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China und Indien - Regionalmächte heute, Weltmächte morgen (11 ...

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8 Zusammenfassung Heinz Nissel..................................................... 748.1 Zusammenfassung Sicherheit <strong>und</strong> Militär .................................Heinz Nissel, Daniel Welser................................................... 77Teil 2: <strong>Indien</strong>1. Einleitung ....................................................................................... 802. Sicherheitspolitische Entwicklung <strong>Indien</strong>s ......................................Gerald Brettner-Messler ................................................................ 823. <strong>Indien</strong>: Ökonomische Entwicklungen <strong>und</strong> Trends ...........................Katia Vlachos-Dengler................................................................... 953.1 Hintergr<strong>und</strong> ............................................................................ 953.2 Die indische Wirtschaft: Wachstumsmodell.......................... 973.3 Die Auswirkungen der globalen Wirtschaftskrise auf <strong>Indien</strong> 993.4 Reaktion der Regierung auf die Krise.................................. 1013.5 Wie sieht die Zukunft für das indische „Wirtschaftsw<strong>und</strong>er“aus? 1014. Die Entwicklung der Sicherheits- <strong>und</strong> Verteidigungspolitik <strong>Indien</strong>sDaniel Welser............................................................................... 1044.1 Das außen- <strong>und</strong> sicherheitspolitische Umfeld...................... 1044.1.1 Pakistan ........................................................................ 1044.1.2 Afghanistan .................................................................. 1064.1.3 USA.............................................................................. 1074.1.4 Russland ....................................................................... 1084.1.5 <strong>China</strong> ............................................................................ 1094.2 Schwerpunkte des Militärs................................................... <strong>11</strong>14.2.1 Budget .......................................................................... <strong>11</strong>14.2.2 Heer .............................................................................. <strong>11</strong>24.2.3 Luftwaffe...................................................................... <strong>11</strong>34.2.4 Marine .......................................................................... <strong>11</strong>54.2.5 Raketentechnologie <strong>und</strong> Raketenabwehr ..................... <strong>11</strong>65. Strategische (Nukleare) Kräfte <strong>Indien</strong>s Thomas Pankratz........... <strong>11</strong>76. <strong>Indien</strong> - Demographie Heinz Nissel ............................................. 1236.1 Zusammenfassung................................................................ 1236.2 Bevölkerungsanalysen in <strong>Indien</strong> .......................................... 1236.3 Milliardenpopulation <strong>und</strong> Frauendefizit............................... 1246.4 Bevölkerungsentwicklung bisher ......................................... 1252


6.5 Bevölkerungsprognosen....................................................... 1276.6 Nord-Süd-Gegensatz der Entwicklung <strong>und</strong> mögliche politischeKonsequenzen ...................................................................... 1296.7 Alphabetisierung <strong>und</strong> Urbanisierung ................................... 1306.8 Vertiefende demographische Analysen................................ 1317. <strong>Indien</strong> – Staat <strong>und</strong> Politik Heinz Nissel....................................... 1347.1 Günstige Voraussetzungen der Demokratieentwicklung ..... 1347.2 Die Führungsrolle des Kongresses....................................... 1357.3 Die Ausdifferenzierung politischer Parteien........................ 1377.4 Stärken <strong>und</strong> Schwächen indischer Innenpolitik ................... 1387.5 Die Vorbildwirkung <strong>Indien</strong>s................................................. 1398. Die Gesellschaft <strong>Indien</strong>s – Gliederung <strong>und</strong> Konflikte .....................Gerald Brettner-Messler .............................................................. 1419. Zusammenfassung Heinz Nissel.................................................. 1509.1 Zusammenfassung Sicherheit <strong>und</strong> Militär .................................Heinz Nissel, Daniel Welser................................................. 1533


1. TEILCHINA4


1. EinleitungVor 32 Jahren hat Deng Xiaoping in <strong>China</strong> die große Reformpolitikeingeleitet. Dreißig Jahre später ist <strong>China</strong> von einem Entwicklungslandin politischer Randlage zu einem wirtschaftlichen Global Player, derauch politisch langsam zur Weltmachtposition aufrückt, geworden. Biszum Ende des Kalten Krieges war Europa Brennpunkt desWeltgeschehens. Nunmehr verlagert sich der politische <strong>und</strong>ökonomische Schwerpunkt nach Asien, wo mit <strong>China</strong> <strong>und</strong> <strong>Indien</strong> zweiStaaten liegen, die schon allein aufgr<strong>und</strong> ihrer Bevölkerungsanzahl überein riesiges Potenzial verfügen. Japan zählt ja schon lange zu denweltgrößten Industrienationen. Damit stellt sich die Frage, wie <strong>China</strong>seinen Einfluss in Zukunft geltend macht <strong>und</strong> von welchen Absichtendie Handlungen der Staatsführung geleitet werden. Von wesentlicherTragweite wird sein, wie die gr<strong>und</strong>sätzliche Herangehensweise an dieAußen- <strong>und</strong> Sicherheitspolitik aussehen wird. Wird Peking einenkooperativen oder einen konfrontativen Ansatz wählen? Davon wirdletztlich abhängen, ob es zu einem Konfrontationsszenario mit den USAim Pazifischen Raum kommen wird oder ob Potenziale zum Wohle allergebündelt werden können. Aber auch im Falle der Zusammenarbeit wirdes Differenzen <strong>und</strong> Verwerfungen geben <strong>und</strong> selbst eine Konfrontationwürde aufgr<strong>und</strong> der engen Vernetzung einer globalisierten Welt keine soumfassende wie im Kalten Krieg sein.Vorliegende Studie erörtert die Parameter der Entwicklung <strong>China</strong>s <strong>und</strong>versucht Ansätze für die Beantwortung der Frage nach dengr<strong>und</strong>legenden Tendenzen der weiteren Entwicklung zu vermitteln. Sieversteht sich als Überblick zur Lage, der kurz gefasst die wesentlichenSzenarien <strong>und</strong> Trends wiedergibt. Gegliedert ist die Studie nachThemengebieten, die für den weiteren Weg <strong>China</strong>s entscheidend sind.Zunächst wird ein Überblick über die außen- <strong>und</strong> sicherheitspolitischeEntwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg gegeben, um dieVoraussetzungen der aktuellen Politik zu zeigen. Im Anschluss wird dasSicherheitsumfeld behandelt <strong>und</strong> die Rüstungsvorhaben derVolksbefreiungsarmee dargestellt. Angesichts immer höherer Beträge,die der Armee zur Verfügung stehen, ein Faktor, der entsprechendeAufmerksamkeit verdient, ist die Armee doch eine der wesentlichen5


Institutionen der Volksrepublik. Ein weiterer wichtiger Punkt angesichtsder aktuellen Krise sind die wirtschaftliche Entwicklung <strong>und</strong> dieAntworten <strong>China</strong>s auf die Herausforderungen, ist doch das„Wirtschaftsw<strong>und</strong>er“ Hauptlegitimation für die Alleinherrschaft derKommunistischen Partei. Im einwohnerreichsten Land der Welt mitseiner bekannten Ein-Kind-Politik ist Demographie ein Faktor, derhinsichtlich der mittel- <strong>und</strong> langfristigen Entwicklung nicht außer Achtgelassen werden darf <strong>und</strong> dem daher ein eigenes Kapitel gewidmet ist,das die verschiedenen Seiten der Bevölkerungsentwicklung behandelt.Das abschließende Thema ist die gesellschaftliche <strong>und</strong> soziale Lage –sie ist ein Gradmesser für die innere Stabilität <strong>China</strong>s, die Voraussetzungfür eine Machtentfaltung nach außen ist.Die genannten Themenbereiche werden zwar der Übersichtlichkeithalber getrennt abgehandelt, sie sind aber in einem innerenZusammenhang zu sehen. So ist der wirtschaftliche Erfolg einerseitsVoraussetzung für die soziale Stabilität, andererseits für das ständigwachsende Verteidigungsbudget. Die Wirtschaft beeinflusst auchaußenpolitische Entscheidungen – so etwa im Rahmen derEnergieversorgung, wenn es darum geht, Verträge mit Erdölstaatenabzuschließen. Die demographische Entwicklung wirkt sich gleichfallsauf die innere Stabilität aus – etwa in Zusammenhang mit der Frage, obdie natürlichen Ressourcen angesichts der Umweltverschmutzungausreichende Lebensgr<strong>und</strong>lagen für die Menschen bieten können.6


2. Sicherheitspolitische Entwicklung <strong>China</strong>sGerald Brettner-MesslerAußen- <strong>und</strong> sicherheitspolitisch stellte das Ende des ZweitenWeltkrieges für <strong>China</strong> einen Neubeginn dar. Mit dem Ende derjapanischen Okkupation über weite Teile des Landes konnte nun dieMachtfrage zwischen der von Mao Tse-tong geführtenKommunistischen Partei <strong>und</strong> der von Chiang Kai-Shek geführtenKuomintang entschieden werden. Der Bürgerkrieg endete mit dem Siegder Kommunisten <strong>und</strong> der Gründung der Volksrepublik <strong>China</strong> 1949. DieKuomintang-Regierung <strong>und</strong> ihre Anhänger zogen sich auf die InselTaiwan zurück. Damit war <strong>China</strong> geteilt; die Regierung auf Taiwan bliebvorerst international als einzige legitime Vertretung <strong>China</strong>s anerkannt<strong>und</strong> nahm somit auch den ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat ein.Mit dem Beginn des Kalten Krieges wurde <strong>China</strong> immer stärker in dieLogik dieser Konfrontation hineingezogen. Beide neuen GroßmächteUSA <strong>und</strong> UdSSR agierten zunächst zurückhaltend hinsichtlich derEntwicklungen in <strong>China</strong>. Die USA waren vor allem an denWirtschaftsbeziehungen interessiert <strong>und</strong> suchten nach einemStabilisierungsfaktor in der Region. Eine demokratische Entwicklung lagdaher in ihrem Sinn – durchaus mit einer Regierungsbeteiligung derKommunisten. Die Kuomintang-Regierung wurde im Zugeamerikanischer Vermittlungsversuche zwischen denBürgerkriegsparteien zwar politisch, aber nicht militärisch unterstützt.An den unvereinbaren Positionen beider Gruppierungen scheitertenschließlich die US-Vermittlungsversuche. Die Sowjets wiederumwollten ihren Einfluss im Fernen Osten wieder herstellen. Sie spieltenzunächst ein Doppelspiel, weil sie an der Durchsetzungsfähigkeit derKommunisten zweifelten. Mit deren zunehmenden Erfolgen neigte sichauch Moskau immer mehr in ihre Richtung <strong>und</strong> lieferte Waffen. Vordem Hintergr<strong>und</strong> der sich laufend verschlechternden Beziehungenzwischen den Supermächten unterstützte die USA schließlich doch dieKuomintang-Regierung finanziell. Der Sieg der Kommunisten war einSchock, weil er in erster Linie als Erfolg Stalins gesehen wurde. <strong>China</strong>wurde nicht als eigenständiger Akteur betrachtet, sondern inZusammenhang mit Moskau. 1950 wurden die letzten Vertreter der USA7


vom Festland abgezogen. Die Politik des Containment galt fortan auchfür <strong>China</strong>. 1Moskau war zunächst skeptisch, was die Erfolgsaussichten seinesideologischen Verbündeten Mao betraf. Mit dessen Erfolg jedochbegann die Unterstützung durch die UdSSR. Die schließlich erfolgte„Anlehnung an eine Seite“ durch Mao war ideologisch folgerichtig. DerSieg der Kommunisten führte zu einer Formalisierung des Verhältnissesdurch den 1950 unterzeichneten <strong>und</strong> auf 30 Jahre angelegten Vertragüber Fre<strong>und</strong>schaft, Allianz <strong>und</strong> wechselseitige Unterstützung. DerVertrag war umfassend, abgestützt auf eine gemeinsame ideologischeGr<strong>und</strong>lage <strong>und</strong> ausgelegt auf Zusammenarbeit in Verteidigungs-, Außen<strong>und</strong>Wirtschaftspolitik. Damit war die außen- <strong>und</strong> sicherheitspolitischePhase der sino-sowjetischen Zusammenarbeit eingeleitet. Der Vertragwar für <strong>China</strong> auch deswegen von Interesse, da Mao damals noch aneine militärische Rückeroberung von Taiwan dachte. 2Das sowjetisch-chinesische Abkommen stellte sich aus dieserPerspektive bedrohlich dar, allerdings verhielten sich die USA weiterhindefensiv <strong>und</strong> ergriffen keinerlei militärische Maßnahmen. Erst derKoreakrieg zeigte die Gewaltbereitschaft der beiden kommunistischenStaaten. Die Intervention der USA in diesem Krieg war für die Chinesendeshalb ein Problem, weil die Möglichkeit eines Aufmarsches an <strong>China</strong>sGrenze gesehen wurde. Die USA änderten nunmehr ihre Position <strong>und</strong>Korea <strong>und</strong> Taiwan wurden unter militärischen Schutz gestellt. DieZielsetzung der USA hinsichtlich Taiwans war aber defensiv; es sollterein die Machtübernahme der Kommunisten auf der Insel verhindertwerden.1954 setzte Peking erstmals militärische Maßnahmen gegen Taiwan (einweiteres Mal 1958; beide Male erwogen die USA einenNuklearwaffeneinsatz). Folge des fruchtlosen Versuchs war der MutualDefense Treaty von 1954 zwischen USA <strong>und</strong> Taiwan. Mit diesemVertrag wurde die Zusammenarbeit zur Abwehr von Angriffen <strong>und</strong>1 Irlenkaeuser, Jan C.: Einhegung oder Kooperation. Die amerikanische <strong>China</strong>politikunter Clinton <strong>und</strong> Bush, Frankfurt a. M. 2005, 60-652 Braddick, C.W.: Japan and the Sino-Soviet Alliance, 1950-1964. In the Shadow of theMonolith, Basingstoke 2004, 18


„kommunistischen subversiven Aktivitäten“ von außen festgelegt <strong>und</strong>weiters, dass jeder bewaffnete Angriff auf das Staatsgebiet des anderenals Bedrohung der eigenen Sicherheit <strong>und</strong> des Friedens aufgefasstwürde. Das war der Beginn der politischen <strong>und</strong> militärischen US-Garantie für Taiwan. 3In den 1950er-Jahren fügte sich <strong>China</strong> in die Rolle des Juniorpartners derUdSSR. Es profitierte von der technischen Aufbauhilfe der UdSSR; einezu enge Bindung wurde aber von beiden Seiten nicht gewünscht. <strong>China</strong>wurde ungünstiger als die osteuropäischen Staaten behandelt, trat aberauch nicht dem Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe bei. Ende der1950er-Jahre wurde allerdings eine militärische Integrationvorgeschlagen. In dieser Zeit traten die ersten Risse in den Beziehungenauf: Die Entstalinisierung stieß auf chinesische Kritik, weil sie alsBedrohung der Legitimität der kommunistischen Herrschaft aufgefasstwurde, wobei der Aufstand in Ungarn als Beleg dafür gesehen wurde.Ein weiterer Punkt war der „große Sprung nach vorne“, der von derSowjetunion kritisiert wurde. Dadurch wurde einerseits internenKritikern in <strong>China</strong> Schützenhilfe geleistet, andererseits wurden andereStaaten von dem Vorbild <strong>China</strong>s angezogen (Albanien). DieKonfrontation mit Taiwan 1958 <strong>und</strong> Chrustschows Bemühungen umEntspannung führten dazu, dass Moskau nicht mehr die chinesischenAmbitionen auf Kernwaffen unterstützte. Generell versuchte <strong>China</strong> ausMoskaus Schatten zu treten <strong>und</strong> eigenständige Konturen zu gewinnen. Inden 1960er-Jahren kamen Grenzstreitigkeiten hinzu. 1962 kritisierte<strong>China</strong> den Rückzug der sowjetischen Raketen aus Kuba. DieBreschnjew-Doktrin der „beschränkten Souveränität“ sozialistischerStaaten <strong>und</strong> die damit in Zusammenhang stehende Intervention in derTschechoslowakei trugen zur weiteren Entfremdung bei. 1969 wurdenschließlich die sowjetischen Experten aus <strong>China</strong> abgezogen. DieBeziehungen hatten damit ihren Tiefpunkt erreicht. Erst in den letztenJahren des Bestehens der UdSSR verbesserten sich die Beziehungen zu<strong>China</strong> durch den Truppenabbau in der Mongolei <strong>und</strong> an dergemeinsamen Grenze, den Abzug der Sowjets aus Afghanistan <strong>und</strong> den3 Irlenkaeuser, 68 f.9


Rückzug Vietnams aus Kambodscha. Die Reformpolitik Gorbatschowsaber missfiel Deng Xiaoping, dem „starken Mann“ <strong>China</strong>s.In den gleichen Zeitraum wie die Entfremdung von der UdSSR fiel derBruch mit <strong>Indien</strong>. Mitte der 50er-Jahre waren die Beziehungen nochintakt. <strong>China</strong> wurde in die Dekolonialisierungsbewegung eingeb<strong>und</strong>en,in der <strong>Indien</strong> unter Ministerpräsident Nehru eine führende Rolleeinnahm. Nehru sah <strong>China</strong> als anti-imperialistische Macht, die seinerAnsicht nach mit den anderen gleichgerichteten Mächten in Friedenleben sollte. Nehru hatte seinerzeit <strong>China</strong> Tibet ohne Widerstandüberlassen. Gemäß dem Prinzip einer friedlichen Koexistenz gewährteNehru zwar dem Dalai Lhama nach seiner Flucht 1959 in <strong>Indien</strong> Exil,gestattete aber keine Exilregierung. Im April 1961 gab esGrenzverhandlungen zwischen Nehru <strong>und</strong> Ministerpräsident Chou Enlai.Beim Abschluss des chinesisch-indischen Vertrages von 1954 wardie gemeinsame Grenze nicht verbindlich festgelegt worden. <strong>China</strong>wollte gegen Akzeptanz der McMahon-Linie die Karakorum-Straße <strong>und</strong>Aksai Chin. Die Straße war für <strong>China</strong> wichtig, weil sie die Verbindung<strong>China</strong>s mit den Westprovinzen sicherte. Als demokratisch gewählterPolitiker konnte Nehru einen Gebietstausch nicht einfach akzeptieren.Diese Haltung <strong>Indien</strong>s in der Tibet-Frage wurde indes von <strong>China</strong> alsEinmischung in innere Angelegenheiten <strong>und</strong> als Beleg für indischeAmbitionen in Tibet gesehen. Die Grenzzwischenfälle nahmen zu.Schließlich setzte <strong>China</strong> 1962 seine Streitkräfte ein – der Moment waraufgr<strong>und</strong> der Kuba-Krise günstig. Peking konnte so seineGebietsforderungen durchsetzen <strong>und</strong> <strong>Indien</strong> seine Überlegenheitdemonstrieren.Folge war, dass <strong>Indien</strong> aufzurüsten begann, nachdem Nehru diesemBereich zuvor wenig Aufmerksamkeit gewidmet hatte. Das wiederumrief Pakistan auf den Plan, welches die Durchsetzungsmöglichkeitenseiner Oberhoheit über Kaschmir schwinden sah. Nachdem 1965 einerster Grenzübergriff Pakistans lediglich mit der Bitte um Vermittlungdurch Großbritannien beantwortet worden war, entschied sich diepakistanische Führung unter Ayub Khan noch im selben Jahr zu einemMilitärschlag. <strong>Indien</strong> leistete Widerstand <strong>und</strong> führte Entlastungsschlägeauf pakistanisches Territorium durch. Der Krieg endete für beide Seitenohne Ergebnis. Folge der mangelnden Unterstützung für Pakistan durch10


die USA war eine signifikante Verschlechterung des Verhältnisses <strong>und</strong>ein stärkere Hinwendung zu <strong>China</strong>. 4Pakistan war das erste muslimische Land, das die VR <strong>China</strong> anerkannthatte. Strategische <strong>und</strong> politische Überlegungen führten vonpakistanischer Seite aus zur Annäherung der beiden Staaten. Pakistanweigerte sich 1951 in der UN-Generalversammlung angesichts desEingreifens <strong>China</strong>s in den Korea-Krieg, einen Antrag zu unterstützen,mittels dessen <strong>China</strong> zum Aggressor erklärt worden wäre. Die gutenBeziehungen zu <strong>China</strong> äußerten sich unter anderem im Bau derKarakorum-Straße, die 1978 eröffnet wurde <strong>und</strong> militärische Bedeutunghat, da sie den Transport militärischer Güter vom pakistanischen HafenKarachi auf dem Landweg nach <strong>China</strong> möglich machte (so ist Bedachtgenommen, dass leichte Panzer die Brücken überqueren können;Militärstationen dienen der Sicherheit). Pakistan ist aber auch Allianzenmit den USA eingegangen, um Unterstützung gegen <strong>Indien</strong> zu gewinnen.1962 brach der Krieg zwischen <strong>China</strong> <strong>und</strong> <strong>Indien</strong> aus, der mit einemeinseitigen Waffenstillstand seitens <strong>China</strong>s <strong>und</strong> einem chinesischenVerhandlungsangebot endete. Die nach diesem Krieg geführtenVerhandlungen zwischen <strong>Indien</strong> <strong>und</strong> Pakistan über Kaschmir fruchtetenjedoch nichts. <strong>China</strong> <strong>und</strong> Pakistan – beide nunmehr durch einenGebietskonflikt mit <strong>Indien</strong> verb<strong>und</strong>en – rückten enger zusammen. 1963wurde ein Abkommen über die gemeinsame Staatsgrenze geschlossen;dabei wurde ein Teil von Kaschmir durch Pakistan an <strong>China</strong> abgetreten.Pakistan war von der US-Unterstützung für <strong>Indien</strong> enttäuscht <strong>und</strong> suchteeinen unabhängigen Kurs zu steuern. Im pakistanisch-indischen Kriegvon 1965 stellte <strong>China</strong> <strong>Indien</strong> zwei Ultimaten, wodurch letztlich einAngriff auf Ostpakistan verhinderte wurde. <strong>China</strong> hat Pakistan danachmilitärisch aufgerüstet. 1966 wurde ein Rüstungsabkommen über 120Millionen USD unterzeichnet. 1970 stammten 25% der pakistanischenPanzer <strong>und</strong> 33% der Luftflotte aus <strong>China</strong>. Im indisch-pakistanischenKrieg 1971 half <strong>China</strong> die Verluste an militärischem Gerätauszugleichen. In der Folge stellten die Chinesen auch Industrieanlagenzur Verfügung, die Pakistan rüstungstechnisch nutzen konnte. DieRüstungslieferungen nach Pakistan waren sehr umfangreich <strong>und</strong>4 Rotherm<strong>und</strong>, Dietmar: Geschichte <strong>Indien</strong>s. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart,München 2002, 64-67<strong>11</strong>


wuchsen mit den chinesischen Möglichkeiten. So gingen zwischen 1970<strong>und</strong> 1986 beinahe 1000 Panzer nach Pakistan. 5<strong>China</strong> begann nun verstärkt Beziehungen zu anderen asiatischen <strong>und</strong>afrikanischen Staaten zu suchen. Eine Gr<strong>und</strong>lage war bereits 1955 aufder Konferenz von Bandung gelegt worden. <strong>China</strong> hatte dort Gr<strong>und</strong>sätzefür seine Beziehungen zu nichtkommunistischen Staaten deklariert:gegenseitiger Respekt für Souveränität <strong>und</strong> Integrität, gegenseitigerGewaltverzicht, gegenseitige Nichteinmischung in innereAngelegenheiten, friedliche Koexistenz. Ab ca. 1964 verstärkte <strong>China</strong>seine „antiimperialistische“ Politik <strong>und</strong> unterstützte „nationaleBefreiungsbewegungen“ (Nordvietnam), aber auch einenkommunistischen Umsturzversuch in Indonesien. <strong>China</strong> definierte sichals Staat der Dritten Welt <strong>und</strong> wollte mit deren Ländern eine Allianzbilden.Parallel dazu bot sich die Möglichkeit verbesserter Beziehungen zu denUSA, die ebenfalls an einer Entspannung mit <strong>China</strong> interessiert waren.Der Einmarsch in die ČSSR 1968 <strong>und</strong> auch die vermehrtenBestrebungen der Sowjetunion zur Kontrolle der Meere lösten in PekingBefürchtungen hinsichtlich der sowjetischen Politik aus. <strong>China</strong> wardaher an einer Normalisierung der Beziehungen zu den USA interessiert,die zwischen 1954 <strong>und</strong> 1970 lediglich auf der Ebene vonBotschaftergesprächen in Genf <strong>und</strong> Warschau bestanden hatten. DieBesuche des Nationalen Sicherheitsberaters Henry Kissinger 1971 <strong>und</strong>von Präsident Nixon 1972 brachten den Durchbruch. Anfang derSiebziger Jahre wurden diplomatische Beziehungen mit Italien, Kanada,Deutschland <strong>und</strong> Japan aufgenommen. Nach der Übertragung des Sitzesin den UN auf die VR 1971 war Peking um Integration in dieinternationale Gemeinschaft bemüht.Die vollständige Normalisierung der Beziehungen zu den USA ließallerdings noch auf sich warten, da das Problem Taiwan noch nichtgelöst war. Schließlich kündigten die USA den Verteidigungsvertrag von1954, brachen die diplomatischen Beziehungen zu Taiwan ab <strong>und</strong> zogen5 Chaudhri, Mohammad Ahsen: Strategic and Military Dimensions in Pakistan-<strong>China</strong>Relations, in: Ali, Mehrunnisa (ed.): Readings in Pakistan Foreign Policy 1971-1998,Oxford 2001, 318, 321-32412


ihre Truppen zurück. Damit konnten 1979 die diplomatischenBeziehungen zwischen Washington <strong>und</strong> Peking, das nun von auch vonden USA als legitime Vertretung <strong>China</strong>s anerkannt wurde,aufgenommen werden.Die USA beendeten die Unterstützung für den Verbündeten Taiwan abernicht vollständig. Die Basis für die US-taiwanesischen Beziehungenbildet seit 1979 der Taiwan Relations Act. Darin wird festgehalten, dassFrieden <strong>und</strong> Stabilität in der Region im politischen,sicherheitspolitischen <strong>und</strong> wirtschaftlichen Interesse der USA stünden.In Richtung Peking wurde der Rahmen für die gewünschteWiedervereinigung abgesteckt: Die Anerkennung der VR <strong>China</strong> sei mitder Erwartung verb<strong>und</strong>en, dass über die Zukunft Taiwans mit friedlichenMitteln entschieden werde; würden andere Mittel zur Anwendungkommen, darunter auch ein Embargo oder Boykott, würde das alsBedrohung von Frieden <strong>und</strong> Sicherheit betrachtet werden. Die USAentschieden sich, Taiwan für die Verteidigung auszurüsten <strong>und</strong> eigeneKapazitäten aufrechtzuerhalten, um jegliche Anwendung von Gewaltoder sonstigen Zwang, der die Sicherheit gefährden würde, abwehren zukönnen. 6Die Beziehungen zwischen <strong>China</strong> <strong>und</strong> Japan waren nach 1945 wegen derHerrschaft Japans über Teile <strong>China</strong>s in den Jahren 1931 – 1945 belastet,wobei besonders die dabei verübten Gewalttaten sich nachhaltig negativauf die chinesische Haltung gegenüber dem Nachbarn auswirkten. Einenunmittelbaren Effekt hatte das enge Verhältnis Japans zu den USA, daseine Annäherung an <strong>China</strong> ausschloss, solange dessen Gegnerschaft zuden USA bestand. 1951 wurde der amerikanisch-japanische Sicherheits<strong>und</strong>Fre<strong>und</strong>schaftsvertrag geschlossen, der 1960 erneuert wurde.Handelsbeziehungen zwischen <strong>China</strong> <strong>und</strong> Japan begannen sich trotz derpolitischen Kluft bereits in den 1950er-Jahren zu entwickeln. Von 1966an war Japan <strong>China</strong>s wichtigster Handelspartner. 7 Die Entzweiungzwischen <strong>China</strong> <strong>und</strong> der Sowjetunion <strong>und</strong> die Verbesserung der USchinesischenBeziehungen ermöglichten auch eine Normalisierung desVerhältnisses zu Japan. Gr<strong>und</strong> für <strong>China</strong>, eine solche6 Irlenkaeuser, 76-867 Japan's role in <strong>China</strong>'s economic reforms, http://news.xinhuanet.com, 7.1.200913


Normalisierungspolitik zu forcieren, war auch, zu enge Beziehungenzwischen Japan <strong>und</strong> der UdSSR zu verhindern. 8 1972 wurdendiplomatische Beziehungen aufgenommen. Japan erkannte damit dieRegierung in Peking als legitim an <strong>und</strong> auch, dass Taiwan Teil von<strong>China</strong> ist. Im gleichen Zug hat <strong>China</strong> auf Kriegsreparationen durch Japanverzichtet. 1978 wurde der Vertrag über Frieden <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>schaftzwischen den beiden Staaten geschlossen. In diesen Vertrag wurde, wieschon in das Abkommen von 1972, eine Anti-Hegemonie-Klauselintegriert, nach der sich beide Seiten verpflichten, keine Hegemonie imasiatisch-pazifischen Raum anzustreben (<strong>und</strong> auch in keiner anderenRegion) <strong>und</strong> sich Versuchen durch andere Staaten, eine solche zuetablieren, zu widersetzen. 9 Auf dieser politischen Gr<strong>und</strong>lage konntendie wirtschaftlichen Beziehungen – hier besonders relevant diejapanischen Investitionen in <strong>China</strong> – intensiv ausgestaltet werden,wodurch Japan einen wichtigen Beitrag zur rasanten ökonomischenAufwärtsentwicklung <strong>China</strong>s leistete <strong>und</strong> noch immer leistet.Sicherheitspolitisch brachte das Ende der Sowjetunion auch für <strong>China</strong>eine Entlastung, da die starren Fronten aufbrachen. Die Verhältnisse inOstasien wurden neu geordnet. Japan begann sich von den USA zuemanzipieren <strong>und</strong> eine eigenständigere Rolle einzunehmen.Entsprechende Bemühungen wurden daher am Rüstungssektorunternommen <strong>und</strong> die japanischen Streitkräfte erstmals inAuslandseinsätze entsandt. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichtendiese Bestrebungen 2009, als die neue liberal-demokratische RegierungPläne für eine Verlegung der US-Basis auf Okinawa ruhend stellte. DasVerhalten Japans ließ den Verdacht aufkommen, dass die US-Truppendas Land überhaupt verlassen sollen. Das hätte gravierendeAuswirkungen auf die Sicherheitslage in Ostasien, da zum US-Kontingent in Japan 14.200 Soldaten gehören – strategisch günstig8 Clados, Miriam: <strong>China</strong> <strong>und</strong> Japan: Historische, wirtschaftliche <strong>und</strong> strategischeBeziehungen, insbesondere nach Ende des kalten Krieges, http://www.chinafokus.de,1.6.20109 Treaty of Peace and Friendship between Japan and the People’s Republic of <strong>China</strong>,August 12, 1978, http://www.mofa.go.jp, 7.1.200914


zwischen Taiwan <strong>und</strong> Korea positioniert. 10 Allerdings sind die US-Streitkräfte noch immer das Rückgrat japanischer Sicherheit, auf die esauch in nächster Zukunft nicht wird verzichten können – zumindest nichtauf jene Kräfte, die der Verteidigung Japans dienen.Die Beziehungen zwischen <strong>China</strong> <strong>und</strong> Japan waren in den letztenzwanzig Jahren primär von Wirtschaftsfragen geprägt. Japan alsWeltwirtschaftsmacht Nummer zwei war stets ein wesentlicher Faktorfür den wirtschaftlichen Reformkurs, bedurfte <strong>China</strong> doch derAnbindung an eine moderne Industrienation. Umgekehrt bietet <strong>China</strong>Japan einen riesigen Investitions- <strong>und</strong> Absatzmarkt <strong>und</strong> ist <strong>heute</strong> Japanswichtigster Handelspartner. Vor dem historischen Hintergr<strong>und</strong> einertraditionellen Rivalität gewinnt das Konkurrenzverhältnis zum politisch<strong>und</strong> militärisch immer stärker werdenden <strong>China</strong> zunehmend anKonturen. Besonders auf den Öl- <strong>und</strong> Gasmärkten treten beide als Bieterauf, da Japan fast vollständig, aber auch <strong>China</strong> von Importen abhängigist. Der Streit um die Gebietshoheit über die Senkaku-(Diaoyu-)Inseln,in deren Gewässern mit reichen unterseeischen Ölvorkommen gerechnetwird, ist auch der einzige konkrete Streitpunkt zwischen den Nachbarn.<strong>China</strong> könnte 2010 Japan wirtschaftlich überholen – der Inselstaat hatmit großen wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen. Das Machtgefüge inOstasien könnte sich damit weiter verschieben. Ein BedeutungsverlustJapans könnte dazu führen, dass sowohl die USA als auch Japan ihreAußenpolitik stärker auf <strong>China</strong> ausrichten <strong>und</strong> beider Bündnis anBedeutung verliert. Das ist zweifellos im Interesse <strong>China</strong>s: Die Lösungder Taiwan-Frage im Sinne Pekings würde näher rücken, wenn Japanvon der gemeinsamen Position mit den USA abrückte. 2005 hattennämlich die USA <strong>und</strong> Japan zur Empörung <strong>China</strong>s die Sicherheit an derTaiwan-Straße zum beiderseitigen Interesse erklärt. Für <strong>China</strong> wird diekünftige Ausrichtung der japanischen Außen- <strong>und</strong> Sicherheitspolitikdaher von großem Gewicht sein. In Japan gibt es momentan eineDiskussion, ob man das Bündnis mit den USA festigen solle <strong>und</strong> aufdieser Basis eine dominante Position bei einer Integration Asiensanstreben solle, um so <strong>China</strong> einzuhegen, oder die USA auf Distanz10 Future of Okinawa base strains U.S.-Japanese alliance,http://www.washingtonpost.com, 24.1.201015


halten <strong>und</strong> die Arbeit an einer East Asian Community in denVordergr<strong>und</strong> stellen solle. <strong>China</strong> wird aber so oder so eine Rolle spielen.Die Frage ist, ob bei einer solchen Integration Asiens Japan oder <strong>China</strong>die führende Position einnehmen wird. <strong>China</strong> wird aus eigenem Interessedie gegenwärtig engen Beziehungen mit dem Nachbarn, die durchzahlreiche Kontakte auf unterschiedlichen Ebenen gepflegt werden,weiter aufrechterhalten. <strong>11</strong>Das gilt auch für die Beziehungen zu den USA. Wie gegenüber Japanwar das Interesse <strong>China</strong>s an den USA mit Beginn der Reformpolitik klarvon der Wirtschaft dominiert. Technologisch Anschluss zu gewinnen<strong>und</strong> die Amerikaner mit günstigen Produkten zu beliefern, um demökonomischen Aufwärtstrend <strong>China</strong>s fortgesetzten Schwung zuverleihen, war das Ziel. Der wirtschaftliche Erfolg ist stets auch einFaktor der Sicherheitspolitik gewesen, verleiht er dem riesigen Landdoch Stabilität. Das gilt sowohl nach innen, aber auch nach außen, daWirtschaftspartner Konfrontationen untereinander vermeiden, wenndiese zu ihrem Nachteil gereichen. Die Rechung ist aufgegangen, dieWirtschaften der USA <strong>und</strong> <strong>China</strong>s sind <strong>heute</strong> auf das Engste verb<strong>und</strong>en<strong>und</strong> beide Staaten sind daher demonstrativ um Zusammenarbeit bemüht.Differenzen blieben aber bestehen – resultierend aus dem<strong>und</strong>emokratischen politischen System <strong>und</strong> der wachsenden Bedeutung<strong>China</strong>s am internationalen Parkett, wo es immer selbstbewusster auftritt<strong>und</strong> das Recht auf Mitsprache <strong>und</strong> Mitbestimmung einfordert.Nachhaltigen Eindruck in den USA <strong>und</strong> der EU hinterließ dieNiederschlagung der Demokratie-Bewegung 1989. Während in Europa<strong>und</strong> Russland die kommunistischen Diktaturen zusammenbrachen, griffdie chinesische Führung erfolgreich gegen die Demonstranten durch <strong>und</strong>zerschlug den Protest. Forderungen nach inneren Reformen wurden mitbrutaler Gewalt unterdrückt. Das Verhältnis zu den USA <strong>und</strong> auchEuropa war in der Folge deutlich getrübt. Ein Waffenembargo der EU istbis <strong>heute</strong> aufrecht. An der Haltung Pekings hat sich aber nichts geändert.Die Position der kommunistischen Führung ist, dass Reformen alleinvon ihr selbst Ausgang nehmen dürfen – Forderungen von Dissidentenwerden mit Repressalien beantwortet. Die Einhaltung der<strong>11</strong> <strong>China</strong> still sober despite economic rise, http://www.chinadaily.com.cn, 1.2.201016


Menschenrechte ist ein Punkt ständig wiederkehrender Kritik westlicherStaaten an <strong>China</strong>.Aus Pekings Sicht ist den USA nur beschränkt zu trauen. Ein deutlicherWarnschuss war die Intervention der NATO-Staaten im Kosovo <strong>und</strong> dieBombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad im Zuge derLuftangriffe auf Jugoslawien 1999. Mit Tibet <strong>und</strong> Xinjiang gehören zu<strong>China</strong> ebenfalls Provinzen mit sezessionistisch geneigten einheimischenVolksgruppen – in Xinjiang haben diese Kräfte allerdings eine deutlichislamistische Konnotation, was seit 09/<strong>11</strong> Gr<strong>und</strong> für die Kooperationzwischen USA <strong>und</strong> <strong>China</strong> im Kampf gegen islamistischen Terror ist. ImFalle der bombardierten Botschaft wollte man an keinen Zufall glauben,man vermutete eine gezielte Aktion. Der Zusammenstoß eineschinesischen Flugzeuges mit einem US-Aufklärungsflugzeug 2001führte zum nächsten Konflikt. Peking hat all diese Streitigkeiten aberüberspielt, da die guten (Wirtschafts-)Beziehungen wichtiger waren. 12Das deckt sich mit der „Strategie der 24 Schriftzeichen“ DengXiaopings, die eine gelassene <strong>und</strong> ruhige Haltung postuliert, bis derrichtige Moment zum Handeln erreicht ist. <strong>China</strong> hat in den letztenzwanzig Jahren das Verteidigungsbudget kontinuierlich zweistelligangehoben <strong>und</strong> will bis 2050 seine Streitkräfte auf modernstes Niveaubringen. Dazu gehört vor allem die internationale Einsetzbarkeit – sosollen die Marine hochseetauglich <strong>und</strong> die Luftwaffe vom Instrument derTerritorialverteidigung zu einer integrierten Teilstreitkraft werden.Eine sicherheitspolitische Herausforderung, die momentan die USA,Japan <strong>und</strong> <strong>China</strong> eint, ist das nordkoreanische Nuklearprogramm. <strong>China</strong>ist zwar seit 60 Jahren traditioneller Verbündeter des kommunistischenNachbarn, hat allerdings kein Interesse an einer NuklearmachtNordkorea, deren Potential ein Aufrüsten in Asien anfachen könnte –Japan wäre in einem solchen Fall unweigerlich der nächste Staat, der denBesitz solcher Waffen anstreben würde. Im Sinne der Stabilität in seinerNachbarschaft ist aber auch ein Regimewechsel keine Option für Peking.Es ist daher bestrebt, Druck in wohldotierten Dosen auszuüben, verwehrtsich aber gegen Sanktionen, die aus seiner Sicht zu weit gehen. <strong>China</strong>12 Cohen, Warren I.: <strong>China</strong> and the West in Historical Perspective, in: Footnotes, Vol.13, No 6, April 2008, http://www.fpri.org, 1.6.201017


leistet aufgr<strong>und</strong> seiner Kontakte wichtige Vermittlerdienste <strong>und</strong> ist eineSchlüsselmacht für eine Lösung des Konflikts mit Nordkorea. Einevergleichbare Haltung nimmt <strong>China</strong> in der Frage des Atomstreits mitdem Iran ein. Den wichtigen Energielieferanten will Peking nicht vorden Kopf stoßen, sich aber auch nicht dem Vorwurf aussetzen, denBruch internationaler Vereinbarungen zu unterstützen.Außenpolitisches Hauptanliegen ist die Wiedereingliederung Taiwans inden chinesischen Staatsverband. In allen internationalen Beziehungenbesteht Peking daher auf die Anerkennung des Ein-<strong>China</strong>-Prinzips – dasbedeutet, es gibt nur einen Staat <strong>China</strong>, zu dem auch die Insel Taiwangehört. Der politische <strong>und</strong> militärische Schutz der USA für Taiwan istständiger Konfliktpunkt mit den USA. Der Beschluss über eine bereitslange geplante Lieferung von Rüstungsgütern wie Black-Hawk-Helikoptern, dem Raketenabwehrsystem Patriot, Minenräumschiffen <strong>und</strong>Kommunikationsmitteln hat die Beziehungen 2010 stark belastet. <strong>China</strong>hat jeglichen Militäraustausch eingefroren <strong>und</strong> mit Sanktionen gedroht. 13Insgesamt ist <strong>China</strong> im Weltgeschehen über die Jahre deutlich sichtbarergeworden. Die guten Exportgeschäfte haben viel Geld ins Landgebracht, das nun zu weltweiten Investitionen eingesetzt wird. Mitseinem ständigen Sitz im UN-Weltsicherheitsrat hat <strong>China</strong> ininternationalen Fragen mitzureden <strong>und</strong> kann dies mit zunehmenderBestimmtheit tun. Die USA verlangen von <strong>China</strong> ein„verantwortungsbewusster Teilhaber“ der internationalen Beziehungenzu sein. Wie genau <strong>China</strong> seine Verantwortung wahrnehmen wird, ist inKonturen zu erkennen: Der weitere Kurs wird von „Realpolitik“bestimmt werden <strong>und</strong> sich an den nationalen Interessen <strong>China</strong>sorientieren. Mit dem, was der Westen unter „Verantwortung“ verstehtoder was seinen Interessen entspricht, wird das nur teilweise korrelieren.13 U.S. sells weapons to Taiwan, angering <strong>China</strong>, http://www.washingtonpost.com,30.1.2010; Sanctions 'could hurt aviation industry', http://www.chinadaily.com.cn,2.2.201018


3. Die Entwicklung der Sicherheits- <strong>und</strong>Verteidigungspolitik <strong>China</strong>sDaniel WelserDie chinesischen Streitkräfte sind in Ostasien, aber in letzter Zeit auchzunehmend im internationalen Rahmen mit einer Reihe vonHerausforderungen konfrontiert. Dies schlägt sich in entsprechendenRüstungsvorhaben nieder, damit die jeweiligen Aufgaben auchbestmöglich erfüllt werden können. Hauptaufgabe ist die Bewahrung derSouveränität <strong>und</strong> Einheit <strong>China</strong>s, weswegen besonderes AugenmerkTaiwan, der aus Pekings Sicht abtrünnigen Provinz, gilt. Eine etwaigeSezession der Insel will Peking notfalls militärisch verhindern. Dahinterstecken auch strategische Überlegungen: Taiwan ist von zentralerBedeutung für die Kontrolle der „ersten Inselkette“, die das Ost- bzw.Südchinesische Meer abschließt – die beiden Meere werden durch dieStraße von Taiwan verb<strong>und</strong>en. Da die USA „Schutzmacht“ Taiwanssind, wird das Verhältnis <strong>China</strong>s zu den USA besonders von dieserFrage bestimmt. Als Anrainerstaat des Pazifiks mitTruppendislozierungen in Ostasien sind die USA darüber hinaus Fokussämtlicher militärischer Planungen Pekings. Russland <strong>und</strong> <strong>China</strong>verbinden gemeinsame strategische Interessen <strong>und</strong> der Import vonrussischen Rüstungsgütern. Afrika wiederum importiert chinesischeWaffen <strong>und</strong> <strong>China</strong> die für seine Wirtschaft nötigen Rohstoffe aus Afrika.All diese Interessen will <strong>China</strong> militärisch absichern. DieVolksbefreiungsarmee soll zu diesem Zweck in den nächsten 40 Jahrenauf modernsten Stand gebracht werden.3.1 Die außen- <strong>und</strong> sicherheitspolitischenVerhältnisse3.1.1 TaiwanDie Modernisierung der chinesischen Armee muss im Zusammenhangmit den chinesisch-taiwanesischen Beziehungen betrachtet werden. ImRahmen der Ein-<strong>China</strong>-Politik betreibt Peking die Wiederherstellung derSouveränität über die Insel. Wenn dies auch das Hauptanliegen ist, sosoll weiters die Interessensphäre <strong>China</strong>s zur See ausgedehnt werden, um19


die Lines of Communication (LoC) <strong>und</strong> Lines of Transportation (LoT)zu sichern, die für die Versorgung <strong>China</strong>s, vor allem ausenergiepolitischer Sicht, lebenswichtig sind. Die Wahl von Ma Yingjeouzum Präsidenten Taiwans führte zu einem Tauwetter in denBeziehungen zwischen Festland <strong>und</strong> Insel. <strong>China</strong>s Präsident Hu Jintaosprach sich im Dezember 2008 für eine Stabilisierung der Beziehungenaus. Nachdem die Gespräche neun Jahre ausgesetzt waren, stellten sichim Juni 2008 relativ schnell Verbesserungen, wie die Wiederaufnahmeder direkten Flugverbindungen, Schiffsrouten <strong>und</strong> des Postverkehrs, ein.Meldungen, wonach <strong>China</strong> die auf Taiwan gerichteten 1.300Kurzstreckenraketen (SRBM) reduzieren könnte, haben sich allerdingsnoch nicht bewahrheitet. 14 Die erste taiwanesische Quadrennial DefenseReview (QDR) – sie erschien im März 2009 – zeigt das Unbehagen desMilitärs gegenüber vertrauensbildenden Maßnahmen <strong>und</strong> einemmöglichen Friedensabkommen mit <strong>China</strong>. Die taiwanesischenStreitkräfte bestehen weiterhin auf der Beschaffung modernerWaffensysteme. <strong>China</strong> müsse die auf Taiwan gerichtetenKurzstreckenraketen zurückziehen <strong>und</strong> die Androhung vonWaffengewalt gegen Taiwan zurücknehmen, ansonsten dürfe Taiwannichts an seiner Aufrüstung ändern. Der QDR fordert weiters eineReduzierung der Militärkommanden auf drei, eine Truppenreduktionvon 275.000 auf 215.000 Mann <strong>und</strong> ein Ende der Wehrpflicht.Andererseits werden gleichzeitig moderne Waffen, wie U-Boote,Raketen, Kampfflugzeuge <strong>und</strong> C4ISR 15 -Systeme, gefordert. Geplant istauch der Kauf von verschiedenen Raketenwerfern,Versorgungshelikoptern <strong>und</strong> UAV 16 s. Die Marine verlangt große <strong>und</strong>mittlere Kriegsschiffe, Raketen-Patrouillenboote, luftgestützte Anti-Schiffs-Raketen, Minensucher <strong>und</strong> Minensuch-Helikopter. Von denUSA wird der Verkauf von Hubschraubern des Typs UH-60 BlackHawk sowie acht im Jahr 2001 versprochenen U-Booten <strong>und</strong> Zerstörernmit Aegis-Systemen gefordert. 17 Durch die geplante Kürzung des14 <strong>China</strong> Suggests Mil-to-Mil With Taiwan, Defense News, 12.01.2009, S. 415 C4ISR: Command, Control, Communications, Computers, Intelligence, Surveillance,Reconnaissance16 UAV: Unmanned Aerial Vehicle17 Taiwan's QDR Reveals Rift, Defense News, 23.03.2009, S. 120


taiwanesischen Verteidigungsbudgets um 6% (von 9,5 Milliarden auf 8,9Milliarden Dollar) dürfte der Spielraum für neue Anschaffungen <strong>und</strong> dieModernisierung des Militärs jedoch eng werden. Das verringerte Budgetkann auch als Versuch der Annäherung an <strong>China</strong> gedeutet werden. 18Taiwan hat schon jetzt mit einem militärischen Ungleichgewicht zukämpfen. Seit 2006 fordert es von den USA 66 Kampfflugzeuge F-16C/D Block 50/52, um die alternden F-5E/F Tiger zu ersetzen. DieMirage 2000-5D/E dürften ebenfalls wegen zu hoher Wartungskostenausgemustert werden. Ohne die F-16 müsste die taiwanesische Luftwaffeein bis zwei Fighter Wings auflösen. Den 390 taiwanesischenKampfflugzeugen, davon 146 F-16A/B Block 20, 128 F-CK-1 IDF, 56Mirage 2000-5 <strong>und</strong> 60 F-5, stehen 330 Kampfflugzeuge in unmittelbarerReichweite auf chinesischer Seite gegenüber. Insgesamt verfügt diechinesische Luftwaffe über 1.655 Kampfflugzeuge. Generell wird dieAnschaffung der F-16C/D, die etwa drei bis vier Jahre nachVertragsabschluss geliefert werden könnten, als Brückenlösung bis zurBeschaffung von senkrechtstartfähigen (VSTOL 19 ) Flugzeugen gesehen.Im Fall eines Angriffs könnte <strong>China</strong> mit den auf Taiwan gerichtetenRaketen einen Großteil der taiwanesischen Landepisten zerstören <strong>und</strong> sodie konventionellen Flugzeuge unbrauchbar machen. Taiwan hat bereitsdie Beschaffung von überholten AV-8 VSTOL Harrier <strong>und</strong> F-35BVSTOL beschlossen, wobei die F-35B erst in etwa zehn Jahren beschafftwerden könnten. Durch die Truppenreduktion der Air Force von 6.000auf 5.000 Soldaten ergibt sich weiterhin der Verlust von ein bis zweiFighter Wings. Taiwan könnte ein Sechstel seiner Luftstreitkräfteverlieren. 20Die Bedrohung durch auf Taiwan gerichtete chinesischeKurzstreckenraketen wurde mit der Produktion von Hsiung-Feng-(HF)-2E-Marschflugkörpern beantwortet. Diese haben eine Reichweite von600 km, eine 800-km-Variante ist in Entwicklung. Somit sind dies dieersten Raketen, die das chinesische Festland treffen können. Die USA18 Taiwan Defense Budget Drops 6%, Defense News, 28.09.2009, S. 2819 VSTOL: Vertical Short Take Off and Landing20 Taiwan Fears Air Power Reduction, Vulnerability to <strong>China</strong>, Defense News,20.04.2009, S. 821


haben bereits 2008 versucht, das Programm durch den Stopp derLieferungen von Raketenteilen zu verhindern, allerdings soll die von denUSA an Taiwan verkaufte Anti-Schiffs-Rakete Harpoon Block II dengleichen Landangriffsmodus wie die HF-2E besitzen. Zu den weiterenRaketenprojekten gehören das Luftverteidigungs-Raketensystem TienKung-3, die Anti-Schiffs-Rakete Hsiung Feng-3 <strong>und</strong> die Anti-Radiations-Rakete Tien Chien-2A. 21 R<strong>und</strong> um Taiwan sind 500 Tien-Kung-Luftabwehrraketen verteilt auf sechs Standorte aufgestellt. Durchihre Reichweite von bis zu 300 Kilometern ist es Taiwan möglich,Flugzeuge über chinesischem Boden abzuschießen. DieLuftabwehrraketenbasis auf der Insel Tongyin erlaubt es Taiwan, zweichinesische Raketenbasen mit auf Taiwan gerichteten DF-15-Raketen zuüberwachen. 223.1.2 USAFür die Beziehungen zwischen USA <strong>und</strong> <strong>China</strong> ist Taiwan von höchsterBedeutung. Die USA sind wie <strong>China</strong> Abspaltungsbestrebungenabgeneigt <strong>und</strong> Washington vertritt die Ein-<strong>China</strong>-Politik (Bekenntnis zueinem einzigen Staat <strong>China</strong>), unterstützt aber auf Gr<strong>und</strong>lage des TaiwanRelations Act von 1979 die Insel politisch <strong>und</strong> militärisch. In den SixAssurances von 1982 wurden weitere Zusagen getätigt, zu denen auchdie Verweigerung einer formellen Anerkennung der Souveränität <strong>China</strong>süber Taiwan zählt. 23 Pekings Endziel ist die Wiedereingliederung derInsel in den chinesischen Staat. Es setzt hierbei auf möglichst engeAnbindung Taiwans an das Festland mit friedlichen Mitteln. EineEntspannung an der Taiwan-Straße wirkt sich auch auf die US-Waffenlieferungen an Taiwan <strong>und</strong> die Rolle der USA in der Region aus.In Washington wurden Stimmen laut, die eine stärkere UnterstützungTaiwans im Hinblick auf die verbesserten Beziehungen <strong>China</strong> – Taiwanverlangten. So wurden im November 2008 zwischen Peking <strong>und</strong> Taipeh13 Verträge ausverhandelt, darunter das Ende des seit 1949 bestehenden21 Taiwan Continues Cruise Missile Effort, Defense News, 16.03.2009, S. 1622 Taiwan Missile Base Identified Near <strong>China</strong>, Defense News, 22.02.2010, S. 623 Andrea K. Riemer, <strong>China</strong>s strategische Neupositionierung im geopolitischen Kontext(Schriftenreihe der Landesverteidigungsakademie 14/2005, Wien 2005), S. 22; S. 98,Fn. 3122


Verbots zur direkten Einreise. <strong>China</strong> <strong>und</strong> Taiwan diskutieren auchmilitärische vertrauensbildende Maßnahmen. Von Seite der USA bestehtdie Befürchtung, dass <strong>China</strong> die Kontrolle über TaiwansTelekommunikations- uns Finanzinstitutionen übernehmen könnte.Deshalb gibt es Befürworter einer weiteren militärischen UnterstützungTaiwans, um die Insel dem Festland gegenüber in eine bessereVerhandlungsposition zu bringen. So solle man die von Taiwanverlangten F-16, Black Hawks sowie U-Boote liefern <strong>und</strong> auch dieneuen Forderungen nach sechs Transportflugzeugen C-27J Spartanerfüllen. 24Im Oktober 2008 bewilligten die USA ein 6,4 Milliarden Dollar starkesRüstungspaket. Vom US-Kongress wurden am 29. Januar 2010 Teiledieses Pakets im Wert von 6 Milliarden Dollar freigegeben, darunter 60Helikopter UH-60M Black Hawk um 3,1 Milliarden Dollar, <strong>11</strong>4 PAC-3-Raketen um 2,81 Milliarden, 60 MultifunktionaleInformationsverteilungssysteme (MIDS 25 ) im Wert von 340 MillionenDollar, zwei erneuerte Minensuchschiffe der Osprey-Klasse um 105Millionen Dollar, 12 Harpoon-Trainingsraketen um 37 Millionen Dollar<strong>und</strong> Kommunikationssysteme für Taiwans Po-Sheng-Programm.Unterstützt werden die PAC-3-Raketen von drei Radarsystemen desTyps AN/MPQ-65. Die Raketenabwehrsysteme sollen in Zentraltaiwan<strong>und</strong> im Süden der Insel positioniert werden, um gegen die von <strong>China</strong> ausauf Taiwan gerichteten Kurzstreckenraketen zu schützen. 26 Nicht imPaket enthalten sind die Design- <strong>und</strong> Machbarkeitsstudie fürdieselbetriebene U-Boote 27 <strong>und</strong> die F-16-Kampfflugzeuge, wobei sichdie US-Regierung die Option zum Verkauf der F-16 zu einem späterenZeitpunkt explizit offenhält. 28 Laut einem ehemaligenVerteidigungsminister Taiwans sei <strong>China</strong> aber nicht auf eine militärischeUnterwerfung Taiwans angewiesen, sondern könnte ökonomische,24 In U.S., Calls for a Taiwan Policy Review, Defense News, <strong>11</strong>.05.2009, S. 1925 MIDS: Multifunctional Information Distribution System26 http://www.defensenews.com/story.php?i=4478455&c=ASI&s=AIR (Zugriff am27.04.2010)27 ebenda28http://www.nytimes.com/2010/01/30/world/asia/30arms.html?scp=1&sq=taiwan%20arms%20deal&st=cse (Zugriff am 27.04.2010)23


politische <strong>und</strong> kulturelle Mittel anwenden, um Taiwan in dieVolksrepublik einzugliedern. 29 Die USA stehen auch vor der Frage, obsie <strong>China</strong> mit dem Verkauf von F-16 an Taiwan verärgern sollten. DaTaiwan weiterhin auf die Flugzeuge angewiesen ist, diese aberzugunsten der F-35 nur noch in abnehmendem Maß produziert werden,könnte Taiwan seine Forderungen von den F-16 auf die F-35 verlagern. 30Ein Bericht der Defense Intelligence Agency bestätigte die schwindendeSchlagkraft der taiwanesischen Luftwaffe. 31In der Quadrennial Defense Review (QDR) 2010 präsentierte dasPentagon seine neue Strategie zum Umgang mit Anti-Access-Strategien.Als Maßnahmen werden unter anderem die Entwicklung einesgemeinsamen Luft-See-Kampfkonzepts der U.S. Navy <strong>und</strong> der U.S.Airforce, die Erweiterung der Langstreckenschlagfähigkeit, dieverstärkte Nutzung des Weltraums, robustere C4ISR-Fähigkeiten <strong>und</strong>die Ausschaltung von gegnerischen Netzwerken genannt. Der verstärkteEinsatz von Streitkräften im Ausland wird ebenfalls erwogen. 32 Obwohl<strong>China</strong> nicht explizit als Adressat erwähnt wurde, scheint die Strategiespeziell auf <strong>China</strong> gemünzt zu sein.3.1.3 RusslandDie Beziehungen zwischen <strong>China</strong> <strong>und</strong> Russland können durchaus alsambivalent bezeichnet werden. Die beiden Staaten sind sich in derAblehnung eines globalen Raketenabwehrsystems, der Militarisierungdes Weltraums <strong>und</strong> der Nuklearprogramme Nordkoreas <strong>und</strong> des Iransweitestgehend einig. Differenzen ergaben sich durch den unlizenziertenNachbau des russischen Su-27SK-Kampfjets durch <strong>China</strong>. 1995 wurdezwischen Russland <strong>und</strong> <strong>China</strong> ein Vertrag im Wert von 2,5 MilliardenDollar über die Produktionslizenz für 200 Su-27SK abgeschlossen.Bestandteil des Vertrags war die Ausrüstung des Jets mit russischenTriebwerken, Radar <strong>und</strong> Avionik. 2006 wurde der Vertrag von Russland29 <strong>China</strong> Suggests Mil-to-Mil With Taiwan, Defense News, 12.01.2009, S. 430 U.S.-Taiwan Meeting Ends on F-16 Question, Defense News, 05.10.2009, S. 6031 U.S. Intelligence Report on Taiwan Air Power Released, Defense News, 22.02.2010,S. 632 http://www.defense.gov/qdr/images/QDR_as_of_12Feb10_1000.pdf, S. 32-34(Zugriff am 27.04.2010)24


aufgekündigt, nachdem entdeckt worden war, dass <strong>China</strong> seine eigeneJet-Variante, den J-<strong>11</strong>B, mit chinesischer Avionik entwickelt. Wegentechnischer Schwierigkeiten wird im J-<strong>11</strong>B aber nach wie vor dasrussische AL-31F-Triebwerk verwendet. Bis <strong>China</strong> den Vertrag über Su-33-Kampfjets, welche es für sein Flugzeugträgerprojekt braucht, fixierthat, dürfte es sich beim Nachbau russischer Technologie vorsichtigerverhalten. Russland fürchtet, dass die eigenen Entwicklungen vonbilligeren chinesischen Kopien vom Markt verdrängt werden. 33 Wegendieser Sicherheitsbedenken ist Moskau sehr darauf bedacht, keineTechnologien, sondern nur fertige Produkte an <strong>China</strong> zu verkaufen. 34Russland hat etwa <strong>Indien</strong>, nicht jedoch <strong>China</strong>, die Su-30Mk1 <strong>und</strong> dieMiG-35 zum Kauf angeboten, was die Vorsicht in denHandelsbeziehungen zu <strong>China</strong> verdeutlicht. Andererseits dürfte <strong>China</strong> Il-76-Transportflugzeuge <strong>und</strong> Il-78-Tankflugzeuge von Russland erhalten<strong>und</strong> möchte auch Nuklear-U-Boote, MiG-31-Abfangjäger, Tu-22M-Backfire-C-Bomber <strong>und</strong> Mittelstrecken-Überschall-Raketen für denEinsatz gegen Schiffe kaufen. Dies macht Russlands Abhängigkeit vonRüstungsexporten deutlich <strong>und</strong> zeigt, wie die russischenSicherheitsinteressen gegen ökonomische Interessen abgewogen werdenmüssen. 353.1.4 AfrikaAfrika wird neben seinem Reichtum an Rohstoffen auch als potentiellerAbnehmer militärischer Güter zunehmend wichtiger für <strong>China</strong>. Bei derAfrica Aerospace and Defense Exhibition 2008 präsentierte NORINCOunter anderem HJ-8-Anti-Panzer-Raketen, den MBT-2000-Hauptkampfpanzer, LD2000-Luftverteidigungssysteme, die PLZ45-155-Selbstfahrlafette <strong>und</strong> weitreichende multiple Raketenwerfersysteme AR2300mm (MLRS). CPMIEC stellte das Boden-Luft-Raketensystem HQ-9(FD-2000), die Raketenwerfer A100 300mm MLRS <strong>und</strong> WS-2 sowie dieAnti-Schiffs-Raketen C-701 <strong>und</strong> C-704 vor. <strong>China</strong> bevorzugt beimExport von Rüstungsgütern vor allem rohstoffreiche Länder, welche sichteure Rüstungsgüter wie etwa Kampfflugzeuge leisten können. Mit33 Russia Admits <strong>China</strong> Illegaly Copied Plane, Defense News, 16.02.2009, S. 434 The Limits of Chinese-Russian Partnership, Survival vol. 51, no. 3, S. <strong>11</strong>435 Limits of Chinese-Russian Partnership, S. <strong>11</strong>525


Zimbabwe <strong>und</strong> Nigeria steht es wegen des Kampfflugzeuges FC-1/JF-17in Verhandlungen. 36 <strong>China</strong> versucht auch, über Infrastrukturprojekte <strong>und</strong>UN-Friedensmissionen in Afrika an Einfluss zu gewinnen. Mit demStand November 2008 waren 1.949 Soldaten an 18 UN-Friedensmissionen beteiligt. Darunter waren in Afrika im Einsatz:• 175 Pioniere <strong>und</strong> 43 Sanitätssoldaten im Kongo (UNMONUC)• 275 Pioniere, 240 Transport-Soldaten <strong>und</strong> 43 Sanitätssoldaten inLiberia (UNMIL)• 275 Pioniere, 100 Transport-Soldaten <strong>und</strong> 60 Sanitätssoldaten imSudan (UNMIS)• 275 Pioniere <strong>und</strong> 60 Sanitätssoldaten im Libanon (UNIFIL)• 315 Pioniere im Rahmen der Hybridoperation der AfrikanischenUnion <strong>und</strong> der UN in Darfur (UNAMID)Weiters hatte <strong>China</strong> 208 Polizisten für Friedensmaßnahmen in Liberia,Kosovo, Haiti, Sudan <strong>und</strong> Ost-Timor im Einsatz. 373.2 Schwerpunkte des Militärs3.2.1 BudgetDas von <strong>China</strong> herausgegebene Weißbuch zur nationalen Verteidigung2008 gibt erstmals Aufschluss über das Budget derVolksbefreiungsarmee seit 1978. Laut Weißbuch sind dieMilitärausgaben im Zeitraum 1978 bis 2007 von 16,78 Milliarden Yuanauf 355,49 Milliarden Yuan gestiegen. Westliche Beobachter kritisierenjedoch, dass diese Zahlen zu tief gegriffen sind. Die Ausgaben für dasMilitärbudget haben sich in den Jahren 1988 bis 1997 jährlich um 14,5%pro Jahr erhöht, während das BIP pro Jahr um 20,7% gewachsen ist. Von1998 bis 2007 hat sich dieses Verhältnis auf 15,9% Militärbudget zu12,5% BIP umgekehrt. 38 Zwei Drittel des Militärbudgets sollen für das36 <strong>China</strong> Comes To Africa, Defense News, 09.02.2009, S. 937 http://www.china.org.cn/government/central_government/2009-01/20/content_17155577_15.htm (Zugriff am 30.10.2009)38 <strong>China</strong> Outlines 30 Years of Defense Spending, Defense News, 26.01.2009, S. 426


Personal, Training <strong>und</strong> Wartung ausgegeben werden. Die gestiegenenAusgaben resultieren aus der Erhöhung der Besoldung, den gestiegenenPreisen für diverse Güter <strong>und</strong> der Aufrüstung der Streitkräfte. 393.2.2 Heer<strong>China</strong> möchte seine Streitkräfte bis 2050 in drei Stufen auf den Standdes Informationszeitalters bringen, also mit moderner Technologieausrüsten. Bis 2010 ist die Schaffung der Gr<strong>und</strong>lagen vorgesehen, 2020soll dann ein „großer Fortschritt“ erreicht <strong>und</strong> 2050 der Prozessabgeschlossen sein. 40 Das Hauptaugenmerk bei der Modernisierung desHeeres liegt auf dem Aufbau einer taktischen Raketenkapazität,Luftabwehrraketen <strong>und</strong> Spezialkommandos. Transregionale Mobilitätsoll bereits erreicht worden sein. Die Fähigkeiten für koordinierteBoden-Luft-Manöver, Manöver über große Entfernungen, schnelleAngriffe <strong>und</strong> Spezialoperationen sollen noch erhöht werden. Bei demBau neuer Waffensysteme wurde der Schwerpunkt auf die Integrationvon Informationssystemen in Waffenplattformen, neueHauptkampfpanzer, schwere amphibische Fahrzeuge <strong>und</strong> leichtemechanisierte Fahrzeuge gelegt. 41Dadurch, dass <strong>China</strong> bei der Entwicklung fortschrittlicher Waffen aufausländische Hilfe angewiesen ist, leidet die Umsetzung derModernisierung des Heeres. Der Schwerpunkt liegt dabei auf derFührung von kurzen, hochintensiven Kriegen an der Grenze, aber auchfernab des eigenen Territoriums gegen technisch gut gerüstete Gegner,wie etwa die USA. Obwohl im Bereich Joint Operations Fortschritteerzielt wurden, muss sich die Leistung noch steigern, da <strong>China</strong> dieArmee nicht nur in klassischen Kriegen, sondern auch in Bereichen wieTerrorbekämpfung, Bewahrung innerer Stabilität, Krisenmanagement,friedenserhaltenden Missionen <strong>und</strong> Seuchenbekämpfung einsetzen39 http://www.china.org.cn/government/central_government/2009-01/20/content_17155577_14.htm (Zugriff am 30.10.2009)40 http://www.china.org.cn/government/central_government/2009-01/20/content_17155577_4.htm (Zugriff am 30.10.2009)41 http://www.china.org.cn/government/central_government/2009-01/20/content_17155577_6.htm (Zugriff am 30.10.2009)27


will. 42 Das alles weist darauf hin, dass die Streitkräfte primär auf dieErhaltung innerstaatlicher Sicherheit ausgerichtet sind (dazu gehört auchTaiwan). 43 Besonderen Wert legt <strong>China</strong> auch auf den Bereich C4ISR. Sosollen die Schwachstellen in den eigenen Systemen ausgebügelt <strong>und</strong> diefeindlichen zerstört werden. Insofern ist die Entwicklung von land- <strong>und</strong>weltallgestützten C4ISR-Systemen wichtig. 443.2.3 LuftwaffeDie größten Defizite hinsichtlich Modernisierung gibt es bei derLuftwaffe. Sie soll von der territorialen Luftverteidigung auf Offensiv<strong>und</strong>Defensivoperationen gleichermaßen umgestellt werden, Kapazitätenfür Präzisionsschläge gegen Boden- <strong>und</strong> Luftziele über langeReichweiten entwickeln <strong>und</strong> Missionen zur Projizierung strategischerMacht ausführen können. 45 Dafür bedarf es vor allem Aufklärungs- <strong>und</strong>Tankflugzeuge. Das Waffenembargo der USA <strong>und</strong> EU verhindertentsprechende Beschaffungen. 46 In der EU wurden Stimmen zurAufhebung dieses Embargos laut. Besonders Spanien <strong>und</strong> Frankreichsetzen sich für die Aufhebung ein, Großbritannien ist hingegen striktdagegen. 47 Bei der Singapore Airshow wurde nun bekannt, dass der neuechinesische Kampfhelikopter Harbin Z9WE mit französischenTriebwerken ausgestattet werden soll. 48 Fortschritte zeigten sich bei derEntwicklung von UAVs. Bei der Singapore Airshow wurden von <strong>China</strong>zwei UAV-Modelle zum Export angeboten. 4942 <strong>China</strong> Outlines 30 Years of Defense Spending, S. 443 Brune, Sophie-Charlotte, Lange, Sascha, Oertel, Janka, <strong>China</strong>s militärischeEntwicklung. Modernisierung <strong>und</strong> Internationalisierung der Streitkräfte (Berlin 2009),S. 1244 Chinese Continue Modernization Push, Defense News, 20.04.2009, S. 1245 http://www.china.org.cn/government/central_government/2009-01/20/content_17155577_8.htm (Zugriff am 30.10.2009)46 <strong>China</strong>s militärische Entwicklung, S. 647 http://www.ft.com/cms/s/0/da31e8fc-0e8d-<strong>11</strong>df-bd79-00144feabdc0.html (Zugriffam 17.02.2010)48 http://www.defensenews.com/story.php?i=4489192&c=FEA&s=CVS (Zugriff am27.04.2010)49 http://www.defensenews.com/story.php?i=4484974&c=ASI&s=TOP (Zugriff am27.04.2010)28


3.2.4 MarineLaut eines Berichts der U.S. Navy besteht die chinesische Marine unteranderem aus 27 Zerstörern, 48 Fregatten, mehr als 70 Patrouillenbooten,55 amphibischen Gefährten, 40 Minenschiffen <strong>und</strong> 50Versorgungsschiffen. Der Bericht geht von der Entwicklung eineschinesischen Flugzeugträgers bis 2012 <strong>und</strong> möglichen weiteren Trägernbis 2020 aus. Weiters wird die Entwicklung von fortschrittlichenseegestützten Luftverteidigungswaffen <strong>und</strong> Anti-Schiffs-Raketenhervorgestrichen. 50 Die chinesische U-Boot-Flotte wird mit 62 Bootenbeziffert. Es handelt sich um drei nuklearbetriebene U-Boote mitballistischen Raketen, sechs nuklearbetriebene Angriffs-U-Boote <strong>und</strong> 53dieselbetriebene Angriffs-U-Boote. Zwischen 2020 <strong>und</strong> 2025 soll dieGröße der Flotte auf 75 U-Boote anwachsen. NuklearbetriebeneAngriffs-U-Boote des Typs 095 sollen ab 2015 in Dienst gestelltwerden. Zwei der drei nuklearbetriebenen U-Boote, die mit ballistischenRaketen ausgerüstet sind, gehören zur Jin-Klasse <strong>und</strong> sind für denTransport von 12 ballistischen Raketen JL-2 ausgerüstet. Die JL-2 miteiner Reichweite von 7.200 Kilometern verschafft <strong>China</strong> somit eineverlässliche Zweitschlagfähigkeit. Nach Angaben der U.S. Navy sind diechinesischen U-Boote durch ihren hohen Geräuschpegel sehr einfachaufzuspüren, wodurch sich diese Zweitschlagfähigkeit eher gegenRussland <strong>und</strong> <strong>Indien</strong> richten dürfte. Diese verfügen nicht über sofortschrittliche Systeme zur U-Boot-Ortung wie die USA. 51Die Marine soll im Hinblick auf strategische Abschreckung <strong>und</strong>strategische Gegenschläge modernisiert werden. Der Schwerpunkt liegtdaher auf der Fähigkeit, Hochseeoperationen durchzuführen.Wesentliche Voraussetzungen wurden bereits geschaffen: Werften mitentsprechenden Kapazitäten. Momentan wird an der Herstellung vonneuen U-Booten, Zerstörern, Fregatten <strong>und</strong> Flugzeugen gearbeitet. DieU-Boot-Streitkräfte verfügen auch über Nuklearkapazitäten. Neue50 http://www.defensenews.com/story.php?i=4452407&amp;c=POL&amp;s=TOP(Zugriff am 27.04.2010)51 http://www.defensenews.com/story.php?i=4396071 (Zugriff am 27.04.2010)29


Raketenzerstörer wurden in Dienst gestellt. 52 Obwohl die konventionelleMarine konsequent aufgewertet <strong>und</strong> ausgebaut wurde, sind dieFähigkeiten im amphibischen Bereich weiterhin beschränkt. Dies istbesonders im Hinblick auf Taiwan interessant, da Peking droht, dieArmee einzusetzen, sollte es seine Unabhängigkeit erklären. Diechinesischen Streitkräfte können aber derzeit nur eine Division inTaiwan landen. Momentan arbeitet <strong>China</strong> an der Entwicklung einesLuftkissenfahrzeuges, welches an das Landing Craft, Air Cushioned(LCAC) der US-Marine <strong>und</strong> an das russische Zubr-Klasse-LCACangelehnt ist. 53 Da im geographischen Nahbereich Taiwans aber keineschnellen Eingreifkräfte stationiert sind, dürfte dieVolksbefreiungsarmee nicht offensiv gegen die Insel ausgerichtet sein. 543.2.5 RaketentechnologieDie Entwicklung der chinesischen Raketentechnologie steht im Zeichender Anti-Access-Strategie, mit der <strong>China</strong> vor allem die Schlagkraft derUS-Marine im Pazifik verringern will. In vier Schritten sollen bis 2025globale Präzisionsschläge ermöglicht werden. Bis 2010 soll eine Anti-Schiffs-Rakete (ASBM 55 ) auf Gr<strong>und</strong>lage der DF-21D mit einerReichweite von bis zu 2.000 km produziert werden. Die Reichweite solldann bis 2015 auf 3.000 km, bis 2020 auf 8.000 km <strong>und</strong> bis 2025 füreinen globalen Einsatz ausgedehnt werden. 56Am 12. Januar 2010, dem dritten Jahrestag des Anti-Satelliten-(ASAT-)Tests, wurde von <strong>China</strong> ein Raketenabwehrsystem nach eigenenAussagen erfolgreich erprobt. <strong>China</strong> selbst bezeichnete den Test als„defensiv“ <strong>und</strong> „nicht gegen ein anderes Land gerichtet“. 57 Verwendetwurde mutmaßlich eine Variante der Boden-Luft-Rakete HQ-19, deren52 http://www.china.org.cn/government/central_government/2009-01/20/content_17155577_7.htm (Zugriff am 30.10.2009); <strong>China</strong>s militärischeEntwicklung, S. 12 f.53 <strong>China</strong>’s Gator Navy Makes Marginal Strides, Defense News, 12.01.2009, S. 1254 <strong>China</strong>s militärische Entwicklung, S. <strong>11</strong>55 ASBM: Anti-Ship Ballistic Missile56 <strong>China</strong> Anti-Ship Advances Said To Threaten U.S. Pacific Clout, Defense News,21.09.2009, S. 2257 http://www.china-un.org/eng/fyrth/t651245.htm (Zugriff am 27.04.2010)30


Technologie auf der russischen S-400 Triumf beruhen dürfte. 58 Da derTest angeblich in über 20.000 Metern Höhe durchgeführt wurde, könntees sich dabei auch um eine Weiterentwicklung der chinesischen ASAT-Fähigkeit gehandelt haben. Die den Raketenabwehrsystemen zugr<strong>und</strong>eliegende Technologie ist sowohl mit der ASAT- als auch mit derASBM-Technologie eng verwandt <strong>und</strong> dient der kontinuierlichenWeiterentwicklung der Anti-Access-Strategie, welche die USA alsHauptadressaten hat. Die Raketenverteidigung selbst richtet sich lautExperten speziell gegen <strong>Indien</strong> <strong>und</strong> Russland. 59<strong>China</strong> arbeitet auch an zwei neuen Marschflugkörpern für großeReichweiten, welche bis 2019 einsetzbar sein sollen. Die Hong Niao-2000 (HN-2000) soll eine Reichweite von 4.000 km haben <strong>und</strong> von Landoder U-Booten aus eingesetzt werden können. Bei der Qian Xuesenhandelt es sich um einen Marschflugkörper mit 8.000 km Reichweite.Weiters legen Beobachtungen nahe, dass die DF-15 nun mit MARV 60 -Sprengköpfen ausgerüstet ist. 61 Durch Probleme bei der Entwicklung derchinesischen Orbitalstation Tiangong 1 wurde der Starttermin von 2010auf frühestens 20<strong>11</strong> verschoben. 6258 http://www.defensenews.com/story.php?i=4460204&amp;c=AIR&amp;s=TOP(Zugriff am 27.04.2010)59 ebenda.60 MARV: Maneuverable Reentry Vehicle61 <strong>China</strong> Parade, Defense News, 05.10.2009, S. 5462 <strong>China</strong>: Bau erster Raumstation verzögert sich, Die Presse, 05.03.2010, S. 731


4 Strategische (Nukleare) Kräfte von <strong>China</strong> 63Thomas PankratzZiel der in den frühen 1950er-Jahren einsetzenden Nuklearforschung<strong>China</strong>s war es, das nukleare Monopol der beiden Supermächte USA <strong>und</strong>UdSSR zu brechen. War zunächst das Programm zur Herstellung eigenerNuklearwaffen Teil der Kooperation mit der Sowjetunion, richtete sichnach dem Bruch mit dieser die Zielrichtung gegen sie. Am 16. Oktober1964 zündete <strong>China</strong> seine erste Fissionsbombe (Stärke ca. 20 Kt), am 14.Juni 1967 die erste Wasserstoffbombe (ca. 3 Mt). Seit damals wurden 44Nukleartests (21 unterirdisch, 23 oberirdisch) durchgeführt, der letzte1996. 1992 trat <strong>China</strong> dem Nonproliferation Treaty (NPT) bei. <strong>China</strong>konnte dem NPT, gleich wie Frankreich, gemäß Art. IX des Vertragesals offizielle Atommacht beitreten, da es vor dem 1. Jänner 1967 eineKernwaffe oder einen sonstigen Kernsprengkörper hergestellt <strong>und</strong>gezündet hatte.Auch wenn <strong>China</strong> noch 2004 bekräftigte, dass es das kleinste nukleareArsenal unter den Kernwaffenstaaten habe, verbessert es als einziger derfünf Kernwaffenstaaten seine nuklearen Streitkräfte nicht nur qualitativ(vorrangig in Bezug auf Reichweitensteigerung), sondern baut sie auchzahlenmäßig kontinuierlich aus. Gemäß Annual Report to Congress:Military Power of the People’s Republic of <strong>China</strong> 2008 des Pentagonshat <strong>China</strong> sein nukleares Arsenal seit 2006 um ca. 25% erhöht. Diesdürfte auf die <strong>Indien</strong>ststellung von neuen feststoffgetriebenenLangstreckenraketen (DF-31, DF-31A) <strong>und</strong> Cruise Missileszurückzuführen sein (“<strong>China</strong> has the most active ballistic missileprogram in the world” 64 ). Auch wenn <strong>China</strong> über das technologischeKnow-how verfügt, ballistische Raketen mit Mehrfachsprengköpfen63 In der Literatur finden sich zum Teil sehr divergierende Aussagen über diestrategischen Kräfte <strong>China</strong>s. Für die folgenden Ausführungen wurde als primäreReferenz das SIPRI-Yearbook 2009 herangezogen, da es die neuesten Daten zurVerfügung stellt. Shannon N. Kile, Vitaly Fedchenko, Hans M. Kristensen, WorldNuclear Forces, in: SIPRI (ed), SIPRI-Yearbook 2009; S. 345-37964 DoD, Annual Report to Congress: Military Power of the People’s Republic of <strong>China</strong>2008, S. 232


auszustatten 65 , so ist davon auszugehen, dass sich die chinesischeFührung entschlossen hat, solche Systeme in nächster Zukunft nicht zuentwickeln. Das Unterlassen der Entwicklung vonMehrfachsprengköpfen ist ein wichtiges Zeichen gegenüber denTeilnehmerstaaten des Comprehensive Test Ban Treaty (CTBT) 66 <strong>und</strong>dem Moratorium zur Entwicklung <strong>und</strong> zum Bau von neuenAtomwaffen 67 , vor allem wenn man die Wirksamkeit vonMehrfachsprengköpfen gegen Raketenabwehrsysteme bedenkt. Dieverstärkten Anstrengungen Japans, <strong>Indien</strong>s <strong>und</strong> der Republik Korea zurErlangung eines Raketenabwehrsystems 68 müssen in dieser Hinsichtwohl aufmerksam beobachtet werden. Das indischeRaketenabwehrsystem mit der geplanten Fähigkeit zur Abwehr vonICBMs 69 dürfte sich direkt gegen <strong>China</strong> richten, da weder Pakistan nochNordkorea über Raketen mit interkontinentaler Reichweite verfügen. 70Währenddessen hat <strong>China</strong> wiederholt vor der Entwicklung vonRaketenabwehrsystemen auf Kosten der globalen Sicherheit gewarnt.Gleichzeitig machte <strong>China</strong> auch deutlich, dass es die Entwicklung vonWaffensystemen im Weltraum vehement ablehne, <strong>und</strong> forderte dieanderen Staaten auf, seinem Beispiel zu folgen. 71 Unklar bleibt in65 So wurde mit der DF-31A bereits eine Rakete entwickelt, mit der MIRV-Sprengköpfe transportiert werden könnten. Wendell Minnick, Beijing Rehearsal ShowsOff New Missiles,http://www.defensenews.com/story.php?i=4266694&c=ASI&s=LAN (Zugriff am09.09.2009) 6566 <strong>China</strong> setzt sich laut eigenen Aussagen für ein Inkrafttreten des CTBT ein <strong>und</strong>arbeitet an der Implementierung des International Monitoring System (IMS). Siehe:White paper on national defense published,http://www.china.org.cn/government/central_government/2009-01/20/content_17155577_16.htm (Zugriff am 10.09.2009)67 Wendell Minnick, <strong>China</strong> outlines 30 Years of Defense Spending, in: Defense News,26.01.2009; S. 4-5, 868 Ji Ke, The Development of World Military Science and Technology, in: InternationalStrategic Studies, 2nd Issue 2009; S. 4-569 ICBM: Intercontinental Ballistic Missile70 Sandeep Unnithan, DRDO readies shield against Chinese ICBMs,http://indiatoday.intoday.in/index.php?option=com_content&task=view&id=31874&sectionid=4&issueid=96&Itemid=1 (Zugriff am 09.09.2009)71 <strong>China</strong> warns against missile defense systems, http://www.defencetalk.com/chinawarns-against-missile-defense-systems-2<strong>11</strong>31/(Zugriff am 10.09.2009)33


diesem Zusammenhang, wie der Anti-Satelliten-(ASAT-)Test vomJanuar 2007 in die gegenwärtige Strategie <strong>China</strong>s einzuordnen ist.Das chinesische Nuklearpotential dürfte sich nunmehr zwischendemjenigen Großbritanniens <strong>und</strong> Frankreichs bewegen. 72 Die Zahlendiesbezüglich schwanken: Das Stockholm International Peace ResearchInstitute (SIPRI) gibt eine Gesamtzahl von 240 Gefechtsköpfen an 73 , dasInternational Institute for Strategic Studies (IISS) geht von 200 74 aus.Unklar ist, wie viele nukleare Gefechtsköpfe in Reserve gehalten werdenbzw. wie groß die Zahl taktischer Nuklearwaffen generell ist.Zu Beginn 2009 verfügte <strong>China</strong> über vier Typen von einsatzbereitenICBMs: die mobilen DF-31 <strong>und</strong> DF-31A mit Feststoffantrieb sowie dieflüssigtreibstoffgetriebenen <strong>und</strong> in Silos stationierten DF-5A sowie DF-4. Weiters stationierte <strong>China</strong> mobile IRBMs 75 vom Typ DF-21 sowie dieflüssiggetriebene DF-3A. Die DF-21 <strong>und</strong> DF-31A werden vermutlich dieDF-3A <strong>und</strong> die DF-4 ersetzen.Zurzeit steht ein U-Boot der Xia-Klasse (Type 092) mit zwölf JL-1ASLBMs 76 (Mittelstrecke, feststoffgetrieben) im Dienst. Bislang hat<strong>China</strong> noch keine Patrouillenfahrten mit diesem U-Boot unternommen<strong>und</strong> es wird angenommen, dass es nicht voll einsatzfähig ist. 77 InEntwicklung stehen U-Boote der Jin-Klasse (Type 094). Das erste Bootist fertiggestellt <strong>und</strong> es wird erwartet, dass es die so genannte InitialOperational Capability 2010 erreichen wird. Vier weitere Boote sollensich in verschiedenen Phasen des Baus befinden, sodass <strong>China</strong> letztlichüber fünf U-Boote der Jin-Klasse verfügen wird. Bestückt ist das U-Bootmit zwölf JL-2 SLBMs mit einer geschätzten Reichweite von bis zu7.200 km.72 Frankreich: 300 Nuklearsprengköpfe, Großbritannien: 185 Nuklearsprengköpfe;Shannon N. Kile, Vitaly Fedchenko, Hans M. Kristensen, World Nuclear Forces, in:SIPRI (ed), SIPRI-Yearbook 2009; S. 345-379, 360, 36273 World Nuclear Forces, S. 345-379, 36474 IISS, The Military Balance 2009, London 2009; S. 38275 IRBM: Intermediate-Range Ballistic Missile76 SLBM: Submarine Launched Ballistic Missile77 World Nuclear Forces, S. 345-379, 36534


Die strategischen Raketenkräfte bilden die „Zweite Artillerie“, zur dersowohl die nuklear als auch konventionell bestückten Raketen gehören.Sie umfasst Raketen- <strong>und</strong> Trainingsbasen sowie notwendigeUnterstützungselemente. Die Zweite Artillerie verfügt über sechsRaketenbasen (Armee-Ebene), welchen 20 Werferbrigaden unterstelltsind. Die Struktur hängt vom jeweiligen Raketentyp ab. Zusätzlichverfügt sie über je eine Test- <strong>und</strong> eine Trainingsbasis. 78 Die ZweiteArtillerie ist wie die anderen Teilstreitkräfte der ZentralenMilitärkommission unterstellt. Das letzte Wort bei der Entscheidungzum Einsatz von Nuklearwaffen hat der Vorsitzende der ZentralenMilitärkommission, allerdings ist er an eine Konsensentscheidung derMitglieder dieser Kommission geb<strong>und</strong>en. 79Die Zweite Artillerie verfügt aber nicht als einzige Teilstreitkraft derVolksbefreiungsarmee über Nuklearwaffen. So ist im Weißbuch 2008explizit aufgeführt, dass auch die Marine über Mittel zur strategischenAbschreckung <strong>und</strong> zu nuklearen Gegenschlägen verfügt. 80 Weiters lässtsich aus dem Weißbuch 2008 herauslesen, dass auch andereTruppenkörper nukleare Kapazitäten besitzen. Diese werden aber nichtexplizit aufgeführt. 81 So dürfte auch die Armee über taktische Raketenfür alle Reichweiten verfügen. 8278 IISS, The Military Balance 2009, London 2009; S. 38279 Second Artillery Corps, http://www.nti.org/db/china/sac.htm (Zugriff am10.09.2009). Der momentane Vorsitzende der Zentralen Militärkommission ist HuJintao, Vizevorsitzende sind Guo Boxiong <strong>und</strong> Xu Caihou. <strong>China</strong> Data SupplementMay 2009, in: Journal of Current Chinese Affairs, http://www.gigahamburg.de/dl/download.php?d=/content/ias/archiv/cds/cds_0905.pdf(Zugriff am10.09.2009).80 White paper on national defense published,http://www.china.org.cn/government/central_government/2009-01/20/content_17155577_7.htm (Zugriff am 10.09.2009). Für eine Übersicht über dieRaketenbasen <strong>und</strong> ihre Ausrüstung siehe:http://www.sinodefence.com/strategic/organisation/orbat.asp81 Siehe: White paper on national defense published,http://www.china.org.cn/government/central_government/2009-01/20/content_17155577_9.htm (Zugriff am 10.09.2009)82 White paper on national defense published,http://www.china.org.cn/government/central_government/2009-01/20/content_17155577_6.htm (Zugriff am 10.09.2009)35


Gemäß dem Weißbuch von Anfang 2008 kennen die chinesischenNuklearkräfte drei Ebenen der Bereitschaft: 83 1. In Friedenszeiten sindchinesische Raketen nicht auf irgendein Land gerichtet. Dies impliziert,dass die Gefechtsköpfe nicht auf den Raketen montiert sind. 2. Im Falleeiner Bedrohung ist vorgesehen, dass die Zweite Artillerie inAlarmzustand versetzt wird <strong>und</strong> für einen nuklearen Gegenschlag bereitist. 3. Im Falle eines nuklearen Angriffs wird die Zweite Artillerie einenGegenschlag entweder nur mit den eigenen Kräften oder gemeinsam mitden Kräften der Marine <strong>und</strong> Luftwaffe starten.Übersicht: Strategische Kräfte <strong>China</strong>s (Stand 2009)Nukleare GefechtsköpfeIISS,2009MBSIPRI,Yearbook2009Strategisch 145 k. A. ~ 155Taktisch ? k. A. ~ 20Operationell 145 k. A. ~ 175Reserve 55 k. A. ~ 65Gesamt 200 240 ~ 240Bulletin of Atomic Scientists,No. 7/8 2008; S. 42-4583 World Nuclear Forces, S. 345-379, 36536


TrägersystemeTypen Reichweite 84 AnmerkungDF-31(CSS-9/CSS-X-10)ICBM(7.200 km)DF-31-A ICBM (<strong>11</strong>.200km)DF-4(CSS-3)DF-5A(CSS-4 Mod 2)DF-21(CSS-5)ICBM(5.500 km)ICBM (13.000km)IRBM(2.100 km)~ 10 Stück; zweistufig, Feststoffantrieb,mobil; <strong>Indien</strong>ststellung 2007; kann nichtUS-Territorium erreichen; dürfte DF-4 <strong>und</strong>DF-5 vor allem aus regionalenGesichtspunkten ersetzen; 1 Gefechtskopfmit unbekannter SprengkraftWeniger als 10 Stück; dreistufig,Feststoffantrieb, mobil (TEL);<strong>Indien</strong>ststellung 2007, bislang wurde nochkein Flugtest beobachtet; 1 Gefechtskopfmit unbekannter Sprengkraft~ 20 Stück; zweistufig, flüssiggetrieben;<strong>Indien</strong>ststellung 1980, wird wahrscheinlichdurch DF-31 ersetzt; 1 Gefechtskopf mit ca.3 Mt20 Stück; flüssiggetrieben, Silo;<strong>Indien</strong>ststellung 1981, Unklarheit herrscht,ob die DF-5A gemeinsam mit der DF-31Ain Dienst bleibt oder ausgemustert wird; 1Gefechtskopf mit 4-5 Mt~ 60-80 Stück; >50 nuklearfähig für 60Werfer; 1 Gefechtskopf mit 200-300 kt;Rest konventionell bestückt bzw. u. U.ASAT-Fähigkeit84 Hier verwendete Reichweitendefinitionen gemäß US DoD:Short Range:< 1.100 kmMedium Range: 1.100-2.750 kmIntermediate Range: 2.750-5.500 kmIntercontinental Range: > 5.500 kmReichweitendefinition <strong>China</strong> gem: SIPRI-Yearbook 2009Short Range:< 1.000 kmMedium Range: 1.000-3.000 kmLong Range:3.000-8.000 kmIntercontinental Range: > 8.000 km37


Typen Reichweite AnmerkungDF-3A(CSS-2 Mod)DF-<strong>11</strong>A/M-<strong>11</strong>A(CSS-7 Mod 2)DF-15/M-9 (CSS-6)IRBM(3.000 km)SRBM(300 km)SRBM(600 km)DH-10 Cruise Missile(1.500-2.000km)NukleareFreifallbombenJL-1 (CSS-N-3)JL-2 (CSS-NX-4)~ 17 Stück; <strong>Indien</strong>ststellung 1971, werdenwahrscheinlich bis 2010 außer Dienstgestellt; 1 Gefechtskopf mit ca. 3 Mtca. 500 Stück; alle SRBM sind in der Nähezu Taiwan stationiertca. 225 Stück; alle SRBM sind in der Nähezu Taiwan stationiert150-350 Stück; <strong>Indien</strong>ststellung 2007; 1nuklearer Gefechtskopf unbekannter Größe,wie viele nukleare Gefechtsköpfevorgesehen sind, ist unklar; luft- <strong>und</strong>bodengestützte Variante; ein Bomber H-6könnte bis zu 6 DH-10 tragen- ~ 40 Stück; etwa 20 Bomber H-6 sindnuklearfähig <strong>und</strong> eine unbekannte Zahl vonJagdbombern Q-5; die Stärke derGefechtsköpfe dürfte sich zwischen 10 kt<strong>und</strong> 3 Mt bewegenSLBM(1.700 km)SLBM(7.200 km)1 U-Boot der Xia-Klasse ausgerüstet mit 12JL-1A (CSS-N-3); <strong>Indien</strong>ststellung 1986;jeweils ein Gefechtskopf mit 200-300 kt1 U-Boot der Jin-Klasse ausgerüstet mit 12JL-2 (CSS-NX-4); Gefechtsköpfe mitunbekannter Sprengkraft; operationellerStatus ist unbekannt, vier weitere Boote sindim Bau;JL-2 kann USA nicht von chinesischenGewässern aus treffenQuellen: IISS, The Military Balance 2009, London 2009; S. 382. Status of WorldNuclear Forces 2008, http://www.nukstrat.com/nukstatus.htm (Zugriff am 23.03.2009).DoD, Annual Report to Congress: Military Power of the People’s Republic of <strong>China</strong>2008, http://www.fas.org/nuke/guide/china/dod-2008.pdf; S. 26-31; S. 56. Norris,Robert S./ Kristensen, Hans M., Chinese Nuclear Forces 2008, in: The Bulletin of theAtomic Scientists, No. 7/8 2008; S. 42-45. Shannon N. Kile, Vitaly Fedchenko, HansM. Kristensen, World Nuclear Forces, in: SIPRI (ed), SIPRI-Yearbook 2009; S. 345-379; S. 36638


5 <strong>China</strong>: Ökonomische Entwicklungen <strong>und</strong>TrendsKatia Vlachos-Dengler5.1 Hintergr<strong>und</strong>Die chinesische Wirtschaft ist eine der größten <strong>und</strong> am schnellstenwachsenden Volkswirtschaften der Welt. Mit einem BIP von ca. $ 4,8Billionen im Jahr 2009 war <strong>China</strong> hinter den Vereinigten Staaten ($ 14,4Billionen) <strong>und</strong> Japan ($ 5,1 Billionen) die drittgrößteWirtschaftsmacht. 85 Gemessen an der Kaufkraftparität war <strong>China</strong> imJahr 2009 (mit einem BIP von $ 8,8 Billionen) die zweitgrößteVolkswirtschaft hinter den Vereinigten Staaten. 86 <strong>China</strong> ist die größteHandelsnation der Welt, der größte Exporteur <strong>und</strong> drittgrößte Importeur.Gleichzeitig ist <strong>China</strong> ein relativ armes Land mit einem Pro-Kopf-Einkommen kaum höher als das Albaniens.In den vergangenen 30 Jahren hat sich <strong>China</strong>s Wirtschaft von einemzentral geplanten, vom Staat dominierten, weitgehend geschlossenenSystem zu einem offenen, marktorientierten System mit einem schnellwachsenden privaten Sektor gewandelt. Die Chinesen nennen ihr Systemeine „sozialistische Marktwirtschaft“ oder „Kapitalismus mit staatlichenLeitlinien“. Diese Änderung des Wirtschaftssystems ist das Ergebniseiner Reihe marktorientierter Reformen, die eine Steigerung derProduktivität, des Lebensstandards <strong>und</strong> des technologischen Know-howzum Ziel hatten. 87 Die Reformen begannen mit einem Ausstieg aus derKollektivierung der Landwirtschaft. Es folgten eine schrittweise85 United States Central Intelligence Agency (CIA), “The World Factbook; Countrycomparison: GDP”; https://www.cia.gov/library/publications/the-worldfactbook/fields/2195.html(4. Mai 2010).86 United States Central Intelligence Agency (CIA), “The World Factbook; Countrycomparison: GDP (Purchasing Power Parity)”;https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/rankorder/2001rank.html(4. Mai 2010). Berechnung beruht auf Purchasing Power Parity (PPP), diePreisunterschiede berücksichtigt.87 Die Rolle der Ideologie in der Wirtschaftspolitik ist gleichzeitig gesunken. SieheUnited States Department of State, “Backgro<strong>und</strong> Note: <strong>China</strong>”, Jänner 2009.39


Liberalisierung der Preise, Förderung des privaten Sektors, Öffnung derWirtschaft für ausländische Investitionen <strong>und</strong> Handel, steuerlicheDezentralisierung, mehr Autonomie für staatliche Unternehmen,Entwicklung eines diversifizierten Bankensystems (obwohl es weiterhinvon staatlichen Banken dominiert ist) <strong>und</strong> Entwicklung der Börsen. 88Die Reformen führten zu Produktivitätssteigerungen, die das BIP-Wachstum beschleunigten. <strong>China</strong>s jährliche Wachstumsrate lag imDurchschnitt der letzten 26 Jahre bei über 9,5%, in den Jahren 2003 bis2007 war sie sogar zweistellig. 89 In den letzten 30 Jahren wurden r<strong>und</strong>200 Millionen Menschen aus der Armut gehoben. 90 Seit dem Beitrittzur Welthandelsorganisation (WTO) im Jahr 2001 hat sich <strong>China</strong> zueiner wesentlichen wirtschaftlichen Macht entwickelt, die ihren Anteilan der weltweiten Produktion verdoppelt hat. Der Anteil derchinesischen Wirtschaft am globalen BIP lag im Jahr 2009 bei <strong>11</strong>% (aufKaufkraftparität gemessen) <strong>und</strong> sein Anteil am globalen Wachstum warim Schnitt des vergangenen Jahrzehnts mit 20% fast doppelt so groß wieder Anteil der USA <strong>und</strong> der größte weltweit. 91Die Kommunistische Partei besteht auf der Aufrechterhaltung derKontrolle über jene Teile der Wirtschaft, die sie als wesentlich zurMachterhaltung ansieht. Der öffentliche Sektor wird von 159Staatsunternehmen (State Owned Enterprises/SOE) – in wichtigenBereichen wie Schwerindustrie <strong>und</strong> Energieversorgung – dominiert.Insgesamt ist derzeit jedoch nur mehr ein Drittel der Wirtschaftunmittelbar staatlich kontrolliert 92 ; vor zehn Jahren waren es noch mehrals 80%. 93 Der private Sektor ist für r<strong>und</strong> 60% des BIP-Wachstums <strong>und</strong>88 CIA, “The World Factbook: <strong>China</strong>,” März 2010.89 United States Department of State, “Backgro<strong>und</strong> Note: <strong>China</strong>”, Jänner 2009.90 “<strong>China</strong> and India: Suddenly vulnerable”, The Economist, <strong>11</strong>. Dezember 2008.91Jäger, Markus, “Will the BRICS (Read: <strong>China</strong>) really become the new globalengine?,” VoxEU.org, 26. September 2009;http://www.voxeu.org/index.php?q=node/4026 (4. Mai 2010).92 Die restlichen bis zu 70% schließen staatliche Unternehmen ein, die als privateUnternehmen agieren.93Anderlini, Jamil, “<strong>China</strong>’s state sector urged to boost economy”, Financial Times,26. Dezember 2008.40


zwei Drittel der neuen Arbeitsplätze, die geschaffen werden,verantwortlich. 94Das rasante Wachstum hat nicht nur positive Auswirkungen gehabt,nicht alle Bürger profitierten davon. Der Übergang zur Marktwirtschafthat zu ungleichem Wachstum geführt, was besonders in denEinkommensunterschieden zwischen städtischen <strong>und</strong> ländlichenGebieten <strong>und</strong> zwischen verschiedenen Regionen zutage tritt. 95Einkommensdisparitäten haben auch zu anderen Ungleichheiten geführt,z.B. im Zugang zu Bildung <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitsvorsorge. Der neueste, elfteFünf-Jahres-Plan aus dem Jahr 2006 umfasst eine Reihe vonMaßnahmen, die zum Ziel haben, diese Ungleichheiten zu mindern. Diegr<strong>und</strong>legende Vision des Plans ist die Schaffung einer „harmonischenGesellschaft“ durch eine ausgewogene Verteilung des Reichtums <strong>und</strong>eine Verbesserung des Bildungs- <strong>und</strong> des Sozialversicherungssystemssowie der medizinischen Versorgung.Allerdings brauchen diese Änderungen Zeit, <strong>und</strong> es gibt viele andereHerausforderungen. Die Transparenz – vor allem des Bankensektors –ist zu verbessern. Das wirtschaftliche Wachstum <strong>und</strong> der ständigsteigende Verbrauch natürlicher Ressourcen haben negativeAuswirkungen auf die Umwelt. 96 Schließlich hat die wirtschaftlicheKrise Strukturschwächen der chinesischen Wirtschaft aufgezeigt, vorallem durch einen starken Exportrückgang. Die Regierung reagierte miteiner Reihe von Maßnahmen <strong>und</strong> mit der Zusage, weiterhin aufwirtschaftliche Reformen <strong>und</strong> Modernisierung zu setzen.Das Ziel der politischen Führung ist, wirtschaftliche Liberalisierung <strong>und</strong>nachhaltiges Wachstum zu fördern, ohne die politische Kontrolle zuverlieren. 97 Gleichzeitig muss die Regierung die Verringerung dersozialen Ungleichheiten mit der Notwendigkeit zur Bewältigung derschwierigen wirtschaftlichen Situation abgleichen.Diese Analyse wird insbesondere folgende Themen behandeln:94Foroohar, Rana, “Why <strong>China</strong> works”, Newsweek, 19. Jänner 2009.95 Asian Development Bank, “Reducing inequalities in <strong>China</strong> requires inclusivegrowth”, News Release, 9. August 2007.96 “<strong>China</strong>’s economy – Backgro<strong>und</strong>er”, The Economist, 18. März 2009.97 “<strong>China</strong> – Factsheet,” Economist Intelligence Unit, <strong>11</strong>. März 2009.41


a. Das chinesische Wachstumsmodell <strong>und</strong> die wesentlichen Treiberdes Wachstumsb. Die Krise in <strong>China</strong> <strong>und</strong> die Nachhaltigkeit desWachstumsmodellsc. Die Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf <strong>China</strong>s Status alsWeltmacht5.2 Die chinesische Wirtschaft: WachstumsmodellAsiatische Länder <strong>und</strong> <strong>China</strong> im Besonderen sind durch ihreHandelsaktivitäten eng in die Weltwirtschaft integriert <strong>und</strong> anfällig fürSchwankungen der globalen Nachfrage. Seit 2007 betrugen <strong>China</strong>sAusfuhren r<strong>und</strong> 40% des BIP 98 , eine Verdoppelung in sechs Jahren 99 ,verglichen mit <strong>11</strong>% in den USA <strong>und</strong> 29% in Großbritannien. 100 <strong>China</strong>sgrößte Handelspartner sind die EU (mit 20,4% der Ausfuhren), die USA(17,7%) <strong>und</strong> Japan (8%). 101 Auf sie entfallen 40% des chinesischenHandels <strong>und</strong> mehr als zwei Drittel seiner Handelsbilanzüberschüsse. 1022009 wurde <strong>China</strong> „Exportweltmeister“ <strong>und</strong> löste Deutschland ab.Zudem entwickelte es sich 2009 zum größten Automobilabsatzmarkt vorden USA. 103Nach einer anderen Denkschule sind Ausfuhren, wenn sie korrektgemessen werden, 104 mit 18% ein weniger bedeutender Teil deschinesischen BIP. 105 Dieser geringere Stellenwert der Exporte wird auchdurch die Beschäftigungszahlen belegt, nach denen nur 6% derArbeitskräfte in exportorientierten Branchen tätig sind.98 CIA, “World Factbook,” März 2010; “An old Chinese myth”, The Economist, 3.Jänner 2008.99 “Wen: <strong>China</strong> ‘able to achieve’ 8% growth”, <strong>China</strong> daily, 5. März 2009.100 “Falling Apart”, The Economist, <strong>11</strong>. Dezember 2008.101 “<strong>China</strong> – Factsheet”, Economist Intelligence Unit, <strong>11</strong>. März 2009.102 Erling, Jonny, “<strong>China</strong> bekommt Wirtschaftskrise voll zu spüren”, Der Standard, 14.Jänner 2009.103 Lietsch, Jutta, “<strong>China</strong> ist der neue Exportweltmeister”, Die Presse, <strong>11</strong>. Jänner 2010.104 Laut dieser Denkschule sind die Hälfte der Ausfuhren Verarbeitungsgüter, die einengroßen Anteil an importierten Komponenten enthalten.105 “Troubled tigers”, The Economist, 29. Jänner 2009.42


Exporte <strong>und</strong> Investitionen im Immobiliensektor waren die wichtigstenTreiber des Wachstums in den letzten Jahren. 106 Exporte spielen einewesentliche Rolle in der Entwicklung neuer Technologien <strong>und</strong> bei derArbeitsplatzschaffung. Investitionen sind ein wichtiger Motor derchinesischen Wirtschaft: sie machen mehr als 40% des BIP aus; mehr alsdie Hälfte fließt in Infrastruktur <strong>und</strong> Immobilien. 107 Der Privatkonsumwird auch als Konjunkturlokomotive angesehen, obwohl er im Jahr 2009nur 36,4% des BIP ausmachte – gering für ein Land dieser Größe (in denUSA lag er im Jahr 2009 bei über 70%).5.3 Die Auswirkungen der Krise auf <strong>China</strong><strong>China</strong> sollte von der Krise abgeschirmt sein: das Land hat ein relativstreng überwachtes Bankensystem, solide makroökonomischeGr<strong>und</strong>lagen <strong>und</strong> Staatsfinanzen <strong>und</strong> sehr hohe Währungsreserven. 108Dennoch hat die Krise starke Auswirkungen auf die chinesischeWirtschaft gehabt. Seit September 2008 ist die Nachfrage entwickelterLänder für chinesische Waren drastisch zurückgegangen. Den fallendenExporten folgten ein Rückgang der industriellen Produktion, steigendeArbeitslosigkeit in den Städten <strong>und</strong> eine Verlangsamung desWachstums.Dennoch kann weniger als die Hälfte der Verlangsamung deschinesischen Wachstums auf die Wirtschaftskrise zurückgeführt werden.Der Rest dieses Rückgangs steht im Zusammenhang mit der Drosselungder Binnenwirtschaft durch die chinesische Regierung. Diese warbesorgt, dass nach fünf Jahren zweistelligen Wachstums die Wirtschaft106 Hamlin, Kevin, “<strong>China</strong> property slump threatens global economy as growth slows”,Bloomberg, 1. Dezember 2008.107 Ibid.108 Die gesamten Devisenreserven des chinesischen Staates beliefen sich im Dezember2009 auf $ 2,4 Billionen (State Administration of Foreign Exchange, People’s Republicof <strong>China</strong>; http://www.chinability.com/Reserves.htm). Zwei Drittel davon sind in US-Schatzanleihen, Beteiligungen <strong>und</strong> Schuldverschreibungen angelegt. <strong>China</strong> ist dergrößte Besitzer von US-Staatsanleihen. Obwohl die chinesischen Angaben über dieGröße <strong>und</strong> Zusammensetzung der Devisenreserven wenig transparent sind, sind dieÖkonomen der Ansicht, dass etwa 70% davon in US-Dollar lauten <strong>und</strong> der Resthauptsächlich in Euro (Bradsher, Keith, “<strong>China</strong> losing taste for debt from U.S.”, TheNew York Times, 8. Jänner 2009).43


überhitzen könnte – mit einer Immobilienblase, Überkapazitäten inmehreren Branchen <strong>und</strong> steigender Inflation. Beschränkungen für neueBankkredite wurden eingeführt, was zu niedrigerer Inlandsnachfrage <strong>und</strong>zu einem starken Rückgang im Wohnungsbau führte. Gleichzeitig wurdedie Geldpolitik strenger, um die Inflation unter Kontrolle zu bringen. 109Diese Maßnahmen führten zu einem Konjunkturrückgang, der durch dieKrise verschärft wurde. <strong>11</strong>0Das Wachstum der chinesischen Wirtschaft hat sich seit den 13% imJahr 2007 deutlich verlangsamt. <strong>11</strong>1 Im Jahr 2008 wurden 9% erreicht,2009 immer noch 8,7%. <strong>11</strong>2 Dieses bemerkenswerte Wachstum wurdeerzielt, während die Weltwirtschaft im vergangenen Jahr um 0,8%schrumpfte – der erste Wachstumsrückgang seit dem ZweitenWeltkrieg. <strong>11</strong>3Die Ausfuhren gingen im November 2008 zum ersten Mal in siebenJahren zurück. Im 4. Quartal 2008 sanken sie um 17%. <strong>China</strong>s Einfuhrensind ebenfalls zurückgegangen. Ein weiterer Gr<strong>und</strong> für den raschenRückgang des chinesischen Wachstums ist der Einbruch derInvestitionen von heimischen <strong>und</strong> ausländischen Unternehmen.Ausländische Direktinvestitionen in <strong>China</strong> sanken im 1. Quartal 2009um 20,6% im Jahresvergleich. <strong>11</strong>4 Im Jahr 2008 sind Investitionen nochum 30% gewachsen.Die Arbeitslosigkeit ist gestiegen. Vor dem chinesischen Neujahrsfest imJänner 2009 haben 20 der insgesamt 130 Millionen ländlichenWanderarbeiter <strong>11</strong>5 ihren Arbeitsplatz verloren. <strong>11</strong>6 Die offizielle109Dyer, Geoff, “Beijing hesitates at the global threshold”, Special report: <strong>China</strong>,Financial Times, 24. November 2008.<strong>11</strong>0 “Troubled tigers”, The Economist, 29. Jänner 2009.<strong>11</strong>1 Vor der Wirtschaftskrise waren die Wachstumsraten regelmäßig zweistellig.<strong>11</strong>2 Damit ist das Regierungsziel von 8% übertroffen. Experten warnen allerdings, dassdiese Daten auch geschönt sein könnten („Zahlen wie aus einer anderen Welt“,Süddeutsche Zeitung, 21. Jänner 2010).<strong>11</strong>3 “<strong>China</strong> brings breeze of hope to grim world economic landscape”, Xinhua NewsAgency, 30. Jänner 2010.<strong>11</strong>4Dyer, Geoff, “<strong>China</strong> rebo<strong>und</strong> hinges on role of exports”, Financial Times, 15. April2009.<strong>11</strong>5In den letzten zehn Jahren haben jährlich sechs bis sieben Millionen Arbeitnehmerdie ländlichen Regionen verlassen, um in Fabriken, Restaurants <strong>und</strong> auf Baustellen in44


Arbeitslosenquote in den Städten lag im Jahr 2009 bei 4,3%; wenn manWanderarbeiter mit einberechnet, steigt sie auf bis zu 9%. <strong>11</strong>7 Die Lageder Wanderarbeiter wird von der Regierung in Peking aufmerksamverfolgt, weil sie zu sozialen Unruhen führen könnte. <strong>11</strong>85.4 Reaktion der Regierung auf die KriseDie Krise stellte für <strong>China</strong> eine Herausforderung dar, was dieVerwaltung der Wirtschaft <strong>und</strong> die Rollen-Definition im globalenwirtschaftlichen Rahmen betrifft. Die chinesische Regierung hat dieseHerausforderungen schon früh erkannt <strong>und</strong> einen Ansatz, der ausintensiver Tätigkeit zu Hause <strong>und</strong> vorsichtigem Engagement iminternationalen Rahmen besteht, gewählt. <strong>11</strong>9 Die wichtigsten Ziele derchinesischen Krisenpolitik waren, die Auswirkungen der Krise zudämpfen <strong>und</strong> die Wirtschaft weniger exportabhängig zu machen. 120Im InlandIm Land betrieb die Regierung eine expansive Fiskalpolitik mit einermäßig lockeren Geldpolitik. Im November 2008 wurde mit derUmsetzung eines zweijährigen Konjunkturpaketes von vier BillionenYuan (€ 447 Mrd.) begonnen. 121 Die Ziele des Paketes waren, dieBinnennachfrage anzukurbeln, zehn ausgewählte Industriebranchenwieder zu beleben <strong>und</strong> industrielle Umstrukturierung durchzuführensowie Innovation <strong>und</strong> Modernisierung in den Bereichen Wissenschaft<strong>und</strong> Technologie zu fördern. Das Konjunkturpaket enthielt Maßnahmenden boomenden Städten zu arbeiten (Anderlini, Jamil, “Downturn causes 20m joblosses in <strong>China</strong>”, Financial Times, 2. Februar 2009).<strong>11</strong>6 Pilling, David, “Asia and the crisis: unlucky numbers”, Financial Times, 9. Februar2009; World Bank, “<strong>China</strong> Quarterly Update”, März 2008.<strong>11</strong>7 CIA, “The World Factbook: <strong>China</strong>“, https://www.cia.gov/library/publications/theworld-factbook/geos/ch.html(4. Mai 2010).<strong>11</strong>8 „<strong>China</strong> stemmt sich gegen die Krise“, Zeit Online, 2. Februar 2009.<strong>11</strong>9 Barber, Lionel et al., “Interview: Message from Wen”, Financial Times, 1. Februar2009.120 Indem die Preise für Konsumgüter bereits gesenkt wurden, wurde die Kaufkraft derMenschen gestärkt <strong>und</strong> dadurch der Binnenkonsum angekurbelt.121 Yanping, Li, “<strong>China</strong> can add to stimulus ‘at any time,’ Wen says”, Bloomberg, 13.März 2009.45


für Sozialhilfe, eine Steuerreform <strong>und</strong> staatliche Investitionen in densozialen Wohnbau, Infrastrukturprojekte, Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Bildung. ImJanuar 2009 hat die chinesische Regierung zusätzliche Ausgaben von850 Milliarden Yuan zur Verbesserung der Ges<strong>und</strong>heitsversorgung überdrei Jahre angekündigt. 122 Es ist unklar, wie viele von diesen Ausgabenneue Ausgaben sind, da ein großer Teil der angekündigten Projektebereits in Planung war.In einer Umkehr der bisherigen Geldpolitik senkte die Zentralbank vonSeptember 2008 bis Jahresende fünfmal die Zinsen; sie senkte auch dieMindestreserven <strong>und</strong> lockerte Kreditbegrenzungen. 123Nach den Worten von Ministerpräsident Wen Jiabao ist „dieAufrechterhaltung einer bestimmten Wachstumsrate eine wesentlicheVoraussetzung für die Erhöhung der Beschäftigung sowohl derstädtischen als auch der ländlichen Einwohner, für die Erhöhung desEinkommens <strong>und</strong> für die Absicherung der sozialen Stabilität.“ 124 DieRegierung machte deutlich, dass sie alles tun würde, um eineWachstumsrate von 8% im Jahr 2009 zu erreichen – falls erforderlichmit zusätzlichen Paketen. Und das schaffte sie.Trotz hoher Erwartungen bezüglich einer führenden Rolle war <strong>China</strong>beim ersten G-20-Treffen (November 2008) nach dem Ausbruch derWirtschaftskrise zurückhaltend. Präsident Hu Jintao betonte, dass <strong>China</strong>swichtigster Beitrag zur Bewältigung der globalen Wirtschaftskrise einestarke heimische Wirtschaft sei. Allerdings hat sich <strong>China</strong> bis zumzweiten Treffen im April 2009 als in internationalen wirtschaftlichenAngelegenheiten durchsetzungsfähig gezeigt; ein Anzeichen seinerpotenziellen Entwicklung zur globalen Macht. <strong>China</strong> begann seineVisionen zu Themen wie der Steuerung der globalen Wirtschaft <strong>und</strong>seiner eigenen Rolle dabei zu artikulieren. Es äußerte sich besorgt überdie US-Geldpolitik (vor allem hinsichtlich des Werts seiner meistens inUS-Dollar angelegten Devisenreserven). Weiters schlug <strong>China</strong> vor, eine122 “Strong as an ox?”, The Economist, 22. Jänner 2009.123 International Monetary F<strong>und</strong> (IMF), World Economic Outlook, April 2009: Crisisand Recovery, Washington, D.C.: IMF, April 2009.124 “Wen: <strong>China</strong> ‘able to achieve’ 8% growth”, <strong>China</strong> daily, 5. März 2009.46


vom IWF verwaltete neue internationale „Super-Währung“ zu schaffen,um den Dollar als Reservewährung zu ersetzen.Gleichzeitig positioniert sich <strong>China</strong> als regionale Macht in Südost-Asien.Peking hat im April 2009 ein neues Investitions- <strong>und</strong> Kreditpaketangekündigt, um die Auswirkungen der Krise für die ASEAN-Staaten 125zu mildern. Das Paket enthält $ 10 Mrd. für kooperativeInvestitionsprogramme, eine Kreditlinie von $ 15 Mrd. für bedürftigeLänder <strong>und</strong> andere Formen kooperativer Hilfe. 126 <strong>China</strong> ist wegen seinerDevisenreserven ein großer potenzieller Kreditgeber an den IWF. Einweiteres aktuelles Beispiel chinesischer Politik sind $ 138 Millionen anKrediten, die <strong>China</strong> Jamaika angeboten hat, während die traditionellenVerbündeten der kleinen Insel-Nation (USA <strong>und</strong> Großbritannien) mitihren eigenen finanziellen Problemen beschäftigt waren. 1275.5 Außer Gefahr?Die chinesische Wirtschaft hat relativ schnell den Weg aus der Krisegef<strong>und</strong>en. In der Folge des staatlichen Konjunkturprogramms stiegen dieInvestitionen im ersten Quartal 2009 um 28,6%. Die Kreditvergabestaatlicher Banken hat sich deutlich erhöht, was dazu beigetragen hat,dass städtische Anlageinvestitionen in den ersten vier Monaten desJahres 2009 um 30,5% gestiegen sind. Die Exporte haben sich rasch vonihrem starken Rückgang Anfang 2009 erholt. Für das Jahr 2010 wird einBIP-Wachstum von 9,5% prognostiziert. 128 Im Vergleich zu den anderengroßen Wirtschaftsnationen ist <strong>China</strong> die einzige, deren Wirtschaft imJahr 2009 noch wuchs. 129 Die entsprechende BIP-Wachstumsrate fürJapan war -6,2%, für die EU -4% <strong>und</strong> für die USA -2,8%.Das rasante Wachstum, das von massiven Investitionen <strong>und</strong> Ausweitungder Kreditvergabe durch die Banken getrieben wurde, hat zu125 ASEAN: Association of Southeast Asian Nations, Vereinigung südostasiatischerStaaten.126 “<strong>China</strong> rolls out aid package for ASEAN”, <strong>China</strong> Daily, 12. April 2009.127 Eunjung Cha, Ariana, “<strong>China</strong> uses global crisis to assert its influence”, TheWashington Post, 23. April 2009.128 Wassener, Bettina, “World Bank Upgrades 2010 <strong>China</strong> Growth Forecasts”, The NewYork Times, 17. März 2010.129 Ibid.47


Befürchtungen einer steigender Inflation sowie eines überhitztenImmobilienmarkts geführt. Der steuerlicher Anreiz machte im Jahr 200910% des BIP aus (2010 wird sich dieser Effekt fortsetzen) <strong>und</strong> dieKreditvergabe wuchs um 35% im Vergleich zum Jahr davor. Ein großerTeil dieser Liquidität ist in den Häuser- <strong>und</strong> Aktienmarkt geflossen. Esgibt mehrere Anzeichen einer Immobilienblase: die Preise für neueWohnungen in Peking <strong>und</strong> Shanghai sind im Jahr 2009 um 50-60%gestiegen; durchschnittliche Preise in 70 Städten sind um 8% im Jahr2009 gestiegen – der schnellste Anstieg in 18 Monaten. 130 Immerhinsind <strong>China</strong>s Immobilien meistens mit Spargeldern finanziert, wasweniger gefährlich ist, als wenn sie mit Krediten finanziert wären.Weiterhin ist <strong>China</strong> ein Entwicklungsland, dessen Pro-Kopf-BIP einZehntel von dem in den USA oder Japan beträgt. Deshalb sind diemassiven Investitionen in <strong>China</strong>s Infrastruktur auch notwendig. LautExperten bleibt die Inflationsgefahr weiter akut: derVerbraucherpreisindex (CPI) lag für Februar 2010 mit 2,7% auf einem16-Monate-Hoch. 131 Die chinesische Regierung kann es sich leisten,weiterhin mehr Geld in die Wirtschaft zu pumpen, ohne dass sieüberhitzt, weil die makroökonomische Gr<strong>und</strong>lage solide ist: dieStaatsschulden betragen nur 16,9% des BIP (im Jahr 2009), 132 das Landhat einen Haushaltsüberschuss <strong>und</strong> die weltweit größtenDevisenreserven ($ 2,4 Billionen Ende 2009). 133 Auch die Abhängigkeitvon Auslandskapital wurde in den letzten Jahren erheblich reduziert. 1345.6 Ein neues Wachstumsmodell, eine neue Rolle?Einige Analysten sprechen bereits von einem neuen Modell desKapitalismus nach chinesischem Vorbild: dominantes Staatseigentum,eher schrittweise Reform als Schocktherapie, Offenheit für den130 “Not just another fake”, The Economist, 14. Jänner 2010.131 Bartsch, Bernhard, “<strong>China</strong> fürchtet die Inflation”, NZZ Online, 20. April 2010.132 CIA, “The World Factbook: <strong>China</strong>“, https://www.cia.gov/library/publications/theworld-factbook/geos/ch.html(9. August 2010).133 Ibid.134 Woodall, Pam, “Riders on the storm”, The Economist: The World in 2009, 19.November 2008.48


Außenhandel, aber mit Eigenständigkeit kombiniert, umfassende Reformdes Marktes. 135Weil ein großer Teil der Wirtschaft unter staatlicher Kontrolle ist, hat dieRegierung ein Mitspracherecht, zum Beispiel bei der Höhe derKreditvergaben staatlicher Banken oder der Höhe der Investitionen vonstaatlich kontrollierten Unternehmen, denen angeordnet werden kann,keine Arbeitsplätze abzubauen oder Investitionen nicht zu streichen.Allerdings kann diese Manipulation auch negative Nebenwirkungenhaben, wie zum Beispiel ineffiziente Ausgaben <strong>und</strong> exzessiveKreditvergabe.Nach Ansicht vieler Experten hat die Krise strukturelle Probleme derchinesischen Wirtschaft aufgedeckt <strong>und</strong> Zweifel an der Nachhaltigkeitdes Wachstumsmodells aufkommen lassen. Selbst Regierungsvertreterhaben erkannt, dass die Wirtschaft nicht dauerhaft auf Exporten <strong>und</strong>Investitionen beruhen kann, um hohe Wachstumsraten zu erzielen – vorallem da diese Wachstumstreiber durch den wirtschaftlichen Abschwungderzeit weniger stark sind. <strong>China</strong> muss weg vom Export, hin zumBinnenkonsum!Chinesische Bürger haben eine traditionelle kulturelle Neigung, auch inden besten Zeiten zu sparen. Das rudimentäreSozialversicherungssystem <strong>und</strong> das Fehlen eines Sicherheitsnetzesverstärken diese Tendenz <strong>und</strong> zwingen die Bürger, für ihre Bildung,Ges<strong>und</strong>heits- <strong>und</strong> Altersversorgung zu sparen, da die Regierung dieseLeistungen nicht anbietet. 136 Die staatlichen Ausgaben für Ges<strong>und</strong>heit<strong>und</strong> Bildung (die zwei größten Auslageposten für die meisten Chinesen)betragen 1,8% bzw. 2,5% des BIP; beides liegt damit deutlich unter demweltweiten Durchschnitt. 137135 Eunjung Cha, Ariana, “<strong>China</strong> uses global crisis to assert its influence”, TheWashington Post, 23. April 2009.136 Pilling, David, “Prudent Asia is unlikely to bail out the west”, Financial Times, 10.Dezember 2008.137 Im Vergleich betrugen staatliche Ausgaben für Ges<strong>und</strong>heit in den USA 2007 16%des BIP, in Frankreich <strong>11</strong>%, Deutschland 10,4% <strong>und</strong> Großbritannien 8,4% (OECDHealth Data 2009, Health Expenditures).49


Demzufolge werden die Bürger Konsumausgaben nur erhöhen, wennihre wichtigsten übrigen Ausgaben reduziert werden. Deshalb sindstrukturelle Reformen notwendig, um die Menschen zu motivieren, mehrauszugeben <strong>und</strong> weniger zu sparen: eine Reform desGes<strong>und</strong>heitssystems, um es für alle Bürger zugänglich zu machen, desBildungssystems, damit es offener wird, <strong>und</strong> der Kreditvergabe,besonders für Bauern <strong>und</strong> Unternehmer. 138 Gleichzeitig würden dieseMaßnahmen den Lebensstandard für die 500 Millionen Chinesen, diederzeit mit weniger als $ 2 pro Tag auskommen müssen, erhöhen.Obwohl die chinesische Regierung die Ankurbelung derBinnennachfrage deutlich angekündigt hat, scheint ihre Absicht, daswirtschaftliche Modell zu ändern, nur halbherzig zu sein. Das spiegeltsich in der Ankündigung von Maßnahmen zur Subventionierung derExporte <strong>und</strong> zur Importbegrenzung wider. 139 Es wurden verschiedeneInvestitionen in Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Bildung angekündigt – aber nur 1% derAusgaben im Konjunkturpaket für diesen Zweck vorgesehen. 140 DasTempo der Reformen muss zunehmen, da die Krise die Reformansätzesonst unwirksam macht.<strong>China</strong>s Binnenmarkt hat viel Wachstumspotential. DerDienstleistungssektor, der 40% des chinesischen BIP ausmacht <strong>und</strong> z. B.Einzelhandel, Großhandel, Distribution <strong>und</strong> Logistik umfasst, ist imVergleich zum Anteil von 79% in den USA unterentwickelt. DieRegierung will das mit Maßnahmen zur Stärkung desDienstleistungssektors ändern <strong>und</strong> hat Pläne angekündigt, die denBeitrag des Sektors zum BIP erhöhen werden (auf 43% bis zum Jahr2010 <strong>und</strong> um zehn weitere Prozent bis 2020). 141 Die Krise bietet auchMöglichkeiten am industriellen Sektor. Firmen könnten sie als Anstoßdazu benutzen, einen Weg weg von der billigen Niedriglohn- <strong>und</strong>138 Stocker, Frank, „Finanzkrise treibt <strong>China</strong>s Entwicklung voran“, Die Welt, 22. März2009.139 Erling, Johnny, „Peking bekennt sich zu Buy Chinese“, Der Standard, 18. Juni2009.140 Wheatley, Alan, “<strong>China</strong> economy at crossroads after 30 years of reform,” Reuters,8. Dezember 2008.141 Kroeber, Arthur, “<strong>China</strong>’s response to crisis is a failure of imagination”, Dragonbeatblog for the Financial Times (www.ft.com/dragonbeat), 18. März 2009.50


exportorientierten Fertigungsindustrie zu finden. Die Wirtschaftskrisehat die Notwendigkeit eines solchen Übergangs nur dringlichergemacht. 142<strong>China</strong>s wirtschaftliche Situation wird Auswirkungen auf den Rest derWelt haben. Nach dem Ausbruch der Krise im Herbst 2008 war vonvielen erwartet worden, dass <strong>China</strong> die Rolle des consumer of last resortfür die globale Wirtschaft spielen würde. Das war nicht der Fall <strong>und</strong>verursacht Verunsicherung über die Zukunft.<strong>China</strong>s wirtschaftliche Lage <strong>und</strong> Aktivitäten auf der globalen Ebeneverschaffen dem Land einen wachsenden Einfluss im Vergleich zuanderen Großmächten. Es ist möglich, dass aufgr<strong>und</strong> derwirtschaftlichen Turbulenzen in der westlichen Welt die chinesischeRegierung mehr Durchsetzungsvermögen auf globaler Ebene bekommenwird. Die neue Macht wird von den Chinesen aufgr<strong>und</strong> des raschenWachstums <strong>und</strong> <strong>China</strong>s potenzieller Bedeutung für eine weltweiteErholung als verdient angesehen. In der Interaktion mit westlichenPolitikern hat dies zu einem erhöhten Selbstvertrauen der chinesischenFührung geführt. Allerdings gibt es bis dato keine konkreten Aussagenvon der chinesischen Seite in Bezug auf die Frage der Regulierung <strong>und</strong>Steuerung des globalen wirtschaftlichen <strong>und</strong> finanziellen Systems <strong>und</strong>wie diese verbessert werden könnten.In diesem Rahmen ist die Entwicklung der bilateralen Beziehungenzwischen <strong>China</strong> <strong>und</strong> den USA besonders zu beachten. <strong>China</strong>sWährungspolitik ist eine wichtige Streitfrage zwischen den zweiLändern. <strong>China</strong> wird von den USA vorgeworfen, den Yuan mit einemFestkurs zum Dollar künstlich niedrig zu halten, was der amerikanischenWirtschaft schadet, weil chinesische Exporte in die USA billiger <strong>und</strong>amerikanische Exporte nach <strong>China</strong> teurer werden. Die Wirtschaftskrisemacht dieses Problem noch dringlicher. Deshalb fordern westlicheRegierungen, insbesondere die USA, die Aufwertung von <strong>China</strong>sWährung. Obwohl die Regierung in Peking eine mögliche Aufwertungzur Bekämpfung der Inflation angedeutet hat, wurden noch keineentscheidenden Schritte in diese Richtung getätigt.142Powell, Bill, “Wanted: A new miracle”, Time, 31. Dezember 2008.51


6 <strong>China</strong> – DemographieHeinz Nissel6.1 ZusammenfassungInnerhalb der nahezu 60 Jahre seit Gründung der Volksrepublik(1.10.1949) hat <strong>China</strong> eine weltweit einzigartige, dramatische Abnahmeseiner Geburten- <strong>und</strong> Sterberaten erlebt. Diese Entwicklung beruht aufrevolutionären, gleichzeitig widersprüchlichen Maßnahmen zurVerbesserung der Ges<strong>und</strong>heitsstandards <strong>und</strong> zur Verminderung desBevölkerungswachstums. Mit r<strong>und</strong> 1,3 Milliarden Bewohnern bleibt<strong>China</strong> noch etwa für weitere 20 Jahre das bevölkerungsreichste Land derErde, bevor es von <strong>Indien</strong> abgelöst wird. Trotzdem liegt dieFruchtbarkeitsrate <strong>China</strong>s unter jener vieler hoch entwickelter StaatenEuropas wie der USA. Weniger Geburten, ein späteres Heiratsaltersowie eine deutlich gestiegene Lebenserwartung verändern dieFamilienstrukturen <strong>und</strong> bedingen neue Herausforderungen in Politik,Wirtschaft <strong>und</strong> Gesellschaft. Der wachsende Anteil älterer Menschenbringt Probleme sowohl für die Privathaushalte wie für dieStaatsausgaben. Das international wohl bekannteste Element derchinesischen Bevölkerungsmaßnahmen ist die staatlich verordnete Ein-Kind-Politik. Sie wird in den kommenden Jahrzehnten das Land vorernste Probleme stellen. Die wirtschaftliche Öffnung <strong>China</strong>s hin zu einerMarktwirtschaft wie zum Welthandel führten zwar zu einzigartigenökonomischen Wachstumsraten von 10% <strong>und</strong> mehr alljährlich durch dreiJahrzehnte, gleichzeitig erhöhten sie jedoch stetigEinkommensdisparitäten, führten zu unterschiedlichen Niveausmedizinischer Versorgung, bewirkten die Massenmigration vonWanderarbeitern <strong>und</strong> rücksichtslose Inanspruchnahme ökologischerRessourcen. Die Auswirkungen dieser negativen Effekte lassen sich(noch) nicht genau abschätzen, werden jedoch mittel- bis langfristigsicher zur Nagelprobe für das Regime <strong>und</strong> auch weltweit zu spüren sein.52


6.2 Bevölkerungsanalysen 143Im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert gab es die längste Zeit nur wenige groß angelegtedemographische Datensammlungen <strong>und</strong> Analysen. Volkszählungenwurden zunächst bloß 1953 <strong>und</strong> 1964 durchgeführt. Erst als in den1980er-Jahren die Notwendigkeit zur Erfassung der Veränderungen derFruchtbarkeit virulent wurde, entschloss man sich im Jahr 1982 zu einemneuen Zensus. Auch die lange vernachlässigte Ausbildung vonBevölkerungswissenschaftern hatte bis dahin sowohl Datensammlungwie Auswertung weitgehend verhindert. Seither jedoch sind eine Reihewichtiger Untersuchungen gemacht worden, wie groß angelegteFertilitätsstudien 1985 <strong>und</strong> 1987, repräsentative Einprozent-Stichprobender Bevölkerung 1987 <strong>und</strong> 1995, eine Zweiprozent-Stichprobe 1988 <strong>und</strong>eine neuerliche Fruchtbarkeitsanalyse 1992. Die Datenqualität kann (fürein Entwicklungsland) als gut eingeschätzt werden, wenn auch mitAbstrichen. Sozial tabuisierte Bereiche wie Mortalitätsraten vonMädchen weisen Abweichungen zwischen 3 <strong>und</strong> 15 Prozent auf. DieVolkszählung von 2000 zeigt als Hauptproblem die zunehmendeMobilität der Gesellschaft (Wanderarbeiter) <strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>enenillegalen Geburten. 1446.3 Sinkende Sterblichkeit<strong>China</strong>s Mortalität verminderte sich im 20. Jhdt. drastisch. 145 Bei derersten VZ 1953 lag die Todesrate bei 14 Promille/Jahr (wahrscheinlichnoch stark untererfasst). 1970 war sie bereits bei 8, 2000 bei 7 auf 1000,2005 bei 6. 146 Eine Reihe von Faktoren sind dafür verantwortlich: innereStabilität nach den Bürgerkriegswirren <strong>und</strong> der japanischen Okkupation143 Die hier beschriebenen Leitlinien stützen sich mehrheitlich auf folgende Quelle:Riley, Nancy E. (2004): <strong>China</strong>’s Population: New Trends and Challenges. PRB(Population Reference Bureau), Washington, DC, Population Bulletin, vol. 59, no. 2.Online: http://www.prb.org/Source/59.2<strong>China</strong>spopNewTrends.pdf, 1.6.2010144 Chan, Kam Wing (2003): Chinese Census 2000: New Opportunities and Challenges.The <strong>China</strong> Review 3, no. 2, pp. 1-12.145 CPDRC (<strong>China</strong> Population and Development Research Center): Total population,Crude Birth Rate, Crude Death Rate, Natural Increase Rate and Total Fertility Rate of<strong>China</strong> (1949-2002). www.cpirc.org.cn, 1.6.2010146 Fischer-Weltalmanach (2008), Basisdaten Bevölkerung 2, S. 526.53


in den 1930er- <strong>und</strong> 1940er-Jahren, bessere Nahrungsmittelproduktion,-hortung <strong>und</strong> -vertrieb nach der kommunistischen Machtübernahmesowie Durchführung groß angelegter Ges<strong>und</strong>heits- <strong>und</strong>Hygienekampagnen. Diese Verbesserungen wurden jedoch mehrfachdurch politische wie sozio-ökonomische Fehlentwicklungenunterbrochen. Als kolossaler Fehler erwies sich insbesondere dersogenannte „Große Sprung Vorwärts“ 1958, mit dem Industrie <strong>und</strong>Agrarwirtschaft massiv gefördert werden sollten. Die Maßnahmenendeten im Desaster, das bis in die 1980er-Jahre tabuisiert wurde. Heutegeht man davon aus, dass diese fehlgeleitete Wirtschaftspolitik zwischen1958 <strong>und</strong> 1961 die größte Hungersnot aller Zeiten auslöste, dermindestens 30 Millionen Menschen zum Opfer fielen. 147 Trotz dieserschweren Rückschläge hat sich die mittlere Lebenserwartung in <strong>China</strong>praktisch innerhalb einer Generation von 35 Lebensjahren (1949) auf 72(2004) mehr als verdoppelt! 148 Umfassende Impfprogramme (vor allemfür Säuglinge <strong>und</strong> Kinder), die Schaffung von „Barfußdoktoren“,verbesserte Ernährung usw. trugen zu dieser Entwicklung entscheidendbei. Diese Maßnahmen griffen vor allem in den 60er- <strong>und</strong> 70er-Jahren,als die bestmögliche medizinische Versorgung für die gesamteBevölkerung hohe Priorität hatte. Der Schwenk zu marktwirtschaftlichenLeitlinien führte jedoch ab den 80er-Jahren zunehmend zur Ausformungeiner Zwei-Klassen-Gesellschaft. Regionale, geschlechterspezifische<strong>und</strong> vor allem Stadt-Land-Dichotomien polarisieren zunehmend. Warenfrüher r<strong>und</strong> 90% der bäuerlichen Bevölkerung in medizinischeBasisversorgungsprogramme eingeb<strong>und</strong>en, so kann <strong>heute</strong> umgekehrtihre große Mehrheit (private) Arztkosten <strong>und</strong> Spitalsaufenthalte – Ärzte<strong>und</strong> Krankenhäuser sind überwiegend in Städten konzentriert – nichtmehr bezahlen. Noch 1990 waren 97% aller Kinder gegen Tuberkulose,Diphterie, Tetanus, Polio <strong>und</strong> Masern geimpft. Die WHO schätzt, dassdieser Anteil bis 2001 auf nur noch 77% gesunken ist. 149 UnterErwachsenen sind vor allem Tuberkulose <strong>und</strong> HIV/Aids im Vormarsch.147 Becker, Jasper (1996): Hungry Ghosts: Mao’s Secret Famine. New York.148 Population Reference Bureau (2004): <strong>China</strong>’s Population. New Trends andChallenges. pp. 9-10.149 WHO (2004): WHO Vaccine-Preventable Disease Monitoring Systems. GlobalSummary.54


Die Handhabung des Ausbruchs von SARS (Vogelgrippe) stellt denGes<strong>und</strong>heitsbehörden ebenfalls kein gutes Zeugnis aus. Indikatoren fürKrankheiten <strong>und</strong> Todesfälle sind signifikant höher in ländlichenGebieten, unter ethnischen Minoritäten <strong>und</strong> Frauen, was in erster Linieauf unterschiedliche Lebensstandards zurückgeführt werden kann. DieMortalität unter Erwachsenen (auch älteren) ist seit Jahrzehnten kaumgesunken, die Säuglings- <strong>und</strong> Kindersterblichkeit hingegen dramatisch.1954 starben noch 139 von 1.000 Kindern/Jahr, 2005 nur noch 23. 150Dafür verantwortlich ist ein komplexes Bündel von Faktoren wieverbesserte Hygiene (Trinkwasser), Zugänglichkeit medizinischer Hilfe,weniger Kinder pro Familie, größere Babypausen usw.6.4 Fruchtbarkeits- <strong>und</strong> GeburtenrückgangZwischen den 1960er- <strong>und</strong> 1980er-Jahren erlebte <strong>China</strong> einen dermassivsten jemals weltweit beobachteten Rückgänge der Fertilität. Innur 15 Jahren reduzierte sich die Total Fertility Rate (TFR) 151 von r<strong>und</strong> 6auf 2 Kinder pro Mutter – trotz sehr niedrigem Bruttosozialprodukt <strong>und</strong>auch geringer Urbanisierungsquote. Thailand oder Südkorea benötigtenfür ähnliche Prozesse mehr als 40 Jahre. 2001 lag die Fruchtbarkeitsratebei 1.8 (1.98 im ländlichen Raum <strong>und</strong> 1.22 in den Städten). 152 Dies istvor allem auf die „Ein-Kind-Politik“ der Volksrepublik <strong>China</strong>zurückzuführen, die zu den restriktivsten Geburtenplanungsprogrammender Erde zählt. Kernpunkt ist dabei die zentrale Hypothese, dass nur überEinschränkung/Verhinderung der befürchteten Bevölkerungsexplosionlangfristig ökonomischer Aufstieg wie sozialer Friede möglich seien.Die ersten Maßnahmen gehen schon auf die 1960er-Jahre zurück. In den70er-Jahren lief die sogenannte dritte Bevölkerungskampagne unter derParole wan, xi, shao (später, länger, weniger: spätere Heirat, längerePausen zwischen den Geburten <strong>und</strong> weniger Geburten). Gegen Ende der150 United Nations Economic and Social Commission for Asia and the Pacific(UNESCAP) (2006): Asia-Pacific in Figures. <strong>China</strong>. Infant mortality rate. In:http://www.unescap.org/stat/data/apif/2006/<strong>China</strong>-apif2006.pdf, 1.6.2010151 Theoretische Anzahl der Kinder pro Frau bei altersspezifischen Geburtenraten.152 <strong>China</strong> Population Information and Research Center (CPIRC): National FamilyPlanning & Reproductive Health Survey (2001), released 10/2002. Online:www.cpirc.org.cn/en/eindex.htm, 1.6.201055


70er-Jahre glaubte die Regierung, nur eine weitere Verschärfung derMaßnahmen könne die gewünschten Effekte bringen. Man begann dielangfristigen Auswirkungen von Geburtenkohorten zu begreifen, ihren„Echo-Effekt“ für zukünftige Generationen, nämlich ein Weiterwachsender Population selbst bei niedrigem generativem Ersatzniveau. Das neueRegime unter Deng Hsiaoping entwickelte die Vision wirtschaftlichenWohlstands für alle Chinesen bis zur Jahrtausendwende. Dies führte zurPropagierung der intern wie extern immer wieder kontrovers diskutierten„Ein-Kind-Politik“. Ein System von Belohnungen wie Bestrafungensollte die Bevölkerung bis 2000 bei 1,2 Milliarden fixieren. DasPlanungsprogramm durchlief verschiedene Phasen mit wechselndenSchwerpunkten, vor allem seit 1984 wurde dezentralisiert <strong>und</strong> dieImplementierung stärker auf lokale Parteikader übertragen. Drei von vierGeburten fanden im ländlichen Bereich statt, <strong>und</strong> der massivsteWiderstand kam auch von <strong>China</strong>s Bauern. Einige Bestimmungen wurdengelockert, Ausnahmen gewährt, aber vom Gr<strong>und</strong>konzept nichtabgewichen. Trotz vielfältiger Gegenwehr <strong>und</strong> einem offensichtlichenBruch mit tief verwurzelten traditionellen Vorstellungen in derchinesischen Kultur kam es zu keinen offenen Aufständen gegen diestaatliche Willkür. Der Vorwurf der Verletzung der Menschenrechte (auswestlicher Perspektive) wurde <strong>und</strong> wird bis <strong>heute</strong> mit demGegenargument konterkariert, dass chinesische Wertmaßstäbe nichteurozentrisch beurteilt werden dürften. Bevölkerungsplanung <strong>und</strong>materielle Produktion seien in der sozialistischen (Plan-)Wirtschaft inBalance zu halten. Geburtenplanung sei so gesehen keineFamilienplanung von Individuen, sondern eine soziale (nationale)Anstrengung <strong>und</strong> Verpflichtung. Privatsphäre <strong>und</strong> Öffentlichkeit sindauch ideologisch aus chinesischer Sicht keine Gegensätze, sondernuntrennbar miteinander verb<strong>und</strong>en (wie zwei Seiten einer Münze).Die Fruchtbarkeitsraten sind überall in <strong>China</strong> <strong>und</strong> unter allenBevölkerungsgruppen gesunken <strong>und</strong> gehören nun zu den niedrigstenweltweit. Urban wirkten diese Prozesse früher <strong>und</strong> stärker, <strong>und</strong> in vielenProvinzen hinkten die ruralen Quoten um 10 Jahre <strong>und</strong> mehr hinter den56


urbanen nach. 153 Die städtische Fertilität ist noch immer um 30 bis 50Prozent niedriger, da vielen Bauern ein Zweitkind zugestanden wurde(Stammhalter-Politik). 154 Die Auswirkungen dieser Maßnahmen lassenandere sozioökonomische Faktoren in den Hintergr<strong>und</strong> treten, dieüblicherweise die Fruchtbarkeit steuern: Bildungsniveau der Frauen,Familieneinkommen, Heirat, Geburtenabfolge, Rolle der Frauen imArbeitsprozess usw. In der demographischen Entwicklung <strong>China</strong>sexistierten immer ausgeprägte regionale Unterschiede. 155 Die Senkungder Fertilitätsraten ging Hand in Hand mit der wirtschaftlichenEntwicklung der Provinzen <strong>und</strong> Sonderwirtschaftszonen, ergriff alsozuerst die höher entwickelten Landesteile im Osten <strong>und</strong> in Küstennähe.Noch immer existieren signifikante regionale, provinzielle <strong>und</strong> lokaleUnterschiede hinsichtlich Fruchtbarkeit wie auch Sterblichkeit. EinBeispiel: 2000 betrug die Fertilitätsrate in der Provinz Guangdong 0.9, inGuizhou 2.2. Noch größer als die Unterschiede zwischen den Regionen<strong>und</strong> Provinzen sind jene innerhalb dieser. 156 Die wichtigste Variable zurErklärung der Unterschiede ist auch in diesen Bereichen die städtischländlicheDichotomie (unterschiedliche Säuglings- <strong>und</strong>Kindersterblichkeit etc.). Rezente Maßnahmen berücksichtigen stärkerlokale Bedürfnisse. Deutlich hinaufgesetzt ist <strong>heute</strong> auch dasHeiratsalter. Es stieg von 18 Lebensjahren 1940 auf heutige 22, was proJahrzehnt zur Verhinderung von Millionen Geburten führte. Zwischen1950 <strong>und</strong> 1970 soll allein dadurch die „Geburtenleistung“ um 8%reduziert worden sein, zwischen 1971 <strong>und</strong> 1980 um 19%, was insgesamtder Verhinderung von ca. 100 Millionen Geburten entspricht. 157 Dasweltweit einzigartige Absinken der TFR von 6 auf 1.7 Kinder (2001) ist153 Winckler, Edwin A. (2002): Chinese Reproductive Policy at the Turn of theMillenium: Dynamic Stability. Population and Development Review 28, no. 3, pp. 379-418.154 Xizhe, Peng (1991): Demographic Transition in <strong>China</strong>: Fertility Trends Since the1950s. Oxford. p. 228.155 Freedman, Ronald et al. (1988): Local Area Variations in Reproductive Behavior inthe People’s Republic of <strong>China</strong>, 1973-1982. Population Studies 42, pp. 39-77.156 Poston, Dudley L. Jr. and Jia Zhongke (1990): Socioeconomic Structure andFertility in <strong>China</strong>: A County-Level Investigation. Journal of Biosocial Science 22, no.4, pp. 507-515.157 Population Reference Bureau (2004): <strong>China</strong>’s Population. pp. 15-16.57


weitgehend ein Ergebnis der Ein-Kind-Strategie. Dies wird deutlich beider Beobachtung von Zweit- <strong>und</strong> Drittgeburten. 1973 waren noch etwa60% aller Geburten Drittkinder (oder höher). 1980 lag diese Quote bei35%, 1987 bei 17% <strong>und</strong> 2000 bei nur noch 6%. Erstgeburten lagen indiesem Jahr bereits bei 68% (gegenüber nur 21% 1973), Zweitgeburtenbei 26%. 158 Umstritten bleibt auch unter Experten die Frage, inwieweitder sozio-ökonomische Aufstieg breiter Bevölkerungsschichten dasdemographische Verhalten in Relation zu Geburtenkontrollmaßnahmenbeeinflusst hat. Befragungen zeigen – wie im Westen – einepsychologische Präferenz (theoretisch) für die Zwei-Kind-Familie, vorallem unter sozialen Aufsteigern. Ein Ergebnis dieser Differenz vonAnspruch <strong>und</strong> Wirklichkeit ist das Phänomen der Missing Girls. 159Für die letzten zwei Jahrzehnte zeigt sich ein dramatischer Anstieg desÜberhangs von Knaben gegenüber Mädchen. 2000 entfielen landesweit120 Knabengeburten auf 100 Mädchengeburten – die höchste Differenzweltweit. Dieses Ungleichgewicht existierte in allen Regionen mitAusnahme von Tibet <strong>und</strong> Xinjiang <strong>und</strong> war besonders ausgeprägt inHainan <strong>und</strong> Guangdong (135 bzw. 138). Für die Erstgeburten lag dieSexualproportion „nur“ bei 107, bei der Zweitgeburt jedoch bei 152 <strong>und</strong>bei der Drittgeburt bei 160! 160 Sowohl über die konkrete Anzahl wieüber die Gründe der „fehlenden“ Mädchengeburten existierenunterschiedliche Annahmen, jedenfalls fehlen viele Millionen.Vermutete Ursachen: überdurchschnittliche Todesraten weiblicherBabies durch Kindsmord, Vernachlässigung <strong>und</strong> Weglegen;systematisches Unterrepräsentieren von Mädchengeburten(Verheimlichung vor Behörden bei Registrierung), an erster Stellejedoch sicher die Abtreibung weiblicher Föten (prenatalerUltraschalltest). Dieses Thema dürfte überhaupt der am stärkstentabuisierte Bereich in der Bevölkerungsentwicklung sein. 16<strong>11</strong>58 <strong>China</strong> 2000 Census, Special Tabulations. Zitiert nach Riley, Nancy E. (2004):<strong>China</strong>’s Population. PRB, Population Bulletin, vol. 59, no. 2, p. 16.159 Coale, Ansley and Judith Banister (1994): Five Decades of Missing Females in<strong>China</strong>. Demography, 31, no. 3, pp. 459-486.160 Population Reference Bureau (2004): <strong>China</strong>’s Population. pp. 16-19.161 Greenhalgh, Susan (2003): Planned Births, Unplanned Persons: “Population” in theMaking of Chinese Modernity. American Ethnologist, vol. 30, no. 2, pp. 196-215.58


Kontinuierliche Diskriminierung von Frauen <strong>und</strong> Mädchen hat in <strong>China</strong>jahrtausendealte Tradition <strong>und</strong> zieht sich wie ein roter Faden durchDenkweisen <strong>und</strong> Handlungen (patriarchalische Struktur mitentsprechenden Heiratsritualen, Präferenz von Söhnen, Bedeutung vonStammbäumen in der Familiengeschichte – vor allem, aber nicht nur inbäuerlichem Milieu). Die zukünftigen gewaltigen Probleme, die darausresultieren, werden erst seit wenigen Jahren in ihrer ganzen Tragweiteerfasst: Heiratsverhalten, Überalterung <strong>und</strong> Schwächung des Anteils derBevölkerung im produktiven Alter (15- bis 65-Jährige).6.5 Veränderungen der Alters- <strong>und</strong> FamilienstrukturDie zunehmende Überalterung der chinesischen Gesellschaft istweitgehend ein Resultat des beschriebenen demographischen Wandels.Andere wichtige Bereiche der raschen Veränderungen, wie etwaProbleme der Minoritäten oder ökologische Degradation, sind vonEntwicklungen in der Bevölkerung stark (mit-)beeinflusst. Umgekehrtwerden wiederum Veränderungen der Demographie stark von sozialenFaktoren gesteuert, wie z. B. die Verhätschelung der „Kleinen Kaiser“(Söhne in Ein-Kind-Familien) oder das Abschieben der Großeltern ausdem Familienverb<strong>und</strong>. Die langfristigen Auswirkungen dieserVerhaltensänderungen sind noch nicht abzuschätzen. Bei der VZ 1964waren die Fruchtbarkeitsraten noch hoch <strong>und</strong> die Sterberaten begannengerade erst zu fallen. Die Bevölkerungsstruktur zeigte damals dieklassische Pyramidenform mit breiter Basis von Jungen <strong>und</strong> schmalerSpitze (weniger) alter Menschen. Der Fruchtbarkeitsrückgang führtezunächst nur zu einem geringen Anwachsen alter Menschen (60+) von7% (1953) auf 10% (2000), dies soll aber bis 2050 auf 27% ansteigen. 162Nicht nur relativ, sondern auch absolut wird das Wachstum der „Alten“bei einbrechender Basis der nachkommenden Kinder weitreichendeAuswirkungen haben. Die Verschiebungen der Abhängigenquote wie dienoch immer steigende Lebenserwartung müssen die traditionelleOnline: http://www.anthro.uci.edu/faculty_bios/greenhalgh/Greenhalgh-planned.pdf,1.6.2010162 CPDRC (2003): <strong>China</strong> to usher in major changes in population policies. OffizielleStatements nach Auswertung des Census 2000. Unter:www.cpirc.org.cn/en/eindex.htm, 1.6.201059


Obsorge im Familienverb<strong>und</strong> massiv belasten, vielleicht sogar zerstören(wie bei uns bereits vorexerziert). Die Kohorten im arbeitsfähigen Alter(15 – 65) werden von 2000 bis 2050 von 67% auf 57% sinken, derKinderanteil von 23% auf 16%. Die daraus resultierendenvolkswirtschaftlichen Einbußen <strong>und</strong> Kosten dürften enorm sein. 1636.6 Demographie <strong>und</strong> ÖkologieIn den nächsten Jahrzehnten wird <strong>China</strong> massive ökologischeVerschlechterungen hinnehmen müssen, die einerseits aus dem massivbetriebenen Raubbau an der Natur als „Nebenprodukt“ der um jedenPreis forcierten Wirtschaftsentwicklung resultieren, andererseits – <strong>und</strong>auf den ersten Blick weniger offensichtlich – vielfach auch mit derGröße, Entwicklung <strong>und</strong> räumlichen Verteilung der Bevölkerung selbstzu tun haben. Wasser- <strong>und</strong> Luftverschmutzung, Bodenerosion,Desertifikation <strong>und</strong> Entwaldung sowie industrielle Riesenprojekte (Drei-Schluchten-Damm) etc. haben bereits Millionen Menschen aus ihrenangestammten Lebensräumen vertrieben. Mehr als 20% der 880größeren Flüsse <strong>China</strong>s sind bereits so verseucht, dass sie nicht mehr fürBewässerungszwecke herangezogen werden können. Nur sechs der 27größten urbanen Agglomerationen verfügen über sicheres Trinkwasser.Chronische Lungenerkrankungen sind für ein Viertel aller Todesfälleverantwortlich. Stetige Degradation <strong>und</strong> Verminderung derAgrarflächen, kombiniert mit Bevölkerungswachstum <strong>und</strong> immerhöheren Ansprüchen an Quantität wie Qualität der Lebensmittel, könntezu ernsten Versorgungskrisen führen. 1646.7 Binnenmigration <strong>und</strong> das Problem derWanderarbeiterMitte der 1990er-Jahre lebten bereits über 100 Millionen Chinesen inStädten, die aus Dörfern zugezogen waren. Dutzende Millionenehemaliger Kleinbauern <strong>und</strong> Landarbeiter wurden mit der163 Population Reference Bureau (2004): <strong>China</strong>’s Population. pp. 21-24.164 Smil, Vaclav (1993): <strong>China</strong>’s Environmental Crisis: An Inquiry Into the Limits ofNational Development. Armonk, N.Y.; Shapiro, Judith (2001): Mao´s War AgainstNature: Politics and the Environment in Revolutionary <strong>China</strong>. Cambridge, England.60


Mechanisierung der Landwirtschaft freigesetzt <strong>und</strong> verdingten sich alsWanderarbeiter – überwiegend in der gewaltig expandierendenBauwirtschaft der städtischen Agglomerationen <strong>und</strong>Sonderwirtschaftszonen. Demographen sind der Ansicht, dass es sichdabei um die größte Binnenwanderung in der Geschichte der Menschheithandelt. 165 Die politische Öffnung in der Ära Deng’s brachte eineunglaubliche Wirtschaftsentwicklung, aber damit verb<strong>und</strong>en auch(geographische) Gewinner <strong>und</strong> Verlierer. Existierten 1979 erst vierSonderwirtschaftszonen (SEZ), so wuchsen diese mittlerweile auf etliche100 an. Zentral- <strong>und</strong> Westchina waren lange von diesen Investitionenausgeschlossen. Dies führte zu riesigen Migrationsströmen aus denPeripherräumen des Hinterlands in die aufstrebenden Agglomerationen<strong>und</strong> Küstenprovinzen. (Obwohl es noch immer r<strong>und</strong> 600 MillionenBauern gibt, werden eigentlich nur 170 Millionen benötigt.) Ermöglichtwurde dies auch durch Änderungen im vorher streng regulierten,restriktiven Haushaltserfassungssystem (Hukai), das die individuelleMobilität weitgehend ausschloss. Binnenmigration ist alters- <strong>und</strong>genderselektiv <strong>und</strong> besteht vorwiegend aus jungen, männlichen,ungelernten Arbeitskräften. Ohne diesen massiven Zustrom wären dieWachstumsraten der Volkswirtschaft überhaupt nicht möglich gewesen.Die in den Städten überwiegend nicht registrierten Zuwanderer sindMenschen „zweiter Klasse“ ohne Rechte (floating population) <strong>und</strong>verschiedenen Formen von Diskriminierung ausgesetzt. Beobachtersehen in diesem Phänomen zusammen mit den jüngsten Auswirkungender Weltfinanzkrise <strong>China</strong>s größtes soziales Problem, das die staatlicheOrdnung unterminieren könnte, sind doch bereits nach unterschiedlichenSchätzungen 25 bis 40 Millionen Wanderarbeiter freigesetzt. 166 Nebender Zuwanderung existieren jedoch auch vielfältige Formen derzirkulären Migration (Pendeln zwischen altem <strong>und</strong> neuemLebensbereich). Diese Personen mildern einerseits durch Überweisungenan die zurückgebliebenen Familienmitglieder das soziale165 Dai, Tony, Gareth Davy and Louise Higgins (2006): Rural-urban Migration in<strong>China</strong>. Geography Review, vol. 19, pp. no. 5, 2-5.166 Laut Ausgabe der „<strong>China</strong> Daily“ vom 6. Jan. 2004 betrug die Anzahl derZugewanderten in Städten ohne jegliche Rechte auf Arbeit, Sozialleistungen <strong>und</strong>Unterkunft im September 2003 bereits 94 Mill.61


Ungleichgewicht zwischen Stadt <strong>und</strong> Land, bewirken jedoch auch einezunehmende Feminisierung ländlicher Arbeit <strong>und</strong> Armut.Probleme der Binnenmigration verb<strong>und</strong>en mit Formen derSchattenwirtschaft sind Kennzeichen einer sich völlig veränderndenGesellschaft, in der die soziale Ungleichheit von Jahr zu Jahr wächst. 167Es sind dies die Unterschiede zwischen einzelnen Regionen, zwischenStadt <strong>und</strong> Land, zwischen Einkommensgruppen usw. Die Rolle derArbeiterklasse, einst als Führerin der Revolution gepriesen, ist in derstaatskapitalistischen Marktwirtschaft zum Lippenbekenntnis mutiert.200 Millionen Dorfbewohner haben bisher noch immer keinen Anteil amwachsenden Wohlstand.167 Yao, Shujie (1999): Economic Growth, Income Inequality and Poverty in <strong>China</strong>Under Economic Reforms. Journal of Development Studies, vol. 35, no. 6, pp. 104-130.Bian, Yanjie (2002): Chinese Social Stratification and Social Mobility. Annual Reviewof Sociology, vol. 28, no. 1, pp. 91-<strong>11</strong>7.62


7 <strong>China</strong>: Gesellschaftliche <strong>und</strong> soziale LageGerald Brettner-Messler31 Jahre Reformpolitik haben die Lebensbedingungen der Menschen in<strong>China</strong> gr<strong>und</strong>legend geändert. Waren die meisten Chinesen bis zum TodMaos besitz- <strong>und</strong> rechtlose Bauern, hat <strong>China</strong> <strong>heute</strong> in Folge derReformpolitik Deng Xiaopings eine differenzierte Gesellschaft: es gibteinen Mittelstand <strong>und</strong> auch extrem reiche Menschen, die angesichtseiner autoritären Staatsform Freiheiten in einem zuvor nicht möglichenAusmaß genießen. Was sich nicht geändert hat, ist das politischeSystem. Die persönlichen Freiheiten haben nach wie vor dort ein Ende,wo die Herrschaft der KP bedroht ist.Auch wenn es große Unterschiede zwischen den reichenKüstenprovinzen <strong>und</strong> dem unterentwickelten Landesinneren gibt, so hatsich das soziale Niveau im Allgemeinen stark gebessert. DieEinkommen haben sich zwischen 1978 <strong>und</strong> 2002 verachtfacht; dieAnzahl der Menschen, die von nur einem Dollar am Tag leben, hat sichvon 490 Millionen auf 88 Millionen verringert. 168 Gemessen an deroffiziellen chinesischen Armutsgrenze sank der Anteil der Armen von250 Millionen 1978 (31% der Landbevölkerung) auf 24 Millionen 2005(3% der Landbevölkerung) gesunken. 169Wichtig wäre ein solider Mittelstand, wie er in <strong>Indien</strong> entstanden ist.Daraus resultierte jedoch die Herausforderung für die Regierenden, einesozial vielschichtige Gesellschaft steuern zu können. Der Chinese istkein Massenmensch, seine Bezugspunkte sind die eigene Familie <strong>und</strong>der eigene Klan. Wenn die sozialen Lebenswelten zu sehrauseinanderfallen, besteht die Gefahr, dass sich das auf denZusammenhalt der ganzen Gesellschaft negativ auswirken <strong>und</strong> densozialen Frieden <strong>und</strong> den nationalen Zusammenhalt bedrohen kann. 170168 Jenny Clegg, <strong>China</strong>’s Global Strategy. Towards a Multipolar World (London, NewYork 2009), 147169 World Health Organization, <strong>China</strong>, 2008, Country Context,http://www.wpro.who.int/countries/2008/chn/, 7.4.2010170 Urs Schoettli, <strong>China</strong>. Die neue Weltmacht (Zürich 2007), <strong>11</strong>2-<strong>11</strong>663


2007 wurde ein Eigentumsgesetz beschlossen, um die Rechte derEigentümer zu schützen. Das Gesetz zielt keineswegs nur aufPrivateigentümer, sondern auch auf das staatliche Eigentum. Es wirddamit auch nicht der von den Bauern bestellte Boden privatisiert –Bauern wird das Land weiter vom Staat nur zur Verfügung gestellt, dasVerfügungsrecht darüber ist eingeschränkt. Das Gesetz enthält einBekenntnis zum Vorrang des Staatseigentums <strong>und</strong> soll dieses davorbewahren, zum Nachteil der Öffentlichkeit <strong>und</strong> Vorteil Einzelnerveräußert zu werden. Wenn Land umgewidmet wird, muss Betroffenenlaut dem Gesetz Entschädigung geleistet werden. Der Entzug von Landfür wirtschaftliche Zwecke oder Stadtentwicklung ist ein häufiger Gr<strong>und</strong>für Proteste der Landbevölkerung. 2007 wurde geschätzt, dass 65% derMassenproteste darin ihre Ursache hatten. 171 Weitere Ursachen warenKorruption <strong>und</strong> Umweltverschmutzung. Diese – steigende – Bereitschaftzum Protest zeigt sich an der wachsenden Häufigkeit sogenannter massincidents (Massenproteste – Demonstrationen, K<strong>und</strong>gebungen u. ä. vonGruppen; 2005 wurde der Begriff ab 15 Personen verwendet): Waren es2003 noch 58.000, stieg die Zahl 2004 auf 74.000 <strong>und</strong> schließlich 2005auf 87.000. 172 Gr<strong>und</strong> für diese in einem autoritären Staat ungewöhnlichhohe Häufigkeit öffentlichen Protests ist, dass die staatliche Autoritätnur so lange akzeptiert wird, als der Staat seine Pflichten gegenüber demBürger erfüllt. Tut er dies nicht, sehen sich die Menschen nicht mehr andie Gehorsamspflicht des Bürgers geb<strong>und</strong>en. 173Ein soziales Problem ist das große Wohlstandsgefälle: Der Gini-Koeffizient betrug 2006 0,448 (0 entspricht völliger Gleichheit, 1 demalleinigen Besitz eines Einzigen), in Europa lag er bei 0,3. R<strong>und</strong> 750Millionen Chinesen leben am Land. Diese Gebiete sind die amschlechtesten entwickelten <strong>China</strong>s. Kleinbauern erwirtschaften dort mittraditionellen Methoden nur geringe Erträge. So verdient man z. B. imBezirk Shufu (Autonome Region Xinjiang) im Jahr 360,- USD netto,171 <strong>China</strong> property law bolsters private rights, http://www.reuters.com, 8.3.2007;Property law denies farmers the good earth, http://www.atimes.com, 20.3.2007172 Jenny Clegg, <strong>China</strong>’s Global Strategy. Towards a Multipolar World (London, NewYork 2009), 151; Beijing hears dissenting voice on unrest, http://www.atimes.com,28.4.2010173 Schoettli, 34 f.64


während ein Wanderarbeiter diesen Betrag in zwei Monaten bekommt.Die im internationalen Vergleich billigen Arbeitskräfte sind einwesentlicher Standortvorteil für die chinesische Wirtschaft, aber auchQuell von Unzufriedenheit, weswegen die Regierung Gehaltserhöhungenim Verhältnis zur wirtschaftlichen Entwicklung anstrebt.Es gibt ein großes Potential an überschüssigen Arbeitskräften –Menschen, die in die Städte drängen <strong>und</strong> dort ihr Glück suchen. 174 DieseWanderarbeiter sind ein Massenphänomen im <strong>China</strong> der Gegenwart.2008 gab es 225,42 Millionen, wobei 62,3% (140,41 Millionen)außerhalb ihres Bezirkes arbeiteten. 175 Nach wie vor sind aber diemeisten Menschen in der Landwirtschaft beschäftigt, während derindustrielle <strong>und</strong> der Dienstleistungssektor zu wenige Arbeitskräfteaufnehmen. 2007 betrug der Anteil des Dienstleistungssektors am BIPnur 40%, während er in entwickelten Staaten bis zu 80% beträgt. Hierspielt auch die Ausbildung hinein, die den Bedürfnissen des Marktes nurungenügend entspricht. Ein chinesischer Wirtschaftsfachmann fordertedaher, dass <strong>China</strong> seine wirtschaftliche Strategie nicht auf Wachstum,sondern auf Beschäftigung ausrichtet. 176 Wichtig ist die Schaffung neuerArbeitsplätze. 9 Millionen sollen es im heurigen Jahr sein. DieArbeitslosigkeit im städtischen Bereich darf auf höchstens 4,6% steigen.Das sind die gleichen Vorgaben wie 2009. Diese wurden laut offiziellenAngaben trotz Krise erreicht: die Arbeitslosigkeit betrug 4,3%, dieAnzahl neuer Arbeitsplätze (im städtischen Bereich) über <strong>11</strong> Millionen.In der ersten Jahreshälfte 2010 wurden bereits 6,38 Millionen neuer Jobsgeschaffen, die Arbeitslosigkeit lag bei 4,2% – so hoch wie Ende2008. 177 Auch unter den Wanderarbeitern hatten im September 200995% eine Beschäftigung – genauso viele wie ein Jahr zuvor. (Die174 Schoettli, 92-94; Clegg, 148 f.; Migrant Uygurs assemble success,http://www.chinadaily.com.cn, 20.7.2009; New jobs work out for 7.6m, unrest ruledout, http://www.chinadaily.com.cn, 10.9.2009175 <strong>China</strong>’s rural migrant workers top 225 million, http://www.chinadaily.com.cn,25.3.2009176 Economy's focus should now be on creating jobs, http://www.chinadaily.com.cn,19.3.2009177 Employment top issue for NPC, http://www.chinadaily.com.cn, 9.3.2009; <strong>China</strong> toinvest $6.34b to boost employment, http://www.chinadaily.com.cn, 5.3.2010; <strong>China</strong>faces increasing employment pressure, http://www.chinadaily.com.cn, 23.7.201065


städtischen Arbeitslosenraten inkludieren diese Leute nicht.) DieRegierung zeigte sich beruhigt, weil man soziale Unruhen aufgr<strong>und</strong> vonArbeitslosigkeit befürchtet hatte. 178Mit der Abwanderung aus den ländlichen Regionen geht diezunehmende Urbanisierung einher. Zu Beginn unseres Jahrh<strong>und</strong>erts gabes 176 Städte mit mehr als einer Million Einwohnern. Es wird gerechnet,dass in den kommenden 15 bis 20 Jahren weitere 300 Millionen inStädte wandern werden. Bereits jetzt leben 600 Millionen von 1,3Milliarden Chinesen in den Ballungszentren. Das bedeutetet eine großestädtebauliche Herausforderung, da für diesen Zustrom eineentsprechende Infrastruktur (Strom, Wasser) bereitgestellt werden muss.Ein besonderes Problem ist, dass die Städte sehr dicht besiedelt sind: InTeilen von Peking, Shanghai <strong>und</strong> Chongqing leben auf einemQuadratkilometer 50 bis 60.000 Menschen oder mehr. Der internationaleDurchschnitt ist 10.000. 179 Neben der Versorgung müssen auch dieLuftqualität <strong>und</strong> die Abfallentsorgung sichergestellt werden. So stehenRecycling <strong>und</strong> Müllaufbereitung erst am Anfang. Wertvolle Materialiengehen verloren, weil nicht mehr benötigte Dinge weggeworfen werden<strong>und</strong> der verwertbare Anteil keiner entsprechenden Verwendungzugeführt wird. 180Menschen, die sich nicht vom eigenen Boden ernähren können, bedürfeneiner entsprechenden Lebensmittelversorgung. Das ist in einem Land mitso vielen Einwohnern keine Selbstverständlichkeit. In derWirtschaftskrise wurde die Ernährung für Teile der Bevölkerung zumProblem. Für r<strong>und</strong> 10% der 130 Millionen Wanderarbeiter 181 war dastägliche Brot nicht gesichert. Betroffen sind in einem solchen Falldiejenigen, die ihre Arbeit verloren haben <strong>und</strong> die bzw. deren Familienüber kein Agrarland mehr verfügen – das Land wurde vielfach zuanderweitiger Nutzung vergeben. Hinzu kam eine Dürre – nach178 New jobs work out for 7.6m, unrest ruled out, http://www.chinadaily.com.cn,10.9.2009179 <strong>China</strong>'s cities to receive massive influx, http://www.chinadaily.com.cn, 27.8.2009;Urs Schoettli, 98180 Huo Weiya, The dangers of boosting consumption, http://www.chinadialogue.net,20.8.2009181 Angaben zur Zahl der Wanderarbeiter sind schwankend.66


Regierungsdarstellung die schlimmste in 50 Jahren –, die bis zu 80% derFläche für den Winteranbau erfasste. Die Zentralregierung setzte aufMaßnahmen im Ausbildungsbereich bzw. zur Schaffung vonArbeitsplätzen, um den Leuten wieder eine ausreichendeLebensgr<strong>und</strong>lage zu geben. In einigen Städten <strong>und</strong> Provinzen kam esauch zur Ausgabe von Essenscoupons bzw. von Lebensmittel. 182Das Problem der Ernährung führt zum Problem der natürlichenRessourcen <strong>und</strong> der Umwelt. <strong>China</strong> hat es trotz des riesigenBevölkerungszuwachses geschafft, die Menschen mit genügend Nahrungzu versorgen (<strong>heute</strong> auch durch Importe). Das hatte seinen Preis: DurchDüngemittel <strong>und</strong> Pestizide wurde der Boden ausgelaugt, aber auch dieWasserqualität beeinträchtig <strong>und</strong> durch die Bewässerung dasGr<strong>und</strong>wasser stark verbraucht. Hinzu kommen Probleme mit derLuftverschmutzung, hervorgerufen durch veralteteSchwerindustrieanlagen. 183 Im Vorfeld des Kopenhagener Gipfels überdie Nachfolge des Kyoto-Protokolls unternahm <strong>China</strong> eine neuelegistische Anstrengung zur Emissionsreduktion. Damit werden dieGegenmaßnahmen rechtlich verbindlich. 184Die Umweltprobleme sind eng mit dem Problem fehlenderdemokratischer Strukturen verwoben, da es kein unabhängigesKontrollsystem für die Einhaltung der Gesetze gibt. Mangel anRechtsvorschriften ist nicht das Problem, diese sind vorhanden – es istdie mangelnde Rechtsdurchsetzung. Auf lokaler Ebene führt dieVernetzung von Wirtschaft, Politik bzw. Verwaltung <strong>und</strong> Judikative zurVernachlässigung der Umweltschutzbestimmungen. Zum Teil geschiehtdas aus ökonomischen Gründen: die Nichtbeachtung vonkostenintensiven Umweltauflagen bedeutet einen Wettbewerbsvorteil.Klagen haben kaum Chancen auf Erfolg. Hinzu kommt die endemischeKorruption. 185 Diese geht bis in höchste Justizkreise. So wurde ein182 In <strong>China</strong>, Despair Mounting Among Migrant Workers,http://www.washingtonpost.com, 4.3.2009183 Schoettli, 190-194184 Climate change law to bring teeth to emissions mandates,http://www.chinadaily.com.cn, 26.8.2009185 Elizabeth Balkan, Promises and pitfalls, http://www.chinadialogue.net, 7.5.2009;James Kynge, <strong>China</strong>. Der Aufstieg einer hungrigen Nation (Hamburg 2006), 225 f.67


stellvertretender Präsident des Obersten Volkgerichtes wegen Annahmevon Bestechungsgeldern aus Amt <strong>und</strong> Kommunistischer Parteientfernt. 186 Problematisch sind gerade die unteren staatlichen Ebenen,weil dort die Richter häufig Naheverhältnisse zu den lokalenMachthabern haben <strong>und</strong> die Rechtspflege in deren Sinn gestalten. Hinzukommt, dass Staatsbedienstete häufig in die Privatwirtschaft wechseln<strong>und</strong> so die Möglichkeit von Interessenskonflikten besteht, indem dieKarriere bei Privatunternehmen schon im Staatsdienst vorgeplantwird. 187Der Zustand von Umwelt <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit der Bevölkerung sinduntrennbar verb<strong>und</strong>en. Einer der negativen Einflussfaktoren auf dieGes<strong>und</strong>heit ist die Umweltverschmutzung. Die ges<strong>und</strong>heitlichenProbleme sind wiederum eine der Ursachen von Armut. Bis zu 30% derArmen geben an, dass ihre soziale Lage Folge von schlechter Ges<strong>und</strong>heitist. 188 Die Kosten aus diesen Missständen sind sehr hoch: Sie betragen5,8% des chinesischen BIP – zum Großteil aufgr<strong>und</strong> derGes<strong>und</strong>heitsausgaben infolge von Luft- <strong>und</strong> Wasserverschmutzung. 189Umwelt <strong>und</strong> Soziales sind zwei Bereiche, bei denen die Regierung imRahmen der Bekämpfung der Wirtschaftskrise ansetzt. Um diese Krisein den Griff zu bekommen, hat die Regierung ein umfassendesMaßnahmenpaket beschlossen: Investitionen, Steuererleichterungen,Restrukturierung der Industrie, wissenschaftliche Innovation,Sozialmaßnahmen <strong>und</strong> Maßnahmen zur Schaffung von Arbeitsplätzen.Umgerechnet 585,5 Milliarden USD will die Regierung für zwei Jahrezur Verfügung stellen. Die Anteile der Zentralregierung sollenhauptsächlich in Bereiche gehen, die der Hebung des allgemeinenLebensniveaus dienen: Wohnraum für sozial Schwache, Bildung,Ges<strong>und</strong>heit, Kultur, Energiekonservierung, Umweltschutz,technologische Innovation, Schlüsselinfrastruktur <strong>und</strong> Wiederaufbaunach dem Erdbeben. In die klassische verarbeitende Industrie soll kein186 Supreme court judge sacked for corruption, http://www.chinadaily.com.cn,21.8.2009187 Law limits moves for Shanghai officials, http://www.chinadaily.com.cn, <strong>11</strong>.9.2009188 World Health Organization, <strong>China</strong>, 2008, p. 62, 64189 Michael S. Chase, <strong>China</strong>'s balancing act: guns vs rice, http://www.atimes.com,3.<strong>11</strong>.200768


Geld fließen. Um die Inlandsnachfrage anzukurbeln soll dasSozialsystem verbessert werden, damit die Sparquote gesenkt wird <strong>und</strong>die Menschen in Konsumgüter investieren können. Es geht vor allem umPensions-, Ges<strong>und</strong>heits- <strong>und</strong> Sozialversicherung. So soll eineumfassende medizinische Versorgung für die gesamte Bevölkerungsichergestellt werden. 190Die Reform des Sozialsystems ist Voraussetzung für die Steigerung derInlandsnachfrage, die 2009 von der Staatsspitze als eines dervordringlichen Anliegen bezeichnet wurde. Damit die Menschen ihrerspartes Geld freimachen, muss zuerst die soziale Versorgunggewährleistet sein. Als erster Schritt wurden Ersatzmaßnahmen für dienoch ausständigen Reformen gesetzt (das wurde auch von der Regierungso artikuliert), z. B. die Landbevölkerung bei der Anschaffung vonHaushaltsgeräten unterstützt. Es handelte sich um eine Aktion derZentralregierung. Aber auch auf Provinzebene trafen dieVerantwortlichen Maßnahmen. Eine davon war die Ausgabe vonWarengutscheinen an die Bevölkerung. In der Hauptstadt der ProvinzSichuan, Chengdu, wurden an 380.000 Bezieher von NiedrigeinkommenGutscheine im Wert von umgerechnet jeweils 14,6 USD ausgegeben.Laut Behördenangabe wurden alle Gutscheine verwendet. In Hangzhouwurde das gleiche Verfahren angewandt. Dort wollte man den lokalenStaatsangestellten einen Teil ihres Gehaltes in Gutscheinen auszahlen.Es gab allerdings Zweifel am Erfolg der Aktion – in Japan war man1999 damit nicht erfolgreich gewesen; die Leute hatten weiter gespart. 191Die Wirtschaftskrise ist der rechte Zeitpunkt für Investitionen in densozialen Bereich, weil in schlechten Zeiten viele Menschen in prekäreVerhältnisse geraten. 42,84 Milliarden USD stellte die Zentralregierung2009 zur Verfügung. Das entsprach einer Steigerung von 17,6%.Weitere Mittel kamen von den Provinzen. Soziale Absicherung ist in<strong>China</strong> stark unterentwickelt: Nur 317 Millionen Menschen haben eineGes<strong>und</strong>heitsversicherung, 124 Millionen sind gegen Arbeitslosigkeit190 Premier vows support, calls for confidence amid crisis,http://www.chinadaily.com.cn, 5.3.2009; Highlights of Premier Wen’s remarks at pressconference, http://www.chinadaily.com.cn, 13.3.2009191 Olivia Chung, Chinese offered consumer tickets, http://www.atimes.com, 14.2.200969


versichert, 138 Millionen gegen Arbeitsunfälle. Die Angaben variierenhier, was auf verschiedene Berechnungsweisen zurückzuführen seindürfte.Das chinesische Ges<strong>und</strong>heitssystem ist stark dezentralisiert: 12Behörden sind mit Fragen der Ges<strong>und</strong>heit befasst. 90% derGes<strong>und</strong>heitsausgaben werden nicht von der Zentralregierung getätigt.Die Weltges<strong>und</strong>heitsorganisation spricht von einer 40%-Abdeckung beider Ges<strong>und</strong>heitsversicherung (2005). Versichert zu sein bedeutet abernicht, dass die Kosten überwiegend von der Versicherung getragenwerden. Viele sind unterversichert, häufig müssen die Kostenvorgestreckt werden <strong>und</strong> der Selbstbehalt kann bis zu 80% betragen.Dezentralisierung heißt in <strong>China</strong>, dass Leistungen desGes<strong>und</strong>heitssystems örtlich nicht übertragbar <strong>und</strong> von der Finanzpotenzder Kommunen abhängig sind – ein großes Problem für dieWanderarbeiter. Das reiche Peking hat ein wesentlich höheres Niveauals entlegene Gebiete, wo die medizinische Versorgung sehreingeschränkt ist. Umgekehrt kann die lokale/regionale Verwaltungkeine Abgaben zur Finanzierung einheben; Ausgleichszahlungen ausPeking sind unzureichend. 45% der Ausgaben auf diesem Sektor werdendaher von den Patienten selber getätigt. 5,74 Billiarden Yuan wird <strong>China</strong>bis 2020 investieren müssen, um ein umfassendes Sozialsystemaufzubauen. Dies ist von langfristiger Bedeutung, da die chinesischeBevölkerung rasch altert. 2035 wird ein Viertel der Bevölkerung älter als60 sein; eine Gruppe, die besonders der medizinischen Versorgungbedarf. 192Zum Zeitpunkt der Gründung der Volksrepublik 1949 gab es in <strong>China</strong>nur 40.000 Ärzte, konzentriert in den Städten. Damals kam ein Arzt auf13.500 Einwohner, <strong>heute</strong> beträgt das Verhältnis 1:950. Mangelsvollständig ausgebildeter Ärzte wurden Leute mit einer medizinischenGr<strong>und</strong>ausbildung in die ländlichen Regionen entsandt. Mao selbstmisstraute Ärzten <strong>und</strong> wollte ihre Ausbildung auf lediglich ein bis zwei192 <strong>China</strong> to boost spending on welfare, healthcare, http://www.chinadaily.com.cn,5.3.2009; WHO, Country Health Information Profiles, <strong>China</strong>, p. 61, 67-69,http://www.wpro.who.int, 8.4.2010; WHO, Country Cooperation Strategy at a glance,<strong>China</strong>, http://www.who.int/countryfocus/cooperation_strategy/ccsbrief_chn_en.pdf,26.3.2009. Vergleiche dazu den Beitrag von Heinz Nissel, <strong>China</strong> – Demographie, 5670


Jahre beschränken. Aufgr<strong>und</strong> des niedrigen Ausgangsniveaus derVersorgung bedeuteten die sogenannten „bloßfüßigen“ Ärzte einenerheblichen Fortschritt. Mit Beginn der Reformpolitik wurde dieVersorgung zunehmend schlechter, da die finanzielle Ausstattung vonVersorgungseinrichtungen durch die Entkollektivierung vielfach nichtmehr gewährleistet war. Seit den 1980er-Jahren haben Patienten füreinen Krankenhausaufenthalt zu bezahlen, wozu die Landbevölkerungmangels Versicherung nicht in der Lage ist. Niedergelassene Ärzte gibtes kaum. Die vorhandenen Ärzte konzentrieren sich in den Städten, weiles dort eine zahlungskräftige Klientel gibt. Das Angebot geht hin bis zurSchönheitschirurgie, für die 2 Milliarden USD jährlich ausgegeben wird.Um eine tragfähige Ges<strong>und</strong>heitsversorgung sicherzustellen, wären einehalbe Millione Ärzte, gleichmäßig über das Land verteilt, notwendig, dieauch ein entsprechendes Salär erhalten müssten. 193 In den kommendendrei Jahren plant die Regierung die Errichtung von 29.000 Kliniken aufKommunalebene. Im urbanen Bereich sollen mehr als 10.000medizinische Versorgungseinrichtungen hinzukommen. Die großenSpitäler, deren Patienten zu 60% wegen kleinerer Gebrechen behandeltwerden, will man so entlasten. Dafür bedarf es einer entsprechendenAusstattung <strong>und</strong> gut ausgebildeten Personals, denn das Vertrauen in dieBasisversorgung ist gering. 194 Beim medizinischen Personal gibt eseinen hohen Nachholbedarf: 47% verfügen nur über einenMittelschulabschluss, lediglich 14% haben eine akademischeAusbildung. 195Das Wirtschaftspaket hat auch zur Diskussionen über mehr Offenheit inder politischen Kultur geführt. Vierzehn elder statesmen haben sich ineinem Brief an Präsident Hu Jintao <strong>und</strong> die Mitglieder des StändigenAusschusses des Politbüros gewandt <strong>und</strong> eine demokratische Kontrolledes Paketes <strong>und</strong> eine Lockerung der Zensur in diesem Zusammenhanggefordert. Die Schreiber befürchteten, dass Missbräuche zu einemschweren Vertrauensverlust der Menschen in die Partei führen könnten.193 Rural <strong>China</strong> misses 'barefoot doctors', http://www.atimes.com, 16.1.2009194 Hospital plan to aid grassroots, http://www.chinadaily.com.cn, 13.3.2009195 WHO, Country Health Information Profiles, <strong>China</strong>, 6971


Laut einer Agenturmeldung will die Staatsführung zumindest teilweisenEinblick in die Finanzgebarung geben. 196Durch die Unruhen in Xinjinag ist der Umstand verstärkt bewusstgeworden, dass <strong>China</strong> ein multiethnischer Staat ist. 56 Völker leben aufseinem Gebiet. 92% der 1,3 Milliarden Menschen zählendenBevölkerung sind Han, die als Staatsnation verteilt in ganz <strong>China</strong>leben. 197 Auch sie bilden sprachlich <strong>und</strong> kulturell keine Einheit: siebenoder acht Dialekte werden gesprochen, die sich wie etwa Deutsch vomDänischen unterscheiden. Die größte Minderheit sind diesüdchinesischen Zhuang, die 17 Millionen Menschen umfassen, diekleinste die Luoba, zu denen nicht einmal 3.000 Personen zählen.Gemessen an der Fläche gehören 64% <strong>China</strong>s zu „autonomen“ Gebieten,wenn auch dort vielfach die Han die Mehrheit stellen.In <strong>China</strong> gibt es eine lange Tradition, Minderheiten als kulturellzurückgeblieben zu betrachten <strong>und</strong> sie daher den Einflüssen der Han-Kultur zu unterwerfen. Dazu ist <strong>heute</strong> nicht unbedingt Druck nötig: überdie Medien <strong>und</strong> durch den Wirtschaftsboom fließt immer mehr Kulturdes Mehrheitsvolkes in die Welt der kleineren Völker ein.Selbstbestimmung <strong>und</strong> Unabhängigkeit, wie sie in Zeiten desBürgerkrieges als Möglichkeit dargestellt wurden, waren nach derGründung der Volksrepublik kein Thema mehr. Und auch kulturelle <strong>und</strong>religiöse Rechte existierten hauptsächlich in der Theorie. Bereits in derVergangenheit kam es immer wieder zu Aufständen diverser Völker.Während der „Kulturrevolution“, die Millionen Opfer kostete, fand eineerzwungene Assimilierung statt; religiöse Führer wurden verhaftet,Moscheen <strong>und</strong> Tempel geschlossen. Erst mit der Reformpolitik ab 1978entspannte sich die Lage <strong>und</strong> es wurden den Minderheiten spezielleRechte eingeräumt.Auch die Minderheitengebiete haben vom Wirtschaftsboom profitiert,insbesondere, wenn sie reiche Bodenschätze wie Xinjiang aufweisen.Die Schattenseiten machten sich aber ebenfalls bemerkbar:Umweltverschmutzung, höhere Bodenpreise bzw. Enteignungen von196 In Crisis, <strong>China</strong> Vows Openness, http://www.washingtonpost.com, 5.3.2009197 http://www1.chinaculture.org/library/2008-02/05/content_23849.htm, 20.7.200972


Land, Zuwanderung von Han, die meist bessere Jobs haben. Auch dasProblem der Korruption, das zwar im ganzen Land existiert, hat inMinderheitengebieten eine ethnische Komponente. Hier wird sie alschinesische Eigenschaft wahrgenommen. Hinzu kommt, dassMinderheitenregionen oft unterentwickelt sind. 60% der Armen leben indiesen Gebieten. All das nährt soziale Unzufriedenheit <strong>und</strong> führttemporär zu Aufruhr wie 2008 in Tibet <strong>und</strong> 2009 in Xinjiang. InXinjiang verbindet sich die ethnische <strong>und</strong> soziale mit der religiösenProblematik. Aus dem Ausland, besonders Afghanistan, unterstützt,breitet sich radikaler Islamismus aus, der auch zu terroristischen Mittelngreift. 198198 Stefan Simons, Useful Exotics. The Fate of <strong>China</strong>’s Minorieties,http://www.spiegel.de, 21.5.200973


8 ZusammenfassungHeinz NisselMit dem Zweiten Weltkrieg endete 1945 auch die japanischeOkkupation eines Teils <strong>China</strong>s. In Folge mündete der Bürgerkriegzwischen den Kommunisten unter Mao Tse-tong <strong>und</strong> der Kuomintangunter General Chiang Kai-Shek in einen Sieg der Kommunisten auf demFestland <strong>und</strong> die Ausrufung der Volksrepublik <strong>China</strong> 1949. 1950 wurdeein umfassender „Fre<strong>und</strong>schaftsvertrag“ mit der UdSSR über 30 Jahreabgeschlossen, wobei <strong>China</strong> zunächst aus russischer Position nur alsJuniorpartner gesehen wurde. In den 60er-Jahren kam es durch dieEntstalinisierung in der UdSSR, durch die Kubakrise, Grenzkonfliktezwischen beiden Staaten <strong>und</strong> die Breschnjew-Doktrin von der„beschränkten Souveränität“ sozialistischer Bruderländer zu einer immerstärkeren Entfremdung, 1969 zum Tiefpunkt mit dem Abzugsowjetischer Experten aus <strong>China</strong>. Erst in den letzten Jahren derSowjetunion verbesserten sich die Beziehungen, obwohl dieReformpolitik Gorbatschows Dengs Missfallen erregte. Auch diezunächst guten Beziehungen zu <strong>Indien</strong> wurden durch die Tibetfrage <strong>und</strong>gemeinsame Grenzkonflikte so sehr in Mitleidenschaft gezogen, dass es1962 zum offenen Krieg <strong>und</strong> einer schweren Niederlage <strong>Indien</strong>s kam.Als Folge begann damit die Aufrüstung <strong>Indien</strong>s <strong>und</strong> auch Pakistans <strong>und</strong>die langjährige Allianz <strong>China</strong> – Pakistan. Seit der Bandung-Konferenz1955 verstärkte <strong>China</strong> seine „antiimperialistische“ Außenpolitik in Asien<strong>und</strong> Afrika <strong>und</strong> unterstützte auch „nationale Befreiungsbewegungen“.Mit Beginn der 70er-Jahre erfolgte eine Kehrtwende mit einerAnnäherung an den Westen, insbesondere hin zu den USA <strong>und</strong> Japan,zugleich mit der Umgestaltung des chinesischen Wirtschaftssystems.Die Wirtschaft <strong>China</strong>s liegt gemessen am BIP (2009: 4,8 Billionen $)bereits an dritter Stelle weltweit hinter USA <strong>und</strong> Japan, gemessen an derKaufkraftparität (2009) sogar an zweiter Stelle. <strong>China</strong> ist seit 2009„Exportweltmeister“ <strong>und</strong> größter Automobilabsatzmarkt vor den USA.In den vergangenen 30 Jahren hat sich <strong>China</strong> von einer zentralenPlanwirtschaft zu einem offenen, marktorientierten System gewandelt.<strong>China</strong> bezeichnet diese spezifische Vorgangsweise als „sozialistischeMarktwirtschaft“ oder „Kapitalismus mit staatlichen Leitlinien“. Die74


jährliche Wachstumsrate lag im Durchschnitt der letzten 26 Jahre beiüber 9,5%, 2003 bis 2007 (vor der Finanzkrise) sogar im zweistelligenBereich. Dadurch gelang es, r<strong>und</strong> 200 Millionen Menschen über dieArmutsschwelle zu bringen. Aber noch immer müssen r<strong>und</strong> 500Millionen Einwohner mit weniger als 2$ pro Tag auskommen. DieKommunistische Partei besteht auf der Aufrechterhaltung der Kontrolleüber jene Teile der Wirtschaft, die sie als wesentlich zur Machterhaltungansieht. Der öffentliche Sektor wird von 159 Staatsunternehmen (StateOwned Enterprises/SOE) in wichtigen Bereichen wie Schwerindustrie<strong>und</strong> Energieversorgung dominiert. Insgesamt ist derzeit jedoch nur mehrein Drittel der Ökonomie staatlich kontrolliert (vor einem Jahrzehntwaren dies noch mehr als 80%). Heute steht der private Sektor bereitsfür r<strong>und</strong> 60% des BIP-Wachstums sowie für zwei Drittel der neugeschaffenen Arbeitsplätze. Der Übergang zur Marktwirtschaft hatjedoch zu ungleichem Wachstum geführt, besonders ausgeprägt sind dieGegensätze zwischen Stadt <strong>und</strong> Land sowie jene zwischenKüstenregionen (Sonderwirtschaftszonen) <strong>und</strong> dem Binnenland. In denJahren 2007 bis 2009 hat sich das Wirtschaftswachstum deutlichverringert, im ersten Quartal 2009 gab es eine Steigerung von „nur“6,1%, dem niedrigsten Wachstum seit 1992. Es gibt jedoch bereitsdeutliche Anzeichen einer Erholung, vor allem durch staatlicheKonjunkturprogramme (überwiegend Projekte zur Verbesserung derInfrastruktur). Die makroökonomische Gr<strong>und</strong>lage bleibt solide – dieStaatsschulden betragen nur 18,2% des BIP, es gibt einenHaushaltsüberschuss <strong>und</strong> <strong>China</strong> besitzt die weltweit größtenDevisenreserven. <strong>China</strong>s ökonomische Lage verschafft dem Land einenwachsenden Einfluss auf der globalen Ebene, gerade auch in derKonkurrenz mit anderen Großmächten.<strong>China</strong> hat in nur 60 Jahren seit der Staatsgründung eine weltweiteinzigartige, dramatische Abnahme seiner Geburten- <strong>und</strong> Sterberatenerlebt. Mit r<strong>und</strong> 1,3 Milliarden Bewohnern bleibt <strong>China</strong> noch für weitere20 Jahre das bevölkerungsreichste Land der Erde, bevor es von <strong>Indien</strong>abgelöst werden wird. Weniger Geburten, ein späteres Heiratsalter sowieeine deutlich gestiegene Lebenserwartung verändern dieFamilienstrukturen <strong>und</strong> bringen neue Herausforderungen in Politik,Wirtschaft <strong>und</strong> Gesellschaft. Das international wohl bekannteste75


Element der chinesischen Bevölkerungsmaßnahmen ist die staatlichverordnete Ein-Kind-Politik, deren negative Auswirkungen das Land inden kommenden Jahrzehnten vor ernste Probleme stellen dürfte.Andererseits wäre der phänomenale Aufstieg der Wirtschaft <strong>China</strong>s ohnegravierende demographische Eingriffe nicht möglich gewesen. Dieweltweit einzigartigen Wachstumsraten der Ökonomie zeigen innerhalbdes Landes zwangsläufig auch negative Begleiterscheinungen, dazuzählen die ständig wachsenden Einkommensdisparitäten, dieansteigenden Niveauunterschiede in der medizinischen Versorgung, dieMassenmigration von Wanderarbeitern <strong>und</strong> die rücksichtsloseInanspruchnahme ökologischer Ressourcen. Die Auswirkungen diesernegativen Effekte lassen sich (noch) nicht genau abschätzen, werdenaber mittel- bis langfristig sicher zur Nagelprobe für das Regime werden<strong>und</strong> auch weltweit zu spüren sein. Die chinesische Regierung scheint imGefolge der Weltfinanzkrise in jüngster Zeit diese Probleme jedocherkannt zu haben <strong>und</strong> ist dabei, massiv in das Bildungssystem <strong>und</strong> in diebreite medizinische Versorgung zu investieren <strong>und</strong> hinsichtlich derdrängenden Umweltfragen eine dramatische Kehrtwende „vom Sauluszum Paulus“ vorzunehmen.Drei Jahrzehnte Reformpolitik haben die Lebensbedingungen derMenschen in <strong>China</strong> gr<strong>und</strong>legend geändert. Aus der überwiegendenMehrheit besitz- <strong>und</strong> rechtloser Bauern bis zum Tod Maos entwickeltesich eine differenzierte Gesellschaft mit einer neuen Mittelschicht <strong>und</strong>auch „Superreichen“. Nicht geändert haben sich das Primat <strong>und</strong> dieautoritäre Herrschaft der KPCh. Für die Mehrheit der Bevölkerunghaben sich die Einkommensverhältnisse sowie die Lebensqualitätdeutlich verbessert. Die Angaben zum Ausmaß der Armutsreduktionschwanken jedoch nach unterschiedlichen Quellen beträchtlich. Einhäufiger Gr<strong>und</strong> für Proteste der Landbevölkerung liegt im Entzug vonLand für wirtschaftliche Zwecke oder zur Stadtentwicklung(Zwangsenteignungen). Weitere Ursachen sozialer Spannungen liegen inder grassierenden Korruption <strong>und</strong> in der Umweltdegradation. In denletzten Jahren ist die Bereitschaft zu Massenprotesten angestiegen, dochreagiert der Staat mit harter Hand (vgl. jüngste Unruhen in Tibet <strong>und</strong>Xinjiang). Zu den ungelösten Problemen gehört auch das große Potentialüberschüssiger Arbeitskräfte im Primärsektor, das zu dem76


Massenphänomen der Wanderarbeiter geführt hat. 2008 betrug ihreAnzahl 225 Millionen, von denen 140 Millionen außerhalb ihresHeimatbezirks arbeiteten. Im März 2009 waren 25 Millionen aufArbeitssuche. Experten fordern deshalb, dass <strong>China</strong> seineWirtschaftsstrategie nicht mehr (nur) auf Wachstum ausrichtet, sondernauf Beschäftigung.8.1 Zusammenfassung Sicherheit <strong>und</strong> MilitärHeinz Nissel, Daniel WelserMilitärisch-strategisches Hauptproblem bleibt die Lösung der Taiwan-Frage. Obwohl sich die politischen Beziehungen zwischen <strong>China</strong> <strong>und</strong>Taiwan stark verbessert haben, ist man von militärischer Entspannungnoch weit entfernt. Die chinesische Anti-Access-Strategie setzt vor allenDingen die USA unter Druck <strong>und</strong> zwingt sie dazu, ihre Taiwan-Strategiezu überdenken <strong>und</strong> anzupassen. Die in den USA laut werdendenStimmen, die eine Reduzierung der Hilfe für Taiwan fordern, setzenTaiwan sowohl politisch als auch militärisch unter Druck. Derzukünftige Kurs der USA muss in dieser Hinsicht genau beobachtetwerden, ein Indikator dafür ist etwa der Verkauf/Nichtverkauf dergeforderten F-16-Kampfflugzeuge an Taiwan. Generell ist <strong>China</strong> darangelegen, die USA aus dem eigenen Einflussbereich zurückzudrängen.<strong>China</strong> hat bei der Modernisierung seines Militärs bereits großeLeistungen vollbracht, es bleibt aber vielfach Verbesserungsbedarf. DieKapazitäten in den Bereichen Joint Operations, Hochseeoperationen,amphibische Kriegsführung, Lufttransport, Aufklärung <strong>und</strong>Luftbetankung bedürfen weiteren Ausbaus.Die Fortschritte in der chinesischen Raketentechnologie sind auch imZusammenhang mit dem Aufbau von Raketenabwehrsystemen in <strong>China</strong>sNachbarländern zu sehen. <strong>China</strong> wird in naher Zukunft von allen Seitenvon modernen Raketenabwehrsystemen umgeben sein, von denen vielein Zusammenarbeit mit den USA errichtet werden. Das chinesischeNuklearpotential wird stetig ausgebaut <strong>und</strong> dürfte jetzt bei 200 bis 240Gefechtsköpfen liegen, etwa in der Größenordnung zwischen Frankreich<strong>und</strong> Großbritannien.77


Insgesamt ist zu bemerken, dass sich die Volksbefreiungsarmee in einerÜbergangsphase hin zu einer umfassenden Modernisierung befindet. DieVerteidigungsausgaben weisen jährlich hohe Zuwachsraten auf, doch istdas konkrete Ausmaß der Steigerung unter Experten umstritten. Mit dergrößten Militärmacht, den USA, kann es <strong>China</strong> noch nicht aufnehmen.Die Führung des Landes ist bestrebt, die bestehenden Defiziteauszugleichen <strong>und</strong> den Abstand aufzuholen. 199199 Brune, Sophie-Charlotte, Lange, Sascha, Oertel, Janka, <strong>China</strong>s militärischeEntwicklung. Modernisierung <strong>und</strong> Internationalisierung der Streitkräfte (Berlin 2009),S. 2078


2. TEILINDIEN79


1. EinleitungIn Medien <strong>und</strong> Diskussionsbeiträgen war in den letzten Jahren viel vomAufschwung <strong>China</strong>s zu lesen <strong>und</strong> zu hören. Ein wenig ins Abseits deröffentlichen Aufmerksamkeit ist dabei <strong>Indien</strong>, die größte Demokratie derWelt, geraten, die ebenfalls eine rasante Aufwärtsentwicklungverzeichnet. Vom einstigen Verbündeten der Sowjetunion mit einemdirigistischen Wirtschaftssystem hat sich <strong>Indien</strong> zu einer westlichenMarktwirtschaft entwickelt, die – im Unterschied zu <strong>China</strong> – über einedemokratische Ordnung <strong>und</strong> ein ausdifferenziertes Parteiensystemverfügt. <strong>Indien</strong> ist dadurch transparenter geworden. Nach Ende desKalten Krieges, insbesondere nach „09/<strong>11</strong>“, hat sich <strong>Indien</strong> den USAzugewandt <strong>und</strong> das Verhältnis zu <strong>China</strong> verbessert, während Russland inseiner Bedeutung abgenommen hat. Ständiges Konfliktpotential bildenseit der Staatsgründung 1947 die Beziehungen zu Pakistan; eineVerschärfung der Situation <strong>und</strong> eine Eskalation der Lage sind jederzeitmöglich.Die vorliegende Studie gibt einen Überblick über die aktuelle Situation<strong>Indien</strong>s <strong>und</strong> legt so die Ausgangslage für die weitere Entwicklung desLandes dar. Sie will keine umfassenden Detailanalysen bieten, sonderndem Leser die wichtigsten Fakten über einen Staat präsentieren, mit demÖsterreich nur vereinzelte Berührungspunkte hat. Aufgeschlüsselt ist dieStudie in zentrale Themenbereiche, die für die Außen- <strong>und</strong>Sicherheitspolitik von Relevanz sind.An den Beginn gestellt ist ein historischer Abriss, verb<strong>und</strong>en mit einerSkizzierung der gegenwärtigen sicherheitspolitischen Situation <strong>Indien</strong>s.Damit soll die Ausgangsbasis der indischen Politik dargelegt werden,rührt doch der Konflikt mit Pakistan aus der Gründerzeit beider Staatenbzw. dem Zusammenbruch des British Empire. Ein weiterer Beitragwidmet sich der Wirtschaft <strong>Indien</strong>s, die ähnlich beeindruckendeSteigerungen wie die <strong>China</strong>s aufweist, <strong>und</strong> wo es gleichfalls umMinderung sozialer Gegensätze geht, damit diese nicht in politischeDestabilisierung münden. Angesichts des Dauerkonflikts mit Pakistan,verschärft durch Aktionen von Terrorgruppen, sind <strong>Indien</strong>s Armee <strong>und</strong>ihre Rüstung von hoher Relevanz für die Außenpolitik. Im80


zweiteinwohnerreichsten Land der Welt ist die Demographie vongroßer Bedeutung für die Kohäsion des Staates, da es bei allendemographischen Faktoren große Unterschiede zwischen diversensozialen Gruppen <strong>und</strong> Regionen gibt, die in politische Konfrontationenmünden (können). Ein weiteres Kapitel befasst sich mit Staat <strong>und</strong>Politik <strong>und</strong> erläutert die indische Parteienlandschaft <strong>und</strong>Besonderheiten der indischen Demokratie, die für das Verständnis derpolitischen Willensbildung in <strong>Indien</strong> zentral sind. Bei einer Analyse<strong>Indien</strong>s ist zu berücksichtigen, dass das Land weder in sozialer, noch inreligiöser, sprachlicher oder ethnischer Hinsicht eine Einheit bildet, waswiederum in der politischen Struktur Niederschlag findet. Einabschließendes Kapitel ist der Gesellschaft <strong>Indien</strong>s, ihrer Gliederung<strong>und</strong> ihren Konflikten gewidmet. Dieses Kapitel beleuchtet ein besondersPhänomen der indischen Gesellschaftsordnung, die Kasten. Es geht aberauch um soziale Konflikte, die zum Teil in bürgerkriegsähnlichenZuständen ihren Ausdruck finden <strong>und</strong> die innere Stabilität erschüttern.Alle Themenbereiche werden getrennt abgehandelt, sind aber als Einheitzu sehen, da Außen- <strong>und</strong> Sicherheitspolitik von diesen als Parameternbestimmt werden. Sicherheitspolitik weist in <strong>Indien</strong> auch eine starkeinnenpolitische Dimension auf. Demographische, wirtschaftliche <strong>und</strong>gesellschaftliche Gegebenheiten sind mit ihr gekoppelt zu sehen; siekönnen in Konflikte <strong>und</strong> letztlich in Eskalation derselben münden.Maßnahmen in den genannten Bereichen haben somit umgekehrtAuswirkungen auf die Sicherheitslage, indem Disparitäten <strong>und</strong>Unzufriedenheit gemildert werden <strong>und</strong> Konflikten die Spitze genommenwird oder aber durch nachteilige Entscheidungen das Gegenteil bewirktwird. Gerade was den Konflikt mit Kaschmir betrifft, wird vomNachbarn Pakistan unmittelbar auf <strong>Indien</strong> eingewirkt, indem Freischärler<strong>und</strong> Terroristen aus Islamabad unterstützt werden.81


2. Sicherheitspolitische Entwicklung <strong>Indien</strong>sGerald Brettner-MesslerDer moderne indische Staat ging 1947 aus dem Kaiserreich Britisch-<strong>Indien</strong> hervor. Signifikant ist, dass <strong>Indien</strong> seit der Gründung eineDemokratie ist. Diese war allerdings durch die Vorrangstellung einereinzelnen Partei geprägt, der Kongresspartei, die von der FamilieGandhi/Nehru kontrolliert wurde. Um Differenzen zwischen Hindus <strong>und</strong>Muslimen zu verhindern, wurde in der Verfassung die Trennung vonKirche <strong>und</strong> Staat verfügt. Eigenständigkeit <strong>und</strong> Unabhängigkeit warendie wesentlichen Züge indischer Außenpolitik. 200 Die Größe des Landes,seine Lage <strong>und</strong> die uralte Kultur waren für den erstenMinisterpräsidenten (<strong>und</strong> gleichzeitigen Außenminister) JawaharlalNehru die Gr<strong>und</strong>lage, für <strong>Indien</strong> eine wesentliche Rolle iminternationalen politischen System zu beanspruchen.Als ehemalige Kolonie wollte <strong>Indien</strong> die Dekolonialisierungsbewegunganführen. Diese Haltung fand ihren Ausdruck auch in dem Vertrag mit<strong>China</strong> von 1954, der auf der Gr<strong>und</strong>lage der fünf Prinzipien friedlicherKoexistenz beruhte: Achtung territorialer Integrität <strong>und</strong> Souveränität,gegenseitiger Gewaltverzicht, Nichteinmischung in innereAngelegenheiten, Gleichheit <strong>und</strong> gegenseitige Unterstützung. Nehruverwendete für die politische Position <strong>Indien</strong>s die Bezeichnung Non-Alignment, um die Unabhängigkeit von den Großmächten zudemonstrieren. Diese Politik der Blockfreiheit, durch die den Einflüssenvon USA <strong>und</strong> Sowjetunion <strong>und</strong> deren Verbündeten Grenzen gesetztwerden sollten, implizierte aber sehr wohl ein Großmachtdenken, daeben diese Unabhängigkeit als Zeichen von Stärke aufgefasst wurde.Nehru wollte keine militärische Absicherung seiner Politik, sondernverließ sich auf die zivilisatorische Kraft <strong>Indien</strong>s. 201 Er war gegenüberdem Militär misstrauisch <strong>und</strong> bestrebt, dessen Einfluss zu begrenzen,weil er dessen überproportionale Machtzunahme wie in Pakistan200 Wagner, Christian: Die „verhinderte“ Großmacht. Die Außenpolitik der IndischenUnion, 1947-1998, Baden-Baden 2005, S. 71, 76, 79201 Ebd., S. 84 f.82


efürchtete. Auch in der Folge wurde die indische Armee keininnenpolitischer Machtfaktor. 202Nehrus Politik wurde von seiner Tochter Indira Gandhi in modifizierterForm fortgeführt. Sie strich häufiger die nationalen Interessen <strong>Indien</strong>shervor <strong>und</strong> trat auch für ein entsprechendes militärisches Potential<strong>Indien</strong>s ein. Emanzipatorische Züge der Außenpolitik zeigten sich imEintreten für die Dritte Welt, aber auch in der ablehnenden Haltunggegenüber dem südafrikanischen Apartheid-Regime <strong>und</strong> im Eintreten fürdie Sache der Palästinenser.<strong>Indien</strong> machte in diesen Jahren deutlich, dass es sich als regionaleOrdnungsmacht begriff. Die sogenannte Indira-Doktrin – nach derMinisterpräsidentin benannt, nicht aber von ihr formuliert – besagte,dass Konflikte, die Nachbarstaaten betreffen, nur mit Hilfe <strong>Indien</strong>s <strong>und</strong>ohne andere Mächte beizulegen wären. In diesem Sinne wandte sich<strong>Indien</strong> gegen die Errichtung ausländischer Militärbasen in der Region<strong>und</strong> im Indischen Ozean <strong>und</strong> trat für die Demilitarisierung desselben ein.Am deutlichsten trat dieses Selbstverständnis in der Entwicklung vonNuklearwaffen zutage. Die technischen Voraussetzungen lieferten zueinem Großteil die USA <strong>und</strong> Kanada. 1974 führte <strong>Indien</strong> den ersten Testdurch. Folge war, dass Pakistan nun mit Nachdruck an der Beschaffungsolcher Waffen arbeitete, die USA aber restriktive Maßnahmen zurVerhinderung einer weiteren Verbreitung ergriffen. <strong>Indien</strong> hielt an demStatus einer Nuklearmacht fest <strong>und</strong> verweigerte daher dieUnterzeichnung des Nichtverbreitungsvertrages. 203Einer der brisantesten Konflikte im südasiatischen Raum ist jenerzwischen <strong>Indien</strong> <strong>und</strong> Pakistan. Er geht auf die Zeit der Unabhängigkeitder beiden Staaten von Großbritannien zurück. Dass es nach demRückzug der Kolonialmacht zur Gründung zweier Staaten kam,entsprang den Bestrebungen der Muslim-Liga unter ihrem FührerMuhammed Ali Jinnah, den indischen Muslimen einen eigenen Staat zugeben. Weltanschaulich fußte diese Politik auf Jinnahs Zwei-Nationen-202 Ebd., S. 93203 Miller, Marvin and Scheinman, Lawrence: Israel, India, and Pakistan: Engaging theNon-NPT States in the Nonproliferation Regime,http://www.armscontrol.org/act/2003_12/MillerandScheinman, 12.5.201083


Theorie, die eine nationale Trennlinie entlang des religiösenBekenntnisses propagierte. Geographisch war eine solche Sezession nurinsofern möglich, als mehrheitlich muslimische von mehrheitlichhinduistischen Regionen getrennt wurden, womit die muslimischeDiaspora im Norden <strong>und</strong> Süden <strong>Indien</strong>s politisch fallengelassen wurde.Jene Gebiete, wo Muslime eine Minorität bildeten, kamen zu <strong>Indien</strong>. Dasich die Regionen mit muslimischer Mehrheit im äußersten Osten <strong>und</strong>Westen der ehemaligen Kolonie befanden, bestand der neue StaatPakistan aus zwei Teilen, die 1.500 km voneinander entfernt waren.Gandhi lehnte diese Trennung als „Vivisektion <strong>Indien</strong>s“ ab, konnte sichaber gegen Jinnah nicht durchsetzen. Auch der Name des neuen Staateswar ein Kunstprodukt: „Pakistan“ ist ein Akronym, gebildet aus denProvinznamen Punjab, Afghan Province, Kashmir, Sindh <strong>und</strong>Baluchistan. 204 Resultat dieser Lösung waren Flüchtlingsbewegungenvon 15 Millionen Menschen, begleitet von Massakern, denen zwischen500.000 <strong>und</strong> einer Million Menschen zum Opfer fielen.Bis <strong>heute</strong> umstritten ist die Zugehörigkeit von Kaschmir zu einem derbeiden Staaten. Kaschmir war mehrheitlich muslimisch (sunnitisch <strong>und</strong>schiitisch) <strong>und</strong> wurde daher von Pakistan reklamiert. <strong>Indien</strong> befürchtetenegative sicherheitspolitische Konsequenzen, wenn diese Unruheprovinznicht von ihm kontrolliert werden würde. Die Interpretation derEreignisse, die 1947 zum Streit um die staatliche Zugehörigkeit geführthaben, ist bis <strong>heute</strong> kontrovers. Damals brach ein von Pakistanunterstützter Aufstand gegen den Maharaja Hari Singh aus. DerMaharaja wandte sich an <strong>Indien</strong> um Hilfe <strong>und</strong> erklärte gleichzeitig denBeitritt des Landes zur Indischen Union. Indische Truppen überschrittendaraufhin die Grenze zu Kaschmir. Nun schaltete sich auch diepakistanische Armee ein. <strong>Indien</strong> brachte den Fall schließlich vor die UN,konnte aber seine Position nicht in der gewünschten Weise durchsetzen.Besonders nachteilig war, dass <strong>Indien</strong> einer Volksabstimmung über diestaatliche Zugehörigkeit das Wort redete, aber gleichzeitig auf dieBeitrittserklärung pochte. Über Vermittlung der UN kam einWaffenstillstand zustande <strong>und</strong> eine Volksabstimmung (die nieabgehalten wurde) sollte über Kaschmirs Zukunft entscheiden. Der204 Rotherm<strong>und</strong>, Dietmar: Geschichte <strong>Indien</strong>s. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart,München 2002, S. 90-9684


Waffenstillstand wurde am 27. Juli 1949 unterzeichnet, Kaschmir defacto geteilt. Nach diversen vergeblichen Vermittlungsversuchen wolltePakistan das Problem 1965 militärisch lösen. Der Führung war klar, dass<strong>Indien</strong> langfristig überlegen sein würde, da es nach der Niederlage imGrenzkrieg 1962 mit <strong>China</strong> massiv nachzurüsten begonnen hatte. DerZeitpunkt für eine militärische Lösung erschien damals noch als günstig.Der Militärschlag misslang aber aufgr<strong>und</strong> indischer Gegenmaßnahmen.Ein Waffenembargo gegen beide Seiten zeigte <strong>Indien</strong> seineAbhängigkeit von Waffenimporten <strong>und</strong> führte zur Initiative für eineeigene Rüstungsindustrie.Die nächste bewaffnete Auseinandersetzung zwischen <strong>Indien</strong> <strong>und</strong>Pakistan war eine Folge des pakistanischen Bürgerkrieges, der 1971zwischen dem Ost- <strong>und</strong> dem Westteil ausbrach. R<strong>und</strong> 10 MillionenMenschen flüchteten aus Ostpakistan nach <strong>Indien</strong>, das dieostpakistanischen Guerillas bei der Ausbildung <strong>und</strong> Versorgungunterstützte. Nach ersten Scharmützeln eskalierte der Konflikt in einenformellen Krieg beider Staaten. Das überlegene <strong>Indien</strong> besiegte Pakistannach wenigen Tagen. 1972 wurden im Vertrag von SimlaWaffenstillstandsbedingungen <strong>und</strong> eine Line of Control festgelegt.Ostpakistan wurde als neuer Staat Bangladesch unabhängig. 205 In denersten Jahren der Unabhängigkeit waren die Beziehungen zwischen<strong>Indien</strong> <strong>und</strong> Bangladesch sehr eng. Das änderte sich nach dem Putsch derArmee 1975, als sich das Land stärker nach <strong>China</strong>, den Golfstaaten <strong>und</strong>dem Westen ausrichtete. Streitfaktoren waren der Grenzverlauf,Minderheiten <strong>und</strong> die Wasserverteilung des Ganges (letztere wurde 1990durch einen Vertrag geregelt). 206Der Krieg hatte auch Auswirkungen auf die weltpolitische Lage. Da<strong>Indien</strong> rüstungstechnisch nicht vom Westen abhängig sein wollte <strong>und</strong>Konkurrent <strong>China</strong> <strong>und</strong> die USA sich einander annäherten, wurde 1971von Indira Gandhi ein Fre<strong>und</strong>schaftsvertrag mit der Sowjetunionabgeschlossen. Ein neuerlicher Rüstungswettlauf setzte ein, nachdem dieSowjetunion mit der Intervention in Afghanistan begonnen hatte. Die205 Wagner, Christian: Die „verhinderte“ Großmacht. Die Außenpolitik der IndischenUnion, 1947-1998, Baden-Baden 2005, S. 97-107206 Ebd., S. <strong>11</strong>8-120, 27485


USA unterstützten nun Pakistan durch Waffenlieferungen, um von dieserSeite Druck auf die afghanische Regierung <strong>und</strong> ihren VerbündetenMoskau aufzubauen. <strong>Indien</strong> wiederum befürchtete, dass neues Gerät wiedie F-16-Kampfflugzeuge nicht gegen Afghanistan, sondern gegen<strong>Indien</strong> eingesetzt werden könnte, <strong>und</strong> startete ein groß angelegtesRüstungsprogramm. Die Kooperation mit der Sowjetunion machte sichdurch einen damit verb<strong>und</strong>enen technologischen Vorsprung bezahlt.Eigene Raketen wurden entwickelt, die MIG-29 als erstes nach <strong>Indien</strong><strong>und</strong> nicht in die Warschauer-Pakt-Staaten exportiert <strong>und</strong> auch die Marinewuchs mit Atom-U-Booten <strong>und</strong> einem Flugzeugträger zu einemrelevanten Machtfaktor heran.1984 kam mit Kaschmir ein zweiter Grenzkonflikt hinzu. Am Siachen-Gletscher im Karakorum war nie eine Grenzziehung erfolgt, nun aberbesetzten die indischen Streitkräfte hier Positionen – aufgr<strong>und</strong> dergeographischen Lage ein kostspieliges Unterfangen. Befürworter sehendie strategische Bedeutung des Gebietes in der Verhinderung einerengeren territorialen Verbindung zwischen den Verbündeten Pakistan<strong>und</strong> <strong>China</strong>. Wenn es auch zwischen <strong>Indien</strong> <strong>und</strong> Pakistan zu keinemKrieg mehr kam, gab es doch immer wieder bewaffneteAuseinandersetzungen an der Line of Control <strong>und</strong> am Siachen-Gletscher.Trotz diplomatischer Bemühungen um eine Verbesserung derBeziehungen <strong>und</strong> verschiedener vertrauensbildender Maßnahmen konntekein Durchbruch zur Beilegung des Konflikts erzielt werden. Einwesentlicher Gr<strong>und</strong> dafür ist, dass die Kaschmir-Frage dasgr<strong>und</strong>sätzliche Selbstverständnis beider Staaten berührt: Für Pakistangeht es um die staatliche Zusammengehörigkeit der Muslime <strong>und</strong> dieSelbstbestimmung, für <strong>Indien</strong> ist die Zugehörigkeit Kaschmirs einBekenntnis zum pluralistischen Charakter der Union. 207Ende der 1970er-Jahre gab es zwischen Sri Lanka <strong>und</strong> Bangladesch dieersten Gespräche über eine stärkere regionale Zusammenarbeit inSüdasien. Gr<strong>und</strong>gedanke war, im Rahmen einer solchenZusammenarbeit gegenüber dem größten Staat der Region, <strong>Indien</strong>, mehrEinfluss geltend machen zu können. 1983 wurde die Erklärung übersüdasiatische regionale Kooperation verabschiedet, 1985 die South Asian207 Ebd., S. 106, 109-<strong>11</strong>686


Association for Regional Cooperation (SAARC) von <strong>Indien</strong>, Pakistan,Bangladesch, Bhutan, Nepal, Sri Lanka <strong>und</strong> den Malediven ins Lebengerufen. Sie ist das einzige südasiatische Regionalforum. Aufgr<strong>und</strong>diverser Konflikte der Teilnehmerstaaten wurde Einstimmigkeit beiEntscheidungen festgelegt. Strittige Themen sollten nicht Gegenstandvon Erörterungen sein. Obwohl Wirtschafts- <strong>und</strong> Sozialfragen imVordergr<strong>und</strong> stehen <strong>und</strong> die SAARC kein Sicherheitsforum ist, ist dieallgemeine politische Bedeutung hoch, da informelle Gespräche amRande der Gipfeltreffen den Staats- <strong>und</strong> Regierungschefs Gelegenheitzur Erörterung diverser Fragen geben. So wurde auf dem Gipfel 1988zwischen <strong>Indien</strong> <strong>und</strong> Pakistan eine Abmachung getroffen, nukleareAnlagen im Kriegsfall nicht anzugreifen. 208Versuche <strong>Indien</strong>s in den 1970er- <strong>und</strong> 1980er-Jahren, sich als regionaleOrdnungsmacht zu etablieren, waren nur teilweise erfolgreich.Gegenüber den Himalaya-Staaten Nepal, Bhutan <strong>und</strong> Sikkim konnte<strong>Indien</strong> seine Interessen durchsetzen, in Bangladesch <strong>und</strong> Sri Lanka wardiesen Versuchen kein dauerhafter Erfolg beschieden. In Sri Lankawollte <strong>Indien</strong> zur Lösung des Konfliktes zwischen der singhalesischenBevölkerungsmehrheit <strong>und</strong> den aus Südindien stammenden Tamilenbeitragen, die ab Ende der 1970er-Jahre nach einem unabhängigen Staatstrebten. 1983 eskalierte der Konflikt in einen Bürgerkrieg. <strong>Indien</strong> wollteim Hinblick auf die Tamilen im eigenen Land keinen eigenen Staat <strong>und</strong>auch keine Einmischung Dritter. 1987 wurde ein Vertrag mit Sri Lankaunterzeichnet, in dessen Folge eine Verwaltungsreform vorgenommen<strong>und</strong> eine indische Peace-Keeping-Force stationiert wurde. Der Aufstandkonnte so nicht beendet werden, stattdessen wurden die indischenTruppen in die Kämpfe verwickelt. 1990 zog <strong>Indien</strong> seine Soldaten ab,ohne dass eine Lösung erreicht worden wäre. 209Die Beziehungen zwischen <strong>China</strong> <strong>und</strong> <strong>Indien</strong> gestalteten sich auf NehrusBetreiben zunächst positiv. Nehru sah in <strong>China</strong> einen Verbündeten beiden antikolonialistischen Bestrebungen <strong>und</strong> unterstützte dieneugegründete VR <strong>China</strong>, für deren Aufnahme in die UN er sichverwendete. Offene Grenzfragen verb<strong>und</strong>en mit der Konkurrenz um208 Ebd., S. 151-157209 Ebd., S. 136-14787


internationalen Einfluss <strong>und</strong> Status ließen die Kooperation bald inKonfrontation umschlagen. Der genaue Verlauf der Staatsgrenze warnicht definiert <strong>und</strong> nach dem Einmarsch in Tibet 1950 gewann dieseFrage für <strong>Indien</strong> an Dringlichkeit. Im chinesisch-indischen Vertrag von1954 wurde die chinesische Oberhoheit über Tibet anerkannt, andereTerritorialfragen blieben offen. Umstritten war das Aksai Chin (ein TeilKaschmirs), ein Gebiet zwischen Tibet <strong>und</strong> dem B<strong>und</strong>esstaat UttarPradesh <strong>und</strong> Arunachal Pradesh. 1954 kam es zu ersten Scharmützeln.1959 floh der Dalai Lama nach <strong>Indien</strong>, durfte allerdings keineExilregierung bilden. Das Aksai Chin gewann damit eine zusätzlichestrategische Bedeutung. <strong>China</strong> forderte nun eine generelle Neuregelungdes Grenzverlaufes. Beide Seiten reklamierten ihre Ansprüche mittelsdes Militärs. 1961 wurden die diplomatischen Beziehungen eingestellt(<strong>und</strong> erst 1976 wieder aufgenommen). Der militärische Angriff <strong>China</strong>s1962 kam für <strong>Indien</strong> trotzdem überraschend <strong>und</strong> endete mit einerNiederlage.Mit dem Krieg, der einen schweren Schlag für die Stellung <strong>Indien</strong>s alsMachtzentrum bedeutete, endete die Politik der Zusammenarbeit mit<strong>China</strong> endgültig, <strong>und</strong> <strong>Indien</strong> setzte fortan stärker auf einemachtpolitische Absicherung seiner Positionen. Im indischpakistanischenKrieg stellte <strong>China</strong> ein Ultimatum für einenTruppenabzug <strong>Indien</strong>s aus dem umstrittenen Grenzbereich <strong>und</strong> machteklar, dass es einen Angriff auf Ostpakistan nicht dulden würde. In derFolge nahm <strong>Indien</strong> diplomatische Beziehungen zu Taiwan auf <strong>und</strong>anerkannte den Dalai Lama als Haupt einer Exilregierung. Mit derAbtretung eines von <strong>Indien</strong> reklamierten Teiles Kaschmirs durchPakistan an <strong>China</strong> gewann der Kaschmir-Konflikt eine zusätzlicheDimension. <strong>China</strong> wiederum konnte 1975 die Angliederung Sikkims an<strong>Indien</strong> nicht verhindern. Eine Verbesserung der Beziehungen begann mitMaos Tod 1976. Diese Entwicklung stand auch im Zusammenhang miteiner Entspannung der chinesisch-sowjetischen Beziehungen, die <strong>China</strong>verbesserte Kontakte zu <strong>Indien</strong> als Verbündetem der UdSSR suchen ließ.<strong>China</strong> begann die Kaschmir-Frage als bilaterales Problem zu sehen <strong>und</strong>über die Grenzfrage sollte wieder verhandelt werden. In den 1980er-Jahren wurde eine Reihe bilateraler Gespräche geführt <strong>und</strong> auch diverseAbkommen unterzeichnet, wenngleich der Grenzkonflikt oder die88


Rüstungskooperation zwischen <strong>China</strong> <strong>und</strong> Pakistan immer wieder zuFriktionen führten. 210Stabil gestalteten sich die Beziehungen zur Sowjetunion, die anfänglichden „dritten Weg“ Nehrus abgelehnt hatte. Die Haltung <strong>Indien</strong>szugunsten der UdSSR <strong>und</strong> <strong>China</strong>s während des Korea-Krieges brachteeine erste Annäherung, die sich bis Mitte der 1950er-Jahre weiterverstärkte. <strong>Indien</strong> unterstützte in der Indochina-Frage sowjetischePositionen <strong>und</strong> wandte sich gegen die antikommunistisch orientiertenregionalen Sicherheitsbündnisse Southeast Asia Treaty Organization <strong>und</strong>Central Treaty Organization, die von den USA dominiert wurden <strong>und</strong>bei denen auch Pakistan Mitglied war. Die wirtschaftlichen Kontaktewurden in diesen Jahren gleichfalls enger. Trotzdem befanden sich beidenicht immer auf einer Linie. Die Haltung der UdSSR im indischchinesischenKrieg war schwankend, im indisch-pakistanischen Kriegagierte sie als Vermittler. Umfangreiche Rüstungslieferungen wie MiG-Kampfflugzeuge <strong>und</strong> Panzer an <strong>Indien</strong> gab es trotzdem. (Das hindertedie Sowjets allerdings nicht, auch mit Pakistan Rüstungsgeschäfte zumachen.) Ein weiteres wichtiges sowjetisches Exportgut war Erdöl. Mitdem indisch-sowjetischen Fre<strong>und</strong>schaftsvertrag von 1971 rückten beidenoch näher aneinander. <strong>Indien</strong> verfolgte aber weiter seineneigenständigen außenpolitischen Kurs, wobei die UdSSR kaum Druckauf <strong>Indien</strong> ausübte, sich mehr an der Sowjetunion zu orientieren, da dasLand wirtschaftlich <strong>und</strong> politisch ein zu wertvoller Partner war. <strong>Indien</strong>war das nicht-kommunistische Land mit der höchsten sowjetischenEntwicklungshilfe. Maßnahmen wie das indische Nuklearprogrammstießen aber auf sowjetische Kritik. 2<strong>11</strong>Zu den USA war das Verhältnis, obwohl beide Staaten Demokratienwaren, distanziert. <strong>Indien</strong> verfolgte einen eigenständigen Kurs, währenddie USA <strong>Indien</strong> eine Funktion beim Containment des Kommunismuszudachten. Die Annäherung der beiden wurde besonders durch die engenBeziehungen der USA zu Pakistan erschwert, welches ein wichtiger <strong>und</strong>loyaler Verbündeter der USA war. Ihn wollte man nicht durch ein zuenges Verhältnis mit <strong>Indien</strong> vor den Kopf stoßen. Die USA wiederum210 Ebd., S. 162-1732<strong>11</strong> Ebd., S. 197-21689


waren durch die prosowjetische Haltung im Korea-Krieg oder in derUngarn-Krise 1956 hinsichtlich der indischen Politik misstrauisch.Versuche der USA, Druck auf <strong>Indien</strong> wegen Wirtschaftsreformenauszuüben, die Weigerung <strong>Indien</strong>s, dem Nichtverbreitungsvertragbeizutreten, <strong>und</strong> die Annäherung der USA an <strong>China</strong>, die über denVerbündeten Pakistan lief, führten zu einer tiefgehenden Entfremdungzwischen den beiden Staaten <strong>und</strong> zur Unterzeichnung desFre<strong>und</strong>schaftspaktes <strong>Indien</strong>s mit der Sowjetunion 1971. <strong>Indien</strong> wolltedamit eine weitere Unterstützung der UdSSR für Pakistan unterbinden<strong>und</strong> eine Absicherung gegenüber <strong>China</strong> erreichen. Als die USA imindisch-pakistanischen Krieg, ebenfalls 1971, einen Flugzeugträgerentsandten, erreichten die Beziehungen einen absoluten Tiefpunkt.Danach besserte sich das Verhältnis, <strong>Indien</strong> wollte sich aber nichtvereinnahmen lassen <strong>und</strong> wahrte, was den wirtschaftlichen Bereichbetraf, eine gewisse Distanz. Konfliktpunkte traten immer wieder auf –so wegen des indischen Nuklearversuches 1974 oder der Unterstützungder sowjetischen Intervention in Afghanistan, auf der anderen Seitewegen der Waffenlieferungen der USA an Pakistan. WirtschaftlicheReformen in <strong>Indien</strong> <strong>und</strong> der neue Kurs der UdSSR unter Gorbatschowermöglichten weitere Verbesserungen im bilateralen Verhältnis – eineEntwicklung, die sich nach Ende des Kalten Krieges verstärkt fortsetzte.In diesen Jahren wurde auch die sicherheitspolitische Rolle <strong>Indien</strong>s fürdie USA zunehmend attraktiv, zumal der militante Islamismus für beidezum Gegner wurde. 212Das Ende des Kalten Krieges brachte im Verhältnis zu Pakistan keineÄnderung. Ehemalige Afghanistan-Kämpfer traten nun in Kaschmir inErscheinung. Die neue Strategie Pakistans war, diese Leute im Kampfgegen die indischen Sicherheitskräfte zu unterstützen. Bereits 1990drohte eine erneute militärische Konfrontation zwischen den Rivalen, alssich die Gefechte verschärften <strong>und</strong> diverse militärische Drohmaßnahmenan der Kontrolllinie gesetzt wurden. Trotzdem ließen diplomatischeBemühungen nie ganz nach, Phasen der Entspannung folgten neueKrisen. 1999 drangen Freischärler aus Pakistan, unterstützt von derpakistanischen Armee, in den indischen Teil Kaschmirs vor. Die212 Ebd., S. 174-196, 293-29790


indische Armee nahm den Kampf auf. Wieder drohte eine Eskalation desKonflikts der beiden Nuklearmächte. Durch US-Vermittlung konnte einKrieg verhindert werden. 213 Ein 2008 von Pakistan aus durchgeführterTerrorangriff auf Mumbai (Bombay) mit 170 Toten ließ dieKriegsgefahr erneut aufflammen. Pakistan steht aber nunmehr unter demDruck der USA, die Terroristen im eigenen Land effektiv zu bekämpfen,statt die militärischen Bestrebungen auf <strong>Indien</strong> zu konzentrieren. Daskönnte Spannung aus dem indisch-pakistanischen Verhältnis nehmen.Ab 1988 trat nach dem ersten Besuch eines indischenMinisterpräsidenten (Rajiv Gandhi) in <strong>China</strong> seit 1955 eine deutlicheEntspannung in den gegenseitigen Beziehungen ein. In der Tibet-Fragehielt sich <strong>Indien</strong> deutlich zurück <strong>und</strong> auch die Niederschlagung derDemokratiebewegung in Peking 1989 stieß in Delhi nur auf verhalteneKritik. In der Grenzfrage wurden vertrauensbildende Maßnahmengesetzt <strong>und</strong> die Lösung den Diplomaten übertragen – für Irritationensorgen die chinesischen Ansprüche trotzdem. Auch die Zusammenarbeitzwischen <strong>China</strong> <strong>und</strong> Pakistan belastet das Verhältnis <strong>Indien</strong>s zu <strong>China</strong>dauerhaft. 1999 versagte Peking allerdings dem Verbündeten währendder Kämpfe mit <strong>Indien</strong> seine Unterstützung. In der Frage derBekämpfung des Moslem-Extremismus herrschte bereits in den 1990er-Jahren Übereinstimmung. <strong>Indien</strong> betraf dieses Problem in Kaschmir,<strong>China</strong> in Xinjiang. Die Auffassung von einer Multipolarität der Welt eintbeide Staaten in ihrem Zugang zum internationalen politischen System.Auch wirtschaftlich sind sie eng verflochten: <strong>China</strong> ist <strong>Indien</strong>s größterHandelspartner, die USA folgen an zweiter Stelle.Auch mit den USA ergaben sich in den 1990er-Jahren zunehmendAnknüpfungspunkte. <strong>Indien</strong> liberalisierte seine Wirtschaft <strong>und</strong> die USAinteressierten sich von da an für die neuen Märkte auf demSubkontinent. Sicherheitspolitisch war die Bedrohung durchMoslemextremisten beiden gemeinsam. Trennpunkte waren vor allemdie indischen Nuklearwaffen <strong>und</strong> die Raketentechnologie. <strong>Indien</strong> wolltenicht einsehen, dass es zwei Klassen von Staaten geben solle: diejenigen,denen Nuklearwaffen erlaubt sind, <strong>und</strong> diejenigen, denen sie verwehrtsind. Nach den Nukleartests von <strong>Indien</strong> <strong>und</strong> Pakistan 1998 verhängten213 Ebd., S. 266-27391


die USA gegen beide Sanktionen. <strong>Indien</strong> wiederum wollte alsNuklearmacht anerkannt werden <strong>und</strong> einen ständigen Sitz imWeltsicherheitsrat. Beides verweigerten die USA. 214 Nichtsdestotrotzförderten die Präsidenten Clinton <strong>und</strong> George W. Bush in derErkenntnis, dass <strong>Indien</strong> eine aufstrebende Macht ist, die Beziehungen.Ein Höhepunkt war 2007 der Abschluss eines Nuklear-Abkommenszwischen USA <strong>und</strong> <strong>Indien</strong>, das die Zusammenarbeit auf zivilem Gebietermöglicht – aufgr<strong>und</strong> der indischen Nuklearwaffen hatten die USA diesdavor stets abgelehnt. 215Anfang unseres Jahrh<strong>und</strong>erts flammte der Konflikt um Kaschmir erneutauf. Infolge eines Anschlages 2001 durch Moslemextremisten auf dasindische Parlament mobilisierte <strong>Indien</strong> seine Streitkräfte gegen Pakistan,um ein Einsickern von Terroristen zu verhindern. Es war der größteTruppenaufmarsch seit dem Krieg 1971; angeblich lagen letztlich700.000 Mann auf der indischen Seite der Grenze. Der erneute Ausbrucheiner militärischen Konfrontation drohte. Nach intensivenVerhandlungen hatte der Konflikt im Juni 2001 seinen Höhepunktüberschritten, eine Eskalation konnte verhindert werden. 216 Folge derEreignisse war die Entwicklung der Cold-Start-Doktrin. Das indischeMilitär hatte erkannt, dass es mangels Ausrüstung nicht möglich war,Pakistan militärisch einen empfindlichen Schlag zu versetzen.Umgekehrt konnte Pakistan unter dem Schutz seiner Nuklearwaffenmilitante Gruppierungen auf seinem Gebiet agieren lassen. DieHerausforderung für <strong>Indien</strong> lautete, limitierte militärische Ziele inPakistan zu erreichen, ohne einen Atomkrieg auszulösen. Die Antwortwar ein sofortiges Losschlagen gegen neuralgische Punkte nach einemTerroranschlag, noch ehe eine diplomatische Initiative gestartet werdenkönne. 217Kritische Stimmen sprechen davon, dass die US-Politik in Folge von„09/<strong>11</strong>“, zu der auch eine enge Kooperation mit Pakistan gehört, nichtim Einklang mit den indischen Interessen stünde. <strong>Indien</strong>s214 Ebd., S. 285-300215 U.S. Department of State, Backgro<strong>und</strong> Note: India, http://www.state.gov, 12.5.2010216 2002 - Kashmir Crisis, http://www.globalsecurity.org, 12.5.2010217 India-Pakistan Conflict, http://www.globalsecurity.org, 12.5.201092


Rücksichtnahme auf die USA hätte zu keinen strategischen Vorteilengegenüber den Hauptrivalen Pakistan <strong>und</strong> <strong>China</strong> geführt, sondern dieOptionen <strong>Indien</strong>s eingeschränkt – die früher guten Kontakte zum Iran<strong>und</strong> Russland, als Gegengewichte zu Pakistan <strong>und</strong> <strong>China</strong>, seiendeswegen reduziert worden. Pakistan <strong>und</strong> <strong>China</strong> seien aber noch immerdurch eine strategische Achse verb<strong>und</strong>en <strong>und</strong> Pakistan führe nach wievor einen Stellvertreterkrieg <strong>und</strong> unterstütze Terroristen. In diesemZusammenhang wird auch davor gewarnt, den geplanten Kauf von 126Kampfflugzeugen in den USA zu tätigen <strong>und</strong> sich damit in noch größereAbhängigkeit von den USA zu bringen. 218Nach wie vor richten sich <strong>Indien</strong>s sicherheitspolitische Anstrengungengegen <strong>China</strong> <strong>und</strong> Pakistan. <strong>Indien</strong>s höchster Offizier, General DeepakKapoor, sprach im Jänner 2010 von gleichmäßigenSchwerpunktbildungen im Westen <strong>und</strong> Nordosten des Landes, alsogegen <strong>China</strong> <strong>und</strong> Pakistan. Problem ist, dass <strong>Indien</strong> mit seinenmilitärischen Modernisierungsvorhaben seinen Nachbarn gegenüber imHintertreffen ist. 219 Vor allem mit Pakistan scheint eine dauerhafteBefriedung schwer erreichbar, da die pakistanische Armee eine führendeRolle im Staat spielt <strong>und</strong> die Gegnerschaft zu <strong>Indien</strong> eine Rechtfertigungfür diese Position ist. Es ist auch fraglich, wie weit die Regierung in derLage ist, den auf pakistanischem Territorium agierenden TerrorgruppenEinhalt zu gebieten, bzw. sie überhaupt die Absicht dazu hat, gelten dieExtremisten doch als nützliche Verbündete – nicht nur in Kaschmir,sondern auch in Afghanistan, wo es ebenfalls gilt, den verstärktenEinfluss <strong>Indien</strong>s zu minimieren. 220Beobachter gehen davon aus, dass die Verbindungen von Teilen derpakistanischen Staatsgewalt zu Terrorgruppen weiter bestehen bleiben.Für die Armee ist der Hauptgegner <strong>Indien</strong>. Wenn Terroristen esschaffen, in <strong>Indien</strong> wieder Anschläge durchzuführen, wird der Druck auf218 Kapila, Subhash: India’s Foreign Policy Distortions (2004-2009): The United StatesFactor, South Asia Analysis Group, Paper no. 3355, http://www.southasiaanalysis.org,13.5.2010219 Pant, Harsh V.: India’s Controversial New War Doctrine, http://www.isn.ethz.ch/,14.5.2010220 Pant, Harsh V.: Another Go at India-Pakistan-Dialogue, http://www.isn.ethz.ch/,14.5.201093


die indische Regierung steigen, den momentanen Kurs der Konzilianz zuändern <strong>und</strong> gegen den Nachbarn vorzugehen. Die pakistanische Armeekann sich dann wieder verstärkt dem Erzrivalen <strong>Indien</strong> statt heimischenExtremisten zuwenden – hier treffen sich die Interessen derTerrorgruppen <strong>und</strong> Kräften der Armee.94


3. <strong>Indien</strong>: Ökonomische Entwicklungen <strong>und</strong>TrendsKatia Vlachos-Dengler3.1 Hintergr<strong>und</strong><strong>Indien</strong> hat eine der größten <strong>und</strong> am schnellsten wachsendenVolkswirtschaften der Welt. Gemessen an der Kaufkraftparität(Purchasing Power Parity) ist <strong>Indien</strong> im Jahr 2009 zur viertgrößtenVolkswirtschaft hinter den Vereinigten Staaten, <strong>China</strong> <strong>und</strong> Japangeworden. 221 Im Bezug auf das nominale Bruttoinlandsprodukt lag<strong>Indien</strong> im Jahr 2009 an weltweit zwölfter Stelle. 222In den 62 Jahren seit seiner Unabhängigkeit, insbesondere ab den1990er-Jahren, hat <strong>Indien</strong> in seiner Geschichte beispiellose Fortschrittegemacht: rasantes Wirtschaftswachstum, eine Reduzierung der Armutum mehr als die Hälfte <strong>und</strong> eine starke Präsenz als globaler Akteur inWirtschaftsbereichen wie Informatik, Business Process Outsourcing 223<strong>und</strong> in der Telekommunikations- <strong>und</strong> Pharma-Industrie.Gleichzeitig ist <strong>Indien</strong> ein armes Land: im Jahr 2008 lagen 28% derLand- <strong>und</strong> 26% der Stadtbevölkerung unter der nationalenArmutsgrenze. 46% der Kinder unter fünf Jahren sind untergewichtig, 60Millionen Kinder sind unterernährt. 224 Im Jahr 2006 starben 2,1Millionen Kinder – mehr als fünfmal soviel wie in <strong>China</strong>. 225Zur Zeit der Unabhängigkeitserklärung <strong>Indien</strong>s im Jahr 1947, nach zweiJahrh<strong>und</strong>erten Fremdherrschaft, war das Land stark von einem Streben221 United States Central Intelligence Agency (CIA), “The World Factbook; Countrycomparison: GDP (Purchasing Power Parity)”;https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/rankorder/2001rank.html,19.5.2010222 CIA, “The World Factbook; Country comparison: GDP”;https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/fields/2195.html,19.5.2010223 Business Process Outsourcing ist eine Sonderform des Outsourcings <strong>und</strong> bezeichnetdas Auslagern ganzer Geschäftsprozesse.224 The World Bank, “India at a glance”, 24. September 2008.225“An elephant, not a tiger”, The Economist, <strong>11</strong>. Dezember 2009.95


nach Autarkie geprägt. Das sowjetische Modell wirkte dabei attraktiverals das westliche. Ziel des ersten Premierministers, Jawaharlal Nehru,war ein zentral kontrolliertes Wirtschaftssystem, dominiert vonstaatlichen <strong>und</strong> staatlich verwalteten Schwerindustrie-Unternehmen.Zwischen den 1950er- <strong>und</strong> den 1990er-Jahren wurde eine Politik hoherEinfuhrzölle, von Lizenzen zur Kontrolle der Produktion <strong>und</strong> derMonopole des öffentlichen Sektors sowie der Isolation vom Rest derWelt praktiziert. Diese Maßnahmen führten zu Bürokratie, exzessiverRegulierung <strong>und</strong> Korruption, die das wirtschaftliche Wachstumbremsten.Seit Anfang der 1990er-Jahre haben Regierungen verschiedener Couleurdie indische Wirtschaft mit einer Kombination von Liberalisierung <strong>und</strong>Privatisierung reformiert. Staatliche Intervention <strong>und</strong> Kontrolle derWirtschaftstätigkeit sind drastisch zurückgegangen. Die Liberalisierungbeeinflusste besonders die Industrie- <strong>und</strong> Steuerpolitik, die Regulierungder Finanzmärkte <strong>und</strong> die Außenhandels- <strong>und</strong>Auslandsinvestitionspolitik. Direktsteuern wurden gesenkt. StaatlicheLizenzierungen industrieller Tätigkeit wurde praktisch abgeschafft <strong>und</strong>Investitionsbeschränkungen für große Unternehmen gelockert.Außerdem wurde die Wirtschaft offener für Wettbewerb.Diese Reformen wirkten sich positiv auf das Wachstum <strong>und</strong> dieBekämpfung der Armut aus. Die durchschnittliche jährlicheWachstumsrate ist von 5,3% in den Jahren 1990 bis 2002 auf 8,6% inden Jahren 2003 bis 2007 gestiegen. Dadurch wurde die Armutsquotereduziert. Gegen Ende der 1980er-Jahre lebten zwei Fünftel derBevölkerung unter der Armutsgrenze, <strong>heute</strong> ist es „nur“ ein Viertel. 226Das stärkste Wachstum fand in jenen Sektoren statt, die offener fürWettbewerb waren (z. B. Telekommunikation, Zivilluftfahrt) oder dieweniger reguliert sind (z. B. der Kommunikationsbereich,Versicherungswesen, Informatik, Vermögensverwaltung). Mit 2,7% derglobalen Ausfuhren von Dienstleistungen ist <strong>Indien</strong> bereits der weltweitfünftgrößte Exporteur von Dienstleistungen. Auslandsinvestitionen sind226Dreyer, Iana, “Preparing for the next stage of growth – deepening India’s integrationin the world economy”, in The India Economy Review 2009, Volume VI, QuarterlyIssue, 31. März 2009.96


im Jahr 2007 auf 2% des BIP gestiegen, im Vergleich zu weniger als0,1% im Jahr 1990. Das gesamtstaatliche Fiskaldefizit ist von 10% desBIP im Jahr 2002 auf 6,1% im Jahr 2007 gesunken; 227 dieStaatsschulden sind von 82% im Jahr 2004 auf 75% des BIP (März2007) gesunken. 228Das Wirtschaftswachstum hat auch zur Bekämpfung der Armutbeigetragen. Dennoch haben nicht alle gesellschaftlichen GruppenNutzen aus diesem Wachstum gezogen – am meisten profitierte dieStadtbevölkerung.Vorliegende Analyse gibt einen Überblick über die Struktur, denheutigen Zustand <strong>und</strong> zukünftige Trends der indischen Wirtschaft.3.2 Die indische Wirtschaft: WachstumsmodellDienstleister sind der wesentliche Treiber des Wirtschaftswachstums in<strong>Indien</strong>. Sie tragen mehr als die Hälfte zum BIP bei <strong>und</strong> beschäftigenmehr als ein Drittel der Arbeitnehmer. 229 52% der Arbeitnehmer sind inder Landwirtschaft beschäftigt, obwohl der Sektor nur 17% des BIPleistet. Der Industriebereich (Textilien, Chemikalien, Stahl, SoftwareDesign u. a.) umfasst ein Fünftel des BIP <strong>und</strong> beschäftigt 14% derArbeitnehmer. 230 Die Textilindustrie ist – nach dem Agrarsektor – derzweitgrößte Arbeitgeber <strong>und</strong> macht mehr als ein Viertel der gesamtenProduktionsmenge aus.227 Im Jahr 2008 ist es wegen der Wirtschaftskrise wieder auf 10% gestiegen.228 OECD, Economic Survey of India, 2007, Policy Brief, Oktober 2007; OECD,OECD Interim Economic Outlook, March 2009: Country Note – India.229 Insgesamt gibt es in <strong>Indien</strong> ca. 523,5 Millionen Arbeitnehmer (CIA, “The WorldFactbook: India”, https://www.cia.gov/library/publications/the-worldfactbook/geos/in.html;9. August 2010).230 Ibid.97


Zusammensetzung des BIP nach Sektoren (2009) 231Sektor Anteil des BIP (%)Dienstleistungen 54,9Industrie 28,2Landwirtschaft 17<strong>Indien</strong>s rasantes Wachstum der letzten fünf Jahre wurde zum Großteilvon Investitionen getrieben, die zwischen 2003 <strong>und</strong> 2008 von 25% auf39% des BIP stiegen. 232 Am Höhepunkt kamen mehr als ein Drittel derInvestitionen aus dem Ausland; $ 23 Mrd. im Jahr 2007. 233Obwohl das Land am Anfang fast total von der Weltwirtschaft isoliertwar, ist <strong>Indien</strong> nun auf internationaler Ebene mit Handels- <strong>und</strong>Investitionstätigkeiten aktiv. Es ist dennoch weniger von Exportenabhängig als andere asiatische Länder. Exporte betrugen 22,7% des BIPim Jahr 2008 <strong>und</strong> sind zwischen 1998 <strong>und</strong> 2008 mit einerdurchschnittlichen Wachstumsrate von 15,2% pro Jahr gewachsen. 234Dies spiegelt sich im Aufstieg der indischen Konzerne in der Stahl-,Auto-, Informatik-, Business-Services- <strong>und</strong> Pharma-Branche wider. ImJahre 2006 wurde Arcelor-Mittal der größte Stahlkonzern der Welt. ImJahre 2007 investierten indische Konzerne $ 13,7 Mrd. im Ausland. 235Der Kauf des britischen Autoherstellers Jaguar durch den indischenTata-Konzern ist symbolisch <strong>und</strong> macht <strong>Indien</strong> zum führendenAuslandsinvestor in Großbritannien.231Schätzungen; Ibid. Anmerkung: Addiert ergeben die Anteile 100,1% - vermutlicheine Folge von R<strong>und</strong>ungen.232 Im Jahr 2009 – nach der globalen Wirtschaftskrise – lagen Bruttoanlageinvestitionenbei 32,1% des BIP.233 Bajaj, V. and Somini Sengupta, “India, suddenly starved for investment”, The NewYork Times, 5. Mai 2009.234 World Bank, “India at a glance”, Dezember 2009,http://devdata.worldbank.org/AAG/ind_aag.pdf.235“Another disappointment”, Economist Intelligence Unit, 9. März 2009.98


Als Folge dieses Wachstums ist <strong>Indien</strong> auch ein wichtiger Akteur aufinternationaler Ebene geworden <strong>und</strong> hat an Durchsetzungsvermögengewonnen, z. B. in der Welthandelsorganisation (WTO).3.3 Die Auswirkungen der globalen Wirtschaftskrise auf<strong>Indien</strong><strong>Indien</strong> hat starke makroökonomische Gr<strong>und</strong>lagen; viele Politiker <strong>und</strong>Unternehmer sind der Ansicht, dass das Land von der globalenWirtschaft „entkoppelt“ ist. 236 Dennoch hat die globale Krise <strong>Indien</strong> mitsinkenden Privatinvestitionen, Kapitalzuflüssen, Devisenreserven <strong>und</strong>Exporten vor große Herausforderungen gestellt.Mit der Rezession in den wichtigsten Exportmärkten wie USA, EU <strong>und</strong>Japan gingen <strong>Indien</strong>s Exporte drastisch zurück: seit Oktober 2008 sindsie jeden Monat gesunken, besonders in IT <strong>und</strong> Business Services. 237 DieRegierung hat Maßnahmen getroffen, um exportorientierte Unternehmenzu unterstützen, ihre Auswirkungen waren aber begrenzt. Das Problemlag im Rückgang der Nachfrage, der eine fallende Aktivität in Industrie(-0,2% im letzten Quartal des Jahres 2008 im Vergleich zu +8,6% im Q4des Vorjahres) <strong>und</strong> Landwirtschaft (-2,2% im Q4 2008 ggü. +6,9% imVorjahr) verursachte. 238Es war ein unglücklicher Zufall, dass diese Krise direkt nach einerlangen Periode restriktiver Geldpolitik (mit hohen Zinsraten <strong>und</strong>Mindestreserven) eintrat. Die indische Wirtschaft wurde mit einerKreditknappheit konfrontiert – sowohl auf nationaler als auch aufinternationaler Ebene –, die zu einer Liquiditätskrise <strong>und</strong> zu hohenZinsen geführt hat.236 Exporte betragen nur 22,7% des BIP. <strong>Indien</strong> ist weiterhin weniger von ausländischerFinanzierung abhängig als andere Staaten (wie zum Beispiel die osteuropäischenLänder). “Another disappointment”, Economist Intelligence Unit, 9. März 2009;“Bridges to somewhere”, The Economist, 5. März 2009.237 Asian Development Bank, Asian Development Outlook 2009: Rebalancing Asia’sGrowth.238Chaturvedi, Neelabh and Mukesh Jagota, “India’s economic growth slows”, TheWall Street Journal, 28. Februar 2009.99


Der Außenhandel stellt einen kleineren Anteil der Wirtschaft imVergleich zu anderen asiatischen Ländern dar. Mit mehr als drei Vierteldes BIP – im Vergleich zu weniger als der Hälfte in <strong>China</strong> – ist dieBinnennachfrage der Haupttreiber des Wachstums. <strong>Indien</strong> ist wenigervom Rückgang der globalen Nachfrage betroffen, wobei der schwächerePrivatkonsum durch eine stärkere Staatsnachfrage ausgeglichen wird.Daher ist die abnehmende Wachstumsrate hauptsächlich auf denRückgang der Investitionen, insbesondere der Anlageinvestitionen, alsFolge der niedrigeren Umsätze <strong>und</strong> der schwierigerenFinanzierungsmöglichkeiten für indische Banken <strong>und</strong> Unternehmenzurückzuführen. Der Rückgang ausländischer Investitionen hattenegative Auswirkungen auf mehrere Sektoren, wie Immobilien, dieverarbeitende Industrie <strong>und</strong> die Infrastruktur. Er hat auch zu einemEinbruch an der indischen Börse geführt (58% Absturz in 2008). 239Als Folge dieser Entwicklungen ist die BIP-Wachstumsrate von 9% p. a.in den vier Jahren davor auf 7,3% im Jahr 2008 zurückgegangen, wobeidiese Zahl unter Umständen noch zu hoch ist. 240 Im Jahr 2009 ist dieindische Wirtschaft um 6,5% gewachsen. Der Rückgang des indischenWachstums hatte wesentliche Auswirkungen sowohl auf dieArbeitslosenzahl als auch auf die Zahl der Personen, die unter derArmutsgrenze leben. Die meisten Großunternehmen erlitten einenRückgang ihres Nettogewinns. Da in vielen Unternehmen die Produktionzurückgefahren wurde, haben Millionen von Arbeitern ihren Jobverloren oder kürzere Arbeitszeit <strong>und</strong> niedrigere Löhne akzeptierenmüssen. Die meisten kommen aus den exportorientierten Sektoren – wieTextil-, Schmuck <strong>und</strong> Edelsteine verarbeitender Industrie –, aber auchaus Sektoren, die die Binnennachfrage bedienen – Automobilproduktion,239 Bajaj, Vikas and Somini Sengupta, “India, suddenly starved for investment”, TheNew York Times, 5. Mai 2009.240Dies ist die IWF-Zahl (International Monetary F<strong>und</strong>, World Economic Outlook,April 2009: Crisis and Recovery). Die OECD-Zahl für 2008 liegt noch niedriger – bei6%.100


Tourismus <strong>und</strong> Transport. 241 Die Arbeitslosenzahl im Jahr 2009 lag bei10,7%. 2423.4 Reaktion der Regierung auf die KriseGeldpolitikDie indische Zentralbank hat – seitdem der Abwärtstrend spürbar wurde– sowohl die Zinsrate als auch die Mindestreservepflicht gesenkt: dieZinsrate wurde vom Höchststand von 9% im September 2008 auf 5% imMärz 2009 gesenkt, die Mindestreservepflicht ebenso von 9% auf 5%. 243Die lockere Geldpolitik hat auch dazu beigetragen, die Börse zustabilisieren. 244FiskalpolitikAm Anfang der Krise hat die indische Regierung mehrerefiskalpolitische Maßnahmen gesetzt, um die Wirtschaft anzukurbeln.Drei Konjunkturpakete wurden angekündigt, die u. a. Ausgaben fürSchulen, Straßen, Kraftwerke <strong>und</strong> andere Infrastrukturprojektebeinhalteten. Zusätzliche Regierungsmaßnahmen umfassten u. a. erhöhteAusgaben für Landarbeiter, Gehaltserhöhungen für Staatsbedienstete<strong>und</strong> soziale Programme.3.5 Wie sieht die Zukunft für das indische„Wirtschaftsw<strong>und</strong>er“ aus?Die aktuellen Prognosen internationaler Organisationen gehen voneinem Wachstum in <strong>Indien</strong> von zwischen 7 <strong>und</strong> 7,5% für das Jahr 2010aus. Um die Armut zu reduzieren, braucht <strong>Indien</strong> ein Wachstum vonr<strong>und</strong> 8%; mit weniger als 6% würde die Arbeitslosigkeit steigen. 245 Diejüngsten Daten – wie zum Beispiel in der Fertigungsindustrie – weisen241 Asian Development Bank, Asian Development Outlook 2009: Rebalancing Asia’sGrowth.242 CIA, “The World Factbook: India”; https://www.cia.gov/library/publications/theworld-factbook/geos/in.html(4. Mai 2010).243 Die Zinsrate wurde Anfang 2010 wieder erhöht, um eine potenzielleInflationsgefahr zu bekämpfen.244 OECD, OECD Interim Economic Outlook, March 2009: Country Note – India.245“Q+A-India’s economy – on the road to recovery?”, Forbes.com, 6. Mai 2009.101


darauf hin, dass die Wirtschaft auf dem Weg der Erholung ist. DerPurchasing Managers’ Index (PMI), der auf Umfragen bei 500Unternehmen basiert, deutet auch eine Verbesserung an: er ist von 49%im März 2009 auf 53% im April des gleichen Jahres gestiegen. 246 DieIndustrieleistung ist nach einem schlechten 1. Quartal 2009 auchgestiegen.Die Politik wird als einer der wachstumshemmenden Faktoren in <strong>Indien</strong>betrachtet. Laut Analysten wird die durch einen hohen Wahlsieg derKongresspartei gestärkte Regierung in der Lage sein, mittel- <strong>und</strong>langfristig wachstumsfördernde Reformen in verschiedenenWirtschaftssektoren durchzuführen. Dies kann zum Beispiel denVerkauf von Anteilen an Staatsunternehmen bedeuten – ein Prozess, derwie viele andere Reformen in den letzten fünf Jahren fast zum Stillstandkam. 247 Auch die Privatisierung <strong>und</strong> Deregulierung der Pensionsfondssowie des Banken- <strong>und</strong> Einzelhandelsektors wären davon betroffen. 248Die Herausforderungen für die neue Regierung im BereichWirtschaftspolitik sind mannigfaltig. Auf kurze Sicht ist es wichtig, dieAuswirkungen der Krise zu dämpfen. Nach drei Konjunkturpaketen, diedie Staatsverschuldung <strong>und</strong> das Haushaltsdefizit massiv erhöht haben,gibt es wenig Spielraum für weitere fiskalpolitische Stimuli, um dieNachfrage anzukurbeln. Das Haushaltsdefizit ist von 2,6% des BIP imFiskaljahr 2007-08 auf 6% in 2008-09 gestiegen; für 2009-10 sind 6,5%prognostiziert. 249 Dieses Jahr könnte die Geldpolitik eine wesentlicheRolle bei der Ankurbelung von Investitionen <strong>und</strong> der Nachfrage imWohnbau <strong>und</strong> im Privatkonsum spielen. Das Wahlergebnis könnte z. B.auch ausländische Investoren ermutigen, wieder in <strong>Indien</strong> zu investieren.Mittelfristig besteht das Risiko, dass eine tiefere <strong>und</strong> längere Rezessionin den wirtschaftlich entwickelten Ländern die externe Nachfrage noch24650 Prozent sind der Schwellenwert, der wirtschaftliche Expansion von Kontraktionabgrenzt.247 Range, Jackie, “Congress victory to support Indian economic reform agenda”, TheWall Street Journal, 19. Mai 2009.248 Gaunt, Jeremy, “India vote ro<strong>und</strong>s off improving BRICs outlook”, Reuters, 19. Mai2009.249 Wolf, Martin, “India’s elephant charges on through the crisis”, Financial Times, 2.März 2010.102


mehr reduzieren <strong>und</strong> negative Auswirkungen auf Exporte, Investitionen<strong>und</strong> Wachstum haben könnte. Eine weitere Verschlechterung derglobalen finanziellen Bedingungen könnte indische Firmen in nochgrößere Schwierigkeiten bei Kreditaufnahme <strong>und</strong> Investitionen führen.Auf längere Sicht werden strukturelle Änderungen notwendig sein, diebis dato aus politischen Gründen auf Eis gelegt worden sind. ZumBeispiel werden Reformen am Arbeitsmarkt <strong>und</strong> zur Verbesserung derBerufsausbildung sehr wichtig für die Erholung am Dienstleistungs- <strong>und</strong>Exportsektor sein. Weiters benötigt <strong>Indien</strong>s Infrastruktur dringendeVerbesserungen: das rasche Wirtschaftswachstum hat die Energie- <strong>und</strong>Transportnetzwerke enorm belastet, Infrastrukturengpässe haben derWettbewerbsfähigkeit des Landes geschadet. Darüber hinaus muss einWeg gef<strong>und</strong>en werden, dass das Wirtschaftswachstum <strong>Indien</strong>s Armenmehr zugutekommt. 250 Bisher hat das Wachstum zu Unterschiedenzwischen Stadt <strong>und</strong> Land, wohlhabenden <strong>und</strong> armen Teilstaaten sowiebesser <strong>und</strong> schlechter ausgebildeten Arbeiternehmern geführt. Dasindische Wachstum muss einer breiteren Bevölkerungsschichtzugutekommen, um eine Verschärfung der Gegensätze zu vermeiden.Über den Zyklus muss die Regierung einen Mittelweg zwischenInvestitionen, Ankurbelung der heimischen Nachfrage <strong>und</strong>Haushaltsdisziplin finden, um das Defizit in überschaubaren Grenzen zuhalten.Auf internationaler Ebene wird <strong>Indien</strong> der Versuchung desProtektionismus widerstehen müssen, insbesondere weil der Zugang zuausländischen Märkten für die nachhaltige Entwicklung der indischenWirtschaft sehr wichtig ist.250Mehr als 40% von <strong>Indien</strong>s Bevölkerung leben unter der Weltbank-Armutsgrenzevon $1,25 pro Tag (Sengupta, Somini, “As elections near, tightrope awaits India”, TheNew York Times, 15. April 2009).103


4. Die Entwicklung der Sicherheits- <strong>und</strong>Verteidigungspolitik <strong>Indien</strong>sDaniel WelserDie sicherheitspolitische Bedeutung <strong>Indien</strong>s erwächst aus demjahrzehntelangen Streit mit Pakistan <strong>und</strong> damit der Involvierung in denKonfliktherd Pakistan/Afghanistan. Hauptaugenmerk der indischenArmee gilt der militärischen Absicherung gegen Pakistan, das mit <strong>Indien</strong>um die staatliche Zugehörigkeit von Kaschmir streitet. Zur strategischenEntlastung engagiert sich <strong>Indien</strong> in Afghanistan, in der Hoffnung,dadurch Druck von der gemeinsamen Grenze zu nehmen. Pakistan wirdzwar von den USA im Zuge des Kampfes gegen den Terrorismusunterstützt, die USA sind aber auch an guten Beziehungen zu <strong>Indien</strong>interessiert, das eine Demokratie <strong>und</strong> von wirtschaftlicher Relevanz ist.Mit seinem alten Verbündeten Russland treibt <strong>Indien</strong> nach wie vorRüstungsgeschäfte <strong>und</strong> mit <strong>China</strong>, mit dem <strong>Indien</strong> ebenfalls einenGrenzstreit hat, ist man im gegenseitigen Interesse um Entspannungbemüht. Die indische Armee arbeitet fortgesetzt an ihrerModernisierung, um im Ernstfall den Herausforderungen eines Kriegesmit Pakistan – aber auch <strong>China</strong> – gewachsen zu sein.4.1 Das außen- <strong>und</strong> sicherheitspolitische Umfeld4.1.1 PakistanVor den Terroranschlägen in Mumbai 2008, für die <strong>Indien</strong> Pakistanmitverantwortlich macht, zeichnete sich eine Verbesserung in denBeziehungen der beiden Staaten ab. Pakistan verzichtete zum ersten Malauf seine nukleare Erstschlagsoption. 251 Der Terrorangriff führte zu einerAussetzung des Friedensdialoges <strong>und</strong> zu beidseitigenTruppenaufstockungen an der gemeinsamen Grenze. 252 <strong>Indien</strong> wirftPakistan auch Grenzverletzungen <strong>und</strong> Nichteinhaltung des251 A Survey of Situation in South Asia, International Strategic Studies, S. 38252 http://www.telegraph.co.uk/news/worldnews/asia/pakistan/3965105/Pakistandeploys-20000-troops-to-India-border.html(Zugriff am 12.10.2009)104


Waffenstillstandes vor. 253 Nichtsdestotrotz hat <strong>Indien</strong> angekündigt,Truppen aus der Grenzprovinz Jammu <strong>und</strong> Kaschmir abzuziehen, wasmit Grenzkonflikten zwischen <strong>Indien</strong> <strong>und</strong> <strong>China</strong> zusammenhängendürfte. Dort sind etwa 350.000 Soldaten <strong>und</strong> 200.000 Angehörigeparamilitärischer Formationen stationiert. Der Abzug soll einige tausendMann umfassen <strong>und</strong> phasenweise vorangehen. 254Pakistans militärische Aufrüstung deutet durchaus darauf hin, dass essich für einen potentiellen Konflikt mit <strong>Indien</strong> rüstet. In dieser Hinsichterfährt Pakistan massiv Unterstützung von seinem Verbündeten <strong>China</strong>.Die chinesischen Kampfpanzer Typ-59II wurden von Pakistan zum Al-Zarrar-Standard aufgerüstet <strong>und</strong> werden in naher Zukunft durch den Al-Khalid-Hauptkampfpanzer ersetzt. Dieser wird momentan in derfortgeschrittenen Version Al-Khalid I getestet, welche sich durch bessereFeuerleitsysteme, Integrated Battle Management Systems (IBMS) <strong>und</strong>Störsysteme gegen Anti-Panzer-Raketen auszeichnet. Der Al-Khalid IIist bereits in Entwicklung. 255 Ein weiterer Indikator für die Aufrüstungfür einen möglichen Konflikt mit <strong>Indien</strong> ist Pakistans Bestreben, einRaketenabwehrsystem zu akquirieren. Dafür kommt nur das chinesischeSystem HQ-9/FD-2000 in Frage, da andere Länder nicht bereit sind,diese Technologie an Pakistan zu verkaufen. 256<strong>China</strong> hat auch großen Anteil an der Entwicklung der pakistanischenLuftwaffe. So ist es Pakistan gelungen, trotz des US-EmbargosFähigkeiten im Bereich Beyond Visual Range Air to Air Missiles(BVRAAM) aufzubauen. Pakistan <strong>und</strong> <strong>China</strong> haben gemeinsam den JF-17 Th<strong>und</strong>erbolt MRCA 257 entwickelt, welcher über ein AEW&C 258 -System KJ-200/ZDK-03 verfügt. Dieser soll Ende 2009 in Dienstgestellt werden. Im Dezember 2008 unterschrieb Pakistan auch einenVertrag über 278 Millionen Dollar für vier chinesische KJ-2000/ZDK03253 Annual Report 2008-2009, Ministry of Defence, S. 27,http://mod.nic.in/reports/welcome.html254 http://www.defensenews.com/story.php?i=4453489&amp;c=LAN&amp;s=TOP(Zugriff am 27.04.2010)255 Pakistan Pushes Armor Upgrades, Defense News, 20.04.2009, S. 14256 Pakistan May Seek Chinese Interceptor, Defense News, 30.03.2009, S. 14257 MRCA: Multi-Role Combat Aircraft258 AEW&C: Airborne Early Warning & Control105


-AEW&C-Flugzeuge. Des Weiteren soll der Erwerb von 40Kampfflugzeugen Chengdu J-10/FC-20 im Lauf dieses Jahres daspakistanische Militär eventuellen zukünftigen Sanktionen gegenüberunempfindlicher machen 259 , der Verkauf von weiteren 36 J-10 für 1,4Milliarden Dollar wurde im November 2009 angekündigt. 260 Für 2010wird die Ankunft von Flugzeugen des Typs Saab-2000 Eyrie AEW&C<strong>und</strong> Tankflugzeugen Il-78 Midas erwartet, womit sich die Fähigkeitender pakistanischen Luftwaffe enorm erhöhen. 261 <strong>China</strong> <strong>und</strong> die Türkeiunterstützen Pakistan bei der Entwicklung einer Kampfdrohne(Unmanned Combat Air Vehicle) samt zugehörigen lasergelenktenRaketen. 262 Im September 2009 lieferte <strong>China</strong> die erste von vierFregatten der Sword/F-22P-Klasse an Pakistan. Auf den Fregatten sollenAnti-U-Boot-Hubschrauber Harbin Z-9EC eingesetzt werden. 2634.1.2 AfghanistanDie indisch-pakistanischen Beziehungen können nicht ohneEinbeziehung Afghanistans betrachtet werden. Afghanistan wird sowohlvon <strong>Indien</strong> als auch von Pakistan hohe strategische Relevanzzugemessen. Für den Wiederaufbau des Landes wurden von <strong>Indien</strong> 750Millionen <strong>und</strong> von Pakistan 200 Millionen Dollar Finanzunterstützung inAussicht gestellt. 264 Pakistan sieht sich durch das indische Engagementin Afghanistan aus mehreren Gründen bedroht. Einerseits fürchtet eseine Einkreisung durch <strong>Indien</strong> 265 , andererseits unterstellt Pakistan <strong>Indien</strong>,über die vier indischen Konsulate in Afghanistan geheime Operationenin Pakistan auszuführen. 266 Für <strong>Indien</strong> hat das verstärkte Engagement inAfghanistan aber auch wirtschaftliche Gründe. Der Bau eines Hafens im259 Pakistan Surmounts Sanctions To Revive Airpower, Defense News, 09.02.2009, S.18260 http://www.defensenews.com/story.php?i=4387781 (Zugriff am 27.04.2010)261 http://www.defensenews.com/story.php?i=4417463 (Zugriff am 27.04.2010)262 Pakistan Developing Armed UAV, Defense News, <strong>11</strong>.05.2009, S. 19263 http://www.defensenews.com/story.php?i=4278415&c=ASI&s=ALL (Zugriff am22.10.2009)264 http://csis.org/files/media/csis/pubs/sam<strong>11</strong>7.pdf (Zugriff am 15.10.2009)265 Ebenda266 http://www.cfr.org/publication/17474/indiaafghanistan_relations.html (Zugriff am15.10.2009)106


iranischen Chabahar durch <strong>Indien</strong> soll die Umgehung Pakistans beiWarenlieferungen nach Afghanistan ermöglichen, wodurch Pakistan umdie Wirtschaftlichkeit seines mit chinesischer Hilfe erbauten Hafens inGwadar fürchtet. 267 <strong>Indien</strong> macht die löchrige afghanisch-pakistanischeGrenze <strong>und</strong> die Verbindungen des pakistanischen Geheimdienstes zuden Taliban für die Verschlechterung des indischen Sicherheitsumfeldesverantwortlich. 268Durch die Aufstockung der US-Hilfe für Pakistan auf 7,5 MilliardenDollar 269 dürfte der Einfluss der USA auf Pakistan wieder zunehmen.Pakistan fordert die USA weiterhin dazu auf, die von pakistanischemGebiet aus mit Kampfdrohnen geführten Angriffe auf Afghanistan unterpakistanisches oder gemeinsames Kommando zu stellen. 2704.1.3 USAWährend im Bericht des ehemaligen US-Oberbefehlshabers inAfghanistan, General Stanley McChrystal, die Ansicht vertreten wird,dass das indische Engagement in Afghanistan dem afghanischen Volkzugutekommt, wird auch auf das Spannungsfeld zwischen Pakistan <strong>und</strong><strong>Indien</strong> bei steigendem indischem Einfluss in Afghanistan aufmerksamgemacht. 271 Laut Ansicht der USA könnte durch Terroranschlägedurchaus ein Krieg zwischen <strong>Indien</strong> <strong>und</strong> Pakistan entstehen. US-Verteidigungsminister Robert Gates sprach sich deshalb für einenSpannungsabbau zwischen den beiden Ländern aus, etwa durch dieBeschränkung auf Hilfs- <strong>und</strong> Entwicklungsprojekte in Afghanistan <strong>und</strong>durch die Erhöhung von deren Transparenz. 272Die Beziehungen <strong>Indien</strong>s zu den USA erfuhren durch die Weigerung<strong>Indien</strong>s, der amerikanischen End-User-Monitoring-Klausel267 http://csis.org/files/media/csis/pubs/sam<strong>11</strong>7.pdf (Zugriff am 15.10.2009)268 Annual Report 2008-2009, Ministry of Defence, S. 5,http://mod.nic.in/reports/welcome.html269 http://news.bbc.co.uk/2/hi/americas/8309643.stm (Zugriff am 19.10.2009)270 Pakistan Developing Armed UAV, Defense News, <strong>11</strong>.05.2009, S. 19271http://www.scribd.com/doc/19995042/Commander-Initial-Assessment-McCrystal(Zugriff am 30.10.2009)272 http://www.defensenews.com/story.php?i=4462215&amp;c=POL&amp;s=TOP(Zugriff am 27.04.2010)107


zuzustimmen, eine vorübergehende Belastung. Die Klausel gibt denUSA das Recht, Inspektionen von verkauften Rüstungsgütern imZielland durchzuführen. <strong>Indien</strong> verweigerte zunächst die Zustimmung zudieser Klausel, da diese einen Eingriff in die eigene Souveränitätdarstelle. Schließlich kam es aber doch zu einer Einigung. 273 Die Klauselbezog sich auf sechs C-130J-Transportflugzeuge von Lockheed Martinim Wert von 596 Millionen USD <strong>und</strong> 8 maritime AufklärungsflugzeugeBoeing P-8I für 2,1 Milliarden USD. Des Weiteren bieten Boeing <strong>und</strong>Lockheed bei dem 10 Milliarden USD schweren MMRCA 274 -Vertragmit. Dieser Umstand <strong>und</strong> das indische Interesse an Raketenabwehr <strong>und</strong>am Aegis-System könnten die USA zu <strong>Indien</strong>s wichtigstemWaffenlieferanten, noch vor Russland, werden lassen <strong>und</strong> dürften bei derLösung der Frage miteinbezogen worden sein. 2754.1.4 RusslandRussland dürfte sich durch die Finanzkrise zu einer Erhöhung desPreises für den Flugzeugträger „Admiral Gorshkov“ gezwungen gesehenhaben, der momentan für <strong>Indien</strong> erneuert wird. Der Preis für das Schiff,das in INS Vikramaditya umbenannt werden soll, hat sich dadurch von974 Millionen auf 2,3 Milliarden USD erhöht. Der anfänglicheLiefertermin 2008 wurde nun auf 2012 verschoben – in diesem Jahr wirdder Flugzeugträger INS Viraat ausgemustert werden. Russland wirft ineinigen anderen Projekten <strong>Indien</strong> Zahlungsverzug vor, der zurVerlangsamung dieser Projekte führen könnte. Von <strong>Indien</strong> wird diesaber bestritten. Unter den betroffenen Projekten sind etwa Upgrades fürdie Kilo-Klasse-U-Boote, die Krivak-Stealth-Fregatten, MiG-29K-Flugzeuge <strong>und</strong> russische Luft-Luft-Raketen. Der geplante Kauf vonrussischen T-90-Panzern, Sukhoi-Flugzeugen, Igla-S-Systemen <strong>und</strong>Tunguska-Luftabwehrraketen könnte ebenfalls betroffen sein. <strong>Indien</strong> <strong>und</strong>Russland haben eine Summe von 12 Milliarden Dollar anVerteidigungsverträgen <strong>und</strong> Joint Ventures ausständig; bei derEntwicklung eines vielseitigen Transportflugzeugs dürfte <strong>Indien</strong> noch273 http://timesofindia.indiatimes.com/news/india/India-US-agree-on-end-usermonitoring-pact-/articleshow/4800054.cms(Zugriff am 16.10.2009)274 MMRCA: Medium Multi-Role Combat Aircraft275 India Balks at C-130, P-8 Restrictions, Defense News, 09.02.2009, S. <strong>11</strong>08


850 Millionen Dollar schuldig sein. Die Höhe des indischen Anteils ander gemeinsamen Entwicklung von Sukhoi-Flugzeugen der fünftenGeneration ist ebenso wenig klar wie jene der Zahlungen zur Nutzungdes russischen GLONASS 276 -Systems. 277 Zusätzlich zu den 16 MiG-29-Kampfjets, welche auf der „Admiral Gorshkov“ eingesetzt werdensollen, wird auch über 29 weitere MiG-29 im Wert von 1,2 MilliardenDollar für die indische Marine verhandelt. 2784.1.5 <strong>China</strong>Was <strong>China</strong> betrifft, so werden dessen Erhöhung des Militärbudgets, diequalitative <strong>und</strong> quantitative Verbesserung der Volksbefreiungsarmee, dieEntwicklung von strategischen Raketen <strong>und</strong> von Weltraumfähigkeiten,die Vorantreibung der Hochseefähigkeit der Marine, der Ausbau in denBereichen Infrastruktur, Aufklärung <strong>und</strong> Überwachung <strong>und</strong> dieErweiterung der Reaktionsfähigkeit <strong>und</strong> Erhöhung der Operationsmittelin Grenzgebieten von <strong>Indien</strong> mit Sorge betrachtet. Weiters werden diemilitärische Zusammenarbeit mit Pakistan <strong>und</strong> anderen Ländern imUmfeld <strong>Indien</strong>s <strong>und</strong> die pakistanisch-chinesische Einflussnahme aufJammu <strong>und</strong> Kaschmir kritisiert. 279 Das alles schlägt sich in der indischenMilitärstrategie direkt nieder. Schwerpunkte sind der Grenzstreit mit<strong>China</strong> <strong>und</strong> die chinesischen Hochsee-Ambitionen, auf die <strong>Indien</strong> direktreagiert. So werden drei- bis vierfach höhere Verteidigungsausgaben fürnötig erachtet, um gegenüber <strong>China</strong> bei der Modernisierung derStreitkräfte nicht ins Hintertreffen zu geraten. Bei zu großer militärischerÜberlegenheit <strong>China</strong>s muss <strong>Indien</strong> fürchten, die Lösung der Grenzfragenvon <strong>China</strong> diktiert zu bekommen. <strong>Indien</strong> hat bereits damit begonnen, dieInfrastruktur in den betroffenen Gebieten auszubauen, <strong>und</strong> wird dort15.000 Mann seiner Gebirgstruppe stationieren. 280 Die Sicherheitslage276 Russisches Akronym für: globales Satellitennavigationssystem277 Financial Crisis Delays Russian-Indian Projects, Defense News, 24.<strong>11</strong>.2008, S. 15;http://www.hindustantimes.com/Gorshkov-price-settled-at-2-3-billion/H1-Article1-487615.aspx (Zugriff am 05.08.2010)278 http://www.defensenews.com/story.php?i=4458693&amp;c=AIR&amp;s=TOP(Zugriff am 27.04.2010)279 http://mod.nic.in/reports/welcome.html (Zugriff am 07.10.2009)280 As <strong>China</strong> Modernizes Military, India Warned of Arms Gap, Defense News,28.09.2009, S. 30109


im Gebiet des Indischen Ozeans <strong>und</strong> die benötigten indischenKapazitäten werden auf Gr<strong>und</strong>lage der maritimen Präsenz <strong>China</strong>sbeurteilt. 281 Durch den chinesischen Anti-Satelliten-Test 2007 erfuhrauch das indische Aufklärungssatellitenprogramm neuen Auftrieb. 282Als Reaktion auf <strong>China</strong>s maritime Aufrüstung hat <strong>Indien</strong> begonnen,seine Verteidigung im Gebiet der Andamanen <strong>und</strong> Nikobaren zuverstärken. Zwei Landebahnen auf den Inseln sollen allwettertauglichgemacht werden, weitere Flugplätze entstehen. Dort sollen Su-MKI-Kampfjets, UAV 283 s, Tankflugzeuge, amphibische Fahrzeuge <strong>und</strong> Mi-17-Kampf- <strong>und</strong> Transporthelikopter stationiert werden. Die UAVs sollenzur Überwachung der chinesischen Militärbasis auf den zu Myanmargehörenden Kokosinseln dienen. Weiters sollen netzwerkzentrierteKriegsführungssysteme <strong>und</strong> andere Rüstungsgüter für die Regionbereitgestellt werden. 284 Die verstärkte strategische Kooperationzwischen <strong>Indien</strong> <strong>und</strong> Japan richtet sich ebenfalls zu einem großen Teilgegen den chinesischen Einfluss in der Region. Durch einengemeinsamen Aktionsplan zur Verteidigung soll die militärische <strong>und</strong>strategische Kooperation speziell auf dem Gebiet der maritimenZusammenarbeit ausgeweitet werden. 285 Um den wachsenden Einfluss<strong>China</strong>s in der Region zu bekämpfen, führt <strong>Indien</strong> auch Gespräche mitNepal. Diese haben verstärkte militärische Zusammenarbeit zum Ziel. 286Der chinesische Einfluss wird von <strong>Indien</strong> auch in Bangladeschbekämpft. <strong>Indien</strong> <strong>und</strong> Bangladesch wollen in Zukunft ihreVerteidigungskooperation ausbauen; unter anderem wurden bereitsVerträge zur Zusammenarbeit auf den Gebieten internationalerTerrorismus, organisiertes Verbrechen <strong>und</strong> Drogenschmuggelunterzeichnet. 287 <strong>Indien</strong> befürchtet, dass Bangladesch <strong>China</strong> erlaubenkönnte, eine Militärbasis auf bangladeschischem Gebiet zu errichten.281 Experts: India Must Counter <strong>China</strong> in Littorals, Defense News, 12.01.2009, S. 12282 India’s Space Cell Uses Military Technology, Defense News, 23.02.2009, S. 30283 UAV: Unmanned Aerial Vehicle284 http://www.defensenews.com/story.php?i=4490278&c=ASI&s=AIR (Zugriff am27.04.2010)285 http://www.defensenews.com/story.php?i=4436810 (Zugriff am 27.04.2010)286 http://www.defensenews.com/story.php?i=4416433 (Zugriff am 27.04.2010)287 http://www.defensenews.com/story.php?i=4450417&amp;c=POL&amp;s=TOP(Zugriff am 27.04.2010)<strong>11</strong>0


Dadurch könnten zahlreiche indische Militärbasen von chinesischenRadarsystemen überwacht werden. 288Nichtsdestotrotz haben sich <strong>Indien</strong> <strong>und</strong> <strong>China</strong> darauf geeinigt, diegemeinsame Sicherheitskooperation auszubauen. Dies geschah in Folgevon Gesprächen auf höchster Ebene, welche vermutlich die indischchinesischeGrenze <strong>und</strong> die chinesische Aufrüstung zum Themahatten. 2894.2 Schwerpunkte des Militärs4.2.1 BudgetLaut einem Beamten des indischen Verteidigungsministeriums benötigt<strong>Indien</strong> in den nächsten 15 Jahren für die Aufrüstung seiner Streitkräfteetwa 100 Milliarden Dollar. 50 Prozent der indischen Waffen <strong>und</strong>Ausrüstung sollen veraltet sein. 290 <strong>Indien</strong> erhöhte für das Fiskaljahr2009/10 das Verteidigungsbudget um 34% – von 22 Milliarden Dollarauf 29,52 Milliarden Dollar. Folgende Festlegung hinsichtlich derVerwendung wurde getroffen: Zugutekommen soll die Steigerung den1,3 Millionen Soldaten in Form einer Gehaltserhöhung. Der Betrag fürNeuanschaffungen wird von 10 Milliarden Dollar auf <strong>11</strong>,42 Milliarden(+14,2%) erhöht. Die höchste Steigerung ist mit einem Plus von 35,5%für das Heer vorgesehen – 3,7 Milliarden Dollar statt 2,73 Milliarden.Das Budget der Luftwaffe wurde um 4,3% – von 3,98 Milliarden auf4,16 Milliarden – erhöht. Für die Marine werden 832 Millionenbereitgestellt – davor waren es 796 Millionen Dollar (+4,5%). FürForschung <strong>und</strong> Entwicklung werden 776,6 Millionen Dollar ausgegeben;das entspricht einer Erhöhung der 644 Millionen des vorhergehendenBudgets um 20,6%. Aufgr<strong>und</strong> der zähen Bürokratie konnten imFiskaljahr 2008/09 1,48 Milliarden Dollar nicht ausgegeben werden. 291288 http://www.jamestown.org/single/?no_cache=1&tx_ttnews[tt_news]=35310&tx_ttnews[backPid]=7&cHash=f96ebefc34 (Zugriff am 27.04.2010)289 http://www.defensenews.com/story.php?i=4443894&amp;c=POL&amp;s=TOP(Zugriff am 27.04.2010)290 http://www.defensenews.com/story.php?i=4498966&c=ASI&s=TOP (Zugriff am27.04.2010)291 India Plans 34% Budget Increase, Defense News, 23.02.2009, S. 8<strong>11</strong>1


Die hohe Budgetsteigerung hat sich 2010 nicht fortgesetzt, sie betrug nurmehr 3,98%. 2924.2.2 HeerDas indische Heer bekennt sich zur Notwendigkeit einer Transformation.Laut Armeedoktrin von 2004 muss sie für Kriege mit kurzer Dauer <strong>und</strong>Vorwarnzeit, aber mit hohem Tempo <strong>und</strong> in Räumen größerer Tiefe <strong>und</strong>Weite gerüstet sein. <strong>Indien</strong> benötigt dafür moderne Waffen <strong>und</strong>Ausrüstung, Überwachungs- <strong>und</strong> Aufklärungssysteme, moderneRaketensysteme, Lufttransportkapazitäten <strong>und</strong> vernetzte C4I2SR 293 -Systeme für Weltall, Luft, Boden <strong>und</strong> See. Als Gründe für die nötigeTransformation werden die Terroranschläge von Mumbai 2008 <strong>und</strong> dielaufende Umstrukturierung der chinesischen Streitkräfte angegeben. 294<strong>Indien</strong> hat mittels Technologietransfer aus Russland die ersten eigenenT-90-Panzer (zusätzlich zu den gekauften) fertiggestellt. Zusätzlich zuden 700 bereits erworbenen sollen jährlich 100 Stück der 3 MillionenDollar teuren Geräte produziert werden. 295 1.400 Panzer T-72 sollen einUpdate im Wert von 1,5 Milliarden Dollar erhalten. Das Updatebeinhaltet unter anderem neue Feuerleitsysteme, Navigationssysteme,Wärmebildgeräte <strong>und</strong> verbesserten Schutz gegen ABC-Kampfmittel. 296In den nächsten fünf Jahren plant die Armee, zusätzlich zu den 2.000russischen BMP-1 <strong>und</strong> BMP-2, über 5.000 leichte Kampffahrzeugeanzuschaffen. Es sollen unter anderem 100 gepanzerteTruppentransporter (APC) <strong>und</strong> Munition im Wert von 200 MillionenDollar gekauft werden. 297 Die geplante komplette Umstellung der292 http://news.rediff.com/report/2010/mar/02/defence-budget-in-need-of-direction.htm(Zugriff am 04.08.2010)293 C4ISR: Command, Control, Communications, Computers, Intelligence,Information, Surveillance, Reconnaissance294 India Plans for Swift Wars, Heavy Reliance On Remote Assets, Defense News,20.04.2009, S. 14295 http://www.defensenews.com/story.php?i=4248349&c=ASI&s=ALL (Zugriff am21.10.2009)296 http://www.defensenews.com/story.php?i=4502392&c=ASI&s=LAN (Zugriff am27.04.2010)297 Indian Army Seeks Bids for Armored Personnel Carriers, Defense News,06.04.2009, S. 16<strong>11</strong>2


indischen Haubitzen auf das 155mm/52-Kaliber (Kostenpunkt 2Milliarden Dollar) ist wegen einer Schmiergeldaffäre bereits stark inVerzug. 2984.2.3 LuftwaffeDie indische Air Force möchte zukünftig eine ihrer Auslegung nachstärkere strategische Rolle einnehmen; die Schwerpunkte sollen sich inRichtung Weltraum verlagern. Als unmittelbare Ziele werden dieAnschaffung von MMRCA <strong>und</strong> intelligenten Waffen mit großerReichweite <strong>und</strong> integrierter Electronic Warfare Suite genannt. Um diemilitärische Überlegenheit gegenüber Pakistan zu behalten, müssen bis2020 zehn neue Kampfgeschwader geschaffen werden. Zusätzlich mussder gesamte indische Luftraum mit Low-Level-Radarsystemenabgedeckt sein. Gegenwärtig verfügt die indische Air Force über 34Geschwader mit je 18 Flugzeugen, für eine landesweite Radarabdeckungist jedoch noch ein Fehlstand von etwa 45% transportierbarer Low-Level-Radarsysteme zu konstatieren. Bis 2010 soll die Air Force auchüber einen eigenen Satelliten <strong>und</strong> C4ISR 299 -Systeme verfügen. In dennächsten fünf bis sieben Jahren sind Anschaffungen für 20 MilliardenDollar geplant. 300 Der größte Posten mit 10 Milliarden Dollar sind 126MMRCA. Flugtests dafür haben bereits im August 2008 begonnen. ZurAuswahl stehen Lockheed Martin’s F-16, Boeing’s F/A-18 SuperHornet, der Saab Gripen, die MiG-35, Dassault’s Rafale <strong>und</strong> derEurofighter Typhoon. 301 Die MMRCA sollen großteils in <strong>Indien</strong> gebautwerden <strong>und</strong> die veralteten MiG-21 ersetzen. Die Luftwaffe geht voneiner <strong>Indien</strong>ststellung bis 2014 aus, andere Regierungsstellen setzen denTermin, in Hinblick auf die Zeitdauer früherer Anschaffungen, eher bei2017 an. 302 Zur Erhöhung seiner Lufttransportkapazitäten hat <strong>Indien</strong> beiBoeing Interesse für 10 Transportflugzeuge des Typs C-17 Globemaster298 http://www.defensenews.com/story.php?i=4300000&c=ASI&s=TOP (Zugriff am21.10.2009)299 C4ISR: Command, Control, Communications, Computers, Intelligence,Surveillance, Reconnaissance300 Indian AF to Redefine Strategic Role, Defense News, 16.02.2009, S. 30301 http://www.defpro.com/daily/details/380/ (Zugriff am 22.10.2009)302 India Seeks MMRCA Flight-Trial Dates, Defense News, 16.02.2009, S. 30<strong>11</strong>3


III bek<strong>und</strong>et. 303 Die Kosten pro C-17 belaufen sich laut U.S. Airforce aufetwa 202 Millionen Dollar 304 , wodurch sich der Wert des Vertrages imRahmen von etwa 2 Milliarden Dollar bewegen dürfte.Die alternden Cheetah- <strong>und</strong> Chetak-Versorgungshubschrauber sollengegen 384 neue Überwachungshubschrauber im Wert von 2 MilliardenDollar ausgetauscht werden. 305 Für die Mirage 2000 ist ein Upgrade imWert von 1,5 Milliarden Dollar vorgesehen. Von Israel wurden für 1,2Milliarden Dollar Boden-Luft-Raketen des Systems Spyder QuickReaction erworben, in den USA werden sechs Transportflugzeuge C-130J für eine Milliarde Dollar gekauft. Außerdem soll die Luftwaffe um42 Kampfflugzeuge Sukhoi SU-30 MKI <strong>und</strong> vier Tankflugzeugeerweitert werden <strong>und</strong> in Luft-Luft-Raketen, Luftverteidigungsmunition<strong>und</strong> Präzisionsmunition 3 Milliarden Dollar investiert werden. 306 DieEntwicklung eines AEW&C-Flugzeuges hatte mit technischenProblemen zu kämpfen, wodurch sich die <strong>Indien</strong>ststellung verzögerte.<strong>Indien</strong> plant, insgesamt 6 Flugzeuge des Typs Il-76 mit Phalcon-Radarzu erwerben. Das erste wurde 2010 geliefert. 307 Nachdem das indischeProjekt zur Produktion eines leichten Kampfflugzeuges (Light CombatAircraft, LCA) lange Zeit mit Schwierigkeiten bei der Entwicklung einesTriebwerks zu kämpfen hatte, soll das LCA 2010 letzte Abschlusstestsdurchlaufen. Bis 2012 soll es in Dienst gestellt werden, bis 2020 möchtedie indische Luftwaffe das LCA als Hauptkampfflugzeug etablierthaben. 20 Stück wurden bereits bestellt. 308303 http://www.defensenews.com/story.php?i=4446407&amp;c=AIR&amp;s=TOP(Zugriff am 27.04.2010)304 http://www.af.mil/information/factsheets/factsheet.asp?fsID=86 (Zugriff am27.04.2010)305 http://www.indianexpress.com/news/india-to-float-global-tender-to-acquiremilitary-helicopters/295444/(Zugriff am 22.10.2009)306 Indian AF to Redefine Strategic Role, Defense News, 16.02.2009, S. 30;http://www.defpro.com/news/details/16346/ (Zugriff am 04.08.2010)307 http://www.defensenews.com/story.php?i=4101781 (Zugriff am 22.10.2009);http://www.defenseindustrydaily.com/Indian-AWACS-Moving-Forward-on-2-Fronts-04855/ (Zugriff am 04.08.2010)308 Wanted: Indian LCA Engine, Defense News, 16.02.2009, S. 30;http://www.defensenews.com/story.php?i=4481092&amp;c=AIR&amp;s=TOP(Zugriff am 27.04.2010)<strong>11</strong>4


4.2.4 MarineInfolge der Terroranschläge von Mumbai 2008 wurde ein Schwerpunktder Entwicklung der Marine auf die Kontrolle der Küstengewässergelegt. Bis 2014 wird die indische Marine etwa 3 Milliarden Dollar fürdie Kriegsführung in diesem Bereich ausgeben <strong>und</strong> verlagert damit dasstrategische Gewicht von der offenen See hin zu den Küstengewässern.<strong>Indien</strong>s einzige Plattform für diese Art der Kriegsführung, dasAmphibientransportdock INS Jalashwa, wurde 2007 von den USAgekauft <strong>und</strong> kann 900 Soldaten, sechs Panzer, vier Landungsschiffe,sechs Helikopter <strong>und</strong> 2.000 Tonnen an zusätzlichem Material befördern.Um die Fähigkeiten zu steigern, benötigt <strong>Indien</strong> ein weiteresKriegsschiff der Jalashwa-Klasse, Landungsschiffe <strong>und</strong> amphibischeEinheiten. Zur Überwachung der Küstenlinie sollen 400 MillionenDollar für maritime Aufklärungsflugzeuge mittlerer Reichweiteausgegeben werden. Bei Boeing wurden bereits acht Flugzeuge P8I für2,1 Milliarden Dollar geordert, die 2015 in Dienst gestellt werden sollen.Momentan werden für Überwachungseinsätze mit langer Reichweite dierussischen IL-38 <strong>und</strong> TU-142, die Dornier 228 <strong>und</strong> israelische UAVseingesetzt. 309 Die Marine hat auch schon die ersten zwei schnellenAngriffsboote erhalten; insgesamt sollen bis 2012 mehr als 50 Bootegeliefert werden. 310 Im September 2009 wurden 80 schnellePatrouillenboote bestellt, über weitere 100 wurde noch verhandelt. Diesesollen außer in Küstengewässern in den Seen im Grenzgebiet zu <strong>China</strong>eingesetzt werden. 3<strong>11</strong>Die 15 Schiffe umfassende U-Boot-Flotte wird ebenfalls erneuert. Nebenden sechs Scorpene-U-Booten werden sechs weitere U-Boote im Wertvon 5 Milliarden Dollar angeschafft <strong>und</strong> in einer dritten Stufezusätzliche 12, wobei der ursprüngliche Zeitplan bereits um Jahreerstreckt werden musste. 312 <strong>Indien</strong>s erstes Nuklear-U-Boot, die INSArihant, soll, genauso wie die Scorpene-U-Boote, 2012 in Dienst gestelltwerden. Ein russisches U-Boot der Akula-Klasse wird für 2010 erwartet.309 http://www.defensenews.com/story.php?i=3899960 (Zugriff am 04.08.2010)310 http://www.defensenews.com/story.php?i=4270463&c=ASI&s=ALL (Zugriff am22.10.2009)3<strong>11</strong> Indian Navy To Buy Fast Patrol Boats, Defense News, 28.09.2009, S. 31312 http://www.zeenews.com/news640084.html (Zugriff am 05.08.2010)<strong>11</strong>5


Um sich gegen die wachsende chinesische U-Boot-Flotte behaupten zukönnen, werden nach indischen Angaben noch 20 weitere U-Bootebenötigt. 313 <strong>Indien</strong> arbeitet auch an der Entwicklung von Stealth-Zerstörern 314 <strong>und</strong> baut an einem eigenen Flugzeugträger, auf dem LCAeingesetzt werden sollen. 3154.2.5 Raketentechnologie <strong>und</strong> RaketenabwehrBei der Entwicklung von neuen Rüstungsgütern liegt ein Schwerpunktauf Raketensystemen <strong>und</strong> Raketenabwehr. <strong>Indien</strong> arbeitet an einemeigenen Raketenabwehrsystem, Prithvi Air Defence (PAD), welchesnach eigenen Angaben 2012 in Betrieb gehen soll. Andere Quellengehen jedoch von einer Fertigstellung bis 2020 aus. Laut Experten istdas System gegen Raketen mit einer Reichweite von bis zu 2.000 kmgeeignet 316 , eine weitere Stufe mit einer Abfangreichweite von über5.000 km ist geplant. 317 Dafür ist allerdings die Verbindung des PAD-Systems mit einem Überwachungssatelliten notwendig. 318 Die DefenceResearch Development Organization (DRDO) arbeitet an einer ganzenReihe von Raketensystemen 319 , darunter auch Boden-Luft-Raketen, wiedem Akash-System, um das veraltete Luftabwehrnetz zu stärken.Gemeinsam mit Israel ist die Entwicklung einer weiteren Boden-Luft-Rakete geplant. 320313 Indian Navy Wants Six More Subs, Defense News, 05.10.2009, S. 54314 http://www.defensenews.com/story.php?i=4284555&c=ASI&s=ALL (Zugriff am23.10.2009)315 http://www.defensenews.com/story.php?i=4302013&c=ASI&s=TOP (Zugriff am23.10.2009)316 India Strives To Field Missile Defense by 2012, Defense News, 30.03.2009, S. 14317 http://indiatoday.intoday.in/index.php?option=com_content&task=view&id=31874&sectionid=4&issueid=96 (Zugriff am 09.09.2009)318 India Strives To Field Missile Defense by 2012, in: Defense News, 30.03.2009, S.14319 Für eine genaue Aufgliederung siehe: Annual Report, Ministry of Defence,http://mod.nic.in/reports/welcome.html320 India, Israel To Develop Medium-Range SAM, Defense News, 06.04.2009, S. 16<strong>11</strong>6


5. Strategische (Nukleare) Kräfte <strong>Indien</strong>s 321Thomas PankratzDer Beginn des indischen Nuklearwaffenprogramms kann als Folge desindisch-chinesischen Grenzkrieges 1962 <strong>und</strong> des ersten chinesischenNukleartests 1964 gesehen werden. 322 Der erste „friedliche“ Atomtestfand am 18. Mai 1974 statt. 323 Bis 1998 wurde der Besitz vonNuklearwaffen offiziell dementiert <strong>und</strong> von einer „nuklearen Option“gesprochen, die dann verwirklicht werden sollte, wenn es die regionalenbzw. internationalen Umstände erfordern würden. Am <strong>11</strong>. Mai 1998erfolgte eine Serie von Nukleartests, wobei eine Fissions- <strong>und</strong> eineFusions- sowie eine Bombe mit einer Sprengkraft unter 1 Kt getestetwurden.<strong>Indien</strong> ist nicht Mitglied des Non Proliferation Treaty (NPT), den es alsdiskriminierend ablehnt. Ebenso stimmte <strong>Indien</strong> 1996 gegen dieResolution der UN-Vollversammlung, die den Comprehensive Test BanTreaty ermöglichte. Als Hauptgr<strong>und</strong> für diese Haltung kann gesehenwerden, dass <strong>Indien</strong> die eigenen nuklearen Optionen nicht einschränkenwollte <strong>und</strong> will.Ein bilaterales Abkommen mit den USA von 2007 soll es ermöglichen,zivile nukleare Brennstoffelemente sowie entsprechendes Know-howvon den USA nach <strong>Indien</strong> zu exportieren. 324 Vorgesehen ist, dass <strong>Indien</strong>321 In der Literatur finden sich zum Teil sehr divergierende Aussagen über diestrategischen Kräfte <strong>Indien</strong>s. Für die folgenden Ausführungen wurde als primäreReferenz das SIPRI-Yearbook 2009 herangezogen, da es die neuesten Daten zurVerfügung stellt. Shannon N. Kile, Vitaly Fedchenko, Hans M. Kristensen, WorldNuclear Forces, in: SIPRI (ed), SIPRI-Yearbook 2009; S. 345-379322 Die zivile Nutzung der Kernenergie geht hingegen bereits bis 1948 zurück.323 <strong>Indien</strong> sprach von einer Explosivkraft von 12 kt, während westliche Analytiker von4-6 kt ausgingen.324 Am 18. Juli 2005 unterzeichneten George W. Bush <strong>und</strong> der indischeMinisterpräsident Manmohan Singh eine gemeinsame Erklärung, in der sie dasNuklearabkommen bereits detailliert skizzierten. Im August 2007 wurde es dann vonbeiden Regierungen unterzeichnet.<strong>11</strong>7


seine zivilen <strong>und</strong> militärischen nuklearen Anlagen trennt <strong>und</strong> die zivilenunter Aufsicht der IAEA stellt. 325Die Zahlen hinsichtlich des indischen Nukleararsenals schwankenzwischen 50 <strong>und</strong> 70 einsatzfähigen Nuklearsprengköpfen. DieseSchätzungen gründen im Wesentlichen auf dem waffenfähigenPlutonium, über welches <strong>Indien</strong> verfügt, <strong>und</strong> in Frage kommendenWaffensystemen. 326Die indische Nukleardoktrin, welche 1999 veröffentlicht wurde, basiertauf den Prinzipien einer glaubwürdigen Minimalabschreckung(minimum credible deterrence) <strong>und</strong> des Nichtersteinsatzes vonNuklearwaffen. Was unter minimum credible deterrence zu verstehenist, wurde bislang noch nicht definiert. 2003 wurde bekannt gegeben,dass <strong>Indien</strong> Nuklearwaffen auch zur Abschreckung oder Vergeltung desEinsatzes biologischer oder chemischer Waffen einsetzen würde. 327Die Nuklearwaffen werden von der Nuclear Command Authority (NCA)kontrolliert. Diese umfasst einen Politischen Rat <strong>und</strong> einen Exekutivrat.Der Politische Rat, dem der Premierminister vorsteht, ist das Organ,welches den Einsatz von Nuklearwaffen autorisieren kann. Die NCAbefasst sich auch mit Fragen der Bereitschaft der Nuklearstreitkräfte,Zielauswahl oder verschiedenen Stufen der Bereitschaft.Der Oberkommandierende des Strategic Forces Command (SFC),welches 2003 gegründet wurde, koordiniert <strong>und</strong> managt die strategischenKräfte durch unabhängige Kommandoketten der Armee <strong>und</strong> derLuftwaffe. Die Armee ist verantwortlich für alle landgestützten, dieLuftwaffe für die luftgestützten Systeme. Die Marine hat noch keineNuklearwaffen. Die Raketenkräfte sind in zwei Raketengruppen mit SS-150 bzw. SS-250 sowie je eine Gruppe mit Agni-I <strong>und</strong> Agni-IIzusammengefasst.325 http://www.atomwaffena-z.info/atomwaffen-glossar/i/itexte/artikel/559/2d7e21d61b/index.html(Zugriff am 07.07.2009)326 World Nuclear Forces; S. 345-379; S. 367327 World Nuclear Forces; S. 345-379; S. 367. Die Nukleardoktrin ist abrufbar unter:http://www.internationalepolitik.de/ip/archiv/jahrgang2000/januar00/entwurf-einer-indischen-nukleardoktrin--vorgelegt-vom-nationalen-sicherheitsrat-am-17--august-1999-in-new-delhi.html<strong>11</strong>8


Die einsatzfähigste Komponente der Nuklearstreitkräfte ist die Luftwaffe(Indian Air Force/IAF), welche nachweislich Mirage 2000H für denTransport von frei fallenden Nuklearbomben umgerüstet hat. WeitereFlugzeuge, die als Trägersystem für Nuklearwaffen in Betracht kommen,sind die Jaguar IS, Mig-27 sowie Su-30MKL. 328 Die indischeNuklearkapazität wird auch indirekt durch die Anschaffung 40 neuer Su-30MKI <strong>und</strong> durch ein geplantes Upgrade im Wert von 1,5 MilliardenDollar für die Mirage-2000-Kampfflugzeuge erweitert. 329Hinsichtlich landgestützter Raketen verfügt <strong>Indien</strong> über ein breitesArsenal von Kurzstreckenraketen der Typen Prithvi I-III, wobei jedochnur die Prithvi-I nuklearfähig sein dürfte. Weiters sollen sowohl dieSRBM 330 Agni-I als auch die MRBM 331 Agni-II nuklearfähig sein.<strong>Indien</strong> arbeitet derzeit an der Agni-III mit einer geschätzten Reichweitevon bis zu 3.000 km. Es wird erwartet, dass die Agni-III denStreitkräften 2010/20<strong>11</strong> zugeführt werden wird. Ebenfalls in derEntwicklung steht die dreistufige Agni-V mit einer Reichweite von biszu 5.000 km. Ob <strong>Indien</strong> sich entschließen wird, ballistische Raketen mitinterkontinentaler Reichweite zu entwickeln, ist zurzeit noch offen. Vonder in Entwicklung stehenden, der US-amerikanischen Tomahawkähnlichen, bodengestützten Cruise Missile Nirbhay („Furchtlos“) wirdangenommen, dass sie über eine Reichweite von bis zu 1.000 kmverfügen wird. 332Um die Triade der indischen Nuklearkräfte zu komplettieren, arbeitet<strong>Indien</strong> an der Entwicklung nuklearer Systeme für die Marine. DieDhanush („Bogen“), eine Weiterentwicklung der Prithvi-II, soll vonOberflächenschiffen der Marine eingesetzt werden können. Vorgesehenist, zwei Schiffe mit diesem System (Reichweite ca. 350 km), welchessowohl konventionell als auch nuklear bestückt werden soll,auszurüsten. Eine weitere Entwicklung ist die U-Boot-gestützte K-15,328 World Nuclear Forces; S. 345-379; S. 368-369329 Vivek Raghuvanshi, Indian AF To Redefine Strategic Role, in: Defense News,16.02.2009; S. 30330 SRBM: Short-Range Ballistic Missile331 MRBM: Medium-Range Ballistic Missile332 World Nuclear Forces; S. 345-379; S. 37<strong>11</strong>19


deren projektierte Reichweite bei ca. 700 km liegen dürfte. 333 Zurzeitarbeitet <strong>Indien</strong> am Bau eines nuklearbetriebenen U-Bootes („INSArihant“), welches nächstes Jahr in Dienst gestellt werden soll.Zusätzlich plant <strong>Indien</strong>, ein Nuklear-U-Boot der Akula-Klasse vonRussland zu leasen. 334333 World Nuclear Forces; S. 345-379; S. 371334 Financial Times, 08.07.2009120


Übersicht: Strategische Kräfte <strong>Indien</strong>s (Stand 2009) – 1. TeilNukleare Gefechtsköpfe (Stand: Jänner 2009)Strategisch ~ 50Taktisch -Operationell -Reserve ~ 50Gesamt ~ 100TrägersystemeTypen Reichweite StatusAgni-IAgni-IIAgni-IIIAgni-VPrithvi-I (SS-150)Prithvi-II (SS-250)Prithvi-III (SS-350)SRBM(> 700 km)MRBM(> 2.000 km)IRBM(> 3.000 km)IRBM(~ 5.000 km)SRBM(150 km)SRBM(350 km)SRBM(? km)70-90 Stück, Nutzlast ca. 1.000 kg; TestsOktober 2007 <strong>und</strong> März 200815-20 Stück, Nutzlast ca. 1.000 kg; Test29. Oktober 2004; wurde eingeführt,operationeller Status ist unbekanntUnter Entwicklung, Tests 9. Juli 2006(Fehlstart), 12. April 2007, 7. Mai 2008;<strong>Indien</strong>ststellung wird für 2010/20<strong>11</strong>erwartet; soll möglicherweise einen 200-250 kt Gefechtskopf tragenMöglicher Testflug 2010Einstufig, Flüssigtreibstoff, mobil,Nutzlast ca. 1.000 kg; <strong>Indien</strong>ststellung1994; weniger als 50 Startgeräte;möglicherweise nuklearfähig<strong>Indien</strong>ststellung 2004 (IAF), 2006 (Army);wahrscheinlich nicht nuklearfähigFeststoffantrieb; wahrscheinlich nichtnuklearfähig121


Übersicht: Strategische Kräfte <strong>Indien</strong>s (Stand 2009) – 2. TeilShourya (600-700 km) Silogestützt; erster Test 12. November2008; möglicherweise eine bodengestützteVersion der K-15; Shourya = Stille; ob dasSystem nuklearfähig ist, ist nicht bekanntNukleareFreifallbombenNirbhayDhanushK-15/SagarikaBrahmos- Mögliche Trägersysteme: Mirage 2000H,Jaguar IS, Mig-27, Su-30MKLCruise Missile~ 1.000 kmSRBM~ 350 kmSLBM(700 km)Cruise Missile(290 km)Cruise Missile; unter Entwicklung;bodengestützt; ähnlich Tomahawk;möglicherweise nuklearfähigWeiterentwicklung der Prithvi-II; Einsatzvon Oberflächenschiffen der Marine aus;sowohl konventionelle als auch nukleareBestückung vorgesehenZweistufige SLBM; erster Test am 26.Februar 2008; Stationierungmöglicherweise auf dem in <strong>Indien</strong>entwickelten Nuklear-U-Boot AdvancedTechnology Vessel (ATV); Nutzlast beica. 1.000 kgIndisch-russischeGemeinschaftsentwicklung; bislang nochkein TestflugQuellen: IISS, The Military Balance 2009, London 2009; S. 345. Status of WorldNuclear Forces 2008,http://www.fas.org/programs/ssp/nukes/nuclearweapons/nukestatus.html (Zugriff am23.03.2009). World Nuclear Forces; S. 345-379; S. 368122


6. <strong>Indien</strong> - DemographieHeinz Nissel6.1 ZusammenfassungMit der letzten Volkszählung (2001) befindet sich <strong>Indien</strong> mit 1,027Millionen Einwohnern als zweites Land der Erde in der„Milliardenliga“. Derzeit hält es bei 1,150 Mrd. Nach Prognosen derUNO 335 könnte die Einwohnerzahl bis 2050 bis auf 1,63 Mrd. ansteigen,dabei etwa zwischen 2025 <strong>und</strong> 2035 die Volksrepublik <strong>China</strong> überholen<strong>und</strong> an die erste Stelle vorrücken. Vieles spricht dafür, dass <strong>Indien</strong>während dieser Jahrzehnte eine „demographische Dividende“ lukrierenkann, d. h. altersstrukturelle Vorteile für wirtschaftliches Wachstum <strong>und</strong>erhöhte Produktivität aufweisen wird. Bisher ergibt sich für dieBevölkerungsentwicklung ein sehr heterogenes Bild. Positiv bilanzierendie Fortschritte im Kampf gegen Kinder- <strong>und</strong> Säuglingssterblichkeit, dasZurückdrängen des Analphabetismus sowie die Reduktiongenderspezifischer Chancenungleichheit. Negativ dafür das zunehmendeFrauendefizit – es fehlen bereits 35 Millionen 336 – sowie die noch immerweitverbreitete bittere Armut <strong>und</strong> Unterernährung. Bei der Größe desLandes ergeben sich hinsichtlich aller Faktoren große Unterschiede(Stadt/Land, Region, Einkommen, Bildung, Religion, Kaste usw.) Auchdas zunehmende demographische Auseinanderdriften des Nordens <strong>und</strong>Südens könnte – nicht zuletzt politisch – zu einer ernsten Belastungführen.6.2 Bevölkerungsanalysen in <strong>Indien</strong><strong>Indien</strong> hat (im Gegensatz zu <strong>China</strong>) eine lange Traditiondemographischer Datensammlung <strong>und</strong> Aufbereitung, die tief in dieKolonialzeit zurückreicht. Bereits 1865-72 führten die Briten ersteErhebungen auf dem indischen Subkontinent durch, <strong>und</strong> ungeachtet allerpolitischen wie ökonomischen Wirren <strong>und</strong> Veränderungen erfolgten die335 Nach UN World Population Prospect. The 2008 Revision Population Database.336 Ergebnisse des Census of India 2001. www.censusindia.net oderwww.censusindia.gov.in, 3.5.2010123


weiteren Volkszählungen ab 1881 regelmäßig immer zu Beginn einesneuen Jahrzehnts. Damit existiert eine beeindruckende Kontinuität seitbald 150 Jahren <strong>und</strong> der Census of India 2001 ist die 14. Erfassung derBevölkerung seit Beginn der Zählungen <strong>und</strong> die sechste seit derUnabhängigkeit des Landes (1947). Bereits wenige Wochen nach derDurchführung im Frühjahr 2001 wurden die wichtigsten (vorläufigen)Ergebnisse in Tabellen, Karten <strong>und</strong> ersten Interpretationen interessiertenBenutzern – auch über Internet-Recherche – zugänglich gemacht. 337 Diegroßen Probleme, die hinsichtlich der gleichzeitig in Österreich(vermutlich zum letzten Mal) angesetzten Vollerhebung sowohl in derFinanzierung, Durchführung wie auch Auswertung auftraten, nötigenden Leistungen der indischen Zensusbehörden umso mehr Respekt ab:mehr als zwei Millionen Erhebungsbeamte (überwiegend freigestellteLehrer) waren mit der Erfassung mittels Fragebögen in 18unterschiedlichen Sprachen betraut. In den weiteren Jahren führten dieZensusbehörden, die dem Innenministerium unterstellt sind, Expertenanderer Ministerien, Universitäten, Think-Tanks usw. eine Fülle vonFolgeuntersuchungen <strong>und</strong> Sonderauswertungen durch, die in Buchform,auf CDs, als Atlanten oder direkt online abrufbar sind. 338 KomplexereFragestellungen (z. B. Altersversorgung, Bildungschancen oder Nutzungvon Kontrazeptiva) werden darüber hinaus in umfangreichen,aktualisierten Stichproben durch DHS (Development and HealthSurveys) sowie NFHS (National Family Health Surveys) erfasst.6.3 Milliardenpopulation <strong>und</strong> FrauendefizitMit dem Stichtag 1. März 2001 erfüllten sich zunächst Prognosen, dass<strong>Indien</strong> nach <strong>China</strong> als zweiter Staat der Erde die Milliardengrenzeüberschritten hat. Damit spielen die asiatischen Riesen in einer „eigenen337 Die Auswertungen <strong>und</strong> Interpretationen des Autors beziehen sich überwiegend aufdiese Primärquellen, siehe dazu auch zuletzt „<strong>Indien</strong>“ in: Landesverteidigungsakademie(Hg.) (2007): Aspekte zur Vision BH 2025. Schriftenreihe derLandesverteidigungsakademie, Nr. 7, Wien, S. 299-315.338 Nach Registrierung ist die Homepage http://www.censusindia.gov.in allgemeinzugänglich. Suchmaschinen wie Google oder Yahoo bieten h<strong>und</strong>erte Zugänge. DasProblem liegt nicht im „data mining“, sondern in der Überfülle des Anbots <strong>und</strong> denMängeln der Analyse <strong>und</strong> Aufbereitung, z.B. auf den Homepages anderer indischerMinisterien.124


Liga“ (die USA an dritter Position zählen r<strong>und</strong> 300 MillionenMenschen). In <strong>Indien</strong> leben derzeit über 17,5% der Menschheit auf nur2,4% der verfügbaren Fläche. Gezählt wurden 2001 1,027 MillionenBewohner, „nur“ 13 Millionen mehr als von den meisten Expertenerwartet, natürlich mit allen Folgeproblemen (Infrastruktur,Arbeitsplätze). Andererseits haben noch in den 1980er-Jahren Fachleuteder UNO in einem Langzeitszenario für 2000 1,043 Millionenvorhergesagt, also um 16 Millionen mehr, als dann de facto gezähltwurden. 339 So gesehen weisen indische Behörden (zu Recht) darauf hin,dass durch Familienplanungsmaßnahmen viele Millionen Geburtenverhindert werden konnten. Die jüngste Schätzung (2009) liegt bei 1,150Millionen Menschen. 340 Vielleicht noch schockierender war dieKonfrontation mit der Tatsache, dass – im Gegensatz zu westlichenIndustrienationen – das Zählergebnis 531 Mill. Männer zu 496 Mill.Frauen betrug, also ein Frauendefizit (oder Männerüberschuss) von 35Millionen! Dies weist natürlich auf traditionelle Einstellungen hin –patriarchalisch organisierte Familien, Dorfgemeinschaften (Panchayat),Kasten etc. Die Bevorzugung von Söhnen führt trotz Verboten zu einemBoom an pränatalen Ultraschalluntersuchungen <strong>und</strong> darauf folgenderAbtreibungen weiblicher Föten in tausenden Kliniken. Der Erforschung<strong>und</strong> Bekämpfung dieser komplexen <strong>und</strong> schwierigen Situation wird<strong>heute</strong> hohe Aufmerksamkeit gewidmet. 3416.4 Bevölkerungsentwicklung bisher<strong>Indien</strong>s Bevölkerung entwickelte sich mit Blick auf die frühenVolkszählungen keineswegs geradlinig. Noch in den Jahrzehnten 1891-1901 <strong>und</strong> 19<strong>11</strong>-1921 ergab sich eine negative Bilanz, alsoBewohnerverluste, in der Dekade dazwischen (1901-19<strong>11</strong>) Stagnation.Durch 30 Jahre griffen Hungerepidemien, Massenerkrankungen wiePest, Cholera <strong>und</strong> Grippe, Dürre- <strong>und</strong> Überschwemmungskatastrophen,der generell niedrige hygienische Standard sowie mangelhafte339 Nissel, H. (2009): Materialien zur Vorlesung Südasien I, WS 2008/2009, UniversitätWien.340 Laufende Bevölkerungsfortschreibung. www.censusindia.net, 3.5.2010341 2008 entfielen landesweit immer noch <strong>11</strong>2 Knaben- auf 100 Mädchengeburten.Laufende Bevölkerungsfortschreibung. www.censusindia.gov.in, 2.5.2010125


Infrastruktur gravierend in die Bevölkerungsbilanz ein. In dennachfolgenden 30 Jahren bis 1951 besserten sich die Verhältnisse,trotzdem lagen die jährlichen Wachstumsraten nur zwischen 1,0 <strong>und</strong> 1,3Prozent. Deshalb wurden beim Zensus 1951 „erst“ 361 MillionenMenschen gezählt. Nach Erlangung der staatlichen Unabhängigkeitvermochten dann bessere Nahrungsversorgung <strong>und</strong> medizinischeBetreuung die hohen Verluste an Menschenleben zu verhindern. Seitherwuchs die Bevölkerung recht kontinuierlich zwischen 2,0 <strong>und</strong> 2,3Prozent im Jahr. In den letzten Jahren beschleunigt sich jedoch derProzess des Absinkens der Bevölkerungszunahme in vielen Regionen(vor allem Südindiens) deutlich, seit 2001 auf durchschnittlich 1,5Prozent. 2007 betrug die Zunahme national nur noch 1,38 Prozent. Im„Modell des demographischen Übergangs“ wandelt sich <strong>Indien</strong> <strong>heute</strong>von einem „verschwenderischen“ zu einem „sparsamen“Bevölkerungstyp. Bei ersterem liegen – typisch für einEntwicklungsland – sowohl die Geburten- als auch die Sterberatenzunächst sehr hoch. Daraufhin beginnt durch hygienische <strong>und</strong>medizinische Verbesserungen zuerst die Sterberate zu sinken, später(manchmal erst Jahrzehnte später) auch die Geburtenrate, bis sichschließlich beide auf niedrigem Niveau zum sparsamen Typ einpendeln.In der Übergangsphase kommt es zur starken Ausweitung derPopulation, die oft als „Bevölkerungsexplosion“ apostrophiert wird.<strong>Indien</strong>s Bevölkerung hat sich deshalb in nur 50 Jahren verdreifacht.Kinderreichtum beruht auf generativen Erfahrungen <strong>und</strong> rationalenÜberlegungen (Erbrecht, Totenritual usw.). Während Maßnahmen zurReduktion der Mortalität staatlich verordnet <strong>und</strong> durchgeführt werdenkönnen (<strong>und</strong> ohnehin auf breite gesellschaftliche Akzeptanz stoßen),erfordert die Senkung von Geburten- <strong>und</strong> Fruchtbarkeitsquoten einenlangen Atem: es gilt, religiöse Einstellungen <strong>und</strong> soziale Praktiken, die<strong>Indien</strong> seit Jahrtausenden bestimmt haben, zu ändern – über bessereökonomische Rahmenbedingungen sowie Akzeptanz von Bildung,gerade auch vermehrte Bildungschancen für Mädchen. Früher musste einEhepaar, ganz ähnlich wie in <strong>China</strong>, drei Söhne „produzieren“ (d. h.statistisch gesehen auch drei Töchter), um zweckrational die eigeneAltersversorgung zu sichern.126


Heute greifen die verbesserten Lebensbedingungen massiv in dendemographischen Verlauf ein. Im generativen Verhalten besitzen Städtereinen Innovationsvorsprung, doch sinken die Geburtenraten imländlichen Raum bereits gleich schnell wie in den Städten (wenn auchbei höherem Ausgangsniveau). Ähnliche Trends sind bei den Raten derKinder- <strong>und</strong> Säuglingssterblichkeit zu erkennen. Die Kindersterblichkeit(0- bis 6-Jährige) sank z. B. zwischen 1981 <strong>und</strong> 1997 von 63 auf 42Promille in den Städten <strong>und</strong> von 120 auf 70 in den Dörfern. DieGeburtenrate liegt (2008) bei 22,2, die Sterberate bei 6,4 Promille, dieFruchtbarkeitsrate bei 2,76. Dramatisch verbessert hat sich die mittlereLebenserwartung: um 1930 lag sie nicht höher als bei 29 Lebensjahren,beim Zensus 2001 bei 62, inzwischen schon bei 69,2 (Männer: 66,9;Frauen: 71,9) – die durchschnittliche Lebensspanne hat sich innerhalbvon weniger als 80 Jahren mit einer Zunahme von ca. 130% weit mehrals verdoppelt! Zugleich wuchs die Einwohnerzahl zwischen 1991 <strong>und</strong>2001 um nicht weniger als 181 Millionen Menschen. 342 Dies bedeutet,dass allein im letzten Jahrzehnt die Zunahme deutlich dieGesamtbevölkerung Brasiliens (fünftgrößte Bewohnerzahl weltweit)übersteigt, <strong>und</strong> noch immer gilt die Aussage Indira Gandhis von Mitteder 1970er-Jahre: “We add an Australia every year.”6.5 BevölkerungsprognosenDie Bewältigung (auch) der demographischen Probleme ist einewesentliche Voraussetzung für die Verwirklichung politischer wieökonomischer Großmachtträume. Noch immer leben etwa 400 MillionenMenschen unter der (indischen) Armutsgrenze, das sind mehr als doppeltso viele Arme wie für alle 53 Staaten Afrikas zusammen ausgewiesen. 343Unter der Annahme gleichbleibender Trends in <strong>Indien</strong> <strong>und</strong> <strong>China</strong> (Ein-342 Angaben nach Unterlagen der Volkszählungen <strong>Indien</strong>s, zuletzt Census 2001 <strong>und</strong>laufende Statistik.343 Messungen von „Armut“ sind kontextabhängig. Dies ist ein Durchschnittswert ausden jüngsten Haushaltsbefragungen des NCAER (National Council of AppliedEconomic Research). Der Human Development Report der UN 2007/2008 geht voneiner Armutsquote von 34% der Bevölkerung aus (mit bis zu einem Dollar pro Tag) –ca. 370 Mill. Menschen. Unter (realistischer) Annahme des Grenzwerts 2 $/Tag wärendies jedoch um die 80%, d. h. über 800 Mill. Menschen. Im Human DevelopmentIndex der UNO nimmt <strong>Indien</strong> nur Rang 128 ein.127


Kind-Politik) könnte <strong>Indien</strong> zwischen 2025 <strong>und</strong> 2035 die zweifelhafteReputation erwerben, zum einwohnerstärksten Land der Erdeaufzusteigen. Gegenwärtig stehen 1,3 Milliarden Chinesen 1,15Milliarden Indern gegenüber. Nach UNO-Prognosen würde sich dieseRelation bis 2050 auf 1,628 Mrd. Inder gegenüber 1,437 Mrd. Chinesenverändern. Zusammen mit den über 350 Millionen Einwohnern vonBangladesh, Pakistan, Nepal <strong>und</strong> Sri Lanka zählt der IndischeSubkontinent schon jetzt 1,5 Milliarden Bewohner, also bereits mehr als<strong>China</strong> <strong>und</strong> Russland gemeinsam! Zu den größten demographischenVorteilen <strong>Indien</strong>s dürfte in Zukunft gehören, dass die Alterspyramide imVergleich zu <strong>China</strong>, Europa <strong>und</strong> Russland bis 2050 „jung“ bleibt.Gegenwärtig (2008) sieht sie folgendermaßen aus: 31,5% gehören zuden 0- bis 14-Jährigen, 63,3% zur produktiven Gruppe der 15- bis 64-Jährigen <strong>und</strong> nur 5,2% sind älter (65+). Da <strong>China</strong> deutlich früher dieeinzelnen Phasen des Prozesses des demographischen Übergangsdurchschritten hat, eröffnen sich für <strong>Indien</strong> noch auf Jahrzehnte hinausVorteile, die „demographischer Bonus“ oder „demographischeDividende“ 344 genannt werden. Während Bevölkerungswachstum einen(statistisch signifikanten) negativen Effekt auf das Pro-Kopf-Einkommen hat, so wirkt sich umgekehrt ein Anwachsen derökonomisch aktiven Bevölkerung signifikant positiv aus. 2008 zeigt<strong>China</strong> einen Spitzenwert der erwerbsfähigen Bevölkerung von 71%,bezogen auf die Gesamtpopulation, in <strong>Indien</strong> wird dies erst um 2030 derFall sein. Die kommenden Jahrzehnte bedeuten für <strong>Indien</strong> eineinzigartiges window of opportunity hinsichtlich altersstrukturellerVorteile für wirtschaftliches Wachstum <strong>und</strong> erhöhte Produktivität. Dafürist allerdings ein komplexer Mix aus politischen, ökonomischen <strong>und</strong>demographischen Strategien notwendig. 345344 Lutz, W. & S. Scherbov (2005): India’s window of opportunity. Options Magazine,Autumn 2005. International Institute for Applied System Analysis (IIASA),Laxenburg.345 Kugler, T. & S. Swaminathan (2006): The Politics of Population. InternationalStudies Review, vol. 8, S. 581-596.128


6.6 Nord-Süd-Gegensatz der Entwicklung <strong>und</strong> möglichepolitische KonsequenzenIm regionalen Kontext innerhalb <strong>Indien</strong>s zeigen sich große Differenzender Bevölkerungsentwicklung, vor allem ein deutlicher Nord-Süd-Gegensatz, wobei die südindischen B<strong>und</strong>esstaaten ganz klarunterproportional wachsen <strong>und</strong> vor allem die unterentwickelten Gebietedes Hindi-belt in Nordindien zulegen. Der krisengeschüttelteB<strong>und</strong>esstaat Bihar, <strong>Indien</strong>s ärmster Landesteil, wuchs in der letztenDekade um 28,4%, Kerala im Süden aber nur noch um 9,4%. Dieseregional höchst unausgewogene Entwicklung hängt mitunterschiedlichen Erfolgen der einzelnen B<strong>und</strong>esstaaten in Bezug aufihre wirtschaftlichen Fortschritte <strong>und</strong> mit der Mobilisierung derHumanressourcen (Alphabetisierungskampagnen <strong>und</strong> Zugängen zuhöherer Bildung sowie Ausbildung) zusammen. FortschrittlicheRegionen <strong>Indien</strong>s vermochten ihren Bevölkerungszuwachs deutlich zuverringern (Kerala, Tamil Nadu, Karnataka), die rückständigen Staatendes „Bimaru-Gürtels“ nicht („bimaru“ bedeutet in Hindi „krank“ <strong>und</strong>steht auch als Kürzel für Bihar, Madhya Pradesh, Rajasthan <strong>und</strong> UttarPradesh). Längerfristig stellt die unterschiedliche demographischeEntwicklung Nord- <strong>und</strong> Südindiens eine der größten Belastungen der„größten Demokratie der Welt“ dar. Nach Vorbild Großbritannienswurde mit der Staatsgründung ein Mehrheitswahlrecht verankert, wobeidie Parlamentssitze in New Delhi proportional zur damaligenBevölkerungsverteilung vergeben wurden. 2000 verfügte die damaligeRegierung der Bharatiya Janata Party (BJP) unter Premier Vajpayee einEinfrieren der regionalen Sitzverteilung auf nicht weniger als 25 Jahre.Dies birgt politischen Sprengstoff in mehrfacher Hinsicht. Erstensverschieben sich die Stimmengewichte jährlich, in Bihar könnte dann2025 ein Gr<strong>und</strong>mandat dreimal so viel Wählerstimmen „kosten“ wie inKerala <strong>und</strong> damit ein Gr<strong>und</strong>prinzip der indischen Demokratie – one man,one vote – unterlaufen werden. Zweitens bestehenRegierungskoalitionen in <strong>Indien</strong> seit geraumer Zeit aus einer Vielzahlvon Parteien (meist über 20), unter anderem von Regionalparteien, diesich nur einem B<strong>und</strong>esstaat verpflichtet fühlen. Solche Regionalparteienstehen für eine Region, d. h. auch für eine bestimmte Sprachgruppe, eine„dominante Kaste“ (bedeutet viele Köpfe/Wählerstimmen) oder, noch129


gefährlicher, für einen spezifisch religiösen Hintergr<strong>und</strong>. WachsendeDisparitäten der Bevölkerungsentwicklung führen so auch zuwachsenden politischen Disparitäten durch das Erstarken vonRegionalparteien auf Kosten Delhis <strong>und</strong> zu verschärftenAuseinandersetzungen zwischen den Regionen. Beim Anpassen derSitzverteilung würde man hingegen gerade jene B<strong>und</strong>esstaaten bestrafen,die wirtschaftlich <strong>und</strong> in ihrer Bevölkerungspolitik erfolgreich gearbeitethaben. Noch einmal zur Größendimension: Insgesamt weist <strong>Indien</strong> 35B<strong>und</strong>esstaaten <strong>und</strong> (von Delhi direkt regierte) Unionsterritorien auf, <strong>und</strong>nicht weniger als 10 B<strong>und</strong>esstaaten haben jeweils mehr als 50 MillionenEinwohner, womit sie innerhalb Europas <strong>und</strong> auch weltweit zu denvolkreichsten Staaten gehören würden (bei der VZ 2001 wurden alleinein Uttar Pradesh 166 Millionen Einwohner gezählt).6.7 Alphabetisierung <strong>und</strong> UrbanisierungDeutliche Fortschritte konnten bei der Alphabetisierung verzeichnetwerden, wenn auch sehr viel langsamer als in <strong>China</strong>. R<strong>und</strong> zwei Drittelaller Personen (sechs Jahre <strong>und</strong> älter) sind <strong>heute</strong> des Lesens <strong>und</strong>Schreibens mächtig (zumindest nach den Befragungsstandards derZensusbehörde). Allerdings bleibt die geschlechtsspezifischeDifferenzierung groß: drei von vier Männern sind Alphabeten, jedochnur jede zweite Frau. Die Schere zwischen den Geschlechtern hat sichverkleinert, d. h. die Mobilisierung der Gr<strong>und</strong>bildung für Frauen beginntzu greifen. In fortschrittlichen B<strong>und</strong>esstaaten liegt derMobilisierungsgrad bereits bei über 90%. Erstmals ist im letztenJahrzehnt auch die absolute Anzahl an Analphabeten gesunken. Wiegroß die Fortschritte in der Bildungsoffensive tatsächlich sind, kann manetwa aus dem Bildungsniveau von 1951 ableiten – damals konntengerade einmal ein Viertel der männlichen Einwohner lesen <strong>und</strong>schreiben <strong>und</strong> nicht einmal jede zehnte Frau.Verstärkte Aufmerksamkeit dürfte auch zukünftig der Urbanisierunggelten. Mit r<strong>und</strong> 300 Millionen Stadtbewohnern 346 wird das städtischePotential <strong>Indien</strong>s quantitativ nur von <strong>China</strong> übertroffen. Dies warenjedoch weniger als 28% der Gesamtbevölkerung. Damit gehört nicht nur346 Government of India: Census 2001, General Population Tables.130


die Verstädterungsquote zu den niedrigsten weltweit, auch das Tempoder Urbanisierung zählt zu den langsamsten <strong>und</strong> hat sich innerhalb derletzten drei Dekaden sogar noch weiter abgeschwächt. Länder mitursprünglich niedrigerem Ausgangsniveau wie <strong>China</strong>, Thailand oderIndonesien haben <strong>Indien</strong> inzwischen deutlich überholt. Gründe dafürsind vielfältig – langsamere wirtschaftliche Entwicklung, traditionelleVerachtung städtischen Lebens in der Mentalität der Hindus <strong>und</strong> viel zuwenige Arbeitsplätze für potentielle Zuwanderer. Noch hat der Zuzug indie Großstädte aus den 640,000 Dörfern 347 nicht in großem Umfangeingesetzt, trotzdem zählen die Lebensumstände in <strong>Indien</strong>s Metropolenzu den schlimmsten überhaupt. 2001 wurden 35 Millionenstädte(überwiegend urbane Agglomerationen) ausgewiesen, in denen bereits40% aller Städter leben. Die laufende Schätzung (2009) geht von 44Millionenstädten aus <strong>und</strong> weiteren 40 mit über 500,000 Einwohnern.Trotz niedriger Urbanisierungsrate spielen die Metropolen in derWirtschafts- <strong>und</strong> Sozialentwicklung <strong>Indien</strong>s eine herausragende Rolle.Die New Economic Policy (NEP) steuert über die Metropolen <strong>und</strong> nochstärker über die Megacities (plus 10 Mill. Ew.) die Einwirkungen derGlobalisierung auf Ökonomie <strong>und</strong> Bevölkerung. Die MegacitiesBombay/Mumbai, Delhi <strong>und</strong> Calcutta gehören zu den 10 größten Städtender Erde; Greater Mumbai könnte bei anhaltenden Trends um 2020Tokio als größte Agglomeration der Erde ablösen.6.8 Vertiefende demographische AnalysenWie bereits eingangs erwähnt, gehören die Development and HealthSurveys sowie die National Family Health Surveys zu jenen großangelegten Stichprobenverfahren, die über die Zensusdaten <strong>und</strong> derenAuswertung hinaus weitergehende, tief erschürfende Fragestellungen<strong>und</strong> Antworten erlauben. Beispielhaft sei hier NFHS-3 (2005/2006)vorgestellt, eine Befragung in der Mitte zwischen den Volkszählungen2001 <strong>und</strong> 20<strong>11</strong>. 348 Dieser Survey war die dritte Befragungswelle in<strong>Indien</strong> nach NFHS-1 (1992/93) <strong>und</strong> NFHS-2 (1998/99). Allein dieGröße der Untersuchung ist imponierend: 18 Forschungseinrichtungen,347 Census 2001, Rural-Urban Distribution.348 International Institute for Population Sciences and Macro International (9/2007):Third National Familiy Health Survey. Summary of Findings.131


darunter 6 Population Research Centres, sammelten die Daten zwischenNovember 2005 <strong>und</strong> August 2006. Befragt wurden über 515,000Einzelpersonen in mehr als 109,000 Haushalten mit komplexenFragebögen. Die Stichprobe ist repräsentativ hinsichtlich derAltersstruktur, Sexualproportion, Religionsgruppen,regionaler/sprachlicher Verteilung der Bevölkerung, registrierter Kasten<strong>und</strong> Scheduled Tribes <strong>und</strong> OBCs (Other Backward Classes) etc.Kernthemen der Befragung befassten sich mit Fertilität, Mortalität,Familienplanung, Wissen um HIV, Ernährung, Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Vorsorgesowie mit dezidiert sensiblen Themen wie pränatale Mortalität,männliche Mithilfe bei der Ges<strong>und</strong>heitsobsorge für Mütter,risikoreichem Sexualverhalten, Gewalt im Haushalt oder Wissen überKrankheiten. Sonderbefragungen, Bluttests etc. kamen in kleinerenSamples zur Durchführung (z. B. in Slums von acht indischenMetropolen).Abschließend einige interessante Ergebnisse. Die Sexualproportion der0- bis 6-Jährigen hat sich auf 918 Mädchen pro 1,000 Knaben (VZ 2001:927) weiter verschlechtert. 72% der Kinder in entsprechendenJahrgängen besuchen die Primary School (6-10 J.), nur noch 51% dieSecondary School (<strong>11</strong>-17 Jahre), wovon noch 57% der Knaben dieserJahrgänge teilnehmen, jedoch nur 46% der Mädchen. 349 <strong>Indien</strong>weitgehen mehr als ein Viertel der Kinder überhaupt nicht zur Schule. DieLebensqualität für die Haushalte hat sich in den sieben Jahren seitNFHS-2 deutlich verbessert: 68% haben inzwischen Elektrizität, derZugang zu besserem Trinkwasser hat sich signifikant erhöht (88%).Deutlich zurückgedrängt wird auch der Analphabetismus, allerdingsbestehen hier nach wie vor große regionale <strong>und</strong> sexuale Unterschiede. Sohaben in Bihar nur 5 von 100 Frauen mehr als 12 Schuljahreaufzuweisen, in Delhi hingegen 37. Mehr als die Hälfte aller Frauenwerden schon vor dem erlaubten Minimalalter (18) verheiratet. ImDurchschnitt heiraten Männer erst mit 23,4 Lebensjahren. Im urbanenBereich hat die Total Fertility Rate (TFR) bereits 2.1 erreicht, imländlichen Raum liegt sie noch bei 3.0. Die Fruchtbarkeitsratenschwanken zwischen 1.8 in Goa, Andhra Pradesh <strong>und</strong> Tamil Nadu <strong>und</strong>349 Third National Family Health Survey NFHS-3 (2007), S. 30 ff.132


4.0 in Bihar. Hoch sind sie im gesamten Bimaru-Gürtel <strong>und</strong> in denStammesgebieten Nordost-<strong>Indien</strong>s. Fertilität hängt signifikant mitErziehungsniveau <strong>und</strong> Haushaltseinkommen zusammen. UngeplanteSchwangerschaften <strong>und</strong> Abtreibungen sind weit verbreitet. Zwei Drittelaller Befragten wünschen sich idealtypisch nur zwei Kinder, je einenBuben <strong>und</strong> ein Mädchen. Jede(r) Fünfte bevorzugt aber (im Ernstfall)einen Sohn. Nahezu alle wissen über Kontrazeptiva Bescheid <strong>und</strong> 56%wenden ihr Wissen an (bei NFHS-2 erst 48%). Einkommen, Kaste,Erziehung <strong>und</strong> Religion differenzieren auch hier wiederum ein breitesSpektrum. Kinder- <strong>und</strong> Säuglingssterblichkeit gehen permanent zurück.Aber noch immer stirbt einer von 18 Säuglingen/Jahr, <strong>und</strong> jedes 13.Kind erreicht nicht das sechste Lebensjahr – davon betroffen sind 70 von1,000 Buben, aber 79 von 1,000 Mädchen. Es gibt auch dabei die großenUnterschiede Stadt (42) – Land (62) sowie regional – Uttar Pradesh (73)gegenüber Kerala <strong>und</strong> Goa (15) – <strong>und</strong> die durchgängig schlechterenBedingungen für Arme, Ungebildete, niedrige Kasten, Minoritäten usw.wie bei den meisten Indikatoren. Sexualselektive Abtreibungen lassensich wie erwähnt eindeutig nachweisen, sie sind aber besonders hoch beibesser gebildeten Frauen in Städten. Nahezu jedes zweite Kind istunterernährt <strong>und</strong> kleinwüchsig, Chronisch unterernährt sind 36% allerbefragten Frauen zwischen 15 <strong>und</strong> 49 sowie 34% der Männer. Es bleibtviel zu tun für die Entwicklung <strong>Indien</strong>s.133


7. <strong>Indien</strong> – Staat <strong>und</strong> PolitikHeinz NisselDer legendäre amerikanische Botschafter John K. Galbraith bezeichneteschon vor Jahrzehnten die indische Demokratie als „funktionierendeAnarchie“. Und ähnlich formuliert Harald Müller vor kurzem in seinerAnalyse der innenpolitischen Entwicklung des Landes – „Das politischeRätsel: <strong>Indien</strong>s robuste Demokratie“. 350 Die Entwicklung derInnenpolitik der „größten Demokratie der Welt“ passt in keinvorgegebenes Schema oder Korsett der Politikforschung <strong>und</strong> fasziniertgerade deshalb. Hier sollen in knapper Form Gr<strong>und</strong>züge des indischenStaatsverständnisses <strong>und</strong> der Demokratieentwicklung vorgestellt werden.7.1 Günstige Voraussetzungen derDemokratieentwicklungDie Teilung des Subkontinents in <strong>Indien</strong> <strong>und</strong> Pakistan 1947 nach 200Jahren der kolonialen Dominanz Großbritanniens gehört bis <strong>heute</strong> zu dentraumatischen Erfahrungen der beiden Nationen <strong>und</strong> ihrer politischenEliten. Der Rückzug des britischen Empire erfolgte jedoch schrittweisein über fünf Jahrzehnten <strong>und</strong> ermöglichte damit einen langenReifeprozess der Unabhängigkeitsbewegung, ihrer Führer <strong>und</strong> derpolitischen Diskurse. 351 Die Kader des kolonialen Staatsapparatesmutierten so zum Rückgrat des neuen <strong>Indien</strong>s: was blieb, waren eineerfahrene einheimische Beamtenschaft, eine loyale Armee <strong>und</strong> Polizeiohne politische Ambitionen <strong>und</strong> die lange währende Konzentration derpolitischen Kräfte in der staatstragenden Kongresspartei. In denElitekorps der Bürokratie <strong>und</strong> des Heeres – dem Indian AdministrativeService (IAS) wie den ranghohen Offizieren – ist bis <strong>heute</strong> kein Platz fürreligiöse, ethnische oder regionale Partikularinteressen. Zum Mythos desKampfes um die Unabhängigkeit gehört auch die weitgehendeGewaltfreiheit unter der Führerschaft Mahatma Gandhis. DieÜbernahme der Spielregeln der „Westminster-Demokratie“ <strong>und</strong> des350 Müller, H. (2006, 2. Auflage 2007): Weltmacht <strong>Indien</strong>. Wie uns der rasante Aufstiegherausfordert. Frankfurt am Main. S. 133-165.351 Brown, J. M. (1985): Modern India. The Origins of an Asian Democracy. Oxford.134


säkularen Zivilrechts (das sich nach dem britischen Common Laworientierte) waren weitere wichtige Bausteine für eine demokratischeEntwicklung, ebenso wie die Schaffung einer Verfassung, die demPluralismus der Gesellschaft gerecht wurde.Der säkulare Nationalismus ist damit eine wesentliche Basis derindischen Demokratie, wie sie durch Gandhi, Nehru <strong>und</strong> dieKongresspartei vertreten wurde <strong>und</strong> welche die Politik für 40 Jahre nachder Unabhängigkeit prägte – ganz im Gegensatz zum religiösbestimmten Pakistan mit dem Islam als Staatsreligion. In den 1980er<strong>und</strong>1990er-Jahren erfuhr dann der Hindu-Nationalismus („Hindutva“)einen so starken Aufschwung, dass dem Congress die politischeFührungsrolle entrissen wurde. Die dritte ideologische Säule, die seither<strong>und</strong> bis <strong>heute</strong> immer stärker wird, ist die „erfolgreicheSelbstermächtigung der Unterprivilegierten“ 352 , von Unterkasten,Adivasi (Stammesbevölkerung) <strong>und</strong> regionalen Minderheiten.Schulbildung, Medien <strong>und</strong> die generelle politische Entwicklung(universelle Gleichheit aller Menschen, one man, one vote) führtenschrittweise zur Mobilisierung der <strong>und</strong>erdogs. Als Folge davon entstand,vor allem seit 1990, eine Fülle von kleineren Parteien auf lokaler,regionaler oder kastendominierter Basis. Dies steht in f<strong>und</strong>amentalemGegensatz zum Hindu-Nationalismus, der die Religion des Hinduismuswie die damit verknüpfte Sozialordnung des Kastensystems alsF<strong>und</strong>ament eines starken, selbstbestimmten <strong>Indien</strong> sieht. DerSäkularismus gilt als Irrtum, der die Nation schwächt. Sikhs, Jains <strong>und</strong>Buddhisten werden noch der Nation als irrende Kinder zugerechnet,Moslems <strong>und</strong> Christen hingegen als Fremdkörper gebrandmarkt.7.2 Die Führungsrolle des Kongresses<strong>Indien</strong> ist <strong>und</strong> bleibt das Land unglaublicher ethnischer, religiöser,sozialer <strong>und</strong> sprachlicher Vielfalt <strong>und</strong> wird nicht gr<strong>und</strong>los alsSubkontinent apostrophiert. Umso erstaunlicher bleibt deshalb dieErfolgsgeschichte der demokratischen Entwicklung, sowohl in ihrerGrößenordnung wie historischen Kontinuität. Mit derzeit etwa 1,150Milliarden Einwohnern <strong>und</strong> über 700 Millionen Wahlberechtigten352 Müller, H. (2006, 2. Auflage 2007): Weltmacht <strong>Indien</strong>. Zitat S. 51.135


organisiert <strong>Indien</strong> mehr Wähler als sämtliche Demokratien derwestlichen Welt zusammen. Seit über 60 Jahren finden Wahlen aufB<strong>und</strong>es- <strong>und</strong> Länderebene regelmäßig statt, die Wahlbeteiligung steigt<strong>und</strong> lag 2009 bereits bei 60%. Es existiert eine hohe Akzeptanz desParlamentarismus, Regierungswechsel verlaufen geordnet <strong>und</strong> unblutig,der Rechtsstaat arbeitet langsam, aber er funktioniert. Geht man alleinedavon aus, dass r<strong>und</strong> 40% der Bevölkerung noch immer Analphabetensind, die trotzdem immer wieder als Elektorat „weise“ Entscheidungentreffen, sprechen selbst indische Experten wie Atul Kohli 353 von einerAnomalie in der internationalen Politik.Die Entwicklung der indischen Demokratie wurde zuerst von einergebildeten, urbanen Elite britischer wie indischer Intellektuellergetragen, die sich im Indian National Congress 1885 konstituierten. Ausdiesem erwuchs zuerst die Unabhängigkeitsbewegung, diePersönlichkeiten sehr unterschiedlicher politischer Zugehörigkeiteinzubinden vermochte. Dieses breite Spektrum setzte sich in den erstenzwei Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit in der dominanten Stellungdes Congress als „staatstragende <strong>und</strong> staatsgetragene Partei“ (D.Rotherm<strong>und</strong>) fort. Ihre Politik der Mitte basierte auf den drei EckpfeilernDemokratie, Säkularismus <strong>und</strong> Sozialismus (Anti-Kolonialismus).Clemens Jürgenmeyer bezeichnet dies als one dominant party system 354 ,d. h. ein Mehrparteiensystem unter Vorherrschaft des Congress auf allenEbenen des öffentlichen Lebens. Durch diese Vorrangstellungvermochte sie oppositionelle Strömungen außerhalb der Parteiaufzusaugen <strong>und</strong> innere Flügelkämpfe zu neutralisieren. AndereParteien, insoweit sie sich überhaupt längerfristig behaupten konnten,blieben auf bestimmte Wählerschichten <strong>und</strong> Regionen beschränkt. DerParlamentarismus verlagerte sich damit gleichsam auf den Binnenraumder führenden Partei <strong>und</strong> förderte die für <strong>Indien</strong>s Politik so typischenkomplexen Aushandlungsprozesse. Manor spricht deshalb auch von353 Kohli, A. (Hg.) (1988): India’s Democracy. An Analysis of Changing State-SocietyRelations. Princeton. S. 3354 Jürgenmeyer, C. (2009): Die indische Demokratie – eine „funktionierendeAnarchie“. In: von Hauff, M. (Hg.) (2009): <strong>Indien</strong>. Herausforderungen <strong>und</strong>Perspektiven. Marburg. S. 73-92. Zitat S. 75.136


“India’s central integrating institution”. 355 Begünstigt wurde dieseDominanz durch Anwendung des Mehrheitswahlrechts, das bei 42 bis 48Prozent Stimmenanteil bei B<strong>und</strong>eswahlen regelmäßig eine 2/3- bis 4/5-Mehrheit der Mandate in Delhi erbrachte. Damit war es JawaharlalNehru möglich, das Leitbild seiner Politik durchzusetzen: Unity indiversity – Primat der Einheit des Landes mit Anerkennung seinerVielfalt.7.3 Die Ausdifferenzierung politischer ParteienAnders wäre auch die Eingliederung von 562 nominell unabhängigenFürstentümern in die Indische Union <strong>und</strong> ihre territoriale Neuordnung inB<strong>und</strong>esstaaten auf linguistischer Basis niemals gelungen. Dieses Prinzip– trotz mehrfacher Gebietsteilungen zwischen 1960 <strong>und</strong> 2000 – gilt bis<strong>heute</strong> <strong>und</strong> die Union umfasst zurzeit 29 B<strong>und</strong>esstaaten <strong>und</strong> sechs (vonDelhi aus verwaltete) Unionsterritorien. Zehn dieser B<strong>und</strong>esstaatenzählen jeweils mehr als 50 Mill. Einwohner, gemeinsam übertreffen dievier größten von diesen die gesamte Europäische Union (Uttar Pradeshallein 166 Mill.). Diese Aufwertung regionaler Kulturen sahen zunächstviele als Schwächung <strong>und</strong> Gefährdung der staatlichen Einheit. Dem lässtsich entgegenhalten, dass gerade durch die Aufwertung der Regionenseparatistischen Tendenzen gegengesteuert wird. „Damit wurde dieindische Politik regionalisiert <strong>und</strong> popularisiert.“ 356 Ab 1959 kam esdeshalb vermehrt zur Bildung neuer Parteien, nahezu alle alsAbspaltungen vom Congress. Mehrfach gründeten <strong>und</strong> verwarfencharismatische Führungspersönlichkeiten Parteien, wie etwa IndiraGandhi <strong>und</strong> ihr Congress-I. (= Congress-Indira).Die Wahlen von 1989 stellten eine Zäsur in der indischen Innenpolitikdar – sie markieren das Ende der Dominanz der Congress-Partei <strong>und</strong> denBeginn eines Mehrparteiensystems, das zu Koalitionsregierungenzwingt. Keine Partei für sich allein war seither mehrheitsfähig. Und mitder hindu-nationalistischen Volkspartei Bharatiya Janata Party erwuchs355 Manor, J. (1988): Parties and the Party System. In: Kohli, A. (Hg.) (1988): India’sDemocracy. An Analysis of Changing State-Society Relations. Princeton. S. 62-98.Zitat S. 65.356 Jürgenmeyer, S. 79137


erstmals ideologisch <strong>und</strong> politisch eine ernsthafte Konkurrenz, die sichdauerhaft <strong>und</strong> landesweit als zweite überregionale Großpartei profilierenkonnte. Doch auch die BJP musste Lehrgeld zahlen <strong>und</strong> als führendeKraft zweier heterogener Koalitionen zwischen 1998 <strong>und</strong> 2004 zurErhaltung ihrer Macht zentrale Punkte ihres Parteiprogramms aufgebenoder herunterspielen. Übermäßige zentralistische Versuche politischerSteuerung der Heterogenität des Landes müssen scheitern –eindrucksvoll erwiesen durch die Folgen der Aufhebung der Demokratiedurch Indira Gandhi 1975-77, dem schwärzesten Kapitel der indischenZeitgeschichte. Die Ausdifferenzierung des Parteiensystems, vor allemauf Basis der Regionen <strong>und</strong> des Kastensystems, ist ein Ergebnis derAusweitung politischer Rechte auf bisher Benachteiligte oderAusgeschlossene. Jaffrelot (2003) 357 nennt dies die „stille Revolution<strong>Indien</strong>s“. Gerade die seit Jahrzehnten laufenden Förderprogramme desStaates verschaffen breiten Bevölkerungsschichten erstmals Zugang zuBildung, damit auch zu sozialer Aufwärtsmobilität <strong>und</strong> politischerArtikulationsfähigkeit.7.4 Stärken <strong>und</strong> Schwächen indischer InnenpolitikNatürlich zeigt auch die indische Demokratie Schwächen. DieParlamentarier sind gegenüber der Exekutive, vor allem der Bürokratie<strong>und</strong> den Spitzenbeamten der Ministerien, nur wenig durchsetzungsfähig(Gesetzgebung besteht oft nur aus der Zustimmung zu Verordnungen).Vier Generationen des Nehru/Gandhi-Clans muten schon dynastisch an.Auf regionaler Ebene sind Klientelismus <strong>und</strong> Patronage nochausgeprägter, die Korruption allgegenwärtig. Auf lokaler Ebeneverbindet sich Politik mit organisierter Kriminalität. Kritiker sehen indiesen Fakten eine Dauerkrise, noch verstärkt durch mangelnde Stabilität<strong>und</strong> Effizienz eines Vielparteiensystems. Das Ende der demokratischenInstitutionen <strong>und</strong> den Staatszerfall haben nicht wenige Auguren357 Jaffrelot, Ch. (2003): India’s Silent Revolution. The Rise of the Lower Classes inNorth India. London. Sogenannte Dalits <strong>und</strong> Other Backward Classes (OBCs) stellendie Mehrheit des Elektorats <strong>und</strong> haben inzwischen auf B<strong>und</strong>es- wie Länderebene hohe<strong>und</strong> höchste Posten übernommen (z. B. als Minister in der B<strong>und</strong>esregierung oderRegierungschefs in einzelnen Ländern).138


vorhergesagt (vielleicht das Ende der Weimarer Republik imHinterkopf).Aber auch nach über 60 Jahren ist diese self-fulfilling prophecy nichteingetroffen. Gerade die Fähigkeit der politischen Eliten,unterschiedlichste Strömungen immer wieder in die gegebenenRahmenbedingungen der Demokratie einzupassen <strong>und</strong> diese auch, wonotwendig, flexibel zu verändern, wie auch die Ausweitung politischerPartizipation auf immer weitere Bevölkerungsschichten haben dieindische Demokratie nicht geschwächt, sondern stetigweiterentwickelt. 358 Die Legitimität der Demokratie ist im Laufe derJahrzehnte gestiegen. Eine groß angelegte, repräsentative Umfrageergab, dass nahezu 70% der Befragten die politischen Institutionen(nicht die Politiker!) positiv beurteilten, eine Steigerung um 25% seit1971. 359 Bis zu 60% der armen Wähler waren davon überzeugt, dass ihreStimme zählt. Nur <strong>11</strong>% vertraten die Meinung, ein starker Führer wärebesser als Parteien, Wahlen <strong>und</strong> Parlamentarismus per se. Durch dieAusbildung föderalistischer Instrumente sowie von regions- <strong>und</strong>kastenspezifischen Parteien gelang es, radikale, selbst gewalttätigepartikularistische Gruppen in das politische System hereinzuholen.Deshalb schwingt die Politik nach Spannungswellen immer wieder in eindynamisches Gleichgewicht zurück. Sowohl das Elektorat wie diejeweils an der Macht Befindlichen haben einen langen Lern- <strong>und</strong>Reifungsprozess hinter sich.7.5 Die Vorbildwirkung <strong>Indien</strong>sDiese wurde bei den jüngst stattgef<strong>und</strong>enen Wahlen im April/Mai 2009eindrucksvoll bestätigt. 360 Von 714 Mill. Wahlberechtigten (!) gaben 428Mill. (60%) ihre Stimme ab. 369 Parteien stellten 8,070 Kandidaten auf,37 Parteien <strong>und</strong> neun unabhängige Abgeordnete sind in der 15.358 Vgl. Mitra, S. K. (1999): Effects of Institutional Arrangements on Political Stabilityin South Asia. Annual Review of Political Science, No. 2, S. 405-428.359 Mitra, S. K. and Singh, V. B. (1999): Democracy and Social Change in India. ACross-Sectional Analysis of the National Electorate. Delhi.360 Nissel, H. (2009): <strong>Indien</strong> hat gewählt. Ergebnis <strong>und</strong> Bewertung der 15.Unterhauswahlen im April/Mai 2009. ISS Flash Analysis 5/2009.Landesverteidigungsakademie Wien.139


Legislaturperiode (2009-14) im Unterhaus (Lok Sabha) vertreten.Entgegen aller Prognosen hat sich die indische Nation für Stabilität <strong>und</strong>Kontinuität der bisherigen Politik der Regierungskoalition von Kongress<strong>und</strong> Verbündeten ausgesprochen, während die Oppositionsparteien vonMitte-rechts (BJP, Jana Sangh) bis weit links (sämtliche Linksparteien)schwere Verluste hinnehmen mussten. Im Vergleich zu den Nachbarn,den failing states von Afghanistan bis Burma <strong>und</strong> den jüngstentraumatischen Entwicklungen in Pakistan <strong>und</strong> Sri Lanka wirkt <strong>Indien</strong>sinnenpolitischer Zustand wie ein Leuchtturm auch über die Grenzen desSubkontinents hinaus. Die Botschaft lautet: Demokratie ist keinLuxusgut in der <strong>und</strong> für die erste Welt, sondern die Inwertsetzungdemokratischer Prinzipien „bringt“ langfristig Freiheit, Frieden <strong>und</strong>Fortschritt für die sogenannten Entwicklungs- <strong>und</strong> Schwellenländer. ImWettlauf der beiden asiatischen Großmächte <strong>China</strong> <strong>und</strong> <strong>Indien</strong> könntedies in den kommenden Jahrzehnten das Pendel deutlich zugunsten<strong>Indien</strong>s ausschlagen lassen. Voraussetzung dafür <strong>und</strong> Erwartungshaltungder 80% Unterprivilegierten ist <strong>und</strong> bleibt aber die erfolgreicheBekämpfung der massiven Armut.140


8. Die Gesellschaft <strong>Indien</strong>s – Gliederung <strong>und</strong>KonflikteGerald Brettner-MesslerDie indische Gesellschaft ist äußerst komplex. Zahlreiche Ethnien <strong>und</strong>Religionen prägen das Land. Über allen liegt die Gliederung derMenschen nach Kasten – soziale Gemeinschaften, denen man durchGeburt angehört. Diese Einteilung ist vor allem mit dem Hinduismusverb<strong>und</strong>en, aber auch bei Moslems <strong>und</strong> Christen ist eine derartigeHierarchisierung nicht unbekannt – so gab es in den Kirchen Goasgetrennte Eingänge für konvertierte Brahmanen <strong>und</strong> Konvertitenniedrigerer Kasten. 361 Eingeteilt werden Menschen aber auch nach ihremVermögen <strong>und</strong> ihrem Alter; Männer rangieren vor Frauen. Der Rangeines Menschen ist ein zentrales Prinzip der Ordnung der gesamtenindischen Gesellschaft.Um die Identität bzw. die Unterschiede der Kasten zu erhalten, gibt eseine Vielzahl von Regeln, die mit der Formel „Brot <strong>und</strong> Tochter“ aufden Punkt gebracht werden. Es wird also festgelegt, mit wem oder vonwem man essen darf <strong>und</strong> wem man seine Tochter zur Frau geben darf. 362Das Maß dabei ist „Reinheit“ <strong>und</strong> „Unreinheit“. Zum Teil ist Reinheitbzw. Unreinheit angeboren: höhere Kasten sind reiner als niedrigere. DerGrad der Reinheit kann aber auch von der Lebensführung abhängig sein:Man ist reiner, wenn man sich gewaschen hat, reines Gewand trägt,entsprechende Speisen zu sich nimmt <strong>und</strong> keine „rangniedrigeren“Menschen berührt. Frauen sind während der Periode ebenfalls unrein, z.T. werden sie während dieser Zeit örtlich separiert. Geburt <strong>und</strong> Todwerden ebenfalls mit Unreinheit assoziiert.Ein <strong>und</strong> dasselbe Verhalten kann für unterschiedliche Kasten aberunterschiedliche Bedeutungen haben. Angehörige der höchstenPriesterkaste, der Brahmanen, essen kein Fleisch, weil es ein Produktvon Gewalt <strong>und</strong> Tod ist. Die Angehörigen der höchsten Kriegerklasse361 Olaf Ihlau, Weltmacht <strong>Indien</strong>. Die neue Herausforderung des Westens (München2006), 48362 Dietmar Rotherm<strong>und</strong>, <strong>Indien</strong>. Aufstieg einer asiatischen Weltmacht (München2008), 204141


wiederum essen sehr wohl Fleisch, weil es ihnen die ihrer Kastezugemessene Kraft verleiht. Bei den rituell vorgeschriebenen Speisengeht es nicht nur um die Art der Lebensmittel, sondern auch darum, werdie Speisen zubereitet bzw. berührt hat. Der Status einer Person sinkt,wenn sie Speisen isst, die ein Niederer zubereitet hat. Dies gilt vor allembei Hindus – die Speisezubereitung durch Muslime <strong>und</strong> Christen istbesonders unrein (außer für die untersten Kasten). Bricht ein Brahmanedie Speiseregeln, muss er sich Reinigungsriten unterziehen bzw. Strafezahlen. „Verunreinigung“ hat soziale Ächtung zur Folge. Man würde diePerson meiden <strong>und</strong> ihre Kinder als Ehepartner ausschließen. DieseBestimmungen gelten aber nicht für alle Speisen bzw. Lebensmittelgleichmäßig. Besonders streng sind sie bei Wasser – Ausnahme Wasser,das von der Kaste der Wasserträger kommt – <strong>und</strong> einfachen Gerichten.Feinere Speisen, die mit Butter oder Öl gekocht werden, dürfen auch voneinigen Kasten, die nur unwesentlich unter der eigenen stehen,angenommen werden. Früchte, rohes Getreide <strong>und</strong> ungekochtes Gemüsedarf hingegen völlig unterschiedslos verabreicht werden.Der Grad der Reinheit einer Kaste ist verb<strong>und</strong>en mit den von ihrenAngehörigen ausgeübten Berufen. Straßenreiniger kommen mit Unrat inBerührung; Lederarbeiter <strong>und</strong> Fleischer mit dem Produkt toter Tiere.Krieger, die Menschen töten, stehen in der Kastenhierarchie hoch, weilsie Macht ausüben – dies wird höher bewertet als die Nähe zu Gewalt<strong>und</strong> Tod. Je höher eine Kaste desto rigider ist auch die Sexualmoral.Eine Angehörige der Brahmanen-Kaste muss bei der Hochzeit Jungfrausein, ihrem Mann treu <strong>und</strong> als Witwe unverheiratet bleiben. Von einer„Unberührbaren“ wird das nicht erwartet. Über all diese strengenBestimmungen wacht eine Art Kastenrat, ältere Männer, die überFragen, die Kaste betreffend, entscheiden. 363Auch wenn das Kastensystem <strong>heute</strong> nicht mehr durchgängig Akzeptanzfindet, prägt es die Gesellschaft. Nach der Rechtsordnung sind zwar alleMenschen gleich, de facto ist das nicht akzeptiert. In städtischenBildungsschichten <strong>und</strong> unter offen gesinnten Menschen wird es zwar363 James Heitzman and Robert L. Worden (ed.), India: A Country Study. Washington:GPO for the Library of Congress, 1995, http://countrystudies.us/india/, Caste andClass, 27.4.2010142


häufiger durchbrochen, ohne aber aus dem Bewusstsein geschw<strong>und</strong>en zusein. Am Land – wo 2008 71% der Menschen lebten 364 – sind dieseStrukturen nach wie vor präsent, vor allem in familiären Beziehungen.Sozialbeziehungen spielen generell eine große Rolle in <strong>Indien</strong>. Esbeginnt bei Familien <strong>und</strong> Clans <strong>und</strong> geht weiter zu den Kasten <strong>und</strong>Religionsgemeinschaften. Der Einzelne ist sich dieser vielfältigenBindungen höchst bewusst. Entsprechend nimmt die Interaktion mitanderen einen hohen Stellenwart bei allem Tun ein. Alleine zu handelnbirgt nach dieser Sichtweise bereits Scheitern in sich. Das gilt auch fürden religiösen Bereich, wo der Kontakt mit den Göttern ständig gepflegtwerden muss. Wer sich diesen sozialen Verpflichtungen entzieht, kannnicht damit rechnen, seine sozialen <strong>und</strong> wirtschaftlichen Ambitionenerfüllt zu sehen. Dieses Bewusstsein der Abhängigkeit zieht sich durchalle Lebensstadien <strong>und</strong> die meisten Lebenssituationen.Solch enge Beziehungen sind aber nicht nur traditionell geprägt, sondernhaben auch eine praktische Seite. Armut ist ein Massenphänomen <strong>und</strong>das indische Sozialsystem unterentwickelt. R<strong>und</strong> 400 MillionenMenschen dürften in absoluter Armut leben. 90% der Inder haben keinenPensionsanspruch. Die Gehälter sind kärglich, jederzeitige Kündigungmöglich. 365 Sozial auffangen kann nur die Familie. ZunehmenderIndividualismus <strong>und</strong> die geänderte Stellung der Frau haben aber zu einergewissen Lockerung dieser Beziehungen geführt. 366Das Wort „Kaste“ kommt nicht aus <strong>Indien</strong>, sondern vom portugiesischen„casta“, was „Rasse“ bedeutet. Bei den Indern gibt es verschiedeneWörter. Eines ist „varna“ („Farbe“), womit vier Hauptgruppen vonKasten bezeichnet werden: die Brahmanen (Priester), Kshatriyas(Krieger), Vaishyas (Landbesitzer, Kaufleute), Shudras (Handwerker,Diener). Weiters gibt es die „Unberührbaren“ oder Dalit, in derAmtssprache Schedulded Castes, die ca. 18% der Bevölkerung stellen.Daneben existieren über 3.000 Unter- <strong>und</strong> Nebenkasten, die „jati“, die364 CIA, The World Factbook, India – Population,https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook, 27.4.2010365 Ihlau, 77 f.366 Sudhir <strong>und</strong> Katharina Kakar, Die Inder. Porträt einer Gesellschaft (München 2006),16 f.143


„die ganze Unmittelbarkeit alltäglicher Sozialbeziehungen <strong>und</strong>beruflicher Spezialisierung“ 367 bezeichnen. 368 Theologisch erklärt wirddie Einteilung eines Menschen bei seiner Wiedergeburt in einebestimmte Position als Resultat seiner Taten in den vorhergehendenLeben.Verb<strong>und</strong>en sind die Kasten durch ein „Jajmani“ genanntes System vonPatronage, in dem die niedrigeren Kasten ihre Dienste einem Patron auseiner höheren zur Verfügung stellen <strong>und</strong> dafür protegiert werden.Traditionell wird dieses System vom Gedanken der Kooperation <strong>und</strong> desAufeinander-Angewiesenseins getragen, de facto trägt es Züge vonUnterdrückung <strong>und</strong> Ausbeutung. Anfang der 1990er-Jahre hatten Dalitin Uttar Pradesh <strong>und</strong> Bihar gegen niedrige Löhne demonstriert, vonSeiten der Landbesitzer wurde dies mit Auftragsmorden anProtestierenden beantwortet. 369Der Protest gegen gesellschaftliche Disparitäten äußert sich auch inradikaler politischer Aktion. Die maoistischen Naxaliten (benannt nachder Stadt Naxalbari in Westbengalen, wo es 1967 einen bewaffnetenAufstand gegen Landbesitzer gegeben hatte) stellen inzwischen eineveritable Sicherheitsbedrohung dar. Ministerpräsident Manmohan Singhsprach von der “single biggest internal security challenge ever faced byour country”. Die Bewegung ist in einem Drittel des Staatsgebietes, in16 von 28 B<strong>und</strong>esstaaten, präsent, vor allem im „roten Korridor“, dersich von Jharkhand, Chhattisgarh, Madhya Pradesh, dem östlichenMaharashtra, der Region Telangana in Andhra Pradesh bis ins westlicheOrissa erstreckt. Ziel ist die Schaffung eines kommunistischen Staatesim Sinne Maos. Die Bewegung hat einen militärischen <strong>und</strong> einenpolitischen Arm. 10.000 Mann kämpfen als Guerillas, weitere 45.000sind unterstützende Mitglieder.Ein Problem, das zu Unzufriedenheit in <strong>China</strong> wie in <strong>Indien</strong> beiträgt, istLandenteignung für Wirtschaftsprojekte. So wurde in den Waldregionenvon Chhattisgarh die Urbevölkerung abgesiedelt, um Bergbauprojekte zurealisieren. Die Maoisten kämpfen gegen solche Entwicklungen <strong>und</strong> sind367 Ebd., 30368 Ebd. sowie Ihlau, 47369 Heitzman/Worden, Caste and Class144


daher besonders in den ländlichen Unterschichten populär. Ihre Aktionenrichten sich primär gegen staatliche Amtsträger <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>besitzer. InGebieten unter ihrer Kontrolle gibt es eigene „Gerichte“ <strong>und</strong>„Steuereinhebung“. Die zu den Naxaliten gehörige KommunistischePartei <strong>Indien</strong>s (Maoisten) hat 2007 umgerechnet 125 Millionen Pf<strong>und</strong>lukriert. Einnahmen kommen auch aus Schutzgelderpressung <strong>und</strong>Drogenhandel. Die Charakterisierung als „Befreiungsbewegung“ isthöchst zweifelhaft. Es gibt Berichte über Gewalttaten an „Schützlingen“<strong>und</strong> Zwangsrekrutierungen. Gegenüber demokratischemParlamentarismus sind die Maoisten ablehnend eingestellt: Wählerwurden mit dem Abschneiden der Hand bedroht! 370Die Diskriminierung der Unberührbaren wurde bereits unter derbritischen Herrschaft bekämpft <strong>und</strong> durch die von einem Dalit (B. R.Ambedkar) ausgearbeitete indische Verfassung untersagt. Als Reaktionder Dalit auf die Diskriminierung traten viele zum Buddhismus <strong>und</strong> zumChristentum über. Aber auch in diesen Religionen entkommt man seinerHerkunft nicht ganz: Es gibt den Begriff des „brahmanischenKatholiken“ <strong>und</strong> Muslime türkischer, arabischer oder persischerAbstammung blicken auf die Konvertiten herab. 371 Um dieBenachteiligung auszugleichen, wird den Unberührbaren vom Gesetzher eine Teilhabe an den staatlichen Angelegenheiten garantiert: ihnenwerden Posten in der Verwaltung <strong>und</strong> Sitze in den Parlamenten desB<strong>und</strong>es <strong>und</strong> der Einzelstaaten, die früher kaum zu erlangen waren,reserviert. Weiters gibt es eigene Bildungsprogramme. Für einige Dalitbrachte dies den gesellschaftlichen Aufstieg: Der Dalit K. R. Narayananwar von 1997 bis 2002 Staatspräsident. 372 Die Ungleichheit blieb aber<strong>und</strong> ist nach wie vor Gegenstand verschiedener politischer Aktivitätender Betroffenen, wie z. B. der Gründung der Bahujan Samaj Party.Affirmative action <strong>und</strong> „positive Diskriminierung“ haben den eminentenNachteil, dass sie zur Verfestigung des Kastenwesens führen, da dersoziale Aufstieg auf diese Weise an die Kastenzugehörigkeit gekoppelt370 Mustafa Qadri, A very Indian insurgency, http://www.guardian.co.uk, 16.9.2009; AlJazeera, Focus: India, Q&A: The Maoists of India, http://english.aljazeera.net371 Kakar, 33372 Rotherm<strong>und</strong>, 215145


wird. Umgekehrt empfinden sich die höheren Kasten dadurch alsbenachteiligt <strong>und</strong> werden sich so ihrer Identität besonders bewusst. 373Einen erodierenden Effekt auf das Kasten-System hat die Urbanisierung.Eine Unterscheidung der Menschen ist in der Stadt kaum möglich, vieleGebote sind daher nicht mehr einhaltbar. Bei der Partnerwahl <strong>und</strong> beider beruflichen Anstellung spielen die Kasten-Beziehungen aber immernoch eine Rolle: Nur wenige heiraten außerhalb ihrer Kaste(Heiratsannoncen sind dementsprechend nach Kasten gegliedert 374 ). 375Dass das Kasten-Bewusstsein nicht schwindet, ist auch ein Effekt desdemokratischen Systems, in dem die Kasten zur Transmission politischerInteressen genutzt werden <strong>und</strong> der Zusammenhalt daher bewusstgepflegt wird. Den Unterschieden in der Hierarchie <strong>und</strong> damit denReinheitsbestimmungen wird dabei allerdings weniger Aufmerksamkeitgeschenkt, um eine möglichst breite Zusammenarbeit zwischeneinzelnen (Sub-)Kasten zu ermöglichen.So stützte sich die hindu-nationalistische Bharatiya Janata Party (BJP)ursprünglich auf die Brahmanen. Später wählte die Partei den wesentlichbreiteren Ansatz des „Hinduismus“ <strong>und</strong> feierte damit Erfolge. So warman bemüht, zum Islam konvertierte Dalit wieder zum Hinduismus zubringen (allerdings wurde die Partei weiter vor allem von den oberenKasten gewählt). Besonders in den 1990er-Jahren sind Parteienentstanden, die sich hauptsächlich auf die niedrigen Kasten <strong>und</strong>Moslems stützten. Einen umgekehrten Weg wie die BJP ging dabei dieBahujan Samaj Party, die zu Beginn eine Partei der Dalit <strong>und</strong>„rückständigen“ Kasten war. Mit den Dalit als fester Basis konnte sie esin der Folge wagen, Brahmanen anzusprechen. Mit Erfolg: die Parteikonnte 2007 im Staat Uttar Pradesh die absolute Mehrheit gewinnen. 376Aus dem Gesagten ergibt sich, dass Kasten <strong>und</strong> soziale Schichtentraditionell korrelieren. Im ländlichen Raum stellen die obersten Kastendie Großgr<strong>und</strong>besitzer, mittlere <strong>und</strong> untere Kasten die Kleinbauern, dieDalit die landlosen Arbeiter. Das heißt aber nicht, dass es nicht in373 Ihlau, 57374 Ebd., 53375 Rotherm<strong>und</strong>, 204376 Ebd., 215-217146


höheren Kasten Arme oder in niedrigeren Kasten Reiche gibt. Generellkommt es zu einer Verschiebung der Übereinstimmung zwischen Kaste<strong>und</strong> sozialem Status. Durch gemeinsame „Klassenzugehörigkeit“ vonAngehörigen verschiedener Kasten ergeben sich gemeinsameInteressenlagen, die zur Zusammenarbeit über Kastengrenzen führenkönnen, z. B. bei den Offizieren der Streitkräfte, Beamten,Unternehmern usw. Umgekehrt bekommen Kasten auch neueFunktionen. Es gibt Beispiele aus dem Wohnbau, wo Kasten Träger vonGenossenschaften sind <strong>und</strong> so einzelne Wohnbauten komplett belegen.Die Maßnahmen der „positiven Diskriminierung“ bzw. die Definition,wem diese Maßnahmen überhaupt zugutekommen, sind seit Jahrzehntenein heikles politisches Thema, weil „rückständige“ Kasten definiertwerden müssen. Seit 1931 gab es keine Erhebungen mehr zurKastenzugehörigkeit <strong>und</strong> auch „Rückständigkeit“ ist eineDefinitionsfrage, die die Interessen der verschiedenen Gruppen berührt,wobei immer das Risiko besteht, dass sich Teile der Gesellschaftbenachteiligt fühlen. Ein Kuriosum ist, dass sich „Rückständigkeit“lohnen kann, wenn man dadurch in den Genuss von Vorteilen wiePosten im öffentlichen Dienst oder Studienplätzen kommt; als„rückständig“ definiert zu werden kann also durchaus erstrebenswertsein. 377Ebenfalls am Ende der sozialen Leiter stehen die Muslime, die größtereligiöse Minorität mit 13,4% Bevölkerungsanteil, die nur in Kaschmirdie Mehrheit bildet. 378 Arm <strong>und</strong> schlecht ausgebildet, ohneFührungsschicht, signifikant öfter arbeitslos <strong>und</strong> Analphabeten, sind siein einer ähnlichen Lage wie die Unberührbaren. Zwischen Muslimen<strong>und</strong> Hindus kam es immer wieder zu gewalttätigenAuseinandersetzungen, die oft Resultat wirtschaftlicherWandlungsprozesse waren. Radikale Gruppen <strong>und</strong> Politiker nutzensolche Umstände, um Popularität <strong>und</strong> Einfluss zu erlangen, indem sieGegensätze zu der jeweils anderen Religionsgemeinschaft schüren. VonSeiten radikaler Hindus wie der Bharatiya Janata Party wird377 Ebd., 207-212; Heitzman/Worden, Caste and Class378 CIA, The World Factbook, India – People,https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/, 27.4.2010147


argumentiert, dass zu viel für Minoritäten getan wird, die ihrerseitsdurch militante Aktionen noch mehr Zugeständnisse erpressen wollten.Muslime können in Kleidung <strong>und</strong> Sitte von ihrer Umwelt leichtunterschieden werden. Konfliktfelder sind rasch gef<strong>und</strong>en: So sind denHindus Kühe heilig, die wiederum von Muslimen verzehrt werdendürfen, während umgekehrt Hindus, die Fleisch zu sich nehmen, das denMuslimen unreine Schwein essen. 379Zu besonders schweren Unruhen kam es 1990 in Ayodhya mit mehr als300 Toten. Dort befand sich die Babri-Moschee, an deren Stelle der GottRama geboren worden sein soll <strong>und</strong> wo sich angeblich ein Tempelbef<strong>und</strong>en hatte. Hindus, voran die BJP, reklamierten den Ort für sich <strong>und</strong>1992 wurde die Moschee durch eine Menschenmasse zerstört. Beianschließenden gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen denReligionsgruppen kamen ca. 1.700 Menschen ums Leben. EineBombenserie in Bombay, die eine muslimische Vergeltungsaktiongewesen sein dürfte, soll von Kriminellen im Auftrag des pakistanischenGeheimdienstes durchgeführt worden sein. 380Einen Höhepunkt erreichte die Gewalt 2002 in Gujarat. DieAusschreitungen gegen Moslems wurden von der BJP angefacht. Anlasswar eine Attacke von Moslems auf einen Zug mit Hindu-Aktivisten, derdurch ein Unglück Feuer fing, bei dem 59 Personen ums Leben kamen.Innerhalb von zwei Monaten wurden 850 Menschen getötet, inoffizielleSchätzungen gehen bis zu 2.000 Opfer. Geschäfte wurden angezündet<strong>und</strong> Frauen vergewaltigt – alles unter Duldung oder auch aktiverBeteiligung von Behörden <strong>und</strong> Sicherheitskräften. 381 Der BJP dürfte379 Rotherm<strong>und</strong>, 24-26; James Heitzman and Robert L. Worden (ed.), India: A CountryStudy. Washington: GPO for the Library of Congress, 1995,http://countrystudies.us/india/, Hindu-Muslim Tensions, 28.4.2010380 Heitzman/Worden, Hindu-Muslim Tensions; BJP back to Hindu agenda as Advaniharps on Ayodhya temple issue, http://www.thaindian.com, 26.9.2009; Bombay hit bydevastating bombs, 12.3.1993, http://news.bbc.co.uk381 The memory of Gujarat can't be erased, http://www.guardian.co.uk, 16.9.2009;India: Gujarat Officials Took Part in Anti-Muslim Violence, http://www.hrw.org,29.4.2002148


dieser Gewaltexzess den Wahlsieg bei den B<strong>und</strong>eswahlen 2004 gekostethaben. 382All diese Entwicklungen zeigen die starke Fragmentierung der indischenGesellschaft, wo Kasten, Klassen <strong>und</strong> Religionen, verb<strong>und</strong>en inKonflikten, aber auch gemeinsamen Interessen, eine relativunübersichtliche Gemengelage bilden. Für die Stabilität des Staates sinddiese Faktoren belastend, aber nicht existenzbedrohend. Ohne Einsatzvon Sicherheitskräften ist gewaltsamer Protest nicht in den Griff zubekommen. Effizientes Eingreifen muss, unabhängig von der Identitätder Gewalttäter, sichergestellt werden, da sonst die Glaubwürdigkeitstaatlicher Institutionen (weiter) leidet <strong>und</strong> die Gewaltspirale sich weiterdreht. Tiefer liegende Ursachen können auf diese Weise aber nichtbekämpft werden. Einen Ansatz dafür bieten Initiativen derBürgergesellschaft wie die Peoples’s Union for Civil Liberties, die fürgesellschaftlichen Ausgleich unparteiisch eintreten. 383382 Rotherm<strong>und</strong>, 50383 Ebd., 29149


9. ZusammenfassungHeinz NisselEigenständigkeit <strong>und</strong> Unabhängigkeit sind das Leitthema derAußenpolitik <strong>Indien</strong>s seit dem Ende der Kolonialzeit 1947. Als Symboledieser Kontinuität gelten die Kongresspartei <strong>und</strong> die FamilieNehru/Gandhi. Zunächst dominierte die Politik der Blockfreiheit, desNon-Alignment, wobei sich <strong>Indien</strong> in den internationalen Gremien selbsteine – friedfertige – Führungsrolle zusprach. Nehrus Tochter IndiraGandhi strich dann häufiger die nationalen Interessen des Landes hervor<strong>und</strong> definierte <strong>Indien</strong> als regionale Ordnungsmacht (Indira-Doktrin).Zum Kardinalproblem der indischen Außenpolitik avancierte der bis<strong>heute</strong> ungelöste Konflikt mit Pakistan, insbesondere dieAuseinandersetzung um Kaschmir. Drei Kriege (1949, 1965, 1971) <strong>und</strong>mehrere „Beinahe-Kriege“ führten seither in beiden Staaten zu einem –seit 1974 auch atomaren – Wettrüsten. Die zunächst fre<strong>und</strong>lichenRelationen zur VR <strong>China</strong> endeten an ungelösten Grenzkonflikten <strong>und</strong>der Niederlage <strong>Indien</strong>s im Grenzkrieg 1962. Als direkte Folge davonbegann eine Aufrüstung des Militärs, die bis <strong>heute</strong> anhält. Durch dieAnnäherung der USA an <strong>China</strong> <strong>und</strong> Pakistan sah sich <strong>Indien</strong> 1971gezwungen, mit der Sowjetunion einen Fre<strong>und</strong>schaftsvertragabzuschließen. Das Auftreten <strong>Indien</strong>s als regionale Ordnungsmacht inSüdasien in den 70er- <strong>und</strong> 80er-Jahren war nur zum Teil erfolgreich – so1971 bei der Zerschlagung Pakistans <strong>und</strong> der Gründung von Bangladesh.In Sri Lanka hingegen musste die indische Peace-Keeping-Force (1987-90) erfolglos abziehen. Insbesondere führten <strong>Indien</strong>s konsequenteWeigerung, dem Atomwaffensperrvertrag beizutreten, sowie weitereNukleartests zu einer langen Eiszeit zwischen <strong>Indien</strong> <strong>und</strong> den USA,selbst nach dem Zerfall der Sowjetunion. Erst der gemeinsame Gegner –der militante Islamismus – führte zu einer Neubewertung der bilateralenBeziehungen.<strong>Indien</strong> hat eine der größten <strong>und</strong> am schnellsten wachsendenVolkswirtschaften der Erde; 2009 war sie bereits die viertgrößte(gemessen an der Kaufkraftparität). Rasantes Wirtschaftswachstum,Reduzierung der Armut um mehr als die Hälfte <strong>und</strong> eine starke globalePräsenz in zukunftsträchtigen Bereichen kennzeichnen die Entwicklung.150


Trotzdem leben noch immer mehr als ein Viertel der Bevölkerung – alsoca. 300 Millionen Einwohner – unter der nationalen Armutsgrenze. 60Millionen Kinder sind unterernährt <strong>und</strong> pro Jahr sterben über zweiMillionen Kinder (fünfmal so viele wie in <strong>China</strong>). Von 1950 bis 1990dominierte eine staatliche Planwirtschaft nach sowjetischem Vorbild mitFünfjahresplänen, geprägt vom Streben nach Autarkie. Im Gefolge des1. Irak-Krieges war dieses Wirtschaftsmodell am Ende <strong>und</strong> wurde 1991praktisch über Nacht durch die NEP (New Economic Policy) ersetzt,einem neoliberal geprägten System der Privatisierung <strong>und</strong>Liberalisierung. Damit stieg die jährliche Wachstumsrate zwischen 2003<strong>und</strong> 2007 auf einen Schnitt von 8.6% – nur übertroffen von der VR<strong>China</strong>. Der weitere Anstieg in den zweistelligen Wachstumsbereichwurde durch die Weltfinanzkrise gebremst. Die Auslandsinvestitionenstiegen von weniger als 2 Milliarden Dollar 1991 auf 23 Mrd. 2007. DieExporte zeigten seit 1998 Wachstumsraten von 15.2%, jene derDienstleistungen sogar 17%. Gleichzeitig investierten indische Konzernefast 14 Mrd. $ im Ausland. Erwähnt sei nur der größte Stahlkonzern derWelt – Arcelor-Mittal – oder der Kauf einer britischen Luxusautomarkedurch den indischen Tata-Konzern. Der Außenhandel verzeichneteEinbrüche in den wichtigsten Exportmärkten durch die weltweiteRezession, aber mit mehr als drei Viertel des BIP (im Vergleich zuweniger als der Hälfte in <strong>China</strong>) ist die Binnennachfrage derHaupttreiber des Wachstums. Um die Armut zu reduzieren, braucht<strong>Indien</strong> jedoch wiederum ein Wachstum von mindestens 8%. Auf längereSicht sind strukturelle Änderungen notwendig, die bisher aus politischenÜberlegungen auf Eis gelegt worden sind. Reformen am Arbeitsmarkt,Verbesserung der Berufsausbildung <strong>und</strong> vor allem Ausbau derInfrastruktur sind dringend erforderlich.Mit der letzten Volkszählung (2001) befindet sich <strong>Indien</strong> mit damals1,027 Millionen Einwohnern als zweites Land der Erde in der„Milliardenliga“. Der jährliche Zuwachs beträgt ca. 18 MillionenMenschen – wie schon Indira Gandhi sagte: “We add an Australia everyyear” – <strong>und</strong> entspricht in einem Jahrzehnt der GesamtbevölkerungBrasiliens (fünftgrößter Staat hinsichtlich der Einwohner). Bei der VZ20<strong>11</strong> dürfte die Bewohnerzahl bei r<strong>und</strong> 1,2 Mrd. liegen. Nach Prognosender UNO könnte die Bevölkerung bis 2050 bis auf 1,63 Mrd. ansteigen151


<strong>und</strong> dabei etwa zwischen 2025 <strong>und</strong> 2035 die Volksrepublik <strong>China</strong>überholen. Vieles spricht dafür, dass <strong>Indien</strong> während dieser Jahrzehnteeine „demographische Dividende“ lukrieren kann, d. h. altersstrukturelleVorteile für wirtschaftliches Wachstum <strong>und</strong> erhöhte Produktivität.Positiv bilanzieren die Fortschritte im Kampf gegen Kinder- <strong>und</strong>Säuglingssterblichkeit, das Zurückdrängen des Analphabetismus sowiedie Reduktion genderspezifischer Chancenungleichheit, negativ dafürdas zunehmende Frauendefizit – es fehlen bereits 35 Millionen – <strong>und</strong> dienoch immer weitverbreitete bittere Armut <strong>und</strong> Unterernährung. Bei derGröße des Landes ergeben sich hinsichtlich aller Faktoren großeUnterschiede (Stadt/Land, Region, Einkommen, Bildung, Religion,Kaste usw.). Auch das zunehmende demographische Auseinanderdriftendes Nordens <strong>und</strong> Südens könnte – nicht zuletzt politisch – zu einerernsten Belastung führen.Die Entwicklung der Innenpolitik der „größten Demokratie der Welt“passt in kein Schema der Politikforschung. Eine wesentliche Basis ist dervon den Gründervätern propagierte säkulare Nationalismus – ganz imGegensatz zum religiös bestimmten Pakistan mit dem Islam alsStaatsreligion. In den Elitekorps der Bürokratie <strong>und</strong> des Heeres ist, auchauf die britische Kolonialherrschaft aufbauend, kein Platz für religiöse,ethnische oder regionale Partikularinteressen. War der Congresszunächst die „staatstragende <strong>und</strong> staatsgetragene“ Partei schlechthin,entwickelte sich in den 1980er- <strong>und</strong> 1990er-Jahren ein Hindu-Nationalismus („Hindutva“), der die Volkspartei BJP (Bharatia JanataParty) zweimal an die Macht brachte. Eine erfolgreiche„Selbstermächtigung der Unterprivilegierten“ im demokratischenSystem führte, vor allem seit 1990, zu einer Vielfalt kleinerer Parteienauf lokaler, regionaler oder kastendominierter Basis. Bei 714 MillionenWahlberechtigten der jüngsten B<strong>und</strong>eswahl im Mai 2009 lag dieWahlbeteiligung bei 60%. Es existiert eine hohe Akzeptanz desParlamentarismus, Regierungswechsel verlaufen geordnet <strong>und</strong> unblutig.Im Vergleich zu etlichen failing states der unmittelbaren <strong>und</strong> weiterenUmgebung <strong>Indien</strong>s hat diese Demokratie Beispielwirkung für vieleEntwicklungsländer <strong>und</strong> könnte langfristig auch den Wettlauf der neuenGroßmächte <strong>China</strong> <strong>und</strong> <strong>Indien</strong> in Asien sowie weltweit beeinflussen.152


Die indische Gesellschaft ist äußerst komplex strukturiert. 18Staatssprachen <strong>und</strong> H<strong>und</strong>erte kleinerer Sprachen, alle großenWeltreligionen <strong>und</strong> die einzigartige Kastenstruktur des Hinduismusprägen Kultur, Alltagsleben <strong>und</strong> Konfliktpotentiale. Armut bleibt einMassenphänomen, das r<strong>und</strong> 400 Millionen Menschen direkt betrifft.Soziale Sicherungen existieren nur sehr eingeschränkt, sodass Familie,Kaste <strong>und</strong> Dorfgemeinschaft tragende Säulen des Miteinanderlebensbleiben. Die Anstrengungen des Staates, durch „positiveDiskriminierung“ den sozialen Aufstieg der niedrigrangigen Kasten <strong>und</strong>Stämme <strong>und</strong> der Dalits (früher Unberührbare) schrittweise zu erzwingen,führen zu großen politischen Konflikten. Deutlich verschlechtert habensich auch die Beziehungen zwischen Hindus <strong>und</strong> Moslems (überwiegendarm, schlechter ausgebildet <strong>und</strong> bei der Jobsuche diskriminiert), die nichtselten in gewalttätige Auseinandersetzungen münden. Für die Stabilität<strong>Indien</strong>s sind diese Faktoren belastend, aber bisher nichtexistenzbedrohend.9.1 Zusammenfassung Sicherheit <strong>und</strong> MilitärHeinz Nissel, Daniel WelserDas indische Militär hat 1,3 Millionen Mann unter Waffen <strong>und</strong> gehörtdamit zu den größten weltweit. Es gilt vor allem die dreiWaffengattungen zu modernisieren <strong>und</strong> auch quantitativ zu verstärken.Die neue Armeedoktrin lautet, für zukünftige Kriege mit geringerVorwarnzeit <strong>und</strong> von kurzer Dauer, aber mit hohem Tempo <strong>und</strong>großflächig gerüstet zu sein. Der Schwerpunkt liegt deshalb aufBeschaffung moderner Waffen, Überwachungs- <strong>und</strong> Aufklärungsgeräte.Die Air Force soll eine stärkere strategische Rolle spielen als bisher.Intelligente Waffen großer Reichweite, zusätzliche Kampfgeschwader<strong>und</strong> eigene Satellitensysteme stehen dabei im Vordergr<strong>und</strong>. In derMarine wird ein Schwerpunkt der Entwicklung auf die Küstengewässergelegt, eine Folgewirkung der Terroranschläge von Mumbai 2008.Erheblich aufgestockt wird die U-Boot-Flotte, wobei 2012 das ersteNuklear-U-Boot in Dienst gestellt werden soll. <strong>Indien</strong> arbeitet auch ander Entwicklung von Stealth-Zerstörern <strong>und</strong> zwei Flugzeugträgern.Insgesamt möchte <strong>Indien</strong> in der Lage sein, der massiven chinesischenAufrüstung die Stirn zu bieten <strong>und</strong> längerfristig im Indischen Ozean eine153


führende Rolle zu spielen. Nach den Atomtests von 1998 war <strong>Indien</strong>durch viele Jahre international isoliert, vor allem wegen seinerWeigerung, dem Nichtverbreitungsvertrag für Atomwaffen beizutreten.Ein bilaterales Abkommen mit den USA 2007 soll nun die Lieferungvon Brennelementen <strong>und</strong> Know-how für die zivile atomare Nutzungermöglichen. Die Zahlen hinsichtlich des indischen Nukleararsenalsschwanken zwischen 50 <strong>und</strong> 70 einsatzfähigen Nuklearsprengköpfen.Raketengenerationen verschiedener Reichweite – Dhanush, Agni <strong>und</strong>Nirbhay – sind für alle Waffengattungen in Planung <strong>und</strong> in Testphasen.Bis 2012 soll ein selbst entwickeltes Raketenabwehrsystem in Betriebgehen.Die Modernisierung orientiert sich hauptsächlich an jener derchinesischen Volksbefreiungsarmee – <strong>China</strong> wird als potentieller Feindbegriffen. Durch die ungelösten Grenzdispute wird die Modernisierungder indischen Marine <strong>und</strong> des indischen Weltraumprogramms vonEntwicklungen in <strong>China</strong> abhängig gemacht. Die chinesische Aufrüstungder pakistanischen Armee ist ein weiterer wichtiger Punkt im indischenSicherheitsumfeld <strong>und</strong> belastet die indisch-chinesischen Beziehungenschwer. Besonders die USA haben Interesse daran, <strong>Indien</strong> <strong>und</strong> Pakistanzur Kooperation zu bewegen, um die Stabilität in der Region – dazugehört auch Afghanistan – zu stärken. Durch die Einflussnahme derUSA auf Pakistan <strong>und</strong> die sich verbessernden Wirtschaftsbeziehungenzwischen <strong>Indien</strong> <strong>und</strong> den USA bietet sich hier ein möglicher Hebel fürdie USA, zu einer Entspannung in der Region beizutragen.Die Richtung, in die sich das indische Militär entwickelt, zeigt, dass dieModernisierung in erster Linie auf Überwachung äußerer Faktoren <strong>und</strong>Absicherung gegen diese bedacht ist. Es wird versucht, die Rolle <strong>Indien</strong>sals Gegengewicht zu <strong>China</strong> in der Region zu festigen.154

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