12 HF2SUEDDEUTSCHE ZEITUNG, 03_09_2013FEUILLETOKLASSIKKOLUMNEFranco FagioliWelch eine Virtuosität! Welch eine Lustan Kapriolen und Läufen, an Trillernund Vokalstunts! Aber auch welch eineRuhe in den langsamen Sätzen, welchEndlosigkeit in den Melodien! Der CountertenorFranco Fagioli ist mit dieserPl<strong>at</strong>te endgültig Kollegen wie BejunMehta, Philippe Jaroussky und MaxEmanuel Cencic ebenbürtig. „Arias forCaffarelli“ (Naïve), das sind Stücke, dievorwiegend in Neapel für den nebenFarinelli berühmtesten Kastr<strong>at</strong>en derBarockzeit geschrieben wurden. Caffarelli(1710-1783) ließ sich angeblich aufeigenen Wunsch kastrieren, und dementsprechenddivenhaft gab er sich seinganzes Leben, das sich als Folge vonVON KARL LIPPEGAUSDer Saxofonist Peter Brötzmann isteiner der Pioniere des AvantgardeJazz. Sein Album „Machine Gun“setzte 1968 einen bis heute gültigen Maßstab,wie aggressiv und energiegeladenFree Jazz sein kann. Den Maßstab h<strong>at</strong> der72-Jährige bis heute gehalten. Er tourt unermüdlichum die Welt und veröffentlichtregelmäßig Pl<strong>at</strong>ten. Mit wem ließe sich alsobesser darüber sprechen, was es bedeutet,heute Jazzmusiker zu sein.Skandalen, Beleidigungen und ExzessenLondon liest. WC2H 8DJ T +44 (0)20 3077 schon 4930 einmal leichter www.albion-media.comals heute. Nach ei-SZ: Herr Brötzmann, der Jazz h<strong>at</strong>te esreet,ner weitreichenden Akademisierungder Ausbildung dürfte es in Deutschlandmittlerweile zwar so viele gelernte Jazzmusikergeben wie noch nie, aber diewirtschaftliche Situ<strong>at</strong>ion der meisten istprekär. Immer wieder gibt es Forderungennach Mindestgagen und mehr Subventionen.Was halten Sie davon?Peter Brötzmann: Speziell in Berlin warendie Kollegen in dieser Sache ja schon sehraktiv, aber letztlich verlangen sie als jungeMusiker irgendeine „Sicherheit“. Da kannich nur sagen: Dann schließt euch doch bittedem nächsten Tanzorchester an!Nie aber wurde Caffarellis Rang alsSänger bestritten. Die elf hier eingesungenenArien stammen von Komponisten,die durch die neapolitanischeOpernschule geprägt sind: Hasse, Vinci,Porpora (der Lehrer Caffarellis), Leo,Pergolesi, Sarro und Manna schriebenfür einen Sänger mit enormen Tonumfangund unbegrenzten Möglichkeiten.Faszinierend, dass Fagioli das allesebenfalls mit Furor und unangestrengtsingen kann. Mit Riccardo Minasi unddessen Truppe „Il pomo d’oro“ h<strong>at</strong> erzudem einen Partner, der ihm an Phantasie,Leidenschaft und Gefühlstiefe innichts nachsteht.Höhepunkt aber ist das mittlere undlängste Stück dieser CD, Pergolesislangsame Arie „Lieto così talvolta“,ganze elf Minuten lang. Ein Liebesidyllfeinster Art, dasPergolesi als deneinzigen italienischenKomponistendes Spätbarockbeweist, der es mitHändel aufnehmenkonnte.Warum sind Sie kein Freund des Modells„Jazzmusiker mit Pensionsanspruch“?Ich benutze jetzt mal das große Wort„Künstler“. Wer sich als solcher in unsererGesellschaft bewegen möchte, betrachtetsie notwendigerweise von ihrem Rand aus,ist auf Distanz. Von der Gesellschaft aber,die einem entweder egal ist oder gegen dieman sogar künstlerisch angeht, kann mandoch nicht verlangen, dass sie einem denLebensabend bezahlt! So geht das nicht.Künstlern soll es nicht zu bequem gemachtwerden?Die Gefahr von Subventionen ist, dass kei-FreiheiEin Interview mit dem Free-Jazz-Pionier Peter Brötzmann dFall vom Sta<strong>at</strong>, über das Leben, auf das man sich als Künst
Pablo Heras-Casadowieso alles geregelt ist.Anders als für die Väter- und Großvätergener<strong>at</strong>ion11_09_2013ist es für die jungen Macher WDR3,Wenigstens die geregelte universitäreder Alten Musik heute selbstverständlich,dass sie Renaissance- und Barocklefür sinnvoll. Sie nicht?Ausbildung von Jazzmusikern halten vie-http://www.wdr3.de/musik/cd-rezensionen/caffarelli100.htmlmusik, Klassik, Romantik und Moderne N<strong>at</strong>ürlich soll man erst mal etwas lernen,gleicherweise machen – mit traditionellenEnsembles wie mit Spezialistentrupnielehre,aber dann fängt der Spaß dochKontrapunkt, Kompositions- und Harmo-CD-Rezension - 11.09.2013: Arias forpen. Dieser Trend zeitigt zwei ganz erst an. Für mich war Jazz immer ein Synonymfür Freiheit, und die gibt's nicht anunterschiedliche CafarelliErgebnisse. Da gibt esMusiker, die eine seltsame Mitte anstreben,der Uni, sondern on the road.Trotz weil der sie verkr<strong>at</strong>zten die Prinzipien Aufnahmen der Alten von Alessandro Moreschi, dem sogenannten 'letztenMusik Kastr<strong>at</strong>en' domestizieren können wir unduns so eine heute neuartigeForm von musikalischer Hochglanz-in Deutschland einige Hunderte!kaum vorstellen, Immerhin, wie wie ein Sie Kastr<strong>at</strong> ja selbst geklungen sagen, allein h<strong>at</strong>,geschweige denn ein Weltstar wie Cafarelli.ästhetik entwickeln. Andere aber, der Aber da sind doch fast immer die, die auf1977 in Andalusien geborene DirigentPablo Heras-Casado gehört zu ihnen,entwickeln die historischen Erkenntnisseweiter und finden so auch mit herkömmlichenEnsembles neue und überzeugendeKlanglösungen. Das erklärtden stupenden Erfolg von Heras-Casado,dem freien Markt nichts auf die Beine stellen.Mit etwas Intelligenz kann man ein wenigKomposition und Kontrapunkt lernenund Klavierspielen. Sich allerdings einpaar Jahrzehnte durch die Welt zu wursteln,das schaffen die Wenigsten. Nur passiertda die Musik.der mittlerweile von allen großenOrchestern eingeladen wird.Auch in seinen Pl<strong>at</strong>tenaufnahmengeht Heras-Casado eigene Wege. Jetzth<strong>at</strong> er Franz Schubert aufgenommen,aber nicht die bekannten Sinfonien inC-Dur und h-Moll, sondern zwei Frühwerke,die Nummern 3 & 4 (HarmoniaMundi). Das ist eine seit JohannesBrahms scheel angesehene Musik. Dochdie Stücke sind besser als ihr Ruf, siesind oft unbeschwert und singen sichbetörend frei aus.Auch, weil Heras-Warum halten Sie so wenig vom deutschenJazz-Nachwuchs?Weil mein Eindruck ist, dass die Meistendas Musikmachen so sehen, wie ich damalsmeine Werbegrafik-Aufträge: „Wirbasteln jetzt was Nettes zusammen, damitder Kunde seinen Kaugummi verkaufenkann.“ Ich habe immer das Gefühl, vieleJunge suchen immer nur nach der nächstenMarktlücke.Sie haben es in diesem Fall leicht. Siesind schon berühmt und bekommenaber nicht beleidigt klingen. Es ist so. Ichwusste aber von Anfang an, worauf ichmich einlasse.Was wäre eine angemessene Bezahlung?Ich fordere keine exorbitanten Gagen, aberwenn ich mit zwei Musikern aus dem Auslandunterwegs bin, brauche ich Fahrtkostenerst<strong>at</strong>tung,Hotelübernachtungen undGeld, das ich den beiden nach dem KonzertCasado hier auf die vermutlich vergleichsweise gute Gagen?für eine Currywurst und einen Kaffee beigeben kann. Und das sollte kein TrinkgeldBeitrag hörenFarbenpracht,Plastizität und Das stimmt leider nicht. Besonders in Tchibo sein. Wenn Menschen ihr halbes Lebendieser Musik widmen, sollen sie auchLeidenschaft des Deutschland wollen alle alles kostenlos• Audio: CD-Rezension: Franco Fagioli singt Arias für Cafarelli (11.09.2013) [WDR 3]Freiburger Barockorchestersoder wenigstens so billig wie möglich ha-ordentlich bezahlt werden. Aber nicht vomsetzt. ben. Ein Auftritt auf einem kleinen italieni-Sta<strong>at</strong>. Nein, nicht vom Sta<strong>at</strong>.Beitrag von Daniel Finkernagelschen Jazz-Festival ist oft besser bezahltals einer auf dem berühmten Festival in Berühmte Kollegen wie der amerikanischePianist Vijay Iyer sind der Ansicht,Der Klang einer Kastr<strong>at</strong>enstimme war ganz sicher Moers. anders Ich bin als jetzt die eines 50 Jahre Countertenors: dabei und habeh<strong>at</strong>te nochalso keine außergewöhnliche Reichtümer angehäuft. Kraft, während dass der Jazz ähnlich wie das The<strong>at</strong>er,DieValery Lunge war Gergiev oft besonders entwickelt, der SängerIn die den Stimmbänder letzten Jahrzehnten nach der Kastr<strong>at</strong>ion wird Sergej nicht mehr Wenn wuchsen ich zwei und der Mon<strong>at</strong>e Knabensopran nicht arbeiten - oder Alt das - Ballett oder große Sinfonieorchesterohne sta<strong>at</strong>liche Hilfe nicht mehr be-Prokofjew erhalten blieb. seltener gespielt als Dmitri kann, ist mein Konto leer. Das soll jetztSchostakowitsch, der einen erstaunlichenAufschwung erlebt. BesondersAber dennoch: Seit dem Aufstieg der Countertenöre in den 90ern haben wir wieder eineProkofjews Opern haben unter dieserVernachlässigung Vorstellung davon zu wie leiden; es klingt, sie können wenn ein Mann die Heldenarien des Barock singt. Einer dersich flexibelsten in der psychologischen Sänger seiner Gener<strong>at</strong>ion Feinzeich-isnung eine Annäherung durchaus mit an denen die Kastr<strong>at</strong>enstimme von Richard und singt Arien, die dem berühmten Cafarelli aufFranco Fagioli. Auf seinem neuen Album wagt erStrauss den Leib messen, komponiert und them<strong>at</strong>isch worden sind. schreitensie einen breiten Rahmen zwischenKomödie Redaktion: und Christian Psychoschocker Schnitzleraus.In einem hippen New Yorker Underground- von J. K. Rowling, Suzanne Collins und StephenieMeyer wurde, im Internet StorysDoch nur „Die Liebe zu den drei Orangen“Club h<strong>at</strong> die junge Clary einen besondersh<strong>at</strong> sich im Repertoire durchge-niedlichen Burschen ausgespäht, mit wil-veröffentlicht, die in den Universen derCD-Infos:setzt. „Der feurige Engel“, „Krieg und den blonden Haaren unter der schwarzen von ihr verehrten Vorbilder spielen, wasFrieden“, Arias for „Verlobung Cafarelli im Kloster“ oder Kapuze und geheimnisvollen Tätowierungen.mit abertausenden Klicks belohnt wurde.gar die Propagandaoper „Semjon Kot-Doch plötzlich reißt der hübsche Indie-Das nennt sich nicht mehr Plagi<strong>at</strong>,sondernPeter Brötzmann: „Mit etwas Intelligenz kann man Kein paar Jahrzehnte durch die Welt zu wursteln, dastehen könkums sei dSicherlichventionen,ne Schubl<strong>at</strong>er zu steckge Ans<strong>at</strong>z.des Planetebe mit meigenen Jahrge vor 400Sie könnenten, dass eIch bestreilich, dassscher FaktSeitenstreies gibt nachre Musik. 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