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und Leseprobe (PDF) - Vandenhoeck & Ruprecht

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Deeg / Meyer-Blanck / Stäblein, Präsent predigen© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, GöttingenISBN Print: 9783525620014 — ISBN E-Book: 9783647620015


Deeg / Meyer-Blanck / Stäblein, Präsent predigen© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, GöttingenISBN Print: 9783525620014 — ISBN E-Book: 9783647620015


Deeg / Meyer-Blanck / Stäblein, Präsent predigenAlexander Deeg / Michael Meyer-Blanck /Christian StäbleinPräsent predigenEine Streitschrift wider die Ideologisierungder „freien“ KanzelredeVandenhoeck & Ruprecht© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, GöttingenISBN Print: 9783525620014 — ISBN E-Book: 9783647620015


Deeg / Meyer-Blanck / Stäblein, Präsent predigenDie AutorenDr. theol. Alexander Deeg ist Professor für Praktische Theologie an der UniversitätLeipzig und leitet das Liturgiewissenschaftliche Institut der VELKD.Dr. theol. Michael Meyer-Blanck ist Professor für Praktische Theologie undReligionspädagogik an der Universität Bonn.Dr. theol. Christian Stäblein ist Konventual-Studiendirektor des Predigerseminarsder Ev.-luth. Landeskirche Hannovers im Kloster Loccum.Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sindim Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.ISBN 978-3-525-62001-4ISBN 978-3-647-62001-5 (E-Book) 2011 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, GöttingenVandenhoeck & Ruprecht LLC, Oakville, CT, U.S.A.www.v-r.deAlle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällenbedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.Printed in Germany.Satz: Lisa Hoppe, GöttingenDruck und Bindung: a Hubert & Co, GöttingenGedruckt auf alterungsbeständigem Papier.© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, GöttingenISBN Print: 9783525620014 — ISBN E-Book: 9783647620015


Deeg / Meyer-Blanck / Stäblein, Präsent predigenInhaltVorwort.......................................... 7Alexander Deeg / Michael Meyer-Blanck / Christian StäbleinPräsent predigen statt (un)frei herumreden –40 streitbare Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9Michael Meyer-BlanckHomiletische Präsenz. Ein Plädoyer im Rahmen derDiskussion um die „freie Rede“ in der Homiletik . . . . . . . . 21Alexander DeegDie Leidenschaft für den Text und die Lust an dergestalteten Rede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56Christian StäbleinIn aller Freiheit mit Manuskript oder: Was man heutelernen muss, um sich nicht auszupredigen . . . . . . . . . . . . . 100© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, GöttingenISBN Print: 9783525620014 — ISBN E-Book: 9783647620015


Deeg / Meyer-Blanck / Stäblein, Präsent predigen© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, GöttingenISBN Print: 9783525620014 — ISBN E-Book: 9783647620015


Deeg / Meyer-Blanck / Stäblein, Präsent predigenVorwortWenn präsent gepredigt wird, herrscht im Gottesdienst eine gespannteund neugierige Aufmerksamkeit. Dann wird deutlich:Dieser eine Moment kommt nicht wieder. Jetzt geschieht etwas.Man vergisst Zeit und Ort, weil spürbar etwas anderes Gegenwartwird. Es kommt etwas zum Fließen, was man vor hundert Jahrendas „lebendige Fluidum“ und in den letzten beiden Jahrzehntenmit dem Psychologen Mihaly Csikszentmihalyi den „Flow“ genannthat. Theoretisch spricht man im Hinblick auf solche Situationenvon „religiöser Evidenz“ und in biblischer Sprachenennen wir dies das Hören des Wortes Gottes, das uns anspricht,herausfordert und tröstet. So wird aus der Beschäftigung mit derBibel und dem Leben, mit der lebendigen Bibel und der Bibel imLeben etwas schlechthin Gutes, eben das Evangelium gehört. Dasmeinte Martin Luther mit seinen Worten, das Evangelium seinichts anderes als „ein gutes Geschrei von Christus, der allenLeuten Hilf und Gnad anbietet und nichts mehr fordert, sondernallein freundlich locket“.Dazu muss die Predigt eine Intensität des Mitteilens, Darstellensund Hörens gewinnen, die unter den rhetorischen Situationeneinmalig ist. Das ist unstrittig. Über den Weg aber, wieman am ehesten zu solchen Predigtereignissen kommt, mussimmer wieder neu nachgedacht werden. Viele Faktoren und Facettenmachen eine gelungene Predigt aus. Dieses Buch beschäftigtsich nur mit der Frage: Predigen mit oder ohne Manuskript?Wir beobachten in den letzten Jahren eine theoretischeund praktische Hochschätzung der frei gehaltenen Predigt undwollen dazu einen Kontrapunkt setzen. Präsent predigen kannman auch mit Manuskript – aber niemals ohne intensive Vor-© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, GöttingenISBN Print: 9783525620014 — ISBN E-Book: 9783647620015


Deeg / Meyer-Blanck / Stäblein, Präsent predigen8 Vorwortbereitung. Diese Behauptung entfalten wir in einer sich zuspitzendenThesenreihe und vertiefen die Argumente aus drei Einzelperspektiven:von der homiletischen Theorie (Michael Meyer-Blanck), von der Begegnung mit dem biblischen Text (AlexanderDeeg) und von der Erfahrung in der Ausbildung her (ChristianStäblein).Wir freuen uns auf eine engagierte und kontroverse Diskussionund vor allem auf das, worum es uns mit diesem Buch geht:auf noch präsentere, lockende Predigten.Leipzig / Bonn / Loccum, im März 2011Alexander DeegMichael Meyer-BlanckChristian Stäblein© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, GöttingenISBN Print: 9783525620014 — ISBN E-Book: 9783647620015


Deeg / Meyer-Blanck / Stäblein, Präsent predigenAlexander Deeg / Michael Meyer-Blanck /Christian StäbleinPräsent predigen statt (un)frei herumreden –40 streitbare ThesenFrei predigen? – Für eine Klärung1. Nicht selten wird der Anspruch der freien Predigt zu einerFrage stilisiert, mit der die Praxis der Kirche „steht oder fällt“.Zweifellos: Das Evangelium ist – nach Luther – „mündlich Geschrei“.Aber: Predigten ohne wörtlich ausgearbeitetes Manuskriptgarantieren diesen Charakter des Evangeliums keineswegs.Die notwendige und unverzichtbare Mündlichkeit ist nichtbereits durch die formale Praxis der freien Predigt gegeben,sondern sie ist die Erwartung, die jeder Predigt zugrunde liegt.Das freie Predigen darf jedenfalls nicht zum Verzicht auf komplexeGedanken führen. Die geistige und geistliche Unterforderungist eine Form der Missachtung der Hörer.2. Eine kritische Thesenreihe zum freien Predigen wendet sichgegen die falsche Ideologisierung desselben, das häufig als Überhöhungeiner handwerklich mäßigen, real überaus „unfreien“, weilim eigenen Gerede gefangenen Praxis erscheint. Dabei geht esnicht um die Favorisierung der häufig als einzige Alternativedargestellten abgelesenen oder schlecht vorgelesenen Manuskriptpredigt.Denn die abgelesene Manuskriptpredigt ist keineAlternative, sondern eine Karikatur. Sie verfehlt das rhetorischeGenus. Dieses besagt: Ein Redner muss die Zuhörer gewinnenwollen, sonst sollte er das Reden sein lassen. Zwar gilt auch fürdieFehlform noch das Diktum Karl Barths: „Der frohen Botschaftwiderspricht nicht, dass sie vorgelesen wird.“ 1 Dennoch handelt es1 Karl Barth, Homiletik. Wesen und Vorbereitung der Predigt, Zürich3 1986 [1966], 112.© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, GöttingenISBN Print: 9783525620014 — ISBN E-Book: 9783647620015


Deeg / Meyer-Blanck / Stäblein, Präsent predigen10 Deeg / Meyer-Blanck / Stäbleinsich um eine Fehlform. Das ausgearbeitete Manuskript darf jedenfallsnicht zur Verleugnung der rhetorischen Rolle führen.3. In der theoretischen Erfassung dessen, was mit dem Begriff„freie Predigt“ verbunden wird, lassen sich vor allem zwei Traditionssträngeunterscheiden: das ältere Modell „Manuskripterstellung– freier Predigtvortrag“ (Stichwort ,Memoria‘) und dasneuere Modell, das eine Manuskripterstellung ablehnt und diePredigterarbeitung in mündlichen Sprechdenkversuchen einfängt(Stichwort ,Sprechdenken‘). Beide Traditionen legen Wertdarauf, dass der freie Predigtvortrag selbstverständlich ebensoakkurat und gut vorbereitet werden muss wie die Erstellung einesManuskripts.4. Demgegenüber steht eine – vermutlich weniger homiletischals pastoralethisch zu bedenkende – Praxis, bei der weder daseine noch das andere zu erkennen ist, sondern freie Predigtmangels Vorbereitung ein unvorbereitetes und damit unfreiesHerumreden ist. Ein Prediger, der sich vor allem auf seine persönlicheAutorität verlässt, missachtet die Autorität der Gemeinschaft.Dabei kann die pastoralpsychologische Begründungdes freien Sprechens zum Mäntelchen der Faulheit werden. Dasist der Missbrauch, der einen (guten) Gebrauch der Konzeptenoch nicht widerlegt, wie auch die schlecht vorbereitete, abgeleseneManuskriptpredigt keine Widerlegung des guten Sinnesist, ein Manuskript zu erstellen.5. Schließlich, damit es einmal gesagt ist: Natürlich ist einManuskript keine Garantie für kluge, geordnete, theologischzutreffende Gedanken, stimmige Bilder und überzeugende Erzählungen.Man kann viel dummes Zeug reden und man kannviel dummes Zeug schreiben. Aber die Zeit des Vorbereitens undSchreibens gibt die Zeit, die selbstkritische Funktion der eigenentheologischen Kompetenz ins Spiel zu bringen.Präsent predigen!6. Sachgemäß für den Predigtvortrag ist die Forderung nach rechtverstandener homiletischer Präsenz. Präsent predigen meint imKern die in der Homiletik vielfach beschriebene Aufgabe, auf derKanzel die Predigt neu, in diesem Moment noch einmal entstehen© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, GöttingenISBN Print: 9783525620014 — ISBN E-Book: 9783647620015


Deeg / Meyer-Blanck / Stäblein, Präsent predigenPräsent predigen 11zu lassen. Die praedicatio im Sinne der Reformatoren ist wederder Manuskripttext noch die Wirkung der Person, sondern dasVernehmen Christi in der Gemeinde. Zur Predigt gehört dieZirkulation des Glaubens durch das Zusammenspiel von Schrift,Gemeinde und Prediger.7. Die praedicatio in diesem Sinne gelingt, wenn sie in derDialektik von freiem, aktualisierendem Vortrag und präziser,bindender Vor- und Manuskriptarbeit geschieht. In der genauenErfassung dieses Vorgangs liegt ein wesentlicher Schlüssel zumVerständnis der homiletischen Aufgabe. Die Predigt hat ihrWesen in der Aufführung. Das Performative ist mehr und etwasanderes als die Summe des Semantischen und Persönlichen.8. Was ein freier Umgang mit einem Manuskript bedeutet oder– zugespitzt –, wie ein Manuskript (durchaus vorliegend auf derKanzel) gewissermaßen die Voraussetzung des freien Predigtvortragswerden kann, ist bisher noch nicht ausreichend bedachtworden. Die modernen Schreibmöglichkeiten in großer Schriftermöglichen eine viel größere Freiheit vom Manuskript, als dasbei handschriftlichen Vorlagen der Fall war.Einschlägiger Diskurs – offene Fragen9. Die Bearbeitung der Frage der freien Predigt im wissenschaftlichenDiskurs bleibt häufig hinter den Grundfragen homiletischerTheoriebildung zurück. „Frei predigen“ wird imhomiletischen Diskurs im Allgemeinen als eines der letztenStichworte rhetorisch-praktischer Hinweise bearbeitet. EineVerknüpfung mit Grundfragen des Predigterarbeitungsprozessesbzw. mit Grundlagen der Predigttheorie findet (so) kaumstatt. Theoretisch gesagt: Die Frage muss nicht nur formal-homiletisch,sondern auch material-homiletisch und prinzipiellhomiletischbedacht werden.10. Die Abfolge Manuskripterstellung – Memoria – freierPredigtvortrag behaftet die Predigt im Theoriegefüge der antikenRhetorik und nimmt sie nicht ausreichend als Redeform sui generiswahr. Die Darstellung von Predigterarbeitung und Predigtvollzugvom Sprechdenken her lässt hingegen allzu schnellAufgabe und Form der Predigt zusammenfallen. So kommt es© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, GöttingenISBN Print: 9783525620014 — ISBN E-Book: 9783647620015


Deeg / Meyer-Blanck / Stäblein, Präsent predigen12 Deeg / Meyer-Blanck / Stäbleinebenfalls nicht zu einer Verzahnung von homiletischer Aufgabeund rhetorischer Herausforderung. Was eine Predigt ist und wieman sie macht, diese Schritte fallen hier zu früh und zu schnellunter dem Stichwort „freie Rede“ zusammen – eine allzu kurzschlüssigeLösung des „Problems der Homiletik“ (D. Rössler). Esist auch in Rechnung zu stellen, dass sich die Form des„Sprechdenkens“ für eine Predigt von 5–8 Minuten (wie sie inder katholischen Messe geläufig ist) eher eignet als für einetexthermeneutische Predigt von 15–20 Minuten Dauer, wie sievon evangelischen Gottesdienstbesuchern erwartet wird.11. Eine Überprüfung der Forderung nach freier Predigt imanerkannten homiletischen Theoriehorizont (homiletischesDreieck, Vielfalt homiletischer Konzeptionen, Erkenntnisse überdie Stufen der Predigterarbeitung) ist nötig, um zu einer sachgemäßenDarstellung angemessener Vorgaben für den Kanzelauftrittzu kommen. Auf diese Weise lässt sich die Diskussion ausapologetischen Schlagseiten und ideologisierender Stimmungsmache(„nur die freie Predigt kann gute Predigt sein“) lösen.12. Die gängigen und anspruchsvollen homiletischen Konzeptionender Gegenwart arbeiten weder mit dem noch auf dasKonzept des „freien Predigens“ zu, allenfalls mit der rhetorischenAufgabe der Memoria. Weder dialektisch-theologische nochhörerbezogene, weder semiotisch-rezeptionsästhetische nochdramaturgische Homiletiken entwerfen Predigterarbeitungsprozesse,die ohne Manuskript auskommen. Differenziert behandeltwird lediglich die Frage, ob und wie ein Manuskript denKanzelauftritt selbst begleiten kann und darf. In dieser einhelligenAusrichtung homiletischer Theorie spiegelt sich die Einsicht,dass die Differenz ermöglichende Wahrnehmung von Text, Hörenden,Situation, eigener Person und rhetorischen Potentialender Vorbereitung der Predigt als Aufgabe sui generis in besondererWeise angemessen ist. Allen christologischen oder pneumatologischenKurzschlüssen ist zu wehren.Der einschlägige Witz hierzu beschreibt die Problematik despneumatologischen Kurzschlusses: „Pfarrer A: Ich braucheimmer sehr lange für meine Predigtvorbereitung. Das ist einmühsames Geschäft. Anstrengend. Hart. Aber am Ende wichtig.– Pfarrer B: Wirklich? Ich habe damit aufgehört. – Pfarrer A: Ach,© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, GöttingenISBN Print: 9783525620014 — ISBN E-Book: 9783647620015


Deeg / Meyer-Blanck / Stäblein, Präsent predigenPräsent predigen 13und wie machen Sie es? – Pfarrer B: Ich gehe am Sonntag auf dieKanzel. Wende mich zum Gebet und bitte den Heiligen Geist, dasser mir die rechten Worte schenkt. – Eine Woche später. Pfarrer A:Ich habe es nach Ihrer Methode versucht. – Pfarrer B: Und? Washat der Heilige Geist gesagt? – Pfarrer A: Mein Sohn, Du bist faulgewesen. Mein Sohn, Du sollst dich besser vorbereiten.“ Variantedes Witzes: „Visitator hört im Visitationsgottesdienst eine Predigt,die gut beginnt, nach einer Weile dünner wird und gegenEnde chaotisch und aus den Fugen gerät. Nach dem Gottesdienstspricht er den Pfarrer an: Bruder, Ihre Predigt war interessant.Wie bereiten Sie die vor? – Pfarrer: Nun, den Anfang schreibe ichmir genau auf, danach mache ich mir Stichworte. Das Endeüberlasse ich ganz dem, was mir der Heilige Geist eingibt. – Visitator:Respekt, Sie predigen wirklich viel besser als der HeiligeGeist.“13. Mag im 19. und auch noch im 20. Jahrhundert die Hochschätzungder gut vorbereiteten Predigt im Verbund mit selbstverständlichenRhetorikschulungen (Memoria) eine Predigtkulturgarantiert haben, in der auch die in dieser Weise freiePredigt die speziellen Anforderungen der Aufgabe meisternkonnte, so fordert der pastorale Arbeitsalltag in der spätmodernenMedienkultur mit ihren Verkürzungen, Simplifizierungenund Banalisierungen dazu heraus, zumindest die Predigtaufgabein geistlicher Selbstdisziplin schriftlich vorzubereiten. Führte diememorierte Predigt bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts zu einerVerlängerung der Vorbereitungszeit, so dürfte das Hauptmotivder freien Predigt heute häufig auch die Zeitersparnis sein. Werden Unterschied zwischen einem ausgearbeiteten 45-Minuten-Vortrag und einer Power-Point-Präsentation kennt, weiß sofort,was gemeint ist. Dabei ist zwar der Wunsch nach Zeitersparnis imPfarramt verständlich, aber der bedauerliche Zeitmangel bei derPredigtarbeit darf nicht theologisch überhöht werden.Noch einmal: Präsent predigen!14. Der freien Predigt in dieser Thesenreihe wird das „präsentePredigen“ gegenübergestellt, dessen Voraussetzung die Erstellungeines Manuskriptes in der Predigtvorbereitung ist. Das© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, GöttingenISBN Print: 9783525620014 — ISBN E-Book: 9783647620015


Deeg / Meyer-Blanck / Stäblein, Präsent predigen14 Deeg / Meyer-Blanck / StäbleinManuskript ist noch nicht die Predigt selbst, sondern das Textbuch,die Partitur für den Predigtvorgang. Entscheidend ist wiebeim Theater die Performanz. Aber die Aufführung eines gutenTextes ist etwas anderes als das Improvisationstheater.15. Präsent predigen kann nicht heißen, dass das Manuskriptohne Blickkontakt zu den Hörenden abgelesen wird. Die Predigtist keine (unfreie) Lesung. Sie will die Hörer ansprechen undgewinnen.16. Präsent predigen kann auch nicht heißen, dass das Manuskriptauswendig gelernt werden muss. Die Predigt ist kein(unfreies) Gedächtnisschauspiel. Sie ist die Darstellung undMitteilung des Evangeliums auf dem Wege der Gedankenarbeiteines einzelnen, dazu berufenen Gemeindeglieds im Hinblick aufdie anwesenden Anderen.17. Präsent predigen heißt: ein im Blick auf Text, Hörende undPerson der Predigenden stimmiger Umgang mit dem Manuskript,der eine lebendige, der Aufgabe der Predigt – Verkündigungdes Evangeliums, Auslegung der biblischen Botschaft, Zuspruchder Freiheit der Kinder Gottes – angemessene VortragsundDarstellungsform ermöglicht. Nicht zuletzt predigt derPrediger auch sich selbst. Erst im Angesicht der Hörer erschließtsich ihm ganz, was er vorher bedacht hat. Die Resonanz derGemeinde verfremdet und erneuert die erarbeiteten Einsichten.Die freie Predigt und das homiletische Dreieck I:Text, Schriftlichkeit, Freiheit18. Die Aufgabe des Predigtvortrags ist mit Blick auf das homiletischeDreieck näher zu bestimmen. Der Zusammenhang der sobeschriebenen drei Faktoren gibt Hinweise auf die weniger gutenErfahrungen mit der frei daherkommenden Predigt.19. Die freie Predigt steht noch mehr als eine im Manuskriptvorformulierte Predigt in der Gefahr, den Text als Basis derPredigtaufgabe in den Hintergrund treten zu lassen. Der Texterscheint schnell nur noch als „Sprungbrett“ für Anknüpfungspunkte,die in unfreier, weil allein assoziativer und dabei häufigzerfasernder, ablenkender Weise, verfolgt werden. Das kritischeGegenüber eines Textes, dessen Spannungen zur Situation und zu© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, GöttingenISBN Print: 9783525620014 — ISBN E-Book: 9783647620015


Deeg / Meyer-Blanck / Stäblein, Präsent predigenPräsent predigen 15den anwesenden Personen einen fruchtbaren Prozess auslösenmögen, werden dann kaum noch wahrgenommen. Die Botschaftgerät in Gefahr zu verflachen, weil der – in der vorbereitendenExegese – eingeübte Schritt der differenzierten Reflexion mangelsPrägnanz und Präzision eingeebnet wird. Wolfgang Trillhaaserklärt deshalb nachdrücklich: „Die Predigt soll verbotenus[sic!] aufgeschrieben werden: Die Vorbereitung in Stichwortenmag für Bibelstunden und eventuell Kasualreden gut sein, wosich Text und Augenblick begegnen, für die Predigt verführt siezum geschwätzigen Extemporieren.“ 220. Dem Ringen um das Potential des biblischen Textes aufdem Wege kritischer Hermeneutik und konstruktiver Predigterarbeitungentspricht die differenzierte und kreative Arbeit anprägnanten, präzisen Formulierungen. Die Aufgabe im Predigtvortragbesteht darin, diese Formulierungen im Moment derDarstellung neu mit Leben zu erfüllen und die Spannungen, ausdenen die Hervorbringung neuen Begreifens in der Regel lebt,nachvollziehbar bzw. erlebbar zu machen.21. Der Predigtvortrag, der mit Manuskript arbeitet, ist nichtan einmal gewonnene Formulierungen starr gebunden, aber erlebt aus der Prägnanz und Formulierungskraft schriftlicherVorarbeit. Diese Vorarbeiten sind die Bedingung der Möglichkeiteines freien Sprechens auf der Kanzel. Der Predigtvortrag lebt ausder Fülle des im Manuskript niedergelegten Gedankenreichtumsund aus dessen sprachlicher Prägnanz. Aus der vorangegangenenMühe folgt die Identifikation mit dem Vorgetragenen, aus derIdentifikation die Präsenz und aus der Präsenz die Wachheit desHörers, das kostbarste rhetorische Gut.22. Schließlich: Dass die Schriftlichkeit einer Predigt nicht dieSchriftgemäßheit garantieren kann – so bisweilen die Unterstellunggegenüber den Befürwortern eines Manuskripts –, istselbstverständlich. Schriftgemäß ist nicht die Treue zu einer bestimmtenPerikope, sondern das Hineinkommen in die Dynamikund den Geist des Gekreuzigten (1 Kor 2,4 f.).2 Wolfgang Trillhaas, Evangelische Predigtlehre, Berlin 1954, 204.© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, GöttingenISBN Print: 9783525620014 — ISBN E-Book: 9783647620015


Deeg / Meyer-Blanck / Stäblein, Präsent predigen16 Deeg / Meyer-Blanck / StäbleinDas homiletische Dreieck II: Hörende und Situation,Effekthascherei und ernsthafte Wahrnehmung23. Auch beim Hörer/innen-Bezug täuscht die „freie Rede“ mitvermeintlichen Vorteilen über Gefahren hinweg. Die Befürworterder freien Predigt bringen vor allem in Anschlag, dass der Kontaktzu den Hörenden hier viel besser sei als beim Vortrag mit Manuskript.Das „Blatt vorm Mund“ wird als Trennung, als Kontaktbzw.Präsenzstörung angesehen. Dabei wird nicht thematisiert,dass die freie Predigt jenseits ihrer kommunikationstechnischenVorzüge gerade im Blick auf die Hörenden nicht unerheblicheGefahren mit sich bringt. So werden die Hörerinnen und Hörerinsofern ihrer Freiheit beraubt, als sie mit einer bedrängenden,letztlich autoritären Rhetorik jeden Augenblick des Predigtvollzugsin ihrer Aufmerksamkeit gefesselt werden sollen.24. Darüber hinaus wird der Hörerbezug allzu sehr vom Augenblickbestimmt. Das Abheben auf die aktuellen Reaktionenmimischer und gestischer Art reduziert die Hörenden auf situativbedingte Befindlichkeiten oder Gewohnheiten. Der Predigtvortragwird so gerade im vermeintlichen Kontakt zu denHörenden oberflächlich. Die Hörenden werden selbst auf ihreForm der Anwesenheit und situativen Wahrnehmung fixiert.25. Die freie Predigt steht in der Gefahr, den Hörerbezug aufdie anwesenden Hörer/innen zu reduzieren und damit einenGrundcharakter der öffentlichen Predigtaufgabe zu verfehlen.Die Tiefe der Bedeutung des Hörerbezugs (Situation der Anfechtung,Zuspruch des Trostwortes, Gefangensein in Sünde,Zusage der Gnade etc.), die im differenzierten Vorbereitungsprozessder Predigt einzuholen ist, verkommt unter Bedingungen,die die Predigenden – im Theaterjargon formuliert – zur„Rampensau“ machen, allzu leicht zur (unfreien, mitunterpeinlichen) Effekthascherei. Positiv formuliert: Der Text soll inseiner Einmaligkeit und Fremdheit erschlossen, die Hörendensollen in ihrer Pluralität und Fremdheit gewonnen werden. Siesind nicht die Verfügungsmasse eines talentierten und routiniertenRedners, der seinen Einfluss genießt.26. Die Aufgabe der Predigt, Verheißung und Situation miteinanderzu „versprechen“, lebt von einer differenzierten© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, GöttingenISBN Print: 9783525620014 — ISBN E-Book: 9783647620015


Deeg / Meyer-Blanck / Stäblein, Präsent predigenPräsent predigen 17Wahrnehmung der Hörenden und ihrer Situation. Dabei gilt es,zutreffende von falschen Analogien zwischen Text und Situationzu unterscheiden, hierbei die Hörenden im Text und den Text beiden Hörenden zu entdecken. Eine Predigt, die die Bedeutungdieser Kooperation von Text und Hörenden aufnehmen will, wirdsich nicht auf die verführerischen Reduktionen der Situation desKanzelvortrags allein stützen, sondern durch differenzierteVorarbeit deutlich machen, dass die Predigt eine ist, die dieHörenden als (Dialog-)Partner und „Mitproduzenten“ ernstnimmt. So wie sich nicht die freie und flache Assoziation vor diedifferenzierte Arbeit am Text schieben sollte, so soll sich nicht dieflache Wahrnehmung der Situation und der Hörenden vor denDialog von Text und Hörenden schieben.27. Angemessene homiletische Präsenz wird die gewonnenenFormulierungen der Vorarbeit im Moment der Predigt so zurSprache bringen, dass sie als Formulierungen aus dem Dialog mitden Hörenden und als Worte für sie deutlich werden. Dadurchwerden sich die Hörenden wahrnehmen können als die, die sienoch nicht sind, die sie aber schon in der homiletischen Reflexiondieser Predigt waren: freie und erlöste Menschen Gottes.Das homiletische Dreieck III: Die Person des Predigers/der Predigerin – gebunden, gefangen, frei28. Die „freie Rede“ als Predigtform liefert die Predigt häufigungefiltert der Person der Predigenden aus. Das Ich der Predigendenschiebt sich vor die Predigtaufgabe. Die Prediger predigensich selbst und verfangen sich in der eigenen Lebensgeschichteund dem erworbenen Habitus. Gerade so wird diejenigeFreiheit verspielt, die sich aus neuen Entdeckungen am Text undan der Predigttradition der Kirche ergibt.29. Der herausragenden Bedeutung der Person der Predigendenfür die Predigt entspricht die Herausforderung, im Predigtvollzugimmer wieder bewusst zu halten, dass es die Aufgabe derPredigenden ist, auf etwas außerhalb ihrer selbst zu verweisen.Homiletische Modelle, die hierfür die Negation des Ich prinzipiellund methodisch in den Vordergrund stellen, sind inzwischenweitgehend von Konzeptionen abgelöst, die das Potential be-© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, GöttingenISBN Print: 9783525620014 — ISBN E-Book: 9783647620015


Deeg / Meyer-Blanck / Stäblein, Präsent predigen18 Deeg / Meyer-Blanck / Stäbleinschreiben, das eine bewusste Reflexion der Person der Predigendenim Erarbeitungsprozess in sich birgt. So oder so geht esdarum, die Wechselwirkung von Person bzw. Persönlichkeitsstrukturund Predigtaufgabe zu erkennen, um eine unfreiwilligeVormacht des Ich zu verhindern. Gerade hierfür ist die Distanzermöglichende Wirkung der Anfertigung eines schriftlichenManuskriptes von Bedeutung. Der reflektierte Umgang mit denFaktoren des homiletischen Dreiecks schafft gerade im Blick aufdie Person der Predigenden einen Filter, der im Predigtakt selbstein allzu schnelles Verwechseln von Person und Botschaft verhindert.Die Predigtaufgabe bleibt im Blick auf die Person an denRahmen der Persönlichkeitsstruktur mit ihren Gaben undGrenzen gebunden. Gleichwohl ermöglicht gerade die solchermaßendifferenzierte Arbeit der Predigtvorbereitung, Gaben undGrenzen wahrzunehmen und so offen zu bleiben für eine möglicheTranszendierung dieser Grenzen.30. Die homiletisch präsente Predigt auf der Basis eines gutvorbereiteten Manuskriptes wird die Predigt als Predigt dieserPerson zur Darstellung bringen. Das Manuskript ist dabei für alleBeteiligten eine Hilfe, zwischen Predigt und Person auch unterscheidenzu können. Die Predigenden werden davor bewahrt,den Hörenden sich selbst aufzudrängen. Die Hörenden werdenvor Verwechslungen geschützt, der Verweischarakter bleibtsichtbar.31. Der Begriff der homiletischen Präsenz hält die Differenzzwischen falsch verstandener, „natürlicher“ Authentizität undrecht verstandener, am Bewusstsein der Predigtinszenierung gebrochenerAuthentizität fest. Der Predigtvortrag, der mit demManuskript gewissermaßen das eigene Rededrehbuch sichtbarmacht, ohne darauf fixiert zu sein, sondern gerade im Gegenüberdazu eigene Aktualität und Lebendigkeit gewinnt, entspricht diesemVerständnis von homiletischer Präsenz. Wer predigt, hat authentischim Hinblick auf seine Aufgabe zu sein – und nicht authentischals Privatperson. Der persönliche Gestus und Habitusmuss Gegenstand selbstkritischer Reflexion sein. Das unterscheidetdie falsche von der pastoraltheologisch bewussten Routine.© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, GöttingenISBN Print: 9783525620014 — ISBN E-Book: 9783647620015


Deeg / Meyer-Blanck / Stäblein, Präsent predigenPräsent predigen 19Die Überprüfung des Einfalls32. Der Predigterarbeitungsvorgang lässt sich im Kern vomMoment des Einfalls bestimmen. Der Einfall der predigendenPerson stellt (im homiletischen Sinn) eine Brücke zwischen Textund Situation her und schafft so etwas für jede Predigt einmaligNeues. Der angemessene Umgang mit dem Predigteinfall istdessen Überprüfung auf seine Tragfähigkeit (in der Sprache derBeschreibung kreativer Prozesse: die Verifikation nach der Illumination).33. Die Verifikation des Predigteinfalls erfordert (Selbst-)Disziplin bei der Predigterarbeitung und kritische (Selbst-)Wahrnehmung des kreativen Potentials. Dazu ist das Manuskripteine wesentliche Hilfe. Vor allem bietet es die Möglichkeit, dassdie konkrete Gestalt (Struktur, Aufbau, Intention) der Predigtbereits in der Vorbereitung einmal zu Ende gedacht und inTextform realisiert worden ist. Gute und schlechte Einfälle erweisensich erst im genauen Durchspielen als solche.34. Eine homiletisch präsente Predigt gibt dem Predigteinfallin seiner theologischen Tiefe Raum, weil so gerade nicht einemzufälligen Kurzschluss von (ungeprüftem) Einfall und Situationnachgegangen wird.Rhetorische Qualitäten35. Die konkrete rhetorische Gestalt der sog. freien Predigt trägtnicht nur die beschriebenen Probleme mit (Person schiebt sichvor den Text, predigt immer das Gleiche/sich selbst, Hörendewerden nicht wahrgenommen, Situationswahrnehmung istoberflächlich), sondern leidet darüber hinaus häufig am Verfehlenrhetorischer Grundstandards.36. Zahllose Wiederholungsschleifen, im wahrsten Sinne desWortes endloser Redeschwall, kaum Gedankenfortschritt undstörende Ablenkungen sind nur einige der häufig beim freienPredigen zu beobachtenden rhetorischen Mängel. Demgegenüberbesteht die Chance des Manuskripts ganz wesentlich darin,Sprache in der Vielfalt ihrer Formen und in ihrem unerschöpflichenPotential neuer Bilder, überraschender Wendungen etc.immer neu zu erkunden. Die Wiederholung von Predigtkon-© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, GöttingenISBN Print: 9783525620014 — ISBN E-Book: 9783647620015


Deeg / Meyer-Blanck / Stäblein, Präsent predigen20 Deeg / Meyer-Blanck / Stäbleinventionen, homiletischen Jargonausdrücken, theologisch unbedachtenWendungen lässt sich an einem Manuskript leichtüberprüfen und kreativ verändern, so dass sich die Sprache derPredigenden sehr viel leichter erweitern und verändern kann, alsdies bei (manuskript)freien Predigten der Fall ist.37. Mag meist der Einstieg noch bedacht sein, so gehört vorallem die Suche nach einem passenden Schluss zu jenen Merkmalen,die die schlecht vorbereitete freie Predigt verraten. Die freiePredigt liefert den Predigenden und die Hörenden gerade inzeitlicher Hinsicht der beängstigenden, im Grunde „unfreien“ Situationaus, dass das Ende der Rede nicht selten undefiniert ist. Sosehr sich dieses theologisch möglicherweise tiefgründig (letztlichaber kurzschlüssig) rechtfertigen ließe („keine Einsperrung desHeiligen Geistes“), so sehr erscheint in der Praxis das Erreichendes Amens als Glücksfall für Prediger und Hörende.Frei sprechen38. Die Thesenreihe wendet sich gegen eine – häufig ideologisierende– Überhöhung des freien, letztlich darin aber unfreienPredigens. Die Vorteile des eingeübten freien Sprechens (auf derBasis eines Manuskripts) sind unbedingt zu würdigen und könnennicht hoch genug geschätzt werden.39. Die homiletische Praxis und die homiletische Literatur tungut daran, sich im Lob des freien Sprechens und im Lob desvorbereiteten Manuskripts zu üben. Die Freiheit des Sprechensist die Frucht der Gebundenheit an die Hörenden und an dasEvangelium. Darum ist vor allem davor zu warnen, schon immerzu wissen, was der Text sagt und wes die Hörenden bedürfen. Dievorbereitende Predigtarbeit muss darum zunächst denkerischDistanzen schaffen, um gerade so eine interessierte Naivität undinformierte Routine beim Vortrag zu ermöglichen.40. Im Wechselspiel von Manuskript und präsentem Predigtvortragergibt sich eine Freiheit im Predigtvollzug, die diesenNamen verdient und deshalb dem Auftrag der Verkündigung desWortes Gottes, das Menschen befreit, angemessen ist.© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, GöttingenISBN Print: 9783525620014 — ISBN E-Book: 9783647620015


Deeg / Meyer-Blanck / Stäblein, Präsent predigenMichael Meyer-BlanckHomiletische Präsenz.Ein Plädoyer im Rahmen der Diskussionum die „freie Rede“ in der Homiletik1. Schriftlich oder mündlich?Bis in die jüngere Vergangenheit wurde die Frage nach der Predigtmit oder ohne Manuskript in den Homiletiken allenfalls imSchlusskapitel über den Predigtvortrag erwähnt. Nach der antikenRhetorik ging es dabei um die memoria und die pronuntiatiobzw. actio. Doch inzwischen sind mehrere Bücher erschienen, diedas freie Predigen zum Programm und damit zum entscheidendenQualitätsmerkmal der evangelischen Predigt erheben. 1 ImZusammenhang mit der jüngeren pastoralpsychologischen undästhetischen Wendung in der Praktischen Theologie ist damiteine Frage in den Vordergrund gerückt, die lange Zeit vergessenwar, weil sie für geklärt und dann – etwa ab der Mitte des 20.Jahrhunderts – zugunsten der gepredigten Inhalte für zweitrangiggehalten wurde. Die Aufmerksamkeit für das Problem ist injeder Weise zu begrüßen, denn die evangelische Qualität einerPredigt erweist sich erst im Vollzug und je besser ein in Szenegesetzter Inhalt ist, desto problematischer ist eine schlechteAufführung. 2 Der Streit geht aber darum, ob das Predigen ohneManuskript wirklich zu einer Qualitätssteigerung führt oder ob1 Vgl. Arndt Elmar Schnepper, Frei predigen. Ohne Manuskript auf derKanzel, Witten 2010; Volker A. Lehnert, Kein Blatt vor’m Mund. Frei predigenlernen in sieben Schritten. Kleine praktische Homiletik, Neukirchen-Vluyn 2006 und schon früher Albert Damblon, Frei predigen. Ein Lehr- undÜbungsbuch, Düsseldorf 1991.2 Michael Meyer-Blanck, Inszenierung des Evangeliums. Ein kurzerGang durch den Sonntagsgottesdienst nach der Erneuerten Agende, Göttingen1997.© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, GöttingenISBN Print: 9783525620014 — ISBN E-Book: 9783647620015


Deeg / Meyer-Blanck / Stäblein, Präsent predigen22 Michael Meyer-Blanckes nicht vielmehr auf die genaue homiletische Vorbereitung bishin zur wörtlichen und poetisch prägnanten Formulierung ankommt,damit die Predigt zu einer packenden Aufführung wird.In diesem Buch vertreten wir mit einer gewissen Einseitigkeit diezweite Ansicht. Trotzdem kann das gemeinsame rhetorischeEngagement für die Sache am Anfang stehen: Die Predigt ist einerhetorisch-theologische Aufgabe. Es gilt die Hörer zu erreichen,zu überzeugen und das kostbarste Gut zu gewinnen: ihre Aufmerksamkeit.Dies geschieht durch Präsenz, durch volle situativeAufmerksamkeit. Präsenz erreicht man durch Identität mit dereigenen Aufgabe und Rolle, diese wiederum erreicht man durchlangwierige Bildungsprozesse und dann vielleicht auch durchTrainings- und Übungsprogramme. Den Stand der erreichteneigenen Identität aber erhält man nur durch die mühevolle Arbeit,die den Weg des eigenen Bildungsprozesses in verkürzterund gedrängter, aber doch in qualifizierter Form wieder aufnimmt.Der langwierigen Bildungsgeschichte entspricht eineausführliche Vorbereitungsphase und nur diese führt zur dauerhaftenRollenidentität beim Predigen und zur präsenten Performanzauf der Kanzel.Darum möchte ich in diesem Beitrag bei allem Engagement fürdas Rhetorische 3 vor der freien Predigt warnen. Sie scheintzeitliche Freiräume zu eröffnen, schwächt aber stattdessen dietheologischen Spielräume. Wer die eigenen Gedanken nicht mehram Schreibtisch verdichtet, lässt leicht die eigene Theologie aufspirituell gefälligen und kirchlich korrekten Allgemeinplätzenverdunsten – und nicht umsonst ist für diesen Signifikanzverlustkirchlichen Redens in den letzten Jahren das Spottwort „churchy“aufgekommen. Doch Predigerinnen und Prediger sindDichter und keine Stimmungsmacher. Sie brauchen Zeit. Wennsie sich diese nicht nehmen, bestrafen sie nicht nur die Gemeinde,sondern letztlich sich selbst. Damit dürfte die hier vertreteneThese in aller Klarheit markiert sein, so dass jetzt die differenziertereAbwägung beginnen kann.3 Michael Meyer-Blanck, Entschieden predigen, in: Lebendige Seelsorge2009 Heft 1, 8 –12; 15–16.© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, GöttingenISBN Print: 9783525620014 — ISBN E-Book: 9783647620015


Deeg / Meyer-Blanck / Stäblein, Präsent predigenHomiletische Präsenz 23Die Bevorzugung des Mündlichen vor dem schriftlich Fixiertenhat eine lange Tradition. Schon Luther hielt das mündlicheWort für die eigentlich dem Evangelium entsprechende Redeformund er selbst arbeitete seine Predigten – vor allem aufgrundvon Zeitmangel – nicht wörtlich aus. Von seinen gut 2.000überlieferten Predigten hat er nur die Musterpredigten in denPostillen wörtlich notiert, ansonsten beruhen die überliefertenTexte auf Nachschriften. In der Kirchenpostille 1522 findet sichdie berühmte Formulierung: „Dass man aber hat müssen Bücherschreiben, ist schon ein großer Abbruch und Gebrechen desGeistes, dass es die Not erzwungen hat und nicht die Art desNeuen Testamentes ist.“ 4 Oswald Bayer hat darauf hingewiesen,dass diese Sicht einer breiten Rezeption Platons folgt. 5 In PlatonsPhaidros sagt Sokrates, dass die Erfindung des Buchstabens denSeelen Vergessenheit einflöße, weil sie sich nun nicht mehr innerlichdes Wahren erinnerten, sondern dies nur auf dem bequemen,aber trügerischen Wege äußerer Zeichen versuchten. 6Nicht umsonst hat der Platon-Übersetzer Schleiermacher dasPrinzip des Mündlichen nicht nur bei den Predigten, sondernauch bei seinen Vorlesungen konsequent verfolgt. Die Rede solltedie für die Zuhörer beobachtbare Entstehung von Gedankenbieten und keine gedankliche Konserve: „Ein Professor, der einein für allemal geschriebenes Heft immer wieder abliest undabschreiben lässt, mahnt uns sehr ungelegen an jene Zeit, wo es4 WA 10 I/1, 627,1 – 3 (zu Mt 2,1 –12). Auf diese Lutherstelle rekurriertauch Schnepper (Anm. 1), 22. Auf jeden Fall aber gilt für Luther: „dergrossest Gottes dienst ist die predigt“ (WA 36, 237,29, Predigt über 1 Thess4,13 ff. am 18.8. 1532). Nicht zu vergessen ist dabei, dass Luther durchausauch die textlose Predigt kennt. So haben 23 der 192 von Buchwald gesammeltenPredigten aus den Jahren 1523 –1528 keinen speziellen Bibeltext(Georg Buchwald, Predigten D. Martin Luthers aufgrund von NachschriftenGeorg Rörers und Anton Lauterbachs, 2 Bände, Gütersloh 1925/1926). – Dass Luthers Predigt vor allem Dialog, Gespräch mit dem Hörer ist,zeigt Georg Werdermann, Luthers Wittenberger Gemeinde wiederhergestelltaus seinen Predigten. Zugleich ein Beitrag zu Luthers Homiletik undzur Gemeindepredigt in der Gegenwart, Gütersloh 1929, 181 –187.5 Vgl. Oswald Bayer, Martin Luthers Theologie, Tübingen 2 2004, 71.6 Vgl. Platon, Phaidros 275a.© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, GöttingenISBN Print: 9783525620014 — ISBN E-Book: 9783647620015


Deeg / Meyer-Blanck / Stäblein, Präsent predigen24 Michael Meyer-Blancknoch keine Druckerei gab […]. Denn bei solchem Werk undWesen von dem wunderbaren Eindruck der lebendigen Stimmezu reden, möchte wohl lächerlich sein.“ 7 In der Pädagogikvorlesungheißt es entsprechend: „Auch nach Platon stände dieSache so, dass die Schrift der Tod des Gedächtnisses ist.“ 8 In derPraktischen Theologie urteilt Schleiermacher, dass die wörtlichfertig gestellte Predigt zwar dem Prediger Sicherheit vermittle;dennoch befinde sich dieser auf diese Weise „in einer mechanischenReproduktion und daher in einem unangenehmen Zustande,und das kann nur der Lebendigkeit der Rede schaden.“ 9Dieser Makel wird nach Schleiermacher durch das Einprägen derfertigen Predigt noch verstärkt: „Das Auswendiglernen ist eineMühseligkeit und da bekommen die Zuhörer eine Sympathie undsagen, der arme Mann hat das Ding schon satt.“ 10Das Schriftliche hat damit nach idealistischer Anschauungeinen zweifachen Makel: Es verhindert die lebendige Begegnungim Gespräch und die lebendige Verbindung zu den eigenenGeisteskräften. Schleiermacher selbst predigte in seiner Reifezeitbekanntlich rein extemporierend mit einem Stichwortzettel.Dazu ist jedoch kritisch bemerkt worden: „Dennoch solltenLeute, welche keine Schleiermacher sind, sich nicht so wie er aufdas Gebären der Predigt im Augenblick des Sprechens einstellen.Im Übrigen spürt man der Abstraktheit der Predigten Schleiermachersdie Art ihrer Entstehung zu ihrem Schaden an. Wasnämlich der frei Sprechende, wenn er nicht ins Platte geraten7 Friedrich Schleiermacher, Gelegentliche Gedanken über Universitätenim deutschen Sinn. Nebst einem Anhang über eine neu zu errichtende, KGAI/6, 15–101: 50. Die Überlieferung der Vorlesungen Schleiermachers stelltwegen der darum notwendigen Rekonstruktion aus verschiedenen Nachschriftenvor erhebliche editorische Probleme.8 Friedrich Schleiermacher, Pädagogik. Die Theorie der Erziehung von1820/21 in einer Nachschrift, hg. von Christine Ehrhardt und WolfgangVirmond, Berlin/New York 2008, 240.9 Friedrich Schleiermacher, Die praktische Theologie nach den Grundsätzender evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, Berlin/New York 1983 [1850], 301.10 Schleiermacher (Anm. 9), 307.© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, GöttingenISBN Print: 9783525620014 — ISBN E-Book: 9783647620015


Deeg / Meyer-Blanck / Stäblein, Präsent predigenHomiletische Präsenz 25oder sich wiederholen will, nicht in der Gewalt hat, ist das Individuelle.“11Macht man sich die idealistische Tradition klar und bedenktzugleich die begrenzten Fähigkeiten der meisten auszubildendenPrediger, dann ist es verständlich, dass lange Zeit die aus demGedächtnis vorgetragene und doch frei der Gemeinde zugewandte„memorierte“ Predigt das Ideal darstellte. Nach einigerÜbung werde man immer weniger Zeit für das Einprägen derPredigt benötigen, bis schließlich „ein ruhiges, gesammeltes,zweimaliges Durchlesen“ ausreiche. 12 Immer wieder wird derSatz August Tholucks zitiert: „Die Predigt muss eine Tat desPredigers auf seinem Studierzimmer, sie muss abermals eine Tatsein auf der Kanzel.“ 13 Und zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatteman das Ablesen auf der Kanzel sogar amtlich verboten. ClausHarms zitiert in seiner Pastoraltheologie einen Erlass, der imGroßherzogtum Baden im Jahre 1823 erging: „Sämtliche Dekanatewerden angewiesen, allen Geistlichen, die noch in gutenJahren sind, so wie den jungen Pfarrern und Kandidaten dasAblesen ihrer Predigten teilweise oder im ganzen mit dem Bedrohenzu untersagen, dass sie sich aller Beförderung verlustigmachen, auch unangenehme Maßregeln zu gewärtigen haben.“ 14Christian Palmer weiß, dass „die Gemeinden in der Regel einenhorror vor dem Ablesen haben, so dass ihrem Zutrauen zu dem11 Emanuel Hirsch, Predigerfibel, Berlin 1964, 108.12 Carl Immanuel Nitzsch, Praktische Theologie Bd. 2, Bonn 2 1860, 132.Ähnlich äußert sich Ernst Christian Achelis, Lehrbuch der PraktischenTheologie Bd. 2, Leipzig 1911, 272.13 Hans Martin Müller, Homiletik, Berlin / New York 1996, 310.14 Claus Harms, Pastoraltheologie in Reden an Theologie Studierende.Erster Teil, Gotha 1888 [1830], 42. Lapidar fügt Harms hinzu: „Wird abernicht befolgt, sagte mir jemand von da. Besser auch, man treibt sich selbstzu einem freien Vortrage.“ (42) Ein knappes Jahrhundert später konzediertAchelis (Anm. 12), 269, dass allenfalls „verdienten gedächtnisschwach gewordenenalten Predigern, oder im übrigen tüchtigen, aber von der Kanzelfurchtnoch völlig beherrschten schüchternen jungen Predigern derGebrauch des Konzeptes, jenen völlig, diesen vorläufig, gestattet werdenkann.“© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, GöttingenISBN Print: 9783525620014 — ISBN E-Book: 9783647620015

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