Les Cerises Süß und saftig In jeder Kirsche steckt eine eigene Kindheits-erinnerung, so frisch als sei es gerade gestern gewesen als ich es erlebte. Ich sitze unter dem Kirschbaum meiner Großeltern, groß ist er und dominiert den Garten. Sein Schatten kühlt herrlich. Wenn ich den Nacken ganz weit nach hinten recke bis ich fast umzufallen drohe, dann sehe ich weit oben die knallroten Kirschen leuchten. Viel zu lange habe ich bereits hinauf geblickt, der Nacken schmerzt längst ein bisschen. Ich beobachte diese verheißungsvollen Früchte, an die ich ohne Hilfe nicht heranrage. Also sitze ich unter ihnen und träume davon, dass bald der Tag aller Tage sein wird: Kirschernte. Ich versuchte bereits zu naschen, als sie noch sauer und hart waren – ein freudloses Erlebnis – aber nun, da die Äste sich immer weiter der Erde entgegen biegen, hoffe ich inständig, dass es bald so weit ist und ich die zuckrigen Kirschen essen darf. Ab und an pflückt Großvater eine Handv oll um zu schauen ob sie reif sind. Ich finde ja, er sagt nein. „Sie brauchen noch ein paar Tage.“ Ach Opa. Als der Tag kommt und die ganze Familie zur Hilfe antritt, wird endlich die lange hölzerne Leiter an den Baum gelehnt. Mein Bruder klettert voran, ich in schützender Gefolgschaft von Großvater hinterher. Hinein in die Baumwipfel um den süßen Reichtum zu ernten bevor die Überreife sie von den erschöpften Ästen fallen lassen kann. Oder die Vögel sie stehlen. Ich kann sie gut verstehen, diese Vögel, und habe ein bisschen Mitleid. Beim Pflücken verschwindet trotzdem fast jede zweite in meinem Mund. Zu verlockend glänzt ihr praller Körper, viel zu mysteriös leuchtet die tiefe schwarzrote Farbe. Die Früchte sind saftig, ihr Wesen intensiv süß, ihr Herz unerbittlich steinig. Wunderbarer Kirschtaumel breitet sich in mir aus. Für die Vögel bleibt leider nichts hängen. Viele Ernteeimer später folgt striktes Trinkverbot. Obwohl ich nun so fürchterlich durstig bin. „Das gibt Bauchschmerzen“ behauptet Oma. Natürlich glaube ich es nicht, wie jedes Jahr. Eine Stunde später habe ich plötzlich seltsames Gluckern im Bauch. Kirschernteprickeln, gemischt mit Unwohlsein. Heimlich habe ich zwei große Gläser Mineralwasser geschlürft als niemand hinsah. Es sind genau diese Szenen, die ich jeden Sommer wieder in Gedanken durchlebe, wenn hochreife Kirsche die Märkte zieren. Das große Verlangen, eine Tüte dieser süßen Früchte nach Hause zu tragen, steigert sich dann von Woche zu Woche, bis die Kirschen so verlockend dunkel und geheimnisvoll leuchten, wie sie es ausschließlich bei Vollreife tun. Vorher lasse ich mich nicht verführen. Unreife Geschmacksspektakel ertrage ich nicht. Am liebsten mache ich davon Clafoutis. Immer wieder, den ganzen Sommer hindurch. Saftige Kirschen umgeben von cremigem Flan, mittendrin die Kerne, die zum langsamen <strong>Genuss</strong> anhalten. Aber auch Kirschkonfitüre gehört zum Pflichtprogramm. Sie ist so gut, dass ich niemals und nirgendwo anders Kirschkonfitüre esse oder kaufe. Gute Dinge muss man bewahren. Ebenso wie zugehörige Rituale. Bis heute trinke ich nach zu frischen Kirschen am liebsten ein großes Glas Mineralwasser. Ganz allein für das herrlich unvernünftige Kirschernteprickeln im Bauch. <strong>Genuss</strong> <strong>Sucht</strong> <strong>Genuss</strong> <strong>Sucht</strong>