Imre Nagy zwei TageGefangener der ÁVH war und daß er se<strong>in</strong>e erste Rundfunkansprache mite<strong>in</strong>er Masch<strong>in</strong>enpistole im Rücken gehalten hat.« Ke<strong>in</strong> Wunder, daßNagys Rundfunk diese völlig falsche, aber willkommene Darstellung596


verbreitete.«ÈÍ In e<strong>in</strong>em Zeitungs<strong>in</strong>terview wiederholte Oberst Kopácsi dieVersion, daß Nagy zur Zeit der Entscheidung, die Russen herbeizurufen,Gefangener der ÁVH gewesen sei.ÈÎBald darauf sprach Imre Nagy wiederum zur Bevölkerung. Dieses Malg<strong>in</strong>g er direkt auf die Straße. Und dieses Mal hatte er e<strong>in</strong>e sensationelleneue Kab<strong>in</strong>ettsentscheidung mitzuteilen. Er g<strong>in</strong>g auf den Parlamentsplatz,stieg die Stufen zu dem rosa Granitdenkmal von Lajos Kossuth h<strong>in</strong>auf,blätterte <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Manuskript, nahm e<strong>in</strong>e Rednerhaltung e<strong>in</strong> –verschluckte das Wort »Genossen«, das ihm so leicht von den Lippen g<strong>in</strong>g– und begann: »Ungarische Brüder!« Dann fuhr er fort: »Aus vollemHerzen spreche ich noch e<strong>in</strong>mal zu euch!« Er schilderte die dramatischenEreignisse der vergangenen Woche, sprach von der neuen Souveränitätund Unabhängigkeit des Landes und wie er die Rákosi-Gerö-Bandevertrieben habe. Dann beklagte er sich: »Sie haben versucht, auch mich <strong>in</strong>den Schmutz zu ziehen. Sie verbreiteten die Lüge, ich sei es gewesen, derdie Sowjettruppen herbeigerufen habe . . . Imre Nagy, der für,dieungarische Souveränität, die ungarische Freiheit und die ungarischeUnabhängigkeit gekämpft hat, hat diese Truppen nicht gerufen. ImGegenteil, er war es, der für ihren Abzug gekämpft hat.«Und dann teilte er se<strong>in</strong>en Zuhörern die sensationelle Nachricht mit.»Heute haben wir mit den Verhandlungen über den Abzug der Sowjettruppenaus unserem Land und über die Aufhebung der uns imWarschauer Pakt auferlegten Verpflichtungen begonnen.«»Habt Geduld! Habt Vertrauen zu Imre Nagy! Verhandlungen habenbegonnen!« Das war se<strong>in</strong>e Botschaft, als er wieder herunterstieg im Innerndes Parlamentsgebäudes verschwand und e<strong>in</strong>e Menschenmenge zurückließ,die, nach Aussage e<strong>in</strong>es Rundfunkreporters, ihrer Kritik überMünnich als Innenm<strong>in</strong>ister lautstark Ausdruck gab.ÈÏDie Rundfunksendungen riefen den E<strong>in</strong>druck hervor, daß Nagytatsächlich erklärt habe, <strong>Ungarn</strong> würde den Warschauer Pakt verlassen. Erselbst war <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Worten bedeutend vorsichtiger. In e<strong>in</strong>em Interviewfür das österreichische Fernsehen wurde er <strong>in</strong> deutscher Sprache gefragt:597


»Wie steht es jetzt mit dem Warschauer Pakt? Gehört <strong>Ungarn</strong> ihm an odernicht?« Wahrheitsgemäß antwortete Nagy: »Vorläufig s<strong>in</strong>d wir dr<strong>in</strong>.« Alsder Interviewer nachhakte: »Wollen Sie aus dem Warschauer Pakt austreten,wenn das ungarische Volk dies wünscht?« antwortete er lediglich:»Wir haben heute mit den Verhandlungen begonnen . . . «Auch als er am selben Nachmittag von vier Journalisten – e<strong>in</strong>emEngländer, e<strong>in</strong>em Italiener, e<strong>in</strong>em Holländer und e<strong>in</strong>em AmerikanerÈÌ –<strong>in</strong>terviewt wurde, war er nicht präziser. Nagy er-widerte: »Der Austritt ausdem Warschauer Pakt hängt nicht von uns alle<strong>in</strong> ab, wir müssen auch mitden anderen Mitgliedern verhandeln. Wir haben mit den Gesprächenbegonnen und hoffen auf e<strong>in</strong>en befriedigenden Ausgang.«»Verlassen die Russen <strong>Ungarn</strong>?«»Verhandlungen haben bereits begonnen. Zur Zeit kehren dieTruppen, die Budapest verlassen, zu ihren Basen <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> zurück, unddie aus Rumänien gekommenen Truppen kehren dorth<strong>in</strong> zurück.«»Hat Ihre Regierung provisorischen Charakter?«»Die gegenwärtige Regierung ist e<strong>in</strong>deutig nicht provisorisch. Siewird alles tun, um e<strong>in</strong>e wirkliche Demokratie zu schaffen, und bereitetfreie, geheime Wahlen vor. Es muß nicht unbed<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong>e Demokratie nachwestlichem Vorbild se<strong>in</strong>. Es ist möglich, daß wir hier <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> <strong>in</strong> derLage s<strong>in</strong>d, e<strong>in</strong>e Regierung zu bilden, die ke<strong>in</strong>e Opposition benötigt (dasheißt e<strong>in</strong>e Allparteien-Koalition) . . . Was wir wollen, ist e<strong>in</strong>e ungarischeDemokratie.«»Werden die kommunistischen Verbrecher bestraft werden?«»Die Schuld der ÁVH ist e<strong>in</strong>e Kollektivschuld. Wir haben nicht dieAbsicht, die Verbrecher etwa nicht zu bestrafen. Alle Dienstgrade, die derÁVH angehörten, s<strong>in</strong>d Verbrecher aufgrund der Tatsache, daß siedazugehört haben . . . «»Wer hat um Intervention der Sowjettruppen gebeten?«»Das ungarische Volk weiß das nicht, und so versuchte man, denVerdacht auf mich abzuwälzen. Aber ich war es nicht. Ich war gar nicht <strong>in</strong>der Regierung, als die E<strong>in</strong>ladung an die Russen erg<strong>in</strong>g zu <strong>in</strong>tervenieren.«»War es Gerö?«598


»Ich weiß es nicht.«Chruschtschow hat se<strong>in</strong>e Me<strong>in</strong>ung geändert. Der Me<strong>in</strong>ungsumschwungist vom Echo, das er hervorruft, abzulesen. In Polen beziehtGomulka bereits gegen den <strong>Aufstand</strong> Stellung. Noch vor zwei Tagen hatteer die revolutionären Forderungen für den sowjetischen Rückzug aus<strong>Ungarn</strong> unterstützt. Aber am 31. Oktober bes<strong>in</strong>nt er sich e<strong>in</strong>es Besseren:Die Polen könnten ja immerh<strong>in</strong> versuchen, ihrem ungarischen Nachbarnnachzueifern. Wenige Tage später erklärt er vor 2000 Parteiaktivisten: »Esist ke<strong>in</strong> Zweifel, daß die Wiederherstellung des kapitalistischen Systems<strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> das sozialistische Lager erheblich geschwächt hätte. Niemandwünscht e<strong>in</strong>e solche Schwächung . . . Jeder von uns muß politischerRealist se<strong>in</strong>.«ÈÓInsgeheim schickt er den stellvertretenden Verteidigungsm<strong>in</strong>isterMarian Naszkowski und das Mitglied des Zentralkomitees Artur Starewicnach Budapest, um mit dem sowjetischen M<strong>in</strong>ister Mikojan zu konferieren.ÈÔDer amerikanische Botschafter <strong>in</strong> Warschau, der von diesemBesuch hört, vermutet später: »Es ist denkbar, daß bei diesem Treffen, andem auch Vertreter der kommunistischen Parteien anderer Länderteilgenommen haben könnten, die Empfehlung gemacht oder der Beschlußgefaßt wurde, der schließlich dazu führte, sowjetische oder Satellitenstreitkräftenach <strong>Ungarn</strong> zu br<strong>in</strong>gen.« Am 31. Oktober begannen diepolnischen Zeitungen gegen die »konterrevolutionären Kräfte« <strong>in</strong>Budapest zu wettern.An diesem Abend druckt die Prawda ihren letzten nachsichtigenBericht über die Ereignisse <strong>in</strong> Budapest. Am späten Abend s<strong>in</strong>d Mikojanund Suslow wieder <strong>in</strong> Moskau und berichten über die schlimme Entwicklung:das Entstehen der neuen Parteien <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong>, die Gefahr freierWahlen, der Zusammenbruch des kommunistischen Parteiapparats, dieLynchjustiz auf dem Republikplatz.Chruschtschow macht e<strong>in</strong>e Rundreise durch die Hauptstädte derSatelliten. E<strong>in</strong> Besuch Ost-Berl<strong>in</strong>s ist nicht nötig – Walter Ulbricht ist derschärfste Stal<strong>in</strong>ist unter se<strong>in</strong>en Vizekönigen. Am 1. November fliegt er599


zusammen mit Molotow und Malenkow nach Brest Litowsk, um mit denpolnischen Führern Gomulka, Cyrankiewicz und Ochab zusammenzutreffen.Die Polen versuchen vergeblich, e<strong>in</strong>en Kuhhandel über dieRückkehr von Lwow an Polen <strong>in</strong> Gang zu setzen, schwenken aberschließlich auf die sowjetische L<strong>in</strong>ie e<strong>in</strong>. Dann fliegen Chruschtschow undMalenkow weiter nach Bukarest, um Gheorghiu-Dej von ihrer Entscheidungzu unterrichten; die Rumänen bieten bereitwillig Truppengegen ihre verhaßten Nachbarn an – e<strong>in</strong> Angebot, das Chruschtschowzurückweist. Die tschechoslowakischen KP-Führer unter Führung vonAnton<strong>in</strong> Novotny treffen ebenfalls mit Chruschtschow zusammen, aberdas ist e<strong>in</strong>e re<strong>in</strong>e Formalität. Sie brauchen nicht überredet zu werden. VonBukarest fliegen die beiden Sowjetführer weiter nach Bulgarien. <strong>Ungarn</strong>hat, wie es sche<strong>in</strong>t, ke<strong>in</strong>e Freunde.E<strong>in</strong>e Rettungsaktion läuft an, aber sie gilt nicht Nagy.600


40Unabhängigkeits-ErklärungZUNÄCHST SAH das Ganze aus wie e<strong>in</strong> Sieg. An diesem ersten Tage imNovember 1956, e<strong>in</strong>em Donnerstag, schien die Sonne auf die Dome undTurmspitzen der Stadt nieder, während die Menschen die Trümmerwegräumten. Budapest, e<strong>in</strong>st königliche Residenz und eifersüchtigeSchwester Wiens, war zu e<strong>in</strong>em rauchgeschwärzten Trümmerhaufen vonWohnblocks und zerstörten Geschäftsfassaden geworden. Zivilisten mitfarbigen Armb<strong>in</strong>den und die neuen Nationalgardisten regelten denVerkehr; die längste Busl<strong>in</strong>ie, Nr. 1, verkehrte wieder, und seit heute gabes auch wieder Fahrkarten zu kaufen. Aber es lag e<strong>in</strong>e Drohung <strong>in</strong> derLuft. Gerüchte vermehrten sich gleich Ratten, die auf dem herumliegendenMüll jagen. Vor den Postämtern bildeten sich Schlangen, dieLeute versuchten, ihre Ersparnisse abzuheben. An manchen Gebäudenkonnte man Parolen lesen: »Wir trauen Imre Nagy nicht!« – »Russen, gehtnach Hause!« und »Generalstreik, bis die Russen <strong>Ungarn</strong> verlassen!«Zeitungsreporter kontrollierten aufs Geratewohl Zufahrtsstraßen zurHauptstadt. Sie sahen sechs Lastwagen, die Mehl und Kartoffeln ausKaposvár transportierten und siebenundzwanzig Fahrzeuge, die Fleisch,lebendes Geflügel und Kartoffeln aus Györ brachten. E<strong>in</strong> Fahrer erzählte,er sei auf diese Weise sechs Tage lang zwischen Györ und Budapest h<strong>in</strong>undhergependelt. Zum erstenmal waren sich Industriearbeiter, Bauernund Intellektuelle <strong>in</strong> ihren Zielen e<strong>in</strong>ig – wie e<strong>in</strong> Müller erklärte, derMehltransporte aus Csongrád begleitete. Der Fahrer János Nagy aus601


Hatvan sagte, er arbeite täglich zwanzig Stunden, um Gemüse heranzuschaffen.Der Reporter e<strong>in</strong>er Rebellenzeitung sah lange Lastwagenkolonnendie schwerbeschädigte Üllöi út entlangfahren. An ihren Kühlernflatterte die Trikolore, und an den Seiten waren Transparente angebracht:Nahrungsmittel für Budapest von den Bürgern Szolnoks.ÁUm 8 Uhr ließ Géza Losonczy, Nagys treu ergebener Propagandam<strong>in</strong>ister,se<strong>in</strong>en Wagen kommen, um Miklós Vásárhelyi abzuholen.Vásárhelyi war die ganze Woche über zu Hause geblieben. Am Abendvorher hatte Losonczy ihn angerufen und ihm ganz e<strong>in</strong>fach erklärt: »DieLage ändert sich. Ich brauche dich als me<strong>in</strong>en Pressechef. Es ist de<strong>in</strong>ePflicht, mir zu helfen.« Vásárhelyi konnte nicht gut ablehnen – sie warenseit ihren geme<strong>in</strong>samen Studienjahren <strong>in</strong> Debrecen immer Freundegewesen. Zusammen fuhren sie zum Parlamentsgebäude jenseits desFlusses. Vásárhelyi wußte, daß e<strong>in</strong>e Katastrophe unvermeidlich war, aberer brachte es nicht über sich zu sagen: »Ich werde dir nicht helfen.«Man sah zwar nicht mehr so viele bewaffnete Aufständische, aber ihreZahl war immer noch beunruhigend hoch. Len Waernberg, Photograph derschwedischen Illustrierten Vecko Journalen, der an diesem Tag mit e<strong>in</strong>emLastwagen voller Rebellen aus Sopron ankam, schrieb <strong>in</strong> se<strong>in</strong> Tagebuch:»Wir wanderten durch Pest – sie mit ihren Gewehren und ich mit me<strong>in</strong>enKameras. Wir wollten gerade über die Brücke zur Margareten<strong>in</strong>selzurückkehren, als wir das Stapfen von Marschstiefeln auf dem Kai unteruns hörten, das genauso klang wie der Marschtritt der Nazis <strong>in</strong> Filmen.Wir lehnten uns über das Geländer und entdeckten zwei barhäuptigeMänner zwischen sechs Soldaten mit Masch<strong>in</strong>engewehren. Die beidenwurden an e<strong>in</strong>e Wand gestellt – e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zige Salve, und die verhaßtenÁVH-Männer fielen tot um.«ËImmer mehr Gefangene wurden <strong>in</strong> das alte Freies-Volk-Gebäudegesteckt, das Dudás dem Befehl von zwei ehemaligen Armeeleutnants,András Kovács und Ferenc Pálházy, unterstellt hatte; außerdem drängtenSich 200 se<strong>in</strong>er eigenen Leute <strong>in</strong> dem Gebäude. E<strong>in</strong>e Angestellte desbenachbarten Corv<strong>in</strong>-Kaufhauses hatte e<strong>in</strong>e Ause<strong>in</strong>andersetzung mit ihnen602


– aus ihrer späteren Aussage geht nicht her-vor, aus welchem Grund. Siewurde zum Verhör h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>gebracht: »András Kovács hatte die Aktiongeleitet . . . Gegen Abend waren wir zwölf Personen, darunter drei Frauen,mich e<strong>in</strong>geschlossen. Soviel ich beurteilen konnte, handelte es sich beiden festgenommenen Leuten um ÁVH-Funktionäre, aber auch umAngehörige des Heeres und der Polizei. In dem Zimmer befanden sichWachtposten mit Masch<strong>in</strong>engewehren und Handgranaten. Mehrmalskamen während des Verhörs Anführer der Bande here<strong>in</strong> und stelltenFragen. Unter ihnen waren e<strong>in</strong> ›Onkel Feri‹ (Pálházy) und e<strong>in</strong> jungerMann mit strohblondem Haar und Brille. Um 21 Uhr gab es e<strong>in</strong>en Tumult,alle waren auffallend nervös und erwarteten ihren Anführer József Dudás.Dudás trug schwarze Reithosen, hohe Schnürstiefel und e<strong>in</strong>e Ziviljacke.Er verhielt sich wie jemand, der den Ton angibt und den anderen Befehleerteilt.«ÈDer Leiter e<strong>in</strong>er Traktorenstation, der am 1. November gekommenwar, um e<strong>in</strong>en alten Schulkameraden, der zu Dudás Stab gehörte, zubesuchen, konnte e<strong>in</strong>en flüchtigen Blick auf die geheimen Landkarten imZeitungsgebäude werfen. Er entnahm den Karten, daß sich die Russen umBudapest neu gruppierten. Während er wartete, beobachtete er, wie ÁVH-Männer zum Verhör here<strong>in</strong>geführt wurden; sie erhielten dieselbeVerpflegung wie Dudás Leute.Dudás kam kurz, um e<strong>in</strong> Telephongespräch anzunehmen. Unwillig riefer <strong>in</strong> den Fernsprecher: »Ich habe jetzt ke<strong>in</strong>e Zeit, über Politik zusprechen!« Offenbar warb der Anrufer für irgende<strong>in</strong>e neue Partei. »Ne<strong>in</strong>,nicht, solange die Kämpfe noch andauern.« – »Ne<strong>in</strong>, dies ist nicht derpassende Augenblick.« – »Ich werde auch nicht über politische Parteiensprechen.« Se<strong>in</strong>e Stimme überschlug sich. »Dafür kämpfe ich nicht! DieSchlacht ist noch im Gange!« Wütend knallte er den Hörer auf.Als er aus Budapest wieder h<strong>in</strong>ausfuhr, beobachtete der Traktorenstationsleiter,daß der städtische Flughafen Ferihegy <strong>in</strong>zwischen vonsowjetischen Truppen umstellt war und zahllose sowjetische Fahrzeugedie Straße nach Cegléd verstopften.Í603


John MacCormac berichtete <strong>in</strong> der New York Times: »Nachdem dieRussen Budapest verlassen haben, sche<strong>in</strong>t niemand zu wissen, wer <strong>in</strong><strong>Ungarn</strong> regiert . . . Die Kommunistische Partei selbst wirkt e<strong>in</strong>geschüchtert.«Der Rundfunk verbreitet verzweifelte Appelle der Kommunisten, denPogromen E<strong>in</strong>halt zu gebieten. Der Schriftstellerverband beschwört dieHörer, die »Re<strong>in</strong>heit der Revolution« zu wahren und nicht »auf denStraßen Urteile zu fällen«. Die Schuldigen sollten der Nationalgarde oderden Militärstreifen übergeben werden. »Persönliche Rache ist unser nichtwürdig. Die ganze Welt schaut auf uns.«Auch die abtrünnigen Politiker waren nicht <strong>in</strong>teressiert an denkommenden Abrechnungen. György Marosán, der se<strong>in</strong>e SozialdemokratischePartei 1948 an Rákosi verkauft hatte, hielt sich bis zum 1. Novemberversteckt. Er war zufällig nicht da, als Onkel Szabós Leute ihn an jenemTag abholen wollten. Als er heimkehrte, riefen die beiden Pförtner vorse<strong>in</strong>em Haus: »Laufen Sie weg.« Er flüchtete <strong>in</strong> die Akadémia utca.»Nachdem es dem Horthy-Regime nicht gelungen ist, mich zuvernichten«, sagte er dort zu Kádár, »und ich auch von den Deutschenoder von Rákosi nicht gehängt wurde, warum sollte ich ausgerechnet jetztsterben? Sagt mir bloß, was ich tun soll.«Kádár erwiderte geheimnisvoll: »Wir brauchen Sie dr<strong>in</strong>gend. GehenSie zum Parlament, und ich werde Sie dort benachrichtigen.«Die größte Furcht vor e<strong>in</strong>em Pogrom hatten die Funktionäre um Nagy.Sie alle wußten Bescheid über die Lynchjustiz. Im Parlament traf JohnMacCormac zwei prom<strong>in</strong>ente Kommunisten. Sie versuchten nicht, ihreAngst vor der Zukunft zu verbergen. Beide me<strong>in</strong>ten, die gesamteRegierung fürchte, e<strong>in</strong> neuer antikommunistischer Terror wie 1919 stehebevor.Nicht zufällig nahmen höchste Funktionäre Fühlung mit derjugoslawischen Gesandtschaft auf und fragten, ob sie sich notfalls dortverstecken könnten. Zoltán Szántó, e<strong>in</strong>es der ältesten Parteimitglieder, gabzu, er würde der erste se<strong>in</strong>, der das täte: Am 1. November nahm er <strong>in</strong> denAmtsräumen von Nagy den jugoslawischen Diplomaten Soldatic zur Seite604


und sprach mit ihm über die Möglichkeit, ihre Frauen und K<strong>in</strong>der sicherheitshalber<strong>in</strong> die Botschaft zu br<strong>in</strong>gen. E<strong>in</strong>e offizielle Belgrader Informationsquellebeschreibt das so: »Es handelte sich weniger um die Nagy-Gruppe selbst als um Regierungsmitglieder und andere Persönlichkeiten.«ÎDie Stimme der Revolutionsregierung <strong>in</strong> Györ wurde zunehmendlauter; ihr Rundfunksender »Radio Petöfi« arbeitete mit e<strong>in</strong>er Stärke von2000 Watt, er erreichte ohne weiteres Budapest und widersprach oft demoffiziellen »Freien Sender Kossuth«. – »Wir erkennen diese Regierungnicht an«, erklärte Radio Györ. »Wir verlangen e<strong>in</strong>e provisorische Revolutionsregierung,bis Wahlen durchgeführt werden.« Am 31. Oktoberbildete Attila Szigethy <strong>in</strong> Györ e<strong>in</strong> Parlament, e<strong>in</strong>en TransdanubischenNationalrat, mit Delegierten aus ganz Westungarn.Nagy konnte dem schnurrbärtigen Szigethy nur schwer die kalteSchulter zeigen, als dessen Delegierte am 31. Oktober um 17 Uhr dieTreppe zu se<strong>in</strong>em Sekretariat h<strong>in</strong>aufstiegen.Ï E<strong>in</strong>e Abordnung aus Ceglédmußte draußen warten, während er die Forderungen von Györ anhörte, zudenen der sowjetische Rückzug gehörte; ferner wurden geheimeMehrparteien-Wahlen im Januar verlangt; alle militärischen Beförderungenvom Obersten an sollten durch e<strong>in</strong> Vertrauensmännergremiumüberprüft werden; Aufständische sollten <strong>in</strong> die Interimsregierung aufgenommenund e<strong>in</strong>e Neutralitätserklärung gegenüber den Vere<strong>in</strong>tenNationen abgegeben werden.Nagy wagte das Äußerste. Er wiederholte se<strong>in</strong>e Rechtfertigung, daßnicht er, sondern Hegedüs es gewesen sei, der die sowjetischen Truppennach Budapest gerufen habe. Er erwähnte, daß er den Bergarbeitern vonDorog e<strong>in</strong>e Lohnerhöhung versprochen habe. Aber e<strong>in</strong>er der DelegiertenSzigethys erklärte Nagy offen, die Leute hätten ke<strong>in</strong> Vertrauen zu ihm under solle zugunsten von Béla Kovács zurücktreten. Nagy widersprach. Erbat sie, ihren Generalstreik abzublasen – und beeilte sich zugleich, siese<strong>in</strong>er grundsätzlichen Zustimmung zum Streikrecht der Arbeiter zuversichern. »Ich würde e<strong>in</strong>en Streik als legitim ansehen, falls eure605


Forderungen nicht erfüllt werden«, sagte er zu Szigethy. Szigethys»Parlament« war e<strong>in</strong>verstanden; es beschloß, den Streik fortzusetzen.Auch von rechts stand Imre Nagy weiterh<strong>in</strong> unter Druck. Im Laufe des31. Oktober gab das Revolutionäre Studentenkomitee e<strong>in</strong> neues Ultimatumheraus, das mit den nüchternen Worten begann: »Wir betrachtendie augenblickliche politische Führung als vorläufig.« Sie verlangten dieEntlassung e<strong>in</strong>er Anzahl unerwünschter Funktionäre und bestandendarauf, weitere Nichtkommunisten e<strong>in</strong>schließlich Anna Kéthly undVertretern der Jugend <strong>in</strong> die Regierung aufzunehmen. »Wir unterstützenImre Nagy nur soweit, wie er unseren Forderungen entgegenkommt«, hießes weiter. »Wir werden alle Mittel anwenden, um die stal<strong>in</strong>istischenE<strong>in</strong>flüsse <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Umgebung zu beseitigen.«In München erkannte die Leitung von »Radio Free Europe«, daß jetzte<strong>in</strong>e heikle Lage entstanden war. In e<strong>in</strong>em Fernschreiben nach New Yorkvom 1. November erläuterte sie ihre Taktik: »Direkte und <strong>in</strong>direkteBee<strong>in</strong>flussung der Bevölkerung, um Gewaltanwendung <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mitdem Rückzug der sowjetischen Truppen und Exzesse bei der Jagd nachÁVH und Kommunisten zu verh<strong>in</strong>dern.« E<strong>in</strong>e weitere Anweisung an diehitzköpfigen Münchner Emigranten lautete: »Vermeiden Sie auf alle Fällejede direkten oder <strong>in</strong>direkten Me<strong>in</strong>ungsäußerungen für oder gegene<strong>in</strong>zelne Persönlichkeiten e<strong>in</strong>er vorläufigen Regierung.« Wenn »RadioFree Europe« den Ansche<strong>in</strong> erweckte, irgende<strong>in</strong>en Politiker zu fördern, sokönnte dies für den Betroffenen den Judaskuß bedeuten. Das ungarischeVolk stehe nunmehr auf eigenen Füßen.An jenem Morgen des 1. November brachte Dudás se<strong>in</strong>e ZeitungUnabhängigkeit mit der Schlagzeile heraus: »Sowjetische E<strong>in</strong>heitenverschanzen sich am Rande von Budapest«. Auf der ersten Seite stand e<strong>in</strong>Augenzeugenbericht des Leutnants Lajos Fekete von e<strong>in</strong>er Fahrt, diedieser am Vortage um 15 Uhr gemacht hatte. »Unsere zur Verteidigungvon Budapest <strong>in</strong> Rákospalota stationierte Flak und Feldartillerie warbisher zur Untätigkeit verurteilt. E<strong>in</strong>ige hundert Meter außerhalb vonRákospalota, am Rande von Budapest, haben sich vor aller Augen e<strong>in</strong>606


sowjetisches Panzerregiment und e<strong>in</strong>e Feldartillerie-Division e<strong>in</strong>gegraben.Weitere sowjetische E<strong>in</strong>heiten haben während des Nachmittags rund umCsömör Stellung bezogen.« Rákospalota lag im XIII. Bezirk, im NordenBudapests. Dudás fragte: »Ist der Regierung bewußt, daß sowjetischeStreitkräfte nach der für den Rückzug festgesetzten Frist unserer Flakdirekt gegenüberstehen?«Als diese Ausgabe der Zeitung schon verkauft wurde, erfuhr Dudásdurch se<strong>in</strong>e Informanten, daß weitere sowjetische Panzerverbände entlangder von Chop kommenden Hauptstraße – von der ukra<strong>in</strong>ischen Grenzenach Budapest durch Szolnok, Debrecen und Nyiregyháza – <strong>in</strong> Stellungg<strong>in</strong>gen und daß russische Flak-E<strong>in</strong>heiten die Brücken über die Theiß beiSzolnok und die Donau bei Dunaföldvár bewachten.ÌAllmählich konnte man sich e<strong>in</strong> Bild machen. Rebellenführer hattene<strong>in</strong>e Funkabhörstation <strong>in</strong> der Technischen Hochschule aufgebaut undüberwachten das von den Russen kontrollierte Sprechfunknetz derungarischen Eisenbahnen (MÁV). Am 31. Oktober wurde aus Záhonygemeldet, daß sowjetische Truppen wieder zurückströmten: die Angestelltennannten genaue Zahlen.Ó Durch das K-Telephonleitungsnetz <strong>in</strong> derParteizentrale der Kle<strong>in</strong>landwirte – man hatte die Gesellschaft derungarisch-sowjetischen Freundschaft aus ihrem alten Hauptquartier <strong>in</strong> derSemmelweis utca h<strong>in</strong>ausgeworfen – erfuhr der Ökonom Zoltán Száray,daß die Russen Nyiregyháza e<strong>in</strong>genommen und Debrecen erreicht hatten.Von M<strong>in</strong>ute zu M<strong>in</strong>ute erhielt er genaue Informationen über ihr Anrücken,dennoch fühlte er sich verpflichtet, für den Wiederaufbau se<strong>in</strong>erKle<strong>in</strong>landwirte-Partei weiterzuarbeiten. Freunde rieten: »Geh nach Hause– du bist ja verrückt!« Andere warnten ihn: »Die Russen s<strong>in</strong>d bereits <strong>in</strong>Szolnok.« Er aber setzte se<strong>in</strong>e Arbeit fort <strong>in</strong> der Hoffnung, daß alleProphezeiungen falsch seien, obwohl er wußte, daß die Russen bereitswestlich von Cegléd standen.Am 31. Oktober befand sich Szolnok im Würgegriff der Sowjets. Diedortigen Rebellen streikten noch immer und verhandelten mit Nagy undKádár. Nagy beschwor sie, die Arbeit wiederaufzunehmen. Sie entgegneten:»Nur, wenn die Sowjets das Gebiet um Szolnok verlassen.«Ô Aber607


irgend etwas stimmte nicht mit der dortigen Revolution. Sender »FreiesMiskolc« meldete, der Szolnoker Revolutionsrat sei zusammengebrochenund der örtliche Rundfunksender wieder <strong>in</strong> der – wie es hieß – Hand derÁVH; darüber h<strong>in</strong>aus hätten sowjetische Truppen die ungarischenArtillerieverbände <strong>in</strong> der Stadt entwaffnet.ÁÊKam dies nur daher, daß sich <strong>in</strong> Szolnok der Sitz des sowjetischenOberkommandos befand, oder war hier der Schlüssel für János Kádársplötzliches Interesse an der Delegation zu suchen, die ihn am 30. Oktobervon Szolnok aus aufgesucht und ihn um Rat und Tat <strong>in</strong>mitten der Wirrengebeten hatte? Kádár hatte die Delegierten mit e<strong>in</strong>em handgeschriebenenBrief zurückgeschickt, <strong>in</strong> dem die loyalen Parteimitglieder <strong>in</strong> Szolnokaufgefordert wurden, sich bereit zu halten:»Me<strong>in</strong>e lieben werktätigen Brüder! Nachdem wir den Delegiertenvon Szolnok, Genosse Ferenc Bujáki, <strong>in</strong> den letztenTagen e<strong>in</strong>er schwierigen Epoche und den ersten Tagene<strong>in</strong>er neuen Ära getroffen haben, senden wir Euch unsereGrüße. Schließt Euch zusammen mit allen ehrlichen undgutges<strong>in</strong>nten ungarischen Patrioten, um die Ordnungwiederherzustellen und die Arbeit wiederaufzunehmen, diedie Grundlage des Lebens bildet. Befreit von denSchlacken der Vergangenheit vertrauen diejenigen, die anden kommunistischen Gedanken glauben, auf die Zukunft.Wir wollen dem wahren Ideal mit re<strong>in</strong>en Mitteln dienen,und das sozialistische <strong>Ungarn</strong> wird siegen.János Kádár.«ÁÁDie amerikanische Gesandtschaft sah wenig Grund, der Zukunft zuvertrauen. Der Militärattaché wußte, daß sowjetische Truppen durchChop, den Hauptgrenzübergang aus der Sowjetunion, here<strong>in</strong>strömten. Dieverblüffende Tatsache war, daß die offiziellen Rundfunknachrichtenimmer noch von deren Rückzug berichteten.ÁËZu diesem Zeitpunkt wußte József Dudás aufgrund se<strong>in</strong>er besseren608


Informationsquellen, daß die Aufständischen die Schlacht verlierenwürden. Am 30. Oktober hatte se<strong>in</strong>e Zeitung e<strong>in</strong>en Kongreß allerrevolutionären Kräfte für den 1. November im überdachten BudapesterSportstadion angekündigt, er sollte das Ungarische Nationale Revolutionskomiteeals e<strong>in</strong>e das ganze Land umfassende revolutionäre Bewegunggegen das Nagy-Regime <strong>in</strong>s Leben rufen. Die Russen hatten diese Absichtdurch die E<strong>in</strong>kreisung Budapests zunichte gemacht. Nur mit genügendFlugzeugen hätte Dudás die Rebellen aus allen Teilen des Landesheranbr<strong>in</strong>gen können – aber nun hatten die Russen auch noch denFlugplatz besetzt. In der neuen Ausgabe der Unabhängigkeit mußte Dudásdeshalb das Massentreffen auf unbestimmte Zeit verschieben: »Wir bittendie revolutionären Körperschaften dr<strong>in</strong>gend, ihre nom<strong>in</strong>ierten Delegiertennicht zu entsenden; wir wollen unnötiges Blutvergießen vermeiden. Derneue Term<strong>in</strong> des Kongresses wird rechtzeitig <strong>in</strong> der Unabhängigkeitbekanntgegeben.« Am 1. November schickte Dudás e<strong>in</strong>en Vertreter nachGyör, um Szigethys Transdanubischen Nationalrat davon <strong>in</strong> Kenntnis zusetzen, daß er als Vorsitzender des Nationalen Revolutionsrates bereit seilihn als Gegenregierung anzuerkennen.ÁÈAn diesem Morgen konnte Nagy die Nachrichten nicht mehrignorieren. Weitere Panzer hatten die Grenze überschritten und rollten aufden Fernverkehrsstraßen durch Debrecen und Szolnok <strong>in</strong>s Landes<strong>in</strong>nere.Ungekämmt und <strong>in</strong> zerknitterter Kleidung eilten e<strong>in</strong>ige M<strong>in</strong>ister <strong>in</strong> NagysBüro. »Wie ist das möglich, wo wir jetzt gerade die D<strong>in</strong>ge <strong>in</strong> den Griffkriegen?« fragte e<strong>in</strong> Mitglied des militärischen Revolutionskomiteeserstaunt. Das engere Kab<strong>in</strong>ett trat zusammen. Entscheidende Schrittewaren jetzt nicht mehr zu umgehen. Nagys Gesicht nahm den wohlbekanntenAusdruck unerschütterlicher Gelassenheit an. »Wir müssene<strong>in</strong>e Panik vermeiden«, rief er. Er werde auch das Amt des Außenm<strong>in</strong>istersübernehmen müssen. Bis jetzt hatte er sich auf György Heltai alsaußenpolitischen Berater verlassen können.Se<strong>in</strong> erster Schritt war nicht sonderlich kühn. Er sandte MarschallWoroschilow, dem sowjetischen Staatsoberhaupt, e<strong>in</strong> Telegramm. »Unter609


Bezugnahme auf die jüngste Erklärung der Regierung der Sowjetunion,wonach diese bereit ist, mit der ungarischen Regierung und anderenMitgliedern des Warschauer Pakts über den Rückzug sowjetischerTruppen aus <strong>Ungarn</strong> zu verhandeln, lädt die ungarische Regierung diesowjetische Regierung e<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>e Delegation zu bestimmen, so daß dieGespräche sobald als möglich beg<strong>in</strong>nen können. Sie bittet die sowjetischeRegierung, Zeit und Ort festzulegen . . . «Nagy ließ auch den sowjetischen Botschafter zu sich kommen.Andropow erschien mit verb<strong>in</strong>dlicher und gelassener Miene. Nagybeklagte sich über das E<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gen neuer sowjetischer Truppen. InScharfem Ton sagte er: »Dieser E<strong>in</strong>marsch ist von me<strong>in</strong>er Regierungweder erbeten noch gebilligt worden; er ist e<strong>in</strong>e Verletzung des WarschauerVertrages, und me<strong>in</strong>e Regierung wird den Vertrag aufkündigen,falls diese Verstärkungen nicht zurückgezogen werden.« Der Russe stelltesich unwissend, sagte aber, er würde mit Moskau Kontakt aufnehmen.»Ich werde Sie <strong>in</strong>formieren, sobald ich Antwort erhalte«, versprach er.Kaum hatte Nagy am 31. Oktober die Abschaffung des E<strong>in</strong>parteiensystemsangekündigt, als auch alle anderen Parteien wieder <strong>in</strong> derÖffentlichkeit <strong>in</strong> Ersche<strong>in</strong>ung traten. Am selben Tag wurden die Parteiender Kle<strong>in</strong>landwirte, die im Jahre 1945 246 der 409 Sitze im Parlament,und der Sozialdemokraten, die siebzig erobert hatten, wiedergegründet.Die Nationale Bauernpartei, die dreiundsiebzig Mandate errungen hatte,konstituierte sich am nächsten Tag als Petöfi-Partei. Ihre Führer warenFerenc Farkas, der Jurist István Bibó und der Anführer der GyörerRebellen, Szigethy. Farkas trat dafür e<strong>in</strong>, Nagys abgewirtschafteteRegierung durch e<strong>in</strong>en Obersten Nationalrat unter Führung von ZoltánKodály, e<strong>in</strong>em älteren Komponisten, zu ersetzen. Während der nächstenTage entstand e<strong>in</strong>e Flut von Kle<strong>in</strong>stparteien, darunter e<strong>in</strong>e DemokratischeVolkspartei, e<strong>in</strong>e Katholische Volkspartei und rund vierzig andereGruppierungen.Am 1. November begannen die Kle<strong>in</strong>landwirte, e<strong>in</strong>e Tageszeitungherauszugeben unter dem schlichten Titel Kis Ujság [Kurznachrichten]. In610


ihrem Leitartikel verlangte sie, alle kommunistischen Mitläufer, auchErdei und vielleicht sogar Tildy, aus der Partei auszuschließen. Zurgleichen Zeit erschienen zum erstenmal Népszava [Stimme des Volkes]und Szabad Szó [Freies Wort], Organe der Sozialdemokraten und derNationalen Bauern-Partei.Nagys Koalitionsregierung bestand aus vier Parteien, die 1945zusammen 4.632.972 von 4.717.256 gültigen Stimmen auf sich vere<strong>in</strong>igtund damit 407 von 409 Parlamentssitzen errungen hatten. Seit HitlersVolksabstimmungen vor dem Kriege konnte ke<strong>in</strong> Führer e<strong>in</strong>es Landes siche<strong>in</strong>er solchen Rückendeckung rühmen. Zoltán Tildy erklärte am 1.November e<strong>in</strong>em italienischen JournalistenÁÍ: »Wichtigstes Ziel derRegierung ist die Vorbereitung freier Wahlen für Januar 1957. Sie werdengeheim se<strong>in</strong> (wir werden die westliche Presse dazu e<strong>in</strong>laden) mit e<strong>in</strong>erVielfalt von Kandidatenlisten der Kommunisten, Sozialdemokraten, derchristlichen Parteien, der Kle<strong>in</strong>landwirte und Bauernparteien.«Unter den f<strong>in</strong>steren Gestalten mit haßerfüllten Gesichtern, die andiesem Tag auf den Straßen zu sehen waren, befanden sich Tausendefrüherer Sträfl<strong>in</strong>ge. Im Büro des Volksanklägers war e<strong>in</strong> Revolutionskomiteeunter Leitung des jungen Anwalts László Kovács gebildet wordenDas Komitee hatte Generalstaatsanwalt György Nón den Laufpaß gegebenund mit dem Justizm<strong>in</strong>isterium Verhandlungen über die Freilassungpolitischer Gefangener aufgenommen. Kommissionen reisten zu denZwangsarbeitslagern im Gebiet von Dunapentele, Pálhalma und Bernátkút,um die Strafakten zu überprüfen. Sie ordneten die sofortige FreilassungTausender von Gefangenen an, unter ihnen 585 Männer, die zuZwangsarbeit <strong>in</strong> den Kohlenbergwerken von Dorog verurteilt waren.ÁÎIván Boldizsárs Montagsnachrichten veranstalteten e<strong>in</strong>e lautstarkeKampagne zugunsten der Freilassung junger Freiheitskämpfer, die <strong>in</strong> denÁVH-Gefängnissen <strong>in</strong> der Gyorskocsi utca, Máté-Zolka-Kaserne undHüvösvölgy saßen.ÁÏ Innerhalb der Mauern des Zentralgefängnisses(Gyüjtöfogház) <strong>in</strong> Köbánya hatten die Gefangenen Schüsse undExplosionen gehört, aber ihre Wärter sagten, es handle sich nur ummilitärische Übungen. Das kommunistische Emblem wurde von den611


Uniformen entfernt. Am Abend des 31. Oktober traf der RevolutionsanwaltKovács <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Ikarus-Bus mit Entlassungspapieren e<strong>in</strong>.ÁÌBleiche, ausgehungerte Männer spähten aus den Zellenfenstern; manchewaren seit 1944 oder 1945 <strong>in</strong> Gefangenschaft. Zusammen mit OberstleutnantBakondi, dem neuen Kommandanten, g<strong>in</strong>g Kovács von Zelle zuZelle und händigte die Dokumente aus. Bakondi bat die Gefangenen, noche<strong>in</strong>e Nacht als »se<strong>in</strong>e Gäste« zu bleiben, bis ihre Kleidung sortiert sei. Die800 Gefangenen wählten sich für die e<strong>in</strong>zelnen Flure Zugführer undwarteten geduldig bis zum Morgen, als man sie – jeweils zehn Mann –entließ. Lange vor Morgengrauen hatten sich Frauen und K<strong>in</strong>der vor denToren versammelt. Manch e<strong>in</strong>er wurde von niemandem erwartet. Dieehemaligen Gefangenen schüttelten e<strong>in</strong>ander schweigend die Hände undverschwanden <strong>in</strong> den Straßen. E<strong>in</strong>ige blickten sich nach Waffen um. DieKlügeren machten sich sofort <strong>in</strong> Richtung westliche Grenze auf den Weg.Bis zum 1. November hatten die Aufständischen 812 politischeGefangene aus diesem Zentralgefängnis befreit. Weitere 113 »gewöhnlicheVerbrecher« sollten am 2. und 3. November freigelassen werden. E<strong>in</strong>»gewöhnlicher Verbrecher« konnte e<strong>in</strong> Baumeister se<strong>in</strong>, der desDiebstahls an se<strong>in</strong>em eigenen Material beschuldigt worden war, weil erdessen Verstaatlichung verh<strong>in</strong>dern wollte. Se<strong>in</strong>e Entlassung rief wenigerErstaunen hervor als die Tatsache, daß es alle<strong>in</strong> hier 812 politischeGefangene gab. Alles <strong>in</strong> allem wurden 17.000 politische Gefangene,»gewöhnliche Verbrecher« oder andere Opfer der sozialistischen Gesetzlichkeitwährend dieser Tage freigelassen.Die Öffentlichkeit wußte noch nichts von dem Drama, das sich imInnern des Parlamentsgebäudes an diesem 1. November abspielte, als ImreNagy Moskaus Antwort auf se<strong>in</strong>en Protest erwartete. Der Parlamentsplatzwar leer, bis auf e<strong>in</strong>ige schwarzgekleidete Frauen, die sich vor denbrennenden Kerzen am Fuße der hohen Mauerndes Gebäudesbekreuzigten.Auf dem Schloßberg gab Kard<strong>in</strong>al M<strong>in</strong>dszenty Audienzen. ZoltánTildy suchte ihn zusammen mit Béla Kovács und General Maléter auf und612


at ihn, sich öffentlich für Nagy auszusprechen. M<strong>in</strong>dszenty stellte dafüre<strong>in</strong>e Bed<strong>in</strong>gung – er wollte e<strong>in</strong>e christlich-demokratische Partei führen.Spencer Barnes schätzte die Chancen e<strong>in</strong>er solchen Partei hoch e<strong>in</strong>, dochhatte er den E<strong>in</strong>druck, daß der eigens<strong>in</strong>nige, alte Kard<strong>in</strong>al den Interessense<strong>in</strong>es Landes schadete, wenn er gerade jetzt e<strong>in</strong>en solchen Preisforderte.ÁÓAnna Kéthly trug e<strong>in</strong>en schwarzen Mantel. Ihr Gesicht spiegelte dieLeiden langer Jahre h<strong>in</strong>ter Gefängnismauern wider. Die weißhaarigeVorsitzende der Sozialdemokraten verließ an diesem Morgen Budapest,um an e<strong>in</strong>em außerordentlichen Kongreß der Sozialistischen Internationale<strong>in</strong> Wien teilzunehmen. An diesem Morgen hatte sie <strong>in</strong> derVolksstimme vor e<strong>in</strong>em »konterrevolutionären Sieg« gewarnt.Mit ihren doktr<strong>in</strong>ären marxistischen Idealen stand sie weit l<strong>in</strong>ks vonvielen Sozialisten, die sie nun <strong>in</strong> Wien traf, und sie teilte das Traumazahlreicher Kommunisten vom »Weißen Terror«. Herbert Wehner,Mitglied im Vorstand der westdeutschen Partei, er<strong>in</strong>nerte sich noch langean ihre Schilderung, wie der allgeme<strong>in</strong>e Haß auf die ÁVH <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Pogromausartete. Drei Wochen später sagte er: »Es gab so etwas wie e<strong>in</strong>e Orgiedes Hasses gegen jeden, der angeblich Mitglied oder Funktionär der Parteigewesen war. Nicht nur sie, sondern auch ihre Frauen und K<strong>in</strong>der wurdenverfolgt und getötet. Und nicht nur getötet, sondern erschlagen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>erWeise, die jeder Beschreibung spottet.« Anna Kéthly habe sogar Kard<strong>in</strong>alM<strong>in</strong>dszenty als den Hauptverantwortlichen dieser »Weißen Elemente«beschuldigt.ÁÔBevor Dr. András Révész, Anna Kéthlys Stellvertreter, Wien verließ,überreichte ihm Otto Probst, der Vorsitzende der österreichischen Sozialdemokraten,e<strong>in</strong>e Spende <strong>in</strong> Höhe von $20.000 und £500, um die neuePartei <strong>in</strong> Budapest <strong>in</strong> ihrem Kampf zu unterstützen. Die Aktentaschese<strong>in</strong>es italienischen Kollegen Matteo Matteotti war ebenfalls prall gefüllt,als er nach Budapest abreiste (er zeigte das Geld bei se<strong>in</strong>er Ankunft e<strong>in</strong>emitalienischen Journalisten).Anna Kéthly bat die ausländischen Sozialisten, nicht nach <strong>Ungarn</strong> zu613


kommen – es sei zu gefährlich. Dennoch hatten Révész und Matteottike<strong>in</strong>e Schwierigkeiten, über Sopron zurückzukehren.ËÊ Anna Kéthly selbstkam nie nach <strong>Ungarn</strong> zurück. Sie wurde offensichtlich von sowjetischenTruppen an der Grenze daran geh<strong>in</strong>dert.In Budapest begann der Nachmittag des 1. November. In der Slowakeistationierte Sender störten jetzt Radio Györ. Arbeiter drängten sich <strong>in</strong>Imre Nagys Amtsräumen und beklagten sich bei Tildy und Losonczydarüber, daß sowjetische Soldaten auf den Grundstücken ihrer Behausungen<strong>in</strong> den Vorstädten Gräben aushoben. E<strong>in</strong>e Studentendelegationkehrte aus Györ zurück und berichtete, daß sie haltenden Kolonnen vonPanzern begegnet sei. E<strong>in</strong>e Deputation von Kle<strong>in</strong>landwirten und Vertreterndes Bauernbundes unter Führung von Dr. Sándor Kiss verlangte,der sowjetische Botschafter solle sich zu den Truppenbewegungenäußern.ËÁ E<strong>in</strong> Aufklärungsflugzeug, das die Berichte überprüfen sollte,war über Debrecen von der russischen Flak abgeschossen worden. Daswaren e<strong>in</strong>deutige Kriegshandlungen.Kurz darauf traf Maléter e<strong>in</strong>, der se<strong>in</strong>e neuen Generalsabzeichen trugund mitteilte, daß Hunderte von sowjetischen Panzern immer noch überdie Ostgrenze strömten; diese Verbände vere<strong>in</strong>igten sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em weitenHalbkreis mit den aus Budapest zurückgezogenen Panzern. WeiterePanzer konzentrierten sich westlich der Stadt. (»E<strong>in</strong>e Zangenbewegung!«erklärte jemand.) Maléter beschloß, dies alles für sich zu behalten: Es warsowieso schwer genug, die Menschen zu beruhigen. Er erklärte auf e<strong>in</strong>erPressekonferenz <strong>in</strong> der Kilián-Kaserne: »Die Menschen <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> s<strong>in</strong>dreif genug, um nicht jede Verzögerung bei den Versprechungen ausländischerFührer sofort als Provokation anzusehen.«Mittags wurde Imre Nagy am Telephon verlangt. Der Anrufer warBotschafter Andropow, verb<strong>in</strong>dlich und liebenswürdig wie immer. Er lasihm e<strong>in</strong> Telegramm vor, das soeben aus Moskau e<strong>in</strong>getroffen war. Nagyübersetzte es für se<strong>in</strong>e Kollegen <strong>in</strong>s Ungarische. Der Kreml, hieß es dar<strong>in</strong>,stehe zu se<strong>in</strong>er Erklärung vom 30. Oktober sowie zu se<strong>in</strong>er Zusage, übere<strong>in</strong>en Rückzug der sowjetischen Truppen zu verhandeln. Ferner wurde <strong>in</strong>614


dem Telegramm die Bildung zweier gemischter Kommissionen vorgeschlagen,um die entsprechenden politischen und technischen Fragen zuerörtern.Nagy war nicht davon überzeugt. »Aber was ist mit unsererBeschwerde? Können Sie zusichern, daß die Truppenbewegungen soforte<strong>in</strong>gestellt werden?«Andropow erwiderte: »Die Truppen haben die Grenze nur überschritten,um die Kampftruppen zu entlasten und um russische Zivilistenzu schützen.«»Ich will ke<strong>in</strong>e Entschüldigungen hören«, unterbrach ihn Nagy. »Ichverlange, daß die sowjetische Regierung b<strong>in</strong>nen e<strong>in</strong>er Stunde auf dieseBeschwerde e<strong>in</strong>geht. Ich werde mich an die Vere<strong>in</strong>ten Nationen wenden,falls das E<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gen weiterer Truppen nicht aufhört!« Andropow gab ihmse<strong>in</strong> Wort, daß ke<strong>in</strong>e weiteren Truppen folgen würden.Moskau spielte offensichtlich auf Zeit. Aller Augen waren auf Nagygerichtet. Er war blaß, jedoch gefaßt. György Heltai er<strong>in</strong>nert sich jetzt:»Wir kamen zu der Überzeugung, daß die Russen entweder das ungarischeVolk zum Angriff herausfordern und dann die Revolution niederschlagenoder daß sie ganz <strong>Ungarn</strong> kampflos besetzen wollten. Es gab nur e<strong>in</strong>enWeg, das Land zu retten: aus dem Warschauer Pakt auszutreten und<strong>Ungarn</strong>s Neutralität zu erklären.«ËË Imre Nagy beauftragte ihn damit, diebeiden Dokumente aufzusetzen. In e<strong>in</strong>er späteren Zeugenaussagebehauptete Nagy, nicht er, sondern Tildy habe diese Entscheidungengetroffen. Aber alle er<strong>in</strong>nerten sich daran. Nagy neigte schon 1955 <strong>in</strong>se<strong>in</strong>en geheimen Schriften zur Neutralität. In der augenblicklichen Kriseschien sie ihm die e<strong>in</strong>zige Möglichkeit, das Verlangen se<strong>in</strong>es Volkes zuerfüllen und gleichzeitig der Sowjetunion zu garantieren, daß das Landke<strong>in</strong>e fe<strong>in</strong>dliche Allianz e<strong>in</strong>gehen würde. Es war dennoch e<strong>in</strong> gewagtesSpiel.Jetzt wurde fieberhaft nach dem authentischen Text des WarschauerVertrages von 1955 und se<strong>in</strong>em geheimen Zusatz gesucht. Vielleichtwollte Nagy die Zusatzbestimmungen als Vorwand für den Austrittbenutzen, da diese nicht vom Parlament ratifiziert worden waren. Aber615


weder Nagys Sekretariat noch das Außenm<strong>in</strong>isterium besaßen e<strong>in</strong>e Kopie.Maléter er<strong>in</strong>nerte sich, daß e<strong>in</strong> Freund sie mit nach Hause genommenhatte. Er rief den Mann an und sagte: »Tibor, ich befehle dir, diese Kopieb<strong>in</strong>nen e<strong>in</strong>er Stunde <strong>in</strong> dieses Büro zu br<strong>in</strong>gen!«ËÈInzwischen war es 14 Uhr geworden. Nagy hatte se<strong>in</strong> engeres Kab<strong>in</strong>ettund die Parteivorsitzenden zu e<strong>in</strong>er Sitzung zusammengerufen, diehistorische Bedeutung bekommen sollte.Tildy bemerkte, daß jemand e<strong>in</strong> Plakat an die Wand geheftet hatte, dasmit e<strong>in</strong>em Band der Nationalfarben und dem neuen Kossuth-Wappenverziert war und die Aufschrift trug: »Lang lebe <strong>Ungarn</strong>, unabhängig undneutral!«ËÍNagy teilte den Anwesenden mit, daß Andropows Frist abgelaufen sei.Das Kab<strong>in</strong>ett beschloß, daß Nagy jetzt auch das Außenm<strong>in</strong>isterium übernehmensollte. E<strong>in</strong> Kommuniqué wurde entworfen: »Dieser Wechsel istnotwendig, um die neue unabhängige Politik der Regierung desungarischen Volkes durchzusetzen. Hauptaufgabe . . . ist die Aufnahmevon Verhandlungen über den Warschauer Pakt und den Rückzug derSowjettruppen.«Wütend rief er den sowjetischen Botschafter an: »Me<strong>in</strong>e Militärexpertenhaben festgestellt, daß während der letzten drei Stunden nochmehr sowjetische Truppen die Grenze überschritten haben. Ihre Regierungversucht, <strong>Ungarn</strong> entgegen ihrer eigenen Erklärung wiederzubesetzen.Aus diesem Grunde tritt <strong>Ungarn</strong> mit sofortiger Wirkung aus demWarschauer Pakt aus.«Anschließend legte Nagy dem Kab<strong>in</strong>ett Heltais Text der Neutralitätserklärungvor. Sie sollte an den Generalsekretär der Vere<strong>in</strong>ten Nationengerichtet werden.»Nach glaubwürdigen Informationen, die die Regierung derUngarischen Volksrepublik erhalten hat, s<strong>in</strong>d neuesowjetische Truppene<strong>in</strong>heiten <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> e<strong>in</strong>getroffen. DerM<strong>in</strong>isterpräsident hat <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Eigenschaft als Außen-616


m<strong>in</strong>ister unverzüglich Herrn Andropow, den außerordentlichenBotschafter und Bevollmächtigten der Sowjetunionfür <strong>Ungarn</strong>, angerufen und energisch gegen das E<strong>in</strong>greifenneuer sowjetischer Truppen <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> protestiert. Erverlangte den unverzüglichen Abzug dieser sowjetischenTruppen. Er erklärte dem sowjetischen Botschafter, daß dieungarische Regierung den Warschauer Pakt aufkündige, dieNeutralität <strong>Ungarn</strong>s proklamiere, sich an die Vere<strong>in</strong>tenNationen wende, um die Hilfe der vier Großmächte zurVerteidigung der Neutralität zu erlangen. Die Regierungder Ungarischen Volksrepublik hat am 1. November 1956ihre Neutralität proklamiert. Ich ersuche Eure Exzellenzdaher, die Frage der ›Neutralität <strong>Ungarn</strong>s und die Verteidigungdieser Neutralität durch die vier Großmächte‹ aufdie Tagesordnung der nächsten Vollversammlung derVere<strong>in</strong>ten Nationen zu setzen.«Ungefähr um 16 Uhr billigte das Kab<strong>in</strong>ett diesen Schritt. (Kádár alsParteiführer erhob ke<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>wände.)ËÎIn der Parteiführung sprachen sich nur die alten Moskowiter ZoltánSzántó und György Lukács gegen den Austritt aus dem Warschauer Paktaus.ËÏ Das Kab<strong>in</strong>ett beschloß, den sowjetischen Botschafter kommen zulassen, damit er die Entscheidung des M<strong>in</strong>isterrats entgegennehme. Durchdie geöffneten Fenster hörte man Kirchenglocken, die zum Gedächtnis derToten läuteten.Während diese folgenschweren geheimen Entscheidungen <strong>in</strong> Budapestgetroffen werden, ist es <strong>in</strong> New York Vormittag. Im zwanzigsten Stockwerkdes Gebäudes der Vere<strong>in</strong>ten Nationen zeigt die Uhr 10.26, als derFernschreiber MNY 0544 plötzlich zu tickern beg<strong>in</strong>nt:ËÌ»S<strong>in</strong>d dort die Vere<strong>in</strong>ten Nationen New York . . . ?«Bestätigung.Die anschreibende Stelle meldet sich: »Hier Diplomag Budapest.«617


Man sucht im Codebuch nach: Es ist das ungarische Außenm<strong>in</strong>isterium.Nervosität kommt auf: Nagys Regierung hat e<strong>in</strong>e direkteLeitung von Budapest – Station BP 679 – nach Wien und weiter überFunk zum Wolkenkratzer der UN <strong>in</strong> Manhattan durchgeschaltet. Neunmalbittet BP 679, den Fernschreiber der Vere<strong>in</strong>ten Nationen, sich zu melden,dann bittet er New York, am Gerät zu bleiben. Um 10.42 Uhr hämmert derTicker wieder auf die Fernschreibrolle: »An das Sekretariat der Vere<strong>in</strong>tenNationen. Wenn Sie beschäftigt s<strong>in</strong>d, rufe ich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen M<strong>in</strong>uten wiederan. Unsere FS-Mitteilung ist gleich fertig. OK? Bitte antworten!«Die Vere<strong>in</strong>ten Nationen erwidern: »Wir s<strong>in</strong>d nicht beschäftigt.«Es s<strong>in</strong>d Worte von prophetischer Bedeutung. Um 11.14 Uhr ist dieLeitung tot; e<strong>in</strong>e Stunde lang herrscht nur Schweigen. Es sche<strong>in</strong>t, als habeBudapest e<strong>in</strong>e Spezialleitung überprüfen lassen: aber zu welchem Zweck?Inzwischen war der italienische Journalist Alberto Cavallarizusammen mit Bruce Renton vom Londoner New Statesman im Parlamente<strong>in</strong>getroffen. Die Reporter wurden von zwei schmutzigen, gr<strong>in</strong>sendenSoldaten mit englischen Masch<strong>in</strong>enpistolen über endlose, mit Marmor undGold geschmückte Treppen und Gänge h<strong>in</strong>aufgeführt. Auf jedemTreppenabsatz war e<strong>in</strong> Masch<strong>in</strong>engewehr aufgebaut. Die Soldaten <strong>in</strong>Russenuniformen, die auf diesen Gängen entlangtrotteten, er<strong>in</strong>nerten andas revolutionäre Rußland und an 1917. Das Kab<strong>in</strong>ett tagt gerade, sagteman den Reportern und führte sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Vorzimmer. E<strong>in</strong>mal, als sich dieTür öffnete, erspähten sie Kádár und Imre Nagys H<strong>in</strong>terkopf. Sieerkannten Tildy an se<strong>in</strong>em silbernen Haar und dem eleganten blauenAnzug. Er schien erregt und sprach mit erhobener Stimme.ËÓ DerVorsitzende der Kle<strong>in</strong>landwirte, Béla Kovács, war nicht zu sehen – mansagte ihnen, er sei krank.Nach e<strong>in</strong>er Viertelstunde erschien Iván Boldizsár, der alte Zeitungs-Veteran: »Wir schwenken zu weit nach rechts«, murmelte er. »Rußlandwird das niemals erlauben.«Um 17 Uhr hielt e<strong>in</strong> SIS-Wagen vor der Freitreppe des ungarischenParlaments und Andropow wurde h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>geleitet. In Gegenwart se<strong>in</strong>es618


Kab<strong>in</strong>etts verlas Nagy feierlich die Neutralitätserklärung vor. Andropowblieb völlig gleichmütig. Er fragte nur, ob die <strong>Ungarn</strong> ihren vorgesehenenAppell an die Vere<strong>in</strong>ten Nationen zurückziehen würden, falls dieSowjetunion ihre Truppen aus <strong>Ungarn</strong> abzöge.Nach e<strong>in</strong>er Weile stürzte Boldizsár wieder heraus, packte Cavallari amArm und stammelte: »Haben Sie e<strong>in</strong>en Wagen? Dann nehmen Sie ihn undfliehen! Verlieren Sie ke<strong>in</strong>e Zeit. Sie werden die sensationellen Nachrichtennicht mehr herausbekommen!« Er sprach englisch mit schneller,leiser Stimme. Bruce Renton verriet er, daß der M<strong>in</strong>isterpräsident vorhabe,<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er halben Stunde <strong>Ungarn</strong> für neutral zu erklären und die Vere<strong>in</strong>tenNationen um Schutz zu bitten. »Russische Truppen graben sich umBudapest e<strong>in</strong>. Ich b<strong>in</strong> sehr pessimistisch. Ich hoffe, daß ich ke<strong>in</strong>en Fehlermache, <strong>in</strong>dem ich Ihnen das sage. Aber Sie können es sowieso nicht mehrnach draußen melden.«Boldizsár gab Renton e<strong>in</strong>ige Mitteilungen für Verwandte im Westenmit, schüttelte ihm die Hand und riet ihm ebenfalls, sofort das Land zuverlassen. Er erklärte: »Der Sowjetbotschafter versucht, Nagy se<strong>in</strong>en Planauszureden. Wenn es ihm nicht gel<strong>in</strong>gt, sagt er, werden sowjetischeTruppen <strong>in</strong> Budapest e<strong>in</strong>marschieren und es erneut besetzen. Um Himmelswillen: fliehen Sie!« sagte er. »Ich habe soeben me<strong>in</strong>e Frau nach Parisgeschickt.« Se<strong>in</strong>e Frau war Französ<strong>in</strong>.Fünf M<strong>in</strong>uten später eilte Andropow an ihnen vorbei. Cavallari hörtejemanden sagen: »Die antikommunistischen Kräfte haben die Oberhand <strong>in</strong>der Regierung Nagy. Ich bleibe heute nacht nicht hier!« Losonczy, derAndropow auf den Fersen gefolgt war, kündigte den Reportern offiziellan, daß <strong>Ungarn</strong> den Warschauer Pakt kündige und sich an die Vere<strong>in</strong>tenNationen wende.Das Außenm<strong>in</strong>isterium erhielt e<strong>in</strong>en Anruf; es war 17.30 Uhr. DerMann am Fernschreiber schaltete die Verb<strong>in</strong>dung wieder e<strong>in</strong>, die schonzuvor hergestellt worden war, und tickerte e<strong>in</strong>e neue Botschaft an dieVere<strong>in</strong>ten Nationen.»Hier Budapest! Bitte, s<strong>in</strong>d Sie bereit?«In New York ist es Mittagszeit. UN-Beamte drängen sich vor dem619


Gerät und erleben mit, wie Nagys historische Erklärung rasch über denFernschreiber tickert. Sechs M<strong>in</strong>uten vergehen, dann bestätigt New Yorkden Empfang. Um 12.27 Uhr war Nagys kompromißloser Appell offiziell<strong>in</strong> Händen der Vere<strong>in</strong>ten Nationen – deren Schutz er so das Schicksalse<strong>in</strong>es Volkes anvertraut.620


41Hat jemand Kádár gesehen?BEI EINBRUCH der Dunkelheit am 1. November war die bestürzendeNachricht über die Fortsetzung der sowjetischen Invasion noch nichtoffiziell bekannt. In Budapest herrschte e<strong>in</strong>e künstliche Fröhlichkeit. DieBevölkerung glaubte, sie habe gesiegt – sie glaubte, sie sei für immer frei.Und nun g<strong>in</strong>g alles auf den Straßen spazieren, als ob es Sonntag sei. DieInnenstadt, die selbst <strong>in</strong> Friedenszeiten niemals hell erleuchtet war, lag <strong>in</strong>fast völliger Dunkelheit da – doch Tausende von Kerzen flackerten <strong>in</strong> denFenstern: es war der Vorabend von Allerseelen. Die amerikanischenFamilien, die <strong>in</strong> der Gesandtschaft am Freiheitsplatz Zuflucht gesuchthatten, durften nach Hause gehen. Gaza Katona kramte e<strong>in</strong>e Kerze hervor,die er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Fenster im dritten Stock anzündete.Im Auslandsdienst des fernen Radio Moskau, für dessen Propagandasendungenwährend des Krieges auch Imre Nagy und Mátyás Rákosigearbeitet hatten, hörte man e<strong>in</strong>e ungarische Stimme entrüstet klagen:»Mit wieviel Schmutz ist die Sowjetunion wegen der Ereignisse <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong>beworfen worden! Die sowjetische Regierung hat sich gewissenhaft anLen<strong>in</strong>s Pr<strong>in</strong>zip der Respektierung der Souveränität anderer Nationengehalten; sie denkt nicht im Traum daran, <strong>Ungarn</strong>, ihren Willen mitGewalt aufzuzw<strong>in</strong>gen oder sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e nationalen Angelegenheitene<strong>in</strong>zumischen.«Dennoch wurden im Laufe des Abends Abschriften von Nagys Protestbeim sowjetischen Botschafter anderen diplomatischen Vertretungen imungarischen Außenm<strong>in</strong>isterium überreicht, zusammen mit dem Text derNeutralitätserklärung und dem Ersuchen an die Vere<strong>in</strong>ten Nationen um621


Unterstützung durch die vier Großmächte. » . . . Der sowjetische Botschafterhat die Mitteilung sowie den Protest des M<strong>in</strong>isterpräsidenten unddes Außenm<strong>in</strong>isters zur Kenntnis genommen und zugesagt, se<strong>in</strong>eRegierung um sofortige Antwort zu ersuchen.«Á Um 18.13 Uhr wurdeauch die Bevölkerung über Rundfunk davon unterrichtetNagy begab sich zum Rundfunkstudio im Parlamentsgebäude. DasProgramm wurde unterbrochen, die Nationalhymne gespielt, und kurz vor20 Uhr verlas er die Neutralitätserklärung. Der Text war gefühlsbetontund auf Wirkung bedacht; dies war nicht die Sprache e<strong>in</strong>es sachlichenVertragsentwurfes.Ë Welche Art von »Neutralität«? Für immer, wie Österreich?Une<strong>in</strong>geschränkt? Bewaffnet? Nagys Erklärung enthielt ke<strong>in</strong>eAdjektive.Es war mehr als e<strong>in</strong>e Neutralitätserklärung. Es war e<strong>in</strong>e Proklamationder Unabhängigkeit, e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>seitige Aufkündigung des Warschauer Paktes– der jedoch überhaupt nicht erwähnt wurde.È Dann wurde das normaleProgramm mit e<strong>in</strong>er Übertragung von Mozarts Requiem wiederaufgenommen.Im UN-Gebäude <strong>in</strong> New York war es jetzt früher Nachmittag. Erst vorfünf Tagen hatte Péter Kós sich jeder E<strong>in</strong>mischung der Vere<strong>in</strong>tenNationen <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong>s <strong>in</strong>nere Angelegenheiten heftig widersetzt. Nunplädierte Imre Nagy dafür – <strong>in</strong> französisch geschriebenen Noten, die jederdiplomatischen Vertretung überreicht wurden, durch den Rundfunk unddurch den Telexverteiler des Fernschreibers, der im zwanzigsten Stock desUN-Gebäudes stand. E<strong>in</strong> Sonderkurier hatte die Note zum Büro desGeneralsekretärs gebracht. Die Ankunftszeit war auf das Dokumentgestempelt: 12.35 Uhr. Aber im Büro von Dag Hammarskjöld warMittagspause. Das Telex geriet zwischen andere Papiere, und es warmittlerweile 14 Uhr, als se<strong>in</strong> verzweifelter Pressechef, aufgescheuchtdurch die Nachrichtenagenturen, die e<strong>in</strong>e Bestätigung von NagysRundfunkrede verlangten, das Dokument zwischen anderen Unterlagenentdeckte.Es hätte zu ke<strong>in</strong>er ungünstigeren Zeit kommen können. Die622


Vollversammlung sollte um 17 Uhr zusammentreten – aber auf derTagesordnung stand die Suezkrise und nicht <strong>Ungarn</strong>. Eisenhower undDulles hatten beschlossen, den Franzosen und Briten e<strong>in</strong>e Lehre zuerteilen, und <strong>in</strong> ihrem Kopf war jetzt für nichts anderes Platz. Cabot Lodgehatte se<strong>in</strong>e Instruktionen. Der dritte Weltkrieg war <strong>in</strong> den Bereich desMöglichen gerückt, und die Spannungen zerrten an den Nerven derSekretariate im UN-Gebäude. Alle bisherigen, spärlichen Nachrichten ausBudapest hatten den Ansche<strong>in</strong> erweckt, als sei die Krise vorüber. Niemandschien daran <strong>in</strong>teressiert zu se<strong>in</strong>, die Welt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e neue zu stürzen. NagysAppell wurde ohne jeglichen Dr<strong>in</strong>glichkeitsvermerk an alle UN-Delegierten verteilt. Die meisten ignorierten die Note. Und wie reagierteWash<strong>in</strong>gton? Um 14.05 Uhr traf im State Department e<strong>in</strong>e kurzeInhaltsangabe von Nagys Note e<strong>in</strong>.Í Man antwortete Spencer Barnes um14.40 Uhr: »Unterrichten Sie Außenm<strong>in</strong>isterium . . . Angelegenheit wirdmit größter Dr<strong>in</strong>glichkeit höchsten Stellen der US-Regierung zur Kenntnisgebracht.« Aber Dulles befand sich <strong>in</strong> der Luft auf dem Weg nach NewYork, mit e<strong>in</strong>er vernichtenden Anklage gegen Großbritannien imDiplomatenkoffer.Im UN-Gebäude am Ende der 42. Straße wurde es allmählich Nachmittag.E<strong>in</strong>e Gruppe katholischer Delegierter unter Führung von Dr.Emelio Nunez-Portuondo aus Kuba – e<strong>in</strong>em unermüdlichen Kämpfergegen den sowjetischen Kolonialismus – warb <strong>in</strong>offiziell um Unterstützungfür Nagys Appell. Viele Delegierte protestierten mit dem H<strong>in</strong>weisdarauf, daß die Sitzung nicht wegen <strong>Ungarn</strong> e<strong>in</strong>berufen worden sei;außerdem lag der Fall immer noch beim Weltsicherheitsrat, wodurch e<strong>in</strong>eBehandlung durch die Vollversammlung ausgeschlossen war. Anderewiesen darauf h<strong>in</strong>, daß Nagy <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Appell von »der nächsten Vollversammlung«gesprochen hatte, was man auch so verstehen konnte, alssei erst der 12. November geme<strong>in</strong>t. Dieses Rätsel hätte man durchBerücksichtigung e<strong>in</strong>es zweiten Fernschreibens von Nagy lösen können,das genau 18 M<strong>in</strong>uten nach dem ersten <strong>in</strong> Hammarskjölds Sekretariate<strong>in</strong>traf: »Ich habe die Ehre, Sie davon zu unterrichten, daß Herr JánosSzabó, der Erste Sekretär der ungarischen UN-Delegation, die Ungarische623


Volksrepublik auf der Sondersitzung der Vollversammlung der Vere<strong>in</strong>tenNationen am 1. November 1956 <strong>in</strong> New York vertreten wird.«Offensichtlich verlegen dementierte Hammarskjölds Büro später dieExistenz dieses Telegramms (und wurde gehörig gerügt).So folgten Mißverständnisse der Unentschlossenheit, die Angelegenheitwurde verschleppt. Um 17 Uhr trat die Vollversammlung zusammen,debattierte aber nur über Suez. <strong>Ungarn</strong> wurde lediglich e<strong>in</strong>mal erwähnt,als der britische UN-Botschafter Sir Pierson Dixon GroßbritanniensVorgehen am Suez dem Verhalten der Sowjetunion gegenüberstellte, die»darauf abziele, ihre Herrschaft über <strong>Ungarn</strong> für immer aufrechtzuerhalten«.Foster Dulles sprach, erwähnte <strong>Ungarn</strong> aber überhaupt nicht.Als um 3.30 Uhr nachts über die amerikanische Resolution gegenGroßbritannien, Frankreich und Israel abgestimmt wurde, erhielt sie e<strong>in</strong>eüberwältigende Mehrheit.Erst jetzt kam <strong>Ungarn</strong> zur Sprache. Der italienische Delegierte Vitettierhob sich und erklärte zur Tagesordnung: »Ich hoffe, daß die Vere<strong>in</strong>tenNationen – wenn nötig <strong>in</strong> dieser Sondersitzung – unverzüglich alle nurmöglichen Schritte bezüglich der Bitte des ungarischen Volkes unternehmen.«Dann setzte er sich wieder, aber ke<strong>in</strong>e Entschließung folgte –nur noch weitere entrüstete Reden über Suez. Um 4 Uhr sprach Dulleswieder über Suez. Erst zum Schluß der Debatte erwähnte er <strong>Ungarn</strong> undunterstützte Vitettis Vorschlag.Î Dulles sagte: »Ich hoffe, daß dieseAngelegenheit, die auf der Tagesordnung des Weltsicherheitsrats ist, dortdr<strong>in</strong>gend behandelt wird . . . « Dies war e<strong>in</strong>e Rede lediglich für dieSchlagzeilen der Zeitungen. In Wirklichkeit sorgte sie nur für e<strong>in</strong>e weitereVerzögerung. Die wirkliche Macht lag bei der Vollversammlung. Dieganze fruchtlose Debatte wurde durch die »Stimme Amerikas« und durch»Radio Free Europe« nach <strong>Ungarn</strong> übertragen.Als Dulles nach Wash<strong>in</strong>gton zurückflog, lautete die Schlagzeile derNew York Times: »Sowjetpanzer kreisen Budapest wieder e<strong>in</strong>: Nagyappelliert an UN.«In Budapest gab es mehr als e<strong>in</strong>en, der nicht gerade glücklich über624


Nagys Widerstand war. E<strong>in</strong>e Woche lang hatte Dr. Ferenc Münnich se<strong>in</strong>eschöne Freund<strong>in</strong> Etelka nicht gesehen. Sie standen zwar <strong>in</strong> telephonischerVerb<strong>in</strong>dung, aber beide hatten Angst ume<strong>in</strong>ander. Jetzt hatte er e<strong>in</strong> kurzesRendezvous mit ihr, allerd<strong>in</strong>gs nicht <strong>in</strong> ihrer Wohnung. Er sprach zwarwenig, aber als er ihr Lebewohl sagte, konnte man me<strong>in</strong>en, daß er damitrechne, sie nicht wiederzusehen.Ï Bewaffnete Banden waren immer nochunterwegs, um Rechnungen mit Kommunisten der alten Garde zubegleichen. Und es gab wenige Aktivisten, deren kommunistische Vergangenheitso weit zurückreichte wie die se<strong>in</strong>ige. In se<strong>in</strong>em Bemühen, derStraße zu gefallen, hatte Imre Nagy Münnich fortgesetzt gedemütigt:Zusammen mit anderen Intimfreunden Rákosis wie Außenm<strong>in</strong>ister ImreHorváth, Antal Apró und István Kóssa war er am 30. Oktober nicht mit <strong>in</strong>das neue engere Kab<strong>in</strong>ett aufgenommen worden. Wenige Tage zuvor hatteMünnich erklärt: »Uns bleibt nur der ehrenhafte Tod!«Ì Aber <strong>in</strong>zwischenhatte er mit den Russen gesprochen und offensichtlich beschlossen, se<strong>in</strong>enOpportunismus über se<strong>in</strong>e Ehre zu stellen.Etelka wußte, daß die Russen angefangen hatten, mit e<strong>in</strong>zelnenKommunisten über die Möglichkeit zu verhandeln, Imre Nagy durch e<strong>in</strong>enanderen zu ersetzen. Sie glaubte, daß man ihm das Amt des M<strong>in</strong>isterpräsidentenangeboten habe. Aber er tauchte jetzt unter – und wagte nurselten, sich außerhalb des Parlaments sehen zu lassen. Am Nachmittag des1. November stand Oberst Gyula Oszkó, der Führer des Revolutionskomiteesder Polizei, zufällig neben Münnich <strong>in</strong> dessen Büro, als e<strong>in</strong>Anruf kam. Er hörte, wie Münnich <strong>in</strong> Russisch antwortete. Oszkó konntegenug Russisch, um zu verstehen, daß jemand am anderen Ende derLeitung Fragen über den Fortgang irgende<strong>in</strong>er Angelegenheit stellte undUhrzeiten, Daten und Namen wissen wollte. Münnich erwähnte denNamen Kádár: »In Ordnung, wir werden dort se<strong>in</strong>«, bestätigte er und: »Ja.Am späten Abend!«Ó Kádár war verstimmt und ärgerlich durch Nagysständige Änderungen des Kab<strong>in</strong>etts.»Die Regierung«, sagte er e<strong>in</strong>ige Wochen später, »war unfähig, sichmit den Problemen des Augenblicks zu beschäftigen. Die Konterrevolutiongewann die Oberhand, und als Folge der täglichen Änderungen625


<strong>in</strong>nerhalb des Kab<strong>in</strong>etts sah die Regierung schließlich so aus, daß ihreBegründer sie nicht wiedererkannt hätten!«ÔKádár und se<strong>in</strong>e Partei standen an e<strong>in</strong>em Kreuzweg. Wahrsche<strong>in</strong>lichauf Anweisung Mikojans und Suslows hatte er begonnen, e<strong>in</strong>e neuekommunistische Partei zu organisieren. Das Merkwürdige war, daß er sichscheute, die alte Partei tatsächlich aufzulösen. Er und se<strong>in</strong>e Ges<strong>in</strong>nungsfreundehatten diese logische Entscheidung unter großem Druck getroffen.»Genosse György Lukács zum Beispiel, plagte uns alle fünf M<strong>in</strong>uten mitder Mitteilung, daß irgende<strong>in</strong> Institut oder irgendwelche Leute bereitszusammensäßen und lediglich auf e<strong>in</strong>en Telephonanruf von uns wartetenund daß, wenn wir nicht bald zu e<strong>in</strong>er Entscheidung kämen, e<strong>in</strong>e neuePartei zu organisieren, sie ohne uns vorgehen würden! Anderthalb Tagediskutierten wir h<strong>in</strong> und her, bis wir schließlich diese Entscheidungtrafen.«ÁÊAm 1. November proklamierte Kádár die neue Ungarische SozialistischeArbeiterpartei. So existierten zwei Parteiskelette nebene<strong>in</strong>ander her:die alte, offensichtlich zum Untergang verurteilt, stal<strong>in</strong>istisch verseuchtund ause<strong>in</strong>anderfallend, und Kádárs neue Partei, sche<strong>in</strong>bar pro-Nagyorientiert,aber von der »Konterrevolution« <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e zunehmend ungewisseZukunft getrieben. Bootsmann János Kádár hatte e<strong>in</strong> Be<strong>in</strong> <strong>in</strong> jedem Boot,als diese ause<strong>in</strong>anderdrifteten. Es wurde Zeit für e<strong>in</strong>e Neue<strong>in</strong>schätzung derLage.Der junge italienische Journalist Bruno Tedeschi g<strong>in</strong>g zum Parlament,wo ihm Kádár e<strong>in</strong> improvisiertes Interview gab.ÁÁ Kádár arbeitete bereitsam Image der neuen Partei und an der neuen L<strong>in</strong>ie des »UngarischenNationalkommunismus«. »Wie Sie wissen«, sagte er zu Tedeschi, <strong>in</strong>demer langsam und meist nur halblaut sprach, »haben zahlreiche Kommunistenauf seiten der Studenten, der Arbeiter und des Volkes gekämpft.«Tedeschi fragte, wer denn die russischen Truppen herbeigerufen habe.Kádár gab die übliche Antwort: »Ich möchte sagen, daß Gerö vielleichtdavon wußte und auch se<strong>in</strong>e Zustimmung gab, aber es war AndrásHegedüs, der die Russen herbeirief.« Danach gab er nur noch ausweichendeAntworten. Tedeschi hatte unbewußt e<strong>in</strong>en heiklen Punkt626


angesprochen – die gestrigen Geheimgespräche mit Männern des Kreml.Mit wem hatten Mikojan und Suslow gesprochen? Kádár der selbst mitihnen verhandelt hatte, log: »Ich weiß es nicht.«Als Tedeschi fragte: »Was wird das Schicksal jener Kommunistense<strong>in</strong>, die <strong>in</strong> den Tagen Rákosis und se<strong>in</strong>er Genossen im Vordergrundstanden und nun an der Seite der Sowjettruppen und der ÁVH kämpften?«Kádárs Antwort verriet, daß er ke<strong>in</strong>e Brücken h<strong>in</strong>ter sich verbrennenwollte. »Unsere Regierung wird nichts gegen sie unternehmen.«Wichtiger war, was Kádár <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en öffentlichen Äußerungen jetztnicht sagte. Nicht e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziges Mal wiederholte er die Konzessionen, dieNagy der Straße gemacht hatte – Mehrparteiensystem, freie Wahlen,Neutralität und Austritt aus dem Warschauer Pakt.Vor se<strong>in</strong>em geistigen Auge stand das Bild se<strong>in</strong>es besten Freundes ImreMezö, der niedergeschossen worden war, als er sich auf demRepublikplatz ergab. Wer würde der nächste se<strong>in</strong>? Se<strong>in</strong>e persönlichenGefühle würde er erst acht Monate später <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Rede vor dem Kongreßse<strong>in</strong>er neuen Partei preisgeben.ÁË Es waren die Gefühle e<strong>in</strong>es Kommunisten,der se<strong>in</strong> Leben der Partei gewidmet hatte und der nun erbittert warüber die Erniedrigung dieser Partei, empört über die allgeme<strong>in</strong>enKonzessionen, die dem M<strong>in</strong>isterpräsidenten abgerungen wurden, undentschlossen, die Diktatur des Proletariats wiederherzustellen. Vor allemdie jüngste drohende Erklärung der Rebellen beunruhigte ihn: »Wirbetrachten die gegenwärtige politische Führung als vorübergehend. Wirwerden alle Mittel e<strong>in</strong>setzen, um den stal<strong>in</strong>istischen E<strong>in</strong>fluß zubeseitigen.« Offensichtlich würden Kommunisten <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> bald e<strong>in</strong>eausgerottete Gattung se<strong>in</strong>.Gegen 21 Uhr nahm Münnich se<strong>in</strong>en Hut und sagte: »Wir gehen zumEssen.« Zusammen mit Kádár verließ er das Parlamentsgebäude. Von derFahrbereitschaft ließen sie sich e<strong>in</strong>en Wagen kommen und verschwanden<strong>in</strong> der Dunkelheit.Die Position der Rebellen und ihrer Führer Dudás und Szigethy war<strong>in</strong>zwischen deutlich schwächer geworden. Ke<strong>in</strong>er von den Straßen-627


kämpfern war aufgefordert worden, <strong>in</strong> die Regierung e<strong>in</strong>zutreten. Diealten, bürgerlichen Parteien, die zuvor <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> versagt hatten, wurdenwiederaufgebaut und erhielten die besten Kab<strong>in</strong>ettssitze. Der stellvertretendeM<strong>in</strong>isterpräsident Tildy lud mehrere Politiker der Kle<strong>in</strong>landwirte-Partei für e<strong>in</strong>en ganzen Tag <strong>in</strong>s Parlament e<strong>in</strong> und <strong>in</strong>formierte sie darüber,daß Nagy se<strong>in</strong>e Regierung auf Koalitionsbasis umbaute, und zwar mitBeteiligung der Kle<strong>in</strong>landwirte, der Bauernpartei, der Sozialdemokratenund der Kommunisten. Nagy war jetzt auch damit e<strong>in</strong>verstanden, daßneben Tildy und Béla Kovács noch e<strong>in</strong> weiterer Mann der Partei, István B.Szabó, <strong>in</strong> die Regierung e<strong>in</strong>trat.Wie so oft im Laufe se<strong>in</strong>er Karriere machte Tildy wiederum geme<strong>in</strong>sameSache mit den Kommunisten, diesmal beim Versuch, den <strong>Aufstand</strong>niederzuschlagen: Er hatte schließlich alle Ziele für se<strong>in</strong>e eigene Parteierreicht. Am Nachmittag erschienen drei junge Rebellen – wahrsche<strong>in</strong>lichvon der Dudás-Gruppe – im Parlament und sprachen ihn und denKommunisten der alten Garde, Zoltán Vas, auf die Notwendigkeit an, allerevolutionären Gruppierungen zu vere<strong>in</strong>en und sie <strong>in</strong> jedes M<strong>in</strong>isteriume<strong>in</strong>zubauen. Tildy und Vas machten Ausflüchte und erklärten, daß esvierundzwanzig Stunden dauern würde, die e<strong>in</strong>zelnen Rebellenverbändezusammenzubr<strong>in</strong>gen. Um 20 Uhr kehrten die Rebellen zurück; und jetztversuchte Vas, sie zu entführen. ÁVH-Leute hatten sich offensichtlich anihrem Wagen zu schaffen gemacht. Es gelang ihnen, zu Fuß zuentkommen. Die amerikanische Gesandtschaft berichtete später: »Jugendlicheerhielten Waffen (und) g<strong>in</strong>gen zum Hauptpostamt, von wo sie überFernschreiber der Gesandtschaft ihre erste Bitte übermittelten und dann <strong>in</strong>Begleitung e<strong>in</strong>es der Trupps der ungarischen Volksarmee zur Gesandtschaftkamen.«Das Gesandtschaftsgebäude war fast völlig verlassen. Gegen Mitternachthörte der Attaché Gaza Katona die Türglocke läuten.Der wachhabende Mar<strong>in</strong>esoldat bat ihn nach unten, um e<strong>in</strong>e dreiköpfigeDelegation zu empfangen. Wenige Meter von der Gesandtschaftentfernt parkte e<strong>in</strong> Lastwagen der ungarischen Volksarmee mit e<strong>in</strong>emkle<strong>in</strong>en Trupp Soldaten.628


Sie sagten: »Wir s<strong>in</strong>d vom Revolutionsrat der Corv<strong>in</strong>-Passagegeschickt worden.« Sie baten um e<strong>in</strong>en Wagen, um nach Györ zu fahren,wo sie Flugblätter drucken wollten, die <strong>in</strong> Budapest verteilt werdensollten. Sie fragten auch, was für Hilfe von den Vere<strong>in</strong>igten Staaten unterwegssei. »Wir brauchen alle Arten von Waffen – vor allem Panzerfäusteund Verpflegung.«Nach kurzer Diskussion mit Luftwaffenattaché Oberst WelwynDallam wurden ihnen Erste-Hilfe-Material und Konserven ausgehändigt.Die automatischen Waffen über ihren Schultern verhedderten sich mitihrer Last, und die Konserven fielen auf den Bürgersteig, als die Rebellenzu ihrem Wagen zurückliefen. Katona sah, wie sie im Schatten auf demPflaster h<strong>in</strong> und her liefen, um die Konservendosen aufzusammeln und <strong>in</strong>den Lastwagen zu werfen, bevor sie mit abgeblendeten Sche<strong>in</strong>werfern <strong>in</strong>der Dunkelheit verschwanden.Wahrsche<strong>in</strong>lich fuhren sie danach zur italienischen Gesandtschaft. Inderen Tagebuch heißt es: »Gegen 23.30 Uhr kommen Delegierte desBezirks-Revolutionsrates, um mit dem Gesandten zu verhandeln, undberichten ihm von ihrer Sorge über die Verschlechterung der Situation; siebitten ihn, die notwendigen Schritte zu unternehmen, um Hilfsmaterial,vor allem <strong>in</strong> Form von Waffen, zu erhalten.«Der Revolutionsrat der Universität, dessen Vorsitzender e<strong>in</strong> ziemlichlangweiliger kommunistischer Studentenführer war, schien auch entmutigtzu se<strong>in</strong>. Er prüfte und akzeptierte den Vorschlag, der zuerst <strong>in</strong> Györ durchden Ingenieur Zsebök gemacht worden war; e<strong>in</strong> Gegenparlament sollte <strong>in</strong>Budapest zusammentreten, um dann e<strong>in</strong>fach das Parlamentsgebäude zuübernehmen. In e<strong>in</strong>em Dienstwagen der Regierung eilten Studentendelegationennach Györ, um die notwendigen Vorbereitungen zu treffen.Das Rathaus <strong>in</strong> Györ befand sich <strong>in</strong> vollem Aufruhr, als sie am nächstenTage erschienen. Zsebök versuchte verzweifelt, die D<strong>in</strong>ge <strong>in</strong> Gang zusetzen, aber es schien unwahrsche<strong>in</strong>lich zu se<strong>in</strong>, daß das neue Parlament<strong>in</strong> der Lage se<strong>in</strong> würde, sich am vorgesehenen Tage, am Sonntag, dem 4.November, <strong>in</strong> Budapest zu versammeln, da <strong>in</strong>zwischen sowjetischeStreitkräfte alle Wege nach Budapest hermetisch abgeriegelt hatten.629


An diesem Tage trat auch Kard<strong>in</strong>al M<strong>in</strong>dszenty se<strong>in</strong> Amt wieder an.E<strong>in</strong> Mann, der auf e<strong>in</strong>e versprochene Audienz bei Se<strong>in</strong>er Em<strong>in</strong>enz wartete,hatte die e<strong>in</strong>malige Gelegenheit, ihn zu beobachten, als er sich denPhotographen stellte: eigens<strong>in</strong>nig, beschränkt und senil. Er war umgebenvon Opportunisten und Funktionären der neugegründeten katholischenPartei, der Revolutionären Partei der Jugend, deren Funktionäre wederjung noch sehr revolutionär zu se<strong>in</strong> schienen.ÁÈDer Kard<strong>in</strong>al telephonierte mit Wash<strong>in</strong>gton und San Francisco, er hielte<strong>in</strong>e Pressekonferenz ab, auf der er es ablehnte, selbst M<strong>in</strong>isterpräsidentzu werden. (»Ich b<strong>in</strong> der Primas«, fauchte er e<strong>in</strong>en Reporter <strong>in</strong> deutscherSprache an.) Er schickte e<strong>in</strong>e persönliche Botschaft an Eisenhower, erempf<strong>in</strong>g Delegierte, Delegationen des Schweizer und des westdeutschenRoten Kreuzes – e<strong>in</strong>schließlich Adenauers Intimus Hubertus Pr<strong>in</strong>z vonLöwenste<strong>in</strong>, der davon faselte, daß es notwendig se<strong>in</strong> könnte, e<strong>in</strong>en Kriegzu riskieren, um Deutschland wiederzuvere<strong>in</strong>igen. Er empf<strong>in</strong>g auch denSonderbotschafter des Vatikans, Monsignore Rodha<strong>in</strong>, der große Summenfür <strong>Ungarn</strong>s Katholiken aus Rom mitbrachte.M<strong>in</strong>dszenty ist ke<strong>in</strong> Dummkopf; bevor der Emissär geht, vertraut ihmder Kard<strong>in</strong>al se<strong>in</strong>e Papiere für die Archive des Vatikans an. Aus irgende<strong>in</strong>emder Räume dr<strong>in</strong>gt der Geruch von verbranntem Papier. Deritalienische Gesandte Fabrizio Franco schreibt <strong>in</strong> se<strong>in</strong> Tagebuch: »GegenAbend verdichten sich alarmierende Gerüchte über die Rückkehrsowjetischer Truppene<strong>in</strong>heiten <strong>in</strong> die Hauptstadt und über die Ankunftsowjetischer Verstärkungen an der Ostgrenze. Inzwischen (gegen 20.20Uhr) hat der ungarische Rundfunk alle Soldaten, die nicht <strong>in</strong> derNationalgarde s<strong>in</strong>d, aufgerufen, sich b<strong>in</strong>nen vierundzwanzig Stunden beiihren E<strong>in</strong>heiten zurückzumelden, und – am späten Abend – bestätigt sichdas Gerücht, daß der Flugplatz Ferihegy von den Russen besetzt ist unddaß russische und ungarische Truppen sich schußbereit direkt gegenüberstehen, obgleich die <strong>Ungarn</strong> von ihrer Regierung den Befehl erhaltenhaben, das Feuer nicht zu eröffnen.«630


Es stimmt tatsächlich. Sowjetische Panzer, die aus der Stadtabgezogen s<strong>in</strong>d, haben alle Flughäfen besetzt. Am späten Abend gibt diesowjetische Botschaft e<strong>in</strong>e durchsichtige Erklärung heraus: RussischeZivilisten und Verwundete würden evakuiert werden. Um 23.30 Uhr wirddies im Rundfunk verkündet, der h<strong>in</strong>zufügt: »Die ungarische Luftwaffe ist<strong>in</strong> voller Stärke bereit, sich gegen e<strong>in</strong>e überwältigende Übermacht zuverteidigen. Die Regierung hat jedoch <strong>in</strong> Erkenntnis ihrer Verantwortungverboten, zu schießen. Die ungarische Luftwaffe hat deshalb Dizispl<strong>in</strong>gewahrt und wartet auf den Abzug der sowjetischen Truppen.« Inzwischenwird aber <strong>in</strong> der Hauptstadt bekannt, daß sowjetischeSpähwagen, die den Flugplatz von Ferihegy besetzt halten, den zivilenLuftverkehr zum Erliegen gebracht haben. Nur tschechische, polnischeund rumänische Flugzeuge können dort noch landen.ÁÍDie Rebellen haben im Laufe des Tages weitere Hunderte vonGefangenen aus den Prov<strong>in</strong>zgefängnissen befreit. Im Budapester Urania-K<strong>in</strong>o f<strong>in</strong>det e<strong>in</strong>e Massenversammlung früherer politischer Gefangenerstatt, e<strong>in</strong> Revolutionskomitee wird gebildet. Diese Männer kennen sichnicht mehr vor Wut. Die meisten treten der József-Dudás-Organisation beiund marschieren <strong>in</strong> se<strong>in</strong> Hauptquartier, das frühere Verlagsgebäude desKP-Organs Freies Volk, Nach dem 1. November wird es ke<strong>in</strong>em Außenstehendenmehr erlaubt, über Nacht <strong>in</strong> dem Gebäude zu bleiben, nichte<strong>in</strong>mal den Druckern. Unter den Insassen, die aus den Gefängnissen derStadt freigelassen worden s<strong>in</strong>d, ist der achtzehn Jahre alte Rezsö Varga,der wegen Unterschlagung angeklagt worden war: »Als ich hörte, daß dasRebellen-Hauptquartier im Gebäude der Zeitung Freies Volk war, meldeteich mich dort«, sagte er aus. Anführer war András Kovács, der ihm e<strong>in</strong>Gewehr und Munition gab. Am Abend nahmen diese »Elemente derrevolutionären Halbwelt« den vierunddreißigjährigen Anwalt IstvánSarkadi und den e<strong>in</strong>unddreißigjährigen ÁVH-Oberleutnant Pál Fodor fest.Varga wird e<strong>in</strong>em Wachtrupp zugeteilt. Der Gefangene Sarkadi arbeitetevor dem Krieg als Koch und desertierte 1944 zu den Russen; <strong>in</strong>zwischenwar er im Büro des öffentlichen Anklägers angestellt und befand sichgerade auf dem Wege dorth<strong>in</strong>, als Dudás’ Männer ihn am 1. November631


aufgriffen. Der ÁVH-Oberleutnant Fodor war <strong>in</strong> der Wohnung e<strong>in</strong>esFreundes entdeckt worden. Er wurde zum Verhör <strong>in</strong> das Gebäudegebracht. Beide hatten nicht mehr lange zu leben.Dudás’ Zeitung Unabhängigkeit kommt <strong>in</strong> dieser Nacht mit derBehauptung heraus, daß der »Sieg« errungen sei – die letzte der 25Forderungen, die er am 28. Oktober gestellt hat, ist jetzt vom Regimeerfüllt. E<strong>in</strong>ige se<strong>in</strong>er »Leutnants« sorgen dafür, daß drei Tonnen Kupfervon Csepel zur Staatlichen Münze gebracht werden, um Freiheitsmedaillenzu prägen. Aber es gibt noch e<strong>in</strong>en Schönheitsfehler: Dudásselbst ist immer noch außerhalb der Regierung; se<strong>in</strong>e eigenen Ambitionens<strong>in</strong>d noch nicht befriedigt.An diesem Tage ersche<strong>in</strong>t auch die erste Ausgabe des Blattes Népszabadság[Freiheit des Volkes]. Es ist der schwülstige Nachfolger dese<strong>in</strong>gegangenen Parteiorgans Freies Volk. Wahrsche<strong>in</strong>lich läßt sich amselben Tag e<strong>in</strong> Moskauer Korrespondent mit Dr. Péter Rényi, dem Leiterdes Chefsekretariats, verb<strong>in</strong>den. Bevor er jedoch den Anruf im zweitenStockwerk der Druckerei entgegennehmen kann, nimmt Dudás ihm dasTelephon aus der Hand und sagt: »Hier spricht der Chef des NationalenRevolutionskomitees. Ich möchte, daß Sie zu Herrn Molotow gehen undihm me<strong>in</strong>e persönlichen Grüße übermitteln. Sagen Sie, die Grüße kommenvon mir, József Dudás.« Rényi ist völlig verblüfft über diese Freiheit –dann dämmert ihm, daß sich Molotow und Dudás 1944 getroffen habenmüssen, als Dudás nach Moskau geschickt wurde, um über e<strong>in</strong>en Waffenstillstandzu verhandeln.ÁÎ Es ist bezeichnend für Dudás’ geschicktesTaktieren, daß er der Partei großzügig erlaubt, ihre Zeitung <strong>in</strong> »se<strong>in</strong>em«Gebäude zu drucken – allerd<strong>in</strong>gs erst, nachdem se<strong>in</strong>e eigene Zeitung dieRotationsmasch<strong>in</strong>en verlassen hat. Offenbar erkennt er, daß das Land imAugenblick Kádár und Nagy noch braucht.Ja, Dudás ist e<strong>in</strong> seltsamer »Faschist«. E<strong>in</strong>em Reporter der italienischenEpoca erklärt er: »Die Kommunisten werden bei den Wahlenzugelassen werden. Wir s<strong>in</strong>d Leute, die mit beiden Füßen auf der Erdestehen. Wir wissen, daß die Sowjetunion die zweitstärkste Macht <strong>in</strong> derWelt ist und daß ihr Land von 200 Millionen an unser Land mit 9632


Millionen grenzt . . . Wir wollen ke<strong>in</strong> Korea an der Donau. Die Führer derrevolutionären Kräfte müssen Vertrauen zu Nagy haben, selbst wenn dasVolk es bereits verloren hat. Dies ist zum Besten des Landes.«In Hunderttausenden von Wohnungen verbreitete Radio FreiesKossuth Kádárs Proklamation über die Gründung se<strong>in</strong>er neuen Partei.»Wir können sagen«, erklärte er, »daß die ideologischen und organisatorischenInitiatoren dieses <strong>Aufstand</strong>es aus euren Reihen kommen,Schriftsteller, ungarische kommunustische Journalisten, Jugend aus demPetöfi-Kreis, Tausende von Arbeitern und Bauern, alte Kämpfer, die aufGrund falscher Anzeigen verhaftet waren, kämpften <strong>in</strong> den ersten Reihengegen die Tyrannenherrschaft und die Abenteuerpolitik Rákosis.« Aber ersprach auch folgende Warnung aus: »Es besteht die ernste, beunruhigendeGefahr, daß e<strong>in</strong> bewaffnetes E<strong>in</strong>greifen des Auslandes unserem Lande dastragische Schicksal Koreas auferlegt. Deshalb müssen wir die Brutstättender Konterrevolution und Reaktion beseitigen.«Die neue Partei bildete e<strong>in</strong> vorbereitendes Führungskomitee, dem dieÖffentlichkeit trauen konnte: Donáth, Kádár, Kopácsi, Losonczy, Lukács,Nagy und Zoltán Szántó. Doch diese Liste war re<strong>in</strong>e Augenwischerei:Donáth sagt jetzt: »Ich habe Kopácsi nicht e<strong>in</strong>mal zu Gesicht bekommen.«Diese Rundfunkrede war nur e<strong>in</strong>er von vielen Appellen, die Imre Nagyan jenem Abend veranlaßten, um dafür zu sorgen, daß die Ruhe um jedenPreis wiederhergestellt würde, bevor die Russen die Unruhen als Vorwandfür ihre Rückkehr benutzen konnten. Der Führer der Kle<strong>in</strong>landwirte, BélaKovács, wurde am Abend des 1. November aus se<strong>in</strong>em Krankenbett <strong>in</strong>Pécs geholt, und der Rundfunk verkündete, daß er jetzt <strong>in</strong> Budapeste<strong>in</strong>getroffen sei, um <strong>in</strong> Nagys Regierung e<strong>in</strong>zutreten. Nagy überredete ihn,e<strong>in</strong>e Erklärung abzugeben, die sofort über den Rundfunk verbreitetwerden sollte, und <strong>in</strong> der er se<strong>in</strong>e völlige Unterstützung der Nationalregierungzum Ausdruck br<strong>in</strong>gen sollte: »Wir müssen wachsam se<strong>in</strong> gegendie Gefahr der Restauration und Reaktion. Der politische Kampf muß sichdeshalb auf die Notwendigkeit der Verteidigung der landwirtschaftlichen,<strong>in</strong>dustriellen und schulischen Reformen konzentrieren, wenn wir ver-633


h<strong>in</strong>dern wollen, daß die großen Landbesitzer und dicken Kapitalistenwieder die Oberhand gew<strong>in</strong>nen.« Auch General Maléter wurde <strong>in</strong> dieseKampagne e<strong>in</strong>gespannt. Er verkündete: »Das wichtigste ist jetzt, Ruhe undOrdnung zu bewahren . . . Vom 1. November an werden die Freiheitskämpferals Nationalgarde umgruppiert. Sie werden so lange bewaffnetbleiben, wie sowjetische Truppen <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> verweilen.« Dann appellierteer an die Arbeiter, ihren Streik zu beenden: »Me<strong>in</strong>e Landsleute! Im Laufedieses bewaffneten, revolutionären Kampfes war jeder Kämpfer stolzdarauf, daß ihr Arbeiter sie unterstützt habt durch euren Streik. Aber nachjeder Schlacht muß e<strong>in</strong>e Zeit des friedlichen Aufbaus kommen, um dieFrüchte der Revolution zu sichern. Das Ziel des Streiks ist es, den Fe<strong>in</strong>dzu schwächen. Der gegenwärtige Streik der Arbeiter schwächt jedochnicht mehr den Fe<strong>in</strong>d – er schwächt uns selbst. Wir brauchen Milch fürunsere K<strong>in</strong>der, Kohle für unsere Fabriken und Transportmöglichkeiten fürunsere Arbeiter, die wieder mit ihren Familien zusammen se<strong>in</strong> möchten.Sonst verlieren wir all das, was unsere revolutionären Kämpfer mit großenBlutopfern erreicht haben. Ungarische Arbeiter! Stärkt unser freies, unabhängigesund neutrales <strong>Ungarn</strong>, unser geliebtes Vaterland! Geht wieder andie Arbeit!« Die ungarische Sprache, die Maléter gebrauchte, war unnatürlichschwülstig.ÁÏSe<strong>in</strong>e erste Frau Maria, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Wohnung auf der anderen Seiteder Donau <strong>in</strong> Buda wohnte, war ausgegangen, als er die Rede hielt, aberse<strong>in</strong>e drei K<strong>in</strong>der hörten Radio. Der zehnjährige Pál stürzte sich auf sie,als sie zurückkam: »Papa hat gerade im Radio gesprochen!« Dann holte ersich e<strong>in</strong> Stück Papier. »Lieber Papa«, schrieb er. »Wir s<strong>in</strong>d alle stolz aufDich, weil Du e<strong>in</strong> großer Held bist und auf unserer Seite kämpfst. Wirlieben Dich immer noch. Aber wir haben oft gewe<strong>in</strong>t, weil Du nichtgekommen bist, um uns zu besuchen. Wo warst Du, als Mami krank warund wir alle<strong>in</strong> zu Hause se<strong>in</strong> mußten? Und wo warst Du, als Kle<strong>in</strong>-Juditkaim Krankenhaus war und Dich so gerne sehen wollte. War-um bist Dunicht gekommen? Aber ganz gleich, nun hast Du zu uns über das Radiogesprochen, und als Du sagtest, wir alle müssen wieder anfangen zuarbeiten, damit die K<strong>in</strong>der mehr Brot und Milch bekommen, wußten wir,634


daß Du zu uns gesprochen hast. Deshalb schreibe ich Dir, daß wir Dichlieben und daß wir wollen, daß Du bald nach Hause kommst und unsbesuchst. Viele Grüße von De<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>en Sohn Palcsi.«Nur wenige <strong>Ungarn</strong> waren bereit zu glauben, daß die Russen ihnen mitGewalt den Sieg entreißen würden. Zugegeben, es gab auch e<strong>in</strong>ige kurzeNachrichten über Suez, aber allgeme<strong>in</strong> war man der Ansicht, daß die<strong>in</strong>nere Krise, <strong>in</strong> die die Sowjetunion durch ihren XX. Parteitag geratenwar, Chruschtschow daran h<strong>in</strong>dern würde, e<strong>in</strong> »Suez« <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> zuversuchen. Alberto Cavallari war anderer Me<strong>in</strong>ung. Er fuhr am selbenAbend nach Wien, um Mailand telephonisch davon zu unterrichten, daßb<strong>in</strong>nen weniger Stunden mit e<strong>in</strong>er Niederschlagung des <strong>Aufstand</strong>s zurechnen sei. Dann fuhr er nach <strong>Ungarn</strong> zurück, um Zeuge e<strong>in</strong>es »8.September« zu se<strong>in</strong>, jenes Tages, an dem 1943 Italien se<strong>in</strong>e Kapitulationerlebte.635


42Brüderliche KüsseHUNDERT METER von der Platane auf dem Republikplatz entfernt, an derOberst Papp an den Füßen aufgehängt worden war, s<strong>in</strong>d zwei flacheGräben unter dem Straßenpflaster <strong>in</strong> der Nähe des schwerbeschädigtenStädtischen Parteihauptquartiers ausgehoben worden. E<strong>in</strong>ige Leutebehaupten, sie hätten unterirdische Klopftöne gehört. Mit bloßen Händenkommt man nicht weiter, also wird e<strong>in</strong> Motorbagger geholt. NeugierigeZeitungsreporter stehen dabei und beobachten die verzweifelte Suche nachKerkern, <strong>in</strong> denen sich immer noch ÁVH-Gefangene bef<strong>in</strong>den sollen. DerArchitekt wird geholt, Baupläne werden studiert und am 2. Novemberschafft man auch den früheren Hausmeister herbei. Stimmen werden laut:»Diese Angelegenheit wird Auswirkungen über die Grenzen des Landesh<strong>in</strong>aus haben.« Die Sache wird dr<strong>in</strong>gend, fast e<strong>in</strong>e Staatsangelegenheit:Man muß irgend etwas f<strong>in</strong>den. Die gesamte moskauorientierte Presse hatbegonnen, das Pogrom politisch auszuschlachten; jetzt muß es gerechtfertigtwerden. E<strong>in</strong>e Bohranlage wird <strong>in</strong>stalliert, aber der Bohrer trifft nurauf Lehm. Jemand kommandiert: »Den Bohrer fünf Meter weiter und dannwieder anfangen!« Überall werden Löcher angebracht. In den Parkanlagen,<strong>in</strong> der Nähe der Lüftungsanlage des Erkel-Theaters, auf derRákóczi út und dem Baross tér. Die Rebellen werden zu Opfern ihrereigenen Hysterie, aber die Grabungen werden fortgesetzt.ÁE<strong>in</strong>e völlig falsche Nachricht wird <strong>in</strong> den Kurznachrichten verbreitet:»E<strong>in</strong> Labyr<strong>in</strong>th von Korridoren ist <strong>in</strong> fünfzehn Meter Tiefe entdecktworden; sie erstrecken sich <strong>in</strong> alle Richtungen über e<strong>in</strong> unglaublich großesGebiet. Dumpfe Hilfeschreie s<strong>in</strong>d zu hören. Wenn man diese Geräusche636


mit Verstärkern aufnimmt, stellt sich heraus, daß sich etwa 150 Menschendort unten bef<strong>in</strong>den müssen – alles deutet darauf h<strong>in</strong>, daß es sich umGefangene der ÁVH-Gangster handelt.«ËDer 2. November, e<strong>in</strong> Freitag, begann mit e<strong>in</strong>em kalten Regen, der <strong>in</strong>zeitweilige Graupelschauer überg<strong>in</strong>g. Gegen 10 Uhr wollte Nagy mitjanos Kádár über das Programm sprechen, das der Parteisekretär ihmgestern vorgelegt hatte.Kádár war nicht zu f<strong>in</strong>den.E<strong>in</strong>e Stunde später empf<strong>in</strong>g Maléter <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er düsteren, von E<strong>in</strong>schlägenübersäten Kaserne e<strong>in</strong> Dutzend Journalisten aus dem Westen.ÈSie bahnten sich ihren Weg, vorbei an se<strong>in</strong>em berühmten T-34, der denE<strong>in</strong>gang versperrte, und warteten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Wachstube, bis er Zeit für siehatte. Se<strong>in</strong> Arbeitszimmer glich e<strong>in</strong>em Arznei- und Lebensmittelmagaz<strong>in</strong>.Die meisten Spenden stammten aus Österreich. Zwanzig Klappstühlewurden here<strong>in</strong>gebracht, und dann erschien Maléter: immer noch schlankund drahtig, aber se<strong>in</strong>e <strong>in</strong>telligenten Augen blickten müde, und se<strong>in</strong> K<strong>in</strong>nwar unrasiert. Er erklärte sich bereit, ihre Fragen zu beantworten.»Was werden Sie unternehmen, wenn die russischen Truppen,entgegen ihrer feierlich erklärten Zusicherung abzuziehen, dennoch denKampf gegen die unter Ihrem Kommando stehende ungarische Armeeeröffnen?«Maléter hielt sich genau an die Regierungsl<strong>in</strong>ie: »Weder die RegierungImre Nagy noch ich selbst haben Grund, an dem von Vizem<strong>in</strong>isterpräsidentMikojan gegebenen Wort zu zweifeln. Wir haben die ungarischeArmee und die Bevölkerung angewiesen, ke<strong>in</strong>erlei Aktionen gegen die imLande stationierten sowjetischen Truppen zu unternehmen. Sollte jedochdie ungarische Armee angegriffen werden, so hat sie Weisung erhalten,sich zu verteidigen.«Jemand fragte, wieso es K<strong>in</strong>der fertiggebracht hätten, russische Panzerzu knacken. Maléter ließ e<strong>in</strong>e Zwei-Liter-M<strong>in</strong>eralwasserflasche herbeiholenund erklärte, wie sie mit Benz<strong>in</strong> und e<strong>in</strong>em improvisierten Dochtgeladen werden könne.637


Allmählich wurden die Restaurants und Cafés wieder geöffnet. Zeitungsverkäuferriefen die Namen zahlreicher Blätter aus. Die heutigenZeitungen brachten e<strong>in</strong>en Appell des Revolutionskomitees von Csepel,den Generalstreik zu beenden. Andere Arbeiterräte bemühten sich ebenfalls,dem Ausstand e<strong>in</strong> Ende zu machen, <strong>in</strong>dem sie erklärten, daß dasRegime die Forderungen der Rebellen erfüllt habe. Die Masch<strong>in</strong>enfabrikLang wurde wieder geöffnet. Über tausend Mann erschienen bei denGanz-Lokomotivwerken und wurden mit Instandsetzungsarbeiten beschäftigt.Sie reparierten die Schäden, die durch Masch<strong>in</strong>engewehrfeuer <strong>in</strong> derHungaria-Werkstatt entstanden waren. Da jedoch die Angestellten deröffentlichen Verkehrsmittel noch im Ausstand waren, blieben die meistenFabriken geschlossen.An den Ecken der Hauptstraßen hatte der Schriftstellerverband leereMunitionskisten unbewacht aufgestellt, <strong>in</strong> denen Spenden für die H<strong>in</strong>terbliebenender Gefallenen gesammelt wurden – mit e<strong>in</strong>em Schild, an deme<strong>in</strong>e Tausend-For<strong>in</strong>t-Note befestigt war: »Die Re<strong>in</strong>heit unserer Revolutionerlaubt uns diese Methode der Sammlung.«Im Laufe dieses Tages begann der persönliche Assistent Nagys, JózsefSzilágyi, planlos nach den verschwundenen Funktionären Kádár undMünnich zu suchen. Nagy beauftragte jemanden, Münnich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>erWohnung anzurufen. Niemand antwortete. Der Fahrer gab zu, beideMänner zur sowjetischen Botschaft gefahren zu haben, wo sie die Wagengewechselt hätten und weggefahren seien. Schließlich diktierte Szilágyie<strong>in</strong>e ausführliche Aktennotiz, <strong>in</strong> der es abschließend hieß: »Man mußannehmen, daß János Kádár und Ferenc Münnich zu den Sowjetsdesertiert s<strong>in</strong>d.« Nagy wurde dies <strong>in</strong> Gegenwart von Losonczy, Donáthund anderen mitgeteilt.ÍNach se<strong>in</strong>er Rückkehr aus Wien rief Alberto Cavallari die diplomatischenVertretungen des Westens an. Von ihnen erfuhr er, daß die Russenden Botschaftern des Ostblocks empfohlen hätten, Frauen und K<strong>in</strong>der zuevakuieren. Es roch immer brenzliger. Cavallari rief auch den sowjetischenBotschafter an, um etwas über die Situation <strong>in</strong> den nächsten638


Stunden zu erfahren.Juri Andropow erwiderte, wie Cavallari <strong>in</strong> se<strong>in</strong> Notizbuch schrieb,höflich: »Ich hoffe, es wird alles gut werden, aber ich kann nichtgarantieren, was die Militärs tun werden.«Am Morgen telephonierte Nagy mit dem Kommandeur se<strong>in</strong>er neuenNationalgarde, General Béla Király, über ihre direkte Leitung. Nagy sagte:»Andropow hat dagegen protestiert, daß ungarische Terroristen <strong>in</strong>nerhalbder sowjetischen Botschaft randalieren. Falls die ungarische Regierungnicht <strong>in</strong> der Lage sei, die Ordnung wiederherzustellen, müsse er diesowjetische Armee zu Hilfe rufen.«Î Király schickte e<strong>in</strong> Dutzend Panzer,hundert Infanteristen und hundert Mann der Nationalgarde zumHeldenplatz nahe der Botschaft. Dann fuhr er selbst h<strong>in</strong>über. Er fand dieGorkij fasor verlassen vor. Nachdem er zehn M<strong>in</strong>uten gewartet hatte,wurde er von Andropow empfangen. Der Botschafter entschuldigte sich:»Nagy muß mich mißverstanden haben.« Es habe zwar Warnungenvor Tumulten gegeben, aber es sei nicht zu solchen Unruhen gekommen.»Glauben Sie mir, Herr General«, fügte Andropow h<strong>in</strong>zu, »dassowjetische Volk ist der beste Freund <strong>Ungarn</strong>s. Wissen Sie übrigens, daßwir Verhandlungen über den sofortigen Rückzug der sowjetischenTruppen angeboten haben? Wir würden gerne über E<strong>in</strong>zelheiten mit Ihnensprechen. Würden Sie so freundlich se<strong>in</strong> und Herrn Nagy anrufen undfragen, ob er unsere Vorschläge erhalten hat?« Er wies auf das roteTelephon auf se<strong>in</strong>em Schreibtisch: Andropow war an das geheime K-Leitungsnetz angeschlossen.Nagy bestätigte, daß er die Note empfangen habe: »Ich b<strong>in</strong> mit dervorgeschlagenen Zusammenkunft e<strong>in</strong>verstanden«, sagte der M<strong>in</strong>isterpräsident.»Sie werden Mitglied unserer Delegation se<strong>in</strong>.«Andropow begab sich zum Parlament und übergab dem Premierm<strong>in</strong>isterMoskaus Antwort. Er sagte, se<strong>in</strong>e Regierung habe die Note überdie Erklärung zum Warschauer Pakt zur Kenntnis genommen, und batNagy, e<strong>in</strong>e Liste mit Mitgliedern für die beiden Kommissionen aufzustellenund zu sagen, wo die politischen Verhandlungen stattf<strong>in</strong>densollten. Die Sowjets wollten die militärischen Gespräche <strong>in</strong> Budapest639


führen.Király g<strong>in</strong>g ebenfalls zum Parlament. Hier teilte ihm der Regierungschefmit, daß er beschlossen habe, General Maléter mit den Verhandlungenzu betrauen. Király war gekränkt, denn mit den Gesprächen warviel Prestige verbunden. Nagy tröstete ihn: »Ich möchte, daß Sie zume<strong>in</strong>er Verfügung stehen, während Maléter weg ist.« Király war neidischauf Maléters Ruhm. Er fand ihn zunehmend schwierig <strong>in</strong> der Zusammenarbeit– er war plötzlich hochnäsig und unzugänglich geworden. Királyverbrachte viel Zeit damit, <strong>in</strong> Kopácsis Polizeipräsidium am Deák térKommandeure für die Nationalgarde anzuwerben. Er schlief auf e<strong>in</strong>emKlappbett, manchmal auch am Tage. Unten im Polizeikerker hatte ermehrere se<strong>in</strong>er Gegner, zum Beispiel General Gyula Uszta, e<strong>in</strong>gesperrt.Uszta hatte als Partisan während des Krieges auf sowjetischer Seitegekämpft. E<strong>in</strong> Journalist, der ihn <strong>in</strong>terviewte, stellte fest, daß er dengrößten Teil des Tages damit verbrachte, zu erfahren, was sich ereignete.ÏKirály führte stundenlang Streitgespräche über Demarkationsl<strong>in</strong>ien.Für jeden Fehler machte er den Verrat der Moskowiter verantwortlich.Moskau hatte mehrere ungarische Offiziere mit E<strong>in</strong>zelheiten e<strong>in</strong>es»speziellen sowjetischen Militärplans« nach Budapest geschickt. DieMoskowiter teilten die Hauptstadt <strong>in</strong> zwei Zonen e<strong>in</strong>: e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>nere unterKirály und e<strong>in</strong>e äußere unter Oberst Márton. Király rechnete damit, e<strong>in</strong>emrussischen Angriff mehrere Tage lang standhalten zu können. ZurVerteidigung des Flugplatzes von Budaörs hatte er Infanterie, Artillerieund Flak geschickt. Auf diese Weise würde es der Nagy-Regierungwenigstens ermöglicht, <strong>in</strong>s Exil zu flüchten. Aber dies wäre ke<strong>in</strong>e Sache,für die junge Männer ihr Leben auf den Barrikaden lassen würden.Darüber h<strong>in</strong>aus hatten Nagys Offiziere nachdrücklich und wirksam dafürgesorgt, daß Waffen, Munition und anderes Kriegsgerät, das dieAufständischen <strong>in</strong> ihren e<strong>in</strong>wöchigen Kämpfen mit den Russen erbeutethatten, abgeliefert würden. Nur wenn Ruhe und Ordnung aufrechterhaltenwürden, so glaubten Király Maléter und Nagy <strong>in</strong> ihrer Naivität, könntendie Russen ferngehalten werden. Er sagte zu John MacCormac, daß dieseAufgabe durch »Radio Free Europe« und die »Stimme Amerikas«640


erschwert würde. »Sie hetzen die <strong>Ungarn</strong> auf, die Rebellion und Streiksfortzusetzen. Aber die Revolution fordert jetzt, daß die Arbeiter wieder anihre Arbeitsplätze zurückkehren.«In Wirklichkeit rief auch »Radio Free Europe« die Rebellen auf, Ruhezu bewahren. Über ihre Antennen g<strong>in</strong>gen dr<strong>in</strong>gende Warnungen h<strong>in</strong>aus, <strong>in</strong>denen zu »Diszipl<strong>in</strong> und Zurückhaltung« aufgefordert wurde. Als man <strong>in</strong>München die Nachricht über sowjetische Truppenbewegungen las, wurdendie Analytiker von RFE von e<strong>in</strong>em Gefühl der Hilflosigkeit übermannt.Sie beklagten, daß es unmöglich sei, die Bedeutung dieser Berichte richtige<strong>in</strong>zuschätzen: »Unsere Zuhörer müssen versuchen, sich diese undähnliche Fragen selbst zu beantworten«, hieß es.Aber alle Täuschungen Andropows konnten auf die Dauer dieWahrheit nicht verbergen. Im Laufe des Morgens waren zwei sowjetischePanzerzüge über die Grenze nach Záhony e<strong>in</strong>gedrungen, wo sie denBahnhof nach hartnäckigem Widerstand der Eisenbahner besetzten.Danach hatten sie die Bahnl<strong>in</strong>ie <strong>in</strong> Richtung Nyiregyháza e<strong>in</strong>genommen.Die Telephonverb<strong>in</strong>dung mit dem Bahnhof von Nyiregyháza wurdeunterbrochen und die technischen E<strong>in</strong>richtungen von sowjetischenEisenbahnern übernommen. In Nyiregyháza trafen zwanzig Lastwagen mitsowjetischer Infanterie e<strong>in</strong>. Die Funkstation der Universität von Miskolchörte sowjetische Panzerverbände ab, die während der Nacht <strong>in</strong> derOrtschaft Kisvárda e<strong>in</strong>trafen. In den Berichten war die Rede von e<strong>in</strong>emununterbrochenen Strom sowjetischer Panzer und MG-E<strong>in</strong>heiten, die sichwestlich über Debrecen auf Szolnok zu bewegten. 200 Panzer, die sichzwischen Szolnok und Abony e<strong>in</strong>gegraben hatten, waren jetzt <strong>in</strong> RichtungWesten aufgebrochen. Sowjetische Truppen umstellten die Flugplätze vonTaszar, Pécs, Szolnok und Kaposvár. Am Abend trafen sechs weiterePanzerzüge <strong>in</strong> Záhony e<strong>in</strong>. Ähnliche Berichte gab es aus dem Norden undWesten. Sowjetische Panzerverbände, die am 1. und 2. November <strong>in</strong>Gyöngyös e<strong>in</strong>getroffen waren, drangen bis Szombathely nach Westenvor.Ì641


Maléter zog nun aus der Kilián-Kaserne aus, legte die Rangabzeichene<strong>in</strong>es Generalmajors an und begab sich zum Parlament; er hängte se<strong>in</strong>Fähnchen wieder <strong>in</strong> den kommunistischen W<strong>in</strong>d. Ungarische Panzerfuhren vor dem Gebäude h<strong>in</strong> und her. Da es ke<strong>in</strong> freies Büro mehr gab,räumte der stellvertretende Außenm<strong>in</strong>ister György Heltai e<strong>in</strong>en Schreibtisch<strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Büro für Maléter. Zur Kilián-Kaserne kehrte Maléter nurzum Essen und Schlafen zurück. Seitdem er stellvertretender M<strong>in</strong>isterNagys war, hatte er sich verändert. Se<strong>in</strong>e Sympathie mit der Revolutionwar nur von kurzer Dauer gewesen.Am Morgen tagte das Kab<strong>in</strong>ett.Ó In ihm war jetzt der M<strong>in</strong>ister derKle<strong>in</strong>landwirte, István B. Szabó, vertreten; Ferenc Farkas war zum erstenmalfür die Bauernpartei erschienen. Ferenc Erdei und Gyula Kelemenkamen erst später. Nagy entwarf zwei weitere Noten an die Rus-sen. Inder ersten protestierte er wegen des fortgesetzten E<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gens der Sowjets,begrüßte jedoch die vorgesehenen geme<strong>in</strong>samen Verhandlungen. Diepolitische Kommission würde von se<strong>in</strong>em geschätzten Kollegen GézaLosonczy geleitet werden, zusammen mit József Kövágó, der dieKle<strong>in</strong>landwirte vertrat, Oberst Márton für die Armee, Farkas für dieBauernpartei und für die Sozialdemokraten Vilmos Zentai. Diese Kommissionsollte <strong>in</strong> Warschau über den Austritt aus dem Pakt verhandeln.Ô Inder zweiten Note wurde vorgeschlagen, daß die geme<strong>in</strong>sameMilitärkommission, die über den Rückzug der sowjetischen Truppen zuverhandeln hatte, sich hier im Budapester Parlament treffen sollte. DieNamen, auf die man sich schließlich e<strong>in</strong>igte, paßten nicht zue<strong>in</strong>ander:Neben dem dicken, krausköpfigen Chef des Stabes beim Heer, GeneralIstván Kovács und General Maléter gehörten Ferenc Erdei und der nichtweniger anrüchige frühere ÁVH-Oberst Miklós Szücs dazu, der e<strong>in</strong>everhängnisvolle Rolle bei den zermürbenden Verhören vor dem Rajk-Prozeß im Jahre 1949 gespielt hatte.Um 16.30 Uhr empf<strong>in</strong>g Tildy mehrere Journalisten. Se<strong>in</strong> blauer Anzugwar untadelig, er selbst wirkte gelassen und korrekt. Zwei Posten mitMasch<strong>in</strong>enpistolen standen Wache, Tildys Frau trug e<strong>in</strong> Plaid über demArm.ÁÊ Sefton Delmer hatte Tildy zuletzt vor acht Jahren gesehen. Damals642


wirkte er schwächlich und unsicher und gab nur vage, ausweichendeAntworten. Jetzt machte er e<strong>in</strong>en energischen und entschlossenenE<strong>in</strong>druck: Das hatten Jahre kommunistischer E<strong>in</strong>kerkerung aus ihmgemacht.»Wie viele Panzer s<strong>in</strong>d Mittwoch nacht aus der Ukra<strong>in</strong>e nach <strong>Ungarn</strong>gekommen?« fragte Alberto Cavallari.»Mehrere hundert«, erwiderte Tildy.»Und wo bef<strong>in</strong>den sie sich jetzt?«»Rund 200 Kilometer <strong>in</strong>nerhalb unserer Grenzen.«»Welche Politik wird e<strong>in</strong>e freie ungarische Regierung verfolgen?«»E<strong>in</strong>e gerechte, soziale Politik. Wir werden unsere seit 1945erworbenen Errungenschaften, zum Beispiel die Bodenreform, nichtaufgeben.«»Und wie ist der Zustand der Kommunistischen Partei?«Verächtlich antwortete Tildy: »E<strong>in</strong> Zustand des Zusammenbruchs!«Delmer befragte ihn über die bevorstehenden geme<strong>in</strong>samen Gesprächemit den Russen. Mit e<strong>in</strong>er müden Bewegung strich der Politiker derKle<strong>in</strong>landwirte-Partei se<strong>in</strong> silbernes Haar zurück. »Diese Gesprächewerden nur dann wirklich Aussicht auf Erfolg haben, wenn die sowjetischenTruppenbewegungen, die neue Panzer heranführen, aufhören –wenigstens vor Verhandlungsbeg<strong>in</strong>n. Die bittere Wahrheit ist, daß nachunseren unbestreitbaren Informationen die Truppenbewegungen weitergehen.«Nachdem die Journalisten gegangen waren, erschien Nagy <strong>in</strong> der Türund bat General Maléter zu sich. Der M<strong>in</strong>isterpräsident sah besorgt aus. Erfragte den General, welche Chancen e<strong>in</strong> Widerstand haben würde. Malétererwiderte: »Es hängt alles von den Offizieren ab.«In der Nachmittagssitzung des Kab<strong>in</strong>etts wies Nagy auf die Notwendigkeith<strong>in</strong>, die restlichen M<strong>in</strong>isterposten zu besetzen. Wegen derwachsenden Dr<strong>in</strong>glichkeit e<strong>in</strong>er Umbildung des Kab<strong>in</strong>etts beschloß dieRegierung, ke<strong>in</strong>e neuen M<strong>in</strong>ister zu nom<strong>in</strong>ieren, sondern das Kab<strong>in</strong>ett zuergänzen, e<strong>in</strong>erseits mit den neuen Kräften – vor allem durch Beteiligungder Aufständischen –, und auf der anderen Seite gegenwärtig ke<strong>in</strong>e643


M<strong>in</strong>ister zur Führung der M<strong>in</strong>isterien zu bestimmen, sondern dieGeschäfte e<strong>in</strong>igen fähigen Staatssekretären mit M<strong>in</strong>isterrang anzuvertrauen.ÁÁDie Lynchjustiz auf den Straßen g<strong>in</strong>g weiter. Die Regierung empfahlallen ÁVH-Männern, die noch frei herumliefen, sich <strong>in</strong> ihrem eigenenInteresse <strong>in</strong> der Markó utca Nr. 25 zu melden. Die Népszava [Volksstimme]berichtete von e<strong>in</strong>er Sitzung der sozialdemokratischen Führer am1. November, <strong>in</strong> der darüber diskutiert wurde, daß es »<strong>in</strong> verschiedenenGegenden immer noch bedauerliche Fälle von Lynchjustiz« gebe. DerRevolutionsrat bei der Behörde des Generalstaatsanwalts und andererevolutionäre Gremien appellierten an die Öffentlichkeit, die Bestrafungvon Verbrechen den gesetzlichen Organen zu überlassen. Als erstes wurde<strong>in</strong> den Medien bekanntgegeben, daß der berüchtigte öffentliche AnklägerGyula Alapi, der <strong>in</strong> zahllosen Prozessen e<strong>in</strong>schließlich dem Verfahrengegen M<strong>in</strong>dszenty amtiert hatte, verhaftet worden sei.Immer mehr verängstigte Funktionäre suchten Zuflucht <strong>in</strong>nerhalb dersicheren Wände des Parlaments. Hier schliefen und wohnten sie Tag undNacht. Bewaffnete Rebellen waren <strong>in</strong> ihren Wohnungen erschienen, abersie hatten sich dort nicht mehr sehen lassen und waren auf diese Weisedem sicheren Tode entgangen; nun schworen sie heimlich Rache.ÁË Andiesem Morgen kam Sándor Nógrádi zu György Marosán und teilte ihmvertraulich mit, daß Münnich und Kádár verschwunden seien. Marosánhatte zunächst den Verdacht, daß Rebellen sie entführt hätten – ebensowie Onkel Szabós Truppe am Vortage versucht hatte, ihn zu erwischen.Zu den anderen, die sich hier herumdrückten, gehörten Frau JózsefNagy, M<strong>in</strong>ister<strong>in</strong> der Leicht<strong>in</strong>dustrie, Sándor Czottner, M<strong>in</strong>ister fürBergwerke und Energie, sowie Janós Csergö, M<strong>in</strong>ister für Metallurgie undMasch<strong>in</strong>enbau<strong>in</strong>dustrie. Seit mehreren Tagen hatten sie sich heimlich imZimmer von Sándor Rónai, e<strong>in</strong>em führenden sozialdemokratischenRenegaten, getroffen, der sich den Kommunisten angeschlossen hatte unddafür mit M<strong>in</strong>isterposten und e<strong>in</strong>em Sitz im Politbüro belohnt worden war.Hier richteten sie ihr Hauptquartier e<strong>in</strong>.644


Präsident István Dobi, das Staatsoberhaupt, schloß sich ihnen heimlichan. Se<strong>in</strong>e Bauernschläue hatte ihn nicht im Stich gelassen. Durch e<strong>in</strong>enSchleier von Alkohol erkannte er, daß Nagy zum Scheitern verurteilt war.Immer neue Berichte über die sowjetischen Truppenbewegungenerreichten Nagy. Voller Schrecken hörten die alten M<strong>in</strong>ister im Parlamentvon immer neuen Freveltaten des Kab<strong>in</strong>etts Nagy. Er wollte denWarschauer Pakt kündigen, er hatte die Neutralität des Landesproklamiert. Was würde er wohl als nächste »Beschlüsse des Kab<strong>in</strong>etts«verkünden? – Er tat, als habe die gesamte Regierung dies alles entschieden– nicht nur se<strong>in</strong> ausgewähltes »Engeres Kab<strong>in</strong>ett«. An diesem Nachmittagdes 2. November kochte die Clique vor Entrüstung. Um 16.05 Uhr war <strong>in</strong>den Rundfunknachrichten verkündet worden: »In der Zusammensetzungder Nationalregierung werden <strong>in</strong> Kürze, möglicherweise noch im Laufedes Tages, Änderungen vorgenommen werden. M<strong>in</strong>ister, die dasVertrauen der Bevölkerung verloren haben, werden abgesetzt.« Was füre<strong>in</strong>e Sprache!Dobi erklärte undeutlich murmelnd se<strong>in</strong>e Zustimmung. E<strong>in</strong>e knappeStunde später verbreitete der Rundfunk e<strong>in</strong>e neue Anordnung: »AlleGeschichtsbücher, die zur Zeit <strong>in</strong> den allgeme<strong>in</strong>en und höheren Schulenbenutzt werden, s<strong>in</strong>d zurückzuziehen. Sowjetische Literatur wird nichtmehr gelehrt. Der Zwangsunterricht <strong>in</strong> russischer Sprache hat aufzuhören.Die russisch-ungarische ›Maxim-Gorki-Schule‹ wird geschlossen . . . «Die drei M<strong>in</strong>ister marschierten <strong>in</strong> Imre Nagys Sekretariat undverlangten ihn zu sprechen. Aber se<strong>in</strong>e sonst eher schüchterne Sekretär<strong>in</strong>,Frau Balogh, ließ sie nicht durch: »Der M<strong>in</strong>isterpräsident hat angeordnet,niemand h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>zulassen – er ist mitten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er wichtigen Besprechung«,sagte sie. Das machte die M<strong>in</strong>ister nur noch wütender. Frau Nagyübernahm die Führung, schob die Sekretär<strong>in</strong> beiseite und drang <strong>in</strong> dasZimmer des M<strong>in</strong>isterpräsidenten e<strong>in</strong>. Dort befand sich auch Tildyzusammen mit General Kovács und e<strong>in</strong>em Armeeoffizier. Tildy gab ihrdie Hand, Imre Nagy absichtlich nicht. Sie stotterte: »Wir lehnen dieseBeschlüsse ab . . . und wir s<strong>in</strong>d nicht bereit, die Verantwortung dafür zuübernehmen! Merken Sie sich: Sie werden uns nicht entlassen, wir treten645


zurück!«Nagy wandte sich wortlos den beiden Offizieren zu, mit denen erKarten studiert hatte. Tildy war diplomatischer und me<strong>in</strong>te: »Hörst du das,Imre? Dieser verdammte Rundfunk hat wieder alles durche<strong>in</strong>andergebracht.«Die gekränkte M<strong>in</strong>ister<strong>in</strong> schätzte aber auch diesen Ton nicht.Mit salbungsvollen Worten versuchte Tildy, sie zu beruhigen: »Was kannich tun, me<strong>in</strong>e Tochter? Sie wollen selbst mich me<strong>in</strong>es Postens entheben!Sie haben das Vertrauen zu mir verloren! Hier passieren D<strong>in</strong>ge, die s<strong>in</strong>de<strong>in</strong>fach unerträglich. Es ist gar nicht so leicht, bei dieser Sachlage normalzu bleiben. Am liebsten würde ich dieses Irrenhaus auf der Stelleverlassen.«Für den amerikanischen Geschäftsträger Spencer Barnes brachte dieserTag e<strong>in</strong>e Entlastung: Tom Wailes, se<strong>in</strong> neuer Gesandter, war e<strong>in</strong>getroffen,und er hatte e<strong>in</strong>en Funker namens Travers Hanna und e<strong>in</strong>en tragbarenSender mitgebracht. Der dreiundfünfzigjährige Wailes, der <strong>in</strong> Brooklyngeboren wurde, war realistischer als Barnes. Er hatte neue Ideen. Er warBotschafter <strong>in</strong> Südafrika gewesen und hatte sich seit August die Wartezeit<strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Rosengarten <strong>in</strong> Wash<strong>in</strong>gton vertrieben – es war ja nicht wichtig,denn Dulles hatte ungeniert zugegeben, daß er weder mit Hegedüs nochmit der Regierung Nagy gern etwas zu tun habe. Am 31. Oktober forderteDulles Wailes jedoch dr<strong>in</strong>gend auf, sich b<strong>in</strong>nen achtundvierzig Stundennach Budapest zu begeben.ÁÈUm 22 Uhr schickte Wailes se<strong>in</strong>en ersten Bericht nach Wash<strong>in</strong>gton:»Die Situation während des Tages über-wiegend ruhig, mit Ausnahmekurzer, vorübergehender Schießereien nach E<strong>in</strong>bruch der Dämmerung.Zahlreiche Berichte, noch nicht endgültig bestätigt, daß weitere sowjetische,motorisierte E<strong>in</strong>heiten sich auf Budapest zu bewegen, Stadt fastvollständig von den Sowjets e<strong>in</strong>geschlossen. Ke<strong>in</strong>e wichtigen Nachrichtenüber die <strong>in</strong>nere Situation des Landes aus offiziellen Quellen, mitAusnahme der Tatsache, (daß) die Bildung (e<strong>in</strong>er) neuen ungarischenRegierung verkündet wird.«Unterdessen war György Marosán im Parlamentsgebäude zu derÜberzeugung gelangt, daß Münnich und Kádár höchstwahrsche<strong>in</strong>lich nach646


Moskau geflüchtet waren. Marosán begann gerade darüber nachzudenken,wie auch er am besten fliehen könnte – nach Westen – oder Osten –, alsNógrádi <strong>in</strong> se<strong>in</strong> Zimmer kam und verkündete, daß »sie« vier weitere Leutebrauchten. Marosán nahm an, daß mit »sie« die Russen geme<strong>in</strong>t waren.Die vier Männer, um die es g<strong>in</strong>g, waren Marosán, Dobi, Antal Apró undIstván Kóssa, e<strong>in</strong> unbedeutender Stal<strong>in</strong>ist aus der Zeit Rákosis. Marosánwar erleichtert, daß ihm die Entscheidung abgenommen war. Er wurde <strong>in</strong>e<strong>in</strong>em Wagen zum sowjetischen Hauptquartier am Flughafen Tökölgebracht. Hier sagte man ihm, daß er zum Mitglied e<strong>in</strong>er Gegenregierungzum Kab<strong>in</strong>ett Imre Nagys ernannt worden sei.ÁÍDer unglückliche Imre Nagy! An diesem Tag sprach er mit LajosLederer, e<strong>in</strong>em Reporter des Observer, der gerade e<strong>in</strong> großes Interviewmit Tito veröffentlicht hatte. Vielleicht glaubte Nagy, daß Ledererbesondere Verb<strong>in</strong>dung zum jugoslawischen Präsidenten habe. Ledererschrieb später: »Er war e<strong>in</strong> Mann mit Augenmaß und gutem Willen, der <strong>in</strong>e<strong>in</strong>e außerordentlich schwierige Situation verstrickt wurde. Se<strong>in</strong>ewertvollen Eigenschaften, die Schlauheit des professionellen Politikersund die schlichte Würde des ungarischen Bauern, waren <strong>in</strong> diesem entscheidenden,schrecklichen Augenblick ohne Wert.« In diesem Interviewversuchte Nagy, se<strong>in</strong>en Namen re<strong>in</strong>zuwaschen – der Gedanke an dieNacht des 23. Oktober ließ ihn nicht los. Er versicherte Lederer, wievielen anderen Journalisten, daß er nie die Russen um bewaffnete Hilfegegen die Aufständischen gebeten habe.ÁÎAn diesem Nachmittag tagte er mit se<strong>in</strong>em engeren Kab<strong>in</strong>ett. Diesechs Männer saßen zusammen <strong>in</strong> der Ecke se<strong>in</strong>es Arbeitszimmers. Kádárwar immer noch verschwunden, und es gab ke<strong>in</strong>e Antwort aus New York,daß <strong>Ungarn</strong> auf die Tagesordnung der Vere<strong>in</strong>ten Nationen gesetzt wordensei. E<strong>in</strong>e dritte Note an den sowjetischen Botschafter wurde entworfen, <strong>in</strong>der dagegen protestiert wurde, daß im Laufe des Tages weiteresowjetische Truppenverstärkungen e<strong>in</strong>getroffen seien, die Eisenbahnl<strong>in</strong>ienbesetzt hätten und nun durch Westungarn zur österreichischen Grenzerollten. Abschriften der Note wurden an die anderen ausländischen647


Missionen geschickt, e<strong>in</strong>e weitere Botschaft an die Vere<strong>in</strong>ten Nationen.Die Botschaft würde aber die meisten Delegationen erst im Laufe desAbends erreichen. In ihr wurde die Situation geschildert und diesowjetische Antwort auf die ungarischen Forderungen mitgeteilt. Nagynannte UN-Generalsekretär Hammarskjöld die Vorschläge, die er für dieVerhandlungen gemacht hatte, und schloß: »Ich bitte Eure Exzellenz, dieGroßmächte zu ersuchen, die Neutralität <strong>Ungarn</strong>s anzuerkennen und denSicherheitsrat zu ersuchen, die Regierungen der Sowjetunion und <strong>Ungarn</strong>saufzufordern, unverzüglich mit den Verhandlungen zu beg<strong>in</strong>nen.«Für Imre Nagy begann e<strong>in</strong>e lange Wartezeit.Etwa zur selben Zeit, gegen 13 Uhr, war dem Präsidenten des Weitsicherheitsratese<strong>in</strong> französisch-britisch-amerikanisches Schreiben übermitteltworden. In zwei Sätzen wurde dar<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e sofortige Sondersitzungüber <strong>Ungarn</strong> gefordert. Die elf Ratsmitglieder wurden gebeten, um 17 Uhrzu der Sitzung zu ersche<strong>in</strong>en.Während die politische Macht <strong>in</strong> Budapest allmählich auf diebürgerlichen Parteien überg<strong>in</strong>g, wuchs die Une<strong>in</strong>igkeit <strong>in</strong>nerhalb derrevolutionären Verbände. Bei der Truppe <strong>in</strong> der Corv<strong>in</strong>-Passage, die jetztetwa 1500 »Soldaten« zählte, löste e<strong>in</strong> Anführer den anderen ab, dieDiszipl<strong>in</strong> ließ nach, Apathie breitete sich aus. Die meisten der ursprünglichenMitglieder waren durch ehemalige Häftl<strong>in</strong>ge ersetzt worden, dieallmählich die Macht übernahmen.ÁÏ Die Aufständischen – vor allem diefrüheren Armeeoffiziere –, waren darüber beunruhigt, daß KirálysNationalgarde systematisch alle Waffen und Munition e<strong>in</strong>sammelte und sodie Stadt ihrer Verteidigungsmöglichkeiten beraubte: Was würdegeschehen, wenn die Russen zurückkehrten?Gegen 18 Uhr schickte József Dudás (unter Führung e<strong>in</strong>es Mannes,den er zum »Oberstleutnant« befördert hatte) e<strong>in</strong>en Trupp zum Außenm<strong>in</strong>isterium,um das Gebäude am Donaukai zu durchsuchen und zubesetzen. Auf dem Schreibtisch des stellvertretenden Außenm<strong>in</strong>istersGyörgy Heltai im Parlament kl<strong>in</strong>gelte das Telephon.ÁÌ Péter Mód, e<strong>in</strong>höherer Funktionär im M<strong>in</strong>isterium, zur Zeit Vorsitzender des Revo-648


lutionskomitees im M<strong>in</strong>isterium, war am anderen Ende der Leitung. ImH<strong>in</strong>tergrund konnte Heltai Schüsse hören. Möd sagte: »Ich sitze unterme<strong>in</strong>em Schreibtisch und spreche mit Ihnen. Dudás’ Männer besetzen dasGebäude. Sie sagen, sie suchen ÁVOs.«Heltai übergab General Maléter den Hörer, der mit dem AnführerTibor Szeifert, e<strong>in</strong>em sechsunddreißigjährigen Statistiker, sprach.ÁÓ DerMann gebrauchte die früher übliche Anrede: »Herr!« Maléter fuhr ihn an:»Es gibt ke<strong>in</strong>e Herren mehr – nur noch Genossen!«Dann schickte er Männer der Nationalgarde, um die Anhänger Dudásaus dem M<strong>in</strong>isterium h<strong>in</strong>auszuwerfen. E<strong>in</strong>ige Stunden lang hielt Királysogar Dudás unter Arrest, aber der persönliche Sekretär des Rebellenführers,e<strong>in</strong> bärenstarker, untersetzter Athlet, drohte damit, er würde <strong>in</strong> derZeitung Unabhängigkeit – Auflage 200.000 Exemplare – Krach schlagen,und Dudás wurde wieder freigelassen. Maléter war darüber erbost undordnete Dudás’ erneute Verhaftung an. Als Király sich weigerte, drohteMaléter, ihn wegen Ungehorsams zu <strong>in</strong>haftieren. Király sagte nur: »Ichglaube, du bist verrückt«, und legte den Hörer auf.ÁÔDie Regierung hatte militärische Ratgeber für den Rundfunk ernannt.Ihnen diktierte Maléter folgende Anweisungen: »Die Revolution darfnicht nach rechts abdriften . . . Es gibt gewisse Anzeichen dafür, daß dieRevolution selbst <strong>in</strong> Gefahr ist. Sie können sicher se<strong>in</strong>, daß die Russen wiedie Geier auf jede Gelegenheit zur E<strong>in</strong>mischung warten.« Spätertelephonierte er mit der Kilián-Kaserne. »Ich br<strong>in</strong>ge heute abend e<strong>in</strong>igeGäste mit«, sagte er. Die Gäste waren Kovács und Szücs. Sie sprachenüber die am nächsten Tage beg<strong>in</strong>nenden Militärverhandlungen und überdie Zukunft <strong>Ungarn</strong>s. Maléter sagte: »Wir werden ke<strong>in</strong>en Boden und ke<strong>in</strong>eFabriken oder Banken an ihre früheren Eigentümer zurückgeben . . .Unsere vordr<strong>in</strong>glichste Aufgabe ist es, die Ordnung wiederherzustellen.Das ist die e<strong>in</strong>zige Möglichkeit, auf die Russen e<strong>in</strong>zuwirken.«Als der Kommandant der Kaserne, Hauptmann Lajos Csiba, vollerSorge die jüngsten Aufklärungsmeldungen vom Flugplatz Mátyásfölderwähnte, blieb Maléter gelassen. »Die Sowjetunion verfügt <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong>bereits über weitaus mehr Streitkräfte, als sie für e<strong>in</strong>e Aktion gegen uns649


enötigt.« Er schüttelte den Kopf, als wisse er besser Bescheid: »Nachme<strong>in</strong>er Ansicht werden die Sowjettruppen gegen den Westen konzentriert.Es ist ihre Reaktion auf Suez. Säbelrasseln! Worauf es jetzt ankommt, ist,daß wir die Waffenruhe nicht verletzen. Nicht e<strong>in</strong> Schuß! Er könnteunberechenbare Folgen haben!«ËÊDie meisten westlichen Journalisten entschlossen sich jetzt, auswelchen Gründen auch immer, Budapest zu verlassen. Freilich war dasEssen <strong>in</strong> dem altmodischen Speisesaal, von dem aus man auf die Donaublickte, nicht mehr das gleiche wie früher; die Kellner versuchten, denBetrieb <strong>in</strong> Gang zu halten, aber die Tischtücher waren schmutzig, es gabke<strong>in</strong>e Heizung, und der Hauptgang bestand aus Reis und Bohnen. An derRezeption des Duna-Hotels entdeckte Paul Mathias se<strong>in</strong>en KollegenSefton Delmer. Der Mann vom Daily Express erklärte se<strong>in</strong>em Kollegenvom Paris Match: »Ich ziehe aus.« Der gebürtige Ungar Mathias packteihn am Arm. »Woh<strong>in</strong> gehen Sie?« Delmer zuckte die Achseln: »Siewissen, was <strong>in</strong> Suez los ist. Dies hier ist nichts mehr für die Titelseite!«Der Schweizer Rundfunkreporter François Bondy hatte den E<strong>in</strong>druck,daß unter den Journalisten <strong>in</strong> der Hotelhalle Aufbruchs-, ja be<strong>in</strong>ahePanikstimmung und Niedergeschlagenheit herrschte.ËÁ Als er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>emgroßen Buick über die Margaretenbrücke nach Westen fuhr, klatschte ausniedrigen Wolken Schneeregen gegen die W<strong>in</strong>dschutzscheibe. Krähenhockten <strong>in</strong> den nackten Zweigen der Bäume und starrten auf die langen,mit Munition beladenen Lastwagenkolonnen. Kurz vor Magyaróvár, derletzten Stadt vor der Grenze, kamen ihm fünfzehn Sowjetpanzer entgegen.E<strong>in</strong> russischer Soldat riß die Wagentür auf und nahm ihm se<strong>in</strong>e Kameraweg. E<strong>in</strong> Bauer flüsterte ihm zu: »Diskutiert nicht. Fahrt weg und erzähltdrüben, was ihr hier gesehen habt.« Bondys Buick war e<strong>in</strong>er der letztenWagen, die noch h<strong>in</strong>auskamen. Nur wenig später wurde e<strong>in</strong> Konvoi vonDiplomatenfamilien und Journalisten von vierundzwanzig Panzerngestoppt und gezwungen, nach Budapest zurückzufahren. Noch hieltensich die Russen zurück. Gyula Nagy, e<strong>in</strong> Emissär der Studenten, wieslediglich se<strong>in</strong>en vom Revolutionsrat unterzeichneten Auftrag vor, Kakaoan der Grenze von Hegyeshalom zu holen; niemand machte e<strong>in</strong>en650


Versuch, ihn aufzuhalten.Deutliche Reaktionen kamen jetzt aus den Hauptstädten der Satelliten,die Chruschtschow besucht hatte. Bei e<strong>in</strong>em Essen im Kreml am 1.November aus Anlaß des Staatsbesuches des syrischen Präsidenten fiel dieAbwesenheit Chruschtschows auf. Auch <strong>in</strong> Jugoslawien, <strong>in</strong> der Tschechoslowakeiund <strong>in</strong> Rumänien schien etwas im Gange zu se<strong>in</strong>. In Belgradsprach e<strong>in</strong> italienischer Journalist mit der sowjetischen Botschaft. E<strong>in</strong>sowjetischer Diplomat brüstete sich: »Die Sowjetunion kann nicht e<strong>in</strong>fachtatenlos zusehen, wenn Faschisten die Macht <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> an sich reißen.«Und er fügte h<strong>in</strong>zu: »Die Aufkündigung des Warschauer Paktes durchNagy ist illegal.« Und weiter: »Es gibt ke<strong>in</strong>en Beweis dafür, daß Nagy denWillen des Volkes vertritt.« Die italienische Gesandtschaft <strong>in</strong> Pragberichtete, daß das Parteiorgan Rude Pravo den Rücktritt vom WarschauerPakt als »unerhört« brandmarkte. Der italienische Gesandte FabrizioFranco erfuhr von se<strong>in</strong>em Kollegen <strong>in</strong> Bukarest, daß gestern auch dierumänische Presse e<strong>in</strong>e Kampagne gegen die Regierung Nagy gestartethabe.ËËIn Moskau hatte die sowjetische Presse noch nicht e<strong>in</strong>mal bis zumAbend des 2. November gemeldet, daß Nagy die Neutralität se<strong>in</strong>es Landesproklamiert und den Warschauer Pakt aufgekündigt hatte, geschweigedenn, daß er die Sowjetunion beschuldigte, weitere Truppen nach <strong>Ungarn</strong>geschickt zu haben.ËÈ Jetzt g<strong>in</strong>gen die Zeitungen des nächsten Tages <strong>in</strong>Druck, die sowjetisch-ungarische Verhandlungskommission wurde dar<strong>in</strong>nicht erwähnt. Der amerikanische Botschafter »Chip« Bohlen sagte <strong>in</strong>e<strong>in</strong>em Telegramm an Wash<strong>in</strong>gton voraus, daß diese gemischte Kommission»kaum mehr ist als e<strong>in</strong> Trick, um Zeit für die Vorbereitung e<strong>in</strong>erbewaffneten Aktion <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> zu gew<strong>in</strong>nen«.ËÍ Er sah auch voraus, daßdie Sowjets diesen Trick bei den Vere<strong>in</strong>ten Nationen benutzen würden,um Schritte des Weltsicherheitsrates zu verh<strong>in</strong>dern und die ganzeAngelegenheit zu verschleiern.Auf e<strong>in</strong>em Empfang, den die Syrer an diesem Abend <strong>in</strong> Moskaugaben, bemerkte Bohlen, daß Chruschtschow noch immer abwesend war651


und daß Marschall Schukow und andere frühzeitig g<strong>in</strong>gen, wobei sie e<strong>in</strong>e»befriedigte und sogar triumphierende Miene zeigten«. Bohlen warneugierig und fragte Woroschilow und Mikojan, ob Chruschtschow kranksei. »Ne<strong>in</strong>, er ist zu Hause«, log der e<strong>in</strong>e. Und: »Wir können nicht alle anjedem Empfang teilnehmen«, sagte der andere.Marschall Bulgan<strong>in</strong> erwähnte die »gemischte Kommission«, undBohlen fragte ihn: »Wie ist es mit Nagys Beschuldigung, daß die sowjetischenTruppen <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> verstärkt würden?« Bulgan<strong>in</strong> leugnete, aberdem aufmerksamen Amerikaner entg<strong>in</strong>g nicht, daß der Marschall unwillkürlichdie klassische sowjetische Verschleierungsphrase benutzte: »DieBerichte über Verstärkungen«, sagte Bulgan<strong>in</strong>, »entsprechen nicht derWirklichkeit.«Bohlen war beunruhigt. Um Mitternacht wurde ihm klar, daß diesowjetischen Medien <strong>in</strong> der Behandlung der Krise e<strong>in</strong>e deutliche Kehrtwendunggemacht hatten. Nagys Regierung wurde jetzt als »konterrevolutionär«mit den Rebellen gleichgesetzt.ËÎAn diesem Abend verließ auch der italienische ZeitungsreporterAlberto Cavallari Budapest. Es war etwa 18 Uhr, als er losfuhr. Se<strong>in</strong>Wagen rutschte gefährlich auf dem schneenassen Pflaster. Auf derAusfallstraße sah er waffenstarrende junge Männer, die die großenBarrikaden, die erst vor vier Tagen entfernt worden waren, wiedererrichteten. H<strong>in</strong>ter Györ stellte sich ihm e<strong>in</strong> Sowjetpanzer <strong>in</strong> den Weg,ließ ihn aber passieren. Als er Magyaróvár erreicht hatte, wurde ihm klar,daß er sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Sackgasse befand. Die Stadt war von schwerensowjetischen Panzern e<strong>in</strong>geschlossen und nichts konnte die Russen dazubewegen, ihn durchzulassen.Gegen 19 Uhr hatten sich die beiden Spitzen der gewaltigen sowjetischenZangenbewegung um Budapest vere<strong>in</strong>igt und gleichzeitig dieGrenze nach Westen abgeriegelt. Gegen 23.30 Uhr telephonierte deritalienische Botschafter <strong>in</strong> Wien mit Fabrizio Franco <strong>in</strong> Budapest, daßsogar die diplomatische Wagenkolonne ungefähr sechzehn Kilometer vonder Grenze bei Hegyeshalom gestoppt worden sei. Empört rief Franco die652


Sowjetbotschaft an. Die Russen wiederholten lediglich, was Andropowihm bereits am Morgen gesagt hatte: »Wir geben Ihnen die kategorischeVersicherung, daß sowjetische Truppen die Fernverkehrsstraßen nichtkontrollieren.«Zur selben Zeit wartet mehrere hundert Kilometer südöstlich vonBudapest e<strong>in</strong>e Gruppe von Männern <strong>in</strong> der Dämmerung am menschenleerenKai von Brioni, Titos Insel <strong>in</strong> der Adria. E<strong>in</strong> schwerer Sturm wirfthohe Wellen <strong>in</strong> dem sonst so sanften Gewässer zwischen der Insel unddem jugoslawischen Festland auf. E<strong>in</strong>e Barkasse kommt <strong>in</strong> Sicht undmacht an e<strong>in</strong>er Leiter fest. Unter den Männern, die auf das schaukelndeSchiff h<strong>in</strong>aufklettern, bef<strong>in</strong>den sich e<strong>in</strong>ige der Mächtigsten der Erde –Nikita S. Chruschtschow mit grünem, von der Seekrankheit durch dieÜberfahrt <strong>in</strong> rauher See gezeichnetem Gesicht und Georgij M. Malenkow,der sich ebenfalls äußerst unwohl fühlt.Sie drücken brüderliche Küsse auf die Wangen der sie erwartendenjugoslawischen Begrüßungsdelegation: Marschall Tito, VizepräsidentEdward Kardelj und Aleksandar Rankovic. Dann beklagen sie sichnörgelnd über ihren Flug <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er w<strong>in</strong>zigen Iljusch<strong>in</strong>-14, die sie amNachmittag zum Flugplatz Pula brachte. Malenkow mußte fast währenddes ganzen Fluges auf dem Boden der Masch<strong>in</strong>e liegen. Die Kremlführerbeschweren sich bei Tito, daß se<strong>in</strong>e Sicherheitsoffiziere sich »verschworen«hätten, sie von Pula auf e<strong>in</strong>er längeren, unangenehmeren unddunkleren Route zu dieser Insel zu br<strong>in</strong>gen, als nötig gewesen wäre.ËÏDie Gemüter erhitzten sich, aber Chruschtschow nimmt sichzusammen, weil er die Absicht hat, Tito als Komplizen für se<strong>in</strong>e nächsteAktion zu gew<strong>in</strong>nen: die Wiederbesetzung <strong>Ungarn</strong>s. Die Unterhandlungendauern von 19 Uhr bis 5 Uhr morgens. E<strong>in</strong> Protokoll wird nicht geführt.Diejenigen, die sich Notizen machen, zerreißen die Zettel später undwerfen sie <strong>in</strong> die Aschbecher – wie Gangster, die e<strong>in</strong>en Banküberfallplanen. Chruschtschow enthüllt Tito, daß er die Konterrevolution <strong>in</strong><strong>Ungarn</strong> niederschlagen werde. Er hat alle anderen Mitglieder des WarschauerPaktes und die Ch<strong>in</strong>esen konsultiert, alle haben zugestimmt. Die653


militärischen Vorbereitungen werden noch zwei Tage dauern – MarschallSchukow hat General Mikhail S. Mal<strong>in</strong><strong>in</strong> damit beauftragt. »Was sollenwir sonst tun? Wenn wir den D<strong>in</strong>gen ihren Lauf lassen, wird der Westensagen, wir s<strong>in</strong>d entweder dumm oder schwach . . . Wir würden Kapitalistenan der Grenze der Sowjetunion haben.«Er fügt h<strong>in</strong>zu, daß er gerade mit Marschall Bulgan<strong>in</strong> <strong>in</strong> Moskautelephoniert habe. Bulgan<strong>in</strong> habe ihm die erfreuliche Mitteilung gemacht,daß es ihnen gelungen sei, Münnich und Kádár aus Budapest herauszubekommen,und daß sich beide im Moment auf dem Fluge nach Moskaubefänden. Nun müßten sie noch Apró herausholen. »Wir tun, was wirkönnen«, sagt Chruschtschow. »Aber bisher wissen wir nicht, was mitihnen geschehen ist.« Chruschtschow sagte auch, Rákosi habe angerufenund angeboten, nach Budapest zu gehen, um zu helfen. »Ich sagte ihm,wenn er dort h<strong>in</strong>g<strong>in</strong>ge, würden die Leute ihn auf der Stelle hängen.«Der Name Imre Nagy f<strong>in</strong>det wenig Anklang. Mehrere Male erwähnensowohl Chruschtschow als auch Tito die Photos von der Lynchjustiz anKommunisten, und Chruschtschow ruft empört: »In <strong>Ungarn</strong> werdenKommunisten abgeschlachtet!« Er fügt h<strong>in</strong>zu: »Schon zweimal haben die<strong>Ungarn</strong> auf der Seite des Westens gegen uns gekämpft, und nun wollen siesich wieder mit dem Westen gegen die Russen verbünden.« Suez hat denSowjets e<strong>in</strong>e günstige Gelegenheit verschafft, den <strong>Aufstand</strong> niederzuschlagen.»Sie s<strong>in</strong>d da unten festgefahren«, sagt Chruschtschwowgr<strong>in</strong>send, »und wir stecken <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> fest.«Dann fragt er Marschall Tito, wen er als Regierungschef <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong>vorziehen würde – Münnich oder Kádár. Er selbst bevorzugt Münnich.Münnich ist hoher sowjetischer Agent, und sie haben bei Manövern <strong>in</strong> dendreißiger Jahren im selben Zelt gehaust. Offensichtlich haben die RussenMünnich bereits als Premierm<strong>in</strong>ister vorgesehen. Sie wollen auch GeneralBata als Verteidigungsm<strong>in</strong>ister zurückschicken, aber Tito redet ihnen dasaus: Bata diente schon Rákosi <strong>in</strong> derselben Funktion. Die Jugoslawen s<strong>in</strong>de<strong>in</strong>mütig für János Kádár, der jahrelang <strong>in</strong> Rákosis Kerkern geschmachtethat, während Münnich als Botschafter <strong>in</strong> Moskau e<strong>in</strong> schönes Lebenführte. Nach ihrer Me<strong>in</strong>ung würde Kádár größeren Anklang <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong>654


f<strong>in</strong>den.Interessanterweise loben die Jugoslawen zwei der führenden Gefolgsleutevon Nagy: Géza Losonczy, der sich <strong>in</strong> der letzten Woche fünfmalheimlich mit Botschafter Soldatic und dessen Kanzler Osman Dikic <strong>in</strong>Budapest getroffen hat, und Zoltán Szántó, der aus Furcht vor e<strong>in</strong>emPogrom sogar um politisches Asyl <strong>in</strong> der jugoslawischen Botschaftgebeten hat.Die Russen s<strong>in</strong>d jedoch von ke<strong>in</strong>em der beiden begeistert. Als Titoempfiehlt, die Sowjetunion solle doch zuerst versuchen, Imre Nagy beie<strong>in</strong>er friedlichen Lösung zu helfen, ruft Chruschtschow bebend vorverhaltener Wut: »Nagys Anordnungen s<strong>in</strong>d schuld an der Ermordung vonKommunisten!«In Wash<strong>in</strong>gton ist es jetzt 16 Uhr. Präsident Eisenhower hat soebenverkündet, daß die USA <strong>Ungarn</strong> überschüssige Nahrungsmittel undMedikamente im Wert von 20 Millionen Dollar zur Verfügung stellenwerden. Das ist alles, was die Experten nach e<strong>in</strong>wöchiger Prüfung dergesetzlichen Möglichkeiten für die Auslandshilfe herausgefunden haben.Und selbst dieses Scherfle<strong>in</strong> wird <strong>Ungarn</strong> nie erreichen.Bei den Vere<strong>in</strong>ten Nationen haben sich die entscheidenden Leuteentschlossen, sich mit <strong>Ungarn</strong> Zeit zu lassen. Die Gründe s<strong>in</strong>d unklar. Um16.10 Uhr ruft Foster Dulles se<strong>in</strong>en UN-Botschafter Henry Cabot Lodgean. Lodge macht Andeutungen, daß se<strong>in</strong>e britischen und französischenKollegen aufgebracht über die amerikanische Verurteilung ihres ägyptischenFeldzuges s<strong>in</strong>d: »Sie sagen, daß es zu Hause e<strong>in</strong>en schlechtenE<strong>in</strong>druck machen werde, wenn wir uns beeilen, sie anzuklagen, uns aberbei den Sowjets Zeit lassen.«Zynisch erwidert der Außenm<strong>in</strong>ister: »Sie wollen nur weg aus demSche<strong>in</strong>werferlicht! . . . Es ist doch der re<strong>in</strong>e Hohn, Ägypten mit Bombenanzugreifen und der Sowjetunion vorzuwerfen, vielleicht etwas zu tun,was nicht ganz so schlimm ist.« Lodge äußert sich zustimmend. Dulleswiederholt: »Ich mache da nicht mit.«»Ich freue mich, daß Sie das sagen, Mr. Secretary«, sagt Lodge.655


Dulles weist ihn an, ke<strong>in</strong>e Resolution e<strong>in</strong>zubr<strong>in</strong>gen, wenn derSicherheitsrat an diesem Abend zusammentritt – er solle lediglich vorschlagen,daß so schnell wie möglich e<strong>in</strong> Vertreter der neuen ungarischenRegierung kommen müsse. Wie um sich zu rechtfertigen, fügt Dullesh<strong>in</strong>zu: »Wir haben ke<strong>in</strong>e konkreten Informationen über das, was <strong>in</strong><strong>Ungarn</strong> geschieht. Aber über Ägypten gibt es ke<strong>in</strong>en Zweifel!«ËÌSpäter telephoniert der CIA-Direktor mit se<strong>in</strong>em Bruder. Sie beglückwünschene<strong>in</strong>ander zu dem großartigen Abstimmungserfolg bei denVere<strong>in</strong>ten Nationen <strong>in</strong> der vergangenen Nacht, als zweiundsechzigNationen auf der Seite der Vere<strong>in</strong>igten Staaten waren. Foster Dulles istbefriedigt über die Niederlage der Briten und Franzosen: »Sie ärgern sich,weil sie e<strong>in</strong>e lautstarke Verurteilung der Sowjetunion wegen <strong>Ungarn</strong>wollen, und wir haben uns geweigert, mitzumachen! Das würde ja auchder re<strong>in</strong>e Hohn se<strong>in</strong>.«Allen Dulles macht e<strong>in</strong>e Pause. Er teilt nicht die großen Pr<strong>in</strong>zipiense<strong>in</strong>es Bruders. »Foster, ich mache mir Sorgen über <strong>Ungarn</strong>«, gibt er zu.»Die Nachrichten s<strong>in</strong>d ziemlich schlimm. Sie haben die österreichischeGrenze abgeriegelt, s<strong>in</strong>d allerd<strong>in</strong>gs noch nicht <strong>in</strong> Budapest e<strong>in</strong>marschiert.Glaubst du, daß sie sagen werden, wir gehen aus <strong>Ungarn</strong> raus, wenn ihrÄgypten verlaßt?«Der Außenm<strong>in</strong>ister erwidert: »Ich glaube nicht. Vielleicht Deutschland.«Um 18 Uhr ruft Allen Dulles se<strong>in</strong>en Bruder wieder an: »Ich habe e<strong>in</strong>eBotschaft aus Kairo über den Ernst der Lage.« – »Ich auch«, sagt Foster.»Und ich habe e<strong>in</strong>e Information über <strong>Ungarn</strong>, die vom MoskauerRundfunk aufgenommen worden ist, um ihre Propaganda zu untermauern.Sie besagt, daß konterrevolutionäre Banden das Land terrorisieren.«Unterdessen ist <strong>in</strong> New York der Weltsicherheitsrat zusammengetreten.Man streitet sich zunächst e<strong>in</strong>e Stunde lang über die Frage, obDr. János Szabó an der Sitzung teilnehmen darf. Schließlich flüstertjemand dem stellvertretenden Generalsekretär <strong>in</strong>s Ohr, daß schon vordreißig Stunden e<strong>in</strong> Telegramm e<strong>in</strong>getroffen sei, wonach Szabó offiziell656


zum Delegierten ernannt worden ist.Arkadi A. Sobolew, der für die Sowjetunion spricht, nennt Berichteüber die Rückkehr sowjetischer Panzer und Soldaten nach <strong>Ungarn</strong> »völligunbegründet« und führt aus: »Es gibt e<strong>in</strong>e Meldung von heute, die durchdie Presseagenturen verbreitet wurde, dar<strong>in</strong> heißt es: ›Heute früh erklärtee<strong>in</strong> Regierungssprecher, daß während der vergangenen Nacht ke<strong>in</strong>e neuenSowjettruppen die russisch-ungarische Grenze überschritten hätten.‹ «Dulles hat <strong>in</strong>zwischen kurz vor 19 Uhr <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Telegramm an CabotLodge die Verzögerungstaktik formuliert, die im Weltsicherheitsratangewendet werden solle:»Bestätige Gespräch Außenm<strong>in</strong>ister/Lodge bezüglich Vorgehenauf der heutigen Abendsitzung des Sicherheitsratesim Falle <strong>Ungarn</strong>. US sollten feststellen, daß dem Ratausreichende und laufende Informationen über Entwicklungder Lage <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> fehlen. Unter diesen Umständenglauben US, daß Generalsekretär unverzüglich mit ungarischerRegierung Verb<strong>in</strong>dung aufnehmen solle, um e<strong>in</strong>enungarischen Repräsentanten zum frühestmöglichen Zeitpunktnach New York zu entsenden, damit der Sicherheitsratüber mehr Informationen verfügt, bevor er übere<strong>in</strong>e substantielle Resolution entscheiden kann . . . In derZwischenzeit sollten Sie alles versuchen, um die Franzosendavon abzuhalten, auf der heutigen Abendsitzung e<strong>in</strong>esubstantielle Resolution e<strong>in</strong>zubr<strong>in</strong>gen. Selbst wenn e<strong>in</strong>efranzösische Resolution vorgelegt wird, sollten US alleAnstrengungen unternehmen, um e<strong>in</strong>e Abstimmung ausden oben angeführten Gründen zu verh<strong>in</strong>dern . . . «ËÓNach stundenlangen verfahrenstechnischen Haarspaltereien beg<strong>in</strong>ntLodge se<strong>in</strong>e lange und offensichtlich geistvolle Rede. Aber als sich se<strong>in</strong>eRede h<strong>in</strong>zieht, wächst bei den Journalisten und Delegierten die Verlegenheit:Notwendig ist jetzt e<strong>in</strong>e Resolution, um diese Angelegenheit vom657


Weltsicherheitsrat weg vor das mächtige Forum der Vollversammlung zubr<strong>in</strong>gen. Aber Lodges e<strong>in</strong>ziger Vorschlag besteht dar<strong>in</strong>, daß Nagy e<strong>in</strong>enVertreter aus Budapest schicken soll, der den UN genau über die Lageberichtet. In diesem Augenblick, <strong>in</strong> dem alle Straßen von Budapest undalle ungarischen Flugplätze im Würgegriff der Sowjets s<strong>in</strong>d, ersche<strong>in</strong>tdieser Vorschlag unrealistisch.Der Vorsitzende des Weltsicherheitsrates Entezam schlägt vor, dieSitzung über das Wochenende auf Montag, den 5. November, zuverschieben. Aber Kubas Delegierter Nunez-Portuondo ist dagegen, undmit e<strong>in</strong>em Seufzer erklärt sich Entezam e<strong>in</strong>verstanden, die Beratungenmorgen, am 3. November, 15 Uhr, wiederaufzunehmen.Am nächsten Morgen gibt es e<strong>in</strong>e Erklärung für das eigenartigeVerhalten von John Foster Dulles. Er wacht mit heftigen Leibschmerzenauf: es s<strong>in</strong>d die ersten Anzeichen der Krebserkrankung, der er schließlicherliegen wird. Er wird zur sofortigen Operation <strong>in</strong>s Walter-Reed-Hospitalgebracht. Dies ist e<strong>in</strong> weiterer Schlag für <strong>Ungarn</strong>s Hoffnungen. Das StateDepartment wird jetzt se<strong>in</strong>em Stellvertreter Herbert Hoover jr., e<strong>in</strong>emfrüheren Öl<strong>in</strong>genieur, unterstellt, mit Robert Murphy als zweitem Mann.Eisenhower übernimmt nun selbst die Führung der auswärtigenAngelegenheiten. Er widmet sich dem Frieden im Nahen Osten als se<strong>in</strong>erdr<strong>in</strong>glichsten Aufgabe. Er weigert sich, Kontakt mit Anthony Eden aufzunehmen, dessen Verhalten er niemals verzeihen wird. Tatsächlichwerden die anglo-amerikanischen Beziehungen für den Rest der Amtszeitvon Premierm<strong>in</strong>ister Eden überwiegend zwischen dem US-Botschafter <strong>in</strong>London, W<strong>in</strong>throp W. Aldrich, und dem kränkelnden Ex-Premier W<strong>in</strong>stonS. Churchill abgewickelt. Von nun an trifft sich Aldrich jedenMittwochmorgen mit W<strong>in</strong>ston beim Frühstück an dessen Bett. Nicht zumerstenmal ist der Westen une<strong>in</strong>s zu e<strong>in</strong>em Zeitpunkt, an dem E<strong>in</strong>igkeit undEntschlossenheit gegen den Osten nötig gewesen wären.ËÔ658


43Wir treffen uns wiederDIE WIDERSTANDSFÄHIGKEIT der Regierung Nagy wurde gelähmt. DieRussen hatten das sche<strong>in</strong>bar Unmögliche getan: Sie hatten e<strong>in</strong>ennationalen <strong>Aufstand</strong> von zehn Millionen erbitterten Menschen auf demHöhepunkt zum Stillstand gebracht, <strong>in</strong>dem sie ihre Truppen aus demGesichtskreis der Bevölkerung zurückzogen. Ihre früheren Statthalter unddie bürgerlichen Politiker wiegten sich <strong>in</strong> dem Glauben, daß Revolutionenmit jedem Jahrhundert leichter würden. Vor den Augen der empörten,Freiheitskämpfer zogen die Handlanger des Regimes alle Waffen undMunition, Funkausrüstungen und Artillerie e<strong>in</strong>, die die Rebellen ihrenUnterdrückern unter schweren Opfern abgerungen hatten. Die verstörtenReste der ÁVH wurden h<strong>in</strong>ter verschlossenen Türen wieder versammelt –unter dem Vorwand, sie würden zu ihrem eigenen Besten <strong>in</strong> Schutzhaftgenommen. Nun sollte der Kreml den letzten Akt schreiben – dierevolutionäre Führung mußte kaltgestellt werden, die entsetzte Außenweltwürde zur Untätigkeit verurteilt werden.Bis zum 3. November waren mehrere tausend Sowjetpanzer <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong>e<strong>in</strong>gedrungen, dennoch glaubten die Menschen, sie hätten gesiegt. E<strong>in</strong>eganze Armee motorisierter Infanterie und Artillerie war <strong>in</strong> das Lande<strong>in</strong>gedrungen, doch auf den Straßen feierte man den Sieg. Nur dierevolutionären Zeitungen druckten, wie gewöhnlich, die Wahrheit. Um 8Uhr morgens übermittelte der Stellvertreter des LuftwaffenoberstenNádor, Oberst Zsolt, allen ehemaligen Offizieren des Zweiten Weltkriegs,die vor fünf Tagen an dem Treffen im Hauptquartier teilgenommen hatten,telephonisch folgende Warnung: »Die Russen haben alle Flugplätze659


umstellt. Jeder, der an dieser Zusammenkunft teilgenommen hat, solltefliehen, solange er noch kann!«Á Zwei Stunden später verbreitete derRundfunk e<strong>in</strong>e Falschmeldung, wonach e<strong>in</strong>e sechzehnköpfige Delegationvon Beobachtern der Vere<strong>in</strong>ten Nationen auf dem Flugplatz Ferihegygelandet und auf dem Wege <strong>in</strong> die Stadt sei.ËWährend der Nacht waren die Russen nach Györ zurückgekehrt. Sietrafen, entsprechend e<strong>in</strong>er Anordnung von Attila Szigethy, auf ke<strong>in</strong>erleiWiderstand.È Die Stadt war voller westlicher Journalisten und Diplomatenfamilien,die versuchten, aus <strong>Ungarn</strong> herauszukommen. Darunterbefanden sich viele Frauen und K<strong>in</strong>der, e<strong>in</strong>e Gruppe des SchwedischenRoten Kreuzes und Journalisten sowie Anthony Terry von der SundayTimes. Um die Mittagszeit rollten sechzig Sowjetpanzer durch die Stadt.Alberto Cavallari f<strong>in</strong>g an, sich ihre mit weißer Farbe gemalten Nummernzu notieren – 802, 803, 808 –, dann gab er es auf.Die Moskauer Bürger lasen Schauergeschichten über Tumulte undLynchjustiz <strong>in</strong> Budapests Straßen und über Waffenlieferungen desWestens über e<strong>in</strong>e Luftbrücke.Í E<strong>in</strong>e Schlagzeile der Prawda lautete: »DerReaktion <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> muß der Weg versperrt werden!« Iswestija blies <strong>in</strong>sgleiche Horn. »Chip« Bohlen hatte den E<strong>in</strong>druck, daß der Kreml kurzdavor stand, Nagys Regierung als »konterrevolutionär« zu bezeichnen.ÎAlle Anzeichen deuteten darauf h<strong>in</strong>, daß Chruschtschow sich – fallsnotwendig – für Gewalt entscheiden würde. Bohlen ersuchte das StateDepartment, direkte Schritte <strong>in</strong> Moskau zu erwägen, was selbst jetzt nochS<strong>in</strong>n haben könnte. Aber Foster Dulles war <strong>in</strong>s Krankenhaus gebrachtworden. Das Telegramm wurde Präsident Eisenhower vorgelegt, und sobald war ke<strong>in</strong>e Antwort zu er-warten.Erstaunt war Bohlen, daß die Zeitungen die »gemischte Kommission«überhaupt nicht erwähnten. Damit verstärkte sich se<strong>in</strong> E<strong>in</strong>druck, daß essich lediglich um e<strong>in</strong>en Trick handele. Er telegraphierte folgendeWarnung nach Wash<strong>in</strong>gton: »Es ist auch möglich, daß die Kommissionlediglich von den Sowjets <strong>in</strong> der Debatte des Weltsicherheitsrates benutztwird <strong>in</strong> der Hoffnung, Schritte des Weltsicherheitsrats zu verh<strong>in</strong>dern und660


die ganze Angelegenheit zu verschleiern.«ÏAn diesem Samstagmorgen herrscht wie zum Hohn w<strong>in</strong>terlichesSonnenwetter. Die Stimmung ist gut: Am Montag werden alle an dieArbeitsplätze zurückkehren.E<strong>in</strong> Reporter fährt mit der Straßenbahn zur Csepel-Insel und geht <strong>in</strong>das berühmte Stahlwerk: der alte Name »Rákosi-Werke« ist noch schwachauf den Toren zu erkennen, aber die Schilder und Len<strong>in</strong>bilder werden vonInstandsetzungstrupps, die die Montagsschicht vorbereiten, auf e<strong>in</strong>enHaufen zusammengefegt. E<strong>in</strong> Arbeiterrat hat die Kontrolle übernommen,se<strong>in</strong> Vorsitzender ist e<strong>in</strong> ehemaliger kommunistischer Ingenieur. Auf demMóricz Szigmond körtér werden die Barrikaden abgebaut. Die Trümmerder Schlacht, leere Munitions- und Patronenkisten werden beiseitegeräumt, und Arbeiter reparieren die Oberleitungen der Straßenbahnen.Witzbolde s<strong>in</strong>d kräftig am Werk. In e<strong>in</strong>em Geschäft stehen dreiSchaufensterpuppen, denen man Schilder mit den Namen Gerö, Rákosiund Apró umgehängt hat. Der Stal<strong>in</strong> tér ist <strong>in</strong> »Stiefel-Platz« umbenanntworden. Und e<strong>in</strong> beliebter Witz lautet: »Proletarier aller Länder, vere<strong>in</strong>igteuch: Aber nicht <strong>in</strong> Gruppen von mehr als drei Mann.« Der Dozent JózsefBál<strong>in</strong>t und se<strong>in</strong>e Universitätskollegen s<strong>in</strong>d noch immer guter Laune, alssie sich auf ihre Arbeit am kommenden Montag vorbereiten. Bekanntmachungenund Stundenpläne werden aufgehängt, Klassenzimmer werdengesäubert.Ì Die Universitätsmiliz – mehrere tausend revolutionäreStudenten, die offiziell Waffen tragen dürfen, haben ausgerechnet heutefrei. Aus diesem Grunde s<strong>in</strong>d auch die meisten Offiziere der Armee, diedie Studentenbataillone führen, an diesem Tag abwesend.ÓDie Hauptstadt gleicht plötzlich e<strong>in</strong>er soldatenfreien Oase <strong>in</strong> e<strong>in</strong>emLand, das während der vergangenen Woche Schauplatz e<strong>in</strong>er der größtenTruppenkonzentrationen der Welt geworden war. József Bál<strong>in</strong>t blicktkaum auf, als e<strong>in</strong>ige Studenten und Mitarbeiter der Universität here<strong>in</strong>kommen.Jemand erwähnt, daß <strong>in</strong> Kispest, e<strong>in</strong>em entfernten Vorort, nochimmer russische Panzer umherfahren. Aber die Optimisten f<strong>in</strong>den für allese<strong>in</strong>e Erklärung.661


Die revolutionären Morgenzeitungen waren nicht so leicht zutäuschen. Die Schlagzeile der ungarischen Jugend lautete: »Wirprotestieren gegen das E<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gen neuer Sowjettruppen <strong>in</strong> unser Land.«Gyula Oberszovskys Wahrheit fragte beim Revolutionskomitee desAußenm<strong>in</strong>isteriums lakonisch an, ob es stimme, daß der unpopuläreDelegierte <strong>Ungarn</strong>s bei den Vere<strong>in</strong>ten Nationen, Péter Kos, <strong>in</strong> Wirklichkeitder Öl<strong>in</strong>genieur Leo Konduktorow, e<strong>in</strong> Sowjetbürger sei; dasKomitee gab zu, daß das Außenm<strong>in</strong>isterium ihm diese gefälschte Identitätzugebilligt habe.Die neue KP-Zeitung Népszabadság [Freiheit des Volkes] erschienebenfalls. Herausgeber war Sándor Haraszti. Er hatte e<strong>in</strong>en realistischenArtikel über die zukünftigen Aussichten der Partei geschrieben und se<strong>in</strong>eZustimmung zu Nagys Forderung nach Neutralität des Landes undRückzug der sowjetischen Truppen zum Ausdruck gebracht. Harasztisprach sich <strong>in</strong> der Zeitung auch dafür aus, Kádárs neue Partei »von untenher« <strong>in</strong> den Fabriken, Dörfern, Büros und Universitäten, und nicht vonoben aufzubauen, wie es unter dem alten System der Fall war. PéterKendeÔ und Miklós Gimes schätzten diese neue Zeitung nicht. Sie g<strong>in</strong>gen<strong>in</strong> Nagys Büro und baten um Genehmigung, e<strong>in</strong>e unabhängige l<strong>in</strong>keWochenzeitung publizieren zu dürfen. Im Parlament hörten sie, wiejemand vom Verschw<strong>in</strong>den Kádárs sprach. Kende fragte sich, ob er wohlliquidiert worden sei – was nicht ausgeschlossen war, da er schließlich zurRákosi-Ära gehörte.Die Aussichten, die sich der amerikanischen Gesandtschaft an diesemVormittag <strong>in</strong> Budapest boten, waren düster. Bis zum Mittag lagen TomWailes’ Informationen über schätzungsweise fünfzehn motorisierte undvier Infanteriedivisionen vor. Er nahm e<strong>in</strong>en Stift und e<strong>in</strong>en gelbenNotizzettel und entwarf e<strong>in</strong>en scharfs<strong>in</strong>nigen Bericht an das StateDepartment: »Sowjetische Absichten wegen der Verwendung dieserüberwältigenden Streitmacht unklar. Vermute aber im Augenblick, daß sienach Abschluß aller Vorbereitungen der ungarischen Regierung e<strong>in</strong> Ultimatumstellen, vermutlich <strong>in</strong> der verschleierten Form von Verhandlungen662


über die ungarische Beteiligung am Warschauer Pakt und die Regierungsform.Das Hauptproblem der ungarischen Regierung, nachzugeben, wennsie nachgeben will, besteht dar<strong>in</strong>, daß die aufgebrachte Bevölkerung nichtmitmacht.« Er unterstrich das Wort »nicht«. »Dies könnte zu Blutvergießenführen.«ÁÊDiese Telegramme stießen <strong>in</strong> Wash<strong>in</strong>gton auf Skepsis. Das StateDepartment fragte, welche Gründe Wailes für se<strong>in</strong>e Vermutungen habe.ÁÁ»Stammen Berichte aus offiziellen ungarischen Quellen oder anderswoher?S<strong>in</strong>d irgendwelche E<strong>in</strong>heiten identifiziert worden? Beziehen sichdie Berichte auf komplette E<strong>in</strong>heiten oder lediglich auf Teile von ihnen?«Es hieß, auf der heutigen Sitzung des Weltsicherheitsrates würde e<strong>in</strong>eResolution mit der Forderung nach e<strong>in</strong>em Rückzug der Sowjetse<strong>in</strong>gebracht. Zugleich wurde Wailes allerd<strong>in</strong>gs darauf aufmerksamgemacht: »E<strong>in</strong>e Abstimmung ist heute nicht zu erwarten.« (Man sagte ihmnicht, daß dies <strong>in</strong> Wirklichkeit die amerikanische Taktik war.)Imre Nagys neues Kab<strong>in</strong>ett war schon am frühen Vormittagzusammengetreten mit den neuen Kab<strong>in</strong>ettsmitgliedern der Kle<strong>in</strong>landwirte,der Sozialdemokraten und der Bauernpartei. Nagy legte letzte Handan e<strong>in</strong>e bemerkenswerte neue Regierung. Diese, die dritte <strong>in</strong> fünf Tagen,würde e<strong>in</strong>e »Regierung der Nationalen E<strong>in</strong>heit« se<strong>in</strong>. Losonczy undMaléter würden (neben Nagy) die e<strong>in</strong>zigen Kommunisten im Kab<strong>in</strong>ettse<strong>in</strong>. Mit Ausnahme des Augen- und Verteidigungsm<strong>in</strong>isters sollte esüberhaupt ke<strong>in</strong>e anderen M<strong>in</strong>isterposten geben. Nagy ernannte mehrereneue Staatsm<strong>in</strong>ister, darunter drei Sozialdemokraten: Kéthly, Kelemenund József Fischer; unter dem Druck der Petöfi-(früher Bauern-)Parteihatte er ihnen e<strong>in</strong>en weiteren Kab<strong>in</strong>ettsposten zugestanden. Der AnwaltIstván Bibó wurde Regierungsmitglied. Dazu kam der Generalsekretär derPartei, Ferenc Farkas.János Kádár stand ebenfalls auf das Kab<strong>in</strong>ettsliste – offensichtlichignorierte Nagy die bösen Gerüchte, daß er übergelaufen sei. Dr. Münnichwar ebenfalls verschwunden, ihm traute Nagy offensichtlich alles zu. Ersetzte ihn als Innenm<strong>in</strong>ister ab zusammen mit Imre Horváth, GeneralJanza, Lukács und Kóssa sowie zahlreichen anderen M<strong>in</strong>istern. Bei dieser663


unblutigen Säuberung entließ Nagy auch die drei Querulanten, die amgestrigen Nachmittag <strong>in</strong> se<strong>in</strong> Zimmer marschiert waren und ihren Rücktritterklärt hatten: Frau Nagy, Czottner und Csergö.ÁËDer e<strong>in</strong>undvierzigjährige österreichische Kommunist Franz Philippübermittelte diese neue Liste se<strong>in</strong>er Dienststelle, der DDR-NachrichtenagenturADN. Als ADN sie wenige Stunden später veröffentlichte, hatteman e<strong>in</strong>en Namen gestrichen: den von János Kádár. Offensichtlich wußteOst-Berl<strong>in</strong> mehr als Budapest.Im Laufe des Morgens suchte der sowjetische Botschafter AndropowNagy auf. Nagy bat um weitere Informationen über die sowjetischenTruppenbewegungen. Andropow erwiderte, se<strong>in</strong>e Regierung habe<strong>in</strong>zwischen die Vorschläge für die geme<strong>in</strong>samen Verhandlungen gebilligt,die Militärgespräche sollten unverzüglich beg<strong>in</strong>nen.Gegen 10 Uhr zog die sowjetische Delegation unter Führung vonGeneraloberst Mal<strong>in</strong><strong>in</strong> e<strong>in</strong>. Mal<strong>in</strong><strong>in</strong>, e<strong>in</strong> untersetzter Russe mit grobenZügen und dünnen Lippen unter e<strong>in</strong>er Boxernase, wurde von GeneralleutnantStepanow und Generalmajor Schtscherban<strong>in</strong> begleitet. DieAtmosphäre war freundlich.ÁÈ Nagy stellte den Sowjets Maléter, FerencErdei und den Chef des Generalstabes, General Kovács, vor. Von NagysAmtsräumen g<strong>in</strong>g es durch das Vorzimmer <strong>in</strong> Erdeis Büro, wo dieKonferenz stattf<strong>in</strong>den sollte.Erdei entschuldigte sich und wandte sich an das Vorzimmer mit derFrage, ob jemand gut genug Russisch sprechen könne, um als Dolmetscherzu dienen. Der Chef des Generalstabes, General Kovács, konntezwar besser Russisch als Erdei, aber es reichte nicht aus. Die Frau desJournalisten Miklós Molnár, die für Heltai arbeitete, meldete sich; siehatte zwanzig Jahre <strong>in</strong> der Sowjetunion gelebt und war die Tochter e<strong>in</strong>esbekannten Moskowiters.Die Russen überreichten e<strong>in</strong> etwa zehn Seiten langes Dokument, aufdem die Bed<strong>in</strong>gungen verzeichnet waren, unter denen die Sowjettruppensich zurückziehen würden. Mit Hilfe von Frau Molnár g<strong>in</strong>g GeneralKovács an die Arbeit und schrieb auf e<strong>in</strong>er Schreibmasch<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>e grobe664


Übersetzung. Miklós Molnár, der auf se<strong>in</strong>e Frau im Vorzimmer wartete,sagte: »Ich war davon überzeugt, daß die Russen zu diesem Zeitpunkt dieehrliche Absicht hatten, abzuziehen.«Später g<strong>in</strong>g Maléter <strong>in</strong> Heltais Büro. Er war guter D<strong>in</strong>ge. Die Me<strong>in</strong>ungsverschiedenheitenmit den Russen bezeichnete er als m<strong>in</strong>imal. Siewünschten e<strong>in</strong>e feierliche Abschiedsparade sowie die Wiederherstellungder sowjetischen Denkmäler, die von den Rebellen zerstört worden waren.»Ich nehme an, daß Moskau h<strong>in</strong>ter diesen Forderungen steht«,vermutete Maléter. »Hoffentlich können ihre Generale hier ohne Druckvon dort verhandeln.«ÁÍIn e<strong>in</strong>em anderen Teil des Parlamentsgebäudes kam es zu e<strong>in</strong>em merkwürdigenAuftritt. Zwei Luftwaffenoffiziere erschienen, um Losonczy zusprechen. Péter Erdös’ Frau Erzsi, die für Losonczy als Sekretär<strong>in</strong>arbeitete, führte sie zu ihm. Nach e<strong>in</strong>er Weile kamen sie wieder, bliebenkurze Zeit im Büro, wo sie sich mit dem Journalisten Erdös unterhielten.Sie hatten den Auftrag, Losonczy zu e<strong>in</strong>er Fahrt nach Szolnok, e<strong>in</strong>erziemlich weit entfernten Stadt, zu veranlassen, wollten aber die Gründedafür nicht nennen. Um nicht mit leeren Händen zurückkehren zu müssen,deuteten sie an, vielleicht könne Erdös an Losonczys Stelle dort h<strong>in</strong>fahren,aus welchem Grund, könnten sie nicht sagen. »Sie würden <strong>in</strong> Szolnokkaum länger als e<strong>in</strong> paar Stunden se<strong>in</strong> und dann wieder nach Budapestzurückkehren können!«Erdös fragte: »Können Sie dafür sorgen, daß ich e<strong>in</strong>e Gelegenheit zumRücktransport bekomme?«Sie versicherten jedoch mit geheimnisvoller Miene lediglich:»Glauben Sie uns, Sie werden morgen zurück se<strong>in</strong>.«Inzwischen war aber se<strong>in</strong>e Frau bei Losonczy gewesen. Als sie wiederherauskam, gab sie ihm e<strong>in</strong>en unmißverständlichen W<strong>in</strong>k: auf ke<strong>in</strong>en Fallweiter verhandeln!ÁÎUm 13.30 Uhr verkündete Radio Budapest die Bildung der neuenNationalregierung. István Bibó nahm gerade an e<strong>in</strong>er Konferenz <strong>in</strong> der665


Akademie der Wissenschaften teil, als jemand here<strong>in</strong>stürzte und ihmzuflüsterte: »Sie s<strong>in</strong>d zum Staatsm<strong>in</strong>ister ernannt worden!« Wenn Bibóglaubte, daß nun e<strong>in</strong>e Limous<strong>in</strong>e der Regierung kommen und ihn zurnächsten Sitzung des M<strong>in</strong>isterrates holen würde, so wurde er enttäuscht.Er g<strong>in</strong>g über die Donau nach Hause und wartete. Nicht e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong> Anrufkam. In Wahrheit regierten Imre Nagy und se<strong>in</strong>e Genossen e<strong>in</strong>fach weiterund unternahmen nicht den ger<strong>in</strong>gsten Versuch, sich mit den Männern <strong>in</strong>Verb<strong>in</strong>dung zu setzen, deren Name sie <strong>in</strong> ihr »Schaufenster« gestellthatten.Der fünfundvierzigjährige Bibó, e<strong>in</strong> großer, schlanker Intellektueller,der Englisch, Französisch und Deutsch sprach, hatte e<strong>in</strong>e Hakennase unddie hohe Stirn e<strong>in</strong>es Gelehrten. Er verfügte über e<strong>in</strong>en trockenen Humorden er auch bald nötig haben würde. Nicht e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>en ganzen Tag warer Staatsm<strong>in</strong>ister. Dafür verbrachte er fünf Jahre <strong>in</strong> Gefangenschaft – alsKomplize Imre Nagys, e<strong>in</strong>es Mannes, den er niemals zu Gesichtbekommen hatte.Die erste Sitzung der Militärgespräche endete gegen 14 Uhr. GeneralMal<strong>in</strong><strong>in</strong> lud die ungarischen Offiziere liebenswürdig e<strong>in</strong>, an diesem Abendse<strong>in</strong>e Gäste zu se<strong>in</strong>. »Wir werden <strong>in</strong> Tököl wieder zusammentreffen«,sagte er.Der Kommandeur der Nationalgarde, General Király, f<strong>in</strong>g Maléterbeim Verlassen des Konferenzraumes ab.»Wie läuft es?«»Bestens«, sagte Maléter unverb<strong>in</strong>dlich.Später stellte Király General Kovács dieselbe Frage. Der Chef desStabes war optimistisch: »Es ist alles soweit klar. Aber zur Vermeidungvon Transportschwierigkeiten werden die Sowjettruppen <strong>in</strong> Abständen dasLand verlassen. Inzwischen müssen unsere Garnisonen den RussenVerpflegung und Sprit liefern. Da sie nicht auf den W<strong>in</strong>ter e<strong>in</strong>gestellt s<strong>in</strong>d,müssen wir Geduld haben. Ihre Truppen werden nicht <strong>in</strong> der Lage se<strong>in</strong>,vor dem 15. Januar das Land zu verlassen. Wir werden allerd<strong>in</strong>gs aufe<strong>in</strong>em Zeitpunkt im Dezember bestehen.«ÁÏ666


Für die Abendzeitung wurde folgendes offizielle Kommuniqué ausgegeben:»E<strong>in</strong> geme<strong>in</strong>sames Komitee des ungarischen und des sowjetischenArmee-Oberkommandos ist zusammengetroffen, und beide Seitenhaben ihre E<strong>in</strong>stellung zu den technischen Aspekten e<strong>in</strong>es sowjetischenTruppenrückzuges dargelegt. Das geme<strong>in</strong>same Komitee hat beschlossen,die entsprechenden Unterlagen zu prüfen, es wird gegen 22 Uhr wiederzusammentreten. Die sowjetische Delegation hat versichert, daß bis dah<strong>in</strong>ke<strong>in</strong>e weiteren Militär-Bahntransporte die ungarische Grenze überschreitenwerden.«ÁÌ Um 15.15 Uhr wurde auch über den Rundfunk e<strong>in</strong>Kommuniqué verbreitet.Kurz vor 17 Uhr wurde die amerikanische Gesandtschaft auszuverlässiger Quelle davon unterrichtet, daß die sowjetischen Delegiertennach Angaben von General Kovács e<strong>in</strong>em völligen Rückzug aus <strong>Ungarn</strong>zugestimmt hätten. Der Informant habe sich diese Darstellung von e<strong>in</strong>emjüngeren Offizier, der an der Sitzung teilgenommen hatte ausdrücklichbestätigen lassen und h<strong>in</strong>zugefügt, daß bei dem bevorstehenden Treffen <strong>in</strong>Tököl über Zeitplan des Abzuges und andere Details gesprochen würde.ÁÓDas war aber nicht alles, was Tom Wailes erfuhr. Am Nachmittag schickteer e<strong>in</strong> Telegramm nach Wash<strong>in</strong>gton: »Hoher, zuverlässiger Offizier hatuns soeben <strong>in</strong>formiert, daß zur Zeit e<strong>in</strong>e Armee und zwei Korps (rund4500 Panzer) hier seien und weitere kämen.«ÁÔDie Invasoren hatten nur wenig Ahnung, wo sie sich befanden. InGyör erzählten sie den <strong>Ungarn</strong>, die ihre Sprache verstanden, daß sie 600Kilometer gefahren seien. Andere erklärten, sie seien gekommen, um<strong>Ungarn</strong> gegen die Amerikaner zu verteidigen. Wieder andere sprachendavon, sie seien hier, um die Faschisten zu bekämpfen. Der offizielleRundfunk verbreitete jetzt E<strong>in</strong>zelheiten über sowjetische Truppen, die sichden Städten näherten: Panzer und motorisierte Infanterie hätten amVormittag die Grenze bei Beregsurány überschritten. E<strong>in</strong>e motorisierteE<strong>in</strong>heit näherte sich Békéscsaba von Südwesten und e<strong>in</strong>e andere Szarvasvom Süden. Die Eisenbahnstation Debrecen war <strong>in</strong>zwischen besetztworden. Um 13.25 Uhr verbreitete der »Sender Freies Miskolc« folgende667


Warnung: »Sowjetische Verbände marschieren von Vásárosnamény <strong>in</strong>Richtung Debrecen.« Später berichtete Radio Miskolc laufend: »Panzernähern sich . . . Auf den Straßen ist niemand, außer sowjetischenPatrouillen. Nyiregyháza ist e<strong>in</strong>geschlossen.«Dies alles war nur schwer mit e<strong>in</strong>em »sowjetischen Rückzug« <strong>in</strong>E<strong>in</strong>klang zu br<strong>in</strong>gen. Am Nachmittag erschien der österreichischeZeitungsverleger Fritz Molden <strong>in</strong> Begleitung des Reporters Géza Pogányim Parlament.ËÊ Sie waren mit ihrem Simca durch Györ gefahren, umGammaglobul<strong>in</strong>-Impfstoff nach Miskolc zu br<strong>in</strong>gen, wo K<strong>in</strong>derlähmungausgebrochen war. Sie verstauten den Impfstoff im Kühlschrank desHotels »Duna« und begaben sich auf dem schnellsten Wege zu Imre Nagy,um ihm über die Panzerkolonnen zu berichten, die sie zwischen Sopronund Györ im Westen beobachtet hatten. Molden sagte zum M<strong>in</strong>isterpräsidenten:»Ich b<strong>in</strong> ke<strong>in</strong> Soldat, aber es waren Panzer, und gezählthaben wir etwa sechzig, und es waren sicher noch viel mehr. E<strong>in</strong> Verbandrollte <strong>in</strong> Richtung Grenze, der andere nach Budapest. Bei Komárom sahenwir Massen von sowjetischen Soldaten, die über die Brücke von derTschechoslowakei herüberkamen.«Von allen Seiten kamen Anrufe. Péter Erdös, der <strong>in</strong> Nagys Sekretariatarbeitete, rechnete damit, daß es zu e<strong>in</strong>er Kraftprobe kommen werde. DerZeitungschef Iván Boldizsár, dem er im Korridor begegnete, packte ihnam Arm und sagte scherzhaft: »Ich überlege mir, ob ich e<strong>in</strong> Gallup-Umfrage-Institut eröffne. Wollen Sie der erste Direktor werden?«Erdös schob Boldizsárs Arm beiseite. »Darüber sprechen wir später –im Gefängnis.«ËÁImre Nagy hatte Vásárhelyi aufgefordert, e<strong>in</strong>e Pressekonferenz e<strong>in</strong>zuberufen,um die erfolgreichen Verhandlungen bekanntzugeben. Jetztwünschte er, er hätte es nicht getan. Es sollte noch schlimmer kommen.E<strong>in</strong> Anruf vom Nachrichtenbüro MTI alarmierte ihn durch e<strong>in</strong>en Berichtaus Pek<strong>in</strong>g: Die ch<strong>in</strong>esische Parteizeitung Jen M<strong>in</strong> Jih Pao hatte soebene<strong>in</strong>en Leitartikel verbreitet: »Lang lebe die große E<strong>in</strong>heit dersozialistischen Länder.« Moskaus politische L<strong>in</strong>ie und die Notwendigkeit668


des Warschauer Paktes wurde unterstrichen. Alle sozialistischen Länderwurden aufgerufen, »reaktionäre« Versuche, e<strong>in</strong>en Keil zwischen dieSowjetunion und die anderen sozialistischen Länder zu treiben, zuverh<strong>in</strong>dern.Nagy bat Tildy und Losonczy, die Pressekonferenz an se<strong>in</strong>er Stelle zuleiten. Alle Journalisten, die sich noch <strong>in</strong> Budapest aufhielten, erschienenzur Pressekonferenz. Um 18 Uhr gab Tom Wailes <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Telegramm anWash<strong>in</strong>gton e<strong>in</strong>e Zusammenfassung: »Tildy zeigte große Geschicklichkeit,Fragen auszuweichen und sich unklar auszudrücken.« Er könnenicht sagen, wieviel sowjetische Truppen jetzt im Lande seien: »UnserChef des Stabes hat die genauen Zahlen«, sagte er. »Aber ich möchte sienicht bekanntgeben.«Der Reporter des holländischen Rundfunks fragte geradeheraus: »Istdie ungarisch-österreichische Grenze offen?« Tildy räumte e<strong>in</strong>: »Wirwissen im Augenblick nicht, wie es an der österreichisch-ungarischenGrenze aussieht.« Der Reporter von BBC fragte, wie die Verhandlungenmit den Russen vorang<strong>in</strong>gen. Tildy wich aus: »Die Verhandlungen habenerst heute begonnen und werden am Abend fortgesetzt. Deshalb könnenwir Ihnen noch ke<strong>in</strong>e Ergebnisse nennen.« Géza Losonczy fügte etwaszuversichtlicher h<strong>in</strong>zu: »Wir glauben, daß weitere Ergebnisse heute abenderzielt werden. Die Situation hat sich etwas entspannt.« Tildy pflichteteihm bei: »Ich habe <strong>in</strong> diesem Augenblick die Meldung erhalten, daß diesowjetische Militärdelegation versprochen hat, daß ke<strong>in</strong>e weiteren sowjetischenMilitär-Bahntransporte die ungarische Grenze überschreiten.«Tildy verschwand für zwanzig M<strong>in</strong>uten, und Losonczy übernahm dieLeitung der Konferenz. Nach se<strong>in</strong>er Rückkehr äußerte sich Tildybedeutend offener. E<strong>in</strong> Reporter fragte: »Was haben die Sowjets auf HerrnNagys Forderungen vom Donnerstag nach Rückzug der neu angekommenenSowjettruppen geantwortet?« Tildy erwiderte: »Die Antwortenauf unsere Proteste gegen das E<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gen sowjetischer Verstärkungen s<strong>in</strong>dunbefriedigend gewesen. Unsere Regierung hat vom ersten Tag ihresBestehens an den Rückzug der Sowjettruppen gefordert. Damit ist jeglichelegale oder politische Handhabe für ihr E<strong>in</strong>greifen entfallen. Wir haben669


ihren Rückzug <strong>in</strong> zahlreichen Noten verlangt. Wir haben niemals e<strong>in</strong>ebefriedigende Antwort erhalten.«John MacCormac schrieb <strong>in</strong> der New York Times: »Se<strong>in</strong>e Antwortenbestärken die hier weitverbreitete Ansicht, daß die Sowjets wieder e<strong>in</strong>malihre alte Taktik anwenden und die Verhandlungen bewußt h<strong>in</strong>auszögern,um <strong>in</strong>zwischen immer größere Teile des Landes zu besetzen.«E<strong>in</strong> Journalist fragte: »Ist die Delegation der Vere<strong>in</strong>ten Nationen <strong>in</strong>Budapest e<strong>in</strong>getroffen?« Losonczy erwiderte: »Soweit ich weiß, ist heutemorgen e<strong>in</strong>e UN-Delegation aus Prag angekommen.« Auf die Frage, ob esmöglicherweise zu Kämpfen zwischen den sowjetischen Truppen und derungarischen Bevölkerung oder ihren Streitkräften kommen könnte, gabTildy e<strong>in</strong>e merkwürdige Antwort: »Unsere Truppen haben den Befehlerhalten, alle fe<strong>in</strong>dlichen Handlungen zu unterlassen.« Der Reporter desObserver, Lajos Lederer, fragte: »Hat die sowjetische Regierung dieungarische Regierung vor den Truppenbewegungen nach <strong>Ungarn</strong> unterrichtetund hat sie sich über den Zweck dieser Verstärkungen geäußert?«Tildy drückte sich vor der Beantwortung, <strong>in</strong>dem er sagte: »Die Frage istdurchaus angebracht!« Inmitten verständnisvollen Gelächters erwiderte er:»Im Namen der gesamten Regierung erkläre ich, daß wir uns, trotz allem,was geschehen ist, um e<strong>in</strong>e wahre Freundschaft mit der Sowjetunionbemühen, aber Grundlage dafür ist die Anerkennung der Unabhängigkeit<strong>Ungarn</strong>s.«Danach sprach Géza Losonczy, e<strong>in</strong>er der letzten Kommunisten <strong>in</strong>Nagys Kab<strong>in</strong>ett, e<strong>in</strong> paar Worte über die Probleme, die Volkserhebungnach ihrem Sieg zum Abschluß zu br<strong>in</strong>gen. »Nach unserer Me<strong>in</strong>ung s<strong>in</strong>dkonterrevolutionäre Kräfte gegenwärtig sehr aktiv <strong>in</strong> unserem Land. DieRegierung erklärt <strong>in</strong> völliger E<strong>in</strong>mütigkeit, daß wir nicht e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zigeErrungenschaft der letzten zwölf Jahre, weder die Bodenreform noch dieNationalisierung der Fabriken und Werkstätten und andere sozialeLeistungen aufgeben werden . . . E<strong>in</strong>mütig bestätigt die Regierung, daß sieunter ke<strong>in</strong>en Umständen die Wiederherstellung des Kapitalismus <strong>in</strong><strong>Ungarn</strong> zulassen wird.«ËË670


In se<strong>in</strong>em Büro im Parlamentsgebäude empf<strong>in</strong>g General Kovács e<strong>in</strong>enBesucher, den britischen Luftwaffenattaché Dennis David. Kovács warsehr ernst. Er sprach die Hoffnung aus, daß die Gesandtschaft dem Westendie Wahrheit sagen werde. Als David er-widerte, die Gesandtschaft habeihre eigene Funkverb<strong>in</strong>dung mit London, bat ihn der General, denexilierten Mitgliedern der Horthy-Regierung e<strong>in</strong>e herzliche Bitte zuübermitteln. Sie lautete: »Haltet euch fern von <strong>Ungarn</strong>.« Kovács legtegroßen Wert darauf, daß sowjetische Radiomeldungen, wonach dieseMänner den <strong>Aufstand</strong> verursacht hätten, widerlegt würden. »Nichts undniemand hat diesen <strong>Aufstand</strong> hervorgerufen«, sagte er. »Er hat siche<strong>in</strong>fach entwickelt. Ich wurde von den Ereignissen überrascht – wie soviele andere.«Kovács machte sich Notizen, als Oberst David ihm vertraulich übersowjetische Truppenverstärkungen berichtete. Er hatte beobachtet, daß derFlughafen Ferihegy voller Panzer, Geschütze, Lastwagen und Mannschaftstransportwagenwar. Er war heimlich nach Tököl, dem sowjetischenDüsenflugplatz auf der Csepel-Insel, gefahren und hatte festgestellt,daß dort täglich e<strong>in</strong>hundert Transportflugzeuge mit sowjetischenSoldaten landeten. Kovács bestätigte diese Angaben: »Nach unserenGeheim<strong>in</strong>formationen bef<strong>in</strong>den sich bereits acht oder vielleicht sogar neunsowjetische Panzerdivisionen <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong>. Weitere Infanteriee<strong>in</strong>eitenkommen aus der Ukra<strong>in</strong>e und aus unseren Nachbarländern. Es siehtschlecht aus.« Er fuhr fort: »Es gibt Opimisten <strong>in</strong> unserer Regierung, dieglauben, daß dies alles nur dazu dient, ihren Verhandlungen mit uns heuteabend Nachdruck zu verleihen. Ich habe me<strong>in</strong>e Zweifel, aber Herr Nagytraut den Russen. Er glaubt, sie seien aufrichtig.« Warnend sagte derOberst: »Die Russen s<strong>in</strong>d gekränkt wegen ihrer Niederlage. Die Tatsache,daß zu den Aufständischen Männer und Frauen aus allen sozialistischenSchichten gehören, macht die Situation nur noch schwieriger.«Als Kovács ihn h<strong>in</strong>ausbegleitete, sagte er leise: »Vielleicht geht es jagut heute abend.« Und mit gesenkten Lidern fügte er ernst h<strong>in</strong>zu: »Aberwenn nicht, dann – bitte sorgen Sie dafür, daß der Westen uns Verbandsmaterialschickt.«671


Nagy und die Kommandeure se<strong>in</strong>er Nationalgarde g<strong>in</strong>gen ohneZweifel e<strong>in</strong> großes Risiko e<strong>in</strong>, als sie die Versprechungen des Kreml fürbare Münze nahmen: Aber jetzt war es zu spät für e<strong>in</strong>e Umkehr. Andiesem Samstag gab General Király allen ungarischen Panzerbesatzungenden Befehl, <strong>in</strong> ihre Kasernen zurückzukehren und ihre Fahrzeuge auf denW<strong>in</strong>ter umzustellen.ËÈ Er und Kopácsi unterzeichneten geme<strong>in</strong>sam e<strong>in</strong>enAppell, der auch ordnungsgemäß über den Rundfunk verbreitet wurde;alle Waffen und Munition sollten abgeliefert werden. Gyula Szilágyi, derChef von Nagys Sekretariat, wandte sich über den Rundfunk an alleMütter mit der Bitte, ihren K<strong>in</strong>dern nicht länger zu erlauben, mit Waffenherumzulaufen. »Es muß Ordnung herrschen«, erklärte er.E<strong>in</strong>ige dieser Erklärungen h<strong>in</strong>terließen e<strong>in</strong>en üblen Nachgeschmack,als seien sie nicht ganz ehrlich geme<strong>in</strong>t. E<strong>in</strong> revolutionärer Arbeiterrat <strong>in</strong>Szolnok appellierte an die Öffentlichkeit, mit der Jagd auf ÁVH-Leuteaufzuhören, da »alle ÁVH-Agenten des Gebietes verhaftet seien«. InBudapest verkündete der Rundfunk: »Mitglieder des Staatssicherheitsdienstesmelden sich <strong>in</strong> Massen bei der Anklagebehörde mit der Bitte,verhaftet zu werden. Im XIII. Bezirk und im Bezirk Angyalföld meldetensich heute früh dreißig ÁVH-Leute.«In den Prov<strong>in</strong>zen hatte es offenbar Sabotageakte bei unzuverlässigenArmee-E<strong>in</strong>heiten gegeben. Dies wurde von Dudás’ Leuten, die zur Kontaktaufnahmemit Studentenkomitees <strong>in</strong> verschiedene Städte geschicktworden waren, entdeckt. E<strong>in</strong> Journalist, der im Auftrag von Dudás <strong>in</strong>Sopron war, erfuhr von den dortigen Soldaten, daß ihre Geschütze aufmysteriöse Weise-während des Tages unbrauchbar gemacht wordenwaren.ËÍAuch <strong>in</strong> anderen Städten, wie <strong>in</strong> Pécs, geschahen merkwürdige D<strong>in</strong>ge.Gegen 19 Uhr erschien beim Chef des Stabes der städtischen Rebellen,dem Biochemiker Professor Csikor, e<strong>in</strong> Angestellter der Eisenbahnverwaltungund machte ihn darauf aufmerksam, es gäbe e<strong>in</strong> Funksystem,das die Eisenbahnknotenpunkte des Landes mite<strong>in</strong>ander verband: »CSAPhat uns soeben mitgeteilt, daß die Russen nun auch per Bahn <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong>672


e<strong>in</strong>strömen. Man hat vierzehn Güterzüge mit Panzern gezählt.«ËÎ E<strong>in</strong>Rebellentrupp eilte zum sogenannten »Revolutionsrat« der UngarischenEisenbahn. Die Gesichter dort kamen ihm bekannt vor. Der Direktorerklärte, er habe ke<strong>in</strong>e neuen Nachrichten. Der Biochemiker warf ihm vor:»Aber ihr habt doch e<strong>in</strong>e Funksende- und Empfangsanlage!« Der Direktorerwiderte, es sei nur e<strong>in</strong> ganz kle<strong>in</strong>es Gerät. Die Rebellen drängten ihnbeiseite. Die Anlage füllte e<strong>in</strong>e ganze Wand aus, sie wurde von zweiMann bedient, die gerade Meldungen über Eisenbahntransporte mitsowjetischen Verstärkungen aus Rumänien empf<strong>in</strong>gen.Etwa zur gleichen Zeit f<strong>in</strong>det im Moskauer Kreml e<strong>in</strong> Staatsempfangfür den syrischen Präsidenten statt. Am Anfang bleiben die sowjetischenFührer unter sich. Chruschtschow ist schon seit mehreren Tagen nichtmehr gesehen worden, und Moskau ist voller Gerüchte. Dann entstehtplötzlich Bewegung im Saal: Chruschtschow ersche<strong>in</strong>t zusammen mitMalenkow. Sofort werden die beiden von den anderen anwesendenMitgliedern des Präsidiums umr<strong>in</strong>gt. »Chip« Bohlen, der US-Botschafter,hört aufmerksam zu, setzt aber gleichzeitig se<strong>in</strong>e Unterhaltung mit demnorwegischen Botschafter fort.Chruschtschow kommt mit schweren Schritten zu ihm herüber und ruftihm <strong>in</strong> russischer Sprache zu: »Ich möchte mit Ihnen über Israelsprechen.«ËÏGelassen erwidert Bohlen: »Und ich möchte mit Ihnen über <strong>Ungarn</strong>sprechen, aber Sie s<strong>in</strong>d als erster dran, also bitte.«Der Sowjetführer faucht ihn an: »Sie können mir nicht erzählen, daßIhre Regierung Israels Handlungsweise nicht gutheißt.«Verb<strong>in</strong>dlich erwidert Bohlen, der Kreml müsse sich neue Agentensuchen, wenn er so über die Haltung der Vere<strong>in</strong>igten Staaten <strong>in</strong>formiertworden sei. Dann fährt er fort: »Nun zu <strong>Ungarn</strong>! Gestern abend erzähltemir Bulgan<strong>in</strong>, daß Sie mit <strong>Ungarn</strong> verhandeln würden. Aber wir habenständig Berichte über gewaltige sowjetische Truppenverstärkungen <strong>in</strong><strong>Ungarn</strong>. Wie passen diese beiden D<strong>in</strong>ge zusammen?«Chruschtschow läßt sich nicht auf diesen Ton e<strong>in</strong>. »Ich nehme an, daß673


die NATO doch recht erfreut ist über die Möglichkeit e<strong>in</strong>iger Veränderungen<strong>in</strong>nerhalb des Warschauer Pakts«, entgegnet er.Bohlen richtet jetzt e<strong>in</strong>e Frage an ihn, die er Bulgan<strong>in</strong> am Abend zuvornicht stellen konnte: »Wie s<strong>in</strong>d die sowjetischen Absichten bezüglich derForderung von M<strong>in</strong>isterpräsident Nagy nach Rückzug der sowjetischenTruppen und Austritt aus dem Warschauer Pakt?« Zunächst gibtChruschtschow e<strong>in</strong>e Standardantwort: »Die Verhandlungen mit derungarischen Regierung gehen voran. Bald wird alles geregelt se<strong>in</strong>.«Bohlen entgeht nicht der Unterton <strong>in</strong> Chruschtschows Worten. Erneuter<strong>in</strong>nert er ihn daran, daß offensichtlich immer noch Truppen nach <strong>Ungarn</strong>geschickt werden. Und plötzlich zeigt sich der wirkliche Chruschtschow:Mit se<strong>in</strong>er plumpen Faust fährt er <strong>in</strong> abgehackten Stößen durch die Luft.»Wir haben genug Truppen dort. Und wenn nicht, dann werden wir ebennoch mehr h<strong>in</strong>schicken, wenn es nötig ist.« Se<strong>in</strong>e Stimme überschlägtsich. »Das ist ke<strong>in</strong> Scherz!«Gegen 20 Uhr bef<strong>in</strong>det Bohlen sich wieder <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Botschaft. Er istnoch immer verärgert über die Art und Weise, wie der Sowjetführer ihnbehandelt hat. Er berichtet nach Wash<strong>in</strong>gton: »Der e<strong>in</strong>zig erkennbareVorzug Chruschtschows, den ich erkennen kann, ist se<strong>in</strong>e brutaleOffenheit.«ËÌ8000 Kilometer von hier, <strong>in</strong> New York, ist es 15 Uhr. Der Sicherheitsrattritt zusammen. Henry Cabot Lodge br<strong>in</strong>gt se<strong>in</strong>e Resolution e<strong>in</strong>, <strong>in</strong>der »die Intervention sowjetischer Streitkräfte zur Unterdrückung derBemühungen des ungarischen Volkes, se<strong>in</strong>e Rechte geltend zu machen,bedauert wird«. Die Mitgliedsnationen werden aufgefordert, <strong>Ungarn</strong>Unterstützung zu gewähren. In der Resolution wird weder Imre NagysAppell an die UN noch <strong>Ungarn</strong>s offizielle Unabhängigkeitserklärungerwähnt.Sofort entsteht e<strong>in</strong>e lebhafte Debatte. Der jugoslawische Delegiertevertritt die Auffassung, da <strong>Ungarn</strong> und die Sowjetunion im Augenblickverhandelten, sollte sich der Rat vertagen, bis die D<strong>in</strong>ge geregelt se<strong>in</strong>würden. Westliche Delegierte s<strong>in</strong>d fassungslos, als sie hören, daß Lodgediese Auffassung unterstützt. Sie teilen nicht se<strong>in</strong>e Selbstzufriedenheit.674


Australiens UN-Delegierter Walker erklärt scharf: »Unglücklicherweisebesitzt die Welt e<strong>in</strong>ige Erfahrung, welchen Verlauf solche ›Verhandlungen‹manchmal <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Lande nehmen, <strong>in</strong> dem die Sowjetunion diemilitärische Überlegenheit besitzt.«Sir Pierson Dixon von Großbritannien verlangt e<strong>in</strong>e sofortigeAbstimmung.Mehrere Delegierte wenden sich nun dem ungarischen UN-Vertreterzu. János Szabó bestätigt: »Ich möchte den Rat mit Befriedigung überfolgende erfreuliche Mitteilung, die ich heute aus <strong>Ungarn</strong> erhalten habe,<strong>in</strong>formieren: ›Die Führer der ungarischen und sowjetischen Armeen trafensich heute mittag, und beide Seiten trugen ihre Ansichten über technischeFragen des Rückzugs der sowjetischen Truppen vor. Sie beschlossen, diegegenseitigen Vorschläge zu prüfen und sich heute abend um 22 UhrBudapester Zeit wieder zu treffen.‹ «In Budapest war es dunkel geworden. In dieser F<strong>in</strong>sternis war dieverwirrte Bevölkerung widersprüchlichen Erklärungen ausgesetzt. Um21.20 Uhr beschwor Ferenc Farkas die Hörer <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Rundfunkappell,dem »Zank und Streit der Parteien« e<strong>in</strong> Ende zu setzen. Er wandte sich anRotch<strong>in</strong>a, Jugoslawien und Polen mit der Bitte um Unterstützung – e<strong>in</strong>eBitte, die <strong>in</strong>zwischen durch die Ereignisse <strong>in</strong> diesen Ländern überholt war.Präsident Zapotocky hielt e<strong>in</strong>e leidenschaftliche Rede im tschechoslowakischenRundfunk gegen die Konterrevolution, die den »faschistischenweißen Terror gegen die Werktätigen« im benachbarten <strong>Ungarn</strong> entfesselthabe. »Die jetzt nach <strong>Ungarn</strong> Zurückkehrenden«, rief er aus, »s<strong>in</strong>dreaktionäre Elemente, Kriegsverbrecher, Aristokraten, Faschisten undandere Emigranten aus dem Westen, die 1945 vor der siegreichensowjetischen Armee oder später vor der Volkswut geflohen s<strong>in</strong>d . . . « Derunglücklichen Tschechoslowakei stand e<strong>in</strong> solches Schicksal erst bevor.Farkas’ Kollege von der Bauernpartei, István Bibó, saß abwartend zuHause und dachte über die Zukunft se<strong>in</strong>es Landes nach. Später erklärte er:»Zu dieser Zeit hatte ich den E<strong>in</strong>druck, daß man <strong>in</strong> Moskau nochschwankte und daß e<strong>in</strong> energischer diplomatischer Schritt Eisenhowers675


noch etwas erreicht haben könnte.«ËÓ Er setzte sich an se<strong>in</strong>e Schreibmasch<strong>in</strong>e,entwarf e<strong>in</strong>en Appell an den amerikanischen Präsidenten undsteckte das Manuskript <strong>in</strong> die Tasche.Im Laufe dieses Abends wollte Ferenc Donáth Imre Nagy sprechen.Der M<strong>in</strong>isterpräsident hatte jedoch Besucher von der rumänischenBotschaft. Donáth wartete e<strong>in</strong>e Weile, dann gab er es auf. Später hatte erden E<strong>in</strong>druck, daß diese Delegation lediglich gekommen war, um denM<strong>in</strong>isterpräsidenten aufzuhalten und ihn daran zu h<strong>in</strong>dern, sich um andereAngelegenheiten des Staates zu kümmern.ËÔ Das Gebäude sah wie e<strong>in</strong>überbelegtes Hotel aus – an Schreibtischen oder auf Sofas und Stühlenhockten unrasierte Funktionäre. Er entdeckte auch Kádárs Frau und denehemaligen Führer der Parteijugend, Erv<strong>in</strong> Hollós. Wer etwas zubefürchten hatte, verbrachte die Nacht im Parlamentsgebäude. Vásárhelyi,der e<strong>in</strong> re<strong>in</strong>es Gewissen hatte, g<strong>in</strong>g nach Hause.Bis zur Konferenz <strong>in</strong> Tököl blieben noch e<strong>in</strong>ige Stunden Zeit. GeneralMaléter fuhr mit e<strong>in</strong>igen e<strong>in</strong>geladenen Kommandeuren der NationalgardeKirálys zum Essen <strong>in</strong> die Kilián-Kaserne zurück. Stolz zeigte er ihnen dasProtokoll, das von den sowjetischen Generalen im Parlament paraphiertworden war: Der Kommandeur der Kaserne, Hauptmann Csiba, las miteigenen Augen, daß die Sowjetunion ihre Bereitschaft erklärt hatte, denRückzug bis zum 15. Januar abzuschließen.ÈÊ Maléter fühlte sichoffensichtlich geschmeichelt, im Mittelpunkt dieser historischen Verhandlungenzu stehen. Als der Autor Gyula Háy mit ihm telephonierte, klangMaléters Stimme zuversichtlich. Er sagte, die Verhandlungen g<strong>in</strong>gen gutvoran. Er bat Háy, der Schriftstellerverband möge sich dafür e<strong>in</strong>setzen,daß die Lynchjustiz auf den Straßen aufhöre.ÈÁ Als es jemand wagte,Maléter darauf h<strong>in</strong>zuweisen, daß die Russen ihnen vielleicht e<strong>in</strong>e Fallestellten, schob er solche Bedenken beiseite: »Wer weiß? Es wäre nicht daserste Mal <strong>in</strong> der Geschichte. Sicher nicht das erste Mal <strong>in</strong> der russischenGeschichte.«Hauptmann Csiba fragte Maléter: »Stellen Sie sich vor, man verhaftetSie dort – was dann!?«676


Maléter erwiderte: »Das erwarte ich nicht von den sowjetischenOffizieren, denn bisher haben sie die Verhandlungen ehrlich undverständnisvoll geführt. Aber wenn das Undenkbare geschehen sollte, seidauf der Hut!«Dann verließ er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Pobieda die Kaserne. Am Parlament traf ersich mit Erdei, Kovács und Szücs, zusammen mit e<strong>in</strong>igen Stabsoffizierenfuhren sie nach Tököl. Imre Nagy sagte: »Ich wünsche alle halbe Stundee<strong>in</strong>en Bericht.« Dann wandte er sich an se<strong>in</strong>e Mitarbeiter und fragte, ob<strong>in</strong>zwischen e<strong>in</strong>e Antwort auf se<strong>in</strong>e Telegramme an die Vere<strong>in</strong>ten Nationene<strong>in</strong>getroffen sei. Es war ke<strong>in</strong>e Nachricht da.Am späten Abend des 3. November hörte der siebenundvierzigjährigeHistoriker Dr. Lajos Gogolak Schüsse von der gegenüberliegenden Seiteder Corv<strong>in</strong>-Passage. »Die Russen kommen!« Er rannte aus se<strong>in</strong>er vonGranatsplittern schwerbeschädigten Wohnung. Jemand rief ihm zu: »Manhat uns angerufen. Die Russen greifen die Stadt an!« Aber es war falscherAlarm.ÈËFür e<strong>in</strong>ige wenige Stunden konnten die Menschen jetzt e<strong>in</strong>e Bestandsaufnahmemachen: Der <strong>Aufstand</strong> war offensichtlich erfolgreich gewesen.Aber die Sieger waren nicht dieselben, die ihn vor elf Tagen begonnenhatten, die Studenten und Intellektuellen; nicht e<strong>in</strong>mal die Arbeiter, die amTag darauf die Führung <strong>in</strong> die Hand genommen hatten. Siegreich schiender rechte Flügel zu se<strong>in</strong>, der sich rasch um Kard<strong>in</strong>al M<strong>in</strong>dszenty zuformieren begann: An diesem Abend telephonierte er mit se<strong>in</strong>em früherenMitarbeiter József Jaszovsky <strong>in</strong> San Francisco und sagte: »Das Leben <strong>in</strong>dieser Stadt und überall <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> ist völlig zum Erliegen gekommen. Wirbrauchen sofort Hilfe. Wir brauchen Hilfe, Freiheit und Lebensmittel.«Dann sprach M<strong>in</strong>dszenty über den Rundfunk zur gesamten Nation. Erer<strong>in</strong>nerte an die tausendjährige Geschichte <strong>Ungarn</strong>s und sagte: »Ich b<strong>in</strong>und bleibe unabhängig von jeder Partei. Me<strong>in</strong> Amt verpflichtet mich, überden Parteien zu stehen. Ich benutze me<strong>in</strong>e Autorität, um alle <strong>Ungarn</strong> zuwarnen, sich nach diesen Tagen der großartigen E<strong>in</strong>heit Parteiengezänkund Une<strong>in</strong>igkeit zu überlassen. Unser Land benötigt viele D<strong>in</strong>ge, aber es677


aucht nicht viele Parteien und Parteiführer.«Für die jüdischen Schriftsteller und Kommunisten wie Gyula Háy, diemit ihrer offenen Kritik im Oktober die Unruhen ausgelöst hatten,bedeutete die Partei alles. Sie waren entsetzt über das, was jetzt aus demblutigen Sumpf der Revolution aufstieg: Voller Schrecken bemerkteTamás Aczél, der Stal<strong>in</strong>preis-Autor, daß Kard<strong>in</strong>al M<strong>in</strong>dszenty ihreStreitigkeiten für se<strong>in</strong>e eigenen Zwecke ausnutzte. Er nannte dieRundfunkrede M<strong>in</strong>dszentys reaktionär und bezeichnete den Kard<strong>in</strong>alselbst als e<strong>in</strong>en dummen, rückständigen und zwielichtigen Charakter.»Dieser mörderische Lump und Idiot Rákosi hat e<strong>in</strong>en Märtyrer aus ihmgemacht.« Tibor Méray bezeichnete ihn als e<strong>in</strong>en »feudalen, beschränkten,stumpfs<strong>in</strong>nigen Homosexuellen«, und er befürchtete, daß se<strong>in</strong> E<strong>in</strong>fluß dieArbeiter der extremen Rechten <strong>in</strong> die Arme treiben würde.ÈÈGegen 22 Uhr rief General Király im Verteidigungsm<strong>in</strong>isterium an.Dort erfuhr er von den neuen sowjetischen Truppenbewegungen. Er nahmsich e<strong>in</strong>e Karte und suchte Kopácsi im Polizeipräsidium auf. Auf demSchreibtisch Kopácsis entfaltete er die Invasionskarte.ÈÍ Er rief Szilágyiüber die K-Leitung an. »Hat der Alte die Invasionskarte?«»Ja. Aber er glaubt immer noch an Wunder. Sagt ständig ›dieVerhandlungen, die Verhandlungen‹!«»Was ist mit Maléter?«»Er ist <strong>in</strong> Tököl e<strong>in</strong>getroffen und hat <strong>in</strong>zwischen schon zweimalberichtet.«»Vielleicht bekommt der Alte doch noch se<strong>in</strong> Wunder.«Das Telephon der roten K-Leitung hörte nicht auf zu kl<strong>in</strong>geln. Kopácsiberichtigte die farbigen Pfeile auf der Karte. Der R<strong>in</strong>g um die Hauptstadtschloß sich.ÈÎGegen 23 Uhr hielt e<strong>in</strong>e Studentenpatrouille der Nationalgarde e<strong>in</strong>ensowjetischen Jeep an, <strong>in</strong> dem e<strong>in</strong> Kommandeur der russischen Truppen amRand Budapests sag. Er wurde, zusammen mit se<strong>in</strong>em Begleiter, zumfrüheren Polizeipräsidium am Deák tér gebracht, das jetzt das Hauptquartierder Nationalgarde war. Der sowjetische Offizier behielt die678


Nerven. »Wir beziehen nur Stellung um Budapest, um sicherzustellen, daßdie Angestellten der sowjetischen Firmen hier friedlich evakuiert werdenkönnen.« Se<strong>in</strong>e freundliche, gelassene Haltung beruhigte die Studenten.Dann prostete er ihnen zu: »Auf die Zukunft von <strong>Ungarn</strong>!«Dennoch gab Oberst Kopácsi e<strong>in</strong>e telephonische Warnung an ImreNagy durch. Nagy war verärgert: »Sie werden die beiden sowjetischenOffiziere sofort <strong>in</strong> der Sowjetbotschaft abliefern. Oberst Maléter ist <strong>in</strong>diesem Augenblick beim russischen Oberkommando <strong>in</strong> Tököl, und dieVerhandlungen verlaufen gut. Über das Wesentliche ist schon E<strong>in</strong>igkeiterzielt worden.«Die Sitzung des Weltsicherheitsrats <strong>in</strong> New York zog sich <strong>in</strong> dieLänge. Die Delegierten blickten fragend auf den sowjetischen Delegierten.Sir Pierson Dixon me<strong>in</strong>te: »Ich glaube, wir müssen ihn anhören.« DerRusse bestätigte kurz, daß Verhandlungen im Gange seien. Entsprechendden Anweisungen von Foster Dulles hatte Cabot Lodge noch immer nichtdie Resolution über <strong>Ungarn</strong> zur Abstimmung gestellt, als der Ratspräsidenterklärte, man müsse zum Ende dieser Sitzung kommen, da die Vollversammlungzur Behandlung anderer Fragen um 20 Uhr zusammentretenwerde.ÈÏ Dieser Vorschlag rief e<strong>in</strong>en Proteststurm anderer Delegiertere<strong>in</strong>schließlich der UN-Vertreter Australiens, Frankreichs und Großbritannienshervor. Cabot Lodge stimmte jedoch dafür, daß man sich fürzwei Tage, bis Montag früh, vertagen solle.Die Ratssitzung wurde um 18.55 Uhr abgebrochen. Die Kontroverseüber die Handlungsweise Lodges ist noch immer nicht abgeschlossen. Alsdas Life-Magaz<strong>in</strong> ihn <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Leitartikel scharf kritisierte, versicherte eraufrichtig, daß Wash<strong>in</strong>gton zu diesem Zeitpunkt nicht wußte, wie diewirkliche Situation <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> war und daß er lediglich den WeisungenDulles’ folgte.ÈÌIn der amerikanischen Gesandtschaft <strong>in</strong> Budapest bat der LuftwaffenattachéOberst Dallam Gaza Katona zu sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong> Büro im zweitenStock: »Ich brauche vielleicht Ihre Hilfe als Dolmetscher: Ich will gerade679


das Verteidigungsm<strong>in</strong>isterium anrufen.«Dallam hatte gute Beziehungen zu e<strong>in</strong>em Obersten der ungarischenLuftwaffe. Dieser Oberst teilte mit, daß man sowjetische Truppenbewegungenim Südosten festgestellt habe, sonst sei alles ruhig. Dallamlegte den Hörer auf. Die beiden Amerikaner waren betroffen von dertiefen Stille, die zum erstenmal seit Tagen über der Stadt lag. Sie wirkteunheimlich.Für Imre Nagys Gefühl blieb alles zu still. E<strong>in</strong>e Stunde war vergangen,seit General Maléter das letzte Mal aus Tököl angerufen hatte. Die Telephonvermittlungauf der Luftwaffenbasis schien geschlossen zu haben.Nagy war unruhig und veranlaßte se<strong>in</strong>en Chefsekretär Gyula Szilágyi, dieNationalgarde anzurufen und den Kontakt mit Tököl wiederherzustellen.Király und Kopácsi schickten e<strong>in</strong>en Spähwagen auf den Weg mit derAnweisung, e<strong>in</strong>e wenig bekannte Fähre und nicht die Brücke zur Csepel-Insel zu benutzen.»Ich b<strong>in</strong> auf der Fähre«, kam e<strong>in</strong> Funkspruch. Dann: »Ich b<strong>in</strong> auf derInsel. Ich kann die Lichter von Tököl sehen.«»Jetzt fahren wir zu ihrem Hauptquartier.«Danach entstand wieder Stille. Király rief Imre Nagy an. Der M<strong>in</strong>isterpräsidentbat Király und Kopácsi, die Aufgaben von Maléter und Kovácsbis zu deren Rückkehr von Tököl zu übernehmen. Király ließ sich <strong>in</strong>e<strong>in</strong>em Sessel nieder, um zu schlafen; Kopácsi setzte sich an se<strong>in</strong>enSchreibtisch, legte den Kopf auf den Arm, konnte aber nicht schlaf en.Unterdessen hatte Tito Gewissensbisse bekommen. Se<strong>in</strong> Botschafterrief Nagys Sekretariat an: »Es ist der Wunsch Belgrads, daß Herr Nagyund se<strong>in</strong>e Freunde sofort Gebrauch von ihrem Recht auf politisches Asyl<strong>in</strong> unserer Botschaft machen.«ÈÓE<strong>in</strong>e weitere Stunde verg<strong>in</strong>g. In der Conti utca g<strong>in</strong>g die sozialdemokratischeZeitung Volksstimme gerade <strong>in</strong> die Druckpresse. Die Setzerdruckten <strong>in</strong> großen Buchstaben: »Sicherheitsratssitzung wegen ungarischsowjetischerVerhandlungen bis Montag vertagt.« Diese Ausgabe solltenie mehr ersche<strong>in</strong>en.680


Für die Fahrt vom Parlament, wo er die anderen Mitglieder se<strong>in</strong>erDelegation getroffen hatte, bis zum Flugplatz Tököl brauchte GeneralMaléter e<strong>in</strong>e Stunde. Vor dem Gebäude der Kommandantur präsentiertee<strong>in</strong>e russische Ehrenkompanie das Gewehr, als er vorfuhr. E<strong>in</strong>er se<strong>in</strong>erBegleitoffiziere, Oberleutnant Zsigmond Szabó, stellte fest, daß dieGespräche gegen 21.45 Uhr wiederaufgenommen worden seien: Diesowjetischen Verhandlungspartner vom Morgen befanden sich bereitsdort. Mal<strong>in</strong><strong>in</strong> zeigte sich immer noch freundlich und verständnisvoll.Maléter und se<strong>in</strong>e Kollegen Erdei, General Kovács und Oberst Szücsließen ihre persönlichen Adjutanten im Vorzimmer zurück.ÈÔDer Soldat, der Maléter gefahren hatte, trank gerade Bier und Wodka,die ihm se<strong>in</strong>e Gastgeber angeboten hatten, als e<strong>in</strong>e Gruppe uniformierterRussen an ihm vorbeistürmte, an ihrer Spitze General Iwan Serow, derChef der sowjetischen Sicherheitspolizei. Er trug ke<strong>in</strong>e Rangabzeichen.E<strong>in</strong> Kommando <strong>in</strong> russischer Sprache ertönte, die Tür des Konferenzzimmerswurde aufgestoßen und Masch<strong>in</strong>enpistolen auf die ungarischeDelegation gerichtet. »Me<strong>in</strong>e Herren, Sie s<strong>in</strong>d Gefangene der Sowjetarmee«,verkündete Serow.Das Blut wich aus Maléters Gesicht. Se<strong>in</strong>e Miene war eisig, als er sichlangsam erhob und auf russisch sagte: »So steht es also?«Der Leiter der sowjetischen Delegation, General Mal<strong>in</strong><strong>in</strong>, tat, als sei erebenso erschrocken wie Maléter. Serow nahm ihn beiseite und flüsterteihm etwas <strong>in</strong>s Ohr. Mal<strong>in</strong><strong>in</strong> zuckte die Achseln und verließ mit se<strong>in</strong>erDelegation den Raum. Die anderen wurden <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Nebenraum geführt,wo sie e<strong>in</strong>ige Zeit unter Bewachung gehalten wurden. Dann brachte mansie e<strong>in</strong>zeln <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en hell erleuchteten Hof.Maléter hörte, wie im Hof kurze MG-Salven knatterten, die durch dasKnallen der Tür unterbrochen wurden. Er richtete sich auf und wartete,daß sich die Tür wieder öffnete und er an der Reihe war.681


44Blutige WiederkehrIM HEUTIGEN <strong>Ungarn</strong> ist begreiflicherweise ke<strong>in</strong>e Straße nach dem e<strong>in</strong>enM<strong>in</strong>ister benannt, der am 4. November, dem Tag, an dem der tückische,blutige Angriff der Sowjets beg<strong>in</strong>nt, Mut bewiesen hat. Begreiflicherweise– denn er ist ke<strong>in</strong> Kommunist, welcher Schattierung auch immer. Derjahrelange Besitz der Macht hat den früheren Idealismus der Kommunistenkorrumpiert. Und als ihre Stunde schlägt, als die Kanonen zuschießen beg<strong>in</strong>nen, verkünden die Nationalkommunisten: »Die Regierungist an ihrem Platz« und fliehen – <strong>in</strong>dem sie, wie sich ihr nicht wenigerehrlose Genosse János Kádár höhnisch ausdrückt, ihre Koffer mit sichnehmen. Sie bitten um Asyl <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er bestimmten ausländischen Botschaft,während der religiöse Führer des Landes <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e andere flieht.An diesem Morgen gibt es nur e<strong>in</strong>en Intellektuellen, der denselbenMut aufbr<strong>in</strong>gt wie der Arbeiter, der vor elf Tagen <strong>in</strong> der Bródy utca vorden ÁVH-Obersten trat, se<strong>in</strong>e Brust entblößte und ihn aufforderte, ihn zuerschießen. Es ist István Bibó, Professor der Rechte.Bevor der Morgen des 4. November graut, br<strong>in</strong>gt ihn e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>esMilitärfahrzeug zum Parlament. Der Tag se<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>samen Ruhmes istgekommen.M<strong>in</strong>isterpräsident Imre Nagy versammelte so viel Kab<strong>in</strong>ettsmitgliederum sich wie möglich. Aus allen Himmelsrichtungen kamen Anrufe vonRevolutionsräten, die über den <strong>in</strong> voller Kriegsstärke sowjetischen Vormarschberichteten. 2000 Panzer waren im Anmarsch. Unter den Altkommunisten,die im Parlament schliefen, befand sich auch Ferenc682


Donáth.Á Er wurde unsanft geweckt und angewiesen, den Rest se<strong>in</strong>es»Exekutivkomitees« zusammenzurufen. Als er anf<strong>in</strong>g zu telephonieren,kam Tildy mit se<strong>in</strong>er Frau here<strong>in</strong>, die noch im Nachthemd war.Der jugoslawische Außenm<strong>in</strong>ister hatte <strong>in</strong>zwischen se<strong>in</strong>er Botschaft <strong>in</strong>Budapest e<strong>in</strong> dr<strong>in</strong>gendes Telegramm geschickt. Da Botschafter SoldaticGéza Losonczy nicht erreichen konnte, ließ er um 1 Uhr früh ZoltánSzántó zu sich bitten. »Wir haben Ihr Asylersuchen nach Belgradweitergegeben«, erklärte Soldatic. »Hier ist die Antwort: Die Situation istäußerst ernst. Es kann jeden Augenblick zu e<strong>in</strong>em neuen Angriffsowjetischer Truppen kommen, deshalb hat die jugoslawische Regierungbeschlossen, auch Imre Nagy, den Mitgliedern se<strong>in</strong>er Exekutive undjedem, den die Exekutive für würdig hält, Asyl zu gewähren.«ËGegen 3 Uhr nachts rollten von Süden kommend Panzer den Flugentlang, sie ratterten die Soroksári út h<strong>in</strong>unter zum Boráros tér undriegelten die Csepel-Insel ab. E<strong>in</strong>e zweite Zangenbewegung vom Nordenschnitt die Donau an der Váci út ab. E<strong>in</strong> Wachtposten im PolizeipräsidiumKopácsis weckte den Kompaniechef Lászlo Blücher.È »Auf dem Platzkurven zwei Sowjetpanzer herum«, sagte er. Überall im Gebäudeschrillten die Telephone. Anrufer teilten mit, daß Panzer die Kasernen im150 Kilometer entfernten Kiskunhalas beschossen hätten. General Királyblickte auf se<strong>in</strong>e Armbanduhr: Es war fast 4 Uhr. Er rief das Parlament an,aber Nagy stotterte lediglich: »Der sowjetische Botschafter ist hier <strong>in</strong>me<strong>in</strong>em Büro. Er ruft gerade <strong>in</strong> Moskau an. Da gibt es irgende<strong>in</strong> Mißverständnis.Nicht das Feuer eröffnen!« Király merkte, daß Nagyentschlossen war, niemals e<strong>in</strong>en solchen Befehl zu geben.Um 4 Uhr unterrichtete der Ex-M<strong>in</strong>ister Generalleutnant Janza Nagyoffiziell vom »sowjetischen E<strong>in</strong>marsch <strong>in</strong> Budapest«.Plötzlich rasselten drei Stal<strong>in</strong>-Panzer am Polizeipräsidium vorbei, dieoffensichtlich auf dem Wege zum Innenm<strong>in</strong>isterium waren. Der Lärm derPanzerketten machte e<strong>in</strong>e Verständigung vorübergehend unmöglich.Danach rief Király den M<strong>in</strong>isterpräsidenten wieder an. Nagy sagte: »Ichbrauche ke<strong>in</strong>e weiteren Berichte von Ihnen.«ÍKopácsis Tochter Judit hatte <strong>in</strong> Buda bei der Familie Szilágyi über-683


nachtet. Sie wurde durch vorbeirollende Panzer geweckt. József Szilágyi,Chefsekretär von Nagy, kam here<strong>in</strong> und rief: »Sofort packen, wir gehenweg.« Zusammen fuhren sie über die Donau zum Parlament.ÎUm 4.25 Uhr eröffneten die Panzer das Feuer. Erstes Ziel waren dieKasernen an der Budaörsi út im Vorort Buda. In e<strong>in</strong>em schäbigen Hotel <strong>in</strong>der Innenstadt hörte der britische Student Mike Korda, der <strong>in</strong> e<strong>in</strong>emVolkswagen Medikamente aus Cambridge gebracht hatte, e<strong>in</strong> gedämpftesDonnern. Er stand auf und zog die schweren Vorhänge zurück. AmHorizont sah er Blitze – aber aus se<strong>in</strong>er Militärzeit <strong>in</strong> der britischen Armeewußte er, daß dies ke<strong>in</strong> Gewitter war. Er weckte se<strong>in</strong>e Kameraden: »Dasist Artillerie!« In se<strong>in</strong>em etwas besseren Hotel vernahm der Italiener IndroMontanelli, der für den Corriere della Sera berichtete, e<strong>in</strong> dumpfesGrollen wie von e<strong>in</strong>er niedergehenden Law<strong>in</strong>e. Durch die Kanonadewurde auch Professor Blücher im Hauptquartier der Nationalgardegeweckt. Durch Anrufe beim Verteidigungsm<strong>in</strong>isterium stellte sichheraus, daß General Maléters Delegation nicht aus Tököl zurückgekehrtwar. Über der Technischen Hochschule war der Himmel vom Feuersche<strong>in</strong>erhellt. Oberst Marián raste mit e<strong>in</strong>igen se<strong>in</strong>er Leute <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Lastwagendorth<strong>in</strong>, um festzustellen, was geschehen war.Miklós Vásárhelyi wurde <strong>in</strong> Buda vom Telephon <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Wohnzimmeraus dem Schlaf gerissen.Ï Ferenc Donáth rief an: »SowjetischePanzer und ÁVH-Truppen dr<strong>in</strong>gen <strong>in</strong> Budapest e<strong>in</strong>«, sagte Donáth.Vásárhelyi zog sich notdürftig an und lief zur Donau h<strong>in</strong>unter. Er brauchtee<strong>in</strong>e Stunde, um zu Fuß zum Parlament zu gelangen.Die massiven Ste<strong>in</strong>wände des Parlaments dämpften die schrillendenTelephone. In den Amtsräumen des M<strong>in</strong>isterpräsidenten herrschte Ruhe.Nagy war vollständig angekleidet. Er wirkte sehr bedrückt. Tildy sagte zuihm: »Die Regierung muß e<strong>in</strong>e Erklärung abgeben. Es könnte unsere letzteChance se<strong>in</strong>, sie über den Rundfunk zu verbreiten.« Nagy stimmte zu. Erund Tildy diktierten e<strong>in</strong>en kurzen Text, den Donáth mit dem Bleistiftniederschrieb. Nagy bekam plötzlich e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en Wutanfall und rief:»Ich kann das nicht lesen!« Donáth nahm den Zettel und tippte den Text684


ab. Tildy machte e<strong>in</strong>e Kopie, um den Vere<strong>in</strong>ten Nationen den Text zuübermitteln, während Nagy <strong>in</strong>s Rundfunkstudio eilte.Im Studio waren zwei junge Frauen, die Schallplatten mit ungarischerMusik auflegten. Um 5.19 Uhr wurde die Musik unterbrochen: »Achtung,Achtung! M<strong>in</strong>isterpräsident Imre Nagy spricht zum ungarischen Volk!«Se<strong>in</strong>e Stimme zitterte vor Erregung: »Hier spricht M<strong>in</strong>isterpräsident ImreNagy. Heute am frühen Morgen haben sowjetische Truppen unsereHauptstadt angegriffen. Sie wollen die gesetzmäßige demokratischeRegierung des ungarischen Volkes stürzen. Unsere Truppen stehen imKampf. Die Regierung ist an ihrem Platz. Ich gebe dies dem Volkeunseres Landes und der Öffentlichkeit der ganzen Welt bekannt.«Wenn das schwere Geschütz e<strong>in</strong>es Stal<strong>in</strong>-Panzers feuert, gibt es e<strong>in</strong>enohrenzerreißenden Lärm. Der Offiziersanwärter Béla Kurucz liegt mitse<strong>in</strong>er Freund<strong>in</strong> Rózsa im Bett, als er von dem Knall aufgeweckt wird.ÌWeitere Feuerstöße folgen. Er wirft sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Uniform, küßt Rózsazum Abschied und rennt die Üllöi út zur 5 Kilometer entfernten Kossuth-Kaserne h<strong>in</strong>unter. Panzer rollen an und decken die Gebäude auf beidenSeiten der Straße mit Granatfeuer e<strong>in</strong>. Die Kaserne sche<strong>in</strong>t verlassen zuse<strong>in</strong>. Irgend jemand sagt zu Kurucz: »Oberst Kömüves hat alleszusammengerufen und im Keller e<strong>in</strong>gesperrt.« Durch e<strong>in</strong> Fenster siehtKurucz den Obersten, wie er mit e<strong>in</strong>igen Russen spricht. Er greift sich e<strong>in</strong>Gewehr, läuft heraus und holt sich unterwegs Sándor Nagy, e<strong>in</strong>en anderenKadetten. Bald s<strong>in</strong>d sie zu dritt, alle bewaffnet mit Masch<strong>in</strong>enpistolen undHandgranaten. Die Üllöi út ist verstopft von langsam vorgehendensowjetischen Truppen und Panzerfahrzeugen, die offensichtlich nicht ander Kreuzung vorbeikommen, an der die Kilián-Kaserne liegt.Das Kasernengebäude erzittert unter dem plötzlich aufblitzendenE<strong>in</strong>schlag e<strong>in</strong>er Granate. Irgend jemand stellt e<strong>in</strong> Radio an. E<strong>in</strong>e Stimmeertönt: » . . . Unsere Truppen stehen im Kampf. Die Regierung ist anihrem Platz . . . « Durch das Fenster kann Leutnant Péter Gosztony sehen,daß Panzer bereits auf der Straße <strong>in</strong> Stellung gegangen s<strong>in</strong>d. In derUnterführung am E<strong>in</strong>gang liegen die halbbekleideten Leichen der685


Wachtposten. Russen müssen <strong>in</strong>zwischen bereits im Gebäude se<strong>in</strong>. HauptmannCsiba, der Kommandeur der Kaserne, ruft das Verteidigungsm<strong>in</strong>isteriuman. E<strong>in</strong>e Stimme erklärt: »Hier s<strong>in</strong>d die Russen auch schon.«E<strong>in</strong> Generalmajor Horváth kommt an den Apparat und gibt den kühlenRat: »Sie sollten lieber versuchen, mit den Russen zu verhandeln.«Geschosse sausen pfeifend durch die Fenster. E<strong>in</strong> junger Aufständischer,der neben Gosztony steht, greift sich an den Hals und s<strong>in</strong>kt zuBoden, während Blut durch se<strong>in</strong>e F<strong>in</strong>ger quillt. Csiba macht e<strong>in</strong>enErkundungsgang und kehrt zurück. »Oben lebt niemand mehr«, flüstert ermit heiserer Stimme. Major Ficzkó macht e<strong>in</strong>en Gegenangriff, um dasHaupttor abzuriegeln. Da krepiert im Innenhof e<strong>in</strong>e Granatwerfersalve.Der Major fällt und schleppt sich mühsam <strong>in</strong> Deckung. E<strong>in</strong>e Sanitäter<strong>in</strong>läuft heraus, e<strong>in</strong> Masch<strong>in</strong>engewehr knattert; beide s<strong>in</strong>d tot.ÓKurucz und se<strong>in</strong>e Kameraden versuchen, ganz <strong>in</strong> der Nähe zunächst <strong>in</strong>Seitenstraßen auszuweichen, aber die Russen überschütten die Gassen mite<strong>in</strong>em Feuerhagel, um die Menschen zu zw<strong>in</strong>gen, <strong>in</strong> ihren Häusern zubleiben. Von e<strong>in</strong>em der oberen Flurfenster der Üllöi út kann man direktauf die langsam vorrückenden Schützenpanzer h<strong>in</strong>absehen. Infanteristenhocken zusammengedrängt mit schußbereiten Waffen auf den Fahrzeugen.Kurucz b<strong>in</strong>det drei Handgranaten zusammen und wirft dieses tödlicheBündel auf e<strong>in</strong>en der Schützenpanzer. Die Detonation zersplittertHunderte von Fensterscheiben. Kugeln pfeifen und prallen gegen dieWände. Kurucz macht nicht den Fehler, h<strong>in</strong>auszuschauen, er wechseltsofort <strong>in</strong> e<strong>in</strong> anderes Gebäude über.General Királys Nationalgarde ist völlig überrumpelt worden. E<strong>in</strong>Kompaniechef spricht von Verrat durch reguläre Heeresoffiziere.Ô Warumläßt der Kommandeur der Petöfi-Kaserne auf der Budaörsi út rund hundertPanzer auf e<strong>in</strong>em Übungsplatz zusammenpferchen, der nur e<strong>in</strong>en engenAusgang hat? Die Soldaten hatten ke<strong>in</strong>e Möglichkeit, ihre Panzerause<strong>in</strong>anderzuziehen, als die Russen here<strong>in</strong>stürmten. Warum gab dasVerteidigungsm<strong>in</strong>isterium Flake<strong>in</strong>heiten <strong>in</strong> der Nähe von Nagykovácsiden Befehl, ihren Geschützen an diesem Abend die Verschlüsse auszubauen?Warum verriet ke<strong>in</strong> Offizier den Aufständischen, daß <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em686


Munitionslager <strong>in</strong> Budakeszi Tausende von Panzerfäusten aufgestapeltwaren? Die gleichen Generäle, die sich so wohlwollend gegenüber dem<strong>Aufstand</strong> verhalten hatten, überboten sich nun <strong>in</strong> prosowjetischenGefühlen. Später kämpften sie wie die Wölfe um die besten neuenPosten.ÁÊTildy ist noch abwesend. Zoltán Szántó ersche<strong>in</strong>t <strong>in</strong> NagysAmtsräumen und schwenkt aufgeregt das jugoslawische Telegramm. Erübersetzt es Nagy und Donáth. Vielleicht ist es nur Zufall, daß lediglichdie Kommunisten von diesem Asylangebot hören. Donáth hat viele Jahreaus politischen Gründen im Gefängnis gesessen und bedarf ke<strong>in</strong>erweiteren Aufforderung. József Szilágyi weiß ebenfalls, daß Nagys Leutekurzen Prozeß von den Russen zu erwarten haben: Er br<strong>in</strong>gt Donáth nachHause, um dessen Frau und se<strong>in</strong>e beiden K<strong>in</strong>der zu holen, denn noch s<strong>in</strong>ddie Donaubrücken offen.ÁÁZwei Blocks weiter auf dem Freiheitsplatz hören die Angehörigen deramerikanischen Botschaft, daß die Beschießung begonnen hat. Sieschieben Aktenschränke vor die Fenster der Fernschreibzentrale, um denRaum vor e<strong>in</strong>schlagenden Kugeln zu schützen. E<strong>in</strong> Radio wirde<strong>in</strong>geschaltet: »M<strong>in</strong>isterpräsident Imre Nagy spricht zum ungarischenVolk! Heute am frühen Morgen haben sowjetische Truppen . . . « Um 5.25Uhr meldet Tom Wailes nach Wash<strong>in</strong>gton: »Geschütze s<strong>in</strong>d schwerenKalibers; der Artilleriebeschuß sche<strong>in</strong>t nach neuestem Stand eher vonaußerhalb der Stadt als von <strong>in</strong>nen zu kommen. Dies ist verstümmeltenlokalen Rundfunkmeldungen zu entnehmen. Nagy oder Tildy haben dieBevölkerung aufgefordert, <strong>in</strong> den Keller zu gehen, da die Stadt besetztwird . . . «Während der nächsten zehn M<strong>in</strong>uten plaudern die Bedienungen derFernschreiber privat mite<strong>in</strong>ander. Dann kommt e<strong>in</strong> Anruf aus Tildys Büro:»Die Russen greifen <strong>in</strong> ganz <strong>Ungarn</strong> an.« Sie bitten offiziell umamerikanische Hilfe. Wailes unterrichtet sofort Wash<strong>in</strong>gton und fügth<strong>in</strong>zu: »Rundfunk um 5.45 Uhr, angeblich Nagy, verkündet, daß Russenauf die Stadt vorrücken und gegenwärtig <strong>in</strong> Kämpfe mit der ungarischen687


Armee verwickelt s<strong>in</strong>d.« Er weist se<strong>in</strong>e Mitarbeiter an, mit derVernichtung von Codebüchern und Geheimakten zu beg<strong>in</strong>nen. Um 6 Uhrunterbricht e<strong>in</strong>e andere Botschaft Nagys Erklärung, die <strong>in</strong> Ungarisch,Französisch, Deutsch und Russisch wiederholt wird. Es ist e<strong>in</strong> Aufruf andie vermißte Delegation, sich zurückzumelden: »Achtung, Achtung,Achtung! M<strong>in</strong>isterpräsident Imre Nagy bittet Verteidigungsm<strong>in</strong>ister PálMaléter, Generalstabschef István Kovács und die anderen Delegierten, diegestern abend um 22 Uhr das Hauptquartier der sowjetischen Armeeaufgesucht haben und noch nicht zurückgekehrt s<strong>in</strong>d, sofort zurückzukommenund ihre Posten e<strong>in</strong>zunehmen.« E<strong>in</strong>e eigenartige Formulierung:Will Nagy sowjetische Reaktionen vermeiden, falls er sie vielleichtfälschlicherweise beschuldigt, sie hätten die ganze Delegation gekidnappt?Bei der Zentralredaktion der ungarischen Nachrichtenagentur MTI <strong>in</strong>der Fény út kennt man solche Hemmungen nicht. In e<strong>in</strong>em dr<strong>in</strong>gendenFernschreiben, das an Associated Press <strong>in</strong> Wien gerichtet wurde, heißtesÁË: »Die sowjetischen Verbrecher haben uns betrogen. Die russischenTruppen haben plötzlich Budapest und das ganze Land angegriffen. Siehaben das Feuer auf jedermann <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> eröffnet. Es ist e<strong>in</strong> Generalangriff. . . Ich spreche auch im Namen des M<strong>in</strong>isterpräsidenten ImreNagy. Er bittet um Hilfe.«Während der nächsten Stunde fragt MTI verzweifelt nach Informationen.»Falls Sie irgend etwas von der österreichischen Regierung füruns haben, bitte, geben Sie es durch. Die Regierung wartet auf IhreAntwort. Dr<strong>in</strong>gend! Dr<strong>in</strong>gend! Dr<strong>in</strong>gend! Ist irgende<strong>in</strong>e Nachricht überHilfsaktionen da? Schnell, schnell! Bitte, <strong>in</strong>formieren Sie Europa. Diesowjetischen Panzer kommen über Vecsés und Rákoscsaba und Transdanubien.Sie bef<strong>in</strong>den sich jetzt <strong>in</strong> der Rákóczistraße und der Alkotásstraße. . . Wir selbst stehen unter schwerem Masch<strong>in</strong>engewehrfeuer.«Die Berichte der Außenbüros von MTI kl<strong>in</strong>gen nicht anders:»Sowjetische Düsenjäger kreisen über Budapest. Györ ist von den Russenvöllig e<strong>in</strong>geschlossen. Székesfehérvár gibt ke<strong>in</strong>e Antwort. AssociatedPress Wien, falls Sie irgend etwas für uns haben, bitte geben Sie es durch.Die Regierung wartet auf Ihre Antwort!« Nach kurzer Zeit fährt MTI fort:688


»Es ist jetzt 5.45 Uhr. Die Russen haben für e<strong>in</strong>e M<strong>in</strong>ute ihr Feuere<strong>in</strong>gestellt. Die Straßenlaternen brennen, und die Stadt bietet e<strong>in</strong>enfriedlichen Anblick. Überall auf den Straßen fahren jedoch sowjetischePanzer. Soeben kam die Meldung, daß das Parlament von russischerInfanterie umz<strong>in</strong>gelt wurde. Pécs wurde um 2 Uhr morgens von denSowjets angegriffen. Sie versuchten, sich der Uranbergwerke und desFlugplatzes zu bemächtigen, wurden jedoch von den <strong>Ungarn</strong> aufgehalten.Falls Sie irgende<strong>in</strong>e Antwort für uns haben, geben Sie sie durch . . . ImreNagy persönlich bittet um Hilfe und diplomatische Schritte . . . «Mit der letzten Botschaft »Lang lebe <strong>Ungarn</strong> und Europa. Wir werdenfür <strong>Ungarn</strong> und Europa sterben« wird die Verb<strong>in</strong>dung plötzlich von e<strong>in</strong>emRedakteur unterbrochen, der den Fernschreiber der früheren BudapesterZeitung Freies Volk benutzt: »Seit den frühen Morgenstunden greifenrussische Truppen Budapest und unsere Bevölkerung an. Bitte, melden Sieder ganzen Welt den h<strong>in</strong>terhältigen Angriff auf unseren Freiheitskampf.Unsere Truppen s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> Kämpfe verwickelt. Der Sender Petöfi ist noch <strong>in</strong>unserer Hand.« Das Fernschreiben schloß: »Hilfe, Hilfe, Hilfe! – SOS,SOS, SOS!«In New York war es 23.49 Uhr Ortszeit, als die britische NachrichtenagenturReuter die Blitzmeldung aus Wien übermittelte. Die Vollversammlungder Vere<strong>in</strong>ten Nationen tagte, debattierte aber über Suez. Um0.30 Uhr stürmten ungarische Emigranten e<strong>in</strong>schließlich der von der CIAf<strong>in</strong>anzierten Gruppe, die von Béla Varga geführt wurde, <strong>in</strong> das UN-Gebäude und verlangten, Cabot Lodge zu sprechen. Es kam zu e<strong>in</strong>emHandgemenge, die Wachmannschaften warfen sie wieder h<strong>in</strong>aus. Deraustralische Delegierte Walker g<strong>in</strong>g zu Lodge, aber der Amerikanererklärte kühl, der Weltsicherheitsrat würde am nächsten Nachmittagzusammentreten.Walker wollte das nicht akzeptieren. Um 1 Uhr unterbrach er dieDebatte und las die Reuternachricht vor. »Angesichts dieser Nachricht«,rief er aus, »bitte ich hiermit den Präsidenten des Sicherheitsrates, dieMitglieder des Rats aufzufordern, sich <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>er halben Stunde689


zusammenzuf<strong>in</strong>den . . . «Zwanzig M<strong>in</strong>uten verg<strong>in</strong>gen, bevor Lodge auf Walker antwortete.Blaß vor Entrüstung sagte er: »Und ich saß hier und hörte dem Vertreterder Sowjetunion zu, der davon sprach, das Blutvergießen <strong>in</strong> Ägypten zubeenden!« Um 3 Uhr trat der Sicherheitsrat zusammen. Und jetzt brachteLodge endlich die Resolution e<strong>in</strong>. Um 5.30 Uhr wurde abgestimmt und dieAngelegenheit der Vollversammlung überwiesen, die noch am selbenNachmittag tagen sollte.Als Tildy nach der Übermittlung der Botschaft Nagys an die UN <strong>in</strong>New York zurückkommt, trifft er den M<strong>in</strong>isterpräsidenten und vier se<strong>in</strong>erengeren Freunde bereits <strong>in</strong> Hut und Mänteln und mit weißen Servietten <strong>in</strong>der Hand an. »Wo wollt ihr denn h<strong>in</strong>?« fragt er.»Wir gehen alle <strong>in</strong> den Luftschutzkeller«, lügt Nagy, »um uns vorArtilleriegeschossen zu schützen.« Tildy verläßt den Raum, um se<strong>in</strong>enMantel zu holen. Inzwischen hat er auch e<strong>in</strong>en Wagen zu se<strong>in</strong>em Kollegenvon der Kle<strong>in</strong>landwirte-Partei, István B. Szabó, geschickt. Szabó trifft <strong>in</strong>dem Augenblick e<strong>in</strong>, als Nagy mit se<strong>in</strong>er Begleitung aufbricht. »Jeder hatsofort <strong>in</strong> den Luftschutzkeller zu gehen«, ordnet Nagy an. Kard<strong>in</strong>alM<strong>in</strong>dszenty und Béla Kovács s<strong>in</strong>d ebenfalls aufgefordert worden, <strong>in</strong>sParlament zu kommen. Der Kard<strong>in</strong>al, gekleidet <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e prachtvollenGewänder, rauscht here<strong>in</strong>. Als Tildy zurückkommt, ist Nagy verschwunden.Die übrige Gesellschaft begibt sich nun <strong>in</strong> den Luftschutzkeller,aber Nagy schließt sich ihnen noch immer nicht an. Nach kurzerZeit geht Tildy h<strong>in</strong>auf und fragt e<strong>in</strong>en Posten am E<strong>in</strong>gang. Der Offiziersagt, Nagy sei zur Sowjetbotschaft gegangen.ÁÈAls der Schriftsteller Gyula Háy mit se<strong>in</strong>er Frau Áva beim Parlamentse<strong>in</strong>gangan der Kossuth-Brücke e<strong>in</strong>trifft, bekommt er dieselbe Antwort.ÁÍDer Offizier der Parlamentswache sagt, ohne e<strong>in</strong>e Miene zu verziehen:»Sie verhandeln jetzt alle <strong>in</strong> verschiedenen ausländischen Missionen.«Dr<strong>in</strong>nen wirft e<strong>in</strong> Posten Háy Schachteln mit Schokolade zu: »Hier,nehmt – laßt für die nichts übrig!«Háy hört Nagys Stimme aus e<strong>in</strong>em Lautsprecher, wie er mit geister-690


hafter, sonorer Stimme sagt: » . . . die gesetzmäßige ungarische Regierungzu stürzen. Unsere Truppen stehen im Kampf . . . « Durch die massivenMauern hört er das Rasseln von Panzerketten auf dem Straßenpflaster, alsHunderte von Panzern sich ihren Weg <strong>in</strong> das Innere der Stadt bahnen.Es ist etwa 5.45 Uhr, als Professor Bibó ersche<strong>in</strong>t und verwirrt um sichschaut. Er ist <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Wohnung <strong>in</strong> Buda von Jolán Majlát, der Frau vonFerenc Erdei, angerufen worden. Erdei gehört zu denen, die nicht vonTököl zurückgekehrt s<strong>in</strong>d. Sie teilt ihm mit, daß Nagy ihm e<strong>in</strong>en Wagengeschickt habe. Dieser Wagen trifft nie e<strong>in</strong>, aber <strong>in</strong>zwischen hat TildysSekretariat e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es Militärfahrzeug über die Donau entsandt, das Bibóund e<strong>in</strong> Mitglied von Tildys Militärkab<strong>in</strong>ett zum Parlamentsgebäudebr<strong>in</strong>gt.Bibó trifft die beiden Tildys zusammen mit Szabó und M<strong>in</strong>dszenty an.Tildy sagt: »Nagy wird offenbar <strong>in</strong> der sowjetischen Botschaft festgehalten.Jetzt müssen wir etwas unternehmen!« Unterdessen hat JózsefSzilágyi Kopácsi e<strong>in</strong>e Mitteilung geschickt, <strong>in</strong> welcher der russischeAngriff bestätigt wird. Kopácsi soll ebenfalls zum Parlament kommen undso viel Polizisten wie möglich mitbr<strong>in</strong>gen.ÁÎ Kopácsi teilt diese Neuigkeitdem Vetter se<strong>in</strong>er Frau, György Fazekas, mit. Fazekas eilt zurück <strong>in</strong>sPolizeipräsidium. Er und Kopácsi begeben sich zum Parlament. Vor demGebäude steht der Wagen des Präsidenten mit laufendem Motor – er ist imPendelverkehr zwischen dem Parlamentsgebäude und der jugoslawischenBotschaft e<strong>in</strong>gesetzt. Szilágyi kommt die Treppe heruntergelaufen und ruftFazekas zu: »Schnell, du bist auf der Liste, steig e<strong>in</strong>. Wir nehmen dich mit<strong>in</strong> die Botschaft.« Mit flatterndem Präsidentenstander fahren sie an denungarischen T-34 vorbei, die auf dem Platz aufgefahren s<strong>in</strong>d.ÁÏAls Kopácsi <strong>in</strong> den Amtsräumen des M<strong>in</strong>isterpräsidenten ankommt,s<strong>in</strong>d die meisten Leute verschwunden. Er trifft Tildy, der mit e<strong>in</strong>emOberstleutnant der Parlamentswache spricht. Kopácsi berichtet ihm,sowjetische T-54 seien im Anmarsch, Panzerkolonnen überquerten dieMargaretenbrücke und besetzten den R<strong>in</strong>g. Er fragt: »Wo ist Nagy?« Tildyweiß es nicht. Niemand will den ersten Schritt tun oder überhaupt irgend691


etwas <strong>in</strong> dieser Angelegenheit unternehmen. Professor Bibó ruft aus:»Sollten wir nicht e<strong>in</strong>e Kab<strong>in</strong>ettssitzung e<strong>in</strong>berufen? Schließlich s<strong>in</strong>d wirdas Kab<strong>in</strong>ett!« Tildy fährt sich nervös mit der Hand durchs Haar undwechselt das Thema. Daraufh<strong>in</strong> zieht Bibó se<strong>in</strong>en Entwurf e<strong>in</strong>esSchreibens an Eisenhower aus der Tasche und liest ihn vor. Für die dortanwesenden älteren Herren Tildy, Szabó und Sándor Rónai ist dieAngelegenheit ziemlich schwer zu verdauen. Bibó beschließt zu handeln.Um 6.30 Uhr verläßt er das Gebäude und marschiert fröstelnd imMorgennebel an den Spähwagen, Panzern und Sturmgeschützen vorbei,die die Zufahrtswege zum Parlament säumen.Es ist schwierig, die Loyalität der e<strong>in</strong>zelnen E<strong>in</strong>heiten zu erkennen.E<strong>in</strong> Dutzend T-34 des Panzerregiments 33 s<strong>in</strong>d zwischen demVerteidigungsm<strong>in</strong>isterium und dem Parlament e<strong>in</strong>gesetzt, aber ihrevorgesetzten Offiziere s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> Moskau ausgebildet und haben e<strong>in</strong>egeme<strong>in</strong>same E<strong>in</strong>stellung: »Lieber e<strong>in</strong> lebender Sklave als e<strong>in</strong> toter Held.«So werden die Besatzungen dieser T-34 zum M<strong>in</strong>isterium geschickt, wosie zwei Stunden lang herumlungern. Als sie zurückkehren, entdecken sie,daß gr<strong>in</strong>sende Russen ihre geparkten Panzer übernommen haben.ÁÌ E<strong>in</strong>igeArmee-E<strong>in</strong>heiten haben Widerstand geleistet. Oberst Mécseri hat, bevor ermit Maléter nach Tököl g<strong>in</strong>g, se<strong>in</strong>en Soldaten befohlen, allen AngriffenWiderstand zu leisten, und viele Russen und ÁVH-Soldaten haben beiSoroksár ihr Leben verloren.Der Reporter Lajos Lederer vom Observer überquert die Ferenc-József-Brücke vor der Absperrung durch e<strong>in</strong>en Panzerverband auf derStadtseite. Hier <strong>in</strong> Pest beobachtet er sowjetische T-54, die mitgeschlossenen Luken und wild um sich feuernden Geschützen zumParlament rollen. Neben dem Hotel Astoria reißen Leute die Pflasterste<strong>in</strong>eheraus, um die abgebauten Barrikaden wiederzuerrichten. In den Straßensche<strong>in</strong>en viele ungarische Soldaten zu se<strong>in</strong>. Um 6.40 Uhr erhält Wailesaus Wash<strong>in</strong>gton über Fernschreiber folgende verspätete Anweisung:»Empfehlen Überreichung Ihres Beglaubigungsschreibens.« Wailes istvon dem Gedanken, den Kriegsmasch<strong>in</strong>en, die jetzt die Botschaft vomParlament trennen, die Stirn zu bieten, nicht begeistert. »Bezweifle, ob ich692


im Augenblick den Herrn f<strong>in</strong>de, dem ich es überreichen könnte, selbstwenn ich jetzt überhaupt durchkäme«, erwidert er beunruhigt.In diesem Augenblick läutet die Türglocke, es ist jemand, der dieReise <strong>in</strong> umgekehrter Richtung geschafft hat. Wailes schreibt nachWash<strong>in</strong>gton: »Habe die Papiere (des) Staatsm<strong>in</strong>isters geprüft undfestgestellt, daß er e<strong>in</strong>er von den gestern Ernannten ist. Se<strong>in</strong> Name folgt <strong>in</strong>wenigen M<strong>in</strong>uten.« Es ist niemand anders als Bibó. Er wird e<strong>in</strong>gelassenund empfängt das Dokument. »Er sagt mir, Nagy sei zur Sowjetbotschaftgegangen und nicht zurückgekehrt. Der M<strong>in</strong>ister sei deshalb e<strong>in</strong>er derhandlungsfähigen Kab<strong>in</strong>ettsangehörigen. (Tildy ist der andere.) Er hat e<strong>in</strong>eBotschaft, die dem Präsidenten übermittelt werden soll . . . Er sagt, es istäußerst dr<strong>in</strong>gend.«Während Düsenjäger <strong>in</strong> niedriger Höhe über der Stadt kreisen, daß dieFenster klirren, übersetzen Mitarbeiter der Gesandtschaft Bibós Brief – esist e<strong>in</strong> geschickter, wohldurchdachter Appell an Eisenhower, mit demdritten Weltkrieg zu drohen, solange noch Gelegenheit dazu ist, und dieseDrohung Chruschtschows Bluff entgegenzusetzen. »Was <strong>in</strong> diesemAugenblick am dr<strong>in</strong>gendsten benötigt wird, ist politische, nichtmilitärische Hilfe«, betont Bibó an e<strong>in</strong>er Stelle. Er wendet sich dagegen,die Sowjets <strong>Ungarn</strong> noch e<strong>in</strong>mal unterwerfen zu lassen: »Es wäre derBankrott der Politik der Befreiung, die Amerika zehn Jahre mit solcherFestigkeit und Weisheit verfolgt hat . . . Dies ist der historische Augenblick,auf den sich sowohl Präsident Eisenhower als auch Außenm<strong>in</strong>isterDulles <strong>in</strong> ihren Ansprachen bezogen, als sie erklärten, daß man denAusbruch e<strong>in</strong>es neuen Weltkriegs nur verh<strong>in</strong>dern könne, <strong>in</strong>dem man e<strong>in</strong>enWeltkrieg riskiere.«ÁÓIn der Pause, während weiter übersetzt wird, <strong>in</strong>formiert Wash<strong>in</strong>gtonWailes davon, daß Lodge <strong>in</strong> Kürze vor der Vollversammlung sprechenwerde. Wailes erwidert: »Sowjetbotschaft erklärt, sie wisse nicht, was hier<strong>in</strong> der Stadt vorgeht.« Und dann erklärt er Wash<strong>in</strong>gton kurz und bündig:»Der Rest der Botschaft des Staatsm<strong>in</strong>isters lautet <strong>in</strong> Kürze: ›DasSchicksal der Welt hängt vom Präsidenten ab.‹ «693


Die Sowjets, die auf e<strong>in</strong>en raschen Sieg h<strong>in</strong>arbeiten, hoffen, zunächstalle strategischen Schlüsselpunkte e<strong>in</strong>nehmen zu können, bevor e<strong>in</strong>zelneVerteidigungsgefechte e<strong>in</strong>geleitet werden. Alle Straßenkreuzungenwerden von Panzern besetzt. Professor Blücher zieht mit e<strong>in</strong>er achtköpfigenPatrouille los, aber er entdeckt, daß es auf beiden Seiten desFlusses von Panzern und Spähwagen wimmelt. Als er zurückkehrt, kommter nicht e<strong>in</strong>mal bis zum Deák tér. Es ist der Anfang vom Ende derNationalgarde. Vom Polizeipräsidium aus telephoniert General Király mitdem Verteidigungsm<strong>in</strong>isterium. An den Apparat kommt General Janza –den Nagy am Vortage entlassen hatte! »Was machen Sie denn da?« ruftKirály aus. »Sie s<strong>in</strong>d doch e<strong>in</strong> Niemand!« Aber Janza spielt e<strong>in</strong> anderesSpiel mit anderen Regeln. Mit schneidender Stimme erklärt er: »Ichbefehle Ihnen, hierher <strong>in</strong>s Hauptquartier zu kommen und die Armee-E<strong>in</strong>heiten anzuweisen, die faschistischen Gruppen anzugreifen und denWiderstand gegen unsere russischen Freunde e<strong>in</strong>zustellen.« Király kommtzu dem Schluß, daß es Zeit sei, auszusteigen.Kard<strong>in</strong>al M<strong>in</strong>dszenty gelangt aufgrund se<strong>in</strong>er bisherigen Erfahrungenungefähr zu demselben Entschluß. Als er das Parlament verläßt, blickt erauf und sieht weiße Tücher aus den Fenstern flattern. Er rafft se<strong>in</strong>enKard<strong>in</strong>alsmantel hoch und eilt e<strong>in</strong>e gegenüberliegende Straße h<strong>in</strong>unter, dievom Parlamentsplatz wegführt.Nach se<strong>in</strong>er Rückkehr <strong>in</strong>s Parlament zieht sich Professor Bibó <strong>in</strong> e<strong>in</strong>Büro zurück und entwirft e<strong>in</strong>e Botschaft an das ungarische Volk. Sie endetmit folgenden Worten: »Jetzt s<strong>in</strong>d die Westmächte an der Reihe. Es istme<strong>in</strong>e Überzeugung, daß <strong>in</strong> diesem historischen Augenblick, wo dieBefreiung der osteuropäischen Nationen kurz vor ihrer Verwirklichungsteht, der e<strong>in</strong>zige Weg, um den Weltfrieden zu erhalten, dar<strong>in</strong> besteht, dasRisiko e<strong>in</strong>es Kriegs e<strong>in</strong>zugehen. Diese Entscheidung jetzt zu verschieben,bedeutet e<strong>in</strong>e Gefahr für die gesamte freie Welt. Gott schütze <strong>Ungarn</strong>!István Bibó, 4. November 1956.«ÁÔAuch Gyula Háy schreibt e<strong>in</strong>e Proklamation im Namen desSchriftstellerverbandes. Er zeigt sie Tildy. Die Stimme des Vizepremierskl<strong>in</strong>gt <strong>in</strong> ihm nach: »Ihr müßt wissen, wir leisten ke<strong>in</strong>en Widerstand.« Die694


matten Worte mischen sich mit Nagys geisterhafter Stimme: »– dieRegierung ist an ihrem Platz –« Háy geht den Kabeln nach, die imKorridor entlang zum Studio führen. E<strong>in</strong> Rasseln draußen auf demKossuth tér verkündet, daß die ersten sowjetischen Panzer angekommens<strong>in</strong>d. Er läßt se<strong>in</strong>e Erklärung <strong>in</strong> allen Sprachen, die er beherrscht,aufnehmen. Kurz vor 8 Uhr beg<strong>in</strong>nt der Rundfunk, sie zu verbreiten:»Hier meldet sich der ungarische Schriftstellerverband mit e<strong>in</strong>em Appellan alle Schriftsteller der Welt, an alle Wissenschaftler, an alle Schriftstellerverbände,wissenschaftlichen Akademien und Vere<strong>in</strong>igungen, an dieIntellektuellen der Welt! Es bleibt uns wenig Zeit! Ihr kennt dieTatsachen, wir brauchen euch ke<strong>in</strong>en Sonderbericht zu geben! Helft<strong>Ungarn</strong>! Helft den ungarischen Schriftstellern, Wissenschaftlern,Arbeitern, Bauern und unseren Intellektuellen! Helft, helft, helft!«Inzwischen ersche<strong>in</strong>t Zoltán Tildys Sohn zusammen mit Offizieren derWache und teilt mit, daß die Soldaten draußen um Erlaubnis bitten, dasFeuer auf die Russen eröffnen zu dürfen. Müde wehrt Tildy ab: »E<strong>in</strong>ensolchen Befehl kann nur der Verteidigungsm<strong>in</strong>ister geben. Aber wenn ihrme<strong>in</strong>en Rat befolgen wollt, dann tut folgendes: Der rangälteste Offiziersoll mit zwei jüngeren Offizieren und e<strong>in</strong>em Dolmetscher unter e<strong>in</strong>erweißen Fahne als Parlamentär zu den Russen gehen und dem sowjetischenKommandeur mitteilen, daß die ungarischen E<strong>in</strong>heiten nicht auf dieRussen schießen werden und die Sowjets dafür nicht das Parlament unterFeuer nehmen sollen.« Kurz danach verbreitet der Rundfunk e<strong>in</strong>e nichtweniger dramatische Mitteilung: »Achtung! . . . Die ungarische Regierungbittet die Offiziere und Soldaten der sowjetischen Armee, nicht zuschießen. Die Russen s<strong>in</strong>d unsere Freunde und werden immer unsereFreunde bleiben!«Die sowjetischen Offiziere, die <strong>in</strong> Tildys Zimmer e<strong>in</strong>treten, s<strong>in</strong>dhöflich, aber energisch. Sie fragten: »Wo ist Imre Nagy?« Niemand weißes. E<strong>in</strong> Oberst läßt Staatspräsident Dobi kommen und verlangt, daß er e<strong>in</strong>Dokument über die Kapitulation der bewaffneten Streitkräfte unterzeichnet.Dobi murmelt halb betrunken: »Wenn der sowjetische Vertreter695


mich zu sprechen wünscht, werde ich <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Büro zur Verfügungstehen«, und schwankt aus der Tür.In der US-Botschaft wagt niemand zu frühstücken. Jeden Augenblickkönnen diszipl<strong>in</strong>lose sowjetische Soldaten here<strong>in</strong>stürmen. WährendDüsenjäger über das Gebäude h<strong>in</strong>wegbrausen, stehen Angehörige derMar<strong>in</strong>ewachmannschaft mit entblößtem Oberkörper im Heizungskellerund werfen ganze Bündel Geheimdokumente <strong>in</strong>s Feuer. Die Liste mit denNamen von Aufständischen, die <strong>in</strong> den letzten Tagen die Botschaftaufgesucht hatten, wird h<strong>in</strong>ter Mauerste<strong>in</strong>en <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Vorratskellerversteckt. Beamte lernen die Safekomb<strong>in</strong>ationen auswendig, danach wirddie Aufstellung vernichtet.Die Botschaft sollte jetzt ihren wichtigsten Gast empfangen. Gegen7.30 Uhr, als Gaza Katona fieberhaft Dokumente <strong>in</strong> den Verbrennungsofenim Coderaum stopft, schwenkt der Codesekretär Gordon Brueglaufgeregt e<strong>in</strong> knappes Zweizeilentelegramm aus Wash<strong>in</strong>gton h<strong>in</strong> und her.Dar<strong>in</strong> wird mitgeteilt, daß »maßgebliche amerikanische Stelle«, wassoviel wie CIA bedeutet, das Asylgesuch für Kard<strong>in</strong>al M<strong>in</strong>dszentygebilligt habe. Wohl selten ist e<strong>in</strong> Telegramm <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em schicksalhafterenAugenblick e<strong>in</strong>getroffen. Um 7.58 Uhr läutet es am E<strong>in</strong>gang, derWachtposten Jerry Bolick vom US-Mar<strong>in</strong>e-Korps öffnet, und der Kard<strong>in</strong>alpersönlich tritt e<strong>in</strong>, zusammen mit se<strong>in</strong>em Sekretär Monsignore EgonTurcsányi. In aller Ruhe unterbricht Wailes e<strong>in</strong>e Rout<strong>in</strong>emeldung übersowjetische Panzermarkierungen: »Der Kard<strong>in</strong>al steht jetzt vor der Tür,und wir lassen ihn e<strong>in</strong>.« E<strong>in</strong>e Angestellte erkennt Se<strong>in</strong>e Em<strong>in</strong>enz und fälltauf die Knie. Der Kard<strong>in</strong>al tritt e<strong>in</strong> »Exil« an, das fünfzehn Jahre dauernwird.ËÊUm 7 M<strong>in</strong>uten nach 8 Uhr verstummt Radio Budapest: RussischeSoldaten waren <strong>in</strong> das Studio im Parlament e<strong>in</strong>gedrungen. E<strong>in</strong>e letzteFernschreibzeile gelangte noch vom Büro Tildys an United Press <strong>in</strong> Wien.Um 8.24 Uhr brach auch diese Verb<strong>in</strong>dung ab. »Auf Wiedersehen,Freunde. Auf Wiedersehen, Freunde«, schrieb der Budapester Fern-696


schreiber. »SOS. Die Russen s<strong>in</strong>d zu nahe.«ËÁDie Besetzung des Parlaments durch die Sowjets g<strong>in</strong>g sehr zivilisiertvor sich. Gewalt wurde nicht angewendet. Politiker und Funktionäre, diesich irgendwo im Gebäude versteckt hatten, schneiten here<strong>in</strong>. Die Russenbefahlen den Soldaten und der Polizei, die Waffen niederzulegen, undforderten die Zivilisten auf, nach Hause zu gehen. Tildy g<strong>in</strong>g umher undverabschiedete sich. Ohne sich an irgend jemand Bestimmten zu wenden,verkündete er: »Ich gehe <strong>in</strong> den Tod!« Als die Gruppe auf verschiedenenWegen zum Ausgangsportal strebte, hörte man, wie die russischen Panzerrasselnd und quietschend vor dem Parlamentsgebäude anhielten. SándorRónai stieß hervor: »Jetzt muß ich euch alle verlassen.«ËË Gyula Háyfragte sich, was Rónai wohl so dr<strong>in</strong>gend zu erledigen habe.Während sie an russischen Soldaten vorbeig<strong>in</strong>gen, die mit ausdruckslosenGesichtern <strong>in</strong> den Korridoren standen, blieb e<strong>in</strong> Mann zurück, derfest entschlossen war, daß »die Regierung an ihrem Platz bleiben sollte«,gleichgültig, was Tildy entschieden hatte: Es war der Staatsm<strong>in</strong>isterProfessor Bibó. Draußen erschien <strong>in</strong> diesem Augenblick Béla Kovács.Tildy erklärte ihm: »Ich habe mit den Russen e<strong>in</strong>e Übergabe vere<strong>in</strong>bart.Aber Staatsm<strong>in</strong>ister Bibó weigert sich zu gehen. Er ist oben – gehen Sieh<strong>in</strong>auf und telephonieren Sie mit ihm, daß er das Haus verlassen soll.«Professor Bibó nahm jetzt von niemandem mehr Befehle entgegen.Se<strong>in</strong> Blut war <strong>in</strong> Wallung geraten. Er saß ganz alle<strong>in</strong> <strong>in</strong> Tildys Sekretariat,e<strong>in</strong>em luxuriösen Drei-Zimmer-Appartement. Er wollte se<strong>in</strong>e eigene,persönliche Demonstration veranstalten. Da es ihm niemals an romantischerPhantasie mangelte, hatte er se<strong>in</strong> wahrsche<strong>in</strong>liches Schicksal schonvorausgesehen: Ich werde <strong>in</strong> diesem großen Sessel sitzen, wenn dieRussen kommen. Sie werden mich h<strong>in</strong>auszerren, aber ich werde nichtfreiwillig gehen. Dann wird es wahrsche<strong>in</strong>lich zu e<strong>in</strong>em Handgemengekommen, ich werde gewaltsam vertrieben werden. Se<strong>in</strong> Privattelephonläutete – es war Béla Kovács. Nichts konnte ihn zum Gehen veranlassen.Bibó sagte: »Wenn die Russen gegen mich vorgehen, werde ich derganzen Welt demonstrieren, daß Gewalt angewendet worden ist, umunsere unabhängige Regierung zu zerschlagen.«697


Er war nicht lange alle<strong>in</strong>. Plötzlich trat e<strong>in</strong> junger rotbackiger Mann<strong>in</strong>s Zimmer, es war e<strong>in</strong> Journalist aus Tildys Pressebüro. Bibó fragte ihn:»Warum s<strong>in</strong>d Sie nicht, wie die anderen, nach Hause gegangen?« – »Ichbleibe hier«, erwiderte der junge Mann. »Sie s<strong>in</strong>d genau der Mann, denich brauche«, sagte Bibó halb scherzhaft. »Betrachten Sie sich als me<strong>in</strong>Pressechef.« Kurz danach hörte er ihn im Nebenzimmer am Telephon:»Hier spricht der Pressechef von M<strong>in</strong>ister Bibó. Der Staatsm<strong>in</strong>ister derRegierung Nagy lädt alle Auslandskorrespondenten zu e<strong>in</strong>er Pressekonferenze<strong>in</strong>!«Bibós Herzschlag setzte für e<strong>in</strong>e Sekunde aus. Er hatte noch niemals <strong>in</strong>se<strong>in</strong>em Leben e<strong>in</strong>e Pressekonferenz abgehalten. Rasch entwarf er e<strong>in</strong>enText für die Konferenz. Gegen 9 Uhr diktierte er dem Sekretär deramerikanischen Botschaft telephonisch e<strong>in</strong>e Erklärung: »Als die Russenheute früh ihren Angriff eröffneten, begab sich M<strong>in</strong>isterpräsident ImreNagy zur sowjetischen Botschaft, konnte aber nicht mehr zurückkehren.Lediglich die Staatsm<strong>in</strong>ister Zoltán Tildy, István B. Szabó und István Bibónahmen an e<strong>in</strong>er außerordentlichen Kab<strong>in</strong>ettssitzung teil, die zurErörterung der neuen Situation e<strong>in</strong>berufen worden war. Als die Russen dasParlament umz<strong>in</strong>gelten, erklärte Tildy, um weiteres Blutvergießen zuvermeiden, er sei damit e<strong>in</strong>verstanden, daß die Sowjets das Gebäudebesetzten, allerd<strong>in</strong>gs nur unter der Bed<strong>in</strong>gung, daß allen Zivilpersonenfreier Abzug gewährt werde. In Übere<strong>in</strong>stimmung mit dieser Erklärungverließ Tildy das Haus, obwohl er davon überzeugt war, se<strong>in</strong>em Todentgegenzugehen.«Nur er, Bibó, sei als Vertreter der legalen ungarischen Regierung imHause zurückgeblieben. »Ich verwahre mich gegen die verleumderischeBehauptung, daß die glorreiche ungarische Revolution durch faschistischeoder antisemitische Ausschreitungen besudelt worden sei. Die gesamteungarische Nation hat sich an der Revolution beteiligt, ohne Klassen- oderReligionsunterschiede . . . Ich fordere das ungarische Volk auf, weder dieBesatzungsarmee noch die von ihr e<strong>in</strong>gesetzte Marionettenregierung alslegal anzusehen und alle Mittel des passiven Widerstandes gegen sieanzuwenden.«698


Danach verfaßte Professor Bibó e<strong>in</strong>e weitere Erklärung. »Jetzt s<strong>in</strong>d dieWestmächte an der Reihe, die Kraft der Pr<strong>in</strong>zipien, die <strong>in</strong> der UN-Chartaniedergelegt s<strong>in</strong>d, und die Stärke der freiheitsliebenden Völker der Weltunter Beweis zu stellen. Ich appelliere an die Großmächte der Welt, imInteresse me<strong>in</strong>es versklavten Landes und der Freiheit allerosteuropäischen Nationen, e<strong>in</strong>e kluge und mutige Entscheidung zu fällen.Gleichzeitig erkläre ich, daß <strong>Ungarn</strong>s e<strong>in</strong>zige legale Vertretung imAusland Staatsm<strong>in</strong>ister Anna Kéthly ist. Gott schütze <strong>Ungarn</strong>. IstvánBibó, 4. November 1956.«ËÈNagys Pressechef Miklós Vásárhelyi war es nicht gelungen, bis zumParlament durchzukommen. Als er den Fluß erreichte, sah er, daß dieBrücken durch Panzer abgesperrt waren. Er rief zu Hause an. DasHausmädchen erklärte: »Die gnädige Frau ist mit den K<strong>in</strong>dernweggefahren! E<strong>in</strong> großer Wagen hat sie abgeholt.« Dann rief er PéterErdös an, fuhr zu dessen Versteck und erzählte ihm, daß e<strong>in</strong> Jugoslawemit e<strong>in</strong>em Diplomatenwagen durch ganz Buda gefahren sei und diegefährdeten Mitglieder der Nagy-Gruppe sowie Frau Rajk <strong>in</strong> se<strong>in</strong>eBotschaft <strong>in</strong> Pest gebracht habe. Da sie den Fluß nicht überquerenkonnten, baten Vásárhelyi und Erdös im Hause des stellvertretendenjugoslawischen Militärattachés Voukmirovic um Asyl.ËÍ Sie waren sehrüberrascht, dort den Luftwaffenoberst Nádor zusammen mit Frau undTochter anzutreffen.ËÎ Offensichtlich hatte es Kontakte der Jugoslawen zuNádor gegeben, von denen sie nichts wußten. Aber Nádors sowjetischeVerb<strong>in</strong>dungen waren noch viel überraschender. Er wurde von irgende<strong>in</strong>emsowjetischen General ans Telephon gerufen und verließ danach e<strong>in</strong>fachdas Haus und verschwand. Ihm geschah niemals etwas.Die Nagy-Gruppe <strong>in</strong> der jugoslawischen Botschaft war <strong>in</strong>zwischen auffünfundvierzig Personen angewachsen. Drei Wochen lang waren sie hier<strong>in</strong> drei Räume zusammengepfercht, während sowjetische Truppen dasGebäude hermetisch abriegelten: Imre Nagy höchstpersönlich, Losonczy,Szántó, Donáth, Jánosi, Fazekas, Szilágyi, Lukács, Tánczos, Haraszti,Zoltán Vas, Frau Rajk, Ujhelyi, zusammen mit 15 Frauen und 17 K<strong>in</strong>dern.699


Gegen 10.30 Uhr hatten die meisten Auslandskorrespondenten vonBibós Pressekonferenz gehört. Se<strong>in</strong> unprogrammgemäßes Verhaltenmachte den Russen Kopfschmerzen. Der sowjetische BotschafterAndropow wies die Presse kurzerhand an, nicht an der Konferenzteilzunehmen. John MacCormac, der mutige Korrespondent der New YorkTimes, versuchte dennoch h<strong>in</strong>zugehen, aber die Russen ließen ihn nichtdurch. Die meisten se<strong>in</strong>er Kollegen hatten plötzlich dr<strong>in</strong>gend anderweitigzu tun. Der dpa-Korrespondent Géza von Pogány schrieb <strong>in</strong> se<strong>in</strong>Tagebuch: »Gegen 8 Uhr entschließen sich die meisten Journalisten, dasHotel Duna zu verlassen und Zuflucht <strong>in</strong> ihren Botschaften zu suchen.«Als Dr. Roland Nitsche vom Schweizer Tages-Anzeiger Rucksack undSchreibmasch<strong>in</strong>e <strong>in</strong>s Auto packt, wird er plötzlich von e<strong>in</strong>em DutzendMännern und Frauen umr<strong>in</strong>gt, und e<strong>in</strong> alter Mann tritt vor und sagt <strong>in</strong>gebrochenem Deutsch: »Fahren Sie mit Gott, aber sagen Sie alles, was Siegesehen haben. Helft uns, bitte!« Nitsche schämte sich so sehr, daß erdiesen Menschen nicht mehr <strong>in</strong> die Augen schauen konnte.József Dudás’ Zeitung hatte ihr Ersche<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>gestellt. Im Verlagsgebäuderäumten se<strong>in</strong>e Leute die Schreibtische und bereiteten sich auf denbevorstehenden Kampf vor. In dem Hause hielten sich noch immer über200 Menschen auf, darunter viele Frauen. Um Kleidung für die 300ehemaligen politischen Gefangenen zu beschaffen, wurde das Corv<strong>in</strong>-Kaufhaus ausgeräumt.ËÏ Zwei Gefangene wurden h<strong>in</strong>ter das Lagergebracht und erschossen. Gewehre wurden gere<strong>in</strong>igt und Benz<strong>in</strong>flaschengefüllt. Draußen vor dem Gebäude hatte man e<strong>in</strong>en Straßenbahnwagen alsBarrikade umgestürzt. Dudás selbst war nicht da – er war schon vorMorgengrauen h<strong>in</strong>ausgegangen, um zu kämpfen. Die Intellektuellenfanden ihn später schlafend <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Zimmer <strong>in</strong> der Universität, währenddas Blut aus e<strong>in</strong>er Brustwunde sickerte.ËÌEs schien e<strong>in</strong> schöner Morgen zu werden. Die Sonne g<strong>in</strong>g auf, siewirkte jedoch lilafarben durch die Staubwolken, die von den Panzern aufden aufgerissenen Straßen aufgewirbelt wurden. E<strong>in</strong> Fernschreiber700


funktionierte noch, und e<strong>in</strong> Redakteur gab e<strong>in</strong>en dramatischen Bericht andas Wiener Büro von Associated Press: »Wir fürchten uns nicht und s<strong>in</strong>druhig. Gebt diese Nachricht an die Weltöffentlichkeit weiter und sagt, siesolle die Aggression verurteilen. Der Gefechtslärm kommt näher, doch wirhaben nicht genügend Masch<strong>in</strong>enpistolen im Gebäude. Ich weiß nicht, wielange wir Widerstand leisten können. Wir entsichern jetzt unsere Handgranaten.Schwere Granaten explodieren ganz nahe. Uber uns dröhnenDüsenflugzeuge, aber das macht nichts . . . «Um 8.30 Uhr wird der Bericht fortgesetzt: »Die Menschen spr<strong>in</strong>genauf die Panzer, werfen Handgranaten und verschmieren die Sehschlitze.Das ungarische Volk fürchtet den Tod nicht. Es ist nur schade, daß wirnicht lange Widerstand leisten können. Eben kommt e<strong>in</strong>er von der Straßeherauf. Er sagt, wir sollen nicht glauben, daß die Menschen <strong>in</strong> Deckunggegangen s<strong>in</strong>d, weil die Straße leer ist. Sie stehen <strong>in</strong> den Tore<strong>in</strong>fahrtenund warten auf den richtigen Moment . . . « Und erregt fährt der Redakteurfort: »Es darf nicht se<strong>in</strong>, daß die Menschen die Panzer mit leeren Händenangreifen. Was tun die Vere<strong>in</strong>ten Nationen?« Gegen 9 Uhr kommen dieletzten Zeilen des unbekannten Redakteurs: »Die Panzer kommen wieder. . . Wir halten bis zum letzten Blutstropfen aus.«Die russischen Soldaten, die man jetzt auf den Straßen sah, hattenhungrige Gesichter und die Schlitzaugen und mongolischen Backenknochender Truppen aus Sowjetasien. Diese jungen Männer <strong>in</strong> dunkelgrauenMänteln waren Killer und Sadisten; sie waren nicht zu vergleichenmit den Russen aus der Karpato-Ukra<strong>in</strong>e, die <strong>in</strong> den Jahren der Besetzung<strong>Ungarn</strong>s nachlässig geworden waren. Diese Neuankömml<strong>in</strong>ge hattenke<strong>in</strong>e Ahnung von Europa, sie sprachen kaum Russisch und wußten nichtsüber Politik und Geographie. E<strong>in</strong>ige fragten, wo denn die Berl<strong>in</strong>er Mauersei. Andere me<strong>in</strong>ten, die Donau müsse der Suezkanal se<strong>in</strong>. Allen hatteman gesagt, daß sie <strong>Ungarn</strong> gegen die Faschisten verteidigen müßten.ËÓAls die letzten Stützpunkte der Aufständischen zu wanken begannen,wurden zwei D<strong>in</strong>ge klar: Die Invasoren erhielten ke<strong>in</strong>e Unterstützung vonden ungarischen Streitkräften; und sie hatten e<strong>in</strong>e willfährige neue701


»Regierung« e<strong>in</strong>gesetzt, die sich aber jetzt noch nicht <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> sehenlassen durfte. An ihrer Spitze war János Kádár, mit Münnich als se<strong>in</strong>emstellvertretenden Premier und M<strong>in</strong>ister der Streitkräfte und öffentlichenSicherheit – Marosán, Horváth, Kóssa, Apró, Dögei und Rónai vervollständigtendiese Regierung – e<strong>in</strong> williges Werkzeug der sowjetischenAußenpolitik.Nagy hörte davon wahrsche<strong>in</strong>lich nur <strong>in</strong> der jugoslawischen Botschaft.Es war e<strong>in</strong> harter Schlag. Dies war die Erklärung für Münnichs undKádárs Verschw<strong>in</strong>den am 1. November: Laut Aussage von Kádárs Fahrerwar es Münnich gewesen, der ihn überredet hatte, sich mit den Russen zutreffen. Sie ließen den Wagen <strong>in</strong> der Gorkij fasor außerhalb dersowjetischen Botschaft halten, wo sie ausstiegen und noch e<strong>in</strong>ige Zeitmite<strong>in</strong>ander sprachen, bevor sie zu e<strong>in</strong>em <strong>in</strong> der Nähe geparktenBotschaftswagen g<strong>in</strong>gen.ËÔ Vom Flugplatz Tököl wurden sie nachUschgorod (Ungvár) <strong>in</strong> der Karparto-Ukra<strong>in</strong>e geflogen. In derselbenNacht g<strong>in</strong>g es auf dem Luftweg weiter nach Moskau, und Bulgan<strong>in</strong> konnteChruschtschow <strong>in</strong> Jugoslawien die triumphierende Nachricht telephonischübermitteln.ÈÊ Im Juni 1957 gab Kádár zu, daß die Verhandlungen »mitden sowjetischen Genossen« und den anderen Führern des Sowjetblocksüber die Notwendigkeit, den <strong>Aufstand</strong> niederzuschlagen und, wie er sichausdrückte, über die »Hilfe, die der Ungarischen Volksrepublik zu diesemZweck« gewährt werden sollte, am 2. November begonnen hätten. »DieseVerhandlungen«, sagte Kádár, »wurden am 3. November abgeschlossenund am 4. November begann die Offensive«.ÈÁWar es vielleicht e<strong>in</strong> kühner Schachzug Kádárs, auf diese »verräterische«Weise wenigstens e<strong>in</strong>ige der zum Scheitern verurteiltenErrungenschaften des <strong>Aufstand</strong>es zu retten? E<strong>in</strong>es war ihm klar: Er hattee<strong>in</strong>en Weg beschritten, der ihn für alle Zeiten zum Judas Ischariot se<strong>in</strong>erNation abstempeln würde. E<strong>in</strong>ige Wochen später erklärte er vorapplaudierenden Gewerkschaftern: »Als wir am 3. November über dieBildung dieser Regierung berieten, wußten wir genau, daß wir nicht mitBlumengirlanden empfangen werden würden. Aber ich war davonüberzeugt, daß wir im Recht waren und daß das Volk unser Handeln702


verstehen würde. Das Volk würde die Tatsache billigen und respektieren,daß wir dem konterrevolutionären Ansturm entgegentraten und damit dieDiktatur des Proletariats <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> retteten.«ÈËAm Morgen des 4. November, als die von ihnen herbeigerufenensowjetischen Horden ungarische Bürger töten und Budapest <strong>in</strong> Trümmerschießen, bef<strong>in</strong>den sich Kádár und Münnich immer noch auf russischemBoden. Aber beide haben Reden aufnehmen lassen, und diese werden jetztvom Sender Szolnok, der 100 Kilometer südöstlich von Budapestgelegenen Stadt, die e<strong>in</strong>e starke sowjetische Garnison hat, ausgestrahlt.Die erste Rede wird um 5.05 Uhr verbreitet – es ist e<strong>in</strong> Offener BriefMünnichs, der das Datum »Budapest, 4. November«, trägt. Dar<strong>in</strong> wirderklärt, daß er und se<strong>in</strong>e Kollegen am 1. November mit Nagy gebrochenund e<strong>in</strong>e ungarische revolutionäre Arbeiter- und Bauernpartei ausgerufenhätten, weil »verdiente Söhne der Arbeiterklasse« liquidiert worden seien.Münnich erwähnt sowohl se<strong>in</strong>en Freund Sziklai als auch Mezö und denParteisekretär von Csepel, Kalamár. Diese »Regierung« habe um sowjetischeHilfe gegen »Faschismus und Reaktion und ihre Mordbanden«gebeten. E<strong>in</strong>e Stunde später hört man Kádárs Stimme, der e<strong>in</strong>e weitschweifigeErklärung abgibt, die wie folgt beg<strong>in</strong>nt: »Die ungarischerevolutionäre Arbeiter- und Bauernbewegung ist gebildet worden . . . «ÈÈDie Aufständischen denken nicht daran, aufzugeben. Die alten Kampfzentrenwerden wieder aufgemacht wie alte Wunden, die neu verbundenwerden müssen, und mörderische Kämpfe toben um die wichtigstenBahnhöfe, das Hotel Astoria, auf der Üllöi út und dem Marx tér, währenddie Kämpfe <strong>in</strong> Buda auf den Gellért-Berg, den Széna und Moskva térsowie den Móricz Zsigmond körút übergreifen. In der Innenstadt von Pestwirft der Redakteur am Fernschreiber e<strong>in</strong>en kurzen Blick aus den zertrümmertenFenstern des Zeitungsgebäudes und berichtet: »Jetzt kommenwieder e<strong>in</strong>ige Panzer . . . Sie heulen und rasseln so laut, daß man sichkaum noch verständigen kann . . . Hier wird gerade das Gerücht verbreitet,daß die amerikanischen Truppen <strong>in</strong> zwei Stunden da se<strong>in</strong> werden.«Wieder sterben <strong>Ungarn</strong> bei der Kilián-Kaserne – um 10.45 Uhr werden703


aus dem Zeitungsgebäude mörderische Kämpfe gemeldet. »Schweresowjetische Artillerie schießt.« Russische Sturmtruppen s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> die oberenStockwerke e<strong>in</strong>gedrungen, das Gebäude wird durch Granatwerferfeuer <strong>in</strong>Brand gesetzt. Mannsgroße Mörsergranaten, die nicht detoniert s<strong>in</strong>d,liegen auf der Üllöi út. Schließlich erhalten die Männer den Befehl, zufliehen und sich den Rebellen im Vorort Ferencváros anzuschließen.Fünfzig Mann klettern an zusammengeknüpften Tüchern an der Rückseitedes Gebäudes auf die Tüzoltó utca h<strong>in</strong>unter.ÈÍ Um 14.50 Uhr harren aberimmer noch trotz der Panzer, Granatwerfer und Infanterieangriffe, die jetztseit dreizehn Stunden dauern, Leute <strong>in</strong> den Kasernen aus – dieamerikanische Botschaft erhält laufend Berichte: »Jetzt kommen sie! DieStraße herunter . . . Wir geben es ihnen!« E<strong>in</strong> Angehöriger der Botschaftkann das Geschützfeuer hören, dem Sekunden später die Druckwelle folgt.Die Budapester Herbstluft erzittert.Auf der Üllöi út kämpfen die <strong>in</strong> die Enge getriebenen Rebellen ohneChancen gegen die große Übermacht weiter. Panzer feuern Granaten <strong>in</strong>den Corv<strong>in</strong>-Wohnblock. Auch hier funktioniert das Telephon noch. E<strong>in</strong>Journalist ruft an, und der Anführer des Blocks antwortet: »Wir haben 200Tote und Verwundete <strong>in</strong> den Kellern, aber wir werden bis zum letztenMann kämpfen. Wir haben ke<strong>in</strong>e Wahl. Sagen Sie Nagy, daß nicht wirangefangen haben, zu schießen.« E<strong>in</strong> junger katholischer Werkzeugmachererklärte später, sie wollten aushalten, bis die Westmächte kämen,um <strong>Ungarn</strong> zu retten: »Ich war dort im K<strong>in</strong>o. Es war furchtbar. Da war e<strong>in</strong>Mann mit nur e<strong>in</strong>em Be<strong>in</strong>, der kämpfte wie e<strong>in</strong> Held, er wurde getötet.Wir waren im Keller. Wir legten M<strong>in</strong>en auf der Straße aus, die an e<strong>in</strong>emSeil befestigt waren, und zogen diese dann vor die Panzer . . . Zum Schlußgab es nichts mehr zu essen, und auch die Munition war ausgegangen,deshalb mußten wir aufgeben.« Er hat e<strong>in</strong>e Frau zu Hause, aber sie will,daß er weiterkämpft. »Sie liebte mich, aber sie wußte, daß ich es für<strong>Ungarn</strong> tat.«ÈÎIn zwei Stunden würde das Mittagsultimatum auslaufen. Dieamerikanische Botschaft geriet <strong>in</strong> pe<strong>in</strong>liche Bedrängnis, als <strong>in</strong> demAugenblick e<strong>in</strong> Fernschreiben die ergebnislose Sitzung des Weltsicher-704


heitsrates mitteilte. Gegen 10 Uhr schickte Tom Wailes e<strong>in</strong> Telex nachWash<strong>in</strong>gton: »Béla Kovács, Führer der Kle<strong>in</strong>landwirte, steht vor der Tür,zusammen mit zwei leitenden Mitarbeitern, und bittet um Asyl. Ich mußsie wegschicken, wenn ich ke<strong>in</strong>e gegenteiligen Instruktionen erhalte.«Kovács, e<strong>in</strong> buckliger Mann mit e<strong>in</strong>em dünnen Schnurrbart und halbgeschlossenen Augen, war ebenso wie Bibó Staatsm<strong>in</strong>ister, er hatte achtJahre als Gefangener der Sowjets und der ÁVH im Kerker verbracht. FürAmerika war M<strong>in</strong>dszenty für den katholischen Wähler e<strong>in</strong> wichtigesSymbol, aber nicht diese Leute. Robert Murphy gab e<strong>in</strong>e halbe Antwort:»Sie s<strong>in</strong>d befugt, Kovács und se<strong>in</strong>en Stellvertretern vorübergehend Schutzzu gewähren.« Schutz war natürlich nicht Asyl. Man sagte Kovács, daß erdie Botschaft im Morgengrauen des 5. November wieder verlassen müsse.Wailes meldete: »Soeben zahlreiche Düsenjäger über uns.« WenigeM<strong>in</strong>uten später fügte er h<strong>in</strong>zu: »Wir beabsichtigen, den Mitarbeiterstabkurz vor 12 Uhr <strong>in</strong> den Keller zu schicken, und wenn es wirklich schlimmwird, werden wir alle dort für e<strong>in</strong>ige M<strong>in</strong>uten h<strong>in</strong>gehen, aber wir werdenIhnen das noch vorher mitteilen, falls wir die Verb<strong>in</strong>dung aufrechterhaltenkönnen.« Die Antwort des Fernschreibers war ausweichend: »Australiersagen, daß die beiden ungarischen Delegierten, die mit den Sowjets übere<strong>in</strong>en Rückzug der Sowjettruppen aus <strong>Ungarn</strong> verhandelten, nichtzurückgekehrt und offensichtlich gefangengenommen worden seien . . . «In gewisser Weise war dieser Fernschreibverkehr symbolisch für denzeitlichen Rückstand zwischen der harten Realität <strong>in</strong> Budapest und demfernen Echo von der anderen Seite des Planeten. Wailes schrieb: »E<strong>in</strong>e ArtPressekonferenz ist im Parlament e<strong>in</strong>berufen worden, und wir werden Sievon den Ergebnissen benachrichtigen, sobald sie vorliegen, wir wissennicht, wer die Konferenz e<strong>in</strong>berufen hat.«Aus den Notizen e<strong>in</strong>es italienischen Gesandtschaftsbeamten: »Überuns s<strong>in</strong>d MIG-Flugzeuge, und Radio Moskau verkündet, daß die›Konterrevolution‹ niedergeschlagen ist. Wir hören, daß den RebellenUltimaten gestellt werden, aber ke<strong>in</strong>es hat bisher die gewünschte Wirkungerzielt, soweit wir feststellen können . . . Im Laufe des Nachmittags wirddas Schießen stärker, deshalb ordnet der Botschafter an, daß die Fenster-705


scheiben mit Streifen verklebt werden und daß e<strong>in</strong> Notausgang vorbereitetwird.« Als Mittag herannahte, schickte Wailes alle nach unten. Der Kellerwar wie e<strong>in</strong> mittelalterlicher Kerker. M<strong>in</strong>dszenty, Kovács und die Mártonshatten solche Zellen schon vorher gesehen. Sie saßen stumm auf denBänken an der Wand oder unterhielten sich leise auf ungarisch. Nach e<strong>in</strong>erWeile ließ der Flugzeuglärm nach, und man begab sich wieder nach oben.Die Mittagsfrist lief ab. Der Rundfunk brachte Nachrichten über denSicherheitsrat und Kádár.Der <strong>Aufstand</strong> war ke<strong>in</strong>esfalls schon zusammengebrochen. E<strong>in</strong>zelnee<strong>in</strong>geschlossene Widerstandsnester kämpften weiter. Die Rebellen hattenjetzt Erfahrung und Zuversicht. Sie kannten den toten W<strong>in</strong>kel der Panzerbesatzungen.Als den Aufständischen beim Südbahnhof Munition undBenz<strong>in</strong>flaschen ausg<strong>in</strong>gen, brachten sie auf sowjetischen Panzern ihreRebellenfahnen an und sahen zu, wie die Sowjets sich gegenseitigzusammenschossen.Gegen 14 Uhr hatten die Russen den Bars tér und den Ostbahnhoferobert. Auf dem Széna tér dauerten die heftigen Kämpfe an. Die Russennäherten sich dem Gellért-Berg und beschossen die Csepel-Insel. Dasgroße Kaufhaus Divatcsarnok auf der anderen Seite der Donau stand <strong>in</strong>Flammen. Um 15 Uhr verbreitete das <strong>in</strong> sowjetischer Hand bef<strong>in</strong>dlicheRadio Szolnok e<strong>in</strong> neues Ultimatum und forderte die ungarischen Soldatenauf, sich zu ergeben, oder »sie müßten mit ihrer Vernichtung rechnen«.Kurz danach ordnete das sowjetische Oberkommando e<strong>in</strong> landesweitesAusgehverbot und e<strong>in</strong>e totale Verdunkelung aller Städte an, verbundenmit der Drohung, daß die Luftstreitkräfte auf alle erleuchteten Punkteschießen würden. Um 17.45 Uhr kontrollierten die <strong>Ungarn</strong> immer nochden Városliget-Park (den Stadtpark) von Pest, während die Russen dieAndrássy út beherrschten, die zu dem Park führte, <strong>in</strong> dem sich diesowjetische Botschaft befand. Um 19.45 Uhr telephonierte die amerikanischeGesandtschaft mit der Kilián-Kaserne, aber dort antworteteniemand mehr.Professor Bibó, <strong>Ungarn</strong>s legale Regierung, saß <strong>in</strong> aller Ruhe <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em706


Sessel im Parlament, als Leslie Ba<strong>in</strong>, e<strong>in</strong> amerikanischer Reporter, anrief.Kurz danach wurde die Telephonverb<strong>in</strong>dung unterbrochen. Aber nache<strong>in</strong>iger Zeit waren neben dem Kratzen von István Bibós Feder wiederLebenszeichen zu hören. Ehemalige Funktionäre des Rákosi-Regimestauchten plötzlich auf, seit langem <strong>in</strong> Verruf geratene Bonzen wie Dobi,Bognár und Rónai. Auch Ferenc Erdeis’ Frau Jolán Majlát erschienwieder. E<strong>in</strong> sowjetischer General wies mit dem Daumen auf Bibós Büround fragte, wer dort sei. Sie sagte ihm, es sei e<strong>in</strong> M<strong>in</strong>ister.»Ist er Kommunist?«»Ne<strong>in</strong>.«»Dann ist er irgende<strong>in</strong> Faschist?«»Ne<strong>in</strong>.«Der Russe versuchte, diesen unverständlichen Zusammenhang zubegreifen, gab es dann aber auf und g<strong>in</strong>g weg. Vor Bibós Zimmer wurdee<strong>in</strong> Posten aufgestellt. Er arbeitete ungestört weiter an se<strong>in</strong>er Lösung desungarischen Problems. Gelegentlich telephonierte er mit se<strong>in</strong>en Freunden.Nachts schlief er dort. Am 6. November kam e<strong>in</strong> mit ihm befreundeterAnwalt, der jetzt für Kádár arbeitete, und wies ihn darauf h<strong>in</strong>, daß ess<strong>in</strong>nlos sei zu bleiben. Der Anwalt geleitete ihn fürsorglich h<strong>in</strong>aus, vorbeian dem Wachtposten, und Bibó begab sich nach Hause. Völlig unbee<strong>in</strong>drucktlieferte er später se<strong>in</strong>e Kompromißvorschläge bei der britischen,französischen und <strong>in</strong>dischen Botschaft ab.Im Mai 1957 wurde er verhaftet, fünfzehn Monate verhört und wegenTeilnahme an Nagys »Konterrevolution« zu lebenslänglicher Haft verurteilt.Er saß sechs Jahre ab und kam dann körperlich und geistiggebrochen wieder frei. Männer se<strong>in</strong>es Schlages waren <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> jetztunerwünscht.707


45Überlistet, verschleppt,deportiert und gehängtÜBERALL AN DEN Mauern und Häuserwänden Budapests h<strong>in</strong>g folgendeProklamation: »Seid wachsam! In diesem Land verstecken sich fast zehnMillionen Gegenrevolutionäre. In den Wohnvierteln der Aristokratie, <strong>in</strong>den Fabrikbezirken von Csepel und Kispest haben sich Hunderttausendevon Großgrundbesitzern, Kapitalisten, Generälen und Bischöfen verschanzt.Die mörderischen Umtriebe dieser Bande s<strong>in</strong>d daran schuld, daßim ganzen Land nur sechs Arbeiter am Leben geblieben s<strong>in</strong>d. Diese haben<strong>in</strong> Szolnok e<strong>in</strong>e Regierung gebildet.«Zunächst ließen sich diese Männer nicht auf ungarischem Bodenblicken. Als Kádár schließlich <strong>in</strong> Szolnok e<strong>in</strong>traf, waren dort schon dieErzstal<strong>in</strong>isten Erzsébet Andics und Andor Berei, sie schmiedeten e<strong>in</strong>Komplott für e<strong>in</strong>e Gegenregierung à la Rákosi. Unter großem Getösewaren die beiden am 2. November von Aufständischen <strong>in</strong>s Polizeipräsidiumgeschleppt worden; als sie dort aber gejammert hatten: »Wirs<strong>in</strong>d Sowjetbürger!« übergab Kopácsi sie »ihrer« Botschaft.Á Bis zum 8.November tarnte sich Radio Szolnok unter dem Namen: »Radio Budapest.«Die wirklichen Sender Budapests waren von den Sowjettruppenzum Schweigen gebracht worden.Als diese Szolnoker Regierung e<strong>in</strong>ige Tage später unter dem Schutzsowjetischer Truppen heimlich nach Budapest schlich, h<strong>in</strong>gen neue,unverschämte »Bekanntmachungen der Polizei« an den Häuserwänden derStadt: »Verloren: das Vertrauen des Volkes. Der ehrliche F<strong>in</strong>der wird708


gebeten, es an János Kádár, M<strong>in</strong>isterpräsident von <strong>Ungarn</strong>, Adresse:10.000-Sowjetpanzer-Straße, zurückzugeben.«Münnich prahlte, dies sei die erste ungarische Regierung ohne Juden.Aber das Problem, Vertrauen wiederherzustellen, war ke<strong>in</strong>e Kle<strong>in</strong>igkeit:900.000 Parteimitglieder und die 35.000 Mann starke ÁVH waren dah<strong>in</strong>geschwunden;auf die Armee war ke<strong>in</strong> Verlaß.Ë Nagys Regierung wurdeam 12. November von e<strong>in</strong>em Präsidialrat entlassen und Kádárs Regierungoffiziell <strong>in</strong> ihr Amt e<strong>in</strong>geführt.È Erste Amtshandlung Kádárs war derAuftrag an Münnich, e<strong>in</strong>e neue Sicherheitspolizei aufzustellen.In Budapest ist der Verkehr völlig zum Erliegen gekommen – <strong>in</strong> e<strong>in</strong>ere<strong>in</strong>zigen, riesigen Fußgängerzone bahnen sich die Menschen überTrümmer- und Schutthaufen, vorbei an zertrümmerten Häuserfronten,ihren Weg. Vor den Staatsläden bilden sich lange Schlangen von Käufernmit vergrämten Gesichtern. Gelegentlich hört man Gewehrfeuer. E<strong>in</strong>igeStützpunkte leisten noch immer Widerstand. Drüben <strong>in</strong> Buda, bei derKilián-Kaserne, die von den Aufständischen zurückerobert worden ist,und <strong>in</strong> der Corv<strong>in</strong>-Passage wird noch immer getötet und gestorben für e<strong>in</strong><strong>Ungarn</strong>, das von der westlichen Welt längst aufgegeben worden ist. In denruhigeren, abgelegenen Straßen verteilen sowjetische Soldaten Flugblätteraus Anlaß der »Befreiung«, sie durchkämmen die »befreiten« Gegendennach Schützen. In e<strong>in</strong>em Innenhof wird e<strong>in</strong> junges Mädchen erschossen,das e<strong>in</strong>e Benz<strong>in</strong>bombe geworfen hatte. Der Kampf geht weiter, mit denMitteln des Guerilla-Krieges und des Generalstreiks. Nach jugoslawischemVorbild s<strong>in</strong>d Arbeiterräte entstanden, die noch Macht ausüben.Sie werden besiegt und abgeschafft durch Betrug und Verhaftungen – dieklassischen Waffen des Kommunismus.ÍIn der Nacht hat es wenig Schießereien gegeben. Aber als e<strong>in</strong>regnerischer 5. November anbricht, flackern die Kämpfe wieder auf;Düsenjäger zeigen sich am Himmel. In der US-Gesandtschaft stellt manmorgens fest, daß der verfolgte Vorsitzende der Kle<strong>in</strong>landwirte, BélaKovács, noch vor der Dämmerung durch e<strong>in</strong>e Nebentür verschwundenist.Î Kard<strong>in</strong>al M<strong>in</strong>dszenty hat sich vorübergehend im Büro des Gesandten709


e<strong>in</strong>gerichtet: Er verfügt dort über e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es Wohnzimmer und e<strong>in</strong>eDusche. Der Schreibtisch von Wailes dient M<strong>in</strong>dszenty als provisorischerAltar für se<strong>in</strong>e erste Messe. Mittags erzittert die Luft, als die sowjetischeArtillerie vom Stadtpark auf der gegenüberliegenden Seite der Donau ausdas Feuer eröffnet.Die ausländischen diplomatischen Missionen s<strong>in</strong>d Verletzungen ihrerExterritorialität ausgesetzt. Sieben Panzer schießen die Harm<strong>in</strong>cad utcazusammen, so daß der Kalk von den Wänden der britischen Botschaftrieselt. Den Franzosen und Jugoslawen werden durch Feuerstöße vonHandfeuerwaffen sämtliche Fensterscheiben zertrümmert. Bei denÄgyptern werden nach e<strong>in</strong>em Bombenangriff die Amtsräume durchstöbert.Die Italiener notieren am 6. November: »Um 12.30 Uhr eröffnete<strong>in</strong> Sowjetpanzer e<strong>in</strong>e Kanonade, so daß fast alle Fensterscheiben zurWoroschilow út zersplittern.« Vor der jugoslawischen Botschaft, <strong>in</strong> derNagys Gruppe Zuflucht gefunden hat, steht e<strong>in</strong> Sowjetpanzer undbeschießt sie, wobei e<strong>in</strong> hoher Diplomat an se<strong>in</strong>em Schreibtisch getötetwird. Die polnische Botschaft wird ebenfalls provoziert. Es ist, als obMarschall Schukow zeigen möchte, wie brutal er se<strong>in</strong> kann. JózsefAngyal, der Anführer der Aufständischen im XI. Bezirk, der e<strong>in</strong>en Arm <strong>in</strong>der Schl<strong>in</strong>ge trägt, erfährt, daß sowjetische Infanteristen e<strong>in</strong>en Angriff aufdie Kilián-Kaserne durch e<strong>in</strong>e Kl<strong>in</strong>ik planen, <strong>in</strong> der 150 K<strong>in</strong>der liegen. Erunterzeichnet e<strong>in</strong> Flugblatt, wor<strong>in</strong> den Russen vorgeworfen wird,Zivilisten, die nach Brot anstanden, getötet zu haben, und er beschuldigtKádár und Schukow, Budapest zu zerstören. E<strong>in</strong>es Tages wird Kádár ihnanklagen und – hängen lassen. Unterdessen ist Polizeipräsident Kopácsiverhaftet und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Panzerspähwagen nach Sashalom gebracht worden.»János Kádár möchte gern mit ›Towarisch‹ Kopácsi sprechen!« VonKádár ist nichts zu sehen, nur General Serow empfängt ihn mit gezogenerPistole. Draußen kann Kopácsi das plötzliche Knattern von Masch<strong>in</strong>engewehrenhören – e<strong>in</strong>e H<strong>in</strong>richtung. Russischen Offizieren, die ihrePflichten verletzt haben, bleibt die Heimreise erspart.Wash<strong>in</strong>gton wurde durch e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gliche Warnung des Kreml710


wegen des Suez-Konflikts aufgeschreckt: »Wenn diese Fe<strong>in</strong>dseligkeitennicht e<strong>in</strong>gestellt werden, besteht die Gefahr e<strong>in</strong>es dritten Weltkrieges«,hatte Bulgan<strong>in</strong> gedroht und h<strong>in</strong>zugefügt: »Ich erwarte e<strong>in</strong>e positiveAntwort von Ihnen.« In der Antwort wurde zwar Eisenhowers »unsagbareEnttäuschung« über die sowjetische Invasion <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> erwähnt, dennochwar sie äußerst zurückhaltend im Vergleich zur sowjetischen Note.Ï»Radio Free Europe« hielt sich ebenfalls zurück. In Budapestherrschte tiefste Verärgerung über die Rolle, die RFE gespielt hatte.Ì Dieverzweifelten Verteidiger, die <strong>in</strong> Dunapentele noch immer ausharrten,appellierten direkt an München und RFE mit der Bitte um Nachschub ausder Luft durch Fallschirmabwürfe. E<strong>in</strong> Student hörte, wie RFE am 5.November verkündete: »Haltet noch drei Tage aus.«Ó Aber führende Leutevon RFE dachten an ihre kürzlichen triumphierenden Kommentare; siewaren vor Schrecken wie gelähmt. Folgendes Telex g<strong>in</strong>g nach New York:»Wir beschränken uns auf Nachrichten und kommentieren wenig. DerKommentar behandelt sowjetische Intervention, greift Kádár-Regierungan. Ke<strong>in</strong>e Me<strong>in</strong>ungsäußerung erfolgt h<strong>in</strong>sichtlich der Wünschbarkeit(oder) Möglichkeit des Widerstandes durch ungarische Revolutionäre.«Solange die Opfer des sowjetischen Imperialismus unbestattet <strong>in</strong> denStraßen lägen, würden die Zuhörer für Propaganda kaum empfänglichse<strong>in</strong>, me<strong>in</strong>te e<strong>in</strong> Beamter. In e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>ternen Richtl<strong>in</strong>ie vom 5. Novemberhieß es: »Wenn jemals Zurückhaltung bei Rundfunksendungen am Platzewar, dann jetzt.«In der amerikanischen Presse gab es praktisch überhaupt ke<strong>in</strong>eBerichterstattung über <strong>Ungarn</strong>. MacCormac und die anderen Korrespondentenwaren empört – ihre Berichte g<strong>in</strong>gen über den Anschluß der US-Gesandtschaft nach draußen. Wailes beklagte sich <strong>in</strong> Wash<strong>in</strong>gton über dieimmer wiederkehrenden offiziellen Erklärungen, die Situation sei unklar:»Zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> Budapest ist die Situation völlig klar. Die Sowjets habendie Stadt systematisch gesäubert. Seit drei Tagen werden Männer, Frauenund K<strong>in</strong>der ermordet, zu den Zielen der Invasoren gehören Krankenhäuserund Kl<strong>in</strong>iken, dennoch ist der Widerstand offensichtlich noch nicht völliggebrochen. Der vermutlich schwerste Artilleriebeschuß kam wenige711


Stunden, nachdem Radio Moskau verbreitet hatte, daß jeglicherWiderstand erloschen sei. Dieses s<strong>in</strong>d Tatsachen, nicht Gerüchte.«Ô ImNachrichtendienst von UP handelten von zweiundneunzig Meldungen am6. November nur acht von <strong>Ungarn</strong>. (Der Rest berichtete über Suez undEisenhowers zu erwartenden grogen Wahlsieg.) Das R<strong>in</strong>gen von zehnMillionen Aufständischen, die mit bloßen Händen gegen 200 Millionenkämpften, hatte bereits se<strong>in</strong>e publizistische Zugkraft verloren.Die Aufständischen selbst wußten nichts davon. Sie sahen alles nuraus der Froschperspektive. In e<strong>in</strong>em verlassenen Wohnblock im Ferenckörút Nr. 18 hockte e<strong>in</strong> Offiziersanwärter namens Béla Kurucz mit e<strong>in</strong>erMasch<strong>in</strong>enpistole <strong>in</strong> der Faust. Die Bewohner waren unten im Keller –wie es ihnen g<strong>in</strong>g, wußten die Freiheitskämpfer nicht, oder sie kümmertensich nicht darum. Gefallene, die mit Wolldecken zugedeckt waren,markierten den Weg, den die Schlacht genommen hatte. Es war e<strong>in</strong>e kalteNacht, aber man hatte Kurucz dicke schwarze Reithosen und e<strong>in</strong>en Mantelgegeben, damit er se<strong>in</strong>e Uniform wechseln konnte.ÁÊ Es roch nachSchießpulver, aufgewirbeltem Mörtelstaub und brennenden Häusern. DieFensterbrüstung war e<strong>in</strong>gestürzt. Kurucz feuerte durch das Loch, woe<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong> Fenster gewesen war. Er war alle<strong>in</strong> im Zimmer, nur e<strong>in</strong> Telephonstand mitten <strong>in</strong> dem Durche<strong>in</strong>ander auf dem Fußboden. Er wähltee<strong>in</strong>e Nummer und stellte fest, daß es funktionierte. E<strong>in</strong>e Stimme bat ihn:»Komm nur, wir werden dich verstecken!« Aber er kam nicht, sondernschoß die ganze Nacht über auf vorbeifahrende Mannschaftstransportwagen.Am nächsten Morgen, dem 6. November, waren se<strong>in</strong>e Freundeerstaunt, ihn noch lebend vorzuf<strong>in</strong>den. Als er die Treppe h<strong>in</strong>unterg<strong>in</strong>g,wußte er nicht, ob die Treppe bebte oder ob se<strong>in</strong>e Be<strong>in</strong>e zitterten.Am anderen Ende des Bakáts tér stand e<strong>in</strong> Panzer, der auf irgendetwas feuerte. Kurucz g<strong>in</strong>g h<strong>in</strong>ter e<strong>in</strong>er Straßenecke <strong>in</strong> Deckung, wo e<strong>in</strong>eRotkreuzschwester darauf wartete, <strong>in</strong> ihr gegenüberliegendes Krankenhauszu gelangen. E<strong>in</strong>e Zeitlang schwenkten die Geschütze des Panzersziellos h<strong>in</strong> und her, als wollten sie zeigen, daß der Drache noch lebte. DieSchwester entschloß sich, e<strong>in</strong>en Sprung über die Straße zu riskieren.Kurucz riet ihr ab, aber sie lächelte nur: »Paß auf!« Sie w<strong>in</strong>kte und trat auf712


den Platz. »Siehst du!« sagte sie triumphierend. In diesem Augenblickfegte e<strong>in</strong> Streifen Leuchtspurmunition <strong>in</strong> Brusthöhe über den Platz. Durchden Aufprall stürzte sie zu Boden. Kurucz schrie: »Bist du getroffen?« Erspürte, daß dies töricht war, aber ihm fiel nichts anderes e<strong>in</strong>. Sie wolltesprechen, doch dann brachen ihre Augen.Es war e<strong>in</strong> sonniger Morgen, e<strong>in</strong> frischer W<strong>in</strong>d wehte. Den ganzenTag über belagerten sowjetische Panzer den Zitadellenberg. Gegen 17 Uhrerlebten Zeitungskorrespondenten das bisher schwerste Sperrfeuer auf dieStützpunkte der Aufständischen.ÁÁ In der Nähe der Kettenbrücke belegtenPanzer die Königsburg auf der anderen Seite des Flusses, deren Kriegsschädenniemals beseitigt worden waren, mit schwerem Granatfeuer.Vielleicht glaubten die Russen, daß Kard<strong>in</strong>al M<strong>in</strong>dszenty <strong>in</strong> se<strong>in</strong>eResidenz zurückgekehrt sei. Als das Feuer e<strong>in</strong>gestellt wurde, hörte mandas Knattern von Handfeuerwaffen. An diesem Abend fiel die Stromversorgung<strong>in</strong> der amerikanischen Gesandtschaft aus. Von den oberenFenstern aus konnten die Diplomaten die Flammen sehen, die daskathedralenähnliche Gebäude des Nationalarchivs auf dem Hügel <strong>in</strong>Schutt und Asche legten. Beim Kerzenlicht hörten sie den Wortlaut despolitischen Testaments, das der Kard<strong>in</strong>al verfaßt hatte. Tom Wailes unterzeichneteals Zeuge. Der Kard<strong>in</strong>al drückte se<strong>in</strong>en R<strong>in</strong>g auf e<strong>in</strong>enWachsklumpen am unteren Ende des Dokuments, das dann <strong>in</strong> e<strong>in</strong>erKuriertasche für Wash<strong>in</strong>gton verstaut wurde.Das Gefecht auf dem Schloßberg wurde von Pater Vazul Végvári,e<strong>in</strong>em jungen Franziskanermönch, geleitet. Vor zwei Wochen war er nochErzieher <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Knabenschule <strong>in</strong> Esztergom.ÁË Aber hier <strong>in</strong> Budapestkonnte ihn offenbar niemand brauchen. Maléter hatte ihn als Militärpfarrerder Kilián-Kaserne abgelehnt. Nun stand er hier auf den Z<strong>in</strong>nen mit e<strong>in</strong>erMP um den Hals, <strong>in</strong> der e<strong>in</strong>en Hand e<strong>in</strong>e Handgranate, <strong>in</strong> der anderene<strong>in</strong>en Molotow-Cocktail und wartete auf die Panzer, die langsam denAbhang h<strong>in</strong>aufkrochen. Der Kommandant der Burg war verschwunden,der Mönch war an se<strong>in</strong>e Stelle getreten. Bevor er die Priesterweiheempf<strong>in</strong>g, hatte er e<strong>in</strong>ige militärische Erfahrungen gesammelt. Er wollte solange ausharren, bis UN-Truppen kämen. Se<strong>in</strong>e Leute waren tapfer, aber713


sie konnten dem Granatfeuer, den Luftangriffen und dem Beschuß nichtmehr lange standhalten. E<strong>in</strong> telephonisches Ultimatum, sich zu ergeben,wiesen sie zurück, aber dann wurde se<strong>in</strong> Stellvertreter, Zoltán Czérna, amnächsten Tage von e<strong>in</strong>er Granate beim Wiener Tor (Bécsi kapu) getötet.Daraufh<strong>in</strong> ordnete Pater Vazul die E<strong>in</strong>stellung des Kampfes an. Niemandkam, um <strong>Ungarn</strong> zu helfen. Czérnas Nachfolger, Gábor Folly, wurdegefangengenommen und später gehenkt.Am 7. November vereidigte Präsident Dobi das Kádár-Regime. AberKádár regierte nur dem Namen nach: Herr <strong>in</strong> Budapest war die RoteArmee. Befehlshaber war e<strong>in</strong> Russe, der Brigadegeneral der Garde, K. S.Grebennjik. Er ließ überall Plakate ankleben mit dem Befehl, alle Waffenabzuliefern. Auf den Plakaten hieß es: »Auf Ersuchen der ungarischenrevolutionären Arbeiter- und Bauernregierung ist die sowjetische Armeevorübergehend <strong>in</strong> Budapest e<strong>in</strong>gezogen, um brüderliche Hilfe bei derVerteidigung der sozialistischen Errungenschaften des ungarischen Volkeszu leisten, um die Konterrevolution zu überw<strong>in</strong>den und die Gefahr desFaschismus abzuwenden.«Journalisten und Diplomaten, die versuchten, das Land ohne e<strong>in</strong>enunterschriebenen »Propusk« der Sowjetarmee zu verlassen, wurden aufden Landstraßen h<strong>in</strong>- und hergeschickt. Selbst Pässe, die von Münnichunterzeichnet waren, wurden von mißtrauischen Offizieren der RotenArmee zurückgewiesen. Der sowjetische Botschafter Andropow erwiderteauf den Protest des US-Gesandten Wailes wegen des Zwischenfalles beider K<strong>in</strong>derkl<strong>in</strong>ik, er sei machtlos. Dieses e<strong>in</strong>e Mal sagte er wahrsche<strong>in</strong>lichsogar die Wahrheit. Das E<strong>in</strong>greifen der russischen Truppen <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong>wurde vor der Bevölkerung der Sowjetunion noch immer geheimgehalten– und zwar auch aus folgendem Grunde: »Aus zwei verschiedenenQuellen ist zu erfahren«, notierte die italienische Botschaft am 8.November, »daß sowjetischen Soldaten von ihren Befehlshabern gesagtwird, sie sollten e<strong>in</strong>e Nazibewegung <strong>in</strong> Deutschland zerschlagen.«Die Moskauer Zeitungen behaupteten <strong>in</strong> ihren Berichten aus Budapest,Kádár f<strong>in</strong>de »weite Unterstützung«, die Arbeit <strong>in</strong> den Fabriken sowie der714


öffentliche Verkehr seien wiederaufgenommen worden.ÁÈ Sie drucktenPhotos von Greueltaten, die vom Daily Express veröffentlicht wordenwaren, unerlaubt nach und behaupteten, »Konterrevolutionäre hätten mitMasch<strong>in</strong>engewehren <strong>in</strong> die Menschenmenge auf der Rákóczi útgeschossen und Angehörige des Roten Kreuzes ermordet. AlleParteizeitungen von Ost-Berl<strong>in</strong> bis Pek<strong>in</strong>g begrüßten die sowjetischeInvasion. Prag brachte se<strong>in</strong>e »warme Sympathie« zum Ausdruck, und dieKommunisten von Paris bis Bukarest spendeten Beifall. Aber es gab auchmachtvolle Demonstrationen vor der kommunistischen Parteizentrale undder KP-Zeitung L’Humanité <strong>in</strong> Paris und <strong>in</strong> anderen westlichenHauptstädten. In Rom kam es zu Prügelszenen im Parlament, als dieKommunisten sich weigerten, sich zu Ehren der Aufständischen von denPlätzen zu erheben – statt dessen standen die KP-Abgeordneten h<strong>in</strong>terherauf und applaudierten der Sowjetunion. In New York waren die Protestemehr <strong>in</strong>szeniert als echt: Als die Sowjets E<strong>in</strong>ladungen zu e<strong>in</strong>em üppigenEmpfang am 7. November verschickten, bat der führende jüdischeEmigrant Dr. Béla Fabian se<strong>in</strong>e F<strong>in</strong>anziers von der CIA um 6000 Dollarfür die Veranstaltung e<strong>in</strong>er Protestkundgebung (e<strong>in</strong>schließlich 1000 Dollarfür Taxis und persönliche Auslagen).ÁÍDie große Neuigkeit <strong>in</strong> der amerikanischen Gesandtschaft war dieWiederwahl von Präsident Eisenhower. Wie um zu gratulieren, erschienenzehn Stal<strong>in</strong>-Panzer auf dem Freiheitsplatz und schwenkten ihre Geschütztürme,bis die Mündungen ihrer Kanonen direkt auf die Fenster derGesandtschaft gerichtet waren. Dann drehten sie bei und verließen mitrasselnden Ketten und donnernden Motoren den Platz <strong>in</strong> nördlicherRichtung. Offenbar verstanden die Russen nur e<strong>in</strong>e Sprache – die derbrutalen Macht und der Aggression.Natürlich leugneten die Russen, daß es sich um e<strong>in</strong>e Aggressionhandelte. Aber beide sowjetische Interventionen waren e<strong>in</strong>deutig illegaleAkte. Selbst der Warschauer Pakt verpflichtete se<strong>in</strong>e Unterzeichnet, den»Pr<strong>in</strong>zipien gegenseitigen Respekts der Unabhängigkeit und Souveränitätund Nichte<strong>in</strong>mischung <strong>in</strong> die <strong>in</strong>neren Angelegenheiten« zu folgen.ÁÎ Die715


Interventionen waren nichts anderes als Kriegshandlungen gegen <strong>Ungarn</strong>1953 hatten die Sowjets den Begriff »Aggression« so def<strong>in</strong>iert, daß er aufbeide Interventionen zutraf.ÁÏ Kádárs Ersuchen war völkerrechtlichungültig, denn es wurde an die Sowjets gerichtet, bevor se<strong>in</strong> Regime e<strong>in</strong>Gesetz erlassen hatte, das se<strong>in</strong>e eigene Existenz legalisierte. Darüberh<strong>in</strong>aus gilt die Genfer Konvention von 1949 für alle Kombattanten –tatsächlich war das Recht der Zivilisten, die Waffen gegen e<strong>in</strong>enE<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gl<strong>in</strong>g zu erheben, <strong>in</strong> Genf sogar von der Sowjetunion unterstütztworden, die dabei vor allem an die deutsche Invasion <strong>in</strong> Dänemark dachte,wo die dänische Armee se<strong>in</strong>erzeit ke<strong>in</strong>en Widerstand geleistet hatte. DieGenfer Konvention bestimmt, daß die E<strong>in</strong>wohner besetzter Länder nichtdeportiert und nicht ohne Gerichtsverfahren verurteilt oder gar gefoltertwerden dürfen; auch können ke<strong>in</strong>e Gesetze rückwirkend erlassen werden.Alle diese Bestimmungen wurden von Kádár und den sowjetischenBefehlshabern verletzt. »Weißt du, was wir im Oktober falsch gemachthaben?« witzelten Kádárs Untertanen später. »Wir haben uns <strong>in</strong> unsereeigenen Angelegenheiten e<strong>in</strong>gemischt!«Vom 8. November an begannen die Aufständischen, mehr Mitleid mitden E<strong>in</strong>wohnern zu haben. Die Leute sagten: »Bitte, schießt nicht vondiesem Haus aus!«ÁÌ Also zogen die Aufständischen <strong>in</strong> kommunistischeGebäude, wie zum Beispiel das Parteibüro im IX. Bezirk. Es gab nochandere Anzeichen dafür, daß der Kampfeswille erlahmte. Als der ehrenwerteMatteotti am Morgen des 9. November wegen e<strong>in</strong>es Passes zursowjetischen Kommandantur kam, sah er, wie <strong>Ungarn</strong> here<strong>in</strong>strömten, umden Russen Zentren des Widerstandes zu melden.ÁÓ Die <strong>in</strong>tellektuelleRevolution war zusammengebrochen. Der revolutionäre Studentenratwurde von István Pozsár aufgelöst. Selbst beim Schriftstellerverbandherrschte größtes Durche<strong>in</strong>ander. Gyula Háy lud am 12. des Monats zue<strong>in</strong>em Treffen <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Wohnung e<strong>in</strong>, aber er erschrak vor se<strong>in</strong>em eigenenMut, so daß man sich statt dessen im Verbandsgebäude traf – e<strong>in</strong>elärmende, überfüllte Sitzung, auf der stundenlang darüber gestrittenwurde, weichen Rat man den Arbeitern geben solle. »Es herrschte völligeOhnmacht und Hilflosigkeit – es war zum Verrücktwerden«, schrieb716


später e<strong>in</strong> Mitarbeiter der Wahrheit.ÁÔÜberall im Lande, <strong>in</strong> Pécs, Komló, Székesfehérvár, Veszprém undMiskolc, stellten die sowjetischen Befehlshaber Ultimaten. Aber an vielenOrten trafen sie auf den entschlossenen Widerstand der Arbeiter, die solange weiterkämpfen wollten, bis der Westen e<strong>in</strong>griff. E<strong>in</strong>e Woche langverteidigten die Arbeiter Dunapentele, die Stadt der Stahlwerke, »Sztal<strong>in</strong>város«– e<strong>in</strong>st Rákosis ganzer Stolz. Die Russen belagerten die Stadt zweiTage und stellten dann e<strong>in</strong> neues Ultimatum: »Alle Offiziere undSoldaten, die sich ergeben, können ihr Leben retten . . . Wenn dieGarnison die Waffen nicht niederlegt, wird das sowjetische Oberkommandodie Stadt mit Gewalt e<strong>in</strong>nehmen.« Darauf erwiderten diestolzen Verteidiger: »Dunapentele steht an erster Stelle unter densozialistischen Städten <strong>Ungarn</strong>s. Se<strong>in</strong>e Bewohner s<strong>in</strong>d Arbeiter, die Machtist <strong>in</strong> ihrer Hand . . . Alle Häuser s<strong>in</strong>d von den Arbeitern selbst gebautworden . . . Die Arbeiter werden die Stadt nicht nur gegen faschistischeAusschreitungen, sondern auch gegen sowjetische Truppen verteidigen!«Die Russen griffen mit Panzern und Flugzeugen an. Zusammen mit 300Mann der werkseigenen Flak wehrten die Arbeiter drei Angriffe ab. DieVerluste waren hoch: In e<strong>in</strong>er Gruppe von fünfunddreißig Arbeiternwurden vier Mann getötet, darunter ihr Führer, e<strong>in</strong> Reserveleutnant, dervon e<strong>in</strong>er russischen Panzerfaust getroffen wurde.ËÊ 500 griechischeEmigranten, die <strong>in</strong> dem Werk beschäftigt waren, g<strong>in</strong>gen zu den Russenüber, ebenso der Kommandant der Garnison, Hauptmann Nagyéri.ËÁ Erüberlebte, während der Chef der Flake<strong>in</strong>heit, der die Arbeiter bei ihrerVerteidigung angefeuert hatte, gehenkt wurde, nachdem Dunapentele am11. November gefallen war.Noch energischer war der Widerstand <strong>in</strong> Rákosis altem Wahlbezirk,im »Roten« Csepel. Zehn Tage lang tobte hier die Schlacht. Unterdessenlagen die Fabriken still, und auf Plakaten hieß es höhnisch: »Die 40.000Aristokraten und Faschisten von Csepel streiken!«ËË Auch hier überließenSoldaten den Arbeitern Geschütze und Munition. Kampftruppen wurdenaufgestellt. Nagelneue Motorräder wurden direkt vom Fließband geholtund für Meldefahrten e<strong>in</strong>gesetzt. In der Nacht vom 6. November nimmt717


e<strong>in</strong> junger Stahlarbeiter mit se<strong>in</strong>em Masch<strong>in</strong>engewehrtrupp an e<strong>in</strong>emAngriff auf e<strong>in</strong>en Granatwerferzug auf offenern Felde teil. Als er am 22.April 1957 rout<strong>in</strong>emäßig gefragt wird, welches denn se<strong>in</strong>e schlimmste Tatgewesen sei, erklärte dieser Mann, der e<strong>in</strong>em Guerillero so gar nichtähnlich sah: »Ich habe vier russische Soldaten <strong>in</strong> feiger und h<strong>in</strong>terhältigerWeise erschossen.« Er hatte zweimal, aus der Hüfte feuernd, von h<strong>in</strong>tenauf sie geschossen; die ausgestoßenen Patronenhülsen verbrannten ihmdas Gesicht, aber er sah, wie der Fe<strong>in</strong>d fiel und zwei Mann wegkrochen.»Von ihnen habe ich gelernt, wie e<strong>in</strong> Partisan zu kämpfen«, sagte er zuse<strong>in</strong>er Rechtfertigung, aber er fragte sich, ob der Held se<strong>in</strong>er K<strong>in</strong>dheit,Horatio Nelson, wohl auch so gehandelt hätte?ËÈBei Dombovár und Pécs bekämpfte ungarische Artillerie von Nordenanrückende sowjetische Panzer, doch am 6. November drangen dieSowjets <strong>in</strong> Pécs e<strong>in</strong>. In ihrer Begleitung befand sich Oberst Bradacs, derse<strong>in</strong>erzeit davongejagte Chef der ÁVH. Die revolutionären Soldaten, dieBergleute und die Arbeitermiliz zogen sich <strong>in</strong> die Berge zurück, nachdemsie die Straßen h<strong>in</strong>ter sich gesprengt hatten: Das Mecsek-Gebirge amRande der Stadt mit se<strong>in</strong>en Bäumen, Höhlen und Ste<strong>in</strong>brüchen war e<strong>in</strong>ideales Gelände für den Partisanenkrieg. Für die daheimgebliebenenBewohner und die Russen begann e<strong>in</strong>e unbehagliche, beklemmendeWaffenruhe.In der US-Botschaft <strong>in</strong> Budapest hörte man noch am 8. Novembervere<strong>in</strong>zelte Schüsse, während e<strong>in</strong> Haus nach dem anderen <strong>in</strong> der Stadtdurchsucht wurde.ËÍ Immer mehr <strong>Ungarn</strong> baten um Asyl – aber es war e<strong>in</strong>aussichtsloses Unterfangen. Tildys Assistent erschien <strong>in</strong> dessen Auftrag,aber Wailes lehnte auch dieses Ersuchen ab, <strong>in</strong>dem er sich selbst zutrösten suchte: »Tildy . . . hätte wahrsche<strong>in</strong>lich anderswo größereÜberlebenschancen.«Die Gesandtschafts-»Familie« war <strong>in</strong>zwischen auf sechzig Personenangewachsen. Morgens entdeckte der Attaché Katona, daß M<strong>in</strong>dszentysSekretär, Monsignore Turcsányi, se<strong>in</strong>e Soutane gegen Zivilkleider unde<strong>in</strong>e schwarze Baskenmütze umgetauscht hatte. Er wollte offensichtlichversuchen, über die Grenze zu kommen. »Sie sehen aus wie e<strong>in</strong> Ire, der <strong>in</strong>718


die Stadt geht«, sagte Katona mit schonungsloser Offenheit. Von e<strong>in</strong>emFenster aus beobachteten M<strong>in</strong>dszenty und Katona, wie der Monsignore <strong>in</strong>den Wagen e<strong>in</strong>es Reporters stieg, der <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>en Konvoi zur Grenzefahren wollte. Turcsányi kam nur bis Györ, wo er von Kádárs Geheimpolizeiaus dem Auto herausgeholt wurde.ËÎ (Am 17. Januar 1958verurteilte der Volksgerichtshof ihn zu lebenslänglicher Haft wegen»Verbrechen gegen das ungarische Volk«.ËÏ M<strong>in</strong>dszenty wurde allmählichzu e<strong>in</strong>er Belastung. Mit bemerkenswert poetischem Talent arbeitete er ane<strong>in</strong>em dramatischen Appell an die Vere<strong>in</strong>ten Nationen.ËÌ (»10.000 Frauen,die sich im Blut ihrer ermordeten Familienangehörigen wälzen, werdenbelästigt.«) Schließlich gab das State Department der Gesandtschaft e<strong>in</strong>enW<strong>in</strong>k, daß man zwar mündliche Forderungen nach M<strong>in</strong>dszentys Auslieferungablehnen, aber ke<strong>in</strong>en Versuch machen sollte, ihn vor demRegime oder dem Mob zu schützen, wenn dadurch das Leben amerikanischerBürger gefährdet würde.ËÓ Eisenhower brauchte jetzt ke<strong>in</strong>eStimmen der Katholiken mehr.Das Ansehen der Amerikaner <strong>in</strong> Budapest war sowieso auf den Nullpunktgesunken. Am 8. November traf e<strong>in</strong> amerikanischer Luftwaffenstabsarztvon der Pariser Botschaft e<strong>in</strong>, um die Verluste abzuschätzen.Katona führte ihn herum. An e<strong>in</strong>er nahe gelegenen Straßenkreuzungwaren drei sowjetische Panzerspähwagen und mehrere Lastwagenüberfallen worden und bis auf die Felgen niedergebrannt. Die verkohltenLeichen lagen noch immer im Wrack. E<strong>in</strong> älterer Ungar, der e<strong>in</strong>edreifarbige Armb<strong>in</strong>de trug, regelte den Verkehr. Er entdeckte die beidenAmerikaner und fiel wütend über sie her. Er wies auf die Kamera desLuftwaffenoffiziers und schrie: »Los, machen Sie nur so weiter!Photographieren Sie alles, was Sie wollen, und schicken es an die ›StimmeAmerikas‹! Die sollen sehen, wie wir bereitwillig unser Leben opfern,während die freie Welt tatenlos zuschaut!«Durch e<strong>in</strong>en anderen Stadtteil bewegte sich e<strong>in</strong> unauffälliger Konvoi:E<strong>in</strong> offener, gepanzerter Mannschaftstransportwagen, der die Kopácsiszum Gorkij fasor brachte. Das gleiche Schicksal hatte die Waffenstillstandsdelegation,die <strong>in</strong> Tököl überlistet und gefangengenommen worden719


war: Maléter, Kovács, Erdei und Szücs. Da sie nicht sprechen durften,sangen sie e<strong>in</strong> Soldatenlied: »Das erste Grab auf dem Friedhof vonKerepes ist e<strong>in</strong> Soldatengrab . . . « Auf dem sowjetischen Botschaftsgeländewurden sie <strong>in</strong> Gefängniszellen gesteckt, mit denen jede ihrergute<strong>in</strong>gerichteten Botschaften <strong>in</strong> ausländischen Hauptstädten ausgestattetist. Die Holzpritschen wurden mit Bettwäsche der ungarischen Schlafwagengesellschaftbezogen.Bis zum 11. November hatten die sowjetischen Truppen nachAngaben von Wailes Zerstörungen angerichtet, die »weit größer als diedes Zweiten Weltkriegs« waren.ËÔ In der Innenstadt hatten die Kämpfeaufgehört. Es war e<strong>in</strong> düsterer Sonntag: Kollegen aus der französischenund italienischen Gesandtschaft sammelten sich <strong>in</strong> der US-Mission, <strong>in</strong> derM<strong>in</strong>dszenty die Messe las. Später gab er denjenigen, die ihm geholfenhatten, zehn Heiligenbilder, für deren Authentizität er sich verbürgte, dasie von den Tränen e<strong>in</strong>es Heiligen benetzt worden seien.In Moskau verkündeten die Propagandisten mit schriller Stimme, der<strong>Aufstand</strong> sei außerhalb der Grenzen <strong>Ungarn</strong>s angestiftet worden – vonEmigranten <strong>in</strong> ungarischen Uniformen, die mit amerikanischen undwestdeutschen Waffen ausgerüstet und von Bischöfen, von Faschisten,Großgrundbesitzern und Admiral Horthys früheren Generalen, Verwandten,M<strong>in</strong>istern angeführt waren, nicht zu vergessen Otto von Habsburg.ÈÊKádár war raff<strong>in</strong>ierter bei der Behandlung dieses Themas – ermachte Angebote und lockte. In e<strong>in</strong>er Rundfunkrede am Sonntag führte erden Ursprung des <strong>Aufstand</strong>s auf den berechtigten Unwillen über Rákosizurück und billigte den Aufständischen ehrliche Absichten zu. Währenddie Prawda Nagy immer noch als e<strong>in</strong>en »Komplizen« bezeichnete, warKádár nachsichtiger – er warf ihm Hilflosigkeit gegenüber dem rechtenFlügel vor, aber sprach ihn von jeder vorsätzlichen Unterstützung des<strong>Aufstand</strong>s frei.Wo war Imre Nagy? E<strong>in</strong>ige Gerüchte besagten, er sei tot, andere, erbef<strong>in</strong>de sich bereits auf dem Wege nach New York.ÈÁ Die Nagy-Gruppewar noch immer <strong>in</strong> der jugoslawischen Botschaft, wo sie es nicht sehr720


equem hatte. E<strong>in</strong>e Zeitlang verhielt sie sich so, als ob sie immer noch diegesetzmäßige Regierung sei – was sie auch ja tatsächlich war.ÈË Es gabendlose Diskussionen über die Organisation e<strong>in</strong>er neuen Bewegung. Nagyschwankte, Donáth wollte erst e<strong>in</strong>mal die Me<strong>in</strong>ung anderer von draußenhören. E<strong>in</strong> kurzer Fragebogen wurde von e<strong>in</strong>em Angehörigen derBotschaft zu Balázs Nagy vom Petöfi-Kreis gebracht. Die Antwortenbesagten fast übere<strong>in</strong>stimmend, daß Kádárs neue Partei ohne jeglichesAnsehen sei.Nagys aktivster Anhänger, Miklós Gimes, war immer noch auf freiemFuß. Er hatte e<strong>in</strong> starkes Sicherheitsbedürfnis und erzählte selbst se<strong>in</strong>erFreund<strong>in</strong> kaum etwas, um sie nicht zu kompromittieren. Aber erversicherte ihr, daß selbst Kádár ke<strong>in</strong>en an den Galgen br<strong>in</strong>gen würde –nicht im 20. Jahrhundert mitten <strong>in</strong> Europa.ÈÈ Bei e<strong>in</strong>em Geheimtreffen am13. November <strong>in</strong> der Wohnung von Professor Robert Bohó stellte erNagys Fragebogen zur Diskussion: Alle stimmten übere<strong>in</strong>, daß man jetzte<strong>in</strong>e Bewegung brauche, die im Geiste des 23. Oktober weiterkämpfenwürde. Man nannte sie »Ungarische Demokratische Unabhängigkeitsbewegung«,und Gimes gründete e<strong>in</strong>e Untergrundzeitung 23. Oktober.Dar<strong>in</strong> plädierte er für e<strong>in</strong>en nationalen Arbeiterrat, der der gesamtenArbeiterklasse e<strong>in</strong>e Führung geben sollte.ÈÍNagys Aufenthalt <strong>in</strong> der Botschaft war für Kádár sehr angenehm. Erwollte Nagy aus dem Wege haben – irgendwoh<strong>in</strong>, wo se<strong>in</strong> Name nichtmehr sogar noch durch die Wände der Botschaft h<strong>in</strong>durch e<strong>in</strong>ezersetzende Anziehungskraft ausüben konnte. Aber wenn Nagy mit demGedanken gespielt hatte, se<strong>in</strong> Asyl <strong>in</strong> Jugoslawien zu bekommen, so sah ersich grausam getäuscht. Und zwar durch Tito selbst. In e<strong>in</strong>er Rede am 11.NovemberÈÎ <strong>in</strong> Pula an der dalmat<strong>in</strong>ischen Küste fand Tito ätzende Wortefür den <strong>Aufstand</strong>, während er die sowjetische Intervention rechtfertigte:»Ich kann Ihnen, me<strong>in</strong>e Genossen, sagen, daß ich die Männer <strong>in</strong> der neuenRegierung kenne und sie nach me<strong>in</strong>er Auffassung das vertreten, was <strong>in</strong><strong>Ungarn</strong> das Anständigste ist.«Kádár verlor ke<strong>in</strong>e Zeit, er baute se<strong>in</strong>e Polizeikräfte wieder auf;Nachfolger der ÁVH wurde der Karhatalmi század. Am 10. November721


wurde das erste Regiment dieses »revolutionären Ordnungsdienstes«aufgestellt, das »vor allem aus ehemaligen Staatssicherheitsleuten undanderen Beamten des Innenm<strong>in</strong>isteriums bestand«, wie e<strong>in</strong>e offizielleungarische Publikation e<strong>in</strong>ige Wochen später zugab.ÈÏ E<strong>in</strong>e Woche späterfolgten zwei weitere Regimenter, deren Kapok-Jacken ihr Kennzeichenwerden sollten. Mehreren hundert Offizieren wurde es freigestellt,entweder ihr Patent zurückzugeben oder sich <strong>in</strong> diesem Ordnungsdienst zubewähren – <strong>in</strong> diesem Falle hatten sie e<strong>in</strong>e »Offizierserklärung« zuunterschreiben, daß sie mit der »Hilfe« der Sowjetarmee e<strong>in</strong>verstandenseien.Ihre Pflichten waren alles andere als heroisch. E<strong>in</strong>e Verhaftungswellebegann – trotz Kádárs am 14. November öffentlich abgegebenem Versprechen,daß niemandem etwas zuleide getan werden dürfe, weil er ander »großen Volksbewegung der vergangenen Wochen« teilgenommenhatte.ÈÌ E<strong>in</strong>e Massenflucht nach Österreich und Jugoslawien setzte e<strong>in</strong>.E<strong>in</strong> »Adjutant« drängte den verwundeten József Dudás, das Land zuverlassen. Dudás weigerte sich: Weniger wichtige Leute könnten fliehen,aber nicht er. »Die Revolution wird schließlich doch siegen! Hoff en wir,daß der Westen e<strong>in</strong>greift«, sagte er.ÈÓ E<strong>in</strong>ige Tage wurde er von Arbeitern<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Fabrik <strong>in</strong> Köbánya verborgen gehalten. Dann erschien e<strong>in</strong>eDelegation von Bergleuten bei Kádár und forderte ihn auf, mit Dudás zuverhandeln. Kádár war e<strong>in</strong>verstanden, stolz erschien Dudás im Parlament,wo ihm der übliche kommunistische Empfang zuteil wurde: überlistet,gefangengenommen und gehenkt!Kádár wagte sich kaum aus dem Parlamentsgebäude heraus. DieMacht lag <strong>in</strong> Händen der Straße, und diese hatte ihre Bed<strong>in</strong>gungengenannt: Erst e<strong>in</strong>mal müßten die Sowjettruppen <strong>Ungarn</strong> verlassen, erstdann würde der Generalstreik beendet werden. In vielen BezirkenBudapests gab es Arbeiterräte; jeder bestand aus Delegierten, die aufMassenkundgebungen gewählt worden waren. Die Räte kümmerten sichum die Obdachlosen, bezahlten die Löhne und sorgten für Lebensmittelund Sozialunterstützungen. Am 13. November gründete der Rat <strong>in</strong> Ujpest(Neupest) e<strong>in</strong> mächtiges, neues Gremium für die gesamte Stadt. Der722


Zentrale Arbeiterrat von Groß-BudapestÈÔ war der erste Schritt auf demWege zu e<strong>in</strong>er echten Arbeitervertretung als Gegenspieler zum Regime.Der Rat ließ sich im Haus der Transportarbeitergewerkschaft <strong>in</strong> derAkácfa utca nieder. Se<strong>in</strong> Vorsitzender war e<strong>in</strong> dreiundzwanzigjährigerWerkzeugmacher namens Sándor Rácz, e<strong>in</strong> Mann von ungewöhnlicherFührungskraft.Es kam zu erregten Diskussionen mit der Regierung – Diskussionen,die e<strong>in</strong>malig <strong>in</strong> der Geschichte des Kommunismus waren. Am 14.November wiederholten Delegierte von Beloiannis, den früheren Siemens-Werken, und von Fabriken <strong>in</strong> Csepel ihre Forderungen: An erster Stellestand die Rückkehr von Imre Nagy <strong>in</strong> die Regierung. Kádár erwiderteglattzüngig: »Ich würde ihn gerne <strong>in</strong> die Regierung zurückholen . . . LaßtNagy <strong>in</strong>s Parlamentsgebäude kommen, dann können wir mit ihm reden.«Im Laufe des Tages schickte der Zentrale Arbeiterrat e<strong>in</strong>e neunzehnköpfigeDelegation, um mit Kádár zu verhandeln.ÍÊ In aller Offenheiterklärte er, daß die anderen Forderungen der Arbeiter nach freien Wahlenund e<strong>in</strong>em Mehrparteiensystem nicht leicht zu erfüllen seien: »Die Machtder Arbeiter kann nicht nur durch Kugeln, sondern auch durch Wahlengebrochen werden.« Was Nagy betraf, so gab er dieselbe schlaue Antwort,die er an jenem Morgen Sándor Báli, Rácz’ Mitführer, gegeben hatte,<strong>in</strong>dem er h<strong>in</strong>zufügte: »Wie können Sie von mir erwarten, daß ich mit ImreNagy spreche, wenn er <strong>in</strong> der Botschaft e<strong>in</strong>er ausländischen Macht ist!«Kádár bestand darauf, daß der Zentrale Arbeiterrat erst e<strong>in</strong>mal denStreik abbreche: Dann würde er über alles verhandeln. Voller Mißtrauenordnete der Zentrale Arbeiterrat an, die Arbeit am Montag, dem 19.November, wiederaufzunehmen.Inzwischen wendeten die Russen ihre brutalste Erpressungsmethodean. Panzer erschienen plötzlich an beiden Enden e<strong>in</strong>er Straße oder vore<strong>in</strong>er Schule und trieben Hunderte von jungen <strong>Ungarn</strong> zusammen, um sieals Geiseln <strong>in</strong> die Sowjetunion zu verschleppen. Italienische undamerikanische Diplomaten erwähnten schreckliche E<strong>in</strong>zelheiten <strong>in</strong> ihrenTagebüchern. Am 14. November protestierte der Zentrale Arbeiterrat bei723


Kádár, der daraufh<strong>in</strong> behauptete, »mit den zuständigen sowjetischenBehörden sei vere<strong>in</strong>bart worden, daß niemand außer Landes gebrachtwürde«. Am 18. November dementierte se<strong>in</strong>e Regierung kurzerhand dieDeportationen. Diese Dementis steigerten die allgeme<strong>in</strong>e Angst nur nochmehr, und zwei Tage später protestierte der Schriftstellerverband beimsowjetischen Kommandanten. General Grebennjik gab zu verstehen, daßdie verschleppten Männer zurückkehren würden, wenn die Streiksaufhörten.Die Arbeit wurde, wie der Zentrale Arbeiterrat versprochen hatte, amMontag, dem 19. November, wiederaufgenommen. Es war bitter fürKádár, mit ansehen zu müssen, wie fest die Werktätigen h<strong>in</strong>ter ihremArbeiterrat standen. An diesem Tag erschienen wiederum Abordnungendes Rates bei ihm. Sie waren tagsüber an ihrem Arbeitsplatz und denganzen Abend im Hauptquartier ihrer Organisation gewesen. Aber nunmußten sie bis nach Mitternacht warten, bevor Kádár sie empf<strong>in</strong>g. In derZwischenzeit begannen anonyme Funktionäre, sie auszufragen. Als Kádárund se<strong>in</strong>e Kumpane e<strong>in</strong>trafen, wurden sie von ihren Funktionären<strong>in</strong>formiert. Sie ließen die Arbeiter nicht zu Wort kommen, beleidigten sieund versuchten, sie unter Druck zu setzen – <strong>in</strong>dem sie behaupteten,Ingenieure seien ke<strong>in</strong>e »richtigen« Arbeiter seien und den Arbeitern fehledie notwendige Bildung, e<strong>in</strong> solches Amt auszuüben. »Die Funktionärewaren alle ausgeruht und gut angezogen«, berichtete später der DelegierteFerenc Töke. »So fiel es ihnen nicht schwer, die müden, unrasierten undschlecht gekleideten Männer e<strong>in</strong>zuschüchtern.«Der Zentrale Arbeiterrat kündigte Kádár und am nächsten Tag auchdem sowjetischen Kommandanten Grebennjik an, er werde am 21.November e<strong>in</strong>e große Kundgebung <strong>in</strong> der Sporthalle veranstalten, ume<strong>in</strong>en das ganze Land umfassenden Nationalen Arbeiterrat zu wählen.Entrüstet fragte Kádárs Kumpan Apró: »Wollt ihr e<strong>in</strong>e Gegenregierung?«ÍÁKádár und Grebennjik waren getrennt e<strong>in</strong>geladen worden.Grebennjik wies sie listig darauf h<strong>in</strong>, daß die Regierung ihm e<strong>in</strong>eE<strong>in</strong>ladung schicken müßte. Er schickte se<strong>in</strong>e »Repräsentanten« auf jedenFall – e<strong>in</strong>en Panzerverband, der die Sporthalle absperrte. Die Arbeiter-724


abordnungen, die nach Budapest kamen, mußten zum Hauptquartier desZentralen Arbeiterrates umdirigiert werden. Dieses Gebäude warabgeriegelt von Kriegsschülern der Zr<strong>in</strong>yi-Generalstabsakademie, die mitMasch<strong>in</strong>engewehren bewaffnet waren – e<strong>in</strong> Zeichen, daß Kádár auf demWege war, se<strong>in</strong>e eigenen Streitkräfte aufzubauen. Der Versuch, e<strong>in</strong>enNationalen Arbeiterrat zu gründen, war gescheitert. Angestellte desBusdepots gegenüber der Sporthalle verbreiteten das Gerücht, die gesamteFührung des Zentralen Arbeiterrates sei verhaftet worden. Sie riefen e<strong>in</strong>ene<strong>in</strong>tägigen Streik aus. Die Fabriken schlossen sich ihnen an. Kádár tobte:»Ihr habt eben erst die Arbeit wiederaufgenommen, und nun streikt ihrschon wieder!« Der Arbeiterrat machte ihn für das Ersche<strong>in</strong>en der Panzerverantwortlich. Er erwiderte: »Ich b<strong>in</strong> M<strong>in</strong>isterpräsident. Ich werde euchschon zeigen, daß hier die Kommunisten die Herren s<strong>in</strong>d und nicht ihr.«Er hielt Wort und beg<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>e weitere Ungeheuerlichkeit. Imre NagysGruppe hatte sich geweigert, se<strong>in</strong>em jüngsten W<strong>in</strong>k zu folgen, sichfreiwillig nach Rumänien zu begeben.ÍË <strong>Ungarn</strong> und Rumänien warennicht im besten E<strong>in</strong>vernehmen mite<strong>in</strong>ander. Deshalb war e<strong>in</strong> hoherBeamter des Belgrader Außenm<strong>in</strong>isteriums nach Budapest gekommen, umüber das Dilemma des Falles Nagy mit Kádár zu sprechen.ÍÈ Kádárversicherte ihm, daß die Nagy-Gruppe nichts zu fürchten habe, wenn siedie Botschaft verlasse. Am 16. November bekräftigte er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>erRundfunkansprache: »Wir haben versprochen, ke<strong>in</strong>e gerichtlichen Schrittegegen Imre Nagy oder se<strong>in</strong>e Freunde wegen der von ihnen begangenenVerbrechen zu unternehmen . . . Wir werden dieses Versprechen halten.«(Zwei Tage später verließen drei Mann der Nagy-Gruppe die Botschaft:Vas, Lukács und Szántó.) Die Jugoslawen forderten Kádár auf, ihnendieses Versprechen schriftlich zu geben; am 21. November kam dasKádár-Regime dieser Aufforderung nach. Botschafter Soldatic schriebspäter. »Ich hatte den E<strong>in</strong>druck, daß Kádár aufrichtig handelte.«Doch das war nicht der Fall. Die erste Meldung, daß am 22.November, dem festgesetzten Tage, etwas schiefgegangen sei, erschienam nächsten Tage im Volkswillen. Nachdem die Gruppe die Botschaftverlassen hatte, begann die Zeitung, systematisch <strong>in</strong> allen Wohnungen725


anzurufen: bei Losonczy, bei den Jánosis, den Nagys und bei Frau Rajk.Aber niemand war zu Hause angekommen. Der Offizier vom Nachtdienstim Sekretariat Kádárs sagte, der M<strong>in</strong>isterrat tage gerade. Ansche<strong>in</strong>end waretwas Außergewöhnliches geschehen.Offensichtlich hatte Kádárs Regierung die erste von ihr unterzeichnete<strong>in</strong>ternationale Vere<strong>in</strong>barung gebrochen. Münnich hatte um 18.30 Uhre<strong>in</strong>en Bus zur Botschaft geschickt, »um die Gruppe nach Hause zubr<strong>in</strong>gen«, und auch Vásárhelyi war von der Wohnung des jugoslawischenAttachés <strong>in</strong> Buda dah<strong>in</strong> gebracht worden – was an sich schon uns<strong>in</strong>nigwar, denn er wohnte <strong>in</strong> Buda. Nagy entdeckte Geheimpolizisten im Bus,der Fahrer flüsterte ihm zu: »Passen Sie auf, Genosse Nagy! Sie kommennicht nach Hause!« Der Botschafter sagte auf deutsch zu Nagy: »KommenSie zurück!« Nagy stieg wieder aus und verlangte, daß die Russen den Busverließen. Soldatic wies zwei Botschaftsangehörige an, <strong>in</strong> dem Bus mitzufahren.ÍÍKaum waren sie losgefahren, als sich ihnen e<strong>in</strong> Spähwagen <strong>in</strong>den Weg stellte. E<strong>in</strong> sowjetischer Oberst stieg e<strong>in</strong> und wies die beidenJugoslawen aus dem Wagen. Dann fuhr der Bus mit der Nagy-Gruppenicht nach Hause <strong>in</strong> deren Wohnungen, sondern zur sowjetischenKommandantura <strong>in</strong> der Gorkij fasor. Überlistet, gekidnappt, deportiert . . .In der Kommandantura trafen sie Lukács, Szántó und Vas – auch diesenaiven Kommunisten hatte man hierhergebracht, nachdem sie am 18.November die Botschaft verlassen hatten. Sowohl Kádár als auch dieJugoslawen hatten die ganze Zeit gewußt, daß diese drei Mitglieder derNagy-Gruppe gekidnappt worden waren. Doch Soldatic hatte den anderenverb<strong>in</strong>dlich versichert: »Sie s<strong>in</strong>d nach Hause gebracht worden.« Vásárhelyiwar verbittert und hatte den Verdacht, daß irgende<strong>in</strong> dunklesGeschäft der Jugoslawen mit Moskau dah<strong>in</strong>tersteckte.ÍÎ Am nächstenAbend verbreitete das Kádár-Regime folgende Lüge über den Rundfunk:»Imre Nagy und se<strong>in</strong>e Gefährten haben die ungarische Regierung umErlaubnis gebeten, <strong>in</strong> e<strong>in</strong> anderes sozialistisches Land zu gehen. Nachdemdie Regierung der Rumänischen Volksrepublik ihr E<strong>in</strong>verständnis gegebenhat, s<strong>in</strong>d Imre Nagy und se<strong>in</strong>e Begleiter am 23. November dort e<strong>in</strong>getroffen.«Tito protestierte. Kádár antwortete am 1. Dezember und726


estätigte, daß er »nicht die Absicht habe, Strafen für ihre früherenAktivitäten verhängen zu lassen«.ÍÏDie Verschleppung der Nagy-Gruppe durch die Sowjets führte zue<strong>in</strong>em Aufruhr. Die Werktätigen riefen e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>stündigen Proteststreikfür 14 Uhr des nächsten Tages aus. Die gesamte Bevölkerung folgte demAufruf. Daraufh<strong>in</strong> änderte Kádár se<strong>in</strong>e Taktik. E<strong>in</strong>er Arbeiterdelegationgegenüber sprach er von se<strong>in</strong>er Sorge um das Wohlergehen Nagys: »ImInteresse ihrer eigenen persönlichen Sicherheit wurden die Insassen des <strong>in</strong>Frage stehenden Omnibusses nicht <strong>in</strong> ihre Wohnungen zurückgebracht.Die Regierung hatte guten Grund anzunehmen, daß gegenrevolutionäreElemente, die sich noch im Lande versteckt halten, e<strong>in</strong>e Provokationunternehmen und Imre Nagy oder e<strong>in</strong>en se<strong>in</strong>er Mitarbeiter töten könnten,um dann die ungarische Regierung vor der Öffentlichkeit für diese Mordeverantwortlich zu machen. Dieses Risiko wollten wir nicht auf unsnehmen.« Er gab bekannt, daß sie <strong>Ungarn</strong> bereits verlassen hätten; aber <strong>in</strong>Wirklichkeit befanden sich Nagy und se<strong>in</strong>e Freunde immer noch aufe<strong>in</strong>em sowjetischen Flugplatz <strong>in</strong> der Nähe von Budapest. Münnich kammehrere Male herüber, um Nagy aufzufordern, sich das ganze noch e<strong>in</strong>malzu überlegen – zu erklären, daß er ke<strong>in</strong> M<strong>in</strong>isterpräsident mehr sei,Selbstkritik zu üben und den <strong>Aufstand</strong> zu verurteilen. Nagy weigerte sich.Am 27. November, als die Gruppe schließlich <strong>in</strong> drei Militärflugzeugennach Rumänien gebracht worden war, wurde Kádárs Ton schriller undhaßerfüllter: »Mit se<strong>in</strong>er Unfähigkeit und Tatenlosigkeit gegenüber derGegenrevolution hat Imre Nagy den weißen Terror der blutdürstigenGegenrevolution erst getarnt, später unterstützt. Als Kommunist hat ImreNagy e<strong>in</strong>e Rolle gespielt, die man ihm nicht verzeihen kann. Wenn erunfähig war, so hätte er abdanken sollen.« Die Verbannten wurden nachSnago, e<strong>in</strong>em idyllischen Seengebiet <strong>in</strong> der Nähe von Bukarest, gebracht.Hier versuchten hohe Funktionäre der rumänischen Kommunistenebenfalls, Nagy umzustimmen. Sie hatten genausowenig Erfolg wie Münnich.Nach kurzer Zeit wurden Nagy und se<strong>in</strong>e Freunde Gefangene desrumänischen Staatssicherheitsdienstes.Béla Kovács lief immer noch frei herum. Der amerikanische Attaché727


Gaza Katona hatte ihm angeboten, ihn <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Hause zu verstecken, undals er am 29. November vom Dienst heimkehrte, sagte ihm se<strong>in</strong>e Köch<strong>in</strong>Erzsébet, daß Kovács angerufen habe – sie me<strong>in</strong>te, von der italienischenGesandtschaft am anderen Ende der Straße aus –, er habe gefragt, wann ernach Hause kommen würde. Sie wußte es nicht. »Dann muß ichversuchen, woanders unterzukommen«, hatte Kovács erwidert, »denn eswird bereits dunkel.«ÍÌNachdem Eisenhower se<strong>in</strong>e Wahlkampagne h<strong>in</strong>ter sich hatte, konnteer sich endlich auch mit Mitteleuropa beschäftigen. Er kam zu demSchluß, daß, wenn der Kreml erneut Gewalt anwende, um die Sowjetherrschaft<strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> wiederherzustellen, die Vere<strong>in</strong>ten Nationen unverzüglichmilitärisch e<strong>in</strong>greifen müßten. Am 23. November wurden die US-Generalstabschefs beauftragt, die Möglichkeiten e<strong>in</strong>er solchen Aktion unddas damit verbundene Risiko e<strong>in</strong>es allgeme<strong>in</strong>en Kriegs zu prüfen. Nache<strong>in</strong>er Analyse der geme<strong>in</strong>samen Stärke der Streitkräfte <strong>Ungarn</strong>s, derNATO und der UN-Truppen kamen sie zu dem Ergebnis, daß, falls dieamerikanischen Streitkräfte nicht »auf begrenzte Ziele und Aktionenbeschränkt würden«, die Sowjets besiegt werden könnten. Zugleichempfahlen die Stabschefs, daß die Vere<strong>in</strong>igten Staaten sich beteiligensollten – vor allem durch den E<strong>in</strong>satz der Bomber ihrer strategischenLuftflotte, um sowjetische Nachschubverb<strong>in</strong>dungen und die Zentren dersowjetischen Luftmacht anzugreifen. Gleichzeitig aber warnten dieStabschefs die Regierung am 3. Dezember: »Wenn die Vere<strong>in</strong>igtenStaaten sich zu dieser Handlungsweise entschließen, besteht die Gefahre<strong>in</strong>es allgeme<strong>in</strong>en Kriegs.«ÍÓ Aber all das nützte <strong>Ungarn</strong> nichts mehr.Kádár ließ nicht e<strong>in</strong>mal UN-Beobachter e<strong>in</strong>reisen. Der <strong>in</strong>discheM<strong>in</strong>isterpräsident Pandit Nehru beauftragte se<strong>in</strong>en SonderbotschafterKrischna Menon damit, Kádár umzustimmen. Menon flog zunächst nachMoskau und dann nach Budapest, wo er am 1. Dezember e<strong>in</strong>traf.ÍÔ Abererst am 5. Dezember hatte er die Möglichkeit, mit dem M<strong>in</strong>isterpräsidentenim Parlament zusammenzutreffen. »Kádár«, so erzählte er spätere<strong>in</strong>em anderen Botschafter <strong>in</strong> Moskau, »ist praktisch e<strong>in</strong> Gefangener, von728


sowjetischen Panzern umstellt und von sowjetischen Posten <strong>in</strong>nerhalb desGebäudes bewacht.« Für Menon war das Gespräch äußerst deprimierend –Kádár hatte ke<strong>in</strong>erlei Befugnisse und wagte auch nicht, das Gebäude zuverlassen. Er blieb unerbittlich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Ablehnung der UN-Beobachter.»Das ist zur Zeit völlig unmöglich«, wiederholte er immer wieder.Besonders bee<strong>in</strong>druckt war Menon von der Zurückhaltung des ZentralenArbeiterrats, dessen Mitglieder ausnahmslos Nagy-Anhänger waren.Später empfahl Menon dem sowjetischen Außenm<strong>in</strong>ister <strong>in</strong> Moskau, e<strong>in</strong>epolitische Lösung zu suchen – die Werktätigen, Studenten und Intellektuellenstellten e<strong>in</strong>e konstruktive Kraft dar und würden schon für Stabilitätsorgen.ÎÊ Schepilow wies dieses unverzüglich zurück und widersetzte sichvor allem der Vorstellung, daß man Nagy auf die politische Bühnezurückbr<strong>in</strong>gen könne – Nagy habe schließlich den Weißen Terror zugelassen.»Außerdem«, sagte er, »hat unsere Regierung erfahren, daß Nagysogar e<strong>in</strong>mal erwog, sich der NATO anzuschließen.«E<strong>in</strong> bewegender Anblick war es für Menon, als er am 4. Dezember,e<strong>in</strong>en Monat nach der sowjetischen Invasion, Zeuge des schweigenden»Marschs der Mütter« war, der für vormittags 11 Uhr angesetzt wordenwar. Als Gaza Katona am frühen Morgen dieses Tages auf dem Wegenach Wien durch die Stadt fuhr, sah er sowjetische Soldaten durch dieStraßen eilen und Flugblätter verteilen, <strong>in</strong> denen die Frauen aufgefordertwurden, diese »Provokation« zu boykottieren. 30.000 Frauen ignoriertenden sowjetischen Appell. Alle Altersklassen waren bei diesem Marschvertreten. Die meisten waren armselig gekleidet, als sie unter mitgeführtenschwarzen und Nationalfahnen im Schweigemarsch zum Heldenplatzzogen, um das Andenken der Toten des <strong>Aufstand</strong>es zu ehren.ÎÁ Unterihnen waren sogar Frauen hoher Funktionäre: Zeitungsreporter entdecktendie Frau von Kádárs Außenm<strong>in</strong>ister Horváth und sogar Frau Marosán.Auf diese sowie auf andere zurückhaltendere Weise zeigte die e<strong>in</strong>geschüchterteBevölkerung, wie sie wirklich dachte. Fahrgäste des BussesNr. 19 wiesen den Schaffner darauf h<strong>in</strong>, daß es nicht der Engels tér sei,sondern der Erzsébet tér, der Elisabethplatz.ÎË Verständige Schaffnerkündigten weder den Moszkva noch den Woroschilow tér oder den729


Tolbuch<strong>in</strong> körút an – sie riefen wieder die Vorkriegsnamen aus. Am 5.Dezember jagte e<strong>in</strong> Sowjetpanzer fliehende Demonstranten über denBürgersteig vor der amerikanischen Botschaft. Aber nach und nachgewann Kádár die Oberhand, so daß er gegen se<strong>in</strong>e Gegner vorgehenkonnte. Gimes begann, sich öffentlich <strong>in</strong> Budapest sehen zu lassen. Erwurde e<strong>in</strong>geladen, Krischna Menon im Margareten<strong>in</strong>sel-Hotel zubesuchen, aber er wurde anschließend beschattet und kurz danach vor demInnenm<strong>in</strong>isterium festgenommen. Anschließend setzte se<strong>in</strong> SchwagerGábor Magos die Verhandlungen mit den Indern fort.ÎÈNach dem Schweigemarsch wurden noch mehr junge Leutegekidnappt und auf Güterwagen nach dem Osten verschleppt.ÎÍ E<strong>in</strong>Stahlarbeiter sah drei Lastwagen vorbeifahren und hörte unterdrückteRufe wie »Helft uns!« und »Sie br<strong>in</strong>gen uns nach Rußland!« Wie aus demNichts erschienen aber plötzlich bewaffnete Rebellen, die die Reifen desletzten Lastwagens zerschossen, die sowjetische Mannschaft töteten,bevor sie sich wehren konnte, und die jungen Männer befreiten.ÎÎ Am 16.Dezember war der Stahlwerker, der dies berichtete, selbst an der Reihe.Plötzlich tauchten russische Soldaten auf und riefen: »Hey, Magyar!«Harte Fäuste packten ihn und stiegen ihn zusammen mit dreißig anderenauf e<strong>in</strong>en Lastwagen. Sie wurden <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Lager bei Komarom gebracht, woschon 1500 Männer auf ihre Deportation nach Rußland warteten. Die Fraudes Stahlarbeiters und se<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er Sohn würden nie erfahren, was mit ihmgeschehen war. Er hatte schon e<strong>in</strong>mal neun Jahre <strong>in</strong> der Sowjetunionverbracht und verstand Russisch. In e<strong>in</strong>er Nacht hörte er e<strong>in</strong>e Unterhaltungmit, aus der hervorg<strong>in</strong>g, daß der Transport losgehen sollte. Erkroch durch e<strong>in</strong>e Latr<strong>in</strong>engrube, deren Gestank selbst die Russen aufDistanz hielt. Über dieser Grube war der Stacheldraht angebracht. E<strong>in</strong>ernach dem anderen – <strong>in</strong>sgesamt waren es fünfzig Mann – stieg <strong>in</strong> dieseGrube und konnte so <strong>in</strong> die Freiheit flüchten. Er hatte e<strong>in</strong> Klappmesser beisich. Er war bereit, jeden zu töten. Lieber alles andere, als noch e<strong>in</strong>malnach Rußland zurückkehren!Inzwischen wurden die Polizeikräfte des Regimes immer stärker. Am730


5. Dezember löste Kádár die Revolutionskomitees auf und ließ 200Mitglieder der Arbeiterräte verhaften. Viele von ihnen wurden deportiert.Am darauffolgenden Tage wurden die Vorsitzenden der Arbeiterräte derGanz- und MÁVAG-Werke verhaftet. Der Zentrale Arbeiterrat sah e<strong>in</strong>eentscheidende Kraftprobe kommen. Am Morgen des 8. Dezember lud erdie Delegierten zu e<strong>in</strong>er rout<strong>in</strong>emäßigen Abendsitzung e<strong>in</strong>: Bei ihremE<strong>in</strong>treffen wurde ihnen gesagt, sie sollten die Nacht dort verbr<strong>in</strong>gen undsich am nächsten Tage als Nationaler Arbeiterrat neu konstituieren. DieStimmung war schon schlecht genug. Aber gerade als sie endlos darüberdebattierten, ob sie e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>tägigen oder zweitägigen Generalstreikausrufen sollten, kam e<strong>in</strong> Anruf für den Delegierten von Salgótarján, e<strong>in</strong>erschmutzigen Industriestadt im Norden <strong>Ungarn</strong>s. Der Delegierte erfuhr,daß 10.000 Kohlenbergleute dort gegen die Verhaftung der Vorsitzendenihrer Arbeiterräte demonstriert hätten. Kádárs Ordnungskräfte hättendaraufh<strong>in</strong> das Feuer eröffnet und achtzig Menschen getötet.ÎÏ Das reichteden Delegierten. »Wir streiken bis zum Frühl<strong>in</strong>g oder bis die Höllee<strong>in</strong>friert!« rief e<strong>in</strong>er von ihnen. »Laß die Lichter ausgehen. Es darf ke<strong>in</strong>Gas, es darf überhaupt nichts mehr gehen!« rief e<strong>in</strong> anderer. Der ZentraleArbeiterrat beschloß die unverzügliche Ausrufung e<strong>in</strong>es zweitägigenStreiks.Kádár beantwortete diese Aktion mit der Auflösung des ZentralenArbeiterrats. Se<strong>in</strong>e neue Polizei stürmte das Gebäude vor dem Morgengrauenund verhaftete die führenden Mitglieder. Die beiden VorsitzendenRácz und Báli erhielten Zuflucht <strong>in</strong> den Beloiannis-Werken, wo dieArbeiter den sowjetischen Panzern die Herausgabe dieser beiden Männerverweigerten. Der jetzt beg<strong>in</strong>nende Streik bewies e<strong>in</strong>e Solidarität, wieman sie niemals zuvor und niemals danach erlebt hat. Die Regierungversuchte, die Werktätigen zu täuschen, <strong>in</strong>dem sie behauptete, dieEntscheidung des Zentralrates sei ungültig gewesen. Aber das ganze Landignorierte sie. E<strong>in</strong> Bus versuchte loszufahren, kam aber nicht weit. Se<strong>in</strong>eSchaffner<strong>in</strong> berichtete e<strong>in</strong>em Rundfunkreporter: »Beim Máté Zalka térgriffen die Leute uns an . . . Auf unserer ganzen Fahrt durch die Stadtwurden wir beschimpft und bespuckt und schließlich <strong>in</strong>s Depot731


zurückgejagt.«ÎÌ Am Széna tér brachte e<strong>in</strong>e Handgranate e<strong>in</strong>en Bus zumHalten. Karab<strong>in</strong>erfeuer h<strong>in</strong>derte den O-Bus der L<strong>in</strong>ie 75 <strong>in</strong> der Nähe derGanz-Werke an der Weiterfahrt. Drei Tage lang drehte sich <strong>in</strong> ganz<strong>Ungarn</strong> ke<strong>in</strong> Rad, ke<strong>in</strong> Hochofen wurde angestochen. Das Regierungsblatterklärte betroffen: »Noch niemals hat die Arbeiterbewegung e<strong>in</strong>en solchenStreik erlebt!«ÎÓAm 11. Dezember schien János Kádár e<strong>in</strong>lenken zu wollen. Er teilteden Beloiannis-Werken mit, daß er mit den beiden Vorsitzenden desZentralen Arbeiterrates als gleichberechtigten Verhandlungspartnern imParlament zu sprechen wünsche. Im Innern dieses Gebäudes wechselte ere<strong>in</strong> paar Worte mit ihnen, dann trat er beiseite, während sie verhaftet undweggeschleppt wurden. Überlistet, gekidnappt, verhaftet . . . E<strong>in</strong>ige Tagespäter fragten sich Journalisten des kommunistischen ParteiorgansVolksfreiheit verwirrt: »Es ist traurig, aber wahr, daß die Mehrheit desVolkes unseren Versprechungen nicht glaubt.« Dudás, Báli, Rácz und dieverratenen Mitglieder der Delegation von Pál Maléter sowie die Männerder Nagy-Gruppe hätten ihnen sagen können, warum dies so war.732


EpilogZurück von den TotenAN EINEM JANUARTAG des Jahres 1957 kehrte der Polizeisergeant Hajdúnach Budapest zurück und zeigte den Beamten der amerikanischenGesandtschaft se<strong>in</strong>en Hals. Er war von den Russen an die Grenze nachZáhony verschleppt worden und zusammen mit zwei Kameraden an e<strong>in</strong>enBaum gehängt worden. Er war noch am Leben, als Bauern der Umgebungihn abschnitten; er lebt jetzt <strong>in</strong> Texas, se<strong>in</strong> Hals ist für immer von Narbengezeichnet.In gewisser Weise war die Kommunistische Partei <strong>Ungarn</strong>s <strong>in</strong> diesenTagen ebenfalls von den Toten wiederauferstanden – gelyncht, aber dochnoch lebendig. Nachdem se<strong>in</strong>e Macht gefestigt war und se<strong>in</strong>e »Ordnungsmacht«das Land unter scharfer Kontrolle hatte, nahm János Kádár allegroßen Versprechungen zurück, die er dem Volk früher gemacht hatte.Am 13. Dezember 1956 führte die Regierung durch Dekret Nummer 31die Internierung wieder e<strong>in</strong>. Am 15. Januar 1957 drohte e<strong>in</strong> neues Gesetzdie Todesstrafe für Streikende an. Sie galt für diejenigen, die vorsätzlichden Betrieb der öffentlichen Dienste, Wasser, Gas, Elektrizität störtenoder die Tätigkeit von Organisationen beh<strong>in</strong>derten, die von der Regierungals lebensnotwendig für die Allgeme<strong>in</strong>heit erklärt worden waren, fernerfür Personen, die andere dazu anstifteten, dieses Gesetz zu brechen. Am19. März 1957 wurde durch Erlaß Nr. 8130 die Verbannung <strong>in</strong>nerhalb desLandes wiedere<strong>in</strong>geführt.Volksgerichte entstanden, die fast ausschließlich Todesurteile aussprachen:Sie wurden gewöhnlich wenige Stunden später vollstreckt. Am15. Juni 1957 führte Kádárs Regime Beschränkungen bei der freien733


Auswahl von Verteidigern wieder e<strong>in</strong>: »Wenn e<strong>in</strong> Verteidiger benötigtwird, darf er nur unter denjenigen bestellt werden, die vomJustizm<strong>in</strong>isterium für diesen Zweck zugelassen worden s<strong>in</strong>d.« Gefallenedes <strong>Aufstand</strong>s und später h<strong>in</strong>gerichtete Personen g<strong>in</strong>gen ihrer Pensionverlustig. Das war e<strong>in</strong>e Maßnahme, wie sie nicht e<strong>in</strong>mal Rákosi se<strong>in</strong>enFe<strong>in</strong>den gegenüber angewandt hatte. Mit der kurzlebigen Pressefreiheitwar es wieder vorbei. Zwar wurden die Zwangsablieferungen durchfreiwillige Angebote ersetzt, aber es war den Bauern unmöglich, ihreüberschüssigen Produkte jemand anderem als dem Staat zu verkaufen, unddas zu ru<strong>in</strong>ösen offiziellen Preisen. Am 21. Juli 1957 wurden auch dieArbeitsnormen wiedere<strong>in</strong>geführt.ÁZum Teil waren diese Maßnahmen unumgänglich, wenn derKommunismus im Land überleben wollte. Der <strong>Aufstand</strong> und derdarauffolgende Generalstreik hatten die Wirtschaft ru<strong>in</strong>iert. 600 Geschäfteund 20.000 Wohne<strong>in</strong>heiten waren alle<strong>in</strong> <strong>in</strong> Budapest beschädigt und 2217Häuser völlig zerstört worden. »Die Russen kamen als Freunde«, me<strong>in</strong>tendie <strong>Ungarn</strong> ironisch. »Was hätten sie bloß erst gemacht, wenn sie alsFe<strong>in</strong>de gekommen wären!« Die Schäden an den öffentlichen Gebäudenund Museen der Hauptstadt waren beträchtlich. 27 Krankenhäuser und 73Schulen waren schwer beschädigt. Die großen Kaufhäuser lagen <strong>in</strong>Trümmern: Das berühmte Divatcsarnok war durch Feuer zerstört und dasPárizsi Áruház war stark beschädigt.Im November war die Förderung von Kohle, Erdöl, Bauxit sowie dieProduktion von Chemikalien, Gummi und pharmazeutischen Erzeugnissenauf e<strong>in</strong>en Bruchteil gesunken – nur die Nahrungsmittelproduktion erholtesich schnell wieder, wahrsche<strong>in</strong>lich, weil die Bauern bei Beg<strong>in</strong>n des<strong>Aufstand</strong>es zum Glück über die Hälfte der 3900 LandwirtschaftlichenProduktivgenossenschaften aufgelöst hatten. Der ger<strong>in</strong>gste Anlaß genügte,die Bauern zu veranlassen, das gleiche sofort wieder zu tun: E<strong>in</strong> Jahrspäter wurde im Rundfunk e<strong>in</strong> Hörspiel über den <strong>Aufstand</strong> gesendet, unterVerwendung der Orig<strong>in</strong>al-Nachrichtensendungen vom Oktober 1956. ImDorf Ete, e<strong>in</strong>er Ansammlung baufälliger Dächer und Scheunen, diezwischen den Feldern und Wäldern im Komitat Komárom versteckt lagen,734


hörten die Dorfbewohner voller Aufregung und freudiger Erwartung, daßkonterrevolutionäre und faschistische Banditen das Funkhaus <strong>in</strong> Budapeststürmten. Sie sagten sich: Es geht wieder los! Sie lösten eilends ihre LandwirtschaftlicheProduktivgenossenschaft auf, setzten den örtlichen Parteisekretärab und wählten e<strong>in</strong>en neuen Geme<strong>in</strong>derat, bis ihr tragischerIrrtum aufgeklärt wurde.Am schwersten hatte das kle<strong>in</strong>e Land unter dem Verlust vonMenschen zu leiden – die tapferen und gebildeten Männer und Frauen, diedas Gefühl hatten, daß es für sie hier ke<strong>in</strong>e Zukunft mehr gäbe, g<strong>in</strong>genüber die noch offene westliche Grenze. »Das wurde für mich besonders <strong>in</strong>der Weihnachtszeit deutlich«, sagte e<strong>in</strong> Mann, »als ich versuchte, dreime<strong>in</strong>er Freunde anzurufen oder zu besuchen. Sie waren alle verschwunden.«ËIn den westlichen Ländern wurden sie mehr oder weniger begeistertempfangen – man wollte vor allem se<strong>in</strong> eigenes schlechtes Gewissenberuhigen, weil man sonst nichts für die Menschen <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> getan hatte.Bis zum 11. Dezember war die Flüchtl<strong>in</strong>gszahl auf 126.000 gestiegen, unde<strong>in</strong>e Woche später hörte man, daß »Radio Free Europe« die <strong>Ungarn</strong>aufforderte, <strong>in</strong> der Heimat zu bleiben, da ihr Exodus die »Möglichkeitendes Westens überfordere«. Unter den Flüchtl<strong>in</strong>gen befand sich auch derKommandeur von Nagys Nationalgarde, General Király, der sich am 4.November mit se<strong>in</strong>er Truppe <strong>in</strong> Richtung Westen abgesetzt hatte.Abgesehen von e<strong>in</strong>em kurzen Scharmützel e<strong>in</strong>ige Tage später, hatte ernichts für die Verteidigung <strong>Ungarn</strong>s getan, bis er sich selbst und se<strong>in</strong>eNationalgarde am 18. November nach Österreich h<strong>in</strong>überrettete.È GeneralMaléters erste Frau Maria überquerte drei Nächte später zusammen mitdreien ihrer K<strong>in</strong>der die Grenze nach Österreich. Sie hatten sich unter demVerdeck e<strong>in</strong>es Obstwagens versteckt. E<strong>in</strong>e Tochter, die an Grippe erkranktwar, hatte sie zu Hause zurücklassen müssen. Manche K<strong>in</strong>der kamenalle<strong>in</strong> an der Grenze an. Sie trugen Zettel um den Hals: »Bitte sorgen Siefür mich, me<strong>in</strong> Vati ist zurückgegangen, um für <strong>Ungarn</strong> zu kämpfen.«Bevor das Jahr 1956 endete, waren 200.000 <strong>Ungarn</strong> außer Landesgegangen.735


<strong>Ungarn</strong>s Verluste an Menschenleben wurden se<strong>in</strong>erzeit erheblichübertrieben. Am 14. Dezember erklärte Pandit Nehru <strong>in</strong> Neu-Delhi, nachFeststellungen se<strong>in</strong>er Diplomaten <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> Seien 25.000 <strong>Ungarn</strong> und7000 Russen »<strong>in</strong> Budapest getötet worden«. Aber im Januar 1957veröffentlichte das ungarische Statistische Zentralamt e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>stweiligeSchätzung der Verluste, die Mit 2500 bis 3000 Todesopfern (hiervon 1800bis 2000 <strong>in</strong> der Hauptstadt) angegeben wurden. Diese Zahlen enthieltennicht die Verluste der Sowjetarmee.Í Die Angaben stimmen ziemlichgenau mit dem späteren vertraulichen Bericht des Amts übere<strong>in</strong>, der16.700 Verwundete <strong>in</strong> Budapest und 2526 Verwundete <strong>in</strong> anderen Teilendes Landes bis Ende 1950 aufführte, während <strong>in</strong> Budapest 1945 undanderswo 557 Menschen ihr Leben lassen mußten. Die schwerstenVerluste hatte es <strong>in</strong> Budapest im VIII. Bezirk mit se<strong>in</strong>er Corv<strong>in</strong>-Passageund dem Republikplatz (435 Tote) gegeben sowie im IX. Bezirk, wo dieKilián-Kaserne und das Widerstandszentrum unter Führung von IstvánAngyal lagen (234 Tote). In den Prov<strong>in</strong>zen verzeichnete die Statistik ime<strong>in</strong>zelnen fünfzig Tote <strong>in</strong> Mosonmagyaróvár, sechsundvierzig <strong>in</strong>Salgótarján, fünfundzwanzig <strong>in</strong> Miskolc und vierundzwanzig <strong>in</strong>Dunapentele.Î Es besteht ke<strong>in</strong> Grund, diese Zahlen zu bezweifeln.Kádár selbst überlebte und wurde <strong>Ungarn</strong>s großer, alter Mann, dertrotz se<strong>in</strong>er Ergebenheit gegenüber Moskau über se<strong>in</strong>e erbittertsten Fe<strong>in</strong>desiegte. Die meisten se<strong>in</strong>er Gegner s<strong>in</strong>d <strong>in</strong>zwischen tot. Rákosi starb 1971<strong>in</strong> der Sowjetunion. Se<strong>in</strong>e Asche wurde auf e<strong>in</strong>em drittklassigenBudapester Friedhof beigesetzt. General Farkas und se<strong>in</strong> Sohn, derverbrecherische ÁVH-Oberst, wurden 1957 <strong>in</strong>s Gefängnis geworfen, dreiJahre später jedoch amnestiert. Der General arbeitete bis zu se<strong>in</strong>em Tode1965 als Verlagslektor, se<strong>in</strong> Sohn hat heute e<strong>in</strong>e leitende Stelle alsIngenieur. Gerö starb 1980. Ihm wurde lediglich e<strong>in</strong> fünf Zeilen langerNachruf gewidmet. Hegedüs nahm se<strong>in</strong>e akademische Tätigkeit wiederauf und lehrt Soziologie <strong>in</strong> Budapest. Piros ist Leiter e<strong>in</strong>er Salamifabrik <strong>in</strong>Szeged. M<strong>in</strong>dszenty blieb <strong>in</strong> der amerikanischen Botschaft und wohnte imdritten Stock h<strong>in</strong>ter e<strong>in</strong>er Tür mit e<strong>in</strong>em Komb<strong>in</strong>ationsschloß. Er lasZeitungen, rauchte zuweilen e<strong>in</strong>e Zigarre und lauschte den late<strong>in</strong>ischen736


Radiosendungen des Vatikans, die nicht gestört wurden. Die Zahl derTeilnehmer an se<strong>in</strong>er Messe schrumpfte, Mitte Dezember versammeltensich nur noch e<strong>in</strong> halbes Dutzend Leute bei ihm. Fünfzehn Jahre späterverließ er das Gebäude, emigrierte und starb im Mai 1975.Die meisten Revolutionsführer, die während des <strong>Aufstand</strong>es fast denSieg davongetragen hatten, holte der Henker. Tausende wurden e<strong>in</strong>gekerkert,wie Generalmajor Váradi, der zehn Jahre Gefängnis erhielt,weil se<strong>in</strong>e Soldaten <strong>in</strong> Massen übergelaufen waren. Oberst Mécseri,Kommandeur e<strong>in</strong>er Panzerdivision, der zusammen mit Maléter <strong>in</strong> Tökölgefangengenommen worden war, wurde gehenkt, weil er se<strong>in</strong>en Truppenbefohlen hatte, auf die Invasoren zu schießen. Dudás wurde desbewaffneten <strong>Aufstand</strong>es gegen die »gesetzliche Regierung« beschuldigtund zusammen mit »Onkel Szabó« im Januar 1957 gehenkt – auf dieseWeise wurde Nagys Regierung immer noch als »gesetzlich« anerkannt –,e<strong>in</strong> seltsames E<strong>in</strong>geständnis. Der Führer des <strong>Aufstand</strong>es <strong>in</strong> Györ, AttilaSzigethy, verübte im Gefängnis Selbstmord – zuvor hatte er durch Klopfzeichenauf den Heizkörpern nach e<strong>in</strong>em Priester gesucht. Es heißt, derPriester habe ihm auf demselben Wege die Beichte abgenommen.ÏZwei Jahre lang wurden die Verhaftungen und Prozesse fortgesetzt.Am 28. Dezember 1956 identifizierte sich der Schriftstellerverband aufe<strong>in</strong>er Zusammenkunft mit überwältigender Mehrheit (mit 250 gegen achtStimmen) mit dem <strong>Aufstand</strong> und se<strong>in</strong>en Zielen. Die Regierung löste denVerband auf und verhaftete Gyula Háy und vierzehn andere führendeSchriftsteller im Januar 1957. Oberszovsky und Gáli, die zuerst die Wahrheitund dann das Untergrundblatt Wir leben unter den Masch<strong>in</strong>engewehrender russischen Besatzungsmacht herausgegeben hatten,erhielten hohe Haftstrafen. Der Generalstaatsanwalt legte Revision e<strong>in</strong>.Am 20. Juni 1957 wurden beide <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Wiederaufnahmeverfahrenwegen »Konspiration, Mord, fortgesetzter Anstiftung, Verletzung derpersönlichen Freiheit und Verbergens von Waffen« zum Tode verurteilt.E<strong>in</strong> Aufschrei g<strong>in</strong>g durch das Land, doch beide Urteile wurdenvollstreckt.Ì Vier ihrer jungen Kollegen wurden ebenfalls zum Todeverurteilt und sofort gehenkt.Ó Am 13. November erhielt Déry e<strong>in</strong>e737


Haftstrafe von neun Jahren, Háy wurde zu sechs und Zelk zu drei Jahrenverurteilt. Der Panzerzoffizier, Hauptmann Pál<strong>in</strong>kás, der M<strong>in</strong>dszentybefreit hatte und ihn auf ausdrücklichen Befehl der legalen RegierungNagy <strong>in</strong> se<strong>in</strong> Palais zurückgebracht hatte, wurde im Dezember 1957wegen »Aufstellung e<strong>in</strong>es militärischen konterrevolutionären Bataillonssowie wegen Verhaftung von ÁVH-Angehörigen und der Herausgabee<strong>in</strong>es Flugblattes« gehenkt.ÔPéter Erdös g<strong>in</strong>g mit Hilfe e<strong>in</strong>es der fünf jungen ÁVH-Offiziere,denen er nach der furchtbaren Belagerung des Funkhauses das Lebengerettet hatte, <strong>in</strong> den Untergrund. Als Erdös am 8. März 1957 verhaftetwurde, nahm der Offizier aus Protest se<strong>in</strong>en Abschied aus der neuenSicherheitspolizei. Erdös erhielt e<strong>in</strong>e Gefängnisstrafe, es war se<strong>in</strong>e dritteVerurteilung als politischer Gefangener. Er leitet jetzt die Schallplattengesellschaftdes Landes und lebt mit se<strong>in</strong>er sechsten jungen Frau <strong>in</strong> e<strong>in</strong>erruhigen Budapester Seitenstraße. Die meisten der bedeutenderen Überlebendenwohnen auf demselben Hügel <strong>in</strong> Buda – nur wenige hundertMeter vone<strong>in</strong>ander entfernt. Sie haben es nicht gewagt, sich seit ihrerEntlassung aus dem Gefängnis zu treffen, geschweige denn Er<strong>in</strong>nerungenan diese Zeit auszutauschen. György Fazekas, der zehn Jahre Haft erhielt,wurde 1961 entlassen. Er hatte se<strong>in</strong>e Zelle mit Rudolf Földvári geteilt, derden <strong>Aufstand</strong> <strong>in</strong> Miskolc leitete.ÁÊ Oberst Marián, der die Studentendemonstrationenund die -miliz organisiert hatte, war nach Jahren imGefängnis e<strong>in</strong> gebrochener Mann. Er lebt jetzt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>zimmer-Mietwohnung <strong>in</strong> Budapest. General István Kovács, der frühere Kellner,Nagys Generalstabschef, erhielt sechs Jahre. Er war bereit, darüber zureden, wie er und die anderen <strong>in</strong> Tököl überlistet und gekidnappt wordenwaren, aber se<strong>in</strong>e Regierung verweigert ihm die Aussagegenehmigung.Der andere István Kovács, der früher Parteisekretär von Budapest war,weigert sich zu reden: Vielleicht wird er e<strong>in</strong>es Tages den Briefveröffentlichen, den er Chruschtschow im Januar 1957 geschrieben hat.Dreimal leugnete Kádár jegliche Absicht, Nagy verfolgen zu lassen.ÁÁAber es lag nicht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Hand: Nagys Schicksal wurde von derunheiligen Dreie<strong>in</strong>igkeit Moskau/Belgrad/Budapest besiegelt. Im April738


1957, als Moskaus Beziehungen zu Tito auf den Nullpunkt sanken,begann die Kampagne gegen Nagy. Münnich schrieb <strong>in</strong> der Iswestija, daßNagy se<strong>in</strong>en Streitkräften befohlen habe, auf sowjetische Truppen zuschießen. Und dann kam der Tag, an dem der frühere M<strong>in</strong>isterpräsidentRumänien verlassen mußte und nach <strong>Ungarn</strong> zurückgeschickt wurde, woer <strong>in</strong> das berüchtigte Gefängnis <strong>in</strong> der Fö utca <strong>in</strong> Budapest e<strong>in</strong>geliefertwurde. Gimes befand sich bereits dort. Als se<strong>in</strong> Freund Alic Halda ihnbesuchte, hatte er 50 Pfund Gewicht verloren.Unter größter Geheimhaltung begann am 28. Januar 1958 der Prozeßgegen Imre Nagy und se<strong>in</strong>e »Komplizen«. Ankläger war der GeneralstaatsanwaltDr. Géza Szénási. Wenige Tage später beschloß Chruschtschow,Tito wieder zu umwerben, und das Verfahren wurde verschoben.Als Kádár im März auf Nagy angesprochen wurde, erklärte er: »Zu derZeit, <strong>in</strong> der e<strong>in</strong> Nagy-Prozeß s<strong>in</strong>nvoll gewesen wäre, waren wir nicht starkgenug. Nun, da wir stark genug s<strong>in</strong>d, ist der Prozeß nicht mehr s<strong>in</strong>nvoll!«Es muß Ende Mai 1958 gewesen se<strong>in</strong> – denn am 15. Mai versicherteKádár dem ihn besuchenden polnischen KP-Führer Gomulka noch, daßdieses Problem auf unblutige Weise gelöst werde –, als <strong>in</strong> BudapestMoskaus Anweisung e<strong>in</strong>traf: Der Mann sei zu verurteilen und zu hängen.Der zweite Prozeß fand vom 9. bis 15. Juni 1958 vor dem Militärgerichtshofim Fö-utca-Gefängnis statt. Frühere ÁVH-Offiziere, die aufdiese Weise für ihre Rolle während des <strong>Aufstand</strong>es belohnt wurden,fungierten als Beisitzer <strong>in</strong> dem Verfahren. Der Zeugenstand lag <strong>in</strong> e<strong>in</strong>emLichtkegel, so daß die Zeugen nicht <strong>in</strong>s Innere des dunklen Gerichtssaalsblicken konnten. Die Angeklagten Nagy, Tildy, Kopácsi, Gimes,Vásárhelyi und die anderen saßen im Halbdunkel. Der Richter hieß FerencVida. E<strong>in</strong>er se<strong>in</strong>er Beisitzer war die Witwe des KP-Sekretärs Mezö, derauf dem Republikplatz umgebracht worden war. Losonczy war bereits tot,offensichtlich kam er bei dem Versuch e<strong>in</strong>er Zwangsernährung umsLeben. Nagy bemerkte, daß auch der Chef se<strong>in</strong>es Sekretariats, JózsefSzilágyi, fehlte. Szilágyi hatte sich als äußerst unkooperativ erwiesen undsollte deshalb Ende April e<strong>in</strong>en Prozeß für sich alle<strong>in</strong> haben. Er war schonseit sechs Wochen tot, als Nagys Prozeß wiederaufgenommen wurde.739


E<strong>in</strong>mal gelang es Kopácsi, Maléter zu fragen, welches Urteil ererwarte. Maléter fuhr sich mit der Hand um den Hals. Er fügte h<strong>in</strong>zu:»Sándor, du wirst wahrsche<strong>in</strong>lich überleben. Vergiß nicht: Tököl,Sashalom, Gorkij fasor, Fö-utca-Gefängnis!« Am 14. Juni 1958 wurdener, Nagy und Gimes zum Tode verurteilt und am nächsten Tag gehenkt.Kopácsi erhielt lebenslänglich, Donáth zwölf Jahre, Tildy sechs, Jánosiacht und Vásárhelyi fünf Jahre Gefängnis.Später kam das Gerücht auf, Imre Nagy sei auf der Krim gesehenworden – se<strong>in</strong> alter Genosse Kádár habe ihn doch nicht hängen lassen,sondern se<strong>in</strong> Leben auf dieselbe Weise geschont, wie er angeblich Rajk1949 das Leben versprochen hatte, wenn er se<strong>in</strong>e Verbrechen bekennenwürde. Das Todesurteil sei lediglich zum Sche<strong>in</strong> verhängt worden.Nagy hatte sich geweigert, diesen Strohhalm zu ergreifen. Er hatteke<strong>in</strong> Geständnis abgelegt, das war se<strong>in</strong>e größte, unverzeihliche Sünde.Erst im August 1958 erfuhren se<strong>in</strong>e Frau und Tochter, die immer noch <strong>in</strong>Rumänien im Gefängnis saßen, daß er vor Gericht gestellt und zum Todeverurteilt worden sei. Als sie im Dezember 1958 aus Rumänien zurückkehrten,stellte Frau Nagy fest, daß sie enteignet worden war – auch dieseBestimmung war <strong>in</strong> dem Urteil des Volksgerichtes gegen ihren Mannenthalten.Wenige Wochen später erschien e<strong>in</strong> Funktionär des Innenm<strong>in</strong>isteriumsan Frau Nagys Haustür und händigte ihr e<strong>in</strong> braunes Paket aus, das ImreNagys persönliche Sachen enthielt, se<strong>in</strong>en Anzug, se<strong>in</strong>e Smok<strong>in</strong>gjacke,se<strong>in</strong>e Stiefel – er hatte sehr gerne Stiefel getragen –, se<strong>in</strong>e goldeneSchaffhausener Armbanduhr und e<strong>in</strong>en Eher<strong>in</strong>g. Frau Nagy stellte fest,daß es nicht se<strong>in</strong> Eher<strong>in</strong>g war. Auch se<strong>in</strong> Kneifer fehlte.740


DanksagungES IST UNMÖGLICH, alle Menschen namentlich zu nennen, die mir währendder sechs Jahre, die ich an diesem Buch arbeitete, geholfen haben. Inmanchen Fällen wäre es auch politisch unklug. Obgleich e<strong>in</strong>ige derPersonen, die ich <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> befragt habe, die mutige Auffassungvertraten, sie hätten für das Recht, mit mir zu sprechen, durch ihre Haftzeit»im voraus bezahlt«, werde ich dennoch nicht jeden e<strong>in</strong>zelnen Zeugennennen.Ich b<strong>in</strong> jedoch folgenden Personen zu Dank verpflichtet: MiklósVásárhelyi, Ferenc Donáth, Frau Julia Rajk, Péter Erdös, Péter Rényi, demHerausgeber des jetzigen Parteiorgans Népszabadság, Erv<strong>in</strong> Hollós, ElekKarsai vom Ungarischen Nationalarchiv, Dr. András Révész, Péter Hanák,Tamás Nagy, Frau Ferenc Jánosi, György Marosán, Zoltán Vas, Dr.András Hegedüs, Frau Etelka Münnich und dem unvergeßlichen verstorbenenIstván Bibó <strong>in</strong> Budapest; Professor Miklós Molnár <strong>in</strong> Genf; Dr.Péter Gosztony für besondere Unterstützung bei den Informationsquellen;dem verstorbenen Gyula Háy, Ascona; Frigyes Rub<strong>in</strong>, Béla Szász, BélaKurucz, Robert Gati und Bill Lomax <strong>in</strong> England; Dr. István Erdélyi <strong>in</strong>München; Fabrizio Franco <strong>in</strong> Verona; József Kövágó <strong>in</strong> New Jersey; GazaKatona, Virg<strong>in</strong>ia; Béla Király <strong>in</strong> New York; János Bárdi <strong>in</strong> Wetzlar,Sándor Kopácsi <strong>in</strong> Toronto. Unter den Journalisten, die mir geholfenhaben, waren Jeffrey Blyth, Noel Barber, Alberto Cavallari, J. A. G.Nicoll, Astrid Ljungström, Dr. Hans Germani, Dr. Jürgen Rühle, LajosLederer, Paul Mathias, Ilario Fiore, Bruno Tedeschi und der Verleger FritzMolden. Was die praktische Seite betrifft, so wäre es unmöglich gewesen,dieses Geschichtswerk zu schaffen, ohne die Hilfe me<strong>in</strong>er DolmetscherErika László, Susan Gorka sowie Carla Venchiarutti und NicholasReynolds, die e<strong>in</strong>ige der vorbereitenden Interviews durchführten.Außerordentlich hilfsbereit waren die Mitarbeiter der National Ar-741


chives, des State Departments, des Hoover-Instituts für Krieg, Revolutionund Frieden, der Seeley G. Mudd-Manuskript-Bücherei, der Pr<strong>in</strong>cetonUniversity, der Central Intelligence Agency sowie der Bibliotheken derPräsidenten Dwight D. Eisenhower und Frankl<strong>in</strong> D. Roosevelt. Dankbarb<strong>in</strong> ich für den E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> vertrauliche Interviews, den mir an der RutgersUniversity Dr. Richard M. Stephenson und an der Columbia UniversityDr. István Deák gewährt haben, sowie für den Zugang zu persönlichenPapieren beim Dartmouth College, Hanover, New Hampshire, währenddas Institut für Zeitgeschichte <strong>in</strong> München mir se<strong>in</strong>e umfassendeSammlung wenig bekannter Publikationen zur Verfügung stellte.Wie bei me<strong>in</strong>en früheren Büchern, ist die gesamte Dokumentation, mitgewissen Streichungen, von E. P. Microform Ltd., East Ardsley, Yorkshire,auf Mikrofilm aufgezeichnet worden und dort ohne E<strong>in</strong>schränkungverfügbar.742


Anmerkungen1 Der Masch<strong>in</strong>enraum1 Columbia University Oral HistoryProject (CUOHP) [Studie derColumbia University: MündlicheBefragung zur Zeitgeschichte],Interview 526: László Szolnoki,unverheirateter Historiker, »e<strong>in</strong>hoch<strong>in</strong>telligenter Mann«.2 Interview mit Paul Mathias; Paris, Juni1978.2 »Befreiung«1 Imre Nagy, Rede anläßlich derGedenksitzung des Parlaments <strong>in</strong>Debrecen, am 21. Dezember 1954;gesendet im Inlanddienst desBudapester Rundfunks, 21. Dezember1954,17.50 Uhr.2 Matthias Annabr<strong>in</strong>g: DerFreiheitskampf <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> (Stuttgart,Aalen 1957), S. 19ff.3 H54M, e<strong>in</strong>er von zahlreichen <strong>Ungarn</strong>,die von Sachverständigen der CornellUniversity befragt wurden; dieAufzeichnungen bef<strong>in</strong>den sich imArchiv von Dr. Richard M. Stephensonvom Department of Sociology derRutgers University [H = <strong>Ungarn</strong>;Nummer der Befragung; M =männliche, F = weiblicheGewährsperson].4 H35M, e<strong>in</strong> Masch<strong>in</strong>enbau-Ingenieur,der <strong>in</strong> den Politischen Wissenschaftenden akademischen Grad e<strong>in</strong>es Dr. phil.erworben hat.5 H75M, e<strong>in</strong> Journalist der ParteizeitungSzabad Nép [Freies Volk].6 H41F, Frau Bondor, <strong>in</strong>terviewt am 28.März 1957; ihr Ehemann H36M warebenfalls e<strong>in</strong>e Informationsquelle.3 Mátyás Rákosi1 Unter den Papieren von John FosterDulles <strong>in</strong> der Pr<strong>in</strong>ceton Universitybef<strong>in</strong>det sich e<strong>in</strong> Manuskript mit demTitel: What the United States mightlose if the Yalta, Potsdam und otherAgreements were denounced.2 Gyula Háy wurde im August 1974 <strong>in</strong>Ascona, Schweiz, <strong>in</strong>terviewt; sieheauch se<strong>in</strong>e Memoiren Geboren 1900(Hamburg 1971), S. 297.3 H75U.4 Salami-Taktik1 Am 29. Februar 1952 hielt MátyásRákosi e<strong>in</strong>en <strong>in</strong>teressanten Vortrag aufe<strong>in</strong>em Schulungskursus derUngarischen Partei der Werktätigenunter dem Titel »Der Weg unsererVolksdemokratie«. Er wurdeabgedruckt <strong>in</strong> Társadalmi Szemle(Sozialistische Rundschau] (Budapest),Februar-März 1952, S. 114-150. E<strong>in</strong>eenglische Übersetzung bef<strong>in</strong>det sich <strong>in</strong>den Aufzeichnungen von CharlesBohlen, 1942-1952, Box 7, NationalArchives and Records Service (NARS)Wash<strong>in</strong>gton DC, Record Group (RG)59. E<strong>in</strong>e Zusammenfassung ist imInformationsbericht 5882 des StateDepartments enthalten.2 Ibidem.3 József Révai, Artikel <strong>in</strong> TársadalmiSzemle (Budapest), März/April 1949.743


4 CUOHP, 227, Bischof János ÖdönPéterfalvy, griechisch-orthodoxerBischof.5 Magyar Közösség, e<strong>in</strong>eUntergrundorganisation.6 CUOHP, 602, e<strong>in</strong> Politiker derKle<strong>in</strong>landwirte-Partei und Mitglied desParlaments 1945-1946.7 Interviews des Autors mit Béla Szász,e<strong>in</strong>em Studienkameraden von Rajk,London, August 1974 und März 1978,und mit Frau Julia Rajk, Budapest, Mai1980.8 CUOHP, 515, Ernö Farnádi, der unterden Sozialdemokraten von November1945 bis November 1947Bezirkspolizeichef von Györ war.9 MDP, Magyar Dolgozók Pártja [Parteider Ungarischen Werktätigen].5 Der große E<strong>in</strong>fluß1 H74M.2 H71M, Herausgeber von ForradalmiIfjuság [Revolutionäre Jugend], e<strong>in</strong>erZeitung während des <strong>Aufstand</strong>es.3 Jay Schulman, Soziologe, Referat aufe<strong>in</strong>em Sem<strong>in</strong>ar am 12. April 1957.4 CUOHP, 242, József Fazekas,Ingenieur.5 H13M; und CUOHP, 213, Student.6 Auf ungarisch: jó megértök.7 H38M, Papierschneider. Se<strong>in</strong>e Ansichtwurde von H34M, e<strong>in</strong>em jüdischenAnwalt, geteilt, der im März 1957befragt wurde.8 H43M.9 H24M.6 Die Machtübernahme1 General Béla Király: Hungary’s Armyunder the Soviets; <strong>in</strong> East Europe,3/1958, S. 3-14.2 Rede, 29. Februar 1952.3 H74M.4 Rede, 29. Februar 1952.5 Háy, S. 133.6 Interview mit Frigyes Rub<strong>in</strong>, Juni 1978und mit Msgr. Béla Ispánky, Januar1975, der Gábor Péter im Gefängnistraf.7 Verordnung 4353, veröffentlicht <strong>in</strong>Magyar Közlöny [UngarischesAmtsblatt].8 H64M, Lajos Hévizi, Schüler.9 Frederick T. Merrill,Sonderbeauftragter an der US-Gesandtschaft <strong>in</strong> Budapest, vertraulichebiographische Angaben, 22. November1945: »M<strong>in</strong>dszenty, József« (NationalArchives, Wash<strong>in</strong>gton [NARS], RecordGroup 59, Box 28: Aufzeichnungendes persönlichen Bevollmächtigten vonPapst Pius XII).10 Daß sie gefälscht waren, wurde erstspäter durch den Falschmünzerchef derÁVO, László Sulner, enthüllt, der <strong>in</strong>den Westen flüchtete.11 Hoover (amtierender Außenm<strong>in</strong>ister)an Wailes, Fernschreiben 241, 16.November 1956, vgl. World Telegramand Sun (New York), 26. September1955.7 Gequältes Schweigen1 Rede, 29. Februar 1952.2 Imre Nagys Memoiren wurden zuerstam 15. März 1957 <strong>in</strong> England durchLászló Kardos herausgegeben, der sienach eigenen Angaben gerettet hat.Nagy begann mit dem Schreiben imSommer 1955 und hatte im Sommer1956 115.000 Worte fertiggestellt unddann das Dokument Kardos gegeben,um dessen Me<strong>in</strong>ung dazu zu hören,bevor er es dem Zentralkomiteeunterbreitete. Der <strong>Aufstand</strong> kam jedochdazwischen. Nach e<strong>in</strong>er Aussage, die744


e<strong>in</strong> früherer Fahrer der Gesandtschaft,der zweifellos ÁVH-Offizier war, am11. Juni 1957 im Prozeß gegen ImreNagy gemacht hat, hoffte Kardos, die»staatsgefährdenden Schriften« <strong>in</strong> denWesten schaffen zu können; Kardoshatte e<strong>in</strong>en Mann namens Árpád Gönczdazu bewogen, se<strong>in</strong>em Freund, demFahrer, e<strong>in</strong> Abkommen mit Mr. Copevon der britischen Gesandtschaftvorzuschlagen, wonach Kardos gegenRückgabe der Dokumente dieErlaubnis erhalten sollte, das Land zuverlassen. Im Mai 1957 teilte Gönczdem Fahrer mit, daß Kardos verhaftetworden sei. Das Manuskript wurde <strong>in</strong>vier Sprachen veröffentlicht.(E<strong>in</strong>zelheiten siehe <strong>in</strong> derBibliographie.) Es wurde von derungarischen Zeitschrift TársadalmiSzemle am 11. Dezember 1957 alsauthentisch anerkannt. Auszügewurden im Westen veröffentlicht durchEmigrantenzeitungen wie Nemzetör(München) und Irodalmi Ujság(London).3 CUOHP, 483, József Parlagi, jüdischerVersicherungsfachmann; und 458, Dr.György Károlyi, Hauptbuchhalter. DieStatistiken wurden von Edmund O.Stillman, dem Chef der Presse- undInformationsabteilung des Free EuropeCommittee Inc. auf dem SecondSem<strong>in</strong>ar am 6. Juni 1958, S. 54ff,zitiert.4 H54M.5 CUOHP, 608, Professor der Rechte ander Budapester Universität, später(1951) zum Dozenten herabgestuft; und625, Lajos Berät, Professor fürBürgerliches Recht an der UniversitätBudapest.6 In Moskau traf der Autor e<strong>in</strong>en Mann,der e<strong>in</strong>mal zufällig Kádár begegnetwar, als dieser bescheiden undunauffällig <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Schlange <strong>in</strong> e<strong>in</strong>emRestaurant stand. Diese biographischenE<strong>in</strong>zelheiten stammen aus:Népszabadság, 3. März 1957; CurrentBiography, 1957, S. 278ff; New YorkTimes, 26. Oktober 1956; Time, 14.Januar 1957. Der Spiegel, Nr. 34/1955berichtete voreilig, er sei bereits»gehängt«.7 János Kádár, Rede <strong>in</strong> Salgótarján, 5.Februar 1957 (CIA-Akte).8 Auf diesen Ausschnitt <strong>in</strong> der CIA-Akteüber Kádár hat e<strong>in</strong> Analytiker mitBleistift die unangemesseneBemerkung gekritzelt: »Prima! Prima!«9 György Pálóczi-Horváth, Artikel imDaily Herald (London), 11. Dezember1956.10 H75M.8 Prozeß und Irrtum1 Szabad Nép, 19. Juni 1949; undCUOHP, 451, mit Béla Szász.2 CUOHP, 566, mit Lazarus Brankov,e<strong>in</strong>em Serben, der bis 1947Oberstleutnant <strong>in</strong> der jugoslawischenArmee war.3 Warum hat Rajk »gestanden«? Nachneuesten Darstellungen war es Kádár,der ihn dazu überredet hat. Se<strong>in</strong>erzeiterklärte Vilmos Olti, e<strong>in</strong> hoher Richter,Lajos Berät, e<strong>in</strong>em Professor fürBürgerliches Recht an der UniversitätBudapest (CUOHP, 625), daß MihályFarkas Rajk dazu überredet habe, imInteresse des Kommunismus se<strong>in</strong>eSchuld zu gestehen. Rajk habegeglaubt, es sei nur e<strong>in</strong>Sche<strong>in</strong>verfahren, und gerufen: »Siehaben mich here<strong>in</strong>gelegt!«, als er dieWahrheit erfahren hätte. (»Daraufh<strong>in</strong>«,fügte Berät h<strong>in</strong>zu, »wurde Kádárohnmächtig.«)9 Der Weg<strong>in</strong> die Dunkelheit1 Interview mit György Marosán,745


Oktober 1978.2 Háy, S. 276.3 Der Autor erhielt die CIA-Akte überPál Maléter und <strong>in</strong>terviewte Zoltán Vasim September 1979. Näheres überMaléter: siehe Gosztonys Artikel <strong>in</strong>The Review (Brüssel), 1957, S. 8ff, und<strong>in</strong> Problems of Communism,März/April 1966, S. 54ff; Auszüge ausMaléters Personalunterlagen wurdenvon den Kommunisten <strong>in</strong> Szabad Föld[Freier Boden] am 3. März 1957veröffentlicht.4 H74M.5 CIA-Akte. Der Verband derUngarischen Partisanen-Kameradenwar der »Magyar Partizánok BajtársiSzövetsége«.6 Maria Maléter: <strong>Ungarn</strong>s stolzer Rebell<strong>in</strong> Das Beste aus Reader’s Digest, 2,1959.7 H75M.8 CUOHP, 615, István Elias, Leiter e<strong>in</strong>erStaatsfarm <strong>in</strong> Soroksár; und Interviewsmit András Révész und Vilmos Zentai,Budapest, April 1980.9 Siehe Anmerkung 1. 10 Háy, S. 366.11 CUOHP, 602, e<strong>in</strong> früheresParlamentsmitglied der Kle<strong>in</strong>landwirte.12 Interview mit General LajosDálnoki-Veress, London, Dezember1974.10 Der Ste<strong>in</strong>bruch1 CUOHP, 201, Imre Erös; undInterviews mit Béla Szász, London,August 1974, und General LajosDálnoki-Veress, Dezember 1974.2 CUOHP, 551, Zoltán Száray,Volkswirt; und 208, mit Gábor Szarka,e<strong>in</strong>em früheren Volksarmeeoffizier.3 H61M, Dr. Pál Jónás, Studentenführer.4 Ibidem.5 Interview mit Pál Gorka, London,Dezember 1974 und August 1978.6 Sándor Kopácsi: Au nom de la classeouvrière (Paris 1978); und Interviewsmit Kopácsi <strong>in</strong> Toronto, Februar 1979,und mit György Fazekas <strong>in</strong> Budapest,April 1980.7 Nach se<strong>in</strong>er Rückkehr nach Budapestüberprüfte der junge PolizeihauptmannKopácsi die Prozeßakten von 150Männern, die sich über ihrefortdauemde Internierung beschwerthatten, und ließ, so behauptet er, amnächsten Tage durch e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>fachenFederstrich fünfundneunzig von ihnenfrei.8 CUOHP, 406, Diplomlandwirt aus derGegend von Pécs. – Kulak ist imkommunistischen Sprachgebrauch derBauer, der mehr als ca. vierzehn HektarLand besitzt oder über e<strong>in</strong> »Kataster«-E<strong>in</strong>kommen von 350 Goldkronenverfügt oder 1949 landwirtschaftlicheEntwicklungsabgaben entrichtet hatoder fremde Arbeitskräfte beschäftigte– Szabad Nép, Juli 1952.9 CUOHP, 506.10 CUOHP, 237, Maria Novák, Sänger<strong>in</strong>.11 H35M, Kraftfahrzeug-Ingenieur.12 Aussagen von Margit Zsengellér beiBaudy, S. 83ff.13 Háy, S. 312.11 Das Rote Paradies1 H25 F, Mediz<strong>in</strong>student<strong>in</strong>.2 Dr. Richard M. Stephenson: The Roleof Interpersonal Relationships <strong>in</strong>Revolt aga<strong>in</strong>st Totalitarian Power,Manuskript, August 1958.3 György Káldi: Fünflangefahre nachkurzer Freiheit, <strong>in</strong> Stimmen der Zeit,Band 169, S. 134.4 CUOHP, 427, mit Pál Hoványi, e<strong>in</strong>emBehördenangestellten.5 H75M, e<strong>in</strong> führender Parteijournalist746


von Szabad Nép, geboren 1919; er warspäter Mitarbeiter von Dudás’Rebellenzeitung Függetlenség.6 Dr. Pál Kecskeméti, Referat auf demSecond Sem<strong>in</strong>ar, 2. Juni 1958, S. 16.7 CUOHP, 439, mit Ödön Vajda,E<strong>in</strong>kaufsleiter e<strong>in</strong>es staatlichenKrankenhauses.8 H73M.9 Szabad Nép, 18. März, 27. April, 1. Juliund 29. Oktober 1952.10 US State Department,Informationsbericht desNachrichtendienstes, 1. Februar 1955.11 H44M, György Bastomov, undCUOHP, 551, Zoltán Száray.12 CUOHP, 564, anonymer jüdischerFabrikarbeiter.13 CUOHP, 567, Tibor Méray, Journalist.14 CUOHP, 563, Péter Kende, jüdischerJournalist.15 Brief von János Bardi an den Autor,November 1978.16 CUOHP, 152, Sándor Kiss,Vorsitzender der Kle<strong>in</strong>landwirte.17 CUOHP, 505, kommunistischerStudent.18 CUOHP, 455, Arbeiter.19 CUOHP, 155, Csepel-Arbeiter.20 H54M, Csepel-Arbeiter.21 H74M, Budapester Ingenieur.22 H53 M, Jugendlicher aus Csepel.12 Die Tretmühle1 Mrs. Alice D<strong>in</strong>nerman, StellvertretendeDirektor<strong>in</strong> der International ResearchAssociates (New York) auf dem FirstEcology Sem<strong>in</strong>ar am 12. April 1957, S.36ff.2 H75M.3 H30F.4 H42M, Werkzeugmacher.5 H29M, Professor der Chirurgie.6 H44M.7 H42M.8 Magyar Nemzet [Ungarische Nation],30. September 1956.9 Imre Nagy, Memoiren.10 H43M, Fabrikarbeiter.11 CUOHP, 424, József Fazekas,Konstrukteur.12 CUOHP, 404.13 CUOHP, 243; und 508, András SándorJournalist und früherer Funktionär derJugendorganisation DISZ.14 CUOHP, 439, Ödön Vajda.15 Szabad Nép, 29. Juli und 6. September1952.16 CUOHP, 619/II, György Pauly-Pálos,Geologiestudent; sowie 201 und 203.17 CUOHP, 615.18 CUOHP, 405, Student aus demLandwirtschaftsgebiet Kiskun; und616, Miklós Molnár, Herausgeber derIrodalmi Ujság, [Literaturzeitung].19 CUOHP, 243, Diplom<strong>in</strong>genieur FerencReményi.20 CUOHP, 204, anonymer Arbeiter,Ovár; und 406, anonymer Leiter e<strong>in</strong>erTraktorstation <strong>in</strong> Baranya.21 CUOHP, 243.22 CUOHP, 606, mit Dr. Dénes Horváth.23 Szabad Nép, 6. Juli 1952.24 CUOHP, 208, Gábor Szarka,HoteImanager, frühererVolksarmeeoffizier.25 CUOHP, 403, Dezsö Kiss, Schlosser.26 CUOHP, 564.27 CUOHP, 209, Flora Pötz,Fabrikarbeiter<strong>in</strong>.28 CUOHP, 204, Automechaniker.29 Radio Budapest, 25. Januar 1958;CUOHP, 203, 223, 615, 625.30 Lánynak szülni dicsöség, asszonynak747


kötelesség.31 COUHP, 439,Krankenhausangestellter.32 CUOHP, 227, Bischof Péterfalvy.33 CUOHP, 203.34 CUOHP, 427, Pál Hoványi.35 CUOHP, 208.36 CUOHP, 439.37 CUOHP, 506.38 CUOHP, 204.39 CUOHP, 227.13 Onkel Imre1 CUOHP, 567, Tibor Méray.2 Bill Lomax, unveröffentlichtesManuskript; BBC Monitor<strong>in</strong>g report[Bericht des BBC-Abhördienstes],Summary of World Broadcasts, 20. Juli1053.3 Imre Nagy, Memoiren.4 CUOHP, 500, Tamás Aczél,Schriftsteller. Vgl. Tibor Méray:Thirteen Days That Shook the Kreml<strong>in</strong>(London 1957), S. 3-9.5 Imre Nagy, Memoiren.6 Bericht des Zentralkomitees, vorgelegtdurch János Kádár, abgedruckt <strong>in</strong>Népszabadság [Freiheit des Volkes],28. Juni 1957.7 Szabad Nép, 22. Dezember 1954.8 Der dritte Parteitag der ungarischenPartei der Werktätigen dauerte vom 24.bis zum 30. Mai 1954.9 Imre Nagy, Rede auf demParteikongreß, 30. Mai 1954 (CIA-Akte, Imre Nagy).10 Ibidem.11 Der Autor hat ausführliche Auszügeaus den umfangreichen biographischenUnterlagen der CIA über Imre Nagygemacht, <strong>in</strong> denen sich u.a. se<strong>in</strong>e Redenbef<strong>in</strong>den; ferner: The Times, 25.Oktober 1956; sowie Imre PatkösArtikel Az MKP Lista Vezetöi: NagyImre <strong>in</strong> Szabad Nép, 27. August 1947.12 François Fejtó, Monat, November1957.13 Gyula Háy, im Fernsehprogramm desWestdeutschen Rundfunks, 17. Juni1968; und Interview <strong>in</strong> Ascona imAugust 1974.14 Magyar Közlöny, 4. Januar 1945.15 Interview mit Imre Nagys Tochter,Frau Ferenc Jánosi, Budapest, 4.September 1979.16 Imre Nagy, Rede, 29. März 1945, <strong>in</strong>One Decade – The selected Speechesand Writ<strong>in</strong>gs of Comrade Imre Nagy(Budapest 1954); vgl. Szabad Nép, 6.Oktober 1954.17 Szabad Nép, 27. August 1947.18 Imre Nagy, Artikel Kernfrage unsererDorfpolitik: Bündnis mit den mittlerenBauern <strong>in</strong> One Decade (sieheAnmerkung 16).19 Zitiert <strong>in</strong> Hajdús Zeitung Bihari Napló[Bihari Journal], 7. April 1957, und <strong>in</strong>Népszabadság, 9. Mai 1957.20 István Dobi erzählte später <strong>in</strong> e<strong>in</strong>eröffentlichen Ansprache, wie Nagyerbarmungslos die letzten GrammGetreide von den Scheunenböden derBauern wegholen ließ: »In denSitzungen des M<strong>in</strong>isterrates sprach erüber diese Aktion mit e<strong>in</strong>erGleichgültigkeit, daß man vor Wut dieFäuste ballte.« Vásárhelyi sagt jedoch,es sei unangebracht, die Äußerungene<strong>in</strong>es Tr<strong>in</strong>kers über Nagy ernst zunehmen.21 Margit Zsengellér, zitiert bei Baudy, S.116ff.22 Am 31. März 1953 war der größte Teildes bebauten Landes immer noch <strong>in</strong>Privathand (60,8%). Der Rest warsozialisiert: 26% gehörtenProduktionsgenossenschaften und13,2% nahmen Staatsfarmen e<strong>in</strong>.748


23 E<strong>in</strong>e Verordnung vom 8. August 1053stellte sche<strong>in</strong>bar das freieUnternehmertum wieder her. Diescharfen Zulassungsbestimmungen fürvierundsechzig Handwerksberufewurden liberalisiert. DieseLiberalisierung war jedoch sehr enggefaßt – die Zulassungen wurden nurerteilt, wenn nach Ansicht der (völligkommunistischen) Geme<strong>in</strong>deräte diestaatlichen und diegenossenschaftlichen Organisationennicht <strong>in</strong> der Lage waren, den Bedarfausreichend zu befriedigen. Von NagysVersprechen, die Privatwirtschaft auchauf den E<strong>in</strong>zelhandel auszudehnen, hatman niemals wieder etwas gehört.24 CUOHP, 500, Tamás Aczél.25 Zitiert <strong>in</strong> Müvelt Nép [NationaleKultur].26 István Markus <strong>in</strong> Csillag [Stern],September 1956.27 Ungarischer Rundfunk, Inlandsdienst,23. Januar 1954, 19.00 Uhr – e<strong>in</strong>eachtundzwanzig Seiten lange Rede.28 Siehe auch Nagys Rede bei MÁVAG<strong>in</strong> Szabad Nép, 14. November 1954.29 Szabad Nép, 19. Juli 1953.30 US State Department,Informationsbericht desNachrichtendienstes, 1. September1953.31 Das Amt des Generalstaatsanwalteswar bereits <strong>in</strong> der Verfassungvorgesehen, wurde aber sechs Jahrenicht besetzt. Nagy hatte <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Redebehauptet, daß dieses Amt neu sei:se<strong>in</strong>e Regierung »werde e<strong>in</strong>e obersteAnklagebehörde errichten, als e<strong>in</strong>e derwichtigsten verfassungsmäßigenGarantien für die Gesetzlichkeit unddie verfassungsmäßigen Rechte«. DieVerordnung, die dessen Pflichtenfestlegt, wurde offensichtlich als Teildes Gesetzes Nr. 13 <strong>in</strong> Magyar Közlönyam 30. Juli 1053 veröffentlicht. Seitdem 1. Januar hatten westlicheDiplomaten ke<strong>in</strong>en Zugang mehr zudiesem offiziellen Amtsblatt. DerArtikel 13, §1 dieses Gesetzes hattefolgenden Wortlaut: »In Fällen vonSpionage oder anderenstaatsgefährdenden krim<strong>in</strong>ellenAktivitäten werden dieUntersuchungen von derStaatssicherheitsdienstabteilung (ÁVH)des Innenm<strong>in</strong>isteriums geführt.« Dieseswar das erste Anzeichen dafür, daß dieÁVH jetzt diesem M<strong>in</strong>isteriumunterstellt werden sollte. In Szabad Népvom 7. August 1953 wurden se<strong>in</strong>eweitreichenden Befugnisse zurDurchsetzung des Gesetzesbeschrieben. Danach habe er als e<strong>in</strong>eArt von Ombudsman die Rechte derBürger gegen die Exekutive zuschützen. Er habe an Sitzungen desPräsidentschaftsrates und desM<strong>in</strong>isterrates teilzunehmen, währenddie ihm unterstellten örtlichenStaatsanwälte mit umfassendenBefugnissen zur Überprüfung vonPolizeiberichten an denGeme<strong>in</strong>deratsitzungen teilzunehmenhätten.32 Rundfunk, 23. Januar 1954 (sieheAnmerkung 27).33 Sándor Kopácsi, S. 97.34 Interview mit István Bibó, Budapest,Oktober 1978.35 Zitiert im Informationsbericht desNachrichtendienstes, US StateDepartment.14 Mächtigerals das Schwert1 CUOHP, 222, e<strong>in</strong> Oberschüler namensHorváth (»es bedurfte des E<strong>in</strong>greifensder ÁVH, um weitere Demonstrationenzu verh<strong>in</strong>dern«); und Interview desAutors, Béla Kurucz, London, April1978.2 H<strong>in</strong>kle, Referat auf dem Ecology749


Sem<strong>in</strong>ar am 12. April 1957.3 Lór<strong>in</strong>c Vic<strong>in</strong>zei.4 H73M, Abiturient aus Szeged.5 COUHP, 731, Béla Harmatzy-Simon.6 H39F, jüdische Schüler<strong>in</strong>.7 CUOHP, 616, Miklós Molnár.8 CUOHP, 567, Tibor Méray.9 CUOHP, 506, György Faludy.10 CUOHP, 500 Tamás Aczél; KuczkasGedicht Nyirségi Napló erschien aufenglisch bei William Juhász(Herausgeber): Hungarian SocialScience Reader 1945-1963 (New York1965), S. 170ff.11 CUOHP, 565, e<strong>in</strong> Bauer.12 CUOHP, 427, mit Dr. Pál Hoványi,Behördenangestellter.13 H3M, anonymer Student.14 Der Autor <strong>in</strong>terviewte Dr. MiklósVásárhelyi <strong>in</strong> Budapest mehrere Malevon 1977 bis 1980 und war von dessenoffenen und furchtlosen Antwortenbee<strong>in</strong>druckt.15 Interview mit Nagys Tochter, FrauFerenc Jánosi, Budapest, September1979.15 Partei-Jargon1 Imre Nagy, Memoiren.2 Interview mit Professor Miklós Molnár,Genf, April 1979.3 Als Faksimile gedruckt bei Béla Szász:Volunteers for the Gallows (London1971).4 Interview mit Frau Jánosi, Budapest, 4.September 1979 (»Me<strong>in</strong> Vater hat mirdas erzählt«), und Vásárhelyi, April1980. Vásárhelyi war Nagys Pressechefim Parlament und hatte dies direkt vonNagy erfahren.5 US State Department,Informationsbericht desNachrichtendienstes, 1. Februar 1955.6 Szabad Nép, 15 – Juni 1954.7 Szabad Nép, 20. Oktober, SzabadIfjuság [Freie Jugend], und MagyarNemzet, sowie Inlandsdienst von RadioBudapest, 21. Oktober 1954, 11.00Uhr.8 Szabad Nép, 14. November 1954.9 New York Times, 10. März und 27.April 1957.10 H74M.11 CUOHP, 616, Miklós Molnár.12 CUOHP, 500, Tamás Aczél, und 506,György Faludy.13 Kopácsi, Memoiren.14 New York Times, 9. Februar, undWash<strong>in</strong>gton Post, 10. März 1955.15 Die Resolution des Zentralkomiteeswurde im Szabad Nép, bereits am 9.März 1955 abgedruckt.16 Sándor Kopácsi: Maléter Pál végnapjai[Pál Maléters letzte Tage] <strong>in</strong> IrodalmiUjság (London), Mai/Juni 1978, S. 3-4.17 New York Times, 19. und 24. April1955, und Népszabadság, 17. Mai1957.16 Der Mannmit dem Filzhut1 Interview mit Frau Ferenc Jánosi,Budapest, 4. September 1979.2 CUOHP, 731, Béla Harmatzy-Simon.3 CUOHP, 507, Student derWirtschaftswissenschaft.4 CUOHP, 500.5 Interviews mit Professor Molnár; Dr.Péter Rényi (Herausgeber vonNépszabadság), Vetter und engerJugendfreund von Gimes, Budapest,September 1979, und Alic Halda, April1980.6 János Mészáros, op. cit.; und Aussagevon Vásárhelyi, Haraszti, Kopácsi,Balázs Nagy, Gimes und Jánosi <strong>in</strong> Le750


Complot Contre-Révolutionnaire deImre Nagy et de ses Complices(Budapest 1958) [im folgenden zitiertals Procès], S. 22ff und 152ff, sowieInterview mit Vásárhelyi, Oktober1978.7 Interview mit Vásárhelyi und se<strong>in</strong>eAussage im Procès.8 Imre Nagy, Memoiren, zitiert <strong>in</strong>Auszügen <strong>in</strong> New York Times, 11.September 1957.17 Lauf, Hase, lauf1 E<strong>in</strong>ige dieser Photos, die aus dendurchstöberten ÁVH-Akten ausgesuchtwaren, wurden dem Autor von JeffreyBlyth, dem früheren Daily Mail-Korrespondenten, gezeigt.2 CUOHP, 483, József Parlagi, jüdischerVersicherungsfachmann, war unter denZuhörern, konnte aber entkommen.3 Szabad Nép, 17. Februar, 13. April, 25.Juni, 10. Juli 1955.4 US Senat: F<strong>in</strong>al report of the SelectCommittee to Study GovernmentOperations with respect to IntelligenceActivities (Report 94-755), 23. April1976.5 Österreichisches Institut für Markt- undMe<strong>in</strong>ungsforschung, MonatsschriftQuerschnitt der öffentlichen Me<strong>in</strong>ung,27. November 1956. Und RFE PolicyHandbook, Section 4, S. 2, zitiert <strong>in</strong>e<strong>in</strong>er Analyse Radio Free Europe andthe Hungarian Upris<strong>in</strong>g <strong>in</strong> Box 44 derC. D. Jackson papers (EisenhowerLibrary).6 H60F, Gräf<strong>in</strong> Anna Nádasdy.7 H76F.8 Imre Nagy, Rede vor MÁVAG-Arbeitern, <strong>in</strong> Szabad Nép, 14.November 1954.9 Senatsbericht (Anmerkung 4);Interviews mit der Witwe von FrankWisner, Mrs. Polly Clayton Fritchey,28. Oktober 1979, und Dr. FrankWilcox, Wash<strong>in</strong>gton, 10. Mai 1978.10 Dr. Zbigniew Brzez<strong>in</strong>ski: US Policy <strong>in</strong>East Central Europe – a Study <strong>in</strong>Contradiction, S. 60ff; und Artikel vonC. L. Sulzberger, New York Times, 16.Mai 1952.11 Mündliches Interview mit W. A.Harriman, Juli 1966; und E. L. Freers,Mai 1966, beide <strong>in</strong> den Dulles-Papierender Pr<strong>in</strong>ceton University. Freers,Direktor des Office of Eastern Europeaffairs, sagte, »Dulles sei völlig davonüberzeugt gewesen, daß der Gedanke,die kommunistischen Regime vonEuropa zu ermutigen, ihre Bande mitder Sowjetunion zu lockern, anstattBewegungen zu fördern, die dazuneigen würden, diese Regierungen zustürzen, die richtige Politik derVere<strong>in</strong>igten Staaten sei.« HermanPhleger sagte es mit ähnlichen Worten:»John Foster Dulles’ Politik bestanddar<strong>in</strong>, nichts zum permanentenSatellitenstatus der osteuropäischenLänder beizutragen – aber auch nichtszu tun, was Revolutionen ermutigenkönnte.« – (Brief, 18. März 1966).12 Stillman sprach auf e<strong>in</strong>em Sem<strong>in</strong>ar am6. Juni 1958. Das »Free EuropeCommittee« hätte se<strong>in</strong>en Sitz <strong>in</strong> derWest 57th Street <strong>in</strong> New York;Präsident war General Crittenberger,Aufsichtsrats-Vorsitzender Joseph C.Grew. Zu den Akten der »StudyCommission on International RadioBroadcast<strong>in</strong>g« [Studienkommissionüber <strong>in</strong>ternationaleRundfunksendungen], die vonPräsident Richard Nixon am 9. August1972 ernannt worden war, um dieTätigkeit von RFE und andererDienststellen zu untersuchen, sieheNARS, RG 220.13 Senatsbericht, S. 52-53.14 Krishna Menon: The Fly<strong>in</strong>g Troika, S.58-59.751


15 H. F. York: The Debate over theHydrogen Bomb <strong>in</strong> ScientificAmerican, Oktober 1975, S. 111ff; undR. H. Baker: Understand<strong>in</strong>g SovietForeign Policy <strong>in</strong> Royal UnitedServices Institution Journal, März1978, S. 46ff. Die übertriebenenamerikanischen Befürchtungenwährend der Zeit der ungarischenTragödie brachte Präsident Eisenhoweram 9. November 1956 auf e<strong>in</strong>erGeheimsitzung der gesetzgebendenKörperschaften im Weigert Haus zumAusdruck: »Es ist notwendig, daran zuer<strong>in</strong>nern, daß wir im Atomzeitalterleben und daß die Weit e<strong>in</strong>e Lösungf<strong>in</strong>den muß – entweder wir err<strong>in</strong>genden Frieden, oder wir müssen mit derVernichtung rechnen.« (EisenhowerLibrary).16 Theodore Streibert, Direktor der US-Information Agency, Oral History<strong>in</strong>terview, 5. November 1964 (Dullespapers).17 Manuskript im Archiv von Dr. PéterGosztony, Bern.18 CUOHP, 202, Gyula Nagy; undähnlich Nr. 201, Imre Erös, und Nr.203.19 Mrs. Alice D<strong>in</strong>nerman, InternationalResearch Associates (Ecology Sem<strong>in</strong>ar,12. April 1957, S. 36ff).20 Pressekonferenz mit J. F. Dulles,Augusta, Georgia, 2. Dezember 1956,14.30 Uhr (Dulles papers).21 H60F.22 CUOHP, 526, László Szolnoki,Historiker.23 Ibidem.24 CUOHP, 202, Gyula Nagy, Volkswirt.Weitere Informationen: Interview desVerfassers mit Frigyes Rub<strong>in</strong> – e<strong>in</strong>emjüdischen »Klassenfe<strong>in</strong>d«, derungewollt mit der ÁVH <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dungkam – <strong>in</strong> London, 14. Januar 1978.25 Sándor Nógrádi: Történelmi lecke(Budapest 1970), S. 441; PéterGosztony: Aufstände unter dem RotenStern (Bonn 1979), S. 117.26 Nagy, Memoiren.27 Interview mit Professor Molnár, April1979.28 CUOHP, 500, Tamás Aczél; und 567,Tibor Méray, und Interview mitGyörgy Fazekas, Budapest, April 1980.29 Nagy sikoltás az éjszakában.30 Hogy zür legyen.31 Procès, S. 25ff.32 Vasas Székház.33 Háy, S. 318f; Interview mit Vásárhelyi,September 1979.18 Der Teufelskreis1 CUOHP, 559, Ferenc Gaál, Politruk <strong>in</strong>der ungarischen Volksarmee.2 Peer de Silva: Sub Rosa – The CIA andthe Uses of Intelligence (New York1979).3 CUOHP, 226, Veter<strong>in</strong>ärstudent.4 Kopácsi, Memoiren, S. 106f.5 Interview mit György Marosán; undCUOHP, 249, István Szabó, Journalistund Korrespondent von Népszava.6 Soldatic, Interview <strong>in</strong> Vjesnik (Zagreb),28. November 1977.7 CIA-Akte, Imre Nagy, zit. Quelle B.375.8 Interviews mit Vásárhelyi, Juli 1978;und Frau Jánosi, September 1979; undAussagen von Ferenc Jánosi undFerenc Donáth, <strong>in</strong> Procès, S. 34f, undStatement von Tamás Aczél, WDR-Fernsehen, 17. Juni 1968.9 Gyula Háy, WDR (Anmerkung 8).10 Hol szorit a cipö? CUOHP, 210,Musikstudent.11 Interview mit Péter Erdös, Budapest,April 1980.752


12 Aussagen von Nagy, Haraszti, Jánosiund Donáth, <strong>in</strong> Procès, S. 22-23 und32.13 CUOHP, 507, anonym, aktiv bei derGründung des Petöfi-Kreises; undAussagen von Tánczos, Markus,Haraszti und Donáth, Procès, S. 27-28.14 CUOHP, 428, Imre Szabó Nyirádi,früherer Fliegeroffizier.15 CUOHP, 506.16 CUOHP, 615.17 CUOHP, 226, Veter<strong>in</strong>ärstudent ausBudapest.18 Kopácsi, Memoiren, S. 74.19 CUOHP, 500, Aczél; Interview mitGyörgy Fazekas, Budapest, April 1980.François Bondy: <strong>Ungarn</strong>s Augenblickder Freiheit <strong>in</strong> Monat, Dezember 1956.20 Déry, zitiert <strong>in</strong> Procès, S. 29.21 Bourg<strong>in</strong>s Brief ist abgedruckt <strong>in</strong> Lasky:The Hungarian Revolution, S. 32.22 Der Verlauf der Sitzung desZentralkomitees am 17. Juli 1956wurde dem Verfasser von Zoltán Vasgeschildert, der feststellt, daß er dere<strong>in</strong>zige gewesen sei, der Mikojan vone<strong>in</strong>er Ernennung Gerös abriet: »Nachder Sitzung traf ich mit Mikojan imAmtszimmer von Rákosi im erstenStock zusammen, weil wir das Gefühlhatten, daß irgend jemand <strong>in</strong> der Nähedes ›heißen Drahts‹, (direkteTelephonleitung) se<strong>in</strong> sollte.«23 CUOHP, 567, Méray.24 Szabad Nép, 18., 19. und 23. Juli 1956.19 Stimmen erheben sich1 Dies schrieb Balázs Nagy, Sekretär desPetöfi-Kreises, <strong>in</strong> The Review, S. 45.2 In der Nähe von Pécs war Uran vonguter Handelsqualität entdeckt worden:Aufgrund von Erzproben, die e<strong>in</strong>Student der Universität Sopron der USAtomic Energy Commission gelieferthatte, stellte man fest, daß sie 0,78 bis3% Uran enthielten. Seit dem Frühjahrhatten die Russen rund 65 Tonnengefördert; aber es waren gewaltigeErweiterungen geplant: für 25.000Arbeiter wurden Barakken errichtetund außerdem Raff<strong>in</strong>erien gebaut (NewYork Times, 28. Januar 1957).3 CUOHP, 606, Direktor e<strong>in</strong>erlandwirtschaftlichenAbsatzgenossenschaft.4 Lukács hatte se<strong>in</strong>em engen, aber sehrkranken Freund zuliebe sich wie e<strong>in</strong>Vater um Jánossys beide Söhnegekümmert.5 H75M, Journalist.6 CUOHP, 606.7 H62M, Dr. Sándor Kiss.8 Béla Király, Artikel <strong>in</strong> East Europe,6/1958, S. 7. Gömbös warM<strong>in</strong>isterpräsident 1932-1936.9 Interview mit Marosán.10 CIA-Akte über János Kádár.11 Ibidem. Die Berichte derInformationsquellen werden geführtunter: CS 91000, 20. April; CS 94685,6. Juni; TDCS 101817, 23. August1956.12 H36M, Hauptmann Bondor.13 H31F, Frau Bondor.14 Interview mit István Koczak,Wash<strong>in</strong>gton, 26. März 1978. Nur e<strong>in</strong>Jahr zuvor, am 1. Februar 1955, hattedas amerikanische Außenm<strong>in</strong>isterium<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em nachrichtendienstlichenBericht den Schluß gezogen, daß dieÁVH <strong>in</strong> der Lage zu se<strong>in</strong> sche<strong>in</strong>e, dasAufkommen jeglichen organisiertenWiderstandes zu verh<strong>in</strong>dern: »Es s<strong>in</strong>dke<strong>in</strong>erlei Anzeichen für e<strong>in</strong>gelegentliches Nachlassen derpolizeilichen Kontrollenwahrzunehmen.« GelegentlicherWiderstand würde wahrsche<strong>in</strong>lich bisMitte 195ö anwachsen, »aber selbstdann würde er <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er Weise <strong>in</strong> der753


Lage se<strong>in</strong>, die Stabilität des Regimes zuerschüttern«.15 Geheimsitzung der gesetzgebendenKörperschaften im Weißen Haus, 9.November 1956 (Eisenhower Library).16 CUOHP, 201, Student; vgl. 202 und212. Am 1. Februar 1955 wurde <strong>in</strong>e<strong>in</strong>em Bericht des Nachrichtendienstesdes US-Außenm<strong>in</strong>isteriums festgestellt,daß es <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> ke<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong>eOpposition gegen die westdeutscheWiederaufrüstung gebe; beide Länderverfügten über e<strong>in</strong> geme<strong>in</strong>sameswestliches Erbe, und die Deutschenschienen den <strong>Ungarn</strong> das ger<strong>in</strong>gere vonzwei alten Übeln zu se<strong>in</strong>. »Es bestehtkaum Grund zur Annahme, daßirgende<strong>in</strong> nichtkommunistischer Teilder ungarischen Bevölkerung ernstlichetwas dagegen hätte, wenn dieDeutschen ihr Blut für die ungarischeFreiheit vergießen und dadurch denLauf der jüngsten Geschichteumkehren würden. Das Hauptanliegenist die Befreiung und nicht dieSicherheit gegen e<strong>in</strong> Wiederauflebender deutschen Aggression <strong>in</strong>vorhersehbarer Zukunft. Dieentscheidenden Möglichkeiten für e<strong>in</strong>eVerwirklichung der Befreiung werden<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er westlichen Koalition gesehen,und die große Mehrheit der <strong>Ungarn</strong>sche<strong>in</strong>t sich seit e<strong>in</strong>iger Zeit mit demGedanken abgefunden zu haben, daßdie Deutschen zwangsläufig e<strong>in</strong>ersolchen Koalition angehören.«17 CUOHP, 558.18 CUOHP, 243, Ferenc Reményi,Ingenieur.19 CUOHP, 209, Flora Pötz.20 Iván Boldizsár <strong>in</strong>terviewt von VilmosFaragó im ungarischen Fernsehen, 20.November 1977 (veröffentlicht <strong>in</strong>Valóság, 78/4, und New HungarianQuarterly, XX/75, S. 120-133).21 Interview mit István Vajda, Wien,Oktober 1978.22 Interview mit Mátyás Sárközi, London,August 1974.23 CUOHP, 227.24 Szabad Ifjuság [Freie Jugend], dasParteiorgan der DISZ, 25. September1956.25 Irodalmi Ujság, 22. September 1956;vgl. Népszabadság, 17. Mai 1957.26 Procès, S. 37.20 E<strong>in</strong> harter Brocken1 Interview mit Lawrence Davis, Wien;Jeffrey Blyth, New York; May undNoel Barber, London, Juni 1978.2 Interview mit Vásárhelyi.3 Lasky, S. 34f.4 Micunovic, Tagebuch, September1956; und Tito, <strong>in</strong> Borba (Belgrad), 16.November 1956.5 Szabad Nép, 14. Oktober 1956.6 Gyula Háy: Miért nem szeretemKucsera elvtársat? <strong>in</strong> Irodalmi Ujság(Budapest), 6. Oktober 1956; undGeboren 1900, S. 320f.7 Interview mit Dr. Péter Rényi,Budapest, September 1979; er ist jetztChefredakteur des ParteiorgansNépszabadság.8 H61M, Dr. Pál Jónás; und CUOHP,511; Interview mit Frau Julia Rajk,Budapest, April 1980.9 Elmegyünk megnézni hogy nevetteti kimagát a rendszer.10 H71M, Studentenführer, <strong>in</strong>terviewt <strong>in</strong>Oxford.11 CUOHP, 446, Armeeoffizier; undInterview mit Béla Kurucz,Offiziersanwärter der Armee.12 CUOHP, 204, 205 und 5513 Szabad Nép, 6. Oktober 1956.14 CUOHP, 458.15 Interview mit Gaza Katona (politischerAttaché an der US-Gesandtschaft),754


Virg<strong>in</strong>ia, Mai 1978.16 Vgl. auch Micunovic, Tagebuch, 7.September 1956.17 Spencer Barnes an Außenm<strong>in</strong>isterium,Fernschreiben 107, 21. September 1956(US State Department archives).18 Tibor Dénes, Regisseur des KaposvárTheaters, berichtete dies <strong>in</strong> IrodalmiUjság.19 János Berecz: Ellenforradalom tollal ésfegyverrel: 1956 [Konterrevolution mitFeder und Schwert: 1956] (Budapest1956); und CUOHP, 203.20 Lasky, S. 39.21 CUOHP, 563, Péter Kende.22 Interview mit Béla Király, Januar 1974.23 Györ Sopronmegyei Hírlap, 19.Oktober 1956; zitiert <strong>in</strong> Barnes anAußenm<strong>in</strong>isterium, Fernschreiben 151,23. Oktober 1956, 14.00 Uhr. In se<strong>in</strong>enMemoiren schrieb Háy, er habe andiesem Abend zum ersten Maleerkannt, daß sich e<strong>in</strong> Gewitterzusammenbraute.24 CUOHP, 566, Lazarus Brankov.25 H17M, Student der Universität Szeged;vgl. CUOHP, 210.26 Procès, S. 37ff.27 CUOHP, 442, Ferenc Ilosvay, dieAlarmierung der ÁVH-E<strong>in</strong>heiten am18. Oktober wurde von e<strong>in</strong>emMilitärarzt gegenüber dem Arzt undSchwiegervater von Péter Kereszturierwähnt, zitiert <strong>in</strong> Baudy, S. 67.28 Interview mit Kurucz, London, April1978.29 Der Stadtrat hieß Imre Szelepcsényi.30 Ungefähr am 24. Oktober erklärteGomulka <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Interview zu densowjetischen Truppenbewegungen <strong>in</strong>Polen: »Mit unserer Zustimmungwurden bestimmte E<strong>in</strong>heitenaufgeboten, um stattgefundeneVeränderungen zu schützen. Zurgleichen Zeit gab esTruppenbewegungen, von denen wirnichts wußten. E<strong>in</strong>e Partei- undRegierungskommission ist gebildetworden, um dies zu untersuchen unddie Schuldigen zu bestrafen.Chruschtschow hat uns versichert, daßdie sowjetischen Streitkräfte zu ihrenWarschauer-Pakt-Stützpunktenzurückkehren werden.« (KurierSzczec<strong>in</strong>ski, 30. Oktober 1956).31 US-Botschaft, Warschau anAußenm<strong>in</strong>isterium, Fernschreiben 592,2. November 1956; und C. D. Jacksonpapers (Eisenhower Library).32 CUOHP, 425, Endre Rodriguez.33 Péter Kereszturi, zitiert <strong>in</strong> Baudy, S.67.34 CUOHP, 205, Buchhalter.35 CUOHP, 244, Szabolcs Pethes,Lagerverwalter; vgl. 213.36 US State Department, Bericht desNachrichtendienstes, 7545.37 Interview mit General Re<strong>in</strong>hardGehlen, Bayern.38 Interview mit Dr. András Hegedüs,Budapest, April 1980.21 Der große Marsch1 CUCHP, 561, József Blücher,außerordentlicher Professor an derTechnischen Hochschule.2 H13M, außerordentlicher Professor ander Technischen Hochschule, zeigteamerikanischen Vernehmungsbeamtene<strong>in</strong>e vervielfältigte Liste vonfünfundzwanzig Punkten, die von denStudenten vor der Kundgebungaufgestellt worden waren – dieVierzehn Punkte wurden dann unterMithilfe des Schriftstellers PéterKuczka aus dieser Listeherausdestilliert.3 MEFESZ = Magyar Egyetete Misták esFölska lások Szövetsége [Vere<strong>in</strong>igungder Ungarischen Universitäts- und755


Hochschuljugend].4 CUOHP, 205 und andere; SzabadIfjuság, 23. Oktober; und Barnes anAußenm<strong>in</strong>isterium, Telegrammabgeschickt am 23. Oktober, 14.00Uhr.5 Aussage von Professor Pál Szerb<strong>in</strong>,Procès, S. 45.6 Information von Erika Thibault,Grenoble.7 H1M, Mediz<strong>in</strong>student; und Interviewmit György Gömöri, Cambridge, Mai1980.8 Eidesstattliche Erklärung vonLosonczy, veröffentlicht als Faksimile<strong>in</strong> Procès; und Aussage von Gimes,Donáth, Losonczy, S. 41f.9 Aussage von István Markus, Procès, S.40f.10 Radio Free Europe and the HungarianUpris<strong>in</strong>g, Report <strong>in</strong> Box 44, C. D.Jackson papers (Eisenhower Library).11 A párt a mi eszünk, irányitónk esfegyverünk.12 CUOHP, 501, Architekturstudent.13 Etwa zehn Tage zuvor hatte MüveltNép das erste Photo von Nagy seitse<strong>in</strong>er Entlassung, zusammen mit JuliaRajk bei der Trauerfeier, veröffentlicht.14 Aussagen von Ujhelyi, Tóbiás Áron,Frau Péter Jözsa, <strong>in</strong> Procès, S. 45f.H71M erklärte: »Der Petöfikreis schloßsich uns sehr rasch an, denn erbefürchtete, daß er das Vertrauen derJugend verlieren könne.«15 János Gura <strong>in</strong> Magyar Hiradó (Wien),1. Oktober 1979.16 Kopácsi, S. 118.17 György Marosán prahlte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>erspäteren Rede damit, diesen Ratgegeben zu haben (New York Times,31. Juni 1957), und er bestätigte demVerfasser: »Ich habe die Diskussionüber diesen Gegenstand e<strong>in</strong>geleitet. Icherklärte, alle Demonstrationen müßtenverboten werden und daß aufgrunddieser Anordnung die Polizei das Feuereröffnen sollte.« (Interview im Oktober1978).18 CUOHP, 561.19 CUOHP, 563, Péter Kende.20 Interview mit Frau Jánosi, Budapest,September 1979.21 Aussagen von Nagy, Vásárhelyi undJánosi <strong>in</strong> Procès, S. 43.22 Vásárhelyi, Juli 1978.23 Auch aus dem Haus desSchriftstellerverbandes erschien e<strong>in</strong>eDelegation. Miklós Molnár (CUOHP,616) sah, daß die Delegationsmitgliederbei ihrer Rückkehr erschüttert warenvon den brutalen Worten Révais:»Wenn es den ger<strong>in</strong>gsten Ärger gibt,werden wir schießen«, hatte Révaigesagt. Laut Molnár war auch Kádáranwesend und hatte dieselbe aggressiveHaltung.24 CUOHP, 505.25 Interview mit Rényi, September 1979.26 Kopácsi, Memoiren.22 Kritische Masse1 Háy, Geboren 1900, S. 324ff.2 Kopácsi, Memoiren. Vásárhelyiberichtet, daß Fekete e<strong>in</strong> Partei-Apparatschik war, der 1953 zur ÁVHversetzt worden war, um den E<strong>in</strong>flußder Partei im Staatssicherheitsdienstwiederherzustellen. Er war ke<strong>in</strong>Karriereoffizier wie Gábor Péter.3 CUOHP, 408.4 Barnes an Außenm<strong>in</strong>isterium,Telegramm, 23. Oktober, 14.00 Uhr.5 Bericht des ÁVH-Obersten MiklósOrbán <strong>in</strong>: Sólyom & Zele: Harcban azellenforradalommal (Budapest 1957),S. 19ff.6 CUOHP, 505.756


7 CUOHP, 454, Schauspieler TiborMolnár.8 Der Autor hatte Gelegenheit, dieWochenschauen <strong>in</strong> der Sammlung desMünchner Filmproduzenten Dr. IstvánErdélyi zu sehen.9 H71M, Student.10 Parolen, zitiert von CUOHP, 413,Gyula Józsa, Student des Len<strong>in</strong>-Instituts der Budapester Universität.11 CUOHP, 243, Reményi.12 CUOHP, 413.13 CUOHP, 430, József Bál<strong>in</strong>t, Assistentan derTechnischen Hochschule.14 Daily Express (London), 24. Oktober1956; und Interview mit James Nicoll,London, November 1978.15 Interview mit Frau Jánosi, Budapest1979.16 CUOHP, 430.17 H61M, Dr. Jónás.18 CUOHP, 412, Professor IstvánSzabados.19 CUOHP, 561, József Blücher.20 CUOHP, 425, Endre Rodriguez,Filmregisseur.21 Barnes an Außenm<strong>in</strong>isterium,Telegramm, 23. Oktober 1956, 18.00Uhr: »Die Menge hörte Veres mit nursehr ger<strong>in</strong>ger Aufmerksamkeit zu.«22 CUOHP, 413, Gyula Józsa, und 551,Zoltán Száray, Volkswirt; ebenso 458und 505; sowie Sir Leslie Fry: As Luckwould Have it (London 1978).23 Erv<strong>in</strong> Hollós und Vera Lajtai:Köztársaság tér, 1956 (Budapest1974); und Bericht von István Tompa<strong>in</strong> Weißbuch, Band II, S. 79ff. Hollós,e<strong>in</strong> hoher ÁVH-Offizier, war früherführender Funktionär derJugendorganisation DISZ (er standauch <strong>in</strong> Rákosis Telephonverzeichnis!).Nach dem <strong>Aufstand</strong> wurde erverantwortlicher Offizier für dieVerhöre im Fö-utca-Militärgefängnis.Er ist jetzt Lehrer an der BudapesterTH. Es besteht jedoch ke<strong>in</strong>eVeranlassung, die Genauigkeit se<strong>in</strong>erUntersuchung zu bezweifeln.24 CUOHP, 210, Pianist Gyula Kupp.25 Maria Maléter, Er<strong>in</strong>nerungen.26 Dr. L. E. H<strong>in</strong>kle br<strong>in</strong>gt diesesArgument ebenfalls vor, auf demEcology Sem<strong>in</strong>ar, 12. April 1957.27 Dies wurde Dr. Andor Klay vom StateDepartment <strong>in</strong> Camp Kilmer, NewJersey, berichtet; zitiert auf demSecond Ecology Sem<strong>in</strong>ar, 6. Juni23 Nagy riecht Lunte1 Interview mit Fabrizio Franco, Verona,Juli 1978.2 Interview mit Vásárhelyi, September1979.3 Kopácsi, Memoiren, S. 123ff.4 CUOHP, 211, Zoltán Szabó, Busfahrer.5 CUOHP, 501, Student der Architektur.6 CUOHP, 561.7 H1M, Student; und Interview mit Prof.Kosáry, Budapest, April 1980.8 CUOHP, 442, Ilosvay, Journalist.9 Weißbuch, Band II, S. 14, zitiert wird»M.L.« Im allgeme<strong>in</strong>en hat der Autordiese offizielle Publikation über denKampf um das Funkhaus mitentsprechender Zurückhaltungverwendet. Ferner »E<strong>in</strong> Radioostroma«, e<strong>in</strong>e Artikelserie <strong>in</strong>Népszabadság, 22. bis 26. Januar 1957,und Interviews mit Vásárhelyi,September 1979, sowie mit PéterErdös, April 1980. Siehe auchAnmerkung 22.10 Bei den Vorgängen um die Kilián-Kaserne stützt sich der Autor auf se<strong>in</strong>Interview mit Dr. Péter Gosztony <strong>in</strong>Bern am 79. Juni 1978 und dessenDiary, The Kilián Barracks dur<strong>in</strong>g theRevolution <strong>in</strong> The Review, Brüssel,757


3/1961, S. 65ff; e<strong>in</strong>e kommunistischeVersion siehe Szabad Föld, 3. März1957: »Die Legende über Maléter, istzusammengebrochen«; und Procès, S.71ff.11 H11F, Student<strong>in</strong>, befragt am 7. Februar1957.12 CUOHP, 210, Gyula Kupp,Musikstudent.13 CUOHP, 413, Gyula Józsa, Student;und 501. Die Parolen lauteten: »Le avörös csillaggal!«; »Mondjon le akormány!«; »Halljuk Nagy Imrét!«14 Ernö Pongrácz, <strong>in</strong>terviewt vonHungarian Torchlight (New York), 23.Oktober 1964; vgl. Gosztony,<strong>Aufstand</strong>, S. 141ff.15 CUOHP, 244, Student.16 CUOHP, 430.17 CUOHP, 243, Ferenc Reményi, und244, Szabolcs Pethes.18 Interview mit Frau Ferenc Jánosi,Budapest, September 1979.19 Interview mit György Fazekas,Budapest, April 1980.20 Tamás Aczél <strong>in</strong> Life, 18. Februar 1957,und im Fernsehfilm des WDR DieToten kehren wieder, 17. Juni 1968;sowie Interview mit Vásárhelyi,Oktober 1978.21 Bözske Nagy (Frau Jánosi, schildert dieStimmung ihres Vaters, als ergezwungen wird, sich nach unten zubegeben, um vor der Menge zusprechen: »Wir rechneten nicht damit,daß er lange wegbleiben würde. Erwidersetzte sich, als er das erste Malaufgefordert wurde, h<strong>in</strong>unterzugehen,und fuhr fort, se<strong>in</strong>e Abneigung zuzeigen, obgleich sie allmählich zuschw<strong>in</strong>den begann. Er war immer nochbesorgt, als er g<strong>in</strong>g. Die Leute, diegekommen waren, sagten, es sei e<strong>in</strong>egroße Menschenmenge auf dem Platz,die se<strong>in</strong> Ersche<strong>in</strong>en verlangte.«22 Siehe Anmerkung 9; JohnMacCormacs Bericht <strong>in</strong> New YorkTimes, 24. Oktober, und Barnes anAußenm<strong>in</strong>isterium, Fernschreiben 161,26. Oktober 1956, 7.00 Uhr morgens.23 Siehe vor allem Artikelserie <strong>in</strong>Népszabadság: »E<strong>in</strong> Radio ostroma«,veröffentlicht im Januar 1957; sowieInterview, Péter Erdös, Budapest, April1980.24 H24M, Gynäkologe und Geburtshelfer.25 CUOHP, 408, Ildiko Lányi, Schüler<strong>in</strong>;526, László Szolnoki; und 413, GyulaJözsa.26 Auf ungarisch: »Ölik azegyetemistákat!« Das offizielleWeißbuch veröffentlicht folgendeAussage: »H<strong>in</strong>terher erfuhren wir, daßdie Zahl der Demonstranten vor demFunkhaus durch e<strong>in</strong>e großeMenschenmenge verstärkt wurde, dieaufgrund des falschen Gerüchtes, dortwürde auf die Studenten geschossen,dorth<strong>in</strong> geeilt war. An verschiedenenStellen der Stadt zeigten, laut späterenZeugenaussagen, bestimmte Leutescharfe Munition herum undbehaupteten: ›Damit schießen dieÁVO-Mörder!‹ Die Patronen, die sie <strong>in</strong>der Hand hielten, dienten als ›Beweis‹dafür.« Der Autor ist schon – bevor erdiese Aussage gelesen hatte – zuderselben Schlußfolgerung gelangt. DieFrage bleibt jedoch, wer war derProvokateur?27 CUOHP, 408, Lányi: Sie g<strong>in</strong>g dannzum Rundfunk und war Zeuge, als um20.30 Uhr die Schießerei begann.28 CUOHP, 526.29 Nagys Rede wurde dem Autor vonVásárhelyi, Budapest, im Juli undOktober 1978 geschildert, ferner durchIstván Vajda <strong>in</strong> Wien, Oktober 1978,sowie <strong>in</strong> mehreren Berichten überFlüchtl<strong>in</strong>gsbefragungen, z.B. H11F,Student<strong>in</strong>, CUOHP, 243, Reményi,413, Józsa, 408, Lányi; e<strong>in</strong>eauthentische Fassung von Nagys758


Ansprache wurde <strong>in</strong> Álet és Irodalomam 10. Mai 1957 veröffentlicht.30 CUOHP, 229, Student.31 Weißbuch, Band II, S. 16ff, zitiert wird»M.I.«, sowie S. 24ff, zitiert wird»N.N.«.24 Kämpfe <strong>in</strong> e<strong>in</strong>erNebengasse1 Interview mit James Nicoll, London,November 1978.2 CUOHP, 561, Professor LászlóBlücher.3 Interview mit Mátyás Sárközi, August1974.4 Interview mit István Vajda, Wien.5 Dr. Pál Kecskeméti, Referat auf demSecond Sem<strong>in</strong>ar, 6. Juni 1958, S. 17.6 CUOHP, 430, Bál<strong>in</strong>t; sowie Barnes anAußenm<strong>in</strong>isterium, Fernschreiben 161,26. Oktober.7 CUOHP, 551.8 CUOHP, 442, Ferenc Ilosvay,Journalist.9 N.N. sagte aus: »All dieses geschah,ohne daß direkt geschossen oder daßWarnschüsse abgegeben wurden . . . «(Weißbuch, S. 25). Offensichtlich hatteman zu Beg<strong>in</strong>n über die Köpfe derMenge h<strong>in</strong>weggeschossen.10 CUOHP, 229.11 CUOHP, 563, Péter Kende, Journalist.12 CUOHP 500, Tamás Aczél.13 New York Times nimmt an, daß es achtLastwagen waren, im Fernschreibender US-Gesandtschaft wird von »vieroder fünf« Wagen gesprochen.14 Péter Kereszturi, zitiert bei Baudy, S.74. Se<strong>in</strong>e Frau nahm an der Diskussionteil.15 Information von Erika Thibault an denAutor.16 Thibault und CUOHP, 561.17 Auf ungarisch: »Ruszkik hogyhaszaladtok, engem itt ne hagyjatok!«18 CUOHP, 446, Nachrichtenoffizier derVolksarmee.19 CUOHP, 501, Architekt.20 Die eigentliche Belagerung begann lautAussagen der Funkangestellten e<strong>in</strong>igeZeit nach Mitternacht (Lasky, 141). E<strong>in</strong>früherer Luftwaffenmajor (CUOHP,428) hatte zusammen mit se<strong>in</strong>en beidenK<strong>in</strong>dern aus e<strong>in</strong>iger Entfernungzugesehen und berichtete: »Zuerstgaben sie die ÁVH Warnschüsse überdie Menge h<strong>in</strong> ab, aber die Mengezerstreute sich nicht. Dann wurde <strong>in</strong> dieMenge geschossen . . . Dadurchgerieten die Menschen <strong>in</strong> Wut undnahmen der ÁVH und denherumstehenden Soldaten die Waffenab und sagten, wir brauchen sie gegendiese Mörder.«21 Interview mit Kurucz, London, April1978.22 CUOHP, 619/II, György Pauly-Pálos,Geologiestudent.23 CUOHP, 446. Er blickte auf se<strong>in</strong>e Uhrund stellte fest, daß es 21.37 Uhr war,als die Stal<strong>in</strong>statue umkippte.24 H42M, Werkzeugmacher.25 Weißbuch, Band II, S. 12 und 22,Aussagen von »K.I.« und »N.I.«.26 Ibidem, S. 13.27 CUOHP, 501.28 Weißbuch, Band II, S. 46, Aussage desHauptmann »V«.29 CUOHP, 430.30 H49M, Metallschleifer.31 CUOHP, 441, Journalist der Redaktionvon Szabad Müvészet [Freie Kultur].32 H49M. Er erhielt e<strong>in</strong>eMasch<strong>in</strong>enpistole aus dem Waffenlagerder Kilián-Kaserne.33 In CUOHP, 501 bezeugt e<strong>in</strong> junger759


Architekturstudent, daß dieVolksarmee die Menge vor der ÁVHverteidigte, <strong>in</strong>dem sie ihrePanzerspähwagen schützenddazwischenstellte.34 Etwa um diese Zeit erschien derPolitoffizier des Zweiten ÁVH-Garde-Bataillons, Major László Mátya, undg<strong>in</strong>g zum E<strong>in</strong>gangstor, um sich dieForderungen der Demonstrantenanzuhören. Er entschied, daß e<strong>in</strong>eweitere kle<strong>in</strong>e Abordnungh<strong>in</strong>e<strong>in</strong>gelassen werden sollte. Über dieArt, wie er zu Tode gekommen ist, gibtes verschiedene Darstellungen. E<strong>in</strong>Augenzeugenbericht von János Gura <strong>in</strong>Magyar Hiradó (Wien), 1. Oktober1979, besagt, daß Mátya Fehér nache<strong>in</strong>er Ause<strong>in</strong>andersetzung beiseiteschob und Fehér ihn <strong>in</strong> den Bauchschoß. Das offizielle Weißbuch befaßtsich ausführlicher mit dem Tod vonKovács e<strong>in</strong>e Stunde später. ImWeißbuch, Band II, S. 25, heißt eslediglich: »Major Magyar (sic) von derÁVH war der erste, der getötet wurde. . . Irgende<strong>in</strong>er aus der Menge erschoßihn.« Auf der Gedenktafel wird ke<strong>in</strong>Magyar genannt, aber e<strong>in</strong>Oberstleutnant László Mátya Etwa zurselben Zeit war Péter Erdös Zeugee<strong>in</strong>es anderen Vorfalls, der damit zutun haben könnte: E<strong>in</strong> blutbefleckterMann wurde von der Unterführungweggeschleppt. Major Fehér erklärteihm äußerst erregt, daß dieser ÁVH-Offizier draußen gestanden und mit denLeuten gesprochen habe, als er vonirgend jemand aus der Mengeerschossen worden sei.35 CUOHP, 508.36 Radio Kossuth, 31. Oktober 1956. LautZelk (April 1980 <strong>in</strong> Budapest<strong>in</strong>terviewt) gehörten der Abordnungferner an: der Graphiker KálmánCsohány (der früher Bergmann undEisenbahner war) sowie László Kónya.37 Diese zeitliche Darstellung stimmtnicht völlig übere<strong>in</strong> mit der Version,wie sie am 29. Oktober 1956 <strong>in</strong>Egyetemi Ifjuság [Universitätsjugend]geschildert wird: »Die Sowjettruppenwurden am Dienstagabend von AndrásHegedüs herbeigerufen. Er selbst sagtees e<strong>in</strong>er Schriftstellerabordnung, zu derauch László Benjám<strong>in</strong> gehörte. ImreNagy wurde getäuscht und re<strong>in</strong>gelegt.«38 H72M, Studentenführer.39 CUOHP, 505. Zu der kle<strong>in</strong>en Gruppegehörte außer ihm der jüdischeSekretär der JugendorganisationMEFESZ, Ormay, sowie Devecseryund der Schauspieler Imre S<strong>in</strong>kovits.Aczél sowie e<strong>in</strong>ige Funktionäre derDISZ könnten auch dabeigewesen se<strong>in</strong>.40 Interview mit Vásárhelyi, Juli 1978,und mit Fazekas, April 1980. BözskeNagy erzählt dem Verfasser, daß ihrEhemann, Jánosi, nicht an denSitzungen des Zentralkomiteesteilnehmen durfte und an mehrerenaufe<strong>in</strong>anderfolgenden Tagen von ImreNagy getrennt war. »Jánosi versuchte,Kontakt mit der Außenweltaufzunehmen, <strong>in</strong>dem er zum BeispielDéry und Háy anrief sowie mitAbordnungen der Aufständischensprach . . . Losonczy und Donáth warendie e<strong>in</strong>zigen, die mit Imre Nagy <strong>in</strong> derAkadémia utca Kontakt hatten.«25 Wer seid ihr?1 CUOHP, 563, Kende, und InterviewProfessor Kosáry, Budapest, April1980.2 Radio Budapest, 25. Oktober, 8.38Uhr; Weißbuch, S. 13; J. MacCormac,New York Times, 27. Oktober 1956.3 CUOHP, Nr. 505, László Márton, und616, Miklós Molnár.4 Radio Budapest, 25. Oktober.5 Interview mit Rényi, Budapest,September 1979.760


6 CUOHP, 500, Aczél; Kopácsi,Memoiren, S. 141f; sowie Interview,Fazekas, Budapest, April 1980.7 Kopácsi, »An jenem Abend«, erzählteAczél e<strong>in</strong>ige Wochen später se<strong>in</strong>emGesprächspartnern, »hatten wir e<strong>in</strong>egewaltige Ause<strong>in</strong>andersetzung mitKopácsi, Er sagte, dies sei e<strong>in</strong>eKonterrevolution. Als der Morgendämmerte, hatte er alle notwendigenSchritte unternommen, um das Regimedagegen zu verteidigen. WirSchriftsteller schlugen zurück. ›Aufwen wollen Sie schießen lassen – aufdie Arbeiter von Csepel?‹ «8 Interview mit Dr. Zoltán Vas,September 1979, und Hegedüs,Budapest, April 1980.9 H49M.10 H51M, Metallschleifer.11 CUOHP, 563, und Interview mitVásárhelyi.12 Kende <strong>in</strong> CUOHP, 563, gibt e<strong>in</strong>eandere Darstellung: Kende hatte dasGefühl, daß ihre Pflicht als Journalistenvöllig klar sei. Er stand auf: »Kommt,laßt uns gehen!« Aber Vásárhelyi.blickte auf se<strong>in</strong>en eleganten Anzug undzog e<strong>in</strong>e Grimasse: Es war ke<strong>in</strong>Kampfanzug. Kende beschwor sie:»Sie können uns allenfalls erschießen!«Vásárhelyi. erklärte jedoch demVerfasser, daß sie beide, er undLosonczy, um 23 Uhr nach Hausegegangen und dort bis nächsten Mittaggeblieben seien.13 CUOHP, 211, Zoltán Szabó, Busfahrer.14 CUOHP, 244, Szabolcs Pethes,Lagerist.15 CUOHP, 615, István Elias, Gärtner.16 CUOHP, 210, Gyula Kupp.17 Weißbuch, S. 23 und 29.18 Der Oberst der Volksarmee, FerencKonok, war dagegen, das Feuer zueröffnen. Er sagte Frau Benke, er habegerade mit e<strong>in</strong>igen Leuten am Haupttorgesprochen und diese wollten nur, daßman ihre Forderungen über denRundfunk verbreitet. Aber Frau Benkehatte das schon seit vielen Stundengehört und war dessen überdrüssig. DerOberst überredete sie jedoch, und dreiMänner mußten der Menge draußen ihrVersprechen übermitteln, trotz ihrerE<strong>in</strong>wände den vollen Wortlaut imRundfunk senden. E<strong>in</strong> Zeuge sagte:»Ich er<strong>in</strong>nere mich ihrer bleichen undängstlichen Gesichter. Sie erklärten, sieseien nicht <strong>in</strong> der Lage, die Angreiferam Schießen zu h<strong>in</strong>dern, und siekönnten sie auch nicht bee<strong>in</strong>flussen.«(Weißbuch, S. 27). Auch dieser letzteVersuch schlug fehl: die Männerschrien, bis sie heiser wurden, aber nurwenige Leute waren bereit, gerade jetztden Platz zu verlassen.19 Die Aufständischen verloren vier oderfünf Stunden später bei e<strong>in</strong>emGegenangriff der ÁVH die József-Telephonzentrale.20 Erv<strong>in</strong> Hollós: Köztársaság tér, 1956(Budapest 1974).21 CUOHP, 247, Gefreiter Pál Szatmári.22 Er sei überstimmt worden, sagt FerencGaál, Polit-Offizier <strong>in</strong> der Volksarmee.23 Laut CUOHP, 559, habenwahrsche<strong>in</strong>lich Pläne, dasOffizierskorps um 15.000 Mann zureduzieren, zur Unzufriedenheit <strong>in</strong> derVolksarmee beigetragen.24 Interview mit István Gaál, Flieger,September 1974.25 Piszkos csirkefogó fasiszták.26 CUOHP, 446, Nachrichtenexperte derVolksarmee.27 CUOHP, 561, Professor LászlóBlücher.28 CUOHP, 559, Ferenc Gaál.29 John MacCormac <strong>in</strong> New York Times,31. Oktober 1956. Es war nichtüberraschend, daß die Kriegsschülerder Petöfi-Akademie zu den ersten761


gehörten, die e<strong>in</strong>en Soldatenrat gegendas Regime errichteten.30 Gosztony, <strong>Aufstand</strong>, und H26M,Soldat, <strong>in</strong>terviewt am 5. März 1957.31 CUOHP, 505, László Márton,Journalist.32 Interview mit Kurucz, April 1978.26 Große Lüge, kle<strong>in</strong>e Lüge1 H26M.2 CUOHP, 563.3 Aussage von József Balogh und SándorKopácsi <strong>in</strong> Procès.4 Irodalmi Ujság, 2. November 1956.5 CUOHP, 560, Stahlarbeiter<strong>in</strong>.6 Katona, Tagebuch.7 Kopácsi, Memoiren.8 In e<strong>in</strong>em Interview des italienischenJournalisten Dr. Bruno Tedeschi am 1.November 1956.9 Dr. Péter Gosztonys Mitteilung an denVerfasser, Februar 1979; und Interviewdes Autors mit Hegedüs.10 Interview mit György Marosán,Oktober 1978.11 Hegedüs, <strong>in</strong> Quotidien de Paris, 28.Oktober 1976.12 Interview mit Hegedüs, April 1980. Ine<strong>in</strong>er Rede im Juli 1957 brüstete sichMarosán, »Ich war derjenige, der <strong>in</strong> derNacht vom 23. auf den 24. Oktoberverlangte, daß sowjetische Truppene<strong>in</strong>gesetzt werden sollten« (New YorkTimes, 31. Juli 1957), beim Interviewmit dem Autor wiederholt.13 Igazság [Wahrheit], 31. Oktober 1956.14 Aussage von Szilágyi, Procès, S. 87.15 Österreichisches Rundfunk<strong>in</strong>terview,31. Oktober, Lasky: The HungarianUpris<strong>in</strong>g, S. 155f.16 Thomas Schreiber <strong>in</strong> Le Monde (Paris),4. Dezember 1956.17 Kádár, Rede vor dem Parlament, 11.Mai 1957.18 Népszabadság, 17. Mai 1957.19 »Das seltsame ist«, so überlegte Kendeh<strong>in</strong>terher, »daß Imre Nagy währenddieser Tage fast völlig mit se<strong>in</strong>enFreunden gebrochen hatte.« (CUOHP,563)20 »Das Präsidium . . . wählte Nagy zumVorsitzenden des M<strong>in</strong>isterrates <strong>in</strong>voller Übere<strong>in</strong>stimmung mit derVerfassung« (Népszabadság, 10. Mai1957).21 Interview mit Kurucz.22 CUOHP, 561, Professor Blücher.Major Fehér wurde durchAufständische getötet. Darüber, wiedas geschah, gibt es e<strong>in</strong>anderwidersprechende Versionen. JánosGura <strong>in</strong> Magyar Hiradó (Wien), 1.Oktober 1979, behauptet, daß Fehér alsse<strong>in</strong>e Männer sich ergeben wollten,ihnen mit Kriegsgericht gedroht habe.Als er <strong>in</strong> Valéria Benkes Büro trat,habe e<strong>in</strong> kampfesmüder ÁVH-Soldate<strong>in</strong>e Masch<strong>in</strong>ensalve durch die Tür <strong>in</strong>se<strong>in</strong>en Rücken abgegeben. Péter Erdöserzählte jedoch dem Autor, er habegesehen, daß die Tür zum Büro späteroffen und noch heil gewesen sei. Durche<strong>in</strong> Fenster, das <strong>in</strong> den Innenhof führte,sah er, wie e<strong>in</strong> Mann, der Major Fehérsehr ähnlich war, <strong>in</strong> Richtung Garageweggeführt wurde.23 Kopácsi, Memoiren, S. 146f; undCUOHP, 500.27 Neue Gewehre begleichenalte Rechnungen1 Katona, Tagebuch, 22. Oktober 1956,und Interview vom Mai 1978.Fernschreiben 156, Barnes an das US-Außenm<strong>in</strong>isterium, 24. Oktober 1956,13 Uhr.2 István Tollas: Wir kämpften für unsere762


Freiheit (Liestal 1957).3 CUOHP, 231, Béla Harmatzy-Simon.4 H11F.5 CUOHP, 425, Endre Rodriguez.6 H53M.7 George Sherman, <strong>in</strong> The Observer(London), 11. November 1956.8 CUOHP, 211, Zoltán Szabó, Busfahrer.9 CUOHP, 501, Architekturstudent.10 CUOHP, 509, Endre Szabó.11 CUOHP, 559, Ferenc Gaál.12 CUOHP, 241, János Ottó, Chemiker.13 Interview mit L.F., Nott<strong>in</strong>ghamshire,September 1974.14 Hajdús Photos mit se<strong>in</strong>enhandgeschriebenen Bildunterschriftens<strong>in</strong>d im Besitz des Autors. Sie warene<strong>in</strong>em Beamten der US-Gesandtschaftübergeben worden. AndereDarstellungen über diese Schießereien<strong>in</strong> UN-Report, §480, und CUOHP, 247,Gefreiter Pál Szatmári.15 Interview mit Frau Jánosi, Budapest,September 1979.16 UN-Report, §251.17 CUOHP, 616, Molnár.18 Kopácsi, Aussage <strong>in</strong> Procès, S. 56, undMemoiren.19 CUOHP, 508 sowie 563, Kende undInterview mit Donáth, Budapest, Mai1980.20 Aussage von István Márkus, Procès, S.49.21 CUOHP, 563.22 Interview mit Vásárhelyi, Oktober1978.28 Jedermann hat zweiGründe1 Gosztony, <strong>Aufstand</strong>, S. 193ff.2 H53M.3 Erv<strong>in</strong> Hollós, S. 38ff.4 Interview mit Vas, September 1979.5 Hollós.6 CUOHP, 428, Imre Szabó Nyirádi,früherer Luftwaffenoffizier.7 Nikos sagte dies dem Historiker Dr.Lajos Gogolak, der gegenüber derCorv<strong>in</strong>Passage wohnte (CUOHP, 441).8 CUOHP, 222, Schüler.9 Procès, S. 70.10 Berecz: Ellenforradalom tollal esfegyverrel: 1956, S. 99.11 Interview mit Vas.12 George Mikes: The HungarianRevolution (London 1957), S. 91. UndInterview mit Hegedüs, Budapest,April 1980.13 Diese Statistik stammt von e<strong>in</strong>erAufstellung, die die Zuhörer-Analyseabteilung von RFE <strong>in</strong> Münchengemacht hat; 14% der aktiven Kämpfergehörten e<strong>in</strong>er sozialen Schicht an, die»gesellschaftlich-politische Funktionenausübte«, nur 2% warenBüroangestellte, 13% Industriearbeiterund 6% <strong>in</strong> der Landwirtschaft tätigePersonen und 20% gehörten anderensozialen Gruppen e<strong>in</strong>schließlichStudenten an. Von der Gruppe derBüroangestellten waren 82% »<strong>in</strong>aktiv«– sie nahmen nicht e<strong>in</strong>mal annichtkämpferischen Aktivitäten teil;offensichtlich blieben dieBüroangestellten die ganze Zeit ohneWiderstandswillen. Im Gegensatz dazuwaren nur 6% der Intelligenz <strong>in</strong> diesemS<strong>in</strong>ne »<strong>in</strong>aktiv«: Sie begannenfieberhaft, neue politische Parteienaufzustellen, Zeitungen zu drucken undanderweitig ihre Energien <strong>in</strong>unwichtigen, nichtkämpferischenAufgaben zu verzetteln.14 Telephongespräche, <strong>in</strong> den Papierenvon John Foster Dulles, 23.-24.Oktober 1956.15 Hétföi Hírlap [Montagsnachrichten],763


29. Oktober 1956, und Gosztony,<strong>Aufstand</strong>, S. 211.16 CUOHP, 403, Dezsö Kiss,Schlosserlehrl<strong>in</strong>g und Gosztony,<strong>Aufstand</strong>, S. 217.17 CUOHP, 206, Árpád Sultz.18 CUOHP, 231.19 Micunovic, Tagebuch, 15., 23. und 25.Oktober 1956.20 H36M, früherer Soldat.21 E<strong>in</strong> Pole wurde getötet und mehrerewurden verwundet, wie ihrDolmetscher György Lovas berichtete(CUOHP, 207).22 CUOHP, 441.23 H32M.29 Parlamentsplatz1 Dezsö Kosak <strong>in</strong> Franc Tireur (Paris),18. Dezember 1956.2 Ibidem.3 Interview mit Gaza Katona, Virg<strong>in</strong>ia,25. März 1979; er stellte dem Autor diePhotos zur Verfügung.4 Am 25. Oktober war die US-Gesandtschaft <strong>in</strong> der Lage, e<strong>in</strong> längeresFernschreiben nach Wash<strong>in</strong>gton zuübermitteln, um laufend über dieEreignisse zu berichten.5 Interview mit Erdös, Budapest, April1980.6 CUOHP, 500, Aczél.7 CUOHP, 229.8 Auf dem <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Besitzbef<strong>in</strong>dlichem Photo von Hajdú steht:»11 Uhr, übergelaufene russischePanzer auf dem Wege zum Parlament<strong>in</strong> der Bajcsy Zsil<strong>in</strong>szky út.« DerZeitpunkt war laut Fernschreiben derGesandtschaft etwas früher: »Um 10.30Uhr marschierte e<strong>in</strong>e großeMenschenmenge nach Norden an derGesandtschaft vorbei und bewegte sichauf das Parlament zu.«9 Ferenc Reményi, 37 (CUOHP, 243).Die Parole lautete: »Nem vagyunk mifasisztäk – munkások vagyunk!«10 E<strong>in</strong> außerordentlicher Professor derTH, 561, schilderte es später so: »BeimNationalmuseum wechselten achtrussische Panzer zu den Rebellen über;drei oder vier . . . begleiteten dieMarschierenden, als diese auf den Platzströmten.«11 Interview mit Dr. Péter Hanák,Budapest, September 1979.12 Leslie Ba<strong>in</strong> <strong>in</strong> Wash<strong>in</strong>gton Even<strong>in</strong>gStar, 31. Oktober 1956.13 Interview mit Hegedüs, April 1980.14 UN-Report, §254.15 Interview mit Vásárhelyi, Oktober1978.16 New York Times, 24. Oktober 1956.17 Am Morgen des 25. Oktober gelang esder Budapester Gesandtschaft, e<strong>in</strong>edirekte Verb<strong>in</strong>dung zum StateDepartment durchzuschalten, und von6.30 Uhr bis 17.03 Uhr Budapester Zeithielt e<strong>in</strong>e dramatische Fernschreib-»Unterhaltung« die Verb<strong>in</strong>dungaufrecht. E<strong>in</strong>e Kopie wurde sofort anPräsident Eisenhower geschickt undbef<strong>in</strong>det sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Akten; e<strong>in</strong>eandere Kopie liegt <strong>in</strong> denAufzeichnungen des State Department.18 CUOHP, 243.19 Katona, Tagebuch, 25. Oktober 1956,und Interview Mai 1978.20 CUOHP, 413, Gyula Józsa, Student,und Endre Marton.21 CUOHP, 561, außerordentlicherProfessor an der TechnischenHochschule, und 205.22 Endre Martons AP-Meldung vom 25.und 26. Oktober; New York Times, 27.Oktober 1956.23 Der Bericht des britischen Beamtenwird im UN-Report, §482, erwähnt, <strong>in</strong>764


dem die Zahl der Getöteten auf »300bis 800« geschätzt wird. Dasungarische Statistische Zentralamt führt<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em vertraulichen Bericht nur 106(identifizierte) Tote im V. Bezirk auf,<strong>in</strong> dem sich der Parlamentsplatzbef<strong>in</strong>det, so daß diese Zahl alsHöchstgrenze für diesen Vorfallangesehen werden muß.24 Kopácsi schildert, wie er e<strong>in</strong>en Anrufvon e<strong>in</strong>em weiblichen Polizeileutnantaus e<strong>in</strong>em Revier <strong>in</strong> der Nähe desParlamentsplatzes erhielt: E<strong>in</strong> ÁVH-Leutnant, dessen Befehl die MG-Stellungen auf den Dächernunterstanden, war gerade nach obengerannt und hatte gerufen, daß der Mobihm so nicht davonkommen Werde;drei M<strong>in</strong>uten später rief sie wieder anund meldete die Schießerei. Kopácsi istdie e<strong>in</strong>zige Quelle für diesen effektivenBeweis der Verantwortung der ÁVH.25 Hanák erzählte mir diese ganzeEpisode im September 1979 <strong>in</strong>Budapest. 1956 zitierte der HistorikerLászló Szolnoki (CUOHP, 526) Hanákmit folgenden Worten, die er derGruppe gesagt habe: »Die e<strong>in</strong>zigeLösung dieser Krise besteht dar<strong>in</strong>, dieÁVH aufzulösen, das MG-Feuer zustoppen und freie Wahlen abzuhalten.«E<strong>in</strong>wände wurden laut: »Wie absurd!«Und als Hanák von freien Wahlensprach, hörte man empörte Rufe: »Dasist absolute Konterrevolution – wassonst!« Nagy trat dann zu den anderenund verkündete: »Genossen, das allesist weit davon entfernt, so e<strong>in</strong>fach zuse<strong>in</strong>.« Tóths versehentlicheErschießung durch Wachen desParteihauptquartiers wurde später denRebellen <strong>in</strong> die Schuhe geschoben, under wurde so etwas wie e<strong>in</strong> Märtyrer imkommunistischen <strong>Ungarn</strong>. Se<strong>in</strong>ekonfusen Kollegen von derPhilosophischen Fakultät nahmen demToten alle Wertsachen ab, um sie derWitwe zurückzugeben, mit dem Erfolg,daß die Leiche nicht mehr identifiziertwerden konnte und sie und HanákHunderte von Opfern auf e<strong>in</strong>emFriedhof sichten mußten, um ihm e<strong>in</strong>anständiges Begräbnis zu sichern.26 CUOHP, 205, Zsigmond Varga,Buchhalter.27 CUOHP, 615.30 Der Polizist auf demSperrholzstuhl1 H35M, Ingenieur.2 Imre F. Joos <strong>in</strong> Hétföi Hírlap, 29.Oktober.3 CUOHP, 430.4 CUOHP, 277, Bischof János ÖdönPéterfalvy und 615, Elias, Gärtner.5 CUOHP, 439, Ödön Vajda,Verkaufsleiter.6 Lajos Csiba, Sendung desWestdeutschen Rundfunks: Die Totenkehren Wieder, 17. Juni 1968; undInterview mit Péter Gosztony im selbenProgramm.7 Erklärung Maléters vom 2. November1956 und Aussagen von János Mecséri,Vladimir Madarász und János Tari,Procès, S. 72-73.8 Imre Nagy zitierte Len<strong>in</strong>s Worte <strong>in</strong>e<strong>in</strong>er Rede im Juni 1954.9 Szabad Föld, 3. März 1957. Dies wirdauch gestützt durch die Aussage vonHauptmann Madarász.10 Aussage von Tari, Procès, S. 73.11 Herman Phleger: Mündliches Interviewam 21. Juli 1064 (Pr<strong>in</strong>ceton University)und Brief an James McCargar, 18.März 1966; und EisenhowersBemerkungen auf e<strong>in</strong>erZweiparteiensitzung dergesetzgebenden Versammlung, 9.November 1956 (Eisenhower Library).12 C. D. Jackson on Hon. Walt W.Rostow, 28. September 1962765


(Eisenhower Library, Jackson papers,Box 57).13 Conor Cruise O’Brien,Buchbesprechung: Discreet Biographyof a Smil<strong>in</strong>g Man <strong>in</strong> Wash<strong>in</strong>gton Post,4. Februar 1973.14 Barnes an Außenm<strong>in</strong>isterium,Fernschreiben 157, 24. Oktober, 15Uhr, aufgenommen <strong>in</strong> Wash<strong>in</strong>gton amnächsten Morgen; New York Times, 26.Oktober.15 Telephonische Notizen <strong>in</strong> John FosterDulles Papieren, Eisenhower Libraryund Eisenhower Tagebücher, Box 18,Oktober 1956, Ferngespräche.16 Henry Cabot Lodge, jr., an US-Außenm<strong>in</strong>isterium, Fernschreiben 403,19.00 Uhr, 25. Oktober, und Schreibenan C. D. Jackson, 4. März 1957(Eisenhower Library). Dulles anBotschaften <strong>in</strong> London, etc. und anLodge, 19-30 Uhr, 25. Oktober 1956,und mündliches Interview mit Wiley T.Buchanan, jr., Protokollchef des StateDepartment, 1,5. Juni 1966 (Pr<strong>in</strong>cetonUniversity): Er war nicht mit Dulles’Politik e<strong>in</strong>verstanden, ke<strong>in</strong>e Schrittezur Unterstützung der <strong>Ungarn</strong> zuunternehmen. »Ich glaubte damalsnicht und war noch sicherer, nachdemich zwei Wochen zusammen mitChruschtschow gereist war, daß siejemals bombardieren würden . . . Siewissen, daß die Gefahr e<strong>in</strong>esBombenabwurfes jedermann <strong>in</strong>höchstem Maße beschäftigte.«17 TASS-Meldung, Budapest 24. Oktober;und David J. Dall<strong>in</strong>: SowjetischeAußenpolitik nach Stal<strong>in</strong>s Tod (Köln1962).18 Charles Bohlen an Außenm<strong>in</strong>isterium,Fernschreiben 439, Moskau 25.Oktober.19 CUOHP, 211.20 Interview mit Kurucz, London, April1978.21 Ernst Halper<strong>in</strong>.22 Bruno Tedeschi <strong>in</strong> Il Giornale d’Italia,18. November 1956.23 H70M.24 Manchester Guardian, 27. Oktober1956.25 Neuer Kurier (Wien), 26. Oktober1956.26 Me<strong>in</strong> Bericht über die Belagerung vonKopácsis Polizeipräsidium beruht aufInterviews mit Fazekas <strong>in</strong> Budapest imMai 1980 und mit Kopácsi <strong>in</strong> Torontoim Mai 1979; sowie auf se<strong>in</strong>enMemoiren und der Aussage vonVilmos Oláh, Procès, S. 54.27 BBC Monitor<strong>in</strong>g Report. Lasky <strong>in</strong> TheHungarian Revolution gibt denauthentischen Text mit demfürchterlichen marxistischen Jargonwieder, den die Anthologie von RFEdieser Rundfunksendungentaktvollerweise wegläßt! Späterbehauptete George Mikes <strong>in</strong> TheHungarian Revolution (London 1957)aufgrund von <strong>in</strong>ternen Informationen,daß Nagy von Suslow und Mikojanverboten worden sei, Gerö <strong>in</strong> dieserRede für das Herbeirufen derSowjettruppen verantwortlich zumachen. Mikes weist darauf h<strong>in</strong>, daßzwei russische Offiziere, »beide Händetief <strong>in</strong> den Hosentaschen«, drohendh<strong>in</strong>ter Nagy standen, als er se<strong>in</strong>eRundfunkrede hielt. Diese Darstellungist schwer <strong>in</strong> E<strong>in</strong>klang zu br<strong>in</strong>gen mitder Schilderung, die Hanák gegebenhat, wonach Nagy zu dieser Stunde desTages Herr der Situation gewesen sei.28 John MacCormac, New York Times, 27.Oktober; Gordon Shepard, DailyTelegraph, 27. Oktober; Text desFlugblattes im Fernschreiben 161 vonBarnes ans Außenm<strong>in</strong>isterium, 26.Oktober, 7.00 Uhr morgens, und TheTimes, 27. Oktober.29 Barnes an Außenm<strong>in</strong>isterium,Fernschreiben 161, 26. Oktober, 7.00766


Uhr; und H60F, Gräf<strong>in</strong> Anne Nádasdy.31 Die Dämme brechen1 Dr. George Devereux, Interview mitH42M am 4. April, 1957 (<strong>in</strong> Rutgers).2 Gosztony, <strong>Aufstand</strong>, S. 213ff.3 Ernö Farnadi (515).4 CUOHP, 221, Student aus Györ.5 Adolph Rasten, <strong>in</strong> Politiken(Kopenhagen), 29. Oktober 1956.6 UN-Report, §85; The Times, 29.Oktober 1956.7 Tedeschi <strong>in</strong> Il Giornale d’Italia (Rom),30. Oktober, gibt die Zahl mitzweiundachtzig an. Dom<strong>in</strong>iqueAuclères <strong>in</strong> Le Figaro, 29. Oktober1956, schrieb von fünfzig Leichen, dieer <strong>in</strong> Särgen gesehen habe, sowie vonsiebenundzwanzig, die aus dembenachbarten Dorf waren. Der UN-Report (§497) berichtet, daß 101Personen getötet wurden. DerKorrespondent der Times, zählte elfTote <strong>in</strong> der Leichenhalle und zwanzigan anderer Stelle, aber nahm an, daß»rund achtzig« getötet worden seien.Noel Barber berichtete <strong>in</strong> Daily Mailam 23. Oktober 1957, daß er und se<strong>in</strong>Assistent Dénes Horváthzweiundzwanzig zählten. Die Zahl derOpfer während des <strong>Aufstand</strong>es <strong>in</strong>Magyaróvár betrug <strong>in</strong>sgesamt fünfziglaut Bericht des StatistischenZentralamtes. Diese Zahlen stimmtenmit den Schätzungen von Flora Pötzübere<strong>in</strong>, wonach vierzig getötet undrund 150 Personen verletzt wurden.8 Laut Ernö Farnadi (CUOHP, 515)wurde Földes von der ÁVHzusammengeschlagen und dann von derMenge be<strong>in</strong>ahe gelyncht, weil erversuchte, die ÁVH zu schützen: »Erkam mit e<strong>in</strong>em blauen Auge nach Györzurück, aber er war zufrieden, weil erse<strong>in</strong>e Pflicht getan hatte.« Die NewYork Times, berichtete am 26. Mai1957, daß Földes gehenkt worden sei,weil er den Angriff auf das ÁVH-Hauptquartier <strong>in</strong> Györ geleitet habe.9 CUOHP, 209, Flora Pötz,Elektrotechniker<strong>in</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er örtlichenFabrik.10 CUOHP, Nr. 204, Fabrikarbeiter.11 Barnes an Außenm<strong>in</strong>isterium,Fernschreiben 162, 165 und 167, 26.Oktober 1956.12 Kádár erklärte später zu diesenAuse<strong>in</strong>andersetzungen: »Auf derSitzung des Zentralkomites am 26.Oktober verlangten die Anhänger vonImre Nagy, daß alle diese Geschehnisseals e<strong>in</strong>e nationaldemokratischeBewegung anerkannt würden. DasZentralkomitee lehnte diese Forderungab.« (Rede, Juni 1957 <strong>in</strong>Vsevengerskaya konferentsia . . . etc.)13 Népszabadság, 17. Mai 1957.14 Interview mit Donáth, Budapest, Mai1980.15 CUOHP, 406.16 CUOHP, 525, László Palkovics,Tischler.17 Hétföi Hírlap, 29. Oktober 1956,Artikel »Revolutionäres Land – vomDienstag abend bis Freitag abend«18 CUOHP, 301, Ferenc Mikes, Priester.19 Zitiert <strong>in</strong> Neue Züricher Zeitung, 29.Januar 1957; der UN-Report besagt,daß zwei Personen bei denSchießereien <strong>in</strong> Debrecen getötetworden seien.20 E<strong>in</strong>er von ihnen war »Dr. Hardy«,Biochemiker der Universitätskl<strong>in</strong>ik vonPécs (CUOHP, 517).21 CUOHP, 517.22 H56M, e<strong>in</strong> Mitglied desRevolutionsrates von Kecskemét.23 Árpád Sultz, katholischerTheologiestudent, befragt im Juni 1957<strong>in</strong> Feldaf<strong>in</strong>g (CUOHP, 206); dieInterviewer waren durch weitere767


phantastische Bestandteile se<strong>in</strong>erErzählung verwirrt, aber soweit sie <strong>in</strong>den vorliegenden Akten nachgeprüftwerden konnten, stellten sie sich alsglaubwürdig heraus. E<strong>in</strong>e nochphantasievollere Darstellung derKämpfe <strong>in</strong> Miskolc ist <strong>in</strong> Új Hungária,[Neues <strong>Ungarn</strong>], zu f<strong>in</strong>den, 14.Dezember 1956.24 Népszabadság brachte am 14. April1957 e<strong>in</strong>en Artikel über die Verfolgungder ÁVH-Offiziere, und UN-Report,§497.25 CUOHP, 430, Bál<strong>in</strong>t.26 CUOHP, 505, László Márton,Journalist, und 508, sowie Interviewmit János Bárdi, Wetzlar, 3. Juli 1978.27 Sender Freies Miskolc,Rundfunksendungen, 26. Oktober,10.00 Uhr; sowie Radio Budapest,13.00 Uhr (vgl. Lasky, S. 90f).28 Radio Budapest, 26. Oktober, 16.45Uhr und 21.00 Uhr; vgl. Victor Zorza,Manchester Guardian, 26. Oktober.29 CUOHP, 560, Csepel-Fabrikarbeiter<strong>in</strong>;und Magyar Ifjuság [UngarischeJugend] (Budapest), 7. September1957.30 CUOHP, 560.31 Weißbuch, Band II, S. 153-154; undCUOHP, 560.32 Weißbuch, Band II, S. 159-162; dasPhoto bef<strong>in</strong>det sich jetzt auf MünnichsSchreibtisch.33 CUOHP, 204.34 Ferenc Töke: Experiences withWorkers’ Councils dur<strong>in</strong>g theHungarian Revolution <strong>in</strong> The Review,S. 74-88; und Népszava (London) 1.Oktober 1961.35 Radio Budapest, 26. Oktober, 16.45Uhr.36 Radio Budapest, 26. Oktober, 20.45Uhr.37 CUOHP, 231.38 Gosztony, Tagebuch.39 Maria Maléter: <strong>Ungarn</strong>s stolzer Rebell<strong>in</strong> Das Beste aus Reader’s Digest,Februar 1959.32 Geteilte Schuld1 Batow wurde im April 1978 vomVerfasser <strong>in</strong> Moskau <strong>in</strong>terviewt.2 Interview mit Wassily R. Sitnikow,Moskau, April 1978.3 Ilario Fiore, Tagebuch auf Notizzettelnder Legazione d’Italia, Budapest, 25.-26. Oktober 1956.4 CUOHP, 213, Student.5 CUOHP, 207, Dolmetscher GyörgyLovas.6 »Az orosz vajban es prézliben sütve isorosz marad!«7 E<strong>in</strong> Dolmetscher namens Szegedi, derden sowjetischen Streitkräften zugeteiltwar, erzählte dies 1957 demJournalisten István Vajda (Interview,Wien, 25. Oktober 1978).8 CUOHP, 231.9 Peer de Silva: Sub Rosa, S. 128-129;typische Presseübertreibungen sieheExpressen (Stockholm), 4. November1956.10 Barnes an Außenm<strong>in</strong>isterium,Fernschreiben 168, 27. Oktober, 11.00Uhr.11 Ibidem.12 Konferenzprotokoll des NationalenSicherheitsrates (NSC) auf se<strong>in</strong>er 301.Sitzung am 26. Oktober 1956(Eisenhower Library); und Allen W.Dulles, mündlich mitgeteilt, 3. Juni1965 (Pr<strong>in</strong>ceton University).13 Aufzeichnungen derTelephongespräche von Eisenhowerund Dulles bef<strong>in</strong>den sich <strong>in</strong>Eisenhowers Tagebuch sowie <strong>in</strong> denDulles- und Dulles-Herter-Papieren(Eisenhower Library).768


14 CUOHP, 407.15 Bill Lomax, Manuskript, er zitiertBerecz, S. 86-90.16 H24M.17 CUOHP, 212.18 Das Todesurteil über Dudás und Szabówurde am 15. Januar 1957 gesprochen(New York Times, 20. Januar 1957);Dudás siehe auch die Ausgabe vom 31.Dezember 1956 und R. Bányás: Dudásfejvadásza<strong>in</strong>ak nyomában [Dudás’Aktivitäten während der Revolution] <strong>in</strong>Népakarat [Volkswille] (Budapest),Nr. 76, 81 und 83, 1957.19 Baudy: Jeunesse d’Octobre, S. 383.20 CUOHP, 442, Ilosvay. Er lebt jetzt alsFranz Ilosvay <strong>in</strong> Wien.21 CUOHP, 500, Aczél.22 Das Weißbuch, das nach Dudás’H<strong>in</strong>richtung veröffentlicht wurde,behauptet, daß Dudás bei den Rumänenfür se<strong>in</strong>e Vorkriegstätigkeit alsInformant der rumänischenSicherheitspolizei, der Siguranta, imGefängnis gesessen habe. Das istabsolut unwahr.23 Das Weißbuch der Regierung von 1957g<strong>in</strong>g geschickt über Dudás’ Rollewährend des Krieges <strong>in</strong> Moskauh<strong>in</strong>weg. Bestätigt wird es von Pál Jónás<strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Artikel Porträt e<strong>in</strong>esRevolutionärs <strong>in</strong> der Zeitschrift H<strong>in</strong>terdem Eisernen Vorhang, 10/1957 unddurch Sándor Kiss (H62M) sowiedurch Dr. Péter Rényi <strong>in</strong> e<strong>in</strong>emInterview im September 1979.24 Interview mit J.T., 17. Januar 1974.25 Weißbuch, Band II, S. 105ff; Hollós, S.120ff. Interview mit Robert Gati,Leicester, 29. August 1980.26 CUOHP, 429, Dr. Pál Szappanos(Ráday), e<strong>in</strong> Jude.27 Zusammenfassung über das Vorgehender UN angesichts der Situation <strong>in</strong><strong>Ungarn</strong> vom 28. Oktober bis zum 31.Dezember 1956.28 Dulles, Rede <strong>in</strong> Dallas/Texas: Anhangzu NSC 5616/2.29 Er<strong>in</strong>nerungsprotokoll über Gesprächbetreffend Situation <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong>, 27.Oktober 1956, mittags, <strong>in</strong> den Aktendes State Department.30 Rényi Interview, Juli 1978; CUOHP,500, Aczél.31 Kopácsi-Aussage, Procès, S. 57, undMemoiren, S. 159-161.33 Zerfall1 Ilario Fiore, Tagebuch; und Interview<strong>in</strong> Madrid, Mai 1979.2 Times Talk, (New York Times housejournal), November 1956, Februar1957.3 Interviews mit: Jeffrey Blyth, NewYork, Mai 1978; Noel Barber, London,Juni 1978; und Lawrence Davis, Wien,Juli 1978. Barbers Bericht <strong>in</strong> DailyMail, 27. Oktober 1956: »Heute abendist Budapest e<strong>in</strong>e Stadt <strong>in</strong> Trauer.Schwarze Fahnen hängen aus jedemFenster . . . «4 Fabrizio Franco, Tagebuch, 27.Oktober.5 Igazság, 30. Oktober 1956.6 Interview mit Professor Kosáry,Budapest, April 1980.7 Hollós; Interview mit Vásárhelyi <strong>in</strong>Budapest, September 1979.8 Barnes an Außenm<strong>in</strong>isterium,Fernschreiben 160, 27. Oktober, 16.00Uhr, und 171, 28. Oktober, 14.00 Uhr.9 Free Europa Press division,H<strong>in</strong>tergrundmaterial über Maléter, 13.Dezember 1957.10 Gosztony, Tagebuch, 27. Oktober.11 CUOHP, 615.12 Daily Telegraph, 29. Oktober.13 László Kocsis: The last days of Béla769


Kovács <strong>in</strong> New Hungary, Budapest,August 1959.14 Béla Kovács, Rede vom 31. Oktober <strong>in</strong>Kis Ujság, [Kurznachrichten], 1.November; Rundfunksendung <strong>in</strong>französischer Sprache von RadioBudapest, 17.07 Uhr, 31. Oktober;MTI-Meldung, 31. Oktober 1956.15 Kopácsi, Memoiren, S. 175. Dar<strong>in</strong>heißt es, daß dies am späten Abend des25. Oktober war. Während MünnichsErnennung nicht vor dem 27. Oktoberund die Auflösung der ÁVH am spätenAbend des nächsten Tagesbekanntgegeben wurde, glaubt man,daß er tatsächlich schon am 25.Oktober zum Innenm<strong>in</strong>ister ernanntworden war.16 So lautete der Text, den Dimitrij T.Schepilow, der sowjetischeAußenm<strong>in</strong>ister, vor derVollversammlung der Vere<strong>in</strong>tenNationen am 19. November bekanntgabund der beschrieben wurde als »dasTelegramm, das der M<strong>in</strong>isterrat derUdSSR vom M<strong>in</strong>isterpräsidenten derUngarischen Volksrepublik am 24.Oktober erhalten hat«.17 Interview mit Hegedüs, Budapest,April 1980.18 Aussage von József Balogh, MiklósGimes und József Szilágyi, Procès, S.87f.19 Kopácsi, Memoiren, S. 172-173.20 Kádárs Ansprache <strong>in</strong> Vsevengerskayakonferentsia . . . etc.21 Diese Notiz ist als Faksimile <strong>in</strong> Procèsabgedruckt; Aussage von Janza undTóth <strong>in</strong> Procès, S. 93; sowie Hollós,op. cit.34 Waffenstillstand1 Szabó bácsi.2 Zu den Informationsquellen über dieSzéna tér-Gruppe gehört Géza Bánkuti(CUOHP, 448), e<strong>in</strong>Motorradrennfahrer, dermöglicherweise als unzuverlässigangesehen werden muß; SzabolcsPethes (CUOHP, 244); und H39F, dieTochter e<strong>in</strong>es jüdischen Juweliers, diedie Verwundeten versorgte und Waffenund Handgranaten, unter ihrem Mantelversteckt, den <strong>in</strong> den Tunnelnverborgenen Rebellen brachte; sieheauch Gordon Shepard <strong>in</strong> DailyTelegraph, 29. Oktober 1956.3 Weißbuch, Band II, S. 35-37.4 Dr. Roland Nitsche, Artikel <strong>in</strong> Bild-Telegraf (Wien), 29. Oktober 1956; erwar am 27. Oktober <strong>in</strong> Györ.5 Sender Freies Györ, 8.13 Uhr, 28.Oktober.6 Ibidem; und CUOHP, 221 und 515.7 Györi Nemzeti Bizottság.8 Dr. Roland Nitsche; CUOHP, 501; 507,e<strong>in</strong> früherer Funktionär von DISZ; undCUOHP, 566, Lazarus Brankov.9 CUOHP, 566.10 CUOHP, 515, Ernö Farnádi,Sozialdemokrat <strong>in</strong> Györ.11 CUOHP, 515; und 507, e<strong>in</strong> BudapesterStudent.12 Homer Bigart <strong>in</strong> New York Times, 30.Oktober. Wie Giorgio Bontempi am 29.Oktober 1956 <strong>in</strong> Il Paese (Rom)berichtet, lautete das Ultimatum (vondem er vor se<strong>in</strong>er Abfahrt von Györvom 28. um 10.50 Uhr erfahren hatte):»Falls Nagy nicht bis 20.00 Uhrwesentliche Garantien bietet, werdendie Revolutionäre von Györ nachBudapest marschieren.«13 Radio Budapest, 28. Oktober, 4.00,6.00 und 7.20 Uhr.14 Interview mit Hegedüs, Budapest,April 1980. Er erfuhr von derKonferenz erst h<strong>in</strong>terher. »Es war mirimmer e<strong>in</strong> Rätsel, was wirklich aufdieser Konferenz geschah.«770


15 Peter Eder, <strong>in</strong> Echo (Wien), 4.November 1956.16 Sender Freies Györ, 29. Oktober, undSender Freies Miskolc, 28. Oktober,18.40 Uhr, und 29., 14.15 Uhr.17 Interview mit Hegedüs.18 Zu Sir Anthony Edens Kritik an derBehandlung der <strong>Ungarn</strong>frage durch dieUS bei den Vere<strong>in</strong>ten Nationen siehese<strong>in</strong> Full Circle, S. 609.35 Schlagbäumeöffnen sich1 New York Times, 30. Oktober 1956.2 Thompson an Außenm<strong>in</strong>isterium,Fernschreiben 918, Wien, 28. Oktober,15.00 Uhr; Barnes anAußenm<strong>in</strong>isterium, Fernschreiben 171,Budapest, 14.00 Uhr, und 177, 20.00Uhr.3 Ebenso Nr. 180, 29. Oktober, 21.00Uhr.4 György Baranyai und Gábor Nógrádi:»Geheimnisse der Rákosi-Villa« <strong>in</strong>Népakarat, 2. November 1956.5 Erv<strong>in</strong> Hollós: Köztársaság tér, 1956(Budapest 1974).6 CUOHP, 615.7 H13M.8 UN-Report, §523; sowie Interview mitProfessor Tamás Nagy, Budapest, April1980.9 CUOHP, 561.10 Királys Brief an Jánosi ist als Anhangabgedruckt <strong>in</strong> Procès.11 Nicolas Baudy: Jeunesse d’Octobre, S.382ff. Er war zufällig auf Horváthshandschriftlichen Entwurf gestoßen, alser am Abend des 30. Oktober mite<strong>in</strong>em Exemplar der letzten Ausgabevon Egyetemi Ifjuság[Universitätsjugend] <strong>in</strong> der Redaktionvon Szabad Nép erschien; sowieInterview mit Professor Molnár, Genf,April 1979.12 Noel Barber, Interview, London, Juni1978.13 Fast wortgetreue Protokolle dieserGespräche bef<strong>in</strong>den sich <strong>in</strong> den Dulles-Papieren, Akte: Telephongespräche mitdem Präsidenten; <strong>in</strong> Eisenhower-Tagebuch und <strong>in</strong> den Dulles-Herter-Papieren (Eisenhower Library).36 Das sagte Schukow1 New York Times, 30. Oktober 1956.2 CUOHP, 616, Molnár, »Nem akartameglovagolni ezt a forradalmat.«[Nagy wollte sich die Revolution nichtzunutze machen.]3 Méray, im WDR-FernsehprogrammDie Toten kehren wieder, 17. Juni1968.4 Interview mit Erdös, April 1980.5 Interview mit Vásárhelyi, Oktober1978.6 Gosztony, <strong>in</strong> The General of theRevolution <strong>in</strong> Allgeme<strong>in</strong>e SchweizerMilitärzeitschrift, 10/1964, S. 668-674.7 Interview mit András Révész, April1980.8 Ibidem.9 Interview mit Vilmos Zentai, Budapest,April 1980.10 Tildy, Procès, S. 105.11 Freies Radio Kossuth, 30. Oktober;sowie H45M.12 CUOHP, 606, Dr. Dénes Horváth, e<strong>in</strong>Klassenkamerad der Brüder Erdei.13 CUOHP, 561, Professor Blücher.14 Interview mit Király, New York,Januar 1974. Am 18. Februar 1957veröffentlichte Király e<strong>in</strong>e dramatischeDarstellung dieser Ereignisse <strong>in</strong> Life;se<strong>in</strong>e Zeitangaben s<strong>in</strong>d zum Teilunzuverlässig. Se<strong>in</strong> Brief an Jánosi istals Faksimile <strong>in</strong> Procès; siehe auch S.771


58f.15 Király <strong>in</strong> East Europe, 6/1958.16 CUOHP, 428, Imre Szabó Nyirádi.17 CUOHP, 446, Nachrichtenexperte derVolksarmee. Se<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>heit wußte vomE<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gen der russischen E<strong>in</strong>heiten,aber niemand hatte e<strong>in</strong>e Ahnung, anwen diese Information weiterzugebensei; das eigeneVerteidigungsm<strong>in</strong>isterium fragte nichtdanach.18 H61M, Pál Jónás; und se<strong>in</strong> Artikel MyGeneration <strong>in</strong> East Europe, Band 6,Nr. 7; er war fünfunddreißig undehemals Insasse desKonzentrationslagers Recsk. UN-Report §523. Und Interview mit Prof.Nagy, Budapest, April 1980.19 US-Botschaft Warschau anAußenm<strong>in</strong>isterium, Fernschreiben 592,2. November 1956; <strong>in</strong> der polnischenGewerkschaftszeitung Glose Pracy,vom 30. Oktober wurde scharfe Kritikan Saillant geübt.20 János Radványi: Hungary and theSuperpowers (Stanford, Calif., 1972).21 BBC Monitor<strong>in</strong>g Report, Summary, 2.November 1956.22 Bohlen an Außenm<strong>in</strong>isterium,Fernschreiben 992, Moskau, 30.Oktober, 13.00 Uhr. Über denEmpfang berichtete auch T. Popovski<strong>in</strong> Borba (Belgrad), 30. Oktober.23 Dulles’ Fernschreiben nach Bukarest,Budapest, Wien und Belgrad, 30.Oktober.24 CUOHP, 526, László Szolnoki,Historiker.25 Barnes an Außenm<strong>in</strong>isterium,Fernschreiben 187, 30. Oktober, 1.00Uhr.26 Aussage von Ántal Mayer und LászlóRózsa <strong>in</strong> Procès, S. 67.27 Marian Bielicki, <strong>in</strong> Po Prostu, 9.Dezember 1956.28 CUOHP, 564, Journalist.29 Magyar Függetlenség, 30. Oktober1950.30 Hanka Adamiecka, zitiert von WiktorWoroszylski <strong>in</strong> Nowa Kultura(Warschau), 2. Dezember 1956.31 CUOHP, 564.32 Interview mit János Bardi, Wetzlar,Juni 1978.33 CUOHP, 564.34 Zoltán Benkö und H75M.35 Marian Bielicki <strong>in</strong> Po Prostu, 25.November, 2. und 9. Dezember; HankaAdamiecka <strong>in</strong> Sztandar Mlodych, 27.November; und Wiktor Woroszylski,Tagebuch, veröffentlicht <strong>in</strong> NowaKultura und France Observateur, 3.Januar 1957.36 CUOHP, 429, Dr. Pál Szappanos.37 Die erste Ausgabe von MagyarFüggetlenség trägt das Datum des 30.Oktober, die letzte das vom 3.November 1956.38 Dies war H75M.39 Pál Jónás, op. cit.40 CUOHP, 563, Kende.41 Ibidem. Kopácsi datiert dieses Ereignisjedoch auf den Abend des 30. Oktober.37 Oberst Kopácsi1 Brief von József Kövagó an den Autor,April 1978; und CUOHP, 615, Elias.2 Borba (Belgrad), 31. Oktober 1956.3 Király, Life, Februar 1957.4 Aussage von Királys Sekretär<strong>in</strong> FrauLászló Balla, sowie von József Baloghund Kopácsi, Procès, S. 68-70.5 Népszabadság, 3. Dezember 1959.6 Bohlen an Außenm<strong>in</strong>isterium,Fernschreiben 1006, Moskau, 31.Oktober.7 Titos Botschaft vom 29. Oktober ist772


abgedruckt <strong>in</strong> Szabad Ifjuság [FreieJugend], 30. Oktober. Aus NeuesÖsterreich, 30. Oktober 1956; undInterview mit Erdös, April 1980.8 Bohlen an Außenm<strong>in</strong>isterium,Fernschreiben, Moskau, 31. Oktober,13.00 Uhr.9 Barnes an Außenm<strong>in</strong>isterium,Fernschreiben 391, 30. Oktober, 16.00Uhr.10 Hollós, S. 120.11 Interview mit Mathias.12 Wiktor Woroszylski <strong>in</strong> Nowa Kultura,25. November 1956.13 Interview mit Vásárhelyi, Budapest,April 1980. Dies wurde bei derGegenüberstellung von Frau Baloghmit Imre Nagy während des Prozessesenthüllt, bei dem er Zeuge war; ihreAussage am 13. Juni 1958 bef<strong>in</strong>det sich<strong>in</strong> Procès, S. 98.14 Hollós, S. 151.15 CUOHP, 508.16 CUOHP, 563, Kende, der Gimes zitiert.17 CUOHP, 508.18 H24M.19 Julius Háy: Geboren 1900, S. 365, undH61M, Pál Jónás.20 Kádárs Rede am 27. Juni 1957,abgedruckt <strong>in</strong> Vsevengerskayakonferentsia . . . etc.38 H<strong>in</strong>ters Licht geführt1 Diese Telephongespräche s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> denDulles- und Dulles-Herter-Papierensowie <strong>in</strong> Eisenhowers Tagebüchern,Box 18, aufgezeichnet.2 CUOHP, 213, Student.3 Radio Times Hulton pictures M-68055,68960, 71140 und 80285; Bericht vonAlberto Cavallari <strong>in</strong> Corriera dellaSera.4 Katona, Tagebuch.5 Barnes an Außenm<strong>in</strong>isterium,Fernschreiben 191, 30. Oktober, 16.00Uhr.6 In e<strong>in</strong>em Bericht von RFE wirdfestgestellt, daß dieses Pr<strong>in</strong>zip – dieForderungen der Aufständischenwieder über den Rundfunk zuverbreiten – »bereits <strong>in</strong> e<strong>in</strong>emAustausch von Botschaften zwischenden Büros <strong>in</strong> New York und Münchenfestgelegt worden sei. RFE sollte dazubeitragen, die Gedankengänge dervielen verstreuten Patriotengruppenzusammenzufassen, <strong>in</strong>dem es dereneigene Programme und Wünschewiedergab – und nicht, <strong>in</strong>dem es e<strong>in</strong>eigenes Programm sendete.«7 Radio Miskolc, 18.30 Uhr, 30.Oktober.8 BBC Monitor<strong>in</strong>g Report, Summary, 30.Oktober, Radio Budapest <strong>in</strong>französischer Sprache, 30./31. Oktober,Mitternacht.9 Dunántúli Nemzeti Tanács.10 CUOHP, 501.11 CUOHP, 313, Student.12 Kádár sagte am 11. Mai 1957: »ImLaufe der Geschichte hat es niemalse<strong>in</strong>en re<strong>in</strong> lokalen Krieg im HerzenEuropas gegeben. Lokale Kriege habensich immer zu Weltkriegenentwickelt.«13 György Heltai im WDR-Fernsehprogramm, 17. Juni 1968.14 József Kövágó, Rede, 29. Januar 1957.Heltai (siehe Anmerkung 13).15 Radio Budapest, 30. Oktober, 19.00Uhr; Radio Miskolc, 22.05 Uhr.16 Procès, S. 73, Interview mit Vas,September 1979; sowie mit Gosztony,Bern, Juni 1978.17 Aussage von Frau József Balogh,Procès, S. 101.18 Kopácsi, Memoiren, S. 179-181; se<strong>in</strong>eZeitangaben s<strong>in</strong>d offenbar773


unzuverlässig. Das neue Politbüro, wiees Kádár schildert, wurde endgültig am1. November um 22.00 Uhrbekanntgegeben.19 Aussage von Frau Ferenc Molnár,Procès, S. 103.20 Magyar Függetlenség, 31. Oktober.21 Radio Budapest, 30./31. Oktober,Mitternacht.22 Radio Kossuth, 30. Oktober 22.40 Uhr;und Woroszylski, Nowa Kultura(Warschau), 25. November 1956.23 UN-Report, §509, Radio Budapest,17.15 Uhr, 31. Oktober.24 Kurz bevor der Verfasser im April1980 mit Fazekas <strong>in</strong> Budapestzusammentraf, begegnete er zufälligdem We<strong>in</strong>kellner des RestaurantsHungária, der ihn an diese Szeneer<strong>in</strong>nerte: Der Mann war e<strong>in</strong>er derPolizisten auf dem Lastwagen gewesen.Bözske Jánosi bestätigt, daß ihr Vater(Imre Nagy) an dem Tage nach Hausezurückkehrte, als M<strong>in</strong>dszentyfreigelassen wurde.25 Augenzeuge war György Pauly-Pálos,Geologiestudent (CUOHP, 619, II).26 Radio Budapest <strong>in</strong> französischerSprache, 30./31. Oktober, Mitternacht.27 Gyula Háy traf ihn im Gefängnis –Geboren 1900, S. 360ff; siehe auchAussage von M<strong>in</strong>dszentys Sekretär,Msgr. Egon Turcsányi, Procès, S. 107-110.28 »Erklärung der Regierung der UdSSRüber die Grundsätze der Entwicklungund weiteren Festigung derFreundschaft und Zusammenarbeitzwischen der Sowjetunion und denanderen sozialistischen Staaten«, <strong>in</strong>Prawda, Moskau, 31. Oktober 1956;Übersetzung <strong>in</strong> Current Digest of theSoviet Press, 14. November 1956, S.10-11.39 Chruschtschow ändertse<strong>in</strong>e Me<strong>in</strong>ung1 Magyar Néphadsereg ForradalmiTanácsa.2 Országos RendörkapitányságForradalmi Tanácsa und HatárörségiForradalmi Bizottmány. UN-Report,§§193, 518-521.3 Forradalmi Honvédelmi Bizottmány.4 Radio Budapest, 31. Oktober.5 MTI-Bericht.6 Wiktor Woroszylski <strong>in</strong> Nowa Kultura,2. Dezember.7 CUOHP, 619/II.8 Radio Times Hulton picture M-75107.9 Freier Sender Kossuth, 3. November1956.10 Interview mit Révész, April 1980.11 Katona, Tagebuch, 31. Oktober.12 RFE, <strong>in</strong>terne Direktiven, 30. Oktober.13 CUOHP, 599.14 Forradalmi Karhatalmi Bizottság.15 Djuka Julius <strong>in</strong> Politika (Belgrad), 1.November 1956.16 Vlado Teslic <strong>in</strong> Borba.17 Kopácsi, <strong>in</strong> Irodalmi Ujság.18 Heltai im WDR-Fernsehprogramm, 17.Juni 1968, und Artikel November1956: The End <strong>in</strong> Budapest <strong>in</strong> EastEurope, S. 10ff.19 Radio Miskolc, 31. Oktober, 13.17Uhr.20 David W. Wa<strong>in</strong>house, mündlichesInterview, 20. November 1977(Eisenhower Library).21 JCS 2066/14, 10. Juli 1956, NARS.Die Anlage NSC 5608/1 mit demDatum vom 18. Juli 1956 wurde aufAntrag des Verfassers zum Teilfreigegeben.22 JCS 2066/17: Bericht des Jo<strong>in</strong>tStrategic Survey Committee über US774


Policy Toward Developments <strong>in</strong>Poland and Hungary (NSC 5616), mitAnhang, Memorandum anVerteidigungsm<strong>in</strong>ister, 31. Oktober1956; <strong>in</strong> NARS, Record Group 218.Die Freigabe dieses Dokumentes fürden Verfasser erfolgte im Mai 1979,während die Geheimhaltung deswichtigen Anhangs NSC 5616 1980nur zum Teil aufgehoben wurde. Ause<strong>in</strong>em späteren Papier, JCS 2066/19,das <strong>in</strong> der Sitzung des NSC (NationalenSicherheitsrates) am 15. Novembervorgelegt wurde, ist e<strong>in</strong> weitererAbschnitt des NSC 5616 bekannt:»Falls die Sowjetunion militärischeMachtmittel e<strong>in</strong>setzt, um das Gomulka-Regime zu unterdrücken oder umweitere Bestrebungen nach nationalerUnabhängigkeit zurückzudrängen, undfalls die polnische RegierungWiderstand leistet und e<strong>in</strong>reichtzeitiges Ersuchen an die UNrichtet, sollten die US beantragen undsich darauf vorbereiten, jedeangemessene UN-Aktion e<strong>in</strong>schließlichder Anwendung von Gewalt zuunterstützen, die notwendig ist, um dieUdSSR daran zu h<strong>in</strong>dern, mit Gewaltdie Herrschaft wieder erfolgreich ansich zu reißen.« Die kursivhervorgehobenen Worte wurden jedochals »unzulässig e<strong>in</strong>schränkend« vomJCS gestrichen, da sie geeignet seien,die USA zu e<strong>in</strong>er Handlungsweise zuveranlassen, die ihren höchstenInteressen zuwiderlaufe.23 <strong>Ungarn</strong> wurde »von der Tagesordnungder NSC-Sitzung abgesetzt, weil dieProbleme des Nahen Ostens höherePriorität hatten«. NSC actions 1626-1628, Record (Protokoll) of Actionsder NSC auf ihrer 302. Sitzung, die am1. November 1956 stattfand. (NLE 78-2, 2, Eisenhower Library).24 JCS 2066/19: Bericht des JSSC an denJCS über »Interim US Policy onDevelopments <strong>in</strong> Poland and Hungary(NSC 5616/1)«, 14. November 1956.25 Schlußansprache des Hon. John FosterDulles, Außenm<strong>in</strong>ister, vor derVollversammlung <strong>in</strong> New York (Dullespapers).26 Allen W. Dulles, Oral History<strong>in</strong>terview, 3. Juni 1965 (Pr<strong>in</strong>cetonUniversity).27 Micunovic, Tagebuch, 2.-3. November.28 Aussage von Frau József Balogh, 13.Juni 1958, e<strong>in</strong>en Tag vor NagysTodesurteil (Procès, S. 98).29 »Volksjustiz auf dem Republikplatz«,<strong>in</strong> Magyar Függetlenség, 1. November1956.30 Barnes an Außenm<strong>in</strong>isterium,Fernschreiben 200, 31. Oktober, 13.00Uhr, zitiert <strong>in</strong>: Wiener Presse, 1.November: »Als die Russen um 12.25Uhr aus der Innenstadt abzogen, wo siedie M<strong>in</strong>isterien für Verteidigung undInneres bewacht hatten, begann der Tagder ›Langen Messer‹. Überall wurdenversteckte ÁVH-Männer zur Streckegebracht.«31 Kádár, Rundfunkrede am 26.November 1956 (CIA-Akte).32 »Auge <strong>in</strong> Auge mit Mikojan undSuslow«, <strong>in</strong> Igazság, 1. November1956.33 Igazság, 31. Oktober; vgl. RadioBudapest, 31. Oktober; <strong>in</strong> e<strong>in</strong>emGespräch mit den IntellektuellenSzilágyi, Aczél, Gimes, Löcsei am 27.Oktober hatte er dasselbe gesagt:Procès, S. 87f.34 Der Text des Flugblattes wurde am 31.Oktober um 22.00 Uhr <strong>in</strong> voller Längeüber Radio Budapest verbreitet.35 Kopácsi wurde am 2. November vonMagyar Világ [Ungarische Welt]<strong>in</strong>terviewt.36 Nagys Rede wurde am 31. Oktober,17.20 Uhr über Radio Budapestverbreitet.775


37 Italienische Abschrift <strong>in</strong> Papieren desBotschafters Fabrizio Franco.38 Trybuna Ludu (Warschau), 5.November; weder die polnische Presse,noch der Rundfunk erwähnten am 4.und 5. November die zweitesowjetische Invasion <strong>Ungarn</strong>s, e<strong>in</strong>weiterer Beweis für GomulkasMitschuld. Im Dezember war se<strong>in</strong>S<strong>in</strong>neswandel total, als er vor 3000Aktivisten <strong>in</strong> Warschau erklärte, daßman »den E<strong>in</strong>satz der Sowjettruppenfür notwendig gehalten habe«. Kurznach der H<strong>in</strong>richtung von Imre Nagyund se<strong>in</strong>er Mitarbeiter äußerteGomulka <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Rede <strong>in</strong> Danzig sogardazu se<strong>in</strong>e Zustimmung.39 Dies wurde am 1. November <strong>in</strong> derNeuen Züricher Zeitung berichtet; sieheauch Fernschreiben der US-Botschaftan Außenm<strong>in</strong>isterium, Nrn. 596 und600, Warschau, 2. November: diefranzösische Botschaft erfuhr von demBesuch polnischer Führer bei Mikojan,bei dem die sowjetisch-polnischePolitik bezüglich <strong>Ungarn</strong> koord<strong>in</strong>iertwurde; und Fernschreiben 171,Warschau, 5. November 1956.40 Unabhängigkeits-Erklärung1 Új Magyarorság [Neues <strong>Ungarn</strong>], 2.November.2 Len Waernberg, Tagebuch, dem Autorzur Verfügung gestellt, und VeckoJournalen (Stockholm), 46/1956.3 Weißbuch, Band II.4 CUOHP, 231.5 »Als sie im Morgengrauen des 4.November <strong>in</strong> der Gesandtschafte<strong>in</strong>trafen (<strong>in</strong>zwischen unter ganzanderen Umständen), wurden sieh<strong>in</strong>e<strong>in</strong>gelassen.« Vlajko Begovic <strong>in</strong>Borba, 5. April 1957. Der Bericht <strong>in</strong>Internationale Politik (Belgrad), 16.April 1957, gibt als Zeitpunkt dieserFühlungnahmen den 1. November an;e<strong>in</strong>e Verlautbarung des jugoslawischenAußenm<strong>in</strong>isteriums datierte sie zuvorauf den 2. November (veröffentlicht <strong>in</strong>Népakarat, 10, 24. November 1956).Bezüglich Szántós Aussage sieheProcès, S. 154f; Vásárhelyi er<strong>in</strong>nertsich, daß Szántó Nagy, Losonczy undDonáth erzählte, welche Rolle er <strong>in</strong>diesen Wochen <strong>in</strong> der Gesandtschaftgespielt habe.6 Radio Budapest, 1. November.7 Magyar Függetlenség, 2. November1956.8 CUOHP, 508, Journalist bei Igazság.9 Radio Budapest, 31. Oktober, 10.45Uhr.10 Sender Freies Miskolc, 31. Oktober.11 Népszabadság, 2. November 1969.12 Katona, Tagebuch, 1. November.13 Hollós, S. 120ff; MagyarFüggetlenség, 1. November 1956.14 Filippo Raffaelli <strong>in</strong> Il CorriereLombardo: se<strong>in</strong>e Interview-Notizenbef<strong>in</strong>den sich <strong>in</strong> Fabrizio FrancosPapieren.15 Új Magyarország, 2. November 1956.16 »Öffnet die Zellen«, <strong>in</strong> Hétföi Hírlap,29. Oktober 1956.17 Oszkár Zsadányi: »Direktbericht vomZentralgefängnis: 800 politischeGefangene freigelassen«, <strong>in</strong> Igazság, 3.November 1956; Procès, S. 63f;Interview mit Pál Gorka, London; undH23M, TH-Student.18 Barnes an Außenm<strong>in</strong>isterium,Fernschreiben 212, 1. November,Mitternacht; Kis Ujság, 2. November.19 ADN-Information (Ost-Berl<strong>in</strong>), 24.November 1956: zitiert HerbertWehner, der vor SPD-Funktionären <strong>in</strong>Hamburg sprach; Günter Leuschner: Zuden Vorgängen <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> <strong>in</strong> DeutscheAußenpolitik (Ost-Berl<strong>in</strong>), 2/1957, S.776


41-55; Volksstimme, 27. November,und Brief von Wehner an denVerfasser, Januar 1979.20 Thompson an Außenm<strong>in</strong>isterium,Fernschreiben 993, Wien, 30. Oktober.Interview mit Révész, Budapest, April1980. Anschließend versuchten dieKommunisten, Falschmeldungen überKéthlys Erklärungen zum neuenWeißen Terror <strong>in</strong> Budapest zuverbreiten: Brief von Bjarne Braatoy,Sekretär der SozialistischenInternationale an Morgan Phillips, 27.November 1956.21 Interview mit Kiss, Wash<strong>in</strong>gton, Januar1974.22 Procès, S. 140; und WDR-Fernsehprogramm Die Toten kehrenwieder, 17. Juni 1968.23 Interviews mit Heltai, Januar 1974, undmit Erdös, April 1980.24 Procès, S. 140f.25 UN-Report, §§74, 336-340. Kádár sollbei dieser Gelegenheit gegenüberAndropow betont ha ben, daß alle<strong>Ungarn</strong> sich dar<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ig seien: »Diesowjetische Presse nennt dies e<strong>in</strong>eKonterrevolution. Sie wissen ganzgenau, daß dies nicht der Fall ist,obgleich es e<strong>in</strong>e werden kann – undwenn, dann ist es die Schuld dersowjetischen Panzer.« Als ungarischerKommunist habe er ke<strong>in</strong>e andere Wahl,als sich mit den Arbeitern auf derStraße zu verbünden. Dieseromantische Darstellung ist, angesichtsdes späteren Verhaltens von Kádár,unwahrsche<strong>in</strong>lich.26 Interview mit Vásárhelyi, April 1980:»Donáth und Haraszti sagten mir, daßSzántó und Lukács dagegen waren.«27 Gordon Gaskill, Timetable of aFailure, abgedruckt aus 1958 Virg<strong>in</strong>iaQuarterly Review <strong>in</strong> Best Articles andStories 1958, Dezember.28 In e<strong>in</strong>em Artikel vom 5. Novemberschilderte Cavallari, wie Kádár, urlava– schrie –, aber im Orig<strong>in</strong>albericht desCorriere della Sera, dessen Datum»Budapest und Wien, 2. November«lautete, hieß es, daß Tildy gridare –geschrien habe.41 Hat jemandKádár gesehen?1 Barnes an Außenm<strong>in</strong>isterium,Fernschreiben 213, 2. November, 10Uhr; sowie französischer Text <strong>in</strong>italienischen Akten.2 Der Text von Nagys Deklarationlautete: »Volk von <strong>Ungarn</strong>! Dieungarische Nationalregierung,durchdrungen von tieferVerantwortung gegenüber demungarischen Volk und se<strong>in</strong>erGeschichte, br<strong>in</strong>gt den ungeteiltenWillen von Millionen <strong>Ungarn</strong> zumAusdruck und erklärt die Neutralitätder ungarischen Volksrepublik. Dasungarische Volk wünscht, auf derGrundlage der Unabhängigkeit undGleichheit und <strong>in</strong> Übere<strong>in</strong>stimmung mitdem Geist der Charta der Vere<strong>in</strong>tenNationen, <strong>in</strong> wahrer Freundschaft mitse<strong>in</strong>en Nachbarn, der Sowjetunion undallen anderen Völkern der Welt, zuleben. Das ungarische Volk wünschtdie Erhaltung und weitere Entwicklungder Errungenschaften se<strong>in</strong>er nationalenRevolution, ohne sich irgende<strong>in</strong>emMachtblock anzuschließen. Derjahrhundertealte Traum desungarischen Volkes ist damit erfüllt.Der revolutionäre Kampf, der vonungarischen Helden der Vergangenheitund Gegenwart gekämpft worden ist,hat endlich die Sache des Friedens undder Unabhängigkeit zum Siege geführt.Der heroische Kampf hat es möglichgemacht, unseren grundlegendennationalen Anspruch <strong>in</strong> den<strong>in</strong>ternationalen Beziehungen unseresVolkes zu erfüllen: die Neutralität. Wir777


appellieren an unsere Nachbarn, an dieLänder nah und fern, dieseunabänderliche Entscheidung unseresVolkes zu respektieren. Es trifft zu, daßunser Volk heute angesichts dieserEntscheidung e<strong>in</strong>ig ist, wie vielleichtniemals zuvor <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Geschichte.Millionen Werktätige <strong>Ungarn</strong>s! Schütztund stärkt unser Land mitrevolutionärer Entschlossenheit,aufopferungsvoller Arbeit und derWiederherstellung der Ordnung: dasfreie, unabhängige, demokratische undneutrale <strong>Ungarn</strong>.«3 Michael S. Samsonow: Diplomacy ofForce (Redwood City, Calif., 1960)und A Case Study: Hungary’sDeclaration of Neutrality (HooverLibrary).4 Barnes an Außenm<strong>in</strong>isterium,Fernschreiben 208, 1. November 1956,20 Uhr, <strong>in</strong> Wash<strong>in</strong>gton empfangen:14.05 Uhr (die Übersetzung des vollenTextes, Fernschreiben 213, mit demDatum 2. November, 10.00 Uhr, trafum 5.03 Uhr morgens <strong>in</strong> Wash<strong>in</strong>gtone<strong>in</strong>).5 Siehe Pressemitteilung der US-Delegation auf der erstenDr<strong>in</strong>glichkeitssondersitzung derVollversammlung der Vere<strong>in</strong>tenNationen, 2. November 1956 (Dullespapers).6 Interview mit Frau Ferenc Münnich,Budapest, Mai 1980.7 Wiktor Woroszylski, Nowa Kultura, 9.Dezember 1956.8 Interview mit Vásárhelyi, Mai 1980.Oszkó weigerte sich, <strong>in</strong>terviewt zuwerden.9 Kádár, Rundfunkansprache, 26.November 1956.10 János Kádár, Vsevengerskayakonferentsiya . . . , op. cit.11 Bruno Tedeschi <strong>in</strong> Il Giornale d’Italia,2. November 1956, und Interview desVerfassers, Rom, Mai 1979.12 János Kádár, Rede vor der NationalenKonferenz der ungarischensozialistischen Arbeiterpartei (HWSP)vom 27. bis 29. Juni 1957,veröffentlicht <strong>in</strong> Vsevengerskayakonferentsiya VengerskoiSotsialisticheskoi Rabochei Partii(Moskau 1958); bei vielenGelegenheiten erklärte er, daß er dieBeziehungen zum Nagy-Regime am 1.November »abgebrochen habe«. ZumBeispiel <strong>in</strong> Népszabagság fünf Tagespäter; Münnich erklärte dasselbe am 4.November über Radio Szombathely. Ine<strong>in</strong>er Rundfunkrede am 26. Novemberbetonte Kádár: »Ich habe dieBeziehungen mit ihm am 2. (sic)November abgebrochen, als ichfeststellte, daß die Konterrevolutionmehr von Imre Nagys Revolution alsvon der ungarischen Volksrepublikprofitierte.«13 CUOHP, 615, Elias.14 Új Magyarország, 3. November 1956.15 Interview mit Rényi, Budapest,September 1979.16 Magyar Honvéd [Der ungarischeSoldat], 2. November; und Népszava[Volkswort], 2. November 1956.42 Brüderliche Küsse1 Aussage des Hausverwalters IstvánKertész, Budapest, 15. Dezember 1956(Weißbuch, Band II, S. 84-88).2 Kis Ujság, 3. November 1956.3 J. F. Bálvány, schwedischer Journalistzitiert bei Gosztony, S. 326ff.4 Aussage von Nagys Sekretär<strong>in</strong> FrauBalogh, Procès, S. 52.5 Király, Life, Februar 1957, und WDR:Die Toten kehren wieder, 17. Juni1968.6 Interview mit Sárközi, August 1974.778


7 Igazság, 3. November 1956.8 Aussage von István B. Szabó, Procès,S. 50f.9 Procès, S. 145.10 Cavallari <strong>in</strong> Corriere della Sera, 5.November 1956.11 Cab<strong>in</strong>et m<strong>in</strong>utes, <strong>in</strong> Procès, S. 51.12 Népakarat, 5.-6. Juli 1957.13 Interview mit Katona, Mai 1978.14 Interview mit Marosán, Oktober 1978.15 Lajos Lederer: The Men of Budapest <strong>in</strong>The Observer (London), Juni 1958;sowie Interview Juni 1979.16 Aussage von György Kerekes, Procès,S, 70f.17 Interview mit György Heltai,Charleston, South Carol<strong>in</strong>a, 7. Januar,und mit Király, 22. Januar 1974.18 Hollós, S. 120ff.19 H31M.20 Zitiert von dem ungarischen Militär-Schriftsteller Miklós Zalka <strong>in</strong>M<strong>in</strong>efield, Band II, Budapest 1962,227f.21 François Bondy: <strong>Ungarn</strong>s Augenblickder Freiheit <strong>in</strong> Monat 9/1956-57.22 Italienische Gesandtschaft:Determ<strong>in</strong>ant Factors of the Situationbefore the Revolution, und Diario dal23. ottobre al 17. novembre 1956, 2.November 1956.23 Bohlen an Außenm<strong>in</strong>isterium,Fernschreiben 1041, Moskau, 2.November, 21.00 Uhr.24 Bohlen an Außenm<strong>in</strong>isterium,Fernschreiben 1044, Moskau, 2.November, 22.00 Uhr.25 Bohlen an Außenm<strong>in</strong>isterium,Fernschreiben 1044, Moskau, 2.November, 22.00 Uhr, <strong>in</strong> Wash<strong>in</strong>gton16.44 Uhr empfangen, undFernschreiben 1048, 3. November,12.00 Uhr.26 Micunovic, Tagebuch, 2. November1956.27 Eisenhower Library, Dulles papers.28 Fernschreiben, von Dullesunterschrieben, entworfen von C. M.P[hillips] an Lodge, Wash<strong>in</strong>gton, 2.November, 18.53 Uhr.29 Interview mit Frank Wilcox,Wash<strong>in</strong>gton, Mai 1978 und W<strong>in</strong>thropAldrich, Oral History <strong>in</strong>terview, 16.Oktober 1972 (Eisenhower Library).43 Wir treffen uns wieder1 CUOHP, 428, Imre Szabó Nyirádi,früherer Luftwaffenhauptmann.2 Fernschreiben von Wailes anAußenm<strong>in</strong>isterium, Nr. 220, 3.November, 13.00 Uhr, empfangen14.06 Uhr Wash<strong>in</strong>gtoner Zeit.3 CUOHP, 501.4 Bohlen an Außenm<strong>in</strong>isterium,Fernschreiben 1057, Moskau, 3.November, 20.00 Uhr, empfangen16.43 Uhr.5 Bohlen an Außenm<strong>in</strong>isterium,Fernschreiben 1048, Moskau, 12 Uhr,3. November.6 Ibidem. Es traf um 3.00 Uhr früh am 4.November e<strong>in</strong>!7 CUOHP, 430.8 CUOHP, 561, Professor Blücher.9 CUOHP, 563, Kende.10 Wailes an Außenm<strong>in</strong>isterium,Fernschreiben 219, 3. November, 13.00Uhr, empfangen 10.05 Uhr.11 Fernschreiben des Außenm<strong>in</strong>isteriumsan Wailes, 3. November, 16.30 Uhr.12 Die anderen entlassenen M<strong>in</strong>isterwaren Erik Molnár (Justiz), JánosCsergö (Metallurgie undMasch<strong>in</strong>en<strong>in</strong>dustrie), Frau József Nagy(Leicht<strong>in</strong>dustrie), Ferenc Nezvál(Städtische und Geme<strong>in</strong>de-Wirtschaft),Miklós Ribiánszky (StaatlicheLandwirtschaft), József Bognár779


(Außenhandel), János Tausz(B<strong>in</strong>nenhandel), Rezsö Nyers(Ernährung), Antal Gyenes(Landwirtschaftliche Produkte), AntalApró (Bau<strong>in</strong>dustrie) und Antal Babics(Gesundheit).13 CUOHP, 616, Molnár und InterviewApril 1979; sowie Erklärung von JánosSzabó vor dem Weltsicherheitsrat amAbend des 3. November.14 Brief von Heltai an Gosztony.15 Interview mit Erdös, April 1980.16 Király <strong>in</strong> Life.17 Népszava, 4. November.18 Ibidem; sowie Erklärung von Szabóvor dem Weltsicherheitsrat an jenemAbend.19 Wailes an Außenm<strong>in</strong>isterium,Fernschreiben 224, 3. November, 17.00Uhr, <strong>in</strong> Wash<strong>in</strong>gton 14.07 Uhrempfangen.20 Interview mit Fritz Molden, Wien, Mai1980 und Artikel <strong>in</strong> Die Presse (Wien),13. November 1956.21 Interview mit Erdös, April 1980.22 Vásárhelyi, Interviews, Oktober 1978und September 1979; sowie Wailes anAußenm<strong>in</strong>isterium, Fernschreiben 226,22.00 Uhr, <strong>in</strong> Wash<strong>in</strong>gton 18.01 Uhrempfangen. Der Bericht derungarischen Nachrichtenagentur MTIvon der Pressekonferenz wurde <strong>in</strong>Népszava, 4. November, abgedruckt.23 CUOHP, 428.24 Interview mit J.T., Journalist.25 CUOHP, 517, »Dr. Hardy«,Biochemiker <strong>in</strong> Pécs.26 Charles Bohlen, mündlicher Bericht,17. Dezember 1970 (EisenhowerLibrary).27 Bohlen an Außenm<strong>in</strong>isterium,Fernschreiben 1057, Moskau, 3.November, 20.00 Uhr, empfangen <strong>in</strong>Wash<strong>in</strong>gton 16.43 Uhr.28 Interview mit Professor István Bibó,Budapest, Oktober 1978.29 Interview mit Donáth, Mai 1980.30 Gosztony und Lajos Csiba, <strong>in</strong> WDR-Fernsehsendung Die Toten kehrenwieder, 17. Juni 1968.31 Háy, S. 342.32 CUOHP, 441, Lajos Gogolak,Historiker.33 CUOHP, 500, Aczél; und 507, Méray.34 Kopácsi, S. 212-215.35 CUOHP, 561, Blücher, der jetzt e<strong>in</strong>eKompanie der Nationalgardebefehligte.36 Außenm<strong>in</strong>isterium an Wailes, 3.November, 16.30 Uhr.37 Memorandum, Larry Laybourne anSerrell Hillman, 1. März 1957(Eisenhower Library: C. D. Jacksonpapers, Box 56, Henry Cabot Lodgefile). In der Ausgabe The HungarianQuarterly vom Januar 1961 übteSenator Dodd aus Connecticut scharfeKritik, aber <strong>in</strong> der nächsten Ausgabeerwiderte Lodge erneut, daß erausschließlich auf »Weisung ausWash<strong>in</strong>gton« gehandelt habe.38 Ungarische Note an Jugoslawien, 23.Juli 1958.39 Von dieser Szene erfuhr Kopácsi,durch Maléter; sie wurde ferner vondem Soldaten Péter Gosztony unddurch Leutnant Zs. Szabó, e<strong>in</strong>emOffizier der Volksarmee (CUOHP,559), berichtet. Die offizielleungarische Version lautete später (z.B.Procès, S. 71), daß die ungarischeDelegation une<strong>in</strong>geladen erschien, daßder sowjetische Kommandeur <strong>in</strong> Tökölgar nicht die Absicht gehabt habe, sichzu Verhandlungen mit Maléterherabzulassen, und daß Maléter aufBefehl der revolutionären Arbeiter- undBauernregierung (d.h. Kádárs neuerRegierung) verhaftet worden sei, undzwar wegen Eidbruch, Verrat undAngriff auf die Ordnung des780


volksdemokratischen Staates.44 Blutige Wiederkehr1 Tildy und Donáth, Aussage, Procès,sowie Interview mit Donáth.2 Aussage Szántó, Procès, S. 154f; sowieVerlautbarung des sowjetischenAußenm<strong>in</strong>isteriums vom 23. November1956, <strong>in</strong> Népakarat, 10. November1956.3 CUOHP, 561, Blücher; und ImreSzenes: Az utolsó napjuk (Budapest1957), S. 139.4 Interview mit Király, Januar 1974.5 Interview mit Gelberger, Toronto,März 1979.6 Interview mit Vásárhelyi.7 Interview mit Kurucz, April 1978.8 Gosztonyi.9 CUOHP, 561.10 CUOHP, 559, Ferenc Gaál undGosztony: Der ungarischeVolksaufstand, S. 410f; <strong>in</strong> Aufständeunter dem Roten Stern erwähntGosztony auch e<strong>in</strong>en Befehl an dieHeeresgarnisonen durch Offiziere, diesich der Operationsabteilung sowie dieNachrichtenzentrale während jenerNacht bemächtigten: »DenAnordnungen der sowjetischenKommandeure ist Folge zu leisten. Esdarf ke<strong>in</strong> Schuß abgegeben werden.Legen Sie die Waffen nieder, undlassen Sie die Sowjets <strong>in</strong> die Kasernenh<strong>in</strong>e<strong>in</strong>.« (Miklós Zalka: Aknamezö,Budapest 1962, Band II, S. 308.)11 Interview mit Donáth.12 MTI-Meldung an AP-Büro, Wien,abgedruckt im Wiener Neuer Kurier, 4.November 1956, Sonderausgabe, undzum Teil bei Lasky, S. 230f.13 Szabó-Aussage, Procès. Tildy sagtespäter aus, es sei – als er die Wahrheiterfuhr, nämlich daß Nagy mit se<strong>in</strong>enFreunden <strong>in</strong> die jugoslawischeBotschaft geflüchtet war – »e<strong>in</strong>er derschwersten Schocks se<strong>in</strong>es Lebensgewesen«.14 Háy, S. 339.15 Kopácsi, S. 217ff.16 Interview mit Fazekas, Budapest, April1980.17 CUOHP, 247, Gefreiter Szatmári.18 Bibós Botschaft liegt zwischen derAbschrift des Fernschreibgesprächeszwischen Budapest und Wash<strong>in</strong>gton;e<strong>in</strong>e Kopie bef<strong>in</strong>det sich <strong>in</strong> den Dulles-Herter-Akten (Box 6, EisenhowerLibrary); sie wurde tasächlichEisenhower vorgelegt. Bis ich sie Bibózeigte, wußte er nicht, daß noch e<strong>in</strong>eKopie existierte.19 György István Révész: A béke voltveszélyben (Budapest 1957), S. 53.20 Sowohl James McCargar als auch derAttaché Katona (Tagebuch, 4.November) bestätigen, daß dieErlaubnis, M<strong>in</strong>dszenty Asyl zugewähren, e<strong>in</strong>traf, bevor er draußen vorder Tür erschien. Rätselhafterweise gibtes ke<strong>in</strong>e Anhaltspunkte dafür <strong>in</strong> denbisher freigegebenen Fernschreiben.21 United Press-Fernschreiben, 4.November (<strong>in</strong> der Theodore Kyriakcollection, Hoover Institution).22 Háy, S. 346.23 Interview mit István Bibó, 23. Oktober1978, Budapest.24 Vásárhelyi, Aussage <strong>in</strong> Procès, S. 155;sowie Interview Oktober 1978.25 Interview mit Erdös, April 1980.26 Eidesstattliche Erklärung derAngestellten der Druckerei sowie desCorv<strong>in</strong>-Warenhauses und desangeklagten Rezsö Varga, zitiert imWeißbuch, Band II, S. 110-114.27 Pál Jónás, Artikel »Porträt . . . «,CUOHP, 564, e<strong>in</strong> jüdischer Journalist,Mitglied se<strong>in</strong>er Redaktion, sagte:781


»Dudás war e<strong>in</strong> volkstümlicher ›tribunemanqué‹ [gescheiterter Volksheld]. Erführte e<strong>in</strong>en großen Kampf gegen dieRussen und wurde dabei verwundet. Erbesaß persönlichen Mut.«28 CUOHP, 408.29 Interview mit Szász, August 1974;sowie György Pálóczi-Horváth <strong>in</strong> DerMonat (Berl<strong>in</strong>), März 1957. KádársAufenthalte nach dem 1. Novembers<strong>in</strong>d immer noch vom Schleier desoffiziellen Geheimnisses umhüllt.Donáth sagt jetzt (Interview vom Mai1980): »Das hatten wir Kommunistengelernt! Wer illegaler Kommunist war. . . wir wissen nicht viel, aber daskönnen wir!«30 UN-Report, §78; Micunovic,Tagebuch, 3. November; Kádár, Redevom 7. Dezember, <strong>in</strong> Népszabadság, 8.Dezember 1959.31 János Kádár, Vsevengerskayakonferentsiya . . . , op. cit.32 Kádár, vor dem NationalenGewerkschaftskongreß, <strong>in</strong>Népszabadság, 29. Januar 1957. ImMai 1972 äußerte er anläßlich se<strong>in</strong>es60. Geburtstages gegenüberFunktionären: » . . . Es gibtSituationen, <strong>in</strong> denen e<strong>in</strong> Mann etwastun muß, das nur sehr wenigeMenschen verstehen. Aber es mußdennoch getan werden <strong>in</strong> derHoffnung, daß die Gründe e<strong>in</strong>es Tagesverstanden werden . . . « (TársadalmiSzemle, 6/1972).33 BBC Monitor<strong>in</strong>g report, 1956, 5, 193,S. 1 und 2.34 Gosztony.35 H42M.45 Überlistet, verschleppt,deportiert und gehängt1 Tamás Sárkány, <strong>in</strong> Baudy, S. 48;Kopácsi, Memoiren, S. 192f. ZoltánVas erklärte dem Verfasser: »InSzolnok waren zwei Regierungengebildet worden, e<strong>in</strong>e von ihnen durchRákosis Anhänger wie Andics undBerei – wenn ich gewußt hätte, daß esKádár und nicht Rákosi se<strong>in</strong> würde, derdie Macht übernehmen sollte, wäre ichniemals <strong>in</strong> die jugoslawischeGesandtschaft geflüchtet. Ichpersönlich flüchtete vor Rákosi . . . !«CUOHP, 508, erwähnt ebenfalls dieseGegenregierung <strong>in</strong> Szolnok.2 Honvéd Ujság, Budapest, 25. April1957.3 Magyar Közlöny, 93, 12. November1956.4 Péter Gosztony: Zür Geschichte desungarischen Nationalen Widerstandes<strong>in</strong> der Anfangsperiode des Kádár-Regimes <strong>in</strong> Osteuropa, 10/11, 1968, S.805-824.5 Wailes an Außenm<strong>in</strong>isterium,Fernschreiben 232, 5. November, 9.00Uhr.6 Protokoll der Konferenz mit demPräsidenten, 4. November, 13.30 Uhr(Eisenhower Library). Brief,Eisenhower an Bulgan<strong>in</strong>, 4. November(NARS, 764.00/11-456).7 Wailes an Außenm<strong>in</strong>isterium, 11.November.8 CUOHP, 226, Student derVeter<strong>in</strong>ärmediz<strong>in</strong>. Adolph A. Berle jr.untersuchte die Vorwürfe gegen RFEund stellte fest, daß flammende Appelleüber e<strong>in</strong>en Ostdeutschen Senderverbreitet wurden, der RFE-Rufsignaleals ›agent provocateur‹ benutzte;dasselbe geschah durch HabsburgerMonarchisten, denen man Sendezeit beiRadio Madrid gegeben hatte sowiedurch eitle Rundfunkstation irgendwoanders, die von ungarischenEmigranten betrieben wurde. »Es wirdbehauptet, daß unsere geme<strong>in</strong>samenFreunde <strong>in</strong> Wash<strong>in</strong>gton« – die CIA –»nichts mit den beiden letzteren zu tun782


hatten, aber ich b<strong>in</strong> nicht absolutsicher.« (Tagebuch, 5. Dezember 1956;Roosevelt Library.)9 Fernschreiben 239, 5. November, 21.00Uhr, empfangen 18.35 Uhr.10 Interview mit Kurucz, London, April1978.11 Wailes an Außenm<strong>in</strong>isterium,Fernschreiben 244, 6. November, 17.00Uhr, empfangen 19.48 Uhr.12 CUOHP, 478, Pater Vazul Végvári;dies wird zum Teil bestätigt durch dieAussage von H31M.13 Bohlen an Außenm<strong>in</strong>isterium, Moskau,Fernschreiben 1098, 6. November,23.00 Uhr.14 Brief von Dr. Béla Fabian an Cloyce K.Huston vom Free Europe Committee,6. November 1956 (C. D. Jacksonpapers). »Ich bitte zu bedenken, daßdiese Schätzungen bescheiden s<strong>in</strong>dverglichen mit den Kosten e<strong>in</strong>er Feierzum 15. März oder 20. August, die sichgewöhnlich auf 5000 Dollar belaufen.«15 Die von <strong>Ungarn</strong> bei Abschluß desWarschauer Vertrages erteilteErlaubnis zur Stationierungsowjetischer Truppen gilt nur »<strong>in</strong>Übere<strong>in</strong>stimmung mit denErfordernissen der geme<strong>in</strong>samenVerteidigung« und auch nur »nachVere<strong>in</strong>barung« gegen den bewaffnetenAngriff e<strong>in</strong>es anderen Staates. Diesowjetische Def<strong>in</strong>ition des Begriffs»Aggression« wurde ausführlich denVere<strong>in</strong>ten Nationen 1953 dargelegt(siehe UN-Dokument A/2638):Aggressor ist danach derjenige, derStreitkräfte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en anderen Staat ohneErlaubnis von dessen Regierungentsendet. Actes de la Conférencediplomatique de Genève de 1949 (Bern1949), und F<strong>in</strong>al Record of theDiplomatic Conference of Geneva of1949 (Bern 1949). Der sowjetischeDelegierte erklärte am 16. Mai 1949:»Zivilisten, die <strong>in</strong> Verteidigung derFreiheit ihres Landes zur Waffegreifen, sollten denselben Schutzgenießen, wie die Angehörigen derStreitkräfte« (ibidem, Band IIa, S. 426).16 Internationale Juristenkommission:Hungary and the Soviet Def<strong>in</strong>ition ofAggression, Den Haag, 16. November1956, und The Hungarian Situation <strong>in</strong>the Light of the Geneva Convention, 7.Dezember 1956.17 Kurucz; sowie CUOHP, 247, Szatmári,der erklärte, daß massivePanzervergeltung, die auf diese Weiseausgeübt wurde, sich als wirksamgegen die Rebellen erwiesen hatte.18 Bohlen an Außenm<strong>in</strong>isterium,Fernschreiben 1170, 1184, 1185, 1188,1213, Moskau, 12. bis 15. November1956.19 CUOHP, 508.20 Katona, Tagebuch.21 CUOHP, 558, Leiter derVerladeabteilung, Donau Eisenwerke,Dunapentele.22 Daily Herald, 12. Dezember.23 H53M.24 Wailes an Außenm<strong>in</strong>isterium,Fernschreiben 252, 8. November, 17.00Uhr.25 Fernschreiben 253, 17.00 Uhr undWailes, Fernschreiben 322, 19.November, 18.00 Uhr, undFernschreiben 322, 19. November,18.00 Uhr. Am 2. Dezember entdecktee<strong>in</strong> technischer Sicherheitstrupp ausWash<strong>in</strong>gton, daß die Geheimpolizei <strong>in</strong>den Schornste<strong>in</strong> von M<strong>in</strong>dszentys Büroe<strong>in</strong> Mikrophon h<strong>in</strong>abgelassen hatte.26 Népszabadság, 18. Januar 1958.27 Hoover an Wailes, 11. November,Fernschreiben 278.28 Eisenhower, Tagebuch, 12. November;Hoover an Wailes, Fernschreiben 241,16. November 1956.29 Wailes an Außenm<strong>in</strong>isterium,783


Fernschreiben Budapest, 11.November.30 Bohlen an Außenm<strong>in</strong>isterium,Fernschreiben Moskau, 11. November.31 Verlautbarung des jugoslawischenAußenm<strong>in</strong>isteriums vom 23. November1956, <strong>in</strong> Népakarat, 10. November1956.32 Vásárhelyi, Budapest, 21. Oktober1978.33 Interview mit Alic Halda, Budapest,April 1980; sowie mit ProfessorMolnár, Genf, April 1979; undCUOHP, 563, Kende.34 Aussage von István Pozsár, GyörgyÁdam, Róbert Bohó <strong>in</strong> Procès, S. 160.35 Titos Rede <strong>in</strong> Pula, siehe New YorkTimes, 16. November 1956; undNépszabadság, 25. November 1956,wo auf den Widerspruch bei Titoh<strong>in</strong>gewiesen wird, der die sowjetischeIntervention als unvermeidlichbezeichnete, während er zugleich dieHilfe, die die sowjetischen Truppendem ungarischen Regime gewährten,e<strong>in</strong>en »Irrtum« nannte.36 RFE Monitor<strong>in</strong>g Service, 11.November 1956.37 A proletárhatalom megszilárditásdáért[Festigung der proletarischen Macht],Budapest 1957, zitiert bei P. Gosztony;Népszabadság, 14. bis 15. November1956.38 CUOHP, 429.39 Nagybudapesti KözpontiMunkástanács. CUOHP, 439, ÖdönVajda; und Töke.40 Népszabadság, 15. November,berichtete über das Treffen.41 Töke sowie Reuter-Meldung <strong>in</strong> Lasky,S. 264.42 Der jugoslawische Delegierte Dr.Mladen Ivekovic machte dies vor derUN-Vollversammlung deutlich; sieheNew York Times, 5. Dezember 1956.43 Dalibor Soldatic, <strong>in</strong>terviewt <strong>in</strong> Vjesnik(Zagreb), 28. November 1977.44 Milan Georgievic berichtete diesMiklós Molnár wenige Augenblickespäter im Kas<strong>in</strong>o desJournalistenverbandes.45 Interview mit Vásárhelyi, April 1980.46 Auf diesen Briefwechsel bezog sich diejugoslawische Note vom 24. Juni 1958,<strong>in</strong> der gegen Nagys H<strong>in</strong>richtungprotestiert wurde: siehe ihren Text <strong>in</strong>East Europe, August 1958, S. 55ff;sowie János Mészáros: The KádárRegime charges Yugoslavia with›conspiracy‹ and ›<strong>in</strong>terference <strong>in</strong>Hungary’s domestic affairs‹ <strong>in</strong> Journalof Central European Affairs, 18/1958-59, S. 318-323.47 Im Licht dieser Ereignisse dürfte dieVersion, die das Regime nach se<strong>in</strong>emTode verbreitete, unwahrsche<strong>in</strong>lichse<strong>in</strong>. Danach soll er um den 8.November se<strong>in</strong>en Freund LászlóKocsis von der Wohnung des früherenM<strong>in</strong>isters József Antal voller Freudeangerufen haben: »Es ist so gekommen,wie es mußte: Ich glaube, daß JánosKádár . . . gehandelt hat, wie e<strong>in</strong>aufrechter ungarischer Kommunist esmußte.« Kovács kehrte nach Pécszurück und legte se<strong>in</strong> Amt alsVorsitzender der Kle<strong>in</strong>landwirte-Parte<strong>in</strong>ieder. 1958 wurde erParlamentsmitglied der neuenPatriotischen Volksfront PPF – erwurde im Gespräch zusammen mitDobi und Kádár während e<strong>in</strong>er Pausephotographiert. Aber 1959verschlechterte sich se<strong>in</strong> Zustand.Dreiundvierzig ausländischeZeitungsreporter baten dasAußenm<strong>in</strong>isterium um Erlaubnis, ihnsehen zu dürfen. Sie wurde verweigert;e<strong>in</strong>ige Korrespondenten besuchtendennoch das Krankenhaus <strong>in</strong> Pécs, aberdort weigerte sich Professor JánosAngyanz (»auf Wunsch desPatienten«), sie zu ihm zu lassen. Das784


Parteiorgan veröffentlichte am 1.4. Juni1959 e<strong>in</strong>e Erklärung, die er angeblichse<strong>in</strong>er Tochter Piroska diktiert hatte, <strong>in</strong>der falsche Gerüchte über se<strong>in</strong>enGesundheitszustand dementiertwurden; er starb e<strong>in</strong>e Woche später –»und beendete e<strong>in</strong> Leben überreich anKampf und Mühsal, aber auch vollerFreuden«. (László Kocsis <strong>in</strong> NewHungary [Budapest], August 1959.)48 Arthur Radford anVerteidigungsm<strong>in</strong>ister, 3. Dezember1956 (JCS 2066/23); NARS RecordGroup 218, file CCS 092; undMemorandum vom Stabschef, USAF,für JCS, 30. November 1956.49 Bohlen an Außenm<strong>in</strong>isterium,Fernschreiben 1426, Moskau, 11.Dezember 1956.50 Bohlen an Außenm<strong>in</strong>isterium,Fernschreiben 1446 und 1467, Moskau,13. und 15. Dezember.51 Wailes an Außenm<strong>in</strong>isterium,Fernschreiben 255, 9. November, 15.20Uhr und 294, 15. November 1956.52 Népakarat, 16. Dezember.53 Interviews mit Alic Halda, Budapest,April 1980; Professor Molnár, Genf,April 1979, und CUOHP, 563, Kende.54 New York Times, 4. und 8. Dezember1956, 6. Januar 1957; Borba (Belgrad),6. Dezember und UN-Report, §§713ff.In Berichten aus Wien vom 5. Januar1957 wird behauptet, daß etwa 15.000<strong>Ungarn</strong> <strong>in</strong> Lagern bei Uschgorod<strong>in</strong>terniert waren.55 H43M, Stahlarbeiter.56 New York Times, 4., 16., 17. Dezemberund 8. Januar.57 Radio Budapest, 12. Dezember 1956;CUOHP, 439, Vajda.58 Népszabadság, 12. Dezember.Epilog1 Magyar Közlöny, 13. Dezember 1956,8. Januar, 19. März, 15. Juni, undNépszabadság, 21. Juli 1957. Dr.LászIó Varga, Manuskript: Ma<strong>in</strong>Measures of the Kádár Regime <strong>in</strong>Violat<strong>in</strong>g Human Rights s<strong>in</strong>ceNovember 4, 1956 (Hoover Library).2 CUOHP, 430, Bál<strong>in</strong>t.3 Király <strong>in</strong> Life; Kopácsi, S. 215.4 84% der Toten waren Männer und 20%waren jünger als zwanzig. KözpontiStatisztikai Hivatal: Fontosabb adatokaz 1956 október-novemberi idöszakról,Budapest, 15. Januar 1957; RadioBudapest; Esti Hírlap, 28. Dezember1956, und Népszabadság, 30.Dezember 1956. Der Herausgeber desletzteren Blattes er<strong>in</strong>nert sich, daß ersich die drucktechnischenMöglichkeiten überlegt hatte, ob mane<strong>in</strong>e Liste mit allen (»3000«) Toten aufzwei Seiten drucken könnte.5 Die Zahlen stammen aus vertraulichenUnterlagen, die e<strong>in</strong> offiziellerHistoriker dem Autor zur Verfügunggestellt hat. Die monatlichen Zahlender gefallenen Aufständischen lauteten:Oktober 757, November 926,Dezember 36, Januar 6; nichtklassifiziert: 220. Die Zahl derVerwundeten, die das Dokument biszum 31. Dezember anführt, stimmtziemlich übere<strong>in</strong> mit den Angaben derRegierung, wonach bis zum 1.Dezember <strong>in</strong> den BudapesterKrankenhäusern 12.961 Verletzteregistriert wurden. Dennoch s<strong>in</strong>dsolche Zahlen nur e<strong>in</strong> schwacherAnhaltspunkt, da die verwundetenAufständischen es häufig vorzogen,sich privat behandeln zu lassen. E<strong>in</strong>Viertel der Verwundeten war unterachtzehn, Dreiviertel unter dreißigJahre alt.785


6 Interview mit Vásárhelyi, April 1980,und New York Times, 26. Mai, 3. Juni1957; Gyula Háy, S. 367.7 Népszabadság, 5. Juli 1957.8 Gyula Háy, S. 364f; Weißbuch, BandII, S. 44; und New York Times-Meldungen.9 Népszabadság und MTI-Verlautbarung, 11. und 12. Dezember1957.10 Interview mit Fazekas, Budapest, April1980.11 Kádár ließ die Dementis am 27.Februar durch e<strong>in</strong>en Sprecher desAußenm<strong>in</strong>isteriums wiederholen undtat dies noch e<strong>in</strong>mal persönlich imApril 1957 vor ausländischenPressevertretern.786


Bibliographie(E<strong>in</strong>e Auswahl)E<strong>in</strong>e ausgezeichnete Bibliographie zum <strong>Aufstand</strong> <strong>in</strong> <strong>Ungarn</strong> ist die von Dr. PéterGosztony: Die Ungarische Revolution von 1956 <strong>in</strong> Jahresbibliographie: Bibliothek fürZeitgeschichte (Stuttgart 1963), S. 604-633. Die im folgenden aufgeführten Titel wurdenvom Verfasser besonders herangezogen.Aczél, Tamás, und Tibor Méray: The Revolt of the M<strong>in</strong>d (London 1960).Allemann, F. R.: Der Westen, Deutschland und die osteuropäische Revolution <strong>in</strong> Monat,Bd. 9 (1956/57), S. 3-13.Baehrendtz, Nils Erik: Vi sag det Häanda (Stockholm 1957).Ba<strong>in</strong>, Leslie: The Reluctant Satellites: An Eyewitness Report on Eastern Europe and theHungarian Revolution (New York 1960).Barany, G.: Stephen Széchenyi and the Awaken<strong>in</strong>g of Hungarian Nationalism, 1791-1841(Pr<strong>in</strong>ceton 1968).Barber, Noel: A Handful of Ashes (London 1957).Barber, Noel: Seven Days of Freedom (London 1973).Baudy, Nicolas: Jeunesse d’Octobre (Paris 1957).Begovic, Vlajko: Artikel <strong>in</strong> Borba (Belgrad), 5. April 1957.Begovic, Vlajko: Anklagen und Tatsachen <strong>in</strong> Internationale Politik, Bd. 8 (1957), S. 5-12.Berecz, János: Ellenforradalom tollal es fegyverrel: 1956 [Konterrevolution mit Federund Schwert: 1956] (Budapest 1969).Bielicki, Marian: Artikel <strong>in</strong> Po Prostu (Warschau), 9. Dezember 1956.Bödigheimer, Walter: Die Herbstkrisen von 1956 vor der Vollversammlung derVere<strong>in</strong>ten Nationen <strong>in</strong> Europa-Archiv, Bd. 12 (1957), S. 10157-10172.Bondy, François: <strong>Ungarn</strong>s Augenblick der Freiheit <strong>in</strong> Monat, Bd. IX (1956/57), S. 19-32.Bretholz, Wolfgang: Ich sah sie stürzen (Wien, München, Basel 1955).Brück, Max von: Politik oder Katastrophe: Das letzte Vierteljahr 1956 <strong>in</strong> Gegenwart,Bd. XI (1957), S. 7-10.Buhler, Neal V.: The Hungarian Revolution, Kap. VI <strong>in</strong> Ernst C. Helmreich (Hrsgb.):Hungary (New York 1958).Chruschtschow, Nikita S.: Khruschev Remembers (Boston 1970).Daniel, Wolfram: <strong>Ungarn</strong> – Experimentierfeld des Kreml <strong>in</strong> Deutsche Rundschau, Bd. X(1955), S. 1020-1026.787


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PersonenregisterAltersangaben beziehen sich auf die Zeit des <strong>Aufstand</strong>s 1956.Abel, Elie, 560Ács, Lajos, 6, 229, 262, 433Aczél, Tamás, 152-3, 155, 171, 173, 17-8,182, 198-201, 229, 234, 291, 299, 308,320, 325, 348, 365, 388, 463, 484, 519,678Adenauer, Konrad, 188Alapi, Gyula, 70-1, 73, 147, 644Aldrich, W<strong>in</strong>throp W., 658Almássy, Pál, 91Andics, Erzsébet, 6, 75-6, 89, 99, 132,173, 198, 208, 708Andropow, Juri V., 7, 451-3, 483, 577,610, 614-19, 639, 653, 664, 700, 714Angyal, István, 736Angyal, József, 710Apró, Antal, 6, 244, 253, 372, 402, 480,497-8, 552, 625, 647, 654, 661, 702,724Árkos, Károly, 227Áron, Tóbiás, 261, 298Asztalos, János, 504, 545, 549-50, 555Babics, Antal, 309Ba<strong>in</strong>, Leslie, 707Bakondi, 612Bakos, Pál, 59Balázs, Kornél, 188, 507, 721Bál<strong>in</strong>t, József, 661Ball, Sándor, 200, 260, 419Balogh, József, 547, 645Balogh, József (Frau), 593, 645Bán, Antal, 36Barber, Noel, 236, 237-9, 471-3, 493, 511,535Bárdi, János, 442Barnes, Spencer, 244-5, 270, 334, 395,398, 403, 412, 423, 431-2, 457, 478,501-2, 527, 543, 562, 580, 582, 585,594, 613, 623, 646Bartha, Albert, 47Bartók, Béla, 417Bartos, 482Bastomov, György, 119Bata, István, 6, 47, 229, 335, 337, 349,385, 408, 447, 481, 498, 654Batow, Pawel Iwanowitsch, 449-53, 523Beam, Jacob, 413Beér, János, 391, 402Begovic, Vlajko, 245Beleznay, István, 46Bell, Oberst, 189, 530, 583Ben Gurion, David, 254Benjám<strong>in</strong>, László, 49, 164, 172, 177, 200,319, 357Benke, Valéria, 290, 294-6, 300-1, 304-7,316, 318-19, 346, 350, 353, 387-8Benkö, Zoltán, 462, 533Berczelli, Tibor, 47Berija, Lawrentij, 134, 140, 142, 145Bessenyei, Ferenc, 275, 278Bethlen, Oscar, 285Bibó, István, 148, 222, 610, 663, 665-6,675, 682, 691-4, 697-9, 705-7Bielk<strong>in</strong>, Fedor, 49, 68, 486Bigart, Homer, 470, 493, 561Blücher, László, 254, 303, 307, 310, 337,508, 683-4, 694Blyth, Jeffrey, 472, 535, 562, 592, 596Boarov, Zhivkov, 65-6, 69Bognár, József, 142, 480, 517, 569-70,573, 707Bohlen, Charles, 415, 512, 524-6, 542-3,651-2, 660, 673-4Bohó, Robert, 721Boldizsár, Iván, 172, 229-31, 304, 309,329, 342, 513, 618-19, 668Boldizsár, Josette, 230Bolick, Jerry, 696Bondor, 224-5, 241794


Bondor (Frau), 20, 22-3Bondy, François, 650Boultwood, George, 473Bourg<strong>in</strong>, Simon, 214, 239Bradacs, György, 437-8, 718Brankov, Lazarus, 65-70, 73-4, 199, 247,491Breschnew, Leonid, 449Brook-Shephard, Gordon, 480Bruegl, Gordon, 696Buchanan, Wiley T., 411Bujáki, Ferenc, 608Bulgan<strong>in</strong>, 204, 524, 542, 652, 654, 673-4,702, 711Burchett, Wilfred, 71Burns, Michael, 71Buttkovszky, Emánuel, 370Caesar, Julius, 275Camus, Albert, 227Cavallari, Alberto, 561, 592, 618-19, 635,638-9, 643, 652, 660Cavendish, Anthony J., 473, 518Chap<strong>in</strong>, Selden, 53Chruschtschow, Nikita S., 133-4, 146,163-4, 182, 202, 215-16, 239, 250, 380,415, 512, 524, 541-2, 577, 582, 590-1,599, 635, 651, 653-5, 660, 673-4, 702,738-9Churchill, W<strong>in</strong>ston, 24, 658Clark, Richard, 71, 398Coty, 16Cowley, Noel, 328Csergö, János, 644, 664Csertán, Márton, 137Csiba, Lajos, 82, 286, 360, 408-10, 649,676, 686Csikesz, József, 545Csikor, 438, 672Csurke, László, 440Cyrankiewicz, 523, 600Czakó, Kálmán, 172Czérna, Zoltán, 714Czottner, Sándor, 205, 644, 664Dallam, Welwyn, 629, 679-80Dallos, Ferenc, 249David, Dennis, 671Davis, Lawrence, 238, 303, 473Dayan, Moshe, 254Deák, István, 325, 327, 345, 364, 420, 640,678, 694Decsi, János, 336Decsy, Gyula, 99Delmer, Sefton, 276, 302-3, 471, 473, 494,511, 642-3, 650Dénes, Tibor, 471, 488Denik<strong>in</strong>, Anton, 30Déri, Sári, 105Déry, Tibor, 153, 177-9, 199, 212-14, 229,287, 290, 338, 342, 595, 737Devereux, George, 382-3, 426, 506Diderot, 227Dikic, Osman, 655Dixon, Pierson, 559, 624, 675, 679Dobi, István, 36, 245, 344, 349, 480, 517,645, 647, 695, 707, 714Dögei, 702Donáth, Ferenc, 91, 180, 208, 216, 248,257, 265, 365, 392-3, 401, 433-4, 441,568-9, 595, 633, 638, 676, 683-4, 687,699, 721, 740Doolittle, James, 192Douglas, Kirk, 556Dudás, József, 369, 463-5, 488-9, 492,531-5, 546, 568-73, 584-5, 594, 602-3,606-8, 627, 631-2, 648-9, 672, 700, 722,732, 737Dulles, Allen W., 190, 226, 413, 458, 523,590, 656, 701Dulles, John Foster, 190, 193, 376, 393,411, 512, 522, 535, 587, 658Edd<strong>in</strong>gton, Arthur, 464Eden, Anthony, 411, 559-60, 658Egri, György, 533Eichmann, Adolf, 25Eisenberg, Joe, 470Eisenhower, Dwight D., 190-4, 376, 411-14, 457-8, 460-1, 465, 468, 512, 535,559-60, 582, 587-90, 623, 630, 655,658, 660, 692-3, 715, 719, 728Ekren, Kemal, 489, 510Elias, István, 404, 479, 505Engels, Friedrich, 9, 169, 353, 729Entezam, 658Erdei, Joci, 517Erdei, Sándor, 179, 265, 319, 365, 507795


Erdös, Erzsi, 665Erdös, Péter, 71, 201, 206, 288, 293, 295-7, 301, 306-7, 332-3, 337-8, 350-2, 387-9, 484, 514, 665, 668, 699, 738Erös, Imre, 97Esterházy, 382Fabian, Béla, 715Fadejew, 417Faludy, György, 155, 228, 533Farkas, Ferenc, 610, 642, 663, 675Farkas, Mihály, 41, 47, 83, 96, 110, 132,179, 184, 216, 222, 246-8, 259, 278Farkas, Wladimir, 89, 96, 246Fazekas, György, 177, 180, 207, 290-1,319, 325, 332, 365, 468, 574, 691, 738Fehér, József, 271, 333Fehér, Lajos, 180Fekete, Lajos, 606Fekete, László, 269Fekete, Sándor, 265, 507Fiore, Ilario, 453, 455, 469, 473Fischer, József, 516, 663Fodor, Miklós, 567Fodor, Pál, 631Földes, Gábor, 427, 429Földes, László, 364, 467, 529Folly, Gábor, 714Franco, Fabrizio, 283, 455, 473, 593, 630,651-2Franco, General, 521Freedman, Emanuel, 469-70, 560Freid<strong>in</strong>, Seymour, 473Friedmann, Litzi, 49Fry, Bunny, 511Fry, Leslie, 418Gaál, Ferenc, 361Gáli, József, 275, 534, 737Gáspár, Sándor, 516Gehlen, Re<strong>in</strong>hard, 202, 253Georgievic, Milan, 185Gereben, János, 361Gerö, Ernö, 6, 41, 55-6, 59, 66, 71, 73, 75,81, 124, 126, 133-5, 161, 163, 166, 171,177, 184, 205, 215-19, 229, 239-40,245-6, 253, 262, 265-8, 271, 279, 281,298, 304-5, 315, 320, 327, 332, 344-50,364-5, 375, 388, 391, 400-2, 420, 434,494, 498-9, 523, 596, 598, 626, 661,736Gimes, Miki, 180Gimes, Miklós, 75, 180-2, 185, 201, 207,210, 241, 248, 257, 264-5, 324-5, 332,348, 366, 484-5, 534-5, 553, 662, 721,730, 739-40Gleason, Tom, 344, 355, 387Goebbels, Joseph, 41, 168Gogolak, Lajos, 318, 677Gömöri, György, 272Gomulka, Wladislaw, 249-50, 510, 523,599-600, 739Gordey, Michel, 561Gör<strong>in</strong>g, Hermann, 184Gorka, Pál, 97Gosztony, Péter, 270, 447, 685-6Grebennjik, K. S., 714, 724Gróf, Elek, 105Grösz, József, 53, 367Gruson, Sydney, 303, 469Gura, János, 261Guzman, Jacobo Arbenz, 192Gyöngyösi, János, 277Gyurkó, Lajos, 520Habsburg, Otto von, 244, 720Hahn, Otto, 342Hajdú, 363, 580, 733Halász, 291-2Halda, Alic, 739Hammarskjöld, Dag, 460, 587, 622, 648Hanák, Péter, 390-1, 397-402Hanna, Travers, 646Haraszti, Sándor, 91, 155, 164, 177, 180,199, 201, 207, 221, 257, 264-5, 290,507, 662, 699Harriman, W. Averell, 191Háy, Gyula, 24, 81, 154, 179, 200, 219-20,227, 241, 247, 265, 268, 363, 368, 595,676, 678, 690, 694, 697, 716, 737Hayter, William, 524Házi, Jenö, 434, 572Healey, Denis, 78, 515Hegedüs, András, 6, 182, 204, 253, 268,279, 287, 320, 327, 338, 343-9, 375,392, 420, 433, 452, 483, 494, 498, 523,554, 596, 605, 626, 646, 736Hegel, 99, 170796


Hegyi, László, 335-6Heltai, György, 28, 363, 586-7, 609, 615,642, 648-9, 664Heydrich, Re<strong>in</strong>hard, 25Hidas, István, 6, 349Hidvégi, Ferenc, 572Himmler, He<strong>in</strong>rich, 278H<strong>in</strong>kle, Lawrence E. jr., 44, 150Hitler, Adolf, 18, 82Hoffmann, 450Hollós, Erv<strong>in</strong>, 676Hoover, Herbert jr., 658Hope, Peter, 237Horthy, Miklós von, 18, 26-7, 58, 90, 99,174, 210, 438, 520Horváth, Dénes, 471Horváth, Imre, 625, 663Horváth, János, 574Horváth, Márton, 179, 181, 246, 262, 265,401, 434, 485, 509Horváth, Richard, 367Horváth, Zoltán, 516Hoványi, Pál, 129-30Hudra, László, 137Huschi, 556Husse<strong>in</strong>, 236Illés, Béla, 81, 124, 494Illy, Gusztav, 47, 246Ilosvay, Ferenc, 463Ispánky, Béla, 53Jackson, Bill, 589Jankovic, 338Jánosi, Bözske (= Nagy, Bözske), 138,161, 180, 277Jánosi, Ferenc, 46, 139, 185, 321, 508Jánosi, Katal<strong>in</strong>, 363Jánossy, Lajos, 220Janza, Károly, 47, 481, 486, 496, 519, 540,573, 578, 663, 683, 694Járay, János, 195Jaszovsky, József, 677Jean, James, 464Jeffries, 77Jobbágy, Károly, 228Jónás, Pál, 94-5, 97, 222, 279, 464Jordan, Lew, 470Josika, Gábor, 284József, Attila, 244, 526Justus, Pál, 36, 67, 69-70, 99Kádár, Iván, 507Kádár, János, 59-61, 77, 80, 95-8, 159,164, 205, 214-16, 223, 245, 253, 265,344, 346, 349, 375, 386, 401-2, 434,441, 452, 485-6, 497, 503, 523, 528,553-8, 566, 569-71, 585, 594-5, 604,607-8, 617-18, 621, 625-7, 632-3, 637-8, 644, 646-7, 654, 663-4, 682, 702-3,706-10, 714, 716, 720-33, 736, 738-40Kaganowitsch, 163, 250, 542Kalamár, József, 444, 703Kállai, Gyula, 91, 365, 441Kána, Löhne, 572Kapotsy, Béla, 188Kardelj, Edward, 653Kardos, Tibor, 272Kar<strong>in</strong>thy, Ferenc (Schriftsteller), 199, 201Karsky, Serge, 71Kató, István, 391, 397, 400Katona, Gaza, 244, 312, 314-16, 328, 344-5, 355-6, 387, 390, 395, 397-8, 403-4,423, 441, 562, 582, 621, 628-9, 679,696, 718-19, 728-9Kecskeméti, Pál, 108, 391Kelemen, Gyula, 516, 642, 663Kende, István, 198Kende, Péter, 112, 308, 323, 325, 342,366, 553, 662Kereszturi, Péter, 251Kertész, István, 529Kéthly, Anna, 36, 148, 221, 508, 515-16,581, 586, 606, 613, 663, 699Kilián, György, 408K<strong>in</strong>dlovics, 409K<strong>in</strong>izsy, 438Király, Béla, 222, 246, 508, 519, 521-2,536-7, 540, 568, 572-3, 578, 583-5, 593,639-40, 649, 666, 672, 678, 680, 683,694, 735Kisházi, Ödön, 332Kiss, Károly, 96, 253, 402, 581Kiss, Lajos, 445Kiss, Sándor, 113, 221, 517, 614Kleist, Mausi von, 15Kóból, József, 223, 365Koczak, István, 226797


Kodály, Zoltán, 176, 205, 610Koltschak, Alexander W., 30Kömüves, 338, 350, 685Konjew, 451, 523, 591-2Kopácsi, Ibolya, 98Kopácsi, Judit, 227, 683Kopácsi, Sándor, 98-9, 174, 203, 214, 241,251, 261-2, 266-7, 269, 284, 318-19,326-7, 336, 345, 353-4, 364-5, 400-1,420-3, 467, 476, 482-5, 505, 508, 519,535-6, 541, 545, 557, 568-9, 572, 583-5,594, 597, 633, 672, 678-80, 691, 708,710, 739-40Kopácsi, Violet, 269Korda, Mike, 684Korondy, Béla, 67, 73Korv<strong>in</strong>-Kle<strong>in</strong>, Otto, 25Kós, Péter, 467, 499, 532, 554, 561, 622Kosáry, Domokos, 285, 313, 322-3, 475Kóssa, István, 625, 647, 663, 702Kossuth, Lajos, 27, 47, 262, 275, 279-80,285-6, 290-2, 299-300, 310, 345, 355,368, 378, 387, 395, 561, 580, 597, 605,633, 695Kovács, András, 602, 631Kovács, Béla, 33-4, 221, 464, 480, 489,498, 517, 553, 585-6, 605, 612, 618,628, 633, 690, 697, 705, 709, 727Kovács, Imre, 540Kovács, István, 96, 214, 320, 387, 434,467, 486, 539, 593, 642, 688, 738Kovács, János, 280Kovács, László, 331, 611Kovács, Piroska, 552, 555Kövágó, József, 91, 489, 517, 567, 642Kovavic, 278Kristóf, István, 287, 370Kuczka, Péter, 155, 179Kun, Béla, 25-6, 256, 419Kurucz, Béla, 314, 339, 685-6, 712Kutikow, V. N., 529Lakatos, Péter, 557Lányi, Ildikó, 269-70, 298Larschenko, 451, 453László, Erika, 43, 310-11Laughton, Charles, 275Lederer, Lajos, 647, 670, 692Len<strong>in</strong>, 12, 25, 101, 157, 169, 204, 262,272, 288, 322, 324, 363, 408, 430, 432,527Lewis, Flora, 303, 430Liebknecht, 170L<strong>in</strong>coln, Abraham, 34, 174Liu Shao-chi, 591Lloyd, Selwyn, 254, 461Löcsei, Pál, 207, 325, 348, 366, 484Lodge, Henry Cabot, 376-7, 412, 414, 461,466, 499, 559, 587, 623, 655, 657, 674,679, 689-90, 693Lombos, Lajos, 66Losonczy, Géza, 90-1, 155, 164, 177, 180,199-201, 207-8, 210-11, 216, 221, 227,248, 257-61, 264-5, 277, 283, 287, 290,300-1, 307-8, 322-5, 329, 365, 368,392-3, 401-2, 433, 442, 543, 547, 553,568-70, 587, 595, 602, 614, 619, 633,638, 642, 655, 663, 665, 669-70, 683,699, 726, 739Lovas, György, 455Löwenste<strong>in</strong>, Hubertus Pr<strong>in</strong>z zu, 630Lukács, György, 153, 209, 263, 265, 401,433, 480, 482, 569, 594-5, 617, 626,633, 663, 699, 725-6Lukácsy, Sándor, 234, 299Luxemburg, Rosa, 170MacCormac, John, 172, 334, 395-6, 399-400, 404, 423, 470, 501, 513, 538-9,604, 640, 670, 700, 711Magos, Gábor, 478, 730Majlát, Jolán, 691, 707Malenkow, Georgij M., 133-4, 145, 163,192, 600, 653, 673Maléter, Maria, 281, 447Maléter, Pál, 81-5, 174, 281, 286, 360,408-10, 416, 447, 478-9, 494, 514, 539,552, 562-3, 568, 572, 578, 581, 583-5,593, 612, 614, 616, 634, 637, 640, 642-3, 649, 663-6, 676-81, 688, 692, 713,720, 732, 737, 740Mal<strong>in</strong><strong>in</strong>, Mikhail S., 654, 664, 666, 681Mal<strong>in</strong>owski, Rodion, 83, 584Mann, Thomas, 161Mao Tse-tung, 591Marián, István, 259, 264, 268-9, 507, 578,583, 684, 738Markos, György, 507798


Marosán, György, 36-7, 77-80, 89-91, 135,160, 204, 216, 223, 262-5, 276, 347,434, 604, 644, 646, 702, 729Márton, András, 578Marton, Endre, 188, 329, 341, 387, 390,396, 398-9, 473Márton, László, 320, 338Marx, 9, 157, 169, 204, 324, 363, 703Máté, Imre, 248, 272, 731Mathias, Paul, 14-16, 474, 544, 581, 650Matolcsi, 6Matteotti, Matteo, 613-14, 716Mayer, Ántal, 527Mazey, Sigmund, 506Mécseri, János, 335, 692, 737Meeker, Brice C., 387, 398Mekis, József, 6, 289Menon, Krischna, 728-30Méray, Tibor, 132, 152, 172-3, 182, 199,201, 207, 216, 236, 291, 484, 514, 678Mercader, Ramón, 41Messz, János, 374Mester, János, 271Mezö, Imre, 174, 214, 246, 264, 280, 290,372-3, 402, 477, 486, 504-5, 528-9,539-40, 544-50, 556-7, 627, 703, 739Michelangelo, 198Micunovic, Veljko, 239, 380, 415Middleton, Drew, 470Mikes, Ferenc, 436Mikojan, Anastas, 133, 215, 250, 375, 391,402, 468, 494, 541, 566-9, 575, 581,586-7, 594-6, 599, 627, 637, 652Miller, Arthur, 198Milnes, A. A., 342M<strong>in</strong>dszenty, Kard<strong>in</strong>al József, 52-4, 72, 78,135, 146, 370, 538, 56-3, 574, 578, 592-3, 612-13, 630, 644, 677-8, 690-1, 694,696, 705-6, 709, 713, 719-20, 736, 738Mód, Péter, 648Mohai, István, 440Molden, Fritz, 668Mollet, Guy, 560Molnár, László, 557Molnár, Miklós, 155, 162, 171, 227, 324,364, 510, 664-5Molnár, Tibor, 272, 275Molotow, 133-4, 142, 250, 453, 523-4,542, 600, 632Montanelli, Indro, 684Montesquieu, 227Montgomery, 472Morgan, J. P., 383Mossadegh, Mohammed, 192Mozes, 271Münnich Ferenc, 244-5, 363, 419-20, 445,481-2, 496-7, 519, 526, 535, 571, 596-7,625, 627, 638, 644, 646, 654, 663, 702-3, 709, 714, 726-7, 739Münnich, Etelka, 419, 625Murphy, Robert, 467, 658, 705Mussol<strong>in</strong>i, Benito, 561, 592Nádasdy, Gräf<strong>in</strong> Anna, 194Nádor, Ferenc, 393, 520-2, 577-8, 659,699Nagy, Balázs, 507, 721Nagy, Béla, 430Nagy, Ferenc, 13, 22, 35, 225Nagy, Gyula, 650Nagy, Imre, 18-19, 29, 32, 46, 50, 52, 55-6, 76, 108, 121, 133-47, 150, 155, 158,164-7, 171, 173, 175-7, 184, 190, 197,199, 201, 205, 207, 209-10, 213-16,219-20, 223, 234-8, 241-3, 246, 248,250, 253, 256-7, 260, 262-5, 279, 281,286-95, 298, 301, 306, 308-10, 320,322, 325-6, 329, 333-4, 343-9, 356, 358,363, 365-6, 368, 385, 388, 392-6, 400,402, 412, 415, 419-22, 432-3, 441, 443,452, 464, 472, 478-88, 491-9, 502, 507-9, 511, 513, 517, 519, 522-3, 525, 530,534-6, 538, 543, 547, 549, 552-7, 564-73, 579, 589, 593, 595-7, 601, 606, 612,614-15, 618, 621-2, 625, 633, 637, 645,647-8, 654-5, 663, 666, 668, 674-89,695, 698-9, 720, 723, 725-7, 739-40Nagy, János, 601Nagy, László, 187Nagy, Maria, 280Nagy, Sándor, 350, 685Nagy, Tamás, 507, 522Nagyéri, 717Nasser, Gamal, 411Naszkowski, Marian, 599Nehru, Pandit, 512, 728, 736Nelson, Admiral Horatio, 114, 718Nemes, Dezsö, 529, 548799


Németh, Dezsö, 47Németh, László, 150Nicoll, James A. G., 302-3Nikos, Iorgos, 381N<strong>in</strong>, Andrés, 218Nitsche, Roland, 575, 700Nixon, Richard, 412, 587-8Nógrádi, Sándor, 83, 197, 213, 223, 644Nón, György, 198, 611Novák, Maria, 103Novobáczky, Sándor, 227, 265Novotny, Anton<strong>in</strong>, 26, 600Nunez-Portuondo, Emilio, 623, 658Nyerges, Anton, 398, 403, 459-60Nyirádi, Imre Szabó, 373, 520-1Oberszovsky, Gyula, 442, 534, 737Ochab, 600Oistrach, David, 20Olti, Vilmos, 92Orbán, László, 255, 259Orbán, Miklós, 271, 306Ordass, László, 54Orwell, George, 51, 162Oszkó, Gyula, 392, 571, 625Páger, Antal, 195Pálffy, György, 46, 216Pálházy, Ferenc, 602Pál<strong>in</strong>kás, Antal, 369, 574-5, 738Palkovics, László, 435Pallós, Ferenc, 409Papp, József, 476, 549, 555, 636Pataky, Jenö, 275Pauker, Anna, 26Paul-Boncour, Jean, 15, 474Pázmány, Péter, 252Pedrazz<strong>in</strong>i, Jean-Pierre, 15-16, 474, 544Péter, Gábor, 49-50, 60, 67, 88-9, 95, 98,147, 203-4, 309, 486, 503Péterfalvy, János Ödön, 31-2, 231, 407,456Pethö, Tibor, 307, 322Petöfi, Sándor, 99, 207, 262, 271, 277,293, 605, 663, 689Peyer, Károly, 36Philby, Kim, 49Philipp, Franz, 664Picker<strong>in</strong>g, Ted, 302Pieck, Wilhelm, 176Piros, László, 6, 263-9, 272, 349, 365, 402,419, 498, 523, 596, 736Piroska, Jankó, 552, 555Pocze, László, 571Pogány, Géza, 668, 700Pollak, Francis, 303, 471Pongrácz, Ernö, 287, 289, 370Pongrácz, Gergely, 552, 583Pongrácz, Kálmán, 215Pongrácz, Kristóf, 370Pongrácz, Ödön, 371Potapov, 278Pötz, Flora, 430Pozsár, István, 716Probst, Otto, 613Prokofieff, 210Puschk<strong>in</strong>, 90, 307Rácz, Sándor, 723, 731-2Ra<strong>in</strong>ier, Fürst, 236Rajk, Julia, 217, 242Rajk, László, 27, 34, 37, 59-60, 63-74, 79,88, 95-6, 98, 107, 139-40, 147, 177,199, 203, 211, 213, 216, 230, 242-4,247, 319, 419, 464, 508, 699, 726, 740Rákosi, Fedora, 6Rákosi, Mátyás, 6-7, 10, 13, 24-38, 41, 44,46-59, 63-5, 68, 71, 73, 76-80, 83, 88-9,96-7, 99-101, 103, 105, 111-13, 123-6,132-9, 142-8, 154, 159, 161, 163-4,166-8, 171-3, 177-80, 183-4, 190, 193,195-207, 211, 214-16, 218, 223, 226,230, 233, 241, 247, 262, 268, 280, 290,308, 342-3, 419, 480, 499, 503, 523,540, 558, 562, 569-70, 595-6, 604, 621,654, 661, 678, 708, 720, 734, 736Rankovic, Aleksandar, 72, 653Reagan, Ronald, 189Reményi, Ferenc, 228, 275, 290, 394, 396,398Renton, Bruce, 618-19Rényi, Péter, 242, 632Répási, Miklós, 81Révai, József, 30, 41, 55, 67, 124, 154,159, 161, 163, 181, 184, 223, 266, 320,325Révay, Kálmán, 47Révész, András, 204, 515, 517, 581, 613800


Révész, Géza, 83Ribiánszky, Miklós, 480Rodha<strong>in</strong>, Msgr., 630Rodriguez, Endre, 250-1, 273, 278, 281,358Rogers, Tom, 334, 398, 423, 459-60Rokossowski, Konstant<strong>in</strong>, 250Rommel, Erw<strong>in</strong>, 137, 472Rónai, Sándor, 644, 692, 697, 702, 707Roosevelt, Frankl<strong>in</strong> D., 24Rothschild, Philipp<strong>in</strong>e de, 16Rousseau, 227Rózsa, László, 685Rubletczky, Géza, 92Russell, Mark, 279Rusznyák, István, 309Sadovy, John, 544, 550-1, 556Saillant, Louis, 524Sándor, András, 156Sándor, József, 284Sarkadi, István, 338, 631Sárközi, Märta, 222Sárközi, Mátyás, 222, 231, 304Schepilow, Dimitrij, 518, 524-5, 729Schtscherban<strong>in</strong>, 664Schubert, Ernö, 197Schukow, 450, 513, 523-6, 542, 564, 567,588, 652, 654, 710Schulman, Jay, 41Schurecz, József, 265Sebes, Gusztav, 149Serow, Iwan, 266, 420, 681, 710Shakespeare, 125, 243Sikorski, 243Silva, Peer de, 202, 457Simon, Jolán, 50S<strong>in</strong>ger, Ernst, 41, 218S<strong>in</strong>kovits, Imre, 275-6S<strong>in</strong>owjew, Grigorij, 26Smith, Joseph K<strong>in</strong>gsbury, 71Smith, Sydney, 473Sobolew, Arkadi, 499, 657Soldatic, Dalibor, 205, 595, 604, 655, 683,725-6Solymossi, János, 335Sólyom, László, 47Somogyvári, Lajos, 492Stal<strong>in</strong>, Josef, 10, 12, 24-5, 27-8, 30, 35, 49,59, 63-4, 68, 86, 101, 112, 124, 140,152, 154, 169, 182, 202, 275, 277, 312,314, 318, 324, 333, 363, 394, 562, 591,661Starewic, Artur, 599Stassen, Harold, 459-60Stepanow, 664Stephens, Peter, 535Stephenson, Richard M., 43, 117-18Sultz, Árpád, 378-9, 439, 564Susa, 338Suslow, Michail A., 215, 223, 375, 391,468, 494, 541, 566-7, 575, 595-6, 599,627Szabados, István, 277Szabó, Gergely, 552Szabó, György, 490, 492Szabó, István, 47, 520, 572Szabó, János, 464, 488, 510, 546, 623,656, 675Szabó, Lajos, 150, 557Szabó, Sándor, 317Szabó, Zoltán, 284, 288, 330, 360, 416Szabó, Zsigmond, 681Szabolcs, Ferenc, 31Szakasits, Árpád, 36-7, 88, 95, 165, 216,308, 367Szalai, Béla, 200, 433Szalai, Sándor, 79Szálay, Erika, 43Szalvay, Michael, 47Szamuelly, Tibor, 25Szántó, Miklós, 477Szántó, Rezsö, 26Szántó, Zoltán, 67, 159, 265, 300, 306,546, 604, 617, 633, 655, 683, 687Szappanos, Pál, 465, 532Száray, Zoltán, 93, 607Szász, Béla, 44, 64, 66, 164Szász, Csiky, 391Szatmári, Pál, 334-5Szeder, Ferenc, 36Szegedi, 256Szegö, Daniel, 312Szeifert, Tibor, 649Székely, Béla, 47, 519Székely, György, 391Szell, Jenö, 265Szepesi, György, 295, 306801


Szepesi-Friedländer, 441Szigethy, Attila, 491-2, 495, 517, 564-5,573, 605-6, 610, 627, 660, 737Sziklai, Sándor, 445, 703Szilágyi, József, 98, 248-9, 256, 265, 348,484, 557, 568, 638, 672, 678, 680, 683,687, 691, 699, 739Szolnoki, László, 8-14, 35, 298Szönyi, Tibor, 67, 73, 79, 216Szücs, Miklós, 67-8, 486, 642, 649, 677,681, 720Takács, József, 36Tánczos, Gábor, 208, 258, 261, 265, 507,699Tardos, Tibor, 212-14, 323, 338Tari, János, 409-10Tedeschi, Bruno, 417, 429, 473, 626-7Terry, Anthony, 660Teslic, Vlado, 545, 585Thälmann, Ernst, 26Tildy, Zoltán, 22, 88, 165, 234, 367, 480,536-7, 552-4, 567, 572, 574-5, 579, 581,585, 611-18, 628, 642-6, 669-70, 683-4,687, 690-8, 718, 739-40Tito, Josip Broz, 64-6, 71-3, 96, 182, 184-5, 204, 237, 239, 380, 415, 543, 647,653-5, 680, 721, 726, 739Todd, James C., 328Töke, Ferenc, 445, 724Tollas, István, 357Tombor, Eugene, 47Tompa, István, 280, 333-4, 528, 549, 572,584Török, Bal<strong>in</strong>t, 88Tóth, Ferenc, 527Tóth, Lajos, 486, 504, 572, 593Tóth, Zoltán, 397Trotzki, 41, 69Truman, 191Turcsányi, Egon, 696, 718Ujhelyi, Szilárd, 180, 199, 208, 264-5, 699Ulbricht, Walter, 599Urban, Ernö, 156Uszta, Gyula, 519, 640Vadas, 92Vadász, Frigyes, 477Valent<strong>in</strong>i, A., 36Váradi, Gyula, 467, 537, 574, 578, 737Varga, Béla, 35, 189, 689Varga, Mihály, 271Varga, Rezsö, 631Varga, Zsigmond, 404Vas, Zoltán, 80-3, 92, 213, 223, 246, 372,375, 568, 628, 699, 725-6Vásárhelyi, Miklós, 96, 112, 159-62, 172-3, 177, 180, 182, 185, 199, 206, 209,214, 221, 231, 241, 253, 264-5, 277,279, 283, 287, 300, 305, 307-8, 322,328-9, 363, 366-8, 392-3, 401, 497, 507,514, 602, 668, 676, 684, 699, 726, 739-40Vég, 6Végh, Tivadar, 262Végvári, Vazul, 713Veres, Péter, 47, 205, 273, 278-9, 287, 290Vészics, Ferenc, 295, 332Vida, Ferenc, 739Vigyázó, Piroska, 552Virágh, Ede, 548Voltaire, 227Vörösmarty, Mihály, 299Voukmirovic, 699Waernberg, Len, 602Wailes, Edward Tom, 646, 662-3, 667,669, 687, 692-3, 696, 705-6, 710-11,713-14, 718, 720Wald, Pál, 181, 272Walker, 675, 689-90Wehner, Herbert, 613Weil, Emil, 69, 213, 383Whitman, Ann, 589Wilcox, Frank, 499Wilde, Oscar, 285, 452Wisch<strong>in</strong>skij, Andrej, 71Wise, Stephan, 71Wiskari, Werner, 470Wisner, Frank G., 190, 202Woroschilow, Kliment, 24, 90, 139, 312,609, 652, 710, 730Zádor, Tibor, 467Zalka, Miklós, 731Zapotocky, 675Zelk, Zoltán, 154, 179, 200, 319, 357, 738802


Zentai, Vilmos, 516, 642Z<strong>in</strong>ner, Paul, 289Zircz, László von, 442Zr<strong>in</strong>yi, 438Zsebök, 565, 629Zsedényi, Béla, 92Zsedényi, László, 81Zsengellér – Professor, 103-4, 141Zsengellér, Margit, 103-4, 141Zsolt, 520, 659803

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