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[lat.: das Fahren] #15 | Sommer 2015<br />
Neu definiert<br />
RENAULT ESPACE<br />
NEUER SPIRIT // TRIUMPH BONNEVILLE<br />
PRODUKTION // DIE ROBOTER KOMMEN<br />
SPEZIAL // GELÄNDEWAGEN UND SUV<br />
MOTORMENSCHEN // BRACQ / GALES<br />
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EDITORIAL<br />
Matthias Pfannmüller, Chefredaktor<br />
<strong>VECTURA</strong> #15<br />
FRANKREICH<br />
EDITION<br />
Kann man sich einem Trend verschliessen, der gestandene<br />
Fahrzeugsegmente mit teils zweistelligen Zuwachsraten<br />
überrollt? Seit über zehn Jahren fahren SUV alles<br />
in Grund und Boden, haben grosse Minivans fast komplett verdrängt<br />
und auch dem Kombi, dem Kompaktwagen und selbst<br />
Luxuslimousinen messbare Anteile abspenstig gemacht. Dass<br />
moderne Allradler nur noch wenig mit klassischen Offroadern zu<br />
tun haben, macht dieses Segment so spannend – es ist differenzierter<br />
als jedes andere, wie unser Spezial unterhaltsam unterstreicht.<br />
Und die Metamorphose wird weitergehen.<br />
Obwohl sich die Franzosen dem SUV-Boom lange hartnäckig<br />
verweigerten (Ausnahme: der Talbot-Matra Rancho von 1977),<br />
sind sie inzwischen auf den Softroad-Zug aufgesprungen und<br />
machen anderen vor, wie es geht – mit selbst entwickelten, unkonventionellen<br />
Crossover-Modellen. Überhaupt haben unsere<br />
westlichen Nachbarn in den letzten drei Jahren aus dem automobilen<br />
Jammertal gefunden: Spass ist wieder in, und das hat<br />
positive Folgen an der Verkaufsfront. Denn wo Citroën, Peugeot<br />
und Renault lange lustlos hinterherfuhren, knüpfen sie endlich<br />
wieder an glorreiche Zeiten an, sind heute wieder frisch-freche,<br />
über legenswerte Alternativen zu Golf & Co.<br />
Auch antriebstechnisch lässt sich Frankreich viel einfallen und<br />
punktet hier mit mancher Innovation. Der Umstand, lange auf<br />
kleinvolumige Motoren und den Diesel gesetzt zu haben, zahlt<br />
sich nun doppelt aus – mit Know-how und passenden Antworten<br />
auf immer strenger werdende Emissionsgesetze. Selbst die<br />
französische Grossraum-Ikone, unser Titel-Auto Espace, hat<br />
sich dem eingangs erwähnten Umstand angepasst – mit einem<br />
neuen Format, das Unverwechselbarkeit sicherstellen soll. Und<br />
bei Citroën, wo man sich von der ebenso überirdischen wie<br />
genialen «La Déesse» nie richtig erholt hat, wird das legendäre<br />
Kürzel zum eigenständigen Markenzeichen: Wenn so etwas je<br />
funktionieren kann, dann hier.<br />
Wir erleben derzeit, wie man sich auch im Ausland für die neuen<br />
französischen Modelle erwärmt – vergleichbar mit einer sommerlichen<br />
Fahrt auf der Route du Soleil Richtung Süden, bei<br />
der das Thermometer stündlich steigt. In Asien starten die<br />
Franzosen bereits durch; selbst die Rückkehr in die Vereinigten<br />
Staaten erscheint plötzlich nicht mehr unmöglich. Vive la France?<br />
Auf jeden Fall bon voyage!<br />
SOMMER 2015 003
INHALT #15<br />
EDITORIAL<br />
DREI-STERNE-MENU<br />
Ganz ehrlich? Französische Kompaktwagen<br />
schmeckten lange wie Junk-Food.<br />
Der Peugeot 308 GT ist da ganz anders<br />
GEÖLTER BLITZ<br />
Unter Renault-Regie könnte der gute alte<br />
Zweitaktmotor eine Renaissance erleben<br />
DER GEIST DES SALZSEES<br />
Ausritt auf einer Triumph Bonneville Spirit<br />
MEHR CHANCEN DENN JE<br />
Baguette, Cigarette, Jeanette: F-Autos machen<br />
wieder Spass, findet Mark Stehrenberger<br />
GALLISCHE MOMENTE<br />
Französische Fahrzeuggeschichte ist alles andere<br />
als langweilig. Wir zeigen legendäre Marken und<br />
Modelle; Teil 1 behandelt nur die letzten 70 Jahre<br />
WAS FÜR EIN RÜCKEN…<br />
Die grosse Liebe des David Chevalier<br />
003<br />
008<br />
016<br />
020<br />
026<br />
028<br />
040<br />
SUSHI MIT KOFFEIN<br />
Der nächste Suzuki Vitara kann alles besser<br />
als der letzte – und sogar Cappucciono brühen<br />
KLEINE FLUCHTEN<br />
Sieht aus wie ein Spielzeug, beeindruckt im<br />
Gelände: Wir fahren Jeep Renegade Trailhawk<br />
SPURTEN UND SPASS HABEN<br />
Kommende 4x4-Modelle machen klar: Es geht<br />
vor allem um mehr Komfort und Leistung<br />
VIEL SUV GEHABT<br />
Kein anderer Hersteller bietet mehr Off- und<br />
Softroader an als Mercedes-Benz<br />
LIGHTWEIGHT ODER ALLRAD<br />
Lotus Cars steht wieder einmal vor einem<br />
Comeback. CEO Jean-Marc Gales<br />
erklärt uns, wie es funktionieren soll<br />
ALTER SCHWEDE!<br />
Der neue Volvo XC90 überzeugt mit<br />
Qualitäten, die man einem Oberklasse-SUV<br />
dieses Formats kaum zugetraut hätte<br />
082<br />
090<br />
098<br />
106<br />
116<br />
120<br />
ES WERDE LUXUS<br />
Die Neumarke DS Automobiles soll unabhängig<br />
und oberhalb von Citroën funktionieren<br />
EIN KESSEL BUNTES<br />
Wir zeigen exemplarisch, wie vielseitig das<br />
Modellangebot aus dem Westen heute wieder ist<br />
HÄRTER ALS STAHL<br />
Eine IWC-Kleinstserie verwendet eine Keramik,<br />
die bisher noch nie bei Uhren zum Einsatz kam<br />
PLEASE STOP YOUR ENGINES<br />
Wenn in Goodwood geparkt wird,<br />
dann bitte nicht mit einem 08-15-Auto<br />
ES IST SO WEIT<br />
Nach knapp sieben Jahrzehnten tritt der<br />
Land Rover Defender Ende 2015 ab<br />
042<br />
047<br />
052<br />
060<br />
070<br />
GRAND MALHEUR<br />
Altmeister Paul Bracq teilt mit, was er vom<br />
aktuellen französischen Automobildesign hält.<br />
Besonders happy ist er nicht dabei<br />
TITELSTORY<br />
Für die einen ist es der neue Renault Espace.<br />
Für die anderen die längste Praline der Welt<br />
DAS REVOLUTIÖNCHEN<br />
PSA hat seine Dieselmotoren mit Blue HDi<br />
auf die kommende Euro6-Norm vorbereitet<br />
PIEP-PIEP<br />
Robotik ist komplex und kontrovers, bringt<br />
grosse Veränderungen. Wir nähern uns<br />
der Zukunft – am Boden und im Weltraum<br />
IMPRESSUM<br />
132<br />
134<br />
144<br />
146<br />
162<br />
FRANKREICH<br />
EDITION<br />
006 <strong>VECTURA</strong> #15
028<br />
047<br />
052<br />
070<br />
132<br />
146<br />
SOMMER 2015 007
FAHRTERMIN<br />
TROIS COULEURS<br />
008 <strong>VECTURA</strong> #15
FAHRTERMIN<br />
MIT DEM 308 HAT PEUGEOT EIN EBENSO VIELSEITIGES WIE<br />
ATTRAKTIVES AUTO IM PROGRAMM. BESONDERS DIE<br />
GT-VERSION IST EIN REIZVOLLES ANGEBOT – SIE HAT ESPRIT,<br />
VERMEIDET ABER DIE SPORTIVE PLATTITÜDE<br />
Text Simon Baumann<br />
Fotos Ian G.C. White<br />
SOMMER 2015 009
010 <strong>VECTURA</strong> #15<br />
FAHRTERMIN
FAHRTERMIN<br />
Diese Nummer … 308, so hiess 2007 schon der Vorgänger<br />
des aktuellen französischen Kompaktwagens, und es<br />
gab den alten noch als Dreitürer. Der 2013 eingeführte,<br />
ausschliesslich fünftürige 308 – man spricht auch von Phase II –<br />
behielt die Ziffernfolge, weil Peugeot zuvor eine neue Nomenklatur<br />
eingeführt hatte: Grossserien-Baureihen enden seither<br />
entweder auf 1 (Basismodelle für Schwellenländer) oder eben<br />
8 (gehobene Ausstattung, z. B. für Westeuropa). Nach dem<br />
2012 vorgestellten Stufenheck 301 ist der 308 II damit der zwei -<br />
te Peugeot, bei dem eine Modellbezeichnung wiederholt wird –<br />
und der erste, der sich so nennt wie der letzte. C’est la vie.<br />
Man kennt den neuen Drei-Null-Acht; auch in der Schweiz gehört<br />
er inzwischen zum Strassenbild. Und bei den inflationär stattfindenden<br />
Preisverleihungen von Industrie oder Fachpresse steht<br />
der Kompaktwagen regelmässig auf dem Treppchen. Für uns ist<br />
das Grund genug, dem jungen Löwen etwas kritischer auf den<br />
Zahn zu fühlen – nicht zuletzt deshalb, weil es ihn jetzt auch in<br />
einer GT-Version mit 205 Benzin- oder 180 Diesel-PS gibt. Aber<br />
braucht es das?<br />
Wer je 307 oder 308 Phase I fuhr, hat zunächst keine übertriebenen<br />
Erwartungen. Anständig, ja. Alltagstauglich, klar. Aber aufregend?<br />
Qualitativ bemerkenswert? Vorfreude gar auf die nächste<br />
Fahrt? Comme ci, comme ça. Der GT dagegen stimmt neugierig:<br />
Ist es Peugeot gelungen, eine Modellvariante auf die Räder<br />
zu stellen, die Lust auf mehr macht?<br />
Das Zusatzkürzel impliziert schon mal Sportlichkeit, die äusserlich<br />
mit der Sonderfarbe «Bleu Magnetic» (es gibt aber auch<br />
andere Lackierungen), dem Sportfahrwerk (Höhe minus einen<br />
Zentimeter), den geänderten Front- und Heckschürzen oder<br />
speziellen 18-Zoll-Felgen zum Ausdruck kommt. Innen werden<br />
Alupedale oder ein dunkler Dachhimmel geboten, erfreuen rote<br />
Ziernähte das Auge und die Denon-Soundanlage das Ohr. Uns<br />
spricht vor allem die SW genannte Kombivariante an, weil sie<br />
gestreckter ist, in der zweiten Reihe spürbar mehr Platz bietet,<br />
dazu einen doppelten Kofferraumboden plus Verzurr-Ösen und<br />
optional ein wirklich riesiges Panorama-Glasdach. Die Tochter<br />
im Kindersitz ist begeistert, also sind wir es auch! Und haben<br />
natürlich auch die liebevoll gestalteten 3D-Armaturen wahrgenommen,<br />
das zentrale Display mit Verkehrszeichenerkennung<br />
oder den zusätzlichen Digitaltacho. Doch entfalten diese Details<br />
ihre Schönheit erst auf den zweiten Blick; dann erst die Lüftungsdüsen<br />
und vernähten Kanten – all das strahlt eine Wertigkeit aus,<br />
die wir von Peugeot bisher nicht gewohnt waren, schon gar nicht<br />
in dieser Klasse, mon Dieu! Der zentrale Touchscreen ist mattiert<br />
und spiegelt deshalb kaum. Diskret hat die Bluetooth-Funktion<br />
Verbindung mit unserem Smartphone aufgenommen; der Datentransfer<br />
ist ebenso unproblematisch wie die Sprachsteuerung –<br />
alles funktioniert intuitiv und ganz ohne Handbuch.<br />
Allerdings – wo Licht ist, fällt auch Schatten. Die Anordnung des<br />
Tempomaten ist sehr unglücklich gewählt, weil man das Teil einfach<br />
nicht sieht und es uns nicht einmal gelang, den Cruise-<br />
SOMMER 2015 011
012 <strong>VECTURA</strong> #15
FAHRTERMIN<br />
TECHNISCHE DATEN PEUGEOT 308 GT<br />
Konzept Betont sportliche Modellvariante des ab 2013 eingeführten französischen Kompaktwagens. Selbsttragende Karosserie mit Hilfsrahmen vorne,<br />
4 / 5 Türen, 5 Sitzplätze. Zahnstangenlenkung mit elektrohydr. Servo, vorne Einzelradaufhängung mit Dreieckquerlenkern, hinten Verbundlenkerachse,<br />
Scheibenbremsen rundum (v. belüftet). Frontantrieb<br />
Motor Vierzylinder-Benzindirekteinspritzer (Code EP6 DT) mit 4 Ventilen / Zyl., 5fach gelagerte Kurbelwelle (Kette), Turbolader und Intercooler.<br />
Vierzylinder-Turbodiesel (Code DW10FD) mit Common-Rail-Einspritzung, ebenfalls 4 Ventilen / Zyl., Turbolader (VNG) sowie Intercooler<br />
308 Berline GT e-THP 308 SW GT Blue HDi EAT6<br />
Hubraum in cm 3 1598 1997<br />
Bohrung x Hub in mm 77 x 85,5 85 x 88<br />
Verdichtung 10,5:1 16:1<br />
Leistung in PS (kW) @ U / min 205 (151) @ 6000 180 (133) @ 3750<br />
Max. Drehmoment in Nm @ U / min 285 @ 1750 400 @ 2000<br />
Kraftübertragung M6 A6<br />
Abmessungen (L/ B / H) in cm 425 / 180 / 145,5 458 / 180 / 147<br />
Radstand in cm 262 273<br />
Spur vorne / hinten in cm 155 / 154<br />
Reifen und Räder 225 / 40 R18 auf 7,5J<br />
Tankinhalt in L 60<br />
Kofferraumvolumen in L 420 – 1300 675 – 2145<br />
Leergewicht (ohne Fahrer) in kg 1265 1445<br />
Zulässiges Gesamtgewicht in kg 1790 1975<br />
Leistungsgewicht in kg / PS 6,2 8,0<br />
0 – 100 km / h in Sek. 7,5 8,6<br />
Höchstgeschwindigkeit in km / h 235 218<br />
Durchschnittsverbrauch* in L/100 km 5,6 4,1<br />
CO 2 -Emission in g / km 130 107<br />
Energieeffizienzkategorie C B<br />
Preis ab CHF 37 700.– 42 700.–<br />
* gemessen nach NEFZ: Neuer Europäischer Fahrzyklus<br />
SOMMER 2015 013
FAHRTERMIN<br />
Der 308 GT strahlt eine Wertigkeit aus,<br />
die wir von Peugeot nicht gewohnt waren –<br />
schon gar nicht in dieser Klasse<br />
Mode zu aktivieren. Schade auch, dass die Freisprecheinrichtung<br />
oder das Radio runterfahren, sobald man den Motor abschaltet.<br />
Öffnet man dagegen die Tür, ohne vorher die Feststellbremse<br />
betätigt zu haben, geht ein Alarm los, wie man ihn nur selten<br />
hört. Und muss die Heizungsbedienung wirklich ein Untermenu<br />
sein, das man aufrufen muss, wenn es zu kalt oder heiss wird?<br />
Offenbar, und es steht zu befürchten, dass dem bald überall so<br />
sein wird – einfach weil Hersteller für diese Funktion nur noch<br />
Software brauchen und auf eine haptische (teurere) Klimaregulierung<br />
zunehmend verzichten können.<br />
Doch diese letzte Kritik gilt einer ganzen Branche, nicht nur unserem<br />
Testkandidaten. Zumal er sich beim auffälligsten Anderssein<br />
besser benimmt als sein kleiner Bruder 208. Der war nämlich der<br />
erste Peugeot mit einem kleinen, asymmetrischen, extrem tief<br />
stehenden Lenkrad, um einen freien Blick auf die Instrumente<br />
zu ermöglichen. Und das klappte nur bedingt; wer als Fahrer die<br />
falsche Statur hat, sitzt eventuell nicht optimal. Anders der 308 –<br />
er passt sich jeder Physiognomie an, offeriert unterschiedlichen<br />
Körpergrössen und Sitzgewohnheiten stets eine wunderbare<br />
Ergonomie – wir haben es mit mehreren Probanden geprüft.<br />
Und an das niedrig stehende, kleine Volant gewöhnt man sich<br />
schnell, zumal es auch auf längeren Strecken ermüdungsfrei<br />
gehalten werden kann. Optional-elektrische Vordersitze wissen<br />
den Komfort dank Massagefunktion weiter zu steigern, doch<br />
bereits das mechanisch-manuelle Gestühl ist überdurchschnittlich<br />
gut.<br />
Die Kabinenisolierung unterdrückt Abrollgeräusche wirkungsvoll,<br />
selbst der akustische Unterschied zwischen Benziner und Diesel<br />
ist kaum vernehmbar. Letzterer bietet eine fein abgestimmte<br />
Sechsstufenautomatik, die eine weitere Überraschung bereithält<br />
– in der manuellen Schaltgasse am Wahlhebel will zum Runterschalten<br />
nach vorne gedrückt und zum Hochschalten nach<br />
hinten gezogen werden. Dass ausgerechnet Peugeot es richtig<br />
macht, erstaunt nicht nur Porsche-Fahrer. Per Sporttaste des<br />
Dynamic-Pakets lässt sich das Auto schärfer stellen, legen Servolenkung<br />
und Gaspedal die Ohren an, schaltet die Instrumentenbeleuchtung<br />
auf Rot, wird sogar der Motorsound innen digital<br />
verstärkt. Im Zentraldisplay erscheinen dazu Power-, Boost- oder<br />
Torque-Daten; angezeigt wird auch, wie hoch die Querbeschleunigung<br />
aktuell ist. Selbstredend kann der 308 GT auch sparen<br />
und kommt mit Stopp-Start-Funktion.<br />
Die Benzin-Ausführung läuft subjektiv etwas seidiger, zieht aber<br />
nicht ganz so kraftvoll davon, obwohl wir die bald 200 kg leichtere<br />
Berline-Version mit Schrägheck ausprobierten. Auch ist sie<br />
nur mit manuellem Getriebe und recht langen Schaltwegen zu<br />
haben – das beste Auto Frankreichs stellt man sich anders vor.<br />
Fazit: Beide GT-Modelle erweitern den Grundcharakter des braven<br />
308-Basismodells um zwei reizvolle, wenn auch nicht ganz<br />
billige Alternativen. Während die Limousine äusserlich immer<br />
noch unterschätzt werden dürfte, macht der SW optisch mehr<br />
her. Fahrspass bieten beide, ohne sich in steinharten Fahrwerken<br />
zu versteigen. Was zum Glück noch fehlt, ist ein Allradantrieb,<br />
aber der wird nicht kommen. Schliesslich möchte Peugeot<br />
potentiellen 4x4-Kunden den aufgeplusterten Crossover 3008<br />
Hybrid4 verkaufen. Doch auch ohne AWD zählen wir den 308 GT<br />
zu den besten Peugeot, die je aus Sochaux kamen.<br />
Und das derzeit beste Auto Frankreichs? Ist in unseren Augen<br />
auch ein 308 GT – die Kombiversion SW mit Automatik, dem sauberen<br />
Blue-HDi-Diesel (siehe auch S. 144), der raffinierten Linienführung<br />
und dem zusätzlichen Platzangebot. Für sie würden wir<br />
sogar den Klassenprimus VW Golf Variant stehen lassen. Und<br />
das ist jetzt wirklich das grösste Kompliment, das es in der Kompaktklasse<br />
aktuell zu vergeben gibt.<br />
014 <strong>VECTURA</strong> #15
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RUBRIKEN<br />
GÖTTERDÄMMERUNG ODER FLOP?<br />
RENAULT BAUT EINEN ZWEITAKTMOTOR<br />
Text Christian Bartsch · Foto Archiv Bartsch, Werk<br />
Durch den Zusammenbruch der DDR verschwanden mit<br />
Trabant und Wartburg die letzten beiden Zweitaktmotoren<br />
aus dem Automobilbau. Als Produkt eines durch<br />
Planwirtschaft erzwungenen Mangels hatten sie keine Existenzberechtigung<br />
mehr: Über vier Jahrzehnte lang hatte es keinen<br />
Spielraum für Weiterentwicklungen gegeben, die auch für den<br />
Zweitaktmotor zur Verfügung gestanden hätten – sogar in überraschend<br />
grosser Zahl. Kürzlich gab nun Renault die Entwicklung<br />
eines neuen Zweizylinder-Zweitakters bekannt, der kleine Nutzfahrzeuge<br />
antreiben soll. Parallel erreicht uns eine Nachricht aus<br />
Indien, derzufolge dort ein Einzylinder-Zweitaktdiesel entsteht,<br />
zunächst für die dort beliebten Lastendreiräder.<br />
Potential ohne Anwendung Das sind aktuell nicht die einzigen<br />
Akti vitäten rund um den Zweitakter, doch hat bisher keine zur Serienfertigung<br />
geführt. Dabei arbeiten die kleinsten wie die grössten<br />
verfügbaren Verbrennungsmotoren nach dem Zweitaktverfahren,<br />
nämlich jene für handgehaltene Geräte, zum Beispiel Kettensägen,<br />
oder mächtige Schiffsdiesel mit bis zu 2000 Liter Hubraum –<br />
pro Zylinder, wohlgemerkt. Das weite Feld dazwischen wird vom<br />
Viertaktmotor beherrscht. Dass der Zweitaktmotor in Rennausführung<br />
extreme Leistungen erreichte, die jenseits dessen lagen, was<br />
dem Viertakter möglich ist, soll hier nur am Rand erwähnt werden.<br />
Vor rund 40 Jahren machte der Wahl-Australier Ralph Sarich mit<br />
seiner Gemischeinspritzung für Zweitaktmotoren (Orbital) von<br />
sich reden. Damals haben alle Automobilhersteller über einige<br />
Jahre wieder Zweitaktentwicklungen betrieben, von denen nicht<br />
eine überlebt hat. Aus dieser Zeit gibt es eine Vielzahl von Untersuchungen.<br />
Dabei fällt auf, dass alle untersuchten Systeme<br />
mit starren Steuerzeiten betrieben wurden und die Frischluftverluste<br />
vor allem bei niedriger Last und Drehzahl das Ergebnis<br />
nach wie vor stark beeinträchtigten. Auf dem Prüfstand der<br />
Ficht GmbH wurden im Mittel Verluste von 35 Prozent gemessen.<br />
Das Unternehmen in Kirchseeon entwickelte darum eine Benzin-<br />
Direkteinspritzung, die sich für kleinere Zweitaktmotoren eignete –<br />
und an den US-Bootsmotorenhersteller OMC (heute Bombardier)<br />
verkauft wurde. Die Aggregate glänzen seither mit einer Treibstoffeinsparung<br />
von 35 (!) Prozent; wegen ihrer guten Abgaswerte<br />
erhielten sie sogar die extrem harte Bodenseezulassung.<br />
Drei Zweitaktsysteme gibt es. Das erste und einfachste arbeitet<br />
mit Umkehrspülung und Schlitzen für den Gaswechsel im<br />
Zylinder. Es besitzt nur «drei bewegte Teile», nämlich Kurbelwelle,<br />
Pleuel und Kolben. Weil dieses System einfach und billig ist, wurde<br />
es bis heute in riesigen Stückzahlen hergestellt. Auch die Antriebe<br />
für Kettensägen, Laubbläser usw. folgen diesem Prinzip, ebenso<br />
die eingangs erwähnten Motoren für Trabant und Wartburg – oder<br />
vor dem Zweiten Weltkrieg die von DKW. Letztere waren mit ihren<br />
Zweizylinder-Zweitaktern übrigens keine Spritsäufer, sondern<br />
brauchten nicht mehr als die Viertakt-Konkurrenz. Dennoch waren<br />
die Spülverluste riesig und es hätte nahe gelegen, etwas dagegen<br />
zu tun. Aber nein, es passierte nichts, auch nicht vor rund<br />
25 Jahren, als Sarich sein Orbital feilbot wie sauer Bier (Anm. der<br />
Red.: Der Autor dieses Textes widmete sich bereits in den 1950er-<br />
Jahren intensiv dem Zweitakter und hielt eigene Patente, die von<br />
der Industrie jedoch nie aufgegriffen wurden. Erst viele Jahre<br />
später gestanden ihm die Entwicklungsleiter von zwei Automobilherstellern,<br />
sie hätten doch besser auf ihn hören sollen).<br />
Eine Verlustquelle wenigstens wurde inzwischen beseitigt. Die<br />
Steuerung durch die Kolbenkante der ins Kurbelgehäuse angesaugten<br />
Luft wurde durch Membran- (Zungen-)Ventile ersetzt, so<br />
dass die angesaugte Luft nicht zum Teil wieder ins Freie geblasen<br />
werden kann. Solche Membranventile sind durch den Maschinenbauer<br />
Hans Grade etwa seit 1904 bekannt und spätestens seit<br />
1915 auch als Zungenventile. Es hat dennoch viele Jahrzehnte<br />
gedauert, bis die japanischen Motorradhersteller sie aufgegriffen<br />
und auch verwendet haben. Jener Einlassdrehschieber dagegen,<br />
den auch die Trabant-Motoren aufwiesen, war keine dauerhafte<br />
Lösung. Damit konnte das Ansaugen ins Kurbelgehäuse<br />
lediglich unsymmetrisch gesteuert werden, aber nicht (automatisch)<br />
vollvariabel wie mit den Membranen.<br />
Auf die verschiedenen Klappen, Schieber und Walzen vor den<br />
Auspuffschlitzen, die ebenfalls von den japanischen Motorradherstellern<br />
eingeführt wurden, wollen wir hier nicht näher eingehen.<br />
Wer ein älteres Zweitaktmotorrad besitzt (und pflegt), wird sich<br />
damit auskennen. Auch der für Indien entwickelte kleine Dieselmotor<br />
arbeitet mit Umkehrspülung. Hinter dem Triebwerk steht<br />
der ehemalige AVL-Ingenieur und Zweitakt-Spezialist Reinhard<br />
Knoll, der in den vergangenen Jahren unablässig für den Zweitakter<br />
warb – ebenso wie Reinhold Ficht, der gegenwärtig einen<br />
längsgespülten Zweitakter mit Auslassdrehschieber entwickelt.<br />
Der längsgespülte Zweitakter ist denn auch das zweite System.<br />
Er besitzt Spülschlitze rund um den Zylinder im unteren Totpunkt<br />
und Auslasseinrichtungen am anderen Zylinderende. Alle<br />
016 <strong>VECTURA</strong> #15
TECHNIK<br />
grossen Zweitakt-Schiffsdiesel arbeiten nach diesem System.<br />
Sie sind die Verbrennungsmotoren mit dem absolut höchsten Wirkungsgrad<br />
bis annähernd 55 Prozent und arbeiten zumeist mit<br />
nur einem Auslassventil, das zwischen 70 und 80 Kilogramm (!)<br />
wiegt. Aber auch Ingenieur Hugo Junkers benutzte mit seinen<br />
Gegenkolben-Zweitaktmotoren die Längsspülung. Seine Flugzeug-Aggregate<br />
arbeiteten als Diesel und erreichten sagenhaft<br />
niedrige Verbrauchswerte. Na ja, damals musste man noch nicht<br />
auf Abgasschadstoffe achten. In jüngster Zeit hat Peter Hofbauer<br />
das System aufgegriffen und einen extrem kompakten Diesel entwickelt,<br />
der sich als Lw-Motor anbietet.<br />
Zweitakt, der Dritte Umkehr- und Längsspülung haben sich bewährt<br />
und besitzen noch erhebliches Entwicklungspotential. Das<br />
dritte System arbeitet dagegen mit Kopfumkehrspülung: Solche<br />
Motoren haben keine Schlitze im Zylinder, sondern vier Ventile im<br />
Zylinderkopf. Zwei davon dienen dem Frischlufteinlass, die beiden<br />
anderen dem Auslass. Nach diesem System hat auch Renault seinen<br />
Zweitakt-Diesel entwickelt; bei dieser Bauart können das Kurbelgehäuse<br />
eines Viertaktmotors sowie dessen Pleuel und Kolben<br />
verwendet werden. Das reizte vor Jahrzehnten schon japanische<br />
Automobilhersteller, später auch Mercedes. Die Stuttgarter verwendeten<br />
den Unterbau des damaligen Fünfzylinders mit 2,5 Liter<br />
Hubraum, der als Vorkammerdiesel bei nur 3000 Umdrehungen<br />
120 PS (88 kW) leistete und ein maximales Drehmoment von 310<br />
Newtonmeter entwickelte. Die Leerlaufdrehzahl betrug 400 Umdrehungen<br />
pro Minute und der Motor zeichnete sich durch extreme<br />
Laufruhe aus. Die Mercedes-Ingenieure beklagten, dass die Zweitaktentwicklung<br />
eingestellt wurde, bevor weitere Versuche durchgeführt<br />
werden konnten. Keiner der Motoren mit Kopfumkehrspülung<br />
überlebte, weil der Zeitquerschnitt für den Gaswechsel für<br />
höhere Leistungen nicht ausreichte und die untersuchten Zweitakter<br />
keine besseren Ergebnisse brachten als die Viertaktmotoren.<br />
Beim Renault-Zweitaktdiesel wird<br />
der Kompressor über einen Riemen<br />
von der Kurbelwelle angetrieben<br />
Renault versucht es darum mit Hochaufladung, und das sowohl<br />
mit einem mechanischen Kompressor wie mit einem zusätzlichen<br />
Abgasturbolader – nach dem Motto: Lässt sich der Zeitquerschnitt<br />
nicht vergrössern, muss die Verbrennungsluft mit hohem<br />
Druck in die Zylinder geblasen werden, um genügend Luft hineinzubringen.<br />
Das Problem besteht darin, dass innerhalb kürzester<br />
Zeit das Abgas ausströmen und die Frischluft einströmen muss,<br />
bevor mit der Einspritzung die Verbrennung eingeleitet wird. Einen<br />
Verdichtungshub wie beim Viertakter gibt es nicht. Der Zweizylinder<br />
hat einen Hubraum von 0,73 Liter und soll Leistungen von 48<br />
PS (35 kW) und 68 PS (50 kW) erreichen; die Drehmomente variieren<br />
von 112 bis 145 Nm bei 1500/min. Der Motor dreht maximal<br />
4000 Umdrehungen, das entspricht 8000/min eines Viertaktmotors.<br />
Mehr verträgt der Ventiltrieb nicht. Die Zylinderbohrung beträgt<br />
76 Millimeter, der Hub 80,5. Renault wird hier Stahlkolben<br />
von Mahle verwenden, die für kleine Vierzylinder-Diesel entwickelt<br />
wurden. Im Prinzip müsste solch ein Motor so lange leben wie ein<br />
Viertaktmotor, doch darüber können wir im Augenblick nur spekulieren,<br />
weil es noch keine Erfahrungen aus der Serienfertigung<br />
gibt. Bei anderen Zweitaktsystemen sorgen Schlitze im Zylinder<br />
für erhöhten Verschleiss und für eine reduzierte Lebensdauer.<br />
Oben: Prinzip der Kopfumkehrspülung, wie sie<br />
von Renault verwendet wird. Die zugehörigen<br />
Nockenwellen sind nicht eingezeichnet. Unten:<br />
Zweitakter im DDR-Volkswagen Trabant<br />
Durch die nur zwei Zylinder baut der Motor extrem kurz und soll<br />
40 Kilogramm leichter sein als ein konventioneller Diesel gleicher<br />
Leistung. Renault spricht von exzellentem Wirkungsgrad, doch<br />
melden wir hier Zweifel an. Denn allein der mit etwa vierfacher Kurbelwellendrehzahl<br />
angetriebene mechanische Kompressor frisst<br />
enorm viel Leistung, die am Wirkungsgrad zehrt. Durch die nur<br />
zwei Zylinder will Renault einen Preis ähnlich einem vergleichbaren<br />
Benzinmotor erreichen und den Motor (zunächst) in kleinen Nutzfahrzeugen<br />
verwenden. Die Behandlung der Abgase zur Schadstoffreduzierung<br />
scheint keine Probleme zu machen, wenn sich<br />
Renault der für den Viertakter entwickelten Komponenten bedient.<br />
Das Zweitaktverfahren bietet die einzige Möglichkeit, einen Hubraum<br />
unterhalb von einem Liter zu verwenden – bei einem Rundlauf<br />
des Zweizylinders, der dem eines Vierzylinder-Viertakters entspricht.<br />
Der Motor arbeitet mit Common-Rail-Dieseleinspritzung<br />
und wir vermuten, dass diese von Bosch stammt. Der Antrieb der<br />
einen Nockenwelle erfolgt durch Zahnriemen, während die zweite<br />
durch Zahnräder von der ersten Nockenwelle mobilisiert wird. Die<br />
Verstellung der Nockenwellen für variable Steuerzeiten ist bei diesem<br />
System sehr stark eingeschränkt, sonst schlagen die Ventile<br />
auf den Kolben. Doch trotz aller Einwände finden wir es sehr<br />
erfreulich, dass Renault diesen Motor entwickelt hat. Sollte er<br />
serienmässig gebaut werden, könnten sich vielleicht auch andere<br />
Automobilhersteller an das Zweitaktverfahren erinnern – und möglicherweise<br />
eigene Entwicklungen beginnen.<br />
Christian Bartsch (85) ist Diplom-Ingenieur, Fachjournalist und Buchautor,<br />
der sich seit den 1960er-Jahren eingehend mit der Motorenentwicklung mit<br />
den Schwerpunkten Diesel- und Einspritztechnik beschäftigt<br />
SOMMER 2015<br />
017
18 <strong>VECTURA</strong> #15<br />
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FAHRTERMIN<br />
L’HOMME<br />
À LA MOTO<br />
ZEITLOSE SCHÖNHEIT:<br />
DIE TRIUMPH BONNEVILLE<br />
VEREINT VERGANGENHEIT<br />
UND GEGENWART AUF<br />
EINMALIGE WEISE<br />
Text Daniel Huber · Fotos Ian G.C. White, map<br />
Bezüglich Motorrad-Styling hat meine Frau eine ganz klare Haltung.<br />
Mit dem futuristischen Design-Wildwuchs aus bunten Kunststoffteilen<br />
und LED-Lichtschlangen neuzeitlicher Maschinen kann sie<br />
wenig anfangen und sagt das gelegentlich auch. Eigentlich liebt sie<br />
Motorräder, die heute allerdings vorwiegend für «Lonesome Bikers»<br />
gebaut werden, also selten für romantische Blust-Fahrten zu zweit.<br />
Bequeme Sozia-Sitze, die diesen Namen verdienen, sind bestenfalls auf<br />
modernen Reisesänften anzutreffen. Aber wo, fragt sie zu Recht, ist die<br />
geradlinige Umsetzung individueller Fortbewegung für zwei Personen<br />
auf zwei Rädern hingekommen?<br />
Und dann steht diese Triumph Bonneville Spirit in leuchtendem Blau-<br />
Weiss vor der Tür. «Das ist doch mal eine schöne Maschine!», kommt<br />
es meiner besseren Hälfte spontan über die Lippen. Wow! Ritterschlag<br />
für die Designer im englischen Hinckley! Andere denken offenbar<br />
genauso: Mit keinem anderen Testmotorrad – und es sind über die Jahre<br />
doch einige gewesen – ernte ich so viele wohlwollende und interessierte<br />
Blicke wie mit der Bonneville. Gleich zwei Passanten fragen mich nach<br />
dem Jahrgang der schönen Britin und können es dann kaum glauben,<br />
dass so etwas tatsächlich noch neu gebaut wird.<br />
020 <strong>VECTURA</strong> #15
FAHRTERMIN<br />
SOMMER 2015 021
FAHRTERMIN<br />
Rein äusserlich gibt es tatsächlich wenige Indizien, welche die<br />
Errungenschaften des Motorradbaus im 21. Jahrhundert verraten<br />
würden. Ein simpler Stahlrohrrahmen vereint den Motor mit<br />
seinen zwei aufrecht stehenden, gerippten Zylindern, den Tank<br />
und Ledersattel, zwei Räder, den Lenker und Scheinwerfer.<br />
So hat mein Sohn im Kindergarten Motorräder gezeichnet. Was<br />
früher ganz normal war, wird seit ein paar Jahren trendig als<br />
«Naked Bike» verkauft – ohne den unsinnigen Plastik-Firlefanz<br />
der letzten Dekaden.<br />
Solche Auswüchse blieben der Bonneville gezwungenermassen<br />
erspart – 1983 war der englische Traditionshersteller zahlungsunfähig<br />
und musste seine Werktore schliessen. Noch im gleichen<br />
Jahr kaufte der Bauunternehmer John Bloor für 150 000 Pfund<br />
die Markenrechte sowie das alte Werkgelände. Bloor nahm sich<br />
Zeit – und präsentierte sieben Jahre später voller Stolz die neuen<br />
Modelle Trident 900 und Trophy 900. Beide fanden sofort positive<br />
Resonanz und wurden dann in einem komplett neuen, auf<br />
der grünen Wiese errichteten Werk gefertigt.<br />
Mit den verbauten Dreizylindern knüpften die Triumph-Ingenieure<br />
marketingtechnisch gekonnt an die grossen Rennsporterfolge<br />
der frühen 1960er-Jahre an – und schlossen die Lücke zwischen<br />
den traditionsreichen V2-Motoren von Harley Davidson<br />
oder Ducati und hochtourigen japanischen Vierzylindern. Überhaupt<br />
hatten sie ein glückliches Händchen bei der Entwicklung<br />
neuer Modelle: So sorgte insbesondere die 2004 vorgestellte<br />
Triumph Rocket III mit dem grössten bislang in Serie gebauten<br />
2,3-L-Motorradmotor (und wieder drei Zylindern) für viel Aufsehen.<br />
Bereits 1994 war das der eigenwillig gestylten Speed Triple<br />
auf Daytona-900-Basis gelungen, die sogar gegen eine Ducati<br />
Monster bestehen konnte. Kurz: Triumph hat in den letzten 25<br />
Jahren bewiesen, wieder echte Alternativen anbieten zu können,<br />
ohne andere dabei zu kopieren. Mit einem Dutzend Baureihen<br />
sowie rund 53 000 produzierten Maschinen pro Jahr ist man gut<br />
im Geschäft – und längst der grösste britische Zweiradproduzent.<br />
Interessierte Passanten können<br />
kaum glauben, dass so etwas<br />
tatsächlich noch neu gebaut wird<br />
Der heutige Erfolg hängt auch mit jener Baureihe zusammen, an<br />
die sich Bloor Ende der 1990er erinnert hatte – mit klassischen<br />
Proportionen und benannt nach einem Salzsee in Utah: Dort<br />
hatte Triumph-Testfahrer Johnny Allen 1956 auf einer 650er-Twin-<br />
Zylinder den neuen Geschwindigkeitsrekord für Motorräder<br />
aufgestellt – 214,5 Meilen pro Stunde (ca. 345 km / h)! Bei besagter<br />
Maschine handelte es sich um einen der ersten Prototypen<br />
der späteren Serien-Bonneville, die 1959 Premiere feierte – und<br />
über die Jahre stetig weiterentwickelt werden sollte, bis dann<br />
1983 eben Schluss war.<br />
17 Jahre später wurde die Erfolgsgeschichte im alten Design als<br />
T100 Bonneville wieder aufgegriffen – zuerst mit 790 Kubikzentimeter<br />
und dann ab 2005 mit dem jetzigen 865 cm 3 -Parallel-Twin.<br />
Zwei Jahre später folgte ein weiterer technischer Meilenstein: Um<br />
den stetig verschärften Abgasnormen zu entsprechen, musste<br />
der Vergaser einer elektronisch gesteuerten Benzineinspritzung<br />
weichen. Weil das Design bei einer Bonneville aber wichtiger ist<br />
als bei anderen Zweirädern, klafft seither hinter den Zylindern,<br />
wo einst der Vergaser sass, nicht etwa ein schnödes Loch –<br />
sondern eine Einspritzpumpe, die man elegant in eine Vergaser-<br />
Attrappe integriert hat. Sogar ein ausziehbarer Choke-Hebel ist<br />
dort noch zu finden, mit dem bei kaltem Wetter tatsächlich ein<br />
wenig Standgas von Hand hochgezogen werden kann. Auch das<br />
freilich aus Nostalgiegründen, denn die Elektronik hätte es auch<br />
automatisch geschafft.<br />
Es ist das einzige Fake an einer ansonsten durch und durch authentischen<br />
Maschine – genau diese Liebe zum Detail macht die<br />
Faszination der Bonneville aus. Technisch gesehen ist sie im Lauf<br />
der letzten 15 Jahre in zwei, drei Etappen auf einen guten, soliden<br />
Stand gebracht worden. Da wackelt und ruckelt nichts mehr<br />
wie bei den Modellen der frühen Generationen. Auch Ölflecke<br />
im Garagenplatz fehlen. Die Kupplung kommt sauber, die Gänge<br />
fallen exakt mit einem kurzen «Klong» rein, Kurvenradien können<br />
sauber durchgezogen werden. Nur bei den Bremsen wurde nicht<br />
auf stur geschaltet: Vorne wie hinten gibt es Scheibenbremsen,<br />
die den 68-PS-Klassiker sicher entschleunigen. Wir hoffen sogar,<br />
dass es früher oder später auch einmal ein ABS geben wird.<br />
Wobei. Dieses Bike wird trotz passabler Fahrleistungen per Definition<br />
nicht am Limit bewegt. Vielleicht ist es wegen der aufrechten<br />
Haltung mit nostalgischem Blick über die zwei klassischen<br />
Rundinstrumente, vielleicht auch wegen des vor allem im unteren<br />
Drehzahlbereich so angenehmen Blubbern des Twin-Motors.<br />
Doch auf diesem Motorrad rücken Dinge wie Beschleunigung und<br />
Spitzengeschwindigkeit in weite Ferne. Was aber nicht heissen<br />
will, dass man auf einer Bonneville links und rechts überholt wird:<br />
Durchzugskraft aus dem Drehzahlkeller ist ausreichend vorhanden,<br />
und doch mag man sich auf der Landstrasse auch mal Zeit<br />
für einen Blick auf Berge oder Wiesen gönnen. Diese Triumph<br />
regt ein anderes Mindset an.<br />
Weil die Ingenieure dieses Retro-Bike bewusst nicht dem technischen<br />
Wettrüsten ausgesetzt haben, kommt dem Auftritt umso<br />
mehr Bedeutung zu. Ergo gibt es die Bonneville in mehreren Ausführungen<br />
und die Spirit, deren blau-weisser Tank sich keck vom<br />
durchwegs schwarzen Unterbau abhebt, gehört zu den gelungensten.<br />
Irgendwie erinnert der farbliche Kontrast an die bunten<br />
Petticoat-Röcke der Fünfziger oder die schwarzen Lederjacken<br />
der Bad Boys. So sind auch viele Anbauteile bewusst matt dunkel<br />
gehalten; passend dazu gibt’s Speichenräder statt Gussfelgen.<br />
Der kleine Rundscheinwerfer stammt vom Scrambler-Schwestermodell<br />
und das gekürzte Heck von der Thruxton, dem sportlichen<br />
Ableger der Bonneville-Familie. Doch für die meisten Käufer<br />
einer Spirit wird das erst der Anfang sein. Triumph fordert bei<br />
der Bonneville geradezu zum Custom-Nachrüsten auf – es ist ein<br />
Bike von Individualisten für Individualisten.<br />
Fazit: Eine Bonneville ist mehr als ein schönes Motorrad, das die<br />
guten alten Sixties aufleben lassen will. Sie verkörpert die Fortsetzung<br />
einer mittlerweile 55-jährigen Erfolgsgeschichte dieser<br />
grossen europäischen Traditionsmarke, ist mehr dem Genuss<br />
denn dem PS-Wettrüsten verpflichtet. Das hebt sie deutlich vom<br />
Gros des Zweirad-Allerleis ab und sichert ihr auch bleibende<br />
Wertschätzung. Für mich ist das Erlebnis eine Bürde. Denn es<br />
dürfte schwierig sein, eine Maschine zu finden, mit der meine<br />
Frau auch nur annähernd so einverstanden sein wird.<br />
022 <strong>VECTURA</strong> #15
TECHNISCHE DATEN<br />
TRIUMPH BONNEVILLE SPIRIT<br />
Konzept Naked-Bike im Retro-Look mit aktueller Technik, zwei Sitzplätze.<br />
Stahlrohr-Schleifenrahmen. Vorne Telegabel, hinten Zweiarm-Stahlschwinge<br />
mit zwei Federbeinen, Scheibenbremsen vorne/hinten. Gespann-tauglich<br />
Motor Aufrecht stehender, luftgekühlter Parallel-Zweizylinder-Viertakter. Vier<br />
Ventile / Zyl., 2 oben liegende Nockenwellen (Kette), zwei Ausgleichswellen im<br />
Kurbelgehäuse, elektronisch sequentielle Multipoint-Saugrohreinspritzung und<br />
Sekundärluftsystem, mechanisch betätigte Mehrscheiben-Ölbadkupplung.<br />
Kettenantrieb<br />
Hubraum in cm 3 865<br />
Bohrung x Hub in mm 90 x 68<br />
Verdichtung 9,2:1<br />
Leistung in PS (kW) @ U / min 68 (50,3) @ 7500<br />
Max. Drehmoment in Nm @ U / min 68 @ 5800<br />
Getriebe<br />
M5<br />
Abmessungen (L/ B / H) in cm 2230 / 840 / 1100<br />
Radstand in cm 149<br />
Sitzhöhe in cm 74<br />
Reifen und Räder vorne 100 / 90 R19<br />
hinten 130 / 80 R17<br />
Tankinhalt in L 16<br />
Sitzhöhe in mm 740<br />
Leergewicht* in kg 225<br />
0 – 100 km / h in Sek. 5,5<br />
Höchstgeschwindigkeit in km / h 185<br />
Durchschnittsverbrauch* in L / 100 km 5,0<br />
CO 2 -Emission in g / km 109<br />
Preis ab CHF 12 690.–<br />
* vollgetankt<br />
SOMMER 2015 023
FAHRTERMIN
NEW DAVIDOFF NICARAGUA<br />
OUR TOBACCO MASTERS TRAVELLED UNFAMILIAR PATHS IN THEIR<br />
SEARCH FOR A MORE COMPLEX CIGAR BLEND WHICH COULD<br />
STIMULATE BOTH THE SWEET AND BITTER TASTE BUDS · THEY<br />
FOUND IT IN THE FIERY EARTH OF NICARAGUA’S FORTY VOLCANOES ·<br />
FROM THERE ROSE THE LEAVES WHICH DAVIDOFF’S UNIQUE<br />
EXPERTISE WOULD TURN INTO NEW DAVIDOFF NICARAGUA ·<br />
TO DISCOVER THEM YOURSELF WILL NOT TAKE YOU ON SUCH AN<br />
EXOTIC JOURNEY · BUT THE TASTE UNDOUBTEDLY WILL ·<br />
DISCOVERED BY AND APPRECIATED BY<br />
THOSE IN THE MOOD TO EXPLORE<br />
davidoff.com
STILBLÜTEN<br />
FRENCH CONNECTION<br />
WIESO FRANZÖSISCHE AUTOS HEUTE WIEDER CHIC UND SEXY SIND<br />
Text und Illustration Mark Stehrenberger<br />
La France ist berühmt für seine Kunst und Kultur, Brigitte<br />
Bardot, Foie gras, Roquefort und Bordeaux – aber auch<br />
für seinen weltweiten Ruf, oft eigenartige, witzig gestylte<br />
Autos hervorzubringen. Innovative Design-Ideen, die Einführung<br />
neuer Elemente und Materialien sowie die Fähigkeit, Trends und<br />
Moden frühzeitig zu erkennen (oder sogar zu kreieren) waren<br />
nur einige der Attribute, die in der Vergangenheit zum Erfolg der<br />
legendären «voitures françaises» beitrugen. Vom ersten Dampfauto<br />
Jahrgang 1873 über den ersten Benziner von 1883 bis<br />
hin zum ersten Elektroauto 1891 engagierten sich Pioniere der<br />
Grande Nation intensiv, um die Grundlagen der später weltweiten<br />
Automobilindustrie zu erarbeiten.<br />
Bis Ende der 1930er-Jahre war die französische Eleganz auf vier<br />
Rädern gar unübertroffen – Avions Voisin, Bucciali, Bugatti, Delage,<br />
Delahaye oder Talbot Lago, um nur einige zu nennen, gelten<br />
längst als Ikonen. Aber bereits mit der Weltwirtschaftskrise von<br />
1929 hatten sich die Vorzeichen geändert: Französische Autos<br />
wurden schlichter und nüchterner. Der Schwerpunkt verlagerte<br />
sich weg vom extravaganten Styling in Richtung technischer Innovation;<br />
kleinere Motoren waren plötzlich en vogue. Mir fallen da<br />
die Citroën-Kreationen Traction Avant (1934) und 2CV (1948) ein,<br />
denen konzeptionell viele Modelle anderer Marken folgen sollten.<br />
Es gab aber auch Probleme. Denn so sehr mir die Interpretationen<br />
unserer Nachbarn vom Design her auch gefielen, so grob<br />
und minderwertig waren sie oft zusammengesetzt. Einst galt die<br />
französische Automobilindustrie als die modernste und mit Abstand<br />
grösste der Alten Welt. Doch vor 25 und mehr Jahren begann<br />
in den Pariser Styling-Studios eine gähnende Sendepause<br />
und folglich – in Kombination mit einer erstarkten Konkurrenz aus<br />
Westeuropa und Asien – stagnierte auch der Absatz.<br />
Rewind auf 1958: Als ich ein kleiner Junge war und zum ersten<br />
Mal in der neuen Citroën DS meines Schwagers sass, fielen<br />
mir die Augen fast aus dem Kopf. Dieser Schlitten war einfach<br />
der absolute Hammer! Kein anderes Auto vor der DS ist stilistisch<br />
und technisch so gewagt gewesen: Das Äussere erinnerte mich<br />
an die Architektur von Le Corbusiers moderner Kirche Notre<br />
Dame du Haut in Ronchamp, das Interior – und speziell das<br />
Armaturenbrett und Lenkrad – kultivierte die Kunst des Weglassens.<br />
Der weiche Ride auf diesem Bett von Hydraulikflüssigkeit,<br />
mit Niveauregulierung und einem halbautomatischen Getriebe,<br />
fühlte sich an wie Alibabas magische Teppichfahrt. Die<br />
DS liess die anderen Autos auf der Strasse auf einen Schlag<br />
überholt und knarrend alt wie eine arthritische Hüfte erscheinen.<br />
Und sie sorgt bis heute dafür, dass die Marke Citroën als<br />
Innovator wahrgenommen wird – welches andere Auto, bitte,<br />
hat das je geschafft, bald 40 Jahre nach Produktionseinstellung?<br />
Die Einzigartigkeit der DS war gleichzeitig auch Citroëns<br />
Dilemma, denn die Bosse fürchteten zu Recht, dass künftige<br />
Modelle nicht vom gleichen kühnen Kaliber sein könnten. In der<br />
Tat wurden bis in die 1980er-Jahre keine nennenswerten Baureihen<br />
mehr eingeführt. XM, Xsara, LN und wie sie alle hiessen<br />
waren so belanglos wie Gartenzwerge und hatten meist ein<br />
kurzes Verfalldatum. Mon Dieu.<br />
Als junger Mec las ich «Bonjour Tristesse» von Françoise Sagan,<br />
schwofte zu Musik von Johnny Hallyday, sah mir im Kino Schiessereien<br />
mit Jean-Paul Belmondo an, liebte eine Mademoiselle<br />
aus der Romandie und rauchte gelbe, ungefilterte Gauloises.<br />
Das war eine herrliche «Hauteur de la France»-Lebensweise damals,<br />
die sich auch in ihren Autos erleben liess. Doch zwischenzeitlich<br />
hatte die französische Kultur insgesamt ihre Autorität verloren,<br />
wurden ihre Autos zuerst furchtbar lustlos und dann banal.<br />
026 <strong>VECTURA</strong> #15 #14
Vielleicht war es wirklich der Schatten der DS, der sich auf alles<br />
Neue legte und es auf Anhieb als armselig abstempelte? Zur Jahrtausendwende<br />
sahen alle Peugeot-, Citroën- und Renault-Modelle<br />
am Genfersee jedenfalls aus wie Frankreichs Antwort auf den<br />
Toyota Camry. Chérie, wo waren nur die originellen Autos unseres<br />
westlichen Nachbarn geblieben?<br />
Stattdessen hatten wir es plötzlich mit automobiler Anonymität zu<br />
tun, denn Autos wie ein Renault 25 (1984–92) oder Peugeot 306<br />
(1993–2002) waren an Einfallslosigkeit kaum noch zu unterbieten.<br />
Unter den Aspiranten für den Titel «glorreichste Missgeburt» liegen<br />
auch die Renault-Auswüchse Avantime (2001–03) und Vel Satis<br />
(2002–09) ganz weit vorne: Kreativität ist ja okay, aber Nützlichkeit<br />
und Rentabilität sollten dabei nicht gänzlich auf der Strecke<br />
bleiben. Konsequenterweise waren beide Autos komplette Fehlanzeigen<br />
und das Erstaunlichste daran ist, dass sich der Twingo I<br />
aus der gleichen Feder (nämlich der des langjährigen Renault-<br />
Designchefs Patrick le Quément) in 14 Jahren nicht weniger als<br />
2,5 Millionen Mal verkaufte. Merke: Mit einem ungewöhnlich simplen<br />
Design, faltenfrei und frisch, immer lächelnd bis ans Ende,<br />
sowie dem passenden Innenraumkonzept kann man Trendsetter<br />
und Frauenheld werden. Oder eben nicht, denn der 2007 lancierte<br />
Twingo II war wieder von einer erschreckenden Bedeutungslosigkeit.<br />
Vielleicht hatte es auch damit zu tun, dass die kreativsten<br />
und besten französischen Nachwuchsdesigner – manche von<br />
ihnen waren meine Studenten am (wieder geschlossenen) Art<br />
Center College (Europe) in Vevey – über den Rhein oder in den<br />
Orient abwanderten und dort jetzt gross rauskommen.<br />
Der verkorkste Twingo II ist nicht mit jener Simplizität zu verwechseln,<br />
die einst die Ente auszeichnete – und seitdem auf einen<br />
würdigen Nachfolger wartet, der nur aus Frankreich kommen<br />
kann. Mit einer Prise unverkennbarer Nostalgie, aber gleichzeitig<br />
modern und den Ansprüchen der heutigen Jugend entsprechend<br />
sollte meiner Meinung nach eine neue Ente aussehen.<br />
Und natürlich einen Plug-in-Hybrid-Antrieb haben.<br />
Es sind die einfachen französischen Autos gewesen, die mich<br />
am meisten mit ihrem «Vive la différence» und Komfort zu beeindrucken<br />
verstanden – mochten andere auch viel grösser, stärker<br />
und schneller sein. Es waren Autos mit einer gewissen Lässigkeit,<br />
wie sie eben nur die Franzosen konzipieren konnten – keine<br />
Deutschen, keine Engländer und auch keine Amerikaner.<br />
Merke: Auch die neue Französische Revolution findet fast ausschliesslich<br />
in der unteren Mittelklasse statt – man betrachte nur<br />
die Erfolgsmodelle Peugeot 205 (1983–98) und 206 (1998–2012).<br />
In höheren Sphären haben dagegen andere Länder das Sagen.<br />
Ausnahmen bestätigen die Regel – siehe Citroën DS und SM, wobei<br />
Letzterer eine krude Sonderstellung geniesst. In den ihm folgenden<br />
dunklen Jahren der Baisse gab es nur ein paar (wenige)<br />
Lichtblicke. Kein Peugeot imponiert mir mehr als das 406 Coupé<br />
von 1997: Mit seinem katzenhaft grazilen Profil ist es ein Meisterstück<br />
von Pininfarina – ein letztes, schönstes Beispiel dieser<br />
langjährigen italo-französischen Kollaboration, das auch in diesem<br />
Millennium noch funktioniert – und von dem manch heutiger<br />
Autodesigner lernen könnte!<br />
Und es ist genau dieser Esprit von zurückhaltender Eleganz und<br />
Nonchalance, der nun ausgerechnet von einer Generation wieder<br />
belebt wird, die mit Autos angeblich wenig bis gar nichts am<br />
Hut hat. Mein diesjähriger Rundgang am Lac Léman war aus dieser<br />
Perspektive sogar ganz erstaunlich: Schöne, freche, spezielle<br />
Modelle hatten sie mitgebracht, die Franzen, und sich nach<br />
langer Abwesenheit endlich wieder zurückgemeldet. Très cool,<br />
mes amis, welcome back!<br />
Die neuen Helden heissen DS5 (beachtlicherweise ohne den<br />
Markennamen Citroën) oder C4 Cactus: Letzterer ist momentan<br />
Frankreichs Bestseller und auch – da bin ich gerne Mainstream –<br />
mein Favorit. Die heisseste Peugeot-Ware neben dem RCZ-R<br />
sind der 2008 und 308 II, während Renault mit Captur, Twingo III<br />
(er kann es wieder!) und Zoe punktet. Interessant auch die Neuausrichtung<br />
des Monospace Espace. Allesamt sind es selbstbewusste<br />
Fahrzeuge, die nicht kopieren, sondern eigene, frische<br />
Akzente zu setzen verstehen. Captur und 2008 bestätigen auch<br />
den Weg der Zukunft: In ihnen sehe ich eine neue Zuversicht<br />
und die Wiedergeburt des französischen Autos. In Märkten wie<br />
Deutschland, Spanien, Italien oder den Niederlanden verkaufen<br />
sich Captur und 2008 besser als ihre Nicht-Crossover-Pendants<br />
Clio IV und 208. Was vor einem Jahr noch als undenkbar galt, ist<br />
jetzt plötzlich wahr geworden.<br />
Die französische Autokrise darf als überwunden bezeichnet<br />
werden. Renault hatte sich noch am besten vom Abyss ferngehalten,<br />
was zu grossen Teilen seinem ebenso fähigen wie<br />
weitsichtigen CEO Carlos Ghosn zu verdanken ist. Inzwischen<br />
wissen auch seine Kollegen vom PSA-Konzern (Peugeot und<br />
Citroën), wie man der jungen Generation wieder pfiffige Autos<br />
schmackhaft macht. Das belegen auch die Verkaufszahlen der<br />
letzten zwei, drei Jahre. Sportlichkeit und Chic, Leidenschaft<br />
und Emotionen sind wieder in, nicht zuletzt weil die Marken<br />
neuen Design-Mut geschöpft haben und ihre vergleichsweise<br />
kleinen Motoren besser mit der knallharten CO 2 -Gesetzgebung<br />
klarkommen. Zudem ermöglichen Gleichteile- und Plattform-<br />
Strategien sowie Kooperationen (Renault-Nissan-Daimler oder<br />
Peugeot-Dongfeng) mehr Styling-Spielarten, weil Diversifizierung<br />
vom Kunden inzwischen erwartet wird. Heute kann sich<br />
schlichtweg kein Hersteller mehr erlauben, schlechte Autos zu<br />
bauen. Kurzum: Die wesentlichsten Diversifizierungen äussern<br />
sich heute in Design und Ausstattung.<br />
Noch was Interessantes beim diesjährigen Genfer Salon: Obwohl<br />
weder Apple noch Google eigene Stände unterhielten, waren<br />
sie ob der Dominanz ihrer Smartphone-Betriebssysteme in aller<br />
Munde. Längst haben sie begonnen, die proprietären Infotainmentsysteme<br />
der Automobilhersteller zu ersetzen, und ich kann<br />
mir gut vorstellen, dass sie schon bald eigene, komplett vernetzte,<br />
vielleicht auch autonome Fahrzeuge bauen und verkaufen – und<br />
sie unter dem Namen eines kooperierenden Herstellers, zum Beispiel<br />
Peugeot oder Renault, anbieten.<br />
Derartige Fahrzeuge, nennen wir sie mal Pods oder Reisekapseln,<br />
werden das neue «Chic» und «It-Toy» der Generation Z.<br />
Allein Apple leistet sich im Silicon Valley ein Team von etwa 200<br />
Leuten (die meisten sind unter 25 Jahre alt), um Technologien für<br />
ein Elektroauto zu entwickeln. Wollen die Franzosen also nicht<br />
nur coole Fahrzeuge bauen, sondern auch solche, die die Geschichte<br />
des Automobils grundlegend verändern können wie die<br />
eingangs erwähnten, führt kein Weg an diesem Trend vorbei. Ein<br />
Blick auf das aktuelle Portfolio stimmt mich sehr zuversichtlich,<br />
dass es so kommen wird. Bonne Chance!<br />
FRÜHLING SOMMER 2015<br />
027
RÜCKSPIEGEL<br />
TOUR DE FRANCE<br />
MANCHE AUTOS STEHEN SYNONYM FÜR<br />
DAS LAND, AUS DEM SIE STAMMEN.<br />
BEI FRANZÖSISCHEN MODELLEN GILT<br />
DAS VIELLEICHT GANZ BESONDERS;<br />
IHRE GESCHICHTEN FÜLLEN GANZE<br />
BIBLIOTHEKEN. WIR KONZENTRIEREN UNS<br />
AUF DIE LETZTEN 70 JAHRE – MIT EINIGEN<br />
HERAUSRAGENDEN BEISPIELEN<br />
Text Dieter Günther, map · Fotos zwischengas.com, Werk<br />
028 <strong>VECTURA</strong> #15
Als Infotainment noch ein Fremdwort war: Traction-Avant-Cockpit mit reduzierter Bedienung und – plus cool – kippbarer Frontscheibe<br />
Wo soll man anfangen, wenn von französischen Automobilen<br />
die Rede ist? Am besten ganz von vorne,<br />
aber dafür reicht selbst in <strong>VECTURA</strong> der Platz nicht<br />
aus! Zu bemerken ist, dass Häuser wie De Dion-Bouton oder<br />
Panhard-Levassor im 19. Jahrhundert zu den wichtigsten Impulsgebern<br />
des damals noch jungen Automobils gerechnet werden<br />
müssen. Und dann die Belle Époque mit Hispano-Suiza, Voisin,<br />
Bucciali, Delahaye und Delage, Salmson, Amilcar – und natürlich<br />
dem High-End-Label Bugatti, dessen Eigentümer zwar gebürtiger<br />
Italiener gewesen ist, aber in Molsheim beheimatet und<br />
damit französisch war. Für nicht wenige Experten brachte jene<br />
Phase (man denke nur an die Ateliers Henri Chapron) besonders<br />
elegante Fahrzeuge hervor. In den 1930ern folgte eine barocke<br />
Phase: Carrossiers wie Saoutchik, Figoni & Falaschi, Franay –<br />
allesamt grosse Namen mit ebenso reichhaltiger Kreativität –<br />
fügten zahlreiche Meisterwerke hinzu. Selbst vergleichsweise<br />
kleine Klitschen wie Pichon et Parat, Piollet, Fauvel, Autobleu<br />
oder Prab brachten später Erstaunliches hervor. Denn auch<br />
die Nachkriegszeit hielt Prachtvolles bereit – siehe Simca oder<br />
Talbot-Lago. Aber auch viel Grauenhaftes, siehe Chrysler-Simca,<br />
Matra-Simca / Talbot-Matra oder Talbot. Na ja. Kaum eine der<br />
genannten Firmen hat überlebt; selbst von Häusern wie Heuliez,<br />
Hommel oder Venturi blieb wenig übrig. Vielleicht ist der Salon<br />
Rétromobile – eine der wichtigsten Oldtimermessen der Welt, die<br />
jedes Frühjahr in Paris stattfindet – auch deshalb so populär …<br />
Naturellement, es gibt Ausnahmen wie das Reifenmaskottchen<br />
Bibendum. Oder Michel Vaillant, der als (halb belgischer) Comic-<br />
Rennfahrer seit 1957 durch unzählige Kinderzimmer rast. Überhaupt<br />
der Rennsport: Abgesehen vom Autodrome de Linas-<br />
Montlhéry, das 2005 endgültig geschlossen wurde, lieben unsere<br />
überwiegend Kleinwagen fahrenden Nachbarn die rasante<br />
Fortbewegung: Le Mans, Paul Ricard, Le Castellet oder die Rallye<br />
Monte Carlo sind da nur die prominentesten Beispiele. Frankreich<br />
ist trotz diverser Krisen Automobil-Land, inzwischen auch<br />
wieder eines der führenden Europas. Dass man daran nie zweifeln<br />
sollte, belegen unter anderem auch die folgenden Beispiele.<br />
Von Autos und Reifen –<br />
Michelin X und Traction Avant<br />
Tragisch: 1934 lancierte André Citroën seinen genialen Traction<br />
Avant, ein für damalige Verhältnisse technisch wie formal sensationelles<br />
Auto, dessen Entwicklung freilich viel Geld verschlungen<br />
hatte. Zu viel, wie sich herausstellte: Citroën war pleite und wurde<br />
vom Reifenhersteller Michelin geschluckt. Kurze Zeit später starb<br />
André Citroën, ohne den Siegeszug des Traction Avant – immerhin<br />
die Schöpfung, die die Firma letztendlich in den Konkurs<br />
getrieben hatte – zu erleben. Doch durch die Verbindung Michelin-<br />
Citroën avancierten die Fahrzeuge mit dem Doppelwinkel im<br />
Firmenzeichen auch zu rollenden Versuchslabors, wenn ein neu<br />
entwickelter Reifen getestet wurde. So auch in den 1940ern, als<br />
Michelin-Ingenieur Marius Mignol auf die Idee gekommen war,<br />
die Gewebefäden der Karkasse (sozusagen die Grundlage jeden<br />
Reifens) nicht mehr diagonal von einer Wulst zur anderen zu<br />
führen, sondern radial, also quer zur Fahrtrichtung. Um den<br />
Reifen haltbarer zu machen und vor allem, um für zusätzliche<br />
Stabilität zu sorgen, betteten die Michelin-Ingenieure zwischen<br />
Lauffläche und Karkasse einen Gürtel aus Stahlgewebe – und<br />
liessen sich dieses Verfahren sicherheitshalber patentieren. Eine<br />
kluge Entscheidung, denn dieser erste Stahlgürtelreifen, der als<br />
Michelin X ab 1949 in Produktion gehen sollte, verbesserte seiner<br />
grösseren Stabilität wegen die Fahreigenschaften eines Autos<br />
erheblich, war obendrein haltbarer und langlebiger. Und er<br />
zwang die Konkurrenz zu reagieren – wie Pirelli, die mit ihrem<br />
Cinturato einen Gürtelreifen mit Textileinlage lancierten.<br />
Und jetzt raten Sie mal, welches Auto zuerst serienmässig mit<br />
Michelin-X-Stahlgürtelreifen ausgestattet wurde – genau: der<br />
Citroën Traction Avant!<br />
SOMMER 2015 029
Traumwagen: FV S, Jahrgang 1957<br />
Heller Stern, längst verglüht – Facel Véga<br />
In den frühen Morgenstunden des 4. Januar 1960 befindet sich<br />
ein Bauer mit seinem Fahrrad auf der Route Nationale 6. Nahe<br />
Villeblevin (Yonne) wird er in rasender Fahrt von einem dunklen,<br />
starken Wagen überholt. Der ist kaum vorbeigeschossen, da<br />
ertönt ein scharfer Knall, das Auto schleudert, streift eine Platane,<br />
prallt gegen eine zweite, wird auseinandergerissen, kommt endlich<br />
zum Stehen. Stille. Polizeiliche Ermittlungen ergeben, dass<br />
es sich bei dem dunklen, starken Wagen um einen Facel Véga<br />
vom Typ FV3B handelte, der mit rund 180 km / h seinem Ziel Paris<br />
entgegenjagte – als der linke Hinterreifen platzt und zur Katastrophe<br />
führt. In den Trümmern des Wracks stirbt Albert Camus,<br />
Literatur-Nobelpreisträger von 1957; sein Verleger Michel Gallimard,<br />
der Fahrer und Besitzer des Facel, überlebt unverletzt.<br />
Bittere Ironie: Der Mann, der die Hoffnungslosigkeit menschlicher<br />
Existenz in den Mittelpunkt seines Werks rückte, hatte auf einer<br />
Veranstaltung seinen Verleger getroffen – der ihn zur gemeinsamen<br />
Rückfahrt nach Paris im Auto überredete. In der Brieftasche<br />
des Toten steckt noch die unbenützte Zugkarte…<br />
Wie reagiert Jean Daninos, Schöpfer, Patron und «Seele» von<br />
Facel Véga, auf das Unglück? Wir wissen es nicht; in seinem<br />
Rückblick (Jean Daninos, «Facel Véga», Paris o. J.) werden die<br />
geschilderten Ereignisse nicht erwähnt. Dafür erscheint der<br />
Name Gallimard ganz unschuldig in der langen Liste berühmter<br />
Kunden – neben Rennfahrer Stirling Moss, Schauspielerin<br />
Ava Gardner, Beatles-Drummer Ringo Starr, Modeschöpfer Guy<br />
Laroche oder den «Nouvelle Vague»-Regisseuren Louis Malle<br />
und François Truffaut. Auch der Schah von Persien schmückt<br />
diese Aufzählung – aber was heisst das schon? Der Herrscher<br />
auf dem Pfauenthron hortete fast alle Autos, die edel, stark und<br />
teuer waren.<br />
Edel, stark und teuer ist schon der erste Facel Véga, der im Juli<br />
1954 aus der Taufe gehoben wird. Pierre Daninos, Schriftsteller<br />
und Bruder von Jean, hat für die klangvolle Ergänzung im Markennamen<br />
gesorgt: Véga, einer der hellsten Sterne der nördlichen<br />
Himmelshälfte, soll der neuen Nobelschmiede Glanz verleihen.<br />
Das Luxuscoupé mit der Bezeichnung FV tut dies allein schon<br />
mit seiner knapp viersitzigen Karosserie, die mit stattlichem<br />
Unterbau und dem zierlichen Pavillon das Kunststück fertigbringt,<br />
massig-elegant und doch sportlich zu wirken; sie ruht auf einem<br />
Rohrrahmen. Unter der Motorhaube brodelt ein Chrysler-4,5-L-<br />
V8 mit 180 SAE-PS, das manuelle Vierganggetriebe stammt von<br />
Pont-à-Mousson und im noblen Innenraum verwöhnen Lederpolster<br />
und elektrische Fensterheber.<br />
Damit «steht» das Grundmuster aller künftigen V8-Modelle, mit<br />
Spielraum nach oben. So wird der FV nach und nach immer leistungsfähiger,<br />
er erhält eine Panoramascheibe, auf Wunsch ein<br />
Automatikgetriebe von Chrysler sowie ein pompöses Armaturenbrett<br />
aus Edelholz. Aus Edelholz? Nicht ganz. Bei näherem<br />
Hinsehen gibt sich die glänzende Pracht mit den vielen Uhren<br />
und Schaltern als lackiertes Blech zu erkennen: Aus Sicherheitsgründen<br />
duldet Daninos kein Holz in seinen Autos, basta. Zum<br />
Pariser Salon von 1955 ergänzt ein Cabriolet das Programm.<br />
Nach dem FV betritt im Mai 1958 der HK500 die Bühne der feinen<br />
Autowelt; schon bald gehen drei Viertel der Produktion ins Ausland,<br />
überwiegend in die USA. Teurer als ein Mercedes 300 SL,<br />
aber etwas günstiger als Ferrari oder Aston Martin (nach Jean<br />
Daninos sind dies die «natürlichen» Spielgefährten des Facel –<br />
an Selbstbewusstsein mangelt es Monsieur wahrlich nicht).<br />
330 (mit Automatik) bzw. 360 Pferdestärken (mit manuellem<br />
030 <strong>VECTURA</strong> #15
RÜCKSPIEGEL<br />
Vierganggetriebe) stellt der 5,9-L-V8 des HK500 bereit, dessen<br />
Bezeichnung auf das Leistungsgewicht von 5 PS / Kilo (Horses<br />
per Kilo) hinweist. Die «Automobil Revue» aus der Schweiz treibt<br />
einen HK500 mit Handschaltung und «langer», 2,93:1 übersetzter<br />
Hinterachse auf Tempo 237 km / h. Allerdings handelt es<br />
sich dabei um eine speziell präparierte Version und nicht um<br />
ein Serienmodell. Wie auch immer: Mit 489 gebauten Exemplaren<br />
avanciert der «schnellste Viersitzer der Welt» (Jean Daninos)<br />
zum Bestseller der V8-Modelle. Der ebenfalls 1958 lancierte Excellence<br />
– ein gewaltiger Viertürer mit hinten angeschlagenen<br />
Fondtüren ohne Mittelsteg – kann da nicht mithalten.<br />
Der Patron ist am Ziel seiner Wünsche – fast. Er hat Frankreich<br />
und der Welt einen formidablen «Grand Routier» beschert, einen<br />
schnellen Tourenwagen in Stil und Tradition eines Bugatti,<br />
Delage oder Delahaye. Jetzt folgt der nächste Coup des am 2.<br />
Dezember 1906 geborenen Mannes, der in den späten 1920ern<br />
Sonder karosserien für Citroën entwarf und 1939 mit einem Blechpresswerk<br />
erfolgreich in die Industrie einsteigt. Er ergänzt das<br />
Facel-Programm im September 1959 um die Facellia, einen erlesenen<br />
Vierzylinder-Sportwagen im Alfa-Giulietta- und Porsche-<br />
Super-90-Format. Besonders stolz ist der patriotische Monsieur<br />
Daninos auf den Motor des adretten, zunächst nur als Cabriolet<br />
lieferbaren Neulings (zwei Coupé-Ausführungen folgen): Der delikate<br />
Vierzylinder mit den beiden obenliegenden Nockenwellen,<br />
den halbkugelförmigen Brennräumen, dem Querstromkopf und<br />
den hartverchromten Zylinderlaufbüchsen ist hausgemacht, seine<br />
Einzelteile werden bei Pont-à-Mousson gefertigt und bei Facel<br />
zu kompletten Einheiten montiert. Auch seine Leistungsangaben<br />
– 115 SAE-PS aus 1646 cm³ Hubraum sowie die V max von gut<br />
182 km / h – wissen zu imponieren.<br />
Doch das gefeierte Aggregat wird schnell zum Problemfall:<br />
Motorschäden häufen sich, ruinieren erst das Budget und dann<br />
Flossentier: viertüriger Excellence von 1959<br />
den Ruf. Das Werk steuert gegen, überarbeitet den Vierzylinder,<br />
ersetzt ihn schliesslich. Auf die glücklose Facellia folgt im April<br />
1963 der Facel III mit robustem 1,8-L-Volvo-Aggregat und 108<br />
SAE-PS – um schon gut ein Jahr später dem Facel VI Platz zu<br />
machen, dessen Austin-Healey-Sechszylinder 150 SAE-PS mobilisiert<br />
(um in Frankreich als 15 CV eingestuft zu werden, wird<br />
sein Hubraum auf 2852 cm³ reduziert). Bei den V8-Modellen hat<br />
Ende 1961 der straffer geformte und abermals stärkere Facel II<br />
mit 390 SAE-PS und 6,3-L-Motor (Werkangaben) den HK500<br />
ersetzt. Aber es hilft alles nichts: Frankreichs einst so heller<br />
Autostern erlöscht vor über fünf Dekaden im Oktober 1964.<br />
37 Jahre später, am 13. Oktober 2001, stirbt Jean Daninos. Der<br />
94-jährige Porsche-911-Fahrer hinterlässt eine Witwe von 35,<br />
er war Ehrenvorsitzender des französischen Facel-Clubs und<br />
hat bis kurz vor seinem Tod die Wiedergeburt seiner Marke<br />
energisch betrieben. Vergebens: Das geplante Luxuscoupé mit<br />
BMW-Technik blieb ein Traum.<br />
Filigraner, schneller: Facel II, Baujahr 1964<br />
SOMMER 2015 031
Wirbelte ab Mitte der 1960er-Jahre mächtig Staub auf: Alpine A110 im Rallye-Trimm, hier eine späte Version nach 1971<br />
Bodenturnen: Alpine A110<br />
Es gab und gibt immer junge, ehrgeizige Männer, die der Automobilgeschichte<br />
ihren Stempel aufdrücken wollten. Wirklich<br />
geschafft haben das aber nur einige wenige wie Carlo Abarth<br />
(Abarth) und Colin Chapman (Lotus). Oder wie Jean Rédélé:<br />
Dieser Gallier mit dem goldenen Händchen kam 1922 im französischen<br />
Dieppe mit Benzin im Blut auf die Welt: Die väterliche<br />
Renault-Vertretung übernahm er im zarten Alter von 24 Jahren,<br />
daneben engagierte er sich im Motorsport und präparierte in<br />
seiner Freizeit bevorzugt kleine 4-CV-Modelle (was sonst?), die<br />
er bei Rallyes und Strassenrennen fliegen liess. Mit beachtlichem<br />
Erfolg: 1952 etwa passierte er als Klassensieger die Ziellinie bei<br />
der Mille Miglia, ein Ergebnis, das er in den folgenden beiden<br />
Jahren wiederholen konnte.<br />
Zu diesem Zeitpunkt hatte Rédélé bereits ein erstes Rennsport-<br />
Coupé entwickelt, das 1952 seinen Einstand feierte. Ob er ahnte,<br />
was er damit anrichtete? Sicher nicht. Obwohl sich schon dieser<br />
erste Prototyp der späteren Alpine A106 sehen lassen konnte,<br />
technisch wie optisch. Seine wunderhübsche Aussenhaut war<br />
von Giovanni Michelotti modelliert und von Allemano gefertigt<br />
worden und umhüllte – was sonst? – die hochfrisierte Mechanik<br />
des Crèmeschnittchens: Rédélé kannte die kleine Renault-Heckschleuder<br />
in- und auswendig und war von ihrer Zuverlässigkeit<br />
ebenso überzeugt wie von ihrem Leistungspotential. Zu Recht:<br />
Die Rallye de Dieppe beendete dieser 4 CV Spéciale genannte<br />
Prototyp als Gesamtsieger.<br />
Dann ging alles sehr schnell. Wann sich der Wunsch konkretisierte,<br />
diese kleine Krawallschachtel zum Ausgangspunkt einer<br />
Kleinserie zu machen, lässt sich aus heutiger Sicht kaum exakt<br />
datieren. Fest steht, dass ein zweiter Prototyp entstand, der auf<br />
dem Autosalon von New York Anfang 1954 als «The Marquis»<br />
debütierte. Sogar ein amerikanischer Lizenznehmer fand sich,<br />
doch der Plan führte ins Leere. Die inzwischen beschlossene<br />
Serienfertigung liess sich durch derartige Rückschläge nicht<br />
stoppen, das «Abenteuer Alpine» nicht aufhalten. Im Januar 1955<br />
fiel schliesslich der Startschuss, lief die Fertigung der Alpine<br />
A106 an. Was die Herren Deutsch und Bonnet – sie fertigten den<br />
schnittigen DB auf Panhard-Basis (siehe S. 035) – dazu sagten,<br />
ist nicht überliefert. Nachahmer tauchten aber auf: Angetan vom<br />
Alpine-Konzept, beglückten Brissoneau & Lotz die Welt mit einer<br />
Konstruktion, die technisch wie optisch stark der kleinen Alpine<br />
ähnelte. Und schon bald wieder vom Markt verschwand …<br />
Anders Alpine. Die kleinen Canaillen von der Kanalküste erwiesen<br />
sich auf allen Gebieten als aussichtsreiche Kandidaten und<br />
reüssierten nicht nur im Kampf um Marktanteile oder im Motorsport,<br />
sondern selbst bei Schönheits-Konkurrenzen, diesem in<br />
den 1950er-Jahren beliebten Gesellschaftsspiel. Zumal Rédélé<br />
geschickt die Modellpalette erweiterte – nicht nur um Motor-,<br />
sondern auch um Karosserievarianten. Aus heutiger Sicht bedeutsam<br />
ist freilich etwas anderes: Mit dem Chassis seiner<br />
Schöpfungen nicht mehr zufrieden, konzipierte Jean Rédélé<br />
einen nagelneuen Zentralrohrrahmen mit angeschweissten<br />
Achsträgern samt hinterem «Käfig» für das Triebwerk. In der<br />
Praxis sollte diese gerade mal 30 Kilo schwere Konstruktion<br />
durch ihre hohe Stabilität überzeugen; erstmals zum Einsatz<br />
kam sie Ende 1959 – zunächst in den A108-Modellen. Damit<br />
war ein weiterer wichtiger Schritt getan, dem bald ein dritter<br />
folgte. Wieder auf dem Salon von Paris zeigte Alpine im Oktober<br />
1960 als neue A108-Version die Berlinette «Tour de France», ein<br />
kleines Coupé, das sich bei näherem Hinsehen als geschickte<br />
Adaption des von Michelotti gezeichneten A108 Cabriolet zu<br />
erkennen gab: Die Scheinwerfer hatten Rédélé und Co. verkleidet<br />
und für eine sanft im Heck auslaufende Dachpartie gesorgt,<br />
bei der höchstens ein paar Details – wie die mit ihren aufgesetzten<br />
Luftschächten provisorisch wirkende Motorhaube – störten.<br />
Aber das waren Äusserlichkeiten, die bereits im Herbst 1962<br />
032 <strong>VECTURA</strong> #15
RÜCKSPIEGEL<br />
buchstäblich glattgebügelt wurden: Die Alpine A110 Berlinette<br />
debütierte – und damit eines der erfolgreichsten Wettbewerbsfahrzeuge<br />
aller Zeiten, ein ultraflaches Sportgerät, das für viele<br />
zu einem Mythos, zu einer Art französischem Nationalheiligtum<br />
werden sollte. Dessen typische Merkmale – der im Heck installierte<br />
Renault-Vierzylinder (naturbelassen oder in des Meisters<br />
Hexenküche zum Brodeln gebracht), der klassische Rohrrahmen<br />
sowie die damit verklebte Kunststoffhaut – ihm für die nächsten<br />
15 Jahre erhalten bleiben sollten.<br />
Den fünffach gelagerten 956-cm³-Motor gab es in zwei Leistungsstufen:<br />
Als Serientriebwerk mit 42,2 DIN- oder 48 SAE-PS<br />
(lacht da jemand?) sowie in einer Ausführung, die Marc Mignotet,<br />
Rédélés Motoren-Mann, auf 66 SAE-PS bei 6500 Touren getrimmt<br />
hatte. Damit ging die Plastik-Flunder rund 170 km / h – ein<br />
fabelhafter Wert für ein Einliter-Auto!<br />
Sehr sportlich war auch das Cockpit, sowohl was die Instrumentierung<br />
wie die drangvolle Enge betraf. Doch die Alpine passt wie<br />
ein Massschuh, und dass die Karosserie kaum Platz für Gepäck<br />
bot, war vorauszusehen. Schliesslich wohnten unter der vorderen<br />
Haube das Ersatzrad und der Tank (unter Umständen sogar<br />
noch der Wasserkühler), während hinten der (schwer zugängliche)<br />
Motor kauerte. Vor lauter Berlinette-Begeisterung sollte nicht vergessen<br />
werden, dass es noch andere A110-Modelle gab – einen<br />
GT4 mit mehr Platz beispielsweise oder ein Cabriolet.<br />
Die A110 war freilich der Star des Ensembles und es sollte sie<br />
nie mit weniger als 1000 Kubikzentimeter Hubraum und 42,2 PS<br />
geben. Aber mit mehr – mit viel mehr sogar. Was nach den bescheidenen<br />
Anfängen im Lauf der Jahre über die Bühne ging,<br />
war schwer vorstellbar. Und gleichermassen verwirrend, denn<br />
die Welt der «Alpinisten» ist voll von geheimnisvollen Zahlen und<br />
Kürzeln, die einzelne Modelle («70», «80», «85», «100») bezeichnen,<br />
bestimmte Renault-Motoren (807, 810, 812 …) und -Getriebe<br />
(353, 364, 365 …) – oder einfach nur Tuning-Sätze. «GTH» etwa<br />
steht für eine von Marc Mignotet entwickelte Anlage, die den Hubraum<br />
des 1108-cm³-Triebwerks auf 1149 cm³ brachte. Übrigens<br />
kümmerte sich bei Alpine nicht nur Marc Mignotet um das leibliche<br />
Wohl der kleinen Renault-Vierzylinder, sondern, seit dem<br />
Zusammenbruch seiner eigenen Firma, auch Amédée Gordini,<br />
ein anderer grosser Name der französischen Rennszene. Seinem<br />
Wirken verdanken wir etwa den 1966 eingeführten 1300 S<br />
mit satten 115 DIN-PS – nicht übel für einen biederen Stossstangen-Motor!<br />
Den Gipfel markierte derweil der 1600 S Gruppe 4<br />
mit seinen 172 SAE-PS aus 1,6 L Hubraum.<br />
Dass sich bei einer derart immensen Bandbreite an Leistung,<br />
Ausstattung und Achsübersetzungen generelle Aussagen zu<br />
Fahreigenschaften und -leistungen kaum machen lassen, liegt<br />
auf der Hand. Ganz allgemein bleibt festzustellen, dass die<br />
Alpine wegen ihrer unglücklichen Kombination von weit hinten<br />
sitzendem Heckmotor und Pendelachse ein Auto für Könner war<br />
und ist. Die, soll sie schnell bewegt werden, viel Fingerspitzengefühl<br />
erfordert. Wer allerdings mit ihr umzugehen wusste, den<br />
belohnte sie mit enormen Kurvengeschwindigkeiten und perfektem<br />
Go-Kart-Feeling – eben Fahrspass pur. Bei einem Minimum<br />
an Komfort. Alles in allem ein sehr spezielles Angebot also, gemacht<br />
für sehr spezielle Zeitgenossen. Gab es überhaupt echte<br />
Konkurrenten für die Alpine? In Frankreich schon, auf anderen<br />
Märkten – wegen ihrer Aussenseiterrolle – eigentlich nicht. In<br />
heimatlichen Gefilden dürfte sie der technisch interessante Matra<br />
Djet mehr und der kleine CG (trotz bewusst gewählter optischer<br />
Ähnlichkeiten) weniger geschmerzt haben.<br />
Doch auf Dauer war niemand der Alpine gewachsen – weil keiner<br />
so gnadenlos im Motorsport abräumte! Tief, breit, flach und meist<br />
metallic-blau lackiert, brüllten die rasenden Kisten aus Dieppe<br />
besonders über die Rallyepisten dieser Welt und gewannen so<br />
ziemlich alles, was es zu gewinnen gab – wobei sich die grössten<br />
Triumphe eher spät einstellten: Bei der Rallye Monte Carlo<br />
1971 gingen Andersson / Stone auf A110 als Sieger durchs Ziel;<br />
zwei Jahre später belegte das Geschoss die ersten drei Plätze<br />
und schloss die Saison sogar mit dem Gewinn der Rallye-Weltmeisterschaft<br />
ab. Nebenbei bemerkt wurden nicht nur Strassensportwagen<br />
eingesetzt, sondern auch Prototypen und Formel-<br />
Renner. Deren Erfolge brachten nicht nur Prestige, sondern auch<br />
das Wohlwollen von Renault (was sich hin und wieder in klingender<br />
Münze auszahlte). Profit dürften auch verschiedene Lizenzen<br />
gebracht haben, denn die A110 entstand in Brasilien bei Willys-<br />
Interlagos, in Mexiko, Bulgarien oder bei Renault-FASA in Spanien.<br />
So stürmisch die Entwicklung auf dem Motor- oder Getriebesektor<br />
verlief, so wenig tat sich in Sachen Optik und übriger Technik.<br />
1977 endete nach knapp 7500 Exemplaren schliesslich eine<br />
Ära, verliessen die letzten A110 vom Typ 1600 SX die Werkhallen<br />
– der verschworene Kreis der «Alpinisten» trug Trauer. Zumal<br />
die jüngere A310 (obwohl sie den wesentlichen Marken-Prinzipien<br />
treu blieb) mit Misstrauen beäugt wurde: Nicht mehr das<br />
Durchfahren einer Haarnadelkurve mit möglichst hohem Tempo<br />
stand im Vordergrund, sondern die zwar sportliche, aber durchaus<br />
komfortable Beförderung der Passagiere. Einfach dégoutant!<br />
Aber mal ehrlich: Hätte es nicht jeder Nachfolger der Alpine<br />
A110 schwer gehabt?<br />
1985 erschien die Alpine GTA, 1991 die A610 Turbo – schnelle<br />
Autos, aber nicht halb so faszinierend wie eine A110. 1995 war<br />
es dann vorbei, denn der neue Sport Spider wurde zwar bei<br />
Alpine gebaut, war aber ein ganz anderes Fahrzeug – und trug<br />
das Renault-Logo. Die Marke Alpine war vorerst Geschichte;<br />
Renault nutzte das Werk in Dieppe anschliessend als Rennsport-<br />
Werkstatt. 2012 gab es Überlegungen, den berühmten Namen<br />
durch neue, gemeinsam mit Caterham entwickelte Modelle zu<br />
reaktivieren, doch daraus wurde nichts. Jetzt entwickelt Renault<br />
die Neuauflage selbst; ihren ersten Auftritt hatte sie Anfang Jahr<br />
im Videospiel Gran Turismo 6. Jean Rédélé hat das nicht mehr<br />
erlebt: Er starb am 10. August 2007 in Paris.<br />
Moderne Zeiten: Alpine-Nachfolger A310 (1971–76)<br />
SOMMER 2015 033
Das Herz schlägt in der Mitte –<br />
René Bonnet Djet und Matra Jet<br />
Wenn langjährige Partnerschaften auseinanderbrechen – egal, ob<br />
in der Liebe oder im Geschäft –, ist das immer traurig. Auch die<br />
französischen Konstrukteure Charles Deutsch und René Bonnet,<br />
die seit den 1930er-Jahren zusammengearbeitet und in den<br />
1950ern durchaus erfolgreich die kleinen DB-Sportwagen gefertigt<br />
hatten, gingen ab 1961 getrennte Wege: Charles Deutsch<br />
heuerte bei Panhard an (rechte Seite), sein einstiger Partner gründete<br />
die Automobiles René Bonnet et Cie. Was die kleine Firma<br />
draufhatte, zeigte der im Oktober 1962 auf dem Pariser Salon<br />
vorgestellte Djet: ein kleines Kunststoff-Coupé mit aufregender<br />
Linien führung und hochkarätiger Technik, das mit Einzelrad-Aufhängung<br />
rundum (hinten mit jeweils doppelten Schraubenfedern<br />
und doppelten Stossdämpfern), vier Scheibenbremsen sowie<br />
einem Zentralrohrrahmen mit zusätzlichem Gitterrohrchassis operierte.<br />
Sein Motor stammte vom Renault Gordini und werkelte –<br />
damals absolut sensationell! – hinter dem Rücken des Fahrers,<br />
aber vor der Hinterachse! Obwohl dieses erste Serienauto mit<br />
Mittelmotor auf der Rennstrecke eine gute Figur machte und sogar<br />
von den französischen Flics – der Gendarmerie – eingesetzt<br />
wurde, verkaufte es sich nur mässig. Übrigens liess Monsieur<br />
Bonnet die Kunststoffhäute seines Djet bei Mécanique Aviation<br />
Traction (kurz Matra) fertigen, einem auf dem Gebiet der militärischen<br />
Luftfahrt tätigen Unternehmen. Als nun Bonnet wegen<br />
schleppenden Absatzes mehr und mehr in die Bredouille geriet,<br />
übernahm Matra das kleine Werk, formierte die Société Matra-<br />
Sport und stieg so in die Autoindustrie ein. Zu diesem Zeitpunkt<br />
waren gerade mal 190 Djet entstanden. Matra, später sogar in der<br />
Formel 1 erfolgreich, straffte das Programm (indem man die anderen<br />
Bonnet-Modelle ausrangierte) und führte den kleinen Mittelstürmer<br />
– später als Jet verkauft – tatsächlich zu neuer Blüte.<br />
Unter Bonnet nur mässig erfolgreich,<br />
entwickelte sich der Djet ab 1964 bei Matra<br />
zum beliebten Westentaschensportler<br />
034 <strong>VECTURA</strong> #15
RÜCKSPIEGEL<br />
Adoptierter Einzelgänger – Panhard CD<br />
Sie ist eine der ältesten Automarken der Welt und schuf stets<br />
extra vagante Fahrzeuge für einen feinen kleinen Käuferkreis. Der<br />
hier vorgestellte CD freilich gilt selbst unter Panhard-Insidern als<br />
seltener Vogel! «Ist das ein Jaguar?», werden Besitzer des Coupés<br />
erstaunlich oft gefragt, während der Interessent irritiert den<br />
grossen Schriftzug auf der Motorhaube beäugt. In der Tat präsentiert<br />
sich das Auto auch bei näherem Hinsehen nicht unbedingt<br />
als typischer Vertreter seines Herstellers: Der CD geriet eher<br />
zufällig unter die Fittiche der Société Anonyme des Anciens Établissements<br />
Panhard et Levassor, worauf schon seine Modellbezeichnung<br />
erste Hinweise gibt: Die Abkürzung steht für Charles<br />
Deutsch, einen am 6. September 1911 in Champigny-sur-Marne<br />
geborenen Rennfahrer und Konstrukteur mit besonderem Faible<br />
für die Aerodynamik.<br />
Offenbar als Teil einer Abfindung erhielt Charles Deutsch die<br />
Rechte an jenem Coupé, das im Herbst 1961 und vor der Trennung<br />
von René Bonnet noch ein Prototyp der Marke DB gewesen<br />
war. Und da Deutsch nahtlos zu Panhard wechselte, nahm<br />
er das Coupé einfach mit, entwickelte es weiter und brachte es<br />
im Sommer 1962 in Le Mans an den Start – um dort, pilotiert von<br />
Guilhaudin / Bertaut, den Verbrauchs-Index zu gewinnen!<br />
Im folgenden Herbst wurde dann die Strassenversion präsentiert,<br />
die allerdings vergleichsweise hochpreisig ausfiel. Allein daran<br />
kann es freilich nicht gelegen haben, dass sich das Coupé –<br />
oder die Berlinette, wie Panhard-Freunde sagen – so zögerlich<br />
verkaufte. Schon eher an seinem Zweizylinder-Viertakt-<br />
Boxermotor, der irgendwie kleinwagenmässig wirkte und nicht<br />
in ein so teures Auto passen wollte. Dabei hatte es gerade dieses<br />
kurzhubige, von Louis Delagarde entwickelte ohv-Triebwerk<br />
in sich! Es ruhte, verblockt mit Getriebe und Differential,<br />
in bester Panhard-Manier vor der Vorderachse, verfügte über<br />
hemisphärische Brennräume, eine rollengelagerte Kurbelwelle<br />
und war natürlich gebläsegekühlt. Die Zylinderköpfe liessen sich<br />
nicht abnehmen und statt herkömmlicher Ventilfedern gab es<br />
Torsionsstäbe – bei Panhard war eben alles etwas anders als<br />
bei den anderen!<br />
Im frontgetriebenen CD kam eine leistungsgesteigerte Version<br />
zum Einsatz, die auf die Bezeichnung «Tigre» hörte und bei einem<br />
Hubraum von 848 cm³ ganze 50 PS bei 5750 U / min mobilisierte.<br />
In Kombination mit nur 680 Kilogramm lagen ehrliche<br />
160 km / h drin, bei längerer Übersetzung gar 180. Aber auch für<br />
lange Landstrassenetappen eignete sich der Wagen, und das –<br />
typisch Panhard – bei moderaten Verbräuchen. Was natürlich<br />
auch für die strömungsgünstige Karosserie spricht. Das letzte<br />
Wort in Sachen Design hatte Louis Bonnier, ein altgedienter<br />
Panhard-Mann, der zu Studienzwecken Fische und Vögel in freier<br />
Wildbahn filmte. Offenbar mit Erfolg, denn das CD-Kleid erwies<br />
sich nicht nur als effizient, sondern sah auch noch toll aus. Gefertigt<br />
zunächst beim Spezialbetrieb Chappe und dann im ehemaligen<br />
Velam-Werk (wo die französische Isetta entstanden<br />
war), bot diese markante Kunststoffhülle zwei Personen bequem<br />
Unterkunft. Bis 1965 entstanden 159 Exemplare.<br />
Zu diesem Zeitpunkt standen die Zeichen bei Panhard in der Avenue<br />
d’Ivry zu Paris bereits auf Sturm. Die Firma, die durch unorthodoxe,<br />
oft geniale Konstruktionen (auch auf dem Nutzfahrzeug-<br />
Sektor!) ebenso berühmt geworden war wie durch zahlreiche<br />
Renn- und Rallye-Erfolge, geriet mehr und mehr unter Citroën-<br />
Kontrolle und verlor im Frühjahr 1965 auch noch die letzten Reste<br />
ihrer Eigenständigkeit. Nur zwei Jahre später, am 19. September<br />
1967, verliess der letzte Panhard die Montagebänder.<br />
SOMMER 2015 035
RÜCKSPIEGEL<br />
Dr. Jekyll und Mr. Hyde –<br />
die Simca Bertone Coupés 1000 und 1200 S<br />
No Sports! Dieses Lebensmotto galt auch für die Société Industrielle<br />
de Mécanique et Carrosserie Automobile, besser bekannt<br />
als Simca. Dieses 1934 von Henri «Enrico» Pigozzi gegründete<br />
Unternehmen hatte zunächst Fiat-Modelle für den französischen<br />
Markt in Lizenz hergestellt, sich aber nach und nach vom italienischen<br />
«Mutterhaus» abgenabelt und 1951 mit der Aronde die<br />
erste Eigenkonstruktion lanciert. Seitdem gehörten sportliche<br />
Schöpfungen zum festen Bestandteil des Firmenprogramms –<br />
wie das 1962 vorgestellte, wunderhübsche Simca 1000 Coupé:<br />
«Simca beauftragte uns, innerhalb von 48 Stunden die Karosserielinien<br />
des Coupé zu präsentieren», kokettierte Nuccio Bertone<br />
Jahre später augenzwinkernd. Ganz so dramatisch wird es<br />
nicht gewesen sein, zumal die Turiner Blechschmiede auch für<br />
die Fertigung der Roh-Karossen verantwortlich war. Auf jeden<br />
Fall hatte sie sich gegen starke Konkurrenz durchgesetzt: Auch<br />
der französische Luxuswagen-Hersteller Facel steuerte einen<br />
(eher sachlich-kühlen) Prototyp bei, der übrigens von einem jungen<br />
Mann stammte, der Ende 1959 als 21-Jähriger die Nachfolge<br />
des schwierigen Franco Scaglione als Bertone-Chefdesigner<br />
angetreten hatte. Er hiess Giorgetto Giugiaro und sollte Karriere<br />
machen, nicht nur bei Bertone …<br />
Technisch kam der Zweitürer mit einem Vierzylinder-Heckmotor<br />
von 944 cm³ Hubraum und 40 PS aus dem 1000 GL / GLS daher.<br />
Gedacht als Konkurrenz zu VW Karmann Ghia oder Renault<br />
Caravelle, erfreute sich der fesche Neuling mit dem sanften Wesen<br />
vor allem auf dem französischen Markt grosser Beliebtheit und<br />
blieb bis 1967 im Programm; Hoffnungen und Spekulationen auf<br />
eine leistungsgesteigerte Version hatten sich leider nicht erfüllt.<br />
Aber dann! Im Herbst des gleichen Jahres überraschten die Franzosen<br />
um Monsieur Pigozzi mit dem Simca 1200 S Coupé! Schon<br />
auf den ersten Blick war zu erkennen, dass man es hier mit einem<br />
aufgewerteten Simca 1000 Coupé zu tun hatte – und gleichzeitig<br />
doch mit etwas völlig anderem. Der aus technischen Gründen<br />
auch optisch modifizierte 1200 S wirkte sportlich-aggressiv und<br />
zeigte plötzlich auch von vorn Profil. Vor allem aber hatte der Neuling<br />
eine wahre Leistungsexplosion erlebt und leistete bei einem<br />
Hubraum von 1,2 Liter nun 80 PS bei 6000 Touren (ab Modelljahr<br />
1970 waren es 85 PS bei 6200 U / min). Besondere Merkmale<br />
des unverändert mit einer untenliegenden Nockenwelle operierenden<br />
Kurzhubers waren zwei Solex-Doppelvergaser oder eine<br />
fünffach gelagerte Kurbelwelle. Im Grenzbereich verlangte der<br />
1200 S freilich eine kundige Hand.<br />
Simca hatte ein Händchen für schöne<br />
Coupês; hier die 1956er Aronde Plein Ciel<br />
Der Simca 1200 S stiess als Newcomer in ein enges, aber anspruchsvoll<br />
besetztes Marktsegment. Seine Mitbewerber hiessen<br />
jetzt Alfa Romeo, Lancia oder Fiat, klangvolle Namen! Trotzdem<br />
zog sich der Simca 1200 S gut aus der Affäre, kostete er doch<br />
deutlich weniger als ein Alfa 1300 GTJ mit 88 PS oder als ein<br />
Lancia Fulvia Coupé mit 87 PS und lag preislich auf dem Niveau<br />
des eher bieder wirkenden Fiat 124 Coupé (90 PS). So dürfte<br />
man bei Simca alles in allem mit dem Abschneiden der stilvollen<br />
Bertone-Schöpfungen zufrieden gewesen sein: Insgesamt<br />
24 752 Exemplare stellte das mittlerweile mehrheitlich zu Chrysler<br />
gehörende Unternehmen auf die Räder, wobei es das Simca<br />
1000 Coupé auf 10 011 und der bis 1971 gefertigte 1200 S auf<br />
14 741 Einheiten brachte. Nicht schlecht für einen 2+2-Sitzer in<br />
Designer-Klamotten!<br />
Hormonbehandlung: Aus dem Eisdielen-Shuttle<br />
wurde ab Ende 1967 ein ernsthafter Sportwagen<br />
036 <strong>VECTURA</strong> #15
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Der feine Unterschied – Matra Bagheera<br />
Drei Plätze, Mittelmotor und Kunststoffhaut: Das klingt noch<br />
heute ungewöhnlich, in den frühen 1970er-Jahren war es das<br />
allemal. Vor allem die nebeneinander angeordneten Sitze sorgten<br />
für Aufmerksamkeit, denn sie boten drei Erwachsenen bequem<br />
Platz und waren dazu noch gut für die Optik: Dank seiner<br />
Breite von 1,75 Meter stellte das französische Mittelmotor-<br />
Coupé durchaus etwas dar. Zumal ihm die Klappscheinwerfer<br />
und die serienmässigen Alufelgen einen Hauch von feiner Welt<br />
verliehen. Zwischen 1973 und 80 gebaut, war der mit aufwendiger<br />
Einzelrad-Aufhängung rundum versehene Bagheera mit<br />
einem Simca-Vierzylinder zu haben, der zunächst aus 1,3 L<br />
Hubraum 84 PS holte – bis im Sommer 1975 der Bagheera S<br />
mit 1,5-L-90-PS-Motor erschien. Insgesamt 47 802 Exemplare<br />
sollten entstehen. Besonders gesucht sind heute die mattweissen,<br />
von Modeschöpfer Courrèges aufgewerteten Sondermodelle.<br />
Begabte Kinder aus schwierigen Ehen: Auf den Bagheera<br />
folgte der Murena (1980–84, rechte Seite)<br />
038 <strong>VECTURA</strong> #15
RÜCKSPIEGEL<br />
SOMMER 2015 039
AUTO-BIOGRAFIE<br />
Ist die Liebe zu einer bestimmten Automarke konditioniert?<br />
David Chevalier jedenfalls fuhr schon als Kind auf Citroën<br />
ab. Sein Vater besass mehrere Modelle der Marke – «unter<br />
anderen eine DS 21 Halbautomat, die ich 1993 übernahm, nachdem<br />
er auf CX umgestiegen war». Da war Chevalier Junior bereits<br />
als Mech in der Citroën-Garage Bevaix beschäftigt, die auch<br />
von einem XM-Besitzer angesteuert wurde, der in Domdidier bei<br />
Fribourg ein ganzes DS-Arsenal zusammengehortet hatte. «Weil<br />
ich frische Türen brauchte, suchte ich ihn auf. Wir verstanden uns<br />
und 2002 bot er mir dann seinen Pallas aus zweiter Hand an,<br />
nachdem der lange teilzerlegt in einer Ecke gestanden hatte.»<br />
Chevalier griff zu – da es sich um das ehemalige DS-Topmodell<br />
mit unter 100 000 Kilometer Laufleistung handelte und der Preis<br />
mehr als fair gewesen ist. Einen kompletten Ersatzmotor samt<br />
Getriebe gab es als freundliche Dreingaben dazu.<br />
Fahrer David Chevalier, Jahrgang 1976,<br />
Mechatroniker, Automobildiagnostiker<br />
und Technischer Trainer aus Brügg<br />
Ex-Autos Citroën GSA, CX GTi, BX GTi, XM V6, ZX VTS,<br />
Renault Laguna, Clio Sport, Nissan Terrano II,<br />
Citroën Xsara, Berlingo, C4 Picasso,<br />
Opel Agila, Jaguar XJ6<br />
Aktuell Citroën DS 23 Pallas I.E. Automatique, Baujahr 1973,<br />
2347 cm 3 , Leistung 130 PS bei 5250 / min,<br />
195 Nm bei 2500 / min, Leergewicht 1350 kg,<br />
V max 180 km / h, Neupreis 1973: CHF 24 215.–<br />
ausserdem: Chevrolet Corvette C3,<br />
Camaro V8 Convertible, Opel Ampera, Citroën C8<br />
Die Substanz des Traumautos war insgesamt gut; der Zusammenbau<br />
mit Sortieren und Aufbereiten nahm überschaubare<br />
sechs Monate in Anspruch. Allein die Bremsen und der Auspuff<br />
wollten komplett revidiert werden, während sich die Hydropneumatik<br />
bester Gesundheit erfreute: Die Bremsschläuche und hinteren<br />
Federkugeln sind immer noch die ersten, so auch die Lederpolster<br />
im Farbton Havane. Viel Zeit investierte der dritte Eigner<br />
in die Karosserie, bis er mit den Chrom-, Tür- und Haubenpassungen<br />
zufrieden war: Ein Geduldspiel, das sich gelohnt hat,<br />
denn die im seltenen «Vert Charmille» lackierte DS 23 weist nur<br />
geringe Gebrauchspuren auf und ist total original; einziges Zugeständnis<br />
an die Neuzeit ist ein modernes Radio.<br />
Die Französin läuft auch zuverlässig; ausser der Zylinderkopfdichtung<br />
und Lichtmaschine musste bisher nichts ersetzt werden.<br />
Zudem glänzt die Limousine mit feinen Zutaten wie einer<br />
Klimaanlage plus dazugehöriger, geschlitzter Frontstossstange.<br />
Der seltene Dreistufen-Vollautomat (die meisten DS wurden mit<br />
Handschaltung oder Halbautomat geordert) genehmigt sich das<br />
eine oder andere Schlückchen extra; je nach Fahrweise sind es<br />
10 bis 15 Liter. Der Lohn ist sehr entspanntes Fahren, mit besonders<br />
sanften Gangwechseln und geringer Geräuschentwicklung.<br />
«Erst ab Tempo 140 wird es etwas lauter», schmunzelt der<br />
stolze Besitzer; knapp 20 000 Kilometer hat er bisher zurückgelegt,<br />
im Sommer fährt er mit seinem Klassiker oft zur Arbeit,<br />
die bisher weiteste Reise führte nach Belgien.<br />
Längst ist die DS-Baureihe dem Status eines Gebrauchtwagens<br />
entwachsen und die Zeiten, in denen sie günstig zu<br />
haben war, sind vorbei: «Brauchbare Exemplare gibt es ab<br />
15 000 Franken», weiss Chevalier, «perfekte Autos kosten<br />
50 000 und mehr – verrückt!» Dabei verschweigt er, dass die<br />
seltenen Chapron-Cabriolets längst sechsstellig gehandelt<br />
werden; auch Werk-Cabrios sind inzwischen sehr gesucht und<br />
teuer. Chevalier lockt das nicht: Die dunkelgrüne Schönheit<br />
ist die Favoritin seiner Autosammlung und unverkäuflich. Von<br />
der väterlichen DS 21 hat er sich dafür getrennt – eine Garagen-<br />
Göttin muss genügen. map<br />
040 <strong>VECTURA</strong> #15 #14
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WEITER, WAS DAHINTERSTECKT<br />
Wer erinnert sich noch an 1955? Es ist das Jahr, in dem Winston<br />
Churchill aus gesundheitlichen Gründen als Premierminister von<br />
Grossbritannien zurücktritt. In dem die Ost-Staaten den Warschauer<br />
Pakt gründen, in dem die Afro-Amerikanerin Rosa Parks<br />
im Bus nicht für einen weissen Mann aufstehen will, in dem Bill<br />
Gates und Steve Jobs geboren werden, aber auch Nicolas<br />
Sarkozy, Alain Prost und die französische Schauspielerin Isabelle<br />
Yasmine Adjani. Mitte Juni kommt ihr Landsmann, der Mercedes-<br />
Pilot Pierre Levegh, in Le Mans bei einem schweren Unfall ums<br />
Leben, der 83 weitere Menschen in den Tod reisst. Die Franzosen<br />
sind auf einem High-Tech-Trip: Die Dassault Super Mystère<br />
ist das erste einsatzfähige europäische Überschallflugzeug, während<br />
der Alouette-II-Hubschrauber mit einer erreichten Höhe von<br />
über 8200 Meter einen neuen Weltrekord aufstellt. Und dann<br />
steht Anfang Oktober dieser Wagen auf dem Pariser Automobilsalon,<br />
mit Science-Fiction-artiger Karosserie und hydropneumatischer<br />
Federung. Chapeau!<br />
042 <strong>VECTURA</strong> #15
Mit der Modellpflege des DS5 entsteht eine neue Automobilmarke<br />
60 Jahre Citroën DS – wenn man das Auto betrachtet, mag man<br />
es kaum glauben. Die Typenbezeichnung ist natürlich ein phonetisches<br />
Wortspiel – «La Déesse» steht im Französischen für «die<br />
Göttin» und passt ganz ausgezeichnet: Nur wenige andere Autos<br />
haben eine so erhabene Ausstrahlung, sind derart epochal wie<br />
das von Flaminio Bertoni (Achtung, hat mit Bertone nichts zu tun)<br />
gezeichnete Fliessheckmodell. Noch heute sieht die stromlinienförmige<br />
Limousine moderner aus als viele aktuelle Autos, obwohl:<br />
Ihre unnachahmlich cool verglasten Scheinwerfer erhielt sie erst<br />
1968; zuvor ragten die Lichter aufrecht aus den Kotflügeln hervor<br />
wie auch beim Porsche 911 – dort allerdings erst ab 1963,<br />
also acht Jahre später.<br />
Bis 1975 entstanden 1,4 Millionen DS-Limousinen sowie über<br />
54 000 fünftürige Break, mehr als 1300 Cabriolets plus einige<br />
andere Sonderserien, zum Beispiel Coupés, Repräsentationsfahrzeuge<br />
oder Grossraumschnelltransporter mit doppelter<br />
Hinterachse (!). Doch so wegweisend, eigenständig und populär<br />
der grosse Citroën auch war – er hinterliess ein riesiges Problem:<br />
Was kann nach einer Göttin schon noch kommen? Abgesehen<br />
vielleicht vom CX (1974–91; knapp 1,2 Mio. Exemplare) konnten<br />
die Nachfahren XM (1989–2000; 300 000 Ex.) und C6 (2005–12;<br />
rund 23 000 Ex.) jene DS-Absatzzahlen nicht ansatzweise wiederholen<br />
und Citroën, Ex-Maserati-Besitzer mit Innovationsanspruch,<br />
rutschte zunehmend in die Durchschnittlichkeit ab.<br />
Gegen Mittelklasse ist eigentlich nichts zu sagen. Hier wird richtig<br />
Volumen gemacht und auch viel Geld umgesetzt. Die besten<br />
Profite erwirtschaften Autohersteller allerdings in den höher angesiedelten<br />
Segmenten, und genau da wollen auch die Franzosen<br />
unter ihrem neuen Markenchef Yves Bonnefont gerne wieder<br />
hin. Still und leise wurde mit den DS-Modellen DS3, DS4 oder<br />
DS5 seit 2010 eine schicke Nische aufgebaut für Kunden, denen<br />
ein gemeiner Citroën nicht extraordinaire genug ist. Kleine<br />
SOMMER 2015 043
Der Citroën DS3 ist seit 2010 ein Liebling der Frauen<br />
Sonderserien steigern das Interesse; die Absatzzahlen sind<br />
hocherfreulich: Bisher wurden weltweit eine halbe Million Einheiten<br />
mit DS-Zusatzlogo verkauft. Zum runden Geburtstag der<br />
Déesse wird jetzt ein «Spirit of Avant-Garde» beschworen – und<br />
«DS Auto mobiles» ab sofort zur eigenen Marke erhoben, die innerhalb<br />
des PSA-Konzerns die elitäre Spitze markieren soll. Der<br />
überarbeitete DS5 (siehe <strong>VECTURA</strong> #2) wurde zum ersten Fahrzeug<br />
des neuen Luxuslabels auserkoren, was uns etwas verwirrt:<br />
Besitzer des bisherigen DS5 haben einen Citroën, alle anderen<br />
jetzt nicht mehr. Aber gut, irgendwo muss man anfangen; das<br />
Auto kostet ab 37 050 Franken.<br />
Als Erkennungsmerkmal der neuen Marke fungiert unter anderem<br />
ein «DS Wings» genannter Kühlergrill mit zwei verchromten<br />
Flügeln, die eine Brücke zu den Scheinwerfern bilden. Natürlich<br />
gehört auch ein neuer Auftritt mit speziell gestalteten Verkaufsflächen<br />
beim Garagisten dazu (Citroën spricht von «Salon»),<br />
ausserdem wird es DS-eigene Dependancen im Modeboutique-<br />
Stil geben, die in edlem Schwarz gehalten sind. «Wir beschreiten<br />
einen neuen Weg», sagt Sébastien Vandelle, Direktor von<br />
Citroën Suisse und DS Automobiles, und freut sich über das<br />
Kundenprofil: «Die Eroberungsrate liegt bei 60 Prozent, was uns<br />
positiv überrascht hat. Viele fuhren vorher deutsche Premiummarken.»<br />
Der erste DS-Store der Schweiz öffnete im Juni in<br />
Genf, ein zweiter in Zürich folgt demnächst. In ganz Europa entstehen<br />
derzeit DS-Läden, in China sind es bereits 80: Dort verkauft<br />
DS Automobiles seit Ende 2013 das viertürige, 4,7 Meter<br />
lange Stufenheckmodell DS 5LS; 2014 kam ein aus der Studie<br />
Wild Rubis hervorgegangener, 4,55 Meter langer SUV namens<br />
DS 6WR dazu.<br />
Expansion nach oben ist also angesagt und Rennsport zur Imagesteigerung<br />
gar nicht so abwegig: Schon die Déesse war erfolgreich<br />
bei Rallyes unterwegs; die Urenkel sind ihr bereits dicht auf<br />
den Fersen. In der WRC sind DS-Modelle aktuell ganz vorne mit<br />
dabei. Man darf gespannt sein.<br />
Gibt's derzeit nur in China: das Stufenheckmodell DS 5LS…<br />
… und die Crossover-Baureihe DS 6WR<br />
044 <strong>VECTURA</strong> #15
KAMPAGNE<br />
Die neue Studie «Divine DS» soll die<br />
Essenz der Marke DS verkörpern –<br />
und zeigen, wo es künftig langgeht<br />
SOMMER 2015 045
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BASIS-MOBILITÄT: AIXAM COUPÉ GTI<br />
Ultraleichte, kleine Stadtautos mit alternativen Antrieben haben in Frankreich eine lange Tradition. Aixam ist bereits 32 Jahre alt und zählt<br />
(neben Ligier oder Matra) zu den führenden Anbietern: 1988 entstanden die ersten (freiwillig crashgetesteten) Elektromodelle, die beispielsweise<br />
von Senioren mit Fahrausweis F oder B1 bewegt werden durften; 1991 folgten selbst entwickelte Zweizylinder-Varianten.<br />
2003 kamen dann modulare Nutzfahrzeuge unter dem Markennamen Mega hinzu, bevor man beide Sparten zusammenzog. Die Einführung<br />
der Londoner City-Maut bescherte dem 65 km / h schnellen Modell Mega e-City eine wachsende Nachfrage; ab 2010 war er<br />
mit einem leistungsstärkeren wie effizienteren Lithium-Ionen-Akku unterwegs. Die Nachfolgerbaureihe<br />
e-Aixam gibt es seit 2013; sie kommt mit Alu-Chassis, Kunststoffkarosserie sowie<br />
6,1 kWh rund 75 Kilometer weit. Parallel werden zweisitzige Versionen wie ein SUVartiger<br />
Crossover GT oder der hier gezeigte, 3,04 Meter kurze Coupé GTI mit<br />
5,5 PS starkem 0,4-L-Zweizylinder-Diesel angeboten, der 45 km / h schnell<br />
ist. In der Schweiz sind Aixam-Modelle über die Steck Automobile AG<br />
in Bigenthal zu beziehen (www.steck-automobile.ch); der 2,83 Meter<br />
kurze GTO ist für 18 750.– Franken zu haben.<br />
STADTWÜRFEL: CITROËN C3 PICASSO<br />
Nicht mehr neu, aber immer noch sehr frisch präsentiert sich der 2008 eingeführte und 2013 umfassend modernisierte, 4,10 Meter kurze<br />
sowie 1,67 m hohe Microvan. Sein Layout ist ursprünglich eine japanische Erfindung: Sogenannte Kei-Cars gehören in Tokio oder Osaka<br />
zum Strassenbild, sind mit höchstens 3,39 Meter Länge allerdings richtig Bonsai. In Europa zählt der grosszügig verglaste C3 Picasso<br />
zu den kürzesten Monospace-Autos, die man kaufen kann. Das Interieur ist eine kleine Sensation: Vier Erwachsene sitzen gut, und wird<br />
die verschiebbare Rückbank umgeklappt, bietet der Kofferraum über 1500 L Volumen. Fazit:<br />
Wer sich in urbanem Gebiet bewegt, ist mit dem auch sicherheitstechnisch überzeugenden<br />
Zwerg bestens bedient. Antriebstechnisch stehen ein genügsamer<br />
1,2-L-Dreizylinder-Benziner mit 110 PS sowie der durchzugsstärkere,<br />
noch sparsamere 1,6-L-Vierzylinder-Turbodiesel mit 98 PS<br />
zur Wahl; beide sind über 180 km / h schnell. Die<br />
Preise starten bei CHF 14 250.–.<br />
<br />
SOMMER 2015 047
SHOWROOM<br />
ASPHALT-SUKKULENTE<br />
EIN CACTUS EROBERT DIE STRASSEN: DER NACH EINEM KAKTEEN -<br />
GEWÄCHS BENANNTE KOMPAKT WAGEN VON CITROËN IST<br />
DAS VIELLEICHT AUFREGENDSTE AUTO DER LETZTEN JAHRE<br />
Text Jo Clahsen · Foto Werk<br />
Obwohl die saftreichen Gebilde in<br />
lebensbedrohlichen Szenarien zu<br />
Hause sind, bringen einige von ihnen<br />
wunderschöne Blüten hervor. Eine weitere<br />
Eigenart sind spitze Stacheln, mit der sie<br />
ihre ledrige Haut und das darunter verborgene<br />
Wasser vor durstigen Feinden<br />
schützen. Der Cactus von Citroën, offiziell<br />
C4 Cactus genannt, schützt sich mit<br />
sogenannten «Airbumps» vor Remplern<br />
im Parkhaus. Das ist allerdings<br />
die einzige Gemeinsamkeit mit den<br />
Namensgebern.<br />
Bis heute spaltet das 4,16 Meter kompakte<br />
Auto, welches 2013 zunächst<br />
als Studie vorgestellt und Mitte 2014<br />
eingeführt wurde, seine Betrachter in<br />
zwei Gruppen. Entsetzlich, sagen die<br />
einen. Und alle anderen freuen sich,<br />
dass es die Franzosen endlich wieder<br />
mal gewagt haben, alles anders<br />
zu machen als erwartet. Die<br />
Frage, welches der beiden Lager<br />
dem Leben gegenüber positiver<br />
eingestellt ist, erübrigt<br />
sich da automatisch. Und<br />
auch wir sind geneigt, diesem<br />
de monstrativ zur Schau<br />
gestellten Optimismus zu<br />
frönen – ganz besonders,<br />
wenn er durchdacht und dabei<br />
noch erschwinglich ist.<br />
Aber wie unkonventionell ist der<br />
Cactus wirklich? Die in vier verschiedenen<br />
Farben erhältlichen<br />
Airbumps aus luftgefülltem Polyurethan<br />
sind eine witzige Idee, bewahren<br />
allerdings nur einen Teil der<br />
Türen vor Remplern. Die Felgenform<br />
stellt Lifestyle 3.0 dar und innen geht<br />
es geradeso weiter. Das Lenkrad ist eine<br />
Mischung aus Quadrat und Kreis, die Fahrzeugbedienung<br />
erfolgt weitgehend über einen<br />
Touchscreen, Türgriffe sind wie Lederkofferriemen<br />
ausgelegt und das Handschuhfach wie ein Brotkasten.<br />
Mithin ist alles seltsam aufgeräumt und glattflächig bis<br />
auf die beiden Monitore für Bedienung und Fahranzeigen. Knöpfe<br />
gibt es auch keine, kurz: Die Andersartigkeit dieses Autos wird<br />
demonstrativ zur Schau gestellt – und gefällt uns immer noch!<br />
Basics wie die Vordersitze sind gut, weil straff-bequem und vorne<br />
in Verbindung mit automatisiertem Schaltgetriebe durchgehend<br />
(!). Auch die Übersichtlichkeit ist gut gelungen, die Materialanmutung<br />
trendy, nur die Isolierung geriet so lala. Die Basis-Motorisierung,<br />
ein Dreizylinder-Benziner, gibt sich beim Gasgeben recht<br />
vorlaut, aber für 18 400 Franken kann man schliesslich nicht alles<br />
haben. Immerhin ist der Cactus im Vergleich zum normalen C4 ein<br />
Leichtgewicht von 1040 Kilo, wiegt also 200 Kilo weniger als sein<br />
konservativer Bruder. Entsprechend munter gehen der 82-PS-<br />
Treibsatz und das Fünfganggetriebe mit dem Cactus um, aber<br />
es will auch fröhlich geschaltet werden. Und das kostet; über sieben<br />
Liter auf 100 Kilometer dürfen es gerne mal sein. Allerdings<br />
ist diese Motorisierung bei uns recht unpopulär; viel besser fühlt<br />
sich zum Beispiel der neue 1,6-L-Vierzylinder-Diesel Blue HDi mit<br />
Stopp-Start sowie 100 PS und 254 Nm an, weil er nachdrücklich<br />
beschleunigt, bis zu 184 km / h schnell ist und sich durchschnittlich<br />
keine vier Liter Sprit gönnt. Ab 23 150 Franken geht es los.<br />
Überhaupt steht der Verzicht des gemeinen Kaktus auch beim<br />
Cactus recht weit oben auf der Agenda. Die Lehne der Rücksitzbank<br />
lässt sich nicht teilen, sondern will, um auf mehr als 1100 Liter<br />
Stauvolumen zu kommen, am Stück gefaltet werden. Auch<br />
dann ergibt sich keine ebene Ladefläche, sondern eine Stufe, genau<br />
in der Mitte. Auch ist die Kofferraumkante vergleichsweise<br />
hoch, was wir als grössten Malus des «Très Plus Cool» ansehen –<br />
manche Frauen auf Einkaufstour werden fluchen. Was man<br />
ebenso wissen sollte: Die Scheiben für die Hinterbänkler lassen<br />
sich nicht nach unten kurbeln, sondern können nur ausgestellt<br />
werden. Oder, um es mit heiterem Pragmatismus auszudrücken:<br />
Was nicht an Bord ist, kann auch nicht kaputtgehen. Dafür ist<br />
Platz in der Hütte, rechts wie links, vorne wie hinten. Und was<br />
nicht reinpasst, soll offenbar einfach an den Kleiderbügel-artigen<br />
Dachträgern vertäut werden.<br />
Der Cactus erinnert wieder an jene alten Zeiten, in denen Citroën<br />
den glattflächig-geriffelten 2CV auf dünne Rädchen stellte. Der<br />
Wagen ist bis heute die Blaupause binär-automobiler Fortbewegung.<br />
Und wurde als Ente trotzdem geliebt, verehrt und nicht<br />
selten bemalt, weil er eben eine Karre ohne Konvention und<br />
Status-Geprotze war, dazu preisgünstig, anspruchslos und<br />
absolut unkompliziert – Charaktereigenschaften, die auch der<br />
Cactus für sich in Anspruch nehmen will. Und die Chancen stehen<br />
gut, dass man es ihm nicht nur glaubt: Mehr Charme für<br />
weniger Geld ist heute schwer zu finden. Wer also ein Fortbewegungsmittel<br />
sucht, das ebenso lässig ist, wie die Ente einst<br />
war, mit sympathischem, wenn auch männlicherem Augenaufschlag,<br />
kommt unweigerlich in Versuchung. Das erste Rendezvous<br />
könnte zwar etwas spröde ausfallen, doch der charismatische<br />
Cactus dürfte schnell überzeugen. Ob er damit als<br />
Sukkulente in die Kakteenfamilie aufgenommen wird, kann dagegen<br />
nur ein Botaniker beantworten.<br />
048 <strong>VECTURA</strong> #15
Der Cactus gehört zu den<br />
originellsten Autos der Neuzeit.<br />
Weitere Modelle sollen bald folgen
SHOWROOM<br />
PRÊT-À-PORTER: PEUGEOT 108<br />
Ein seriöses Exterieur mit LED-Tagfahrlicht, agile wie sparsame Dreizylinder-Benziner mit 68 oder<br />
82 PS, dazu reduzierte Bedienelemente und Touchscreen innen – der kleinste Löwe ist auch einer<br />
der modernsten. Zu den Besonderheiten des 3,48 Meter kurzen, sauber verarbeiteten und bis zu<br />
171 km / h schnellen Drei- oder Fünftürers gehört ein grosses Stoffdach, das sich elektrisch über<br />
die gesamte Dachbreite von der Windschutzscheibe bis zur Heckklappe öffnen lässt und so luftige<br />
Aussichten ermöglicht. Der 108 wird gemeinsam mit Citroën C1 und Toyota Aygo im tschechischen<br />
Kolin produziert, und obwohl sich die Drillinge genetisch sehr ähnlich sind, sieht doch<br />
keiner aus wie der andere. Wir halten den Peugeot für den elegantesten von allen; selbst Anzugträger wirken in diesem Kleinwagen<br />
nie deplatziert. Styling ist ein wesentliches 108-Element; sieben markante Design-Kits ermöglichen Individualität. Sehr volkstümlich<br />
dagegen sind die Preise: ab 12 900 Franken.<br />
RASEN WIE GOTT IN FRANKREICH: PEUGEOT RCZ<br />
Mit der scheinbar weit vorne positionierten Kabine und seiner charakteristischen Doppelwölbung<br />
des Daches ist das 2+2-Coupé ein echter Exot. Entstanden ist das aktuell sportlichste französische<br />
Serienauto auf Basis einer Studie, die dann 2010 nahezu unverändert in Serie ging. Hergestellt<br />
wird der RCZ teilweise in Handarbeit und seit 2010 bei Magna Steyr in Österreich. Als<br />
technische Basis dient dem 1,36 m hohen Zweitürer der kompakte 308; zu den Konkurrenten<br />
zählen der Audi TT, der Renault Mégane Coupé oder der VW Scirocco. Die Stärken des RCZ<br />
sind sein agiles Handling und – trotz Vorderradantrieb – eine gute Traktion. Als Motoren stehen<br />
drei Vierzylinder mit Direkteinspritzung, Turboaufladung und 1,6 Liter Hubraum zur Wahl; die Leistung beträgt 155, 200 und 270 PS.<br />
Die rund 1,3 Tonnen schwere Basisversion sprintet in acht Sekunden von null auf 100 km / h und kostet ab CHF 39 900.–. Das Topmodell<br />
RCZR schafft 0 auf 100 km / h in 5,9 Sekunden und startet bei CHF 51 900.–.<br />
MÖCHTEGERN-SUV: RENAULT CAPTUR<br />
Nach dem Erfolg der jüngsten Softroader-Modelle von Nissan war es nur eine Frage der Zeit, bis<br />
Allianz-Partner Renault etwas Vergleichbares anbieten würde. Mit dem Clio-basierten, komfortorientierten<br />
Captur war es 2013 so weit und die 4,12 Meter lange, vergleichsweise geräumige<br />
Baureihe traf den Nerv potentieller Kompaktwagenkunden. Auch in der Schweiz kommt der kompakte<br />
Fünftürer gut an, obwohl seine SUV-artige Erscheinung mehr verspricht, als sie halten kann:<br />
Den Captur gibt es nur mit Frontantrieb, dafür sieht er mit ab Ausstattung «Privilège» enthaltener<br />
Zweifarben-Lackierung erfrischend anders aus als das Gros aktueller Kleinwagen – auch innen, wo<br />
es zum Beispiel Sitzbezüge mit Reissverschluss zum Wechseln oder Waschen gibt – grossartig! Solche Features oder ein Doppelkupplungsgetriebe<br />
kosten natürlich und wirklich günstig ist das Vergnügen nicht; die weit weniger spektakuläre Basis ist ab 22 600 Franken zu haben.<br />
<br />
KLEINWAGEN-IKONE: RENAULT TWINGO<br />
Erinnert sich noch jemand an die 2007 vorgestellte zweite Twingo-Generation? Schwamm drüber.<br />
Die 2014 lancierte dritte Auflage will mit einem technisch komplett neuen Konzept an den durchschlagenden<br />
Erfolg des 1993 eingeführten Erstlings anknüpfen. Weil Renault und Daimler inzwischen<br />
gemeinsam entwickeln, teilt sich der Twingo III die Plattform mit dem ebenfalls dritten<br />
Smart. Das bedeutet Heckmotor und -antrieb sowie daraus resultierend andere Proportionen mit<br />
längerem Radstand, kurzen Überhängen, mehr Höhe und eine im Vergleich zum letzten Twingo<br />
um zehn Zentimeter geschrumpfte Gesamtlänge von 3,59 Meter. Positive Nebeneffekte: ein<br />
gestreckter, variabler Innenraum und der beste Wendekreis des Segments. Als Antrieb stehen zwei Dreizylinder zur Verfügung<br />
(1,0 L / 70 PS oder 0,9 L-Turbo / 90 PS); die stärkere Version wird es im Herbst auch mit Doppelkupplungsgetriebe geben. Verbrauch<br />
ab 4,3 L / 100 km, Preise ab CHF 13 400.–.<br />
<br />
050 <strong>VECTURA</strong> #15
LAUTLOS LUSTIG: RENAULT TWIZY<br />
Streng genommen ist der Schmalspur-Zweisitzer gar kein richtiges Auto. Da ist man näher beim<br />
Roller und noch näher beim Quad. Und eigentlich ist der 2,34 Meter kurze und nur 1,45 Meter<br />
breite Elektroflitzer auch nur ein Einplätzer, weil sich die zweite Person mühsam hinter dem<br />
Fahrer einfädeln und dort auch sehr beengt sitzen muss. Trotzdem ist der Twizy seit seinem<br />
Erscheinen 2012 das mit Abstand meistverkaufte Elektrofahrzeug der Schweiz. Zwar fehlen ihm<br />
eine Lüftung, Bodenteppiche und vieles mehr; selbst die nach oben schwenkenden Halbtüren<br />
kosten Aufpreis. Spass macht das 562 kg schwere Stadtmobil mit seinen 17 PS und der auf<br />
80 km / h limitierten Höchstgeschwindigkeit dennoch; auch die werkseitig angegebene Reichweite von 100 km kann sich sehen lassen.<br />
In rund drei Stunden ist die Batterie an der Steckdose wieder geladen. Auch der Preis für ein solches Spielzeug ist akzeptabel:<br />
CHF 9700.– plus Akkumiete ab CHF 59.– / Monat.<br />
<br />
RAUMSCHIFF AHOI: RENAULT TRAFIC<br />
Wenn Platz und Stauvolumen oberste Priorität haben, gibt es bei Renault nur eine Wahl – den Trafic. Seit<br />
1980 angeboten, wurde 2014 die dritte Generation eingeführt. Die ist schicker, deutlich gewachsen<br />
(L / B / H: 5,00 / 2,28 / 1,97 Meter) und einmal mehr baugleich mit dem ab Basis gleich teuren Opel Vivaro.<br />
Es gibt zwei Radstände (mit dem langen misst der Trafic 5,4 Meter); die Pw-Variante «Passenger»<br />
lässt sich mit bis zu drei Sitzreihen und insgesamt neun Plätzen ausrüsten und auch recht dynamisch<br />
bewegen. Grossfamilien und alle, die sperrige Dinge zu transportieren haben, werden sich<br />
über den bis zu sechs Kubikmeter (!) fassenden Kofferraum freuen; wahlweise gibt es links eine weitere<br />
Schiebetür. Die Verarbeitung ist nochmal besser als beim Vorgänger; antriebstechnisch stehen Dieselmotoren mit 90 bis 140 PS zur<br />
Wahl, läuft der grossflächig verglaste Kastenwagen zwischen 153 und 181 km / h schnell. Der frontgetriebene französische Riese kostet<br />
ab 32 100 Franken, gibt’s sonst noch was zu sagen? Ja: Einparken will geübt sein – und wie klein die anderen doch plötzlich alle sind!<br />
<br />
SOMMER 2015 051
AUS<br />
BESTEM<br />
HAUSE<br />
Text Matthias Pfannmüller<br />
Fotos Werk, map<br />
IWC SCHAFFHAUSEN ARBEITET GER-<br />
NE MAL MIT KERAMIK ODER TITAN UND<br />
KANN AUCH HIER AUF EINE LANGE<br />
TRADITION VERWEISEN. DIE JÜNGSTE<br />
INGENIEUR-SONDERSERIE BESTEHT<br />
NUN AUS EINEM NEUEN MATERIAL,<br />
DAS BISHER NOCH NIE IM UHREN-<br />
HANDWERK ZUM EINSATZ KAM<br />
052 <strong>VECTURA</strong> #15
SWISS MADE<br />
Wenn Auto- und Uhrenhersteller gemeinsame Sache<br />
machen, müssen viele Faktoren zusammenpassen.<br />
Im Falle von IWC und Mercedes AMG scheint das<br />
zuzutreffen: Seit Beginn der Kooperation im Jahr 2005 pflegen<br />
die Partner ein ebenso enges wie vertrauensvolles Verhältnis,<br />
sind bemerkenswerte Produkte entstanden. Angefangen hat<br />
es zur Zeit der ersten CLS-Generation (C219, 2004–10), von der<br />
es eine Sonderserie gab, die bezüglich Farb- und Materialcodes<br />
in Abstimmung mit IWC gestaltet wurde. Und natürlich gab es<br />
auch eine modifizierte Cockpituhr mit IWC-Zifferblatt. Neu ist das<br />
zwar nicht – Bulgari arbeitet mit Cadillac, Breitling mit Bentley<br />
oder Parmigiani mit Bugatti. Doch wurde die Typo der Schaffhauser<br />
Manufaktur im Sonder-CLS auch für das Drehzahl- und<br />
Tacho-Layout übernommen und hat später auch Instrumente<br />
anderer AMG-Baureihen inspiriert; 2008 trug der Mercedes SL<br />
6.3 AMG (R230) einen von IWC gestylten Cockpit-Chronometer.<br />
Im Gegenzug brachte IWC ein paar hochinteressante Chronometer<br />
heraus, die sich thematisch auf die schwäbischen Sportwagen<br />
bezogen (siehe <strong>VECTURA</strong> #9). Das zweite Modell dieser<br />
Art nennt sich Ingenieur Automatic Edition AMG GT und wurde<br />
dieses Frühjahr im Rahmen des 73. Members’ Meeting in Goodwood<br />
vorgestellt. Neben der formalen Klarheit und speziellen<br />
Farbgestaltung, die sich direkt auf den neuen Mercedes AMG<br />
GT bezieht, besticht diese in einer Kleinstserie von nur 25 nummerierten<br />
Exemplaren aufgelegte Herrenarmbanduhr (Ref.<br />
IW324602) mit ihrer Leichtigkeit von gerade mal 100 Gramm. Für<br />
diese Eigenschaft ist ein ganz besonderes, extrem kratzfestes<br />
Material verantwortlich, das dank spezieller Fertigungsverfahren<br />
erstmals im Uhrenhandwerk zum Einsatz kommt – Borcarbid. Der<br />
Stoff (Summenformel B4C) ist mit 3200 Vickers zwölfmal härter<br />
als Stahl, allerdings nicht-metallisch und wird ob seiner Widerstandsfähigkeit<br />
bevorzugt für Panzerungen, Schneidewerkzeuge<br />
oder Düsen für Sandstrahlmaschinen eingesetzt.<br />
«Bei der Materialwahl standen für uns drei Aspekte im Vordergrund»,<br />
erläutert IWC-Chefdesigner Christian Knoop: «Zum<br />
einen technische Eigenschaften, die für die Kunden vorteilhaft<br />
sind, dann die überzeugenden ästhetischen Charakteristika –<br />
das Gehäuse durfte ja nicht nach Kunststoff aussehen. Und nicht<br />
zuletzt die Glaubwürdigkeit und Logik innerhalb der IWC-Modellchronologie.»<br />
Innovative Gehäuse sind derweil kein Neuland<br />
für IWC Schaffhausen; seit den 1980er-Jahren ist man Pionier<br />
im Bereich Keramik und Titan. Nach Zirconiumoxid (Da Vinci<br />
Perpetual Calender Ceramic, 1986), Zirconium (Pilot’s Watch,<br />
seit 1994) und Siliziumnitrid (2014) passt Borcarbid als Keramik<br />
der dritten Generation also ganz hervorragend, um die Vorreiter-Position<br />
zu verteidigen: «Eine Uhr aus Kometen-Material,<br />
den Überresten der ‹Titanic› oder eines Raumschiffs ist unsere<br />
Sache nicht», lächelt Knoop.<br />
Eine Verbindung zum Motorsport war dagegen legitim, weil es<br />
auch dort um Leistungsgewicht geht. Das zehnjährige Jubiläum<br />
der Kooperation mit Mercedes AMG bot denn auch inhaltlich<br />
den passenden Rahmen für die Gestaltung des neuartigen Zeitmessers,<br />
der stilvoll zum Oldtimer-Saisonauftakt im Rahmen<br />
Exklusiver geht es kaum: Die Ingenieur Edition AMG GT ist die leichteste<br />
IWC seit Jahrzehnten. Ein Saphirglasboden erlaubt den Blick auf das Kaliber 80110<br />
SOMMER 2015 053
SWISS MADE<br />
1986: Mit der Da Vinci Perpetual<br />
Calender Ceramic lanciert IWC<br />
eine erste Uhr mit Keramikgehäuse<br />
1994 folgt dann die erste Pilot´s Watch<br />
Chronograph Ceramic, die fast komplett<br />
in edlem Schwarz gehalten ist<br />
2006 erscheint mit der Ingenieur Automatic<br />
Ceramic eine betont technische<br />
Armbanduhr<br />
des diesjährigen 73. Members’ Meeting präsentiert wurde – zumal<br />
IWC Schaffhausen dort erstmals als offizieller Zeitnehmer<br />
auftrat.<br />
Die Ziffer 73 zum Meeting 2015 folgt britischer Logik und soll<br />
hier kurz erklärt werden. Der Vater des Earl of March and Kinara<br />
war Sportwagen-Fanatiker Charles Henry Gordon-Lennox, der<br />
zehnte Duke of Richmond, zehnte Duke of Lennox, zehnte Duke<br />
of Aubigny sowie fünfte Duke of Gordon, und er baute 1948 auf seinem<br />
Privatbesitz, der fast ganz Südengland umfasst, einen Rundkurs<br />
um den ehemaligen Militär-Flugplatz, um dort Clubrennen für<br />
sich und seine Freunde zu veranstalten, die im GRRC (Goodwood<br />
Road Racing Club) organisiert waren. Das erste Treffen hiess entsprechend<br />
1 st Members’ Meeting; bis 1966 wurden es derer 71,<br />
dann war aus Sicherheitsgründen Schluss – modernere Autos<br />
waren schlicht zu schnell für die Strecke geworden (1970 kam<br />
McLaren-Gründer Bruce McLaren hier bei Testfahrten ums Leben).<br />
Im Frühjahr 2014 griff Lord March die vergessene Tradition wieder<br />
auf und veranstaltete das 72. Meeting – wohl auch, weil Festival<br />
und Revival inzwischen aus allen Nähten platzten. Dagegen ist<br />
das Meeting noch fast ein intimes, sehr Fahrer-orientiertes Event,<br />
bei dem sich die Piloten ungerne etwas schenken. Besonderheit:<br />
Heute dürfen auch Autos nach Baujahr 1966 an den Start gehen,<br />
was einer natürlichen Fortsetzung gleichkommt, während die Teilnahme<br />
am Revival genau dort endet. Entsprechend flott ist das<br />
Members’ Meeting heute unterwegs; die Hahnenkämpfe auf der<br />
Strecke werden von einem ebenso fachkundigen wie adrett gekleideten<br />
Publikum (Jeans und Turnschuhe sind verpönt) verfolgt.<br />
Die Vorliebe für rassige Armbanduhren ist bei Goodwood-Anlässen<br />
allgegenwärtig. Auch IWC-Träger Lord March zeigte sich<br />
persönlich an der neuen Kleinstserie interessiert und liess sich<br />
deren Besonderheiten von IWC-CEO Georges Kern erklären.<br />
Die Entscheidung zum Bau der Ingenieur Automatic Edition AMG<br />
GT fiel vor rund zwei Jahren, wie uns Knoop im Gespräch verrät.<br />
Und das erst, nachdem die Machbarkeit erwiesen und auch<br />
eine Materialeignung vorgenommen worden war. Bio-Kompatibilität<br />
– die Hauteignung wird von Allergologen und Dermatologen<br />
untersucht –, aber auch Verfärbungsverhalten, Abrieb<br />
und UV-Tauglichkeit wollen vorab sichergestellt sein, und das in<br />
einem Temperaturbereich zwischen minus 20 und plus 80 Grad.<br />
Erst dann galt es, die nächste Hürde zu nehmen. Borcarbid ist<br />
nämlich äusserst schwer zu verarbeiten – ganz besonders, wenn<br />
es ein so filigranes Teil wie ein Uhrengehäuse werden soll. «Die<br />
Toleranzen bei uns liegen im Mü-Bereich», erklärt Knoop: «Bei<br />
dieser Herstellung handelt sich um einen Laborprozess, der nicht<br />
industrialisiert ist. Wir mussten mit Fehlern kämpfen und lernen,<br />
um das perfekte Produkt zu erhalten.» Bei diesem aufwendigen<br />
Verfahren hat IWC mit einem externen Spezialisten gearbeitet:<br />
Aus grauem Borcabid-Pulver entsteht zuerst ein «Grünling»;<br />
054 <strong>VECTURA</strong> #15
2007 gibt es ein Revival für die beliebte<br />
Pilot´s Watch – diesmal als Double<br />
Chronograph Ceramic<br />
Zeitgeist: die kantige Da Vinci<br />
Chronograph Circonium Oxide<br />
Titanium Grade 5 Jahrgang 2010<br />
Titan-Pulver verleiht ihrem Gehäuse<br />
die braune Farbe: 2014er Pilot´s Watch<br />
Chronograph Silicon Nitride<br />
dieser Roh-Korpus wird in einem Sinter-Prozess gefräst und anschliessend<br />
bei 2500 Grad Celsius gebacken. Dabei färbt sich<br />
das Material schwarz, gleichzeitig schrumpft es und erreicht<br />
seine endgültige Härte.<br />
Die grösste Herausforderung liegt derweil in der präzisen Weiterverarbeitung:<br />
Für die finale Geometrie wird das Werkstück in<br />
einer programmiert-automatisierten CNC-Maschine mit Diamanten<br />
so lange geschliffen, bis es perfekt ist. Erst dann folgt die<br />
Oberflächenbehandlung, um den gewünscht mattierten Effekt<br />
zu erhalten. Das geschieht nicht etwa durch Sandstrahlen, was<br />
dem Gehäuse gar nichts ausmachen würde. Stattdessen kommen<br />
synthetische Diamanten zum Einsatz – der betriebene Aufwand<br />
ist also enorm. «Und der Ausleseprozess ist sehr streng;<br />
jedes Gehäuse erfordert zigfach viele Rohlinge.» Was auch den<br />
Preis von 24 990 Franken pro Uhr erklärt. Die Kleinstserie mit den<br />
«Solarbeam»-gelben Ziernähten am Kautschukarmband passt<br />
nicht nur perfekt zum AMG GT – auch der Haben-wollen-Effekt<br />
stellt sich augenblicklich ein.<br />
Letzteres liegt nicht nur am Borcarbid, sondern an der Ingenieur-<br />
Serie selbst. Längst gilt die anti-magnetische Uhrenserie als Klassiker<br />
für Kenner und Sammler (<strong>VECTURA</strong> #13), deren optischgrafisches<br />
Grundlayout bis heute beibehalten, aber nie langweilig<br />
geworden ist. Dafür sorgten (und sorgen) die immer wieder<br />
variierte, differenzierte Erscheinung der 1976 von Gérald Genta<br />
Innovative Gehäuse sind für IWC kein<br />
Neuland: Seit 30 Jahren ist man<br />
Pionier im Bereich Keramik und Titan<br />
komplett neu konzipierten Baureihe. Der Designer gilt in der Szene<br />
als Uhren-Gott; die Royal Oak von Audemars-Piguet geht ebenso<br />
auf sein Konto wie die Nautilus von Patek Philippe. Gentas Ingenieur<br />
ist die SL mit Automatikwerk und Stahlarmband; später<br />
folgt ein etwas kleineres Damenmodell mit Satinband. Die erste<br />
Karbon-Ingenieur kommt 2013 und wiegt 120 Gramm; mit der<br />
Ingenieur Automatic Edition AMG GT haben die Experten aus<br />
Schaffhausen jetzt das nächste Highlight gesetzt. Wie könnte<br />
man die jetzt noch leichter machen, Herr Knoop? «Das ginge<br />
nur über andere Komponenten – das Werk, das Glas – oder einen<br />
kleineren Durchmesser. Denn die Schliesse besteht bereits<br />
aus Titan.»<br />
Dann kommt Karl Wendlinger vorbei und bittet zum Tanz – eine<br />
Runde Goodwood im Mercedes AMG GT. Ich verabschiede<br />
mich, ziehe den Helm auf und bitte um zügiges Tempo. Wenn<br />
Auto- und Uhrenhersteller gemeinsame Sache machen, müssen<br />
eben viele Faktoren zusammenpassen.<br />
SOMMER 2015 055
SWISS MADE<br />
Uhren- und Autoliebhaber unter sich (v.l.n.r.): Pink-Floyd-Drummer Nick Mason, Charles Henry Gordon-Lennox, der Earl of March and Kinara,<br />
daneben IWC-Chef Georges A. Kern und «Mr. Bean» Rowan Atkinson<br />
«POSITIV AUFGEFALLEN»<br />
RENNPROFI KARL WENDLINGER<br />
SPRICHT ÜBER DEN JOB –<br />
UND SEINE LIEBE ZU IWC<br />
Fragen map<br />
Herr Wendlinger, Sie haben seit Frühjahr 2012 einen AMG-<br />
Vertrag …<br />
Ich bin Markenbotschafter, Instruktor beim Fahrsicherheits-<br />
Training und automatisch durch meine Tätigkeit im Unternehmen<br />
für Mercedes auch bei der einen oder anderen Klassik-<br />
Veranstaltung dabei.<br />
Ein Traumjob …<br />
Ja, Traumjob. Denn nebenbei kann ich auch ein paar Autorennen<br />
fahren mit dem SLS GT3. AMG hat selbst kein Werkteam, aber<br />
es gibt genug Kundenautos, die eingesetzt werden, also gibt es<br />
hin und wieder was zum Fahren. So kann ich meine langjährige<br />
Motorsport-Erfahrung bei AMG weiter einsetzen.<br />
Klingt nach einem bewegten Leben, mit vielen Reisen fern der<br />
Heimat.<br />
Das schon. Aber wenn ich wieder zuhause bin, habe ich auch Zeit<br />
für die Familie.<br />
Wie oft stehen Sie noch am Start?<br />
Unterschiedlich. Letztes Jahr habe ich an drei Läufen teil genommen.<br />
Das sind dann Demonstrations-Einsätze, oder? Um an einer<br />
Meisterschaft teilzunehmen, müssten Sie ja mindestens sechs,<br />
acht Rennen bestreiten …<br />
Genau, eine ganze Meisterschaft ist es eben nicht, das liegt<br />
zeitlich nicht drin. 2014 war es ein Team aus Tirol mit einem gebrauchten<br />
Auto und man hat mich gefragt, ob ich ein paar Mal<br />
dabei bin. Eigentlich wollten wir öfter fahren, aber wie es halt<br />
immer so ist, war es auch eine Budget-Frage.<br />
Mit welchem Wagen?<br />
Aus Exklusivitätsgründen ist der AMG GT3 das einzige Auto, das<br />
ich als Botschafter fahren kann. Aber das passt (grinst).<br />
Und wann fahren Sie mit dem Mercedes AMG GT3?<br />
Der wird derzeit noch entwickelt und 2016 zum Einsatz kommen.<br />
Sind Sie bei den Abstimmungsfahrten dabei?<br />
Mal schauen, wie ich da dabei bin, ob ich überhaupt dabei bin.<br />
Wie viele AMG-Botschafter gibt es?<br />
Einmal den Bernd Schneider und dann Mika Häkkinen, der allerdings<br />
nicht mehr viele Rennen bestreitet. Als Botschafter kommt<br />
man eh nur noch selten dazu; Mika fährt das eine oder andere<br />
Rennen in Asien. Dann gibt’s den David Coulthard, den Ex-DTM-<br />
Piloten Maro Engel und mich, also fünf insgesamt.<br />
Jetzt also die Kooperation mit IWC – was sagt Ihnen das?<br />
Ich habe mich immer schon für Uhren interessiert und sie mir<br />
gerne angeschaut – auch wenn ich sie mir zum Teil nicht leisten<br />
konnte. Und IWC ist eine Marke, die mir immer wieder positiv<br />
aufgefallen ist.<br />
Dann stimmt das also für Sie.<br />
Ich glaube schon, dass die Kombination sehr gut funktioniert.<br />
IWC ist ja allein schon beim Uhrendesign sehr kreativ, AMG<br />
beim Auto-Styling. AMG ist auch technisch sehr hochwertig und<br />
ich denke, bei IWC ist es ebenso. Das sind zwei Partner, die gut<br />
zueinander passen.<br />
IWC-Uhren sind langlebige Produkte, die gleichzeitig auf neue<br />
Technologien setzen – so wie jetzt mit einer besonders harten<br />
056 <strong>VECTURA</strong> #15
Neben dem Festival of Speed und dem Revival hat sich das Members Meeting in kürzester Zeit<br />
als dritte hochoktanige Goodwood-Veranstaltung etablieren können<br />
Keramik. Was tut AMG, um vorne zu bleiben? Porsche und<br />
Ferrari rüsten ja derzeit ihre Saugmotoren mit Turbos aus und<br />
reduzieren den Hubraum …<br />
Das tut AMG auch; der GT hat einen Vierliter-Turbo gegenüber<br />
dem alten 6,2-L-Sauger des SLS. Klar, das Thema Hybrid ist in<br />
der Formel 1 bereits allgegenwärtig; bei AMG gab es bereits den<br />
in Kleinserie gebauten SLS Electric Drive. Allgemein geht es ja<br />
darum, bei sinkendem Verbrauch mindestens die gleiche Leistung<br />
zu generieren – und Turbomotoren sind sicher effizienter<br />
als Sauger.<br />
Erleben Sie bei Ihren Einsätzen, ob sich das AMG-Kundenprofil<br />
geändert hat – sind es heute mehr Käufer aus arabischen oder<br />
asiatischen Ländern?<br />
Ich glaube, es gibt noch genauso viele europäische Fans wie<br />
früher, aber klar: Das Interesse in Asien und anderen Ländern<br />
wächst. AMG verkauft ja auch weltweit.<br />
Karl Wendlinger (46) wuchs im österreichischen Kufstein auf und begann seine<br />
Rennsportkarriere 1983 im Kart. Schon 1984 wurde er deutscher und dann 1986<br />
österreichischer Meister; 1987 dominierte er in seinem Heimatland auch die Formel<br />
Ford und 1988 schon die Formel 3. Spätestens als deutscher F3-Champion<br />
1989 war klar, dass Wendlinger zu den Allerschnellsten gehörte: Er startete erstmals<br />
in der DTM, gehörte fortan (gemeinsam mit Jochen Mass, Fritz Kreutzpointner,<br />
Michael Schumacher und Heinz-Harald Frentzen) zum Sportwagen-Kader<br />
von Mercedes-Benz und lenkte seinen Sauber-Mercedes C11 im Rahmen der<br />
FIA WSPC in Spa auf Platz 1. Der erste Le-Mans-Einsatz (Platz 5) folgte 1991; im<br />
selben Jahr stieg Wendlinger mit Leyton House / Ilmor in die Formel 1 ein. Nach<br />
vielversprechenden Platzierungen wechselte er 1992 zu March-Ilmor und 1993<br />
zu Sauber-Mercedes, doch ein schwerer Unfall in Monaco machte alle Ambitionen<br />
zunichte. Aber auch ohne die F1 war Wendlinger weiterhin schnell unterwegs<br />
– 1996 mit Audi im STW-Cup und 1997 in der italienischen Tourenwagenmeisterschaft.<br />
Anschliessend fuhr er in der FIA-GT die Chrysler Viper GTS-R für<br />
das französische Oreca-Team, holte dort 1999 den Titel und stieg im Folgejahr<br />
auf die amerikanische Rennserie ALMS um. Gemeinsam mit Olivier Baretta<br />
siegte Wendlinger in der GTS-Kategorie und gewann die 24 Stunden von Daytona.<br />
Die V8 Star (Zakspeed) sowie Langstreckeneinsätze auf Ferrari, Maserati<br />
oder Aston Martin waren weitere Stationen einer bemerkenswerten Laufbahn.<br />
Nach einem zweiten Platz in der FIA-GT-Fahrer-Meisterschaft 2007 unterschrieb<br />
der Tiroler für die FIA-GT1-Weltmeisterschaft 2010 beim Swiss Racing Team,<br />
doch diese Allianz war wegen Unfällen und technischen Problemen des Nissan<br />
GT-R GT1 nicht von Erfolg gekrönt. Auch der Umstieg auf einen Lamborghini<br />
Murciélago LP670 R-SV unter Teamchef Othmar Welti brachte 2011 keine Besserung.<br />
Dafür startete Wendlinger mit dem Mercedes-Benz SLS AMG GT3 ab 2012<br />
noch einmal durch; das beste Ergebnis war ein dritter Platz in der GTS-Kategorie<br />
beim Saisonfinale der International GT Open in Barcelona. 2013 standen vorwiegend<br />
Teilnahmen bei historischen Veranstaltungen auf dem Terminkalender;<br />
allein die 24 Stunden von Spa bestritt Wendlinger in der Profi-Klasse für das britische<br />
Fortec-Team. Nachdem technische Defekte den Mercedes SLS GT3 weit<br />
zurückgeworfen hatten, brachten er und seine Kollegen Alex Brundle und Oli<br />
Webb den Wagen noch auf einen 13. Klassenrang (Gesamtplatz 31). Wendlinger<br />
ist verheiratet und hat zwei Kinder.<br />
SOMMER 2015 057
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der Premium-Mittelklasse und definiert diese gleich neu: Dank zukunftsweisender Aluminium-Architektur<br />
und innovativen Ingenium-Motoren glänzt der neue JAGUAR XE mit Verbrauchswerten ab 3.8 l/100 km<br />
und 99 g CO 2 /km und begeistert gleichzeitig mit der Dynamik einer echten Sportlimousine.<br />
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JAGUAR XE E-Performance, 4-Türer, man., 2WD, 163 PS/120 kW. Swiss Deal Preis CHF 40’800.–, Gesamtverbrauch 3.8 l/100 km (Benzinäquivalent<br />
4.3 l/100 km), Ø CO 2-Emissionen 99 g/km. Energieeffizienz-Kategorie A. Abgebildetes Modell: JAGUAR XE S, 4-Türer, auto., 2WD, 340 PS/250 kW.<br />
Swiss Deal Preis CHF 62’200.–, Gesamtverbrauch 8.1 l/100 km, Ø CO 2-Emissionen 194 g/km. Energieeffizienz-Kategorie G, Ø CO 2-Emissionen aller in<br />
der Schweiz angebotenen Fahrzeuge 144 g/km.
V.I.P. PARKING<br />
Fotos map<br />
Wenn es dieses Jahr wieder Zehntausende auf die südenglischen<br />
Ländereien des Earl of March and Kinrara zieht,<br />
um das Festival of Speed oder das Goodwood Revival zu<br />
besuchen, reisen die meisten mit modernem Gerät an. Der<br />
harte Kern jedoch pflegt in historischen Fahrzeugen zu<br />
erscheinen, die natürlich auf einem separaten Feld nahe<br />
dem Eingang abgestellt werden dürfen. Diesen Acker zu<br />
besichtigen, ist genauso amüsant wie der jeweilige Event<br />
selbst, denn das voll funktionstüchtige Freilichtmuseum<br />
eint Automobile aller Epochen. Neben den «usual suspects»<br />
vom Schlage eines Jaguar E-Type, MG B oder Mini<br />
faszinieren die weniger bekannten, skurrilen, besonders<br />
seltenen oder modifizierten Modelle. Begleiten Sie uns<br />
auf einen Rundgang, der zur Nachahmung empfohlen wird<br />
060 <strong>VECTURA</strong> #15
ABGEFAHREN<br />
SOMMER 2015 061
062 <strong>VECTURA</strong> #15<br />
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RUBRIKEN
064 <strong>VECTURA</strong> #15<br />
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SOMMER 2015 065
066 <strong>VECTURA</strong> #15
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SOMMER 2015 067
068 <strong>VECTURA</strong> #15<br />
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MIT ALLEN WASSERN GEWASCHEN<br />
ENDE 2015 GEHT EIN ÜBER 67-JÄHRIGES STÜCK AUTOMOBILGESCHICHTE IN<br />
DEN VERDIENTEN RUHESTAND. ES IST ALSO AN DER ZEIT, DEM BRITISCHEN<br />
GELÄNDEWAGEN – SEIT 1990 HÖRT ER AUF DIE BEZEICHNUNG DEFENDER –<br />
ENDGÜLTIG ADIEU ZU SAGEN, GETREU DEM MOTTO: «IT’S NEVER OVER IN<br />
A LAND ROVER»<br />
Text Matthias Pfannmüller · Fotos Ian G.C. White, map, Werk<br />
Die hier erzählte automobile Ausnahme-Erfolgsstory beginnt<br />
mit Reifenspuren im Sand – links von Colwyn, oberhalb<br />
der Lleyn Peninsula und im äussersten Nordwesten von<br />
Wales. Dort liegt Anglesey, die grösste Insel vor Englands Küsten.<br />
Die Bewohner des kargen und schroffen Eilandes in der Irischen<br />
See hören es nicht gern, wenn man sie Briten nennt. Sie sind Waliser.<br />
Davon zeugt nicht zuletzt ihre eigentümliche Sprache, in der<br />
sich schon die Kelten unterhielten und die so fremd und unaussprechlich<br />
erscheint, dass kaum jemand freiwillig den Versuch<br />
unternehmen wird, sie sich anzueignen, wenn er sie nicht schon<br />
mit der Muttermilch in sich aufgenommen hat. Wer sonst könnte<br />
den Namen des grössten Bahnhofes Llanfáirpwllgwyngyllgogerychwyrndrobwllllantysiliogogogoch<br />
verstehen, der in röchelndfauchender<br />
Betonung und atemberaubender Geschwindigkeit<br />
wie Llan-vire-pooll-guin-gill-go-ger-u-queerndrob-ooll-llandus-ilio-<br />
gogo-goch ausgesprochen wird? Der Zungenbrecher erzählt<br />
übrigens die mystische Geschichte einer Kirche, die sich im Tal<br />
nahe einer roten Höhle befindet.<br />
Diesem eher abschreckenden Beispiel folgend, geben nur wenige<br />
Orts- und Strassenschilder auch in englischer Sprache Auskunft.<br />
Fast scheint es, als wollten die Leute von Anglesey unter<br />
sich bleiben, von Fremden nichts wissen. Tatsächlich hat sich<br />
schon mancher Besucher auf dem Weg zum Fährhafen Holyhead<br />
hoffnungslos verfahren. Doch der erste Eindruck täuscht:<br />
Gastfreundlich, aufgeschlossen und hilfsbereit sind sie, die Insulaner.<br />
Und sie sprechen Englisch, zumindest eine Art Englisch.<br />
Richtig flüssig wird die Konversation in einem der gemütlichen<br />
Pubs, wenn zu kühlem Lager und frischem Fisch traditionelle<br />
Musik gespielt wird.<br />
070 <strong>VECTURA</strong> #15
MODELLWECHSEL<br />
Doch Anglesey hat mehr zu bieten. Hünengräber aus der Steinzeit<br />
zeugen von der langen Zivilisationsgeschichte der «Mutter<br />
Wales», wie die Insel auch genannt wird. Im Mittelalter war sie die<br />
Korn kammer des Landes. Jahrhunderte später entdeckte man<br />
hier Edelmetall, und während der Industriellen Revolution entwickelten<br />
sich die im Norden gelegenen Parys-Berge zur grössten<br />
Kupfermine der Welt. Neben den historischen Sehenswürdigkeiten<br />
existiert auf Anglesey auch eine reichhaltige Pflanzen- und<br />
Tierwelt, manche Arten gedeihen nirgendwo sonst. Hier ist die<br />
Welt noch in Ordnung, die Luft rein und sie riecht nach Salz. Entsprechend<br />
stolz sind die Insulaner auf ihre intakte Natur. Saubere<br />
Buchten mit kilometerlangen Stränden laden zum Baden ein und<br />
machen Anglesey zu einem Urlaubs paradies für englische Familien.<br />
Es geschieht an einem sonnigen Herbsttag 1947, in der Red Wharf<br />
Bay bei Benllech im Nordosten der Insel. Am Ende des schmalen<br />
Feldwegs, der von der Hauptstrasse zu dem breiten Sandstrand<br />
hinunterführt, parken mehrere Austin, Vauxhall und Riley. Auch einige<br />
Rover stehen dabei. Es sind Autos aus den 1930er-Jahren,<br />
mit langen Motorhauben, geschwungenen Kotflügeln und freistehenden<br />
Scheinwerfern. Über zwei Jahre ist es her, dass die Alliierten<br />
den Zweiten Weltkrieg gewonnen haben. Doch die britische<br />
Wirtschaft ist schwer getroffen und erholt sich nur mühsam. Auch<br />
Englands Automobilindustrie ist kaum in der Lage, neue Modelle<br />
zu präsentieren. Fehlende Kapazitäten und Rohstoffmangel zwingen<br />
die Hersteller, auf Vorkriegskonstruktionen zurückzugreifen.<br />
Vom allgegenwärtigen Mangel und den Sorgen des Alltags ist<br />
an diesem Nachmittag jedoch nicht viel zu spüren. Die friedliche<br />
Ruhe wird nur vom Johlen der Kinder unterbrochen: Sie<br />
toben vergnügt durch das Wasser, auf dem Sonnenstrahlen tanzen.<br />
Ein wenig abseits entspannen sich die Erwachsenen, essen<br />
Sandwiches mit Hühnchen oder Mayonnaise, lesen die «Times»<br />
und schauen ab und zu aufs Meer hinaus.<br />
Keiner ahnt, was nur wenige hundert Meter entfernt passiert,<br />
als sich unter das Tuckern des Fischerbootes, das langsam den<br />
Horizont entlang gleitet, ein weiteres Motorengeräusch mischt.<br />
Es stammt von einem Auto, das den Feldweg herunter an den<br />
Strand gefahren kommt und auf dem Parkplatz ausrollt. Nach<br />
kurzem Stopp setzt es sich wieder in Bewegung und fährt ohne<br />
Umwege durch den weichen Sand direkt aufs Meer zu. Der<br />
offene Wagen ohne Türen ist ein Geländewagen, kein Zweifel.<br />
Und beinahe sieht er aus wie einer dieser amerikanischen Jeeps.<br />
Mit hoher Drehzahl wühlt sich das ulkige Fahrzeug durch den<br />
losen Boden, macht kehrt und beginnt das Spiel von vorn.<br />
Wieder und wieder zieht das Auto seine Bahnen, hinterlässt<br />
Kreise und Furchen im nassen Sand. Nach einer Weile dreht es<br />
ab und verschwindet über die Felsen, über den Feldweg, fährt<br />
zurück auf die Strasse.<br />
Jahrzehnte später wird man auf Anglesey behaupten, die Spuren<br />
des ersten Land Rover am Strand der Red Wharf Bay seien noch<br />
immer zu sehen. Man müsse sie nur gut suchen …<br />
Jetzt wird’s schmutzig:<br />
In knietiefem Morast erweisen wir<br />
dem Methusalem die letzte Ehre<br />
Familienbande: links der erste Land Rover Serie I (80 Inch, 1948), rechts daneben der letzte klassische Defender (93 Inch, Jahrgang 2015)<br />
SOMMER 2015 071
072 <strong>VECTURA</strong> #15
MODELLWECHSEL<br />
Es war die 1896 gegründete britische Automarke Rover, die den<br />
Land-Rover erfand und Ende April 1948 auf der Amsterdam Motor<br />
Show präsentierte: Der Geländewagen – als Vorbild diente der<br />
US-amerikanische Jeep – war in aller Eile entwickelt worden und<br />
für Genf hatte die Zeit nicht mehr gereicht. Die Ursache des forcierten<br />
Handelns war in leeren Montagehallen und der Rohstoffknappheit<br />
nach dem Zweiten Weltkrieg zu suchen: Rover<br />
brauchte dringend ein Übergangsmodell, das einfach konstruiert<br />
und ebenso leicht herzustellen war. Dank Aluminium-Karosserie<br />
konnte sogar auf teuren Stahl verzichtet werden.<br />
Mit einigem Bangen erwarteten die Rover-Verantwortlichen, unter<br />
ihnen auch der technische Direktor und Initiator Maurice<br />
Wilks, die Reaktionen des Publikums. Doch die Sorgen waren<br />
völlig unbegründet: Der Land-Rover – diese Projektbezeichnung<br />
hatte man beibehalten – war genau jene Art Fahrzeug, die nach<br />
dem Weltkrieg in der Landwirtschaft benötigt wurde. Und bei<br />
einem fairen Basispreis von 450 Pfund griffen Kunden gerne<br />
zu. 1948 noch in homöopathischen Dosen von knapp 1800 Einheiten<br />
herstellt, waren es 1950 bereits 16 795 und sollten 1955<br />
Knapp 70 Jahre nach seinem ersten<br />
Ausflug kehrte der Land Rover 2015 zur<br />
Red Wharf Bay auf Anglesey zurück<br />
fast doppelt so viele sein – Tendenz steigend. Da hatten japanische<br />
Anbieter bereits ihre Konkurrenten in Stellung gebracht –<br />
den Nissan Patrol gibt es seit 1951 und Toyota zog kurz darauf<br />
mit einem Offroader nach, der ab 1954 Land Cruiser genannt<br />
wurde. Den Land Rover (seit 1980 schreibt man ihn ohne Bindestrich)<br />
störte das wenig: 1976 wurde er zum Millionär; inzwischen<br />
sind über zwei Millionen Exemplare verkauft worden –<br />
25 000 von ihnen in der Schweiz.<br />
Es gibt heute kein Automobil, das auf eine so lange Bauzeit und<br />
Modellpflege zurückblicken kann wie der klassische Land Rover.<br />
Wurde die erste Serie anfänglich noch von einem 1,6-L-Vierzylinder<br />
mit 50 PS angetrieben, brachte ein Zweiliter ab 1952 mehr<br />
Drehmoment. Bereits zwei Jahre zuvor bot man ein Hardtop<br />
an, war der permanente Allradantrieb (mit Freilaufnaben vorne)<br />
einem System mit zuschaltbaren Vorderrädern gewichen. 1954<br />
wuchs der Radstand von 80 auf 86 Inch und es gab eine zweite<br />
Version, den 107, als Pick-up oder fünftürigen Station Wagon.<br />
1957 brachte den ersten Diesel und die nächste Verlängerung auf<br />
88 bzw. 109 Inch. Die vier Zentimeter breitere Serie II mit neuem<br />
Cockpit erschien 1958; seither trägt die Baureihe ihre charakteristische<br />
Sicke unterhalb der Seitenfenster. Rover exportierte zu<br />
diesem Zeitpunkt bereits 70 Prozent der Produktion in 150 Länder<br />
– aus dem Lückenbüsser war inzwischen das profitabelste<br />
Modell des Unternehmens geworden – und ein willkommener<br />
Devisenbringer für das angeschlagene Königreich.<br />
Ursprünglich für zivile Einsatzzwecke konzipiert, kam der Landy<br />
ab 1949 dann auch beim Militär zum Einsatz. 1956 wurde er<br />
gar zum Standardfahrzeug der britischen Armee befördert,<br />
1960 geschah das Gleiche in der Schweiz. Viele Organisationen<br />
wie die UN oder das IRC setzten ebenfalls auf den robusten<br />
Allradler, dessen Ruf, überall hinzukommen, schon früh von den<br />
Oxford-Cambridge-Expeditionen (siehe <strong>VECTURA</strong> #1) gefestigt<br />
wurde. Unzählige Sonderversionen wie Panzer-, Schwimmund<br />
Krankenwagen entstanden, 1962 ergänzte der Frontlenker FC<br />
(Forward Control) das Angebot, 1965 folgte ein auf 1200 Kilo<br />
Leergewicht abgespeckter Lightweight.<br />
Die Serie IIA brachte 1961 weiteren Schub und die jährlichen<br />
Absatzzahlen stiegen auf über 50 000 Fahrzeuge; ab 1967 gab es<br />
zudem einen Sechszylinder-Benziner und ein Jahr später in den<br />
Kotflügeln montierte Frontscheinwerfer. Mit der Serie III (1971–85)<br />
hielten weitere Verbesserungen Einzug – neue Armaturen etwa,<br />
stärkere Türbänder oder ein vollsynchronisiertes Getriebe. 1979<br />
war sogar der 3,5-L-V8 des Range Rover verfügbar, wenn auch<br />
nur im längeren 109er und mit vergleichsweise bescheidenen<br />
91 PS. Allein der neue Kunststoffgrill – zuvor hatte es noch ein<br />
BBQ-fähiges Metallgitter gegeben – gefiel damals nicht jedem;<br />
vor allem australische Käufer beklagten sich.<br />
Ab 1983 erfolgte die Umstellung auf die einmal mehr gestreckten<br />
Modelle 90 (tatsächlich sind es 93 Inch) und 110, die zum permanenten<br />
Allradantrieb zurückkehrten – jetzt allerdings mit einem<br />
sperrbaren Mittendifferential. 1986 gesellte sich erstmals der überlange<br />
127 mit Doppelkabine und Pritsche dazu; seit 1990 heisst<br />
er 130. Im gleichen Jahr kamen wieder einmal andere Armaturen<br />
sowie Schrauben- statt Blattfedern – und bald auch aussen<br />
liegende Türgriffe oder als Einheitsmotorisierung ein neuer 2,5-L-<br />
Turbodiesel (einzig in den USA wurde später noch ein V8-Benziner<br />
angeboten). Servolenkung, Fünfganggetriebe oder Klimaanlage<br />
waren erstmals erhältlich. Gleichzeitig avancierte «Land Rover»<br />
zum Markennamen, weil 1989 der Discovery erschienen war; der<br />
kantige Landy heisst seither Defender und die Bezeichnung passt<br />
bestens. Schliesslich überlebte er (gemeinsam mit nur wenigen<br />
anderen Produkten) auch die Wirren der britischen Automobilindustrie,<br />
die in den 1970ern von unfähigen Managern systematisch<br />
vor die Wand gefahren worden war: Ab 1966 gehörte Land<br />
Rover zu British Leyland, 1978 zum Rover-Group-Konglomerat<br />
innerhalb einer Jaguar Rover Triumph Ltd., ab 1994 schliesslich<br />
zu BMW und ab 2000 zu Ford (Premier Automotive Group). Die<br />
Pw-Marke Rover selbst ging 2005 unter; seit 2008 gehört Land<br />
Rover gemeinsam mit Jaguar zur indischen Tata-Gruppe.<br />
Natürlich stellt sich Land Rover inklusive dem Luxuslabel Range<br />
Rover nach inzwischen sechs Millionen hergestellten Einheiten<br />
aus insgesamt sechs Baureihen ganz anders dar als 1948, doch<br />
den Defender gibt es immer noch. Um den Bedarf zu decken,<br />
ist er zeitweilig auch in Deutschland, Belgien, Spanien, Brasilien<br />
oder Südafrika oder dem Iran (in order of appearance) hunderttausendfach<br />
in Lizenz produziert worden. Doch worin liegt das<br />
Erfolgsgeheimnis eines frugalen Fahrzeugs, das zwar im Gelände<br />
grossartig, aber auf der Strasse höchstens mittelmässig ist? Was<br />
macht die Faszination eines Offroaders aus, dessen Design, nun<br />
ja, sehr funktional ausgefallen ist? (Andere sagen ja, es wäre<br />
gar kein Design vorhanden …) Und wie ist die Liebe von Landy-<br />
Besitzern zu erklären, die ihrem Geländewagen trotz bescheidener<br />
Fahrleistungen und allseits bekannter Schwächen bedingungslos<br />
die Treue halten?<br />
Die Antwort findet sich in den Fragen. Denn anders als alles andere,<br />
was heute vier Räder hat, war der Ur-Land-Rover niemals<br />
versucht, sich neu zu erfinden oder gar modischen Strömungen<br />
SOMMER 2015 073
Modell-Episode: Der von 1949–51 gebaute Station Wagon mit Tickford-Aufbau entstand nur wenige hundert Mal<br />
Es gibt heute kaum ein Land,<br />
in dem dieser Geländewagen noch<br />
keine Reifenspuren hinterlassen hat<br />
Ob als Busch-Patrouille oder mit Bernhard Grzimek: Auch in Afrika machte der Land Rover schnell Karriere<br />
074 <strong>VECTURA</strong> #15
MODELLWECHSEL<br />
Mehr als 1,95 Millionen sollten folgen: 1951 rollte das 50 000ste Exemplar aus der Fertigung im Werk Solihull<br />
Defender-Lifestyle: Die Studie DC100 fiel als Nachfolger durch, das bunte 90er-Sondermodell von Mode-Zar Paul Smith bleibt ein Einzelstück<br />
SOMMER 2015 075
076 <strong>VECTURA</strong> #15<br />
Dieser Geländewagen ist kein Pw,<br />
sondern ein Truck. Und genau so will er<br />
auch angefasst und gefahren werden
MODELLWECHSEL<br />
zu unterwerfen. Er ist ein klassenloses Fahrzeug, das von der<br />
Queen ebenso benutzt wird wie von Bauarbeitern, Entwicklungshelfern,<br />
New Yorker Börsianern oder Schauspielern. Unschlagbar<br />
sind auch sieben Karosserievarianten ab Werk, von<br />
denen der 110 Station Wagon die beliebteste ist. Sicher, man hat<br />
die Baureihe wie erwähnt immer weiterentwickelt – 1998 mit dem<br />
Td5-Motor und dann noch einmal umfassend 2007, um sie zulassungsfähig<br />
zu halten. Im TDCi gibt es seither sauberere Dieselmotoren<br />
aus dem Ford Transit plus neuer Motorhaube, Sechsganggetriebe,<br />
Stahltüren, Fondsitzen mit Kopfstützen (alle in<br />
Fahrtrichtung, also sind maximal sieben Personen an Bord und<br />
nicht mehr neun) sowie eine nennenswerte Heizung und hoch<br />
aufragende Cockpitlandschaft. Die Frischluftklappen unterhalb<br />
der Windschutzscheibe sind seitdem Geschichte; Airbags und<br />
ESP glänzen ohnehin durch Abwesenheit.<br />
Längst ist das konstruktive Grundkonzept auf Kollisionskurs<br />
gegangen mit kommenden Abgas- und Crashnormen. Kosmetische<br />
Massnahmen helfen nicht mehr weiter, und deswegen<br />
muss der Defender, der Verteidiger der digitalfreien Mobilität,<br />
Ende Jahr sterben. Er tut das mit aufrechtem Kühlergrill, und<br />
wer jetzt interessiert ist an einem der drei offiziellen Abschieds-<br />
Sondermodelle Heritage, Adventure und Autobiography, dem<br />
sei gesagt: so gut wie vergriffen, trotz traditionell fehlender<br />
Rostvorsorge.<br />
Echte Fans gönnen ihrem Landy ohnehin eine Hohlraum- und Unterbodenversiegelung;<br />
nicht wenige investieren hohe Summen<br />
in Zubehör und in der Szene empfohlene Verbesserungen, die von<br />
einer bestens organisierten Aftersales-Industrie seit Jahrzehnten<br />
angeboten werden. Allein in England gibt es jeden Monat<br />
SOMMER 2015 077
MODELLWECHSEL<br />
Taschen aus robustem Leder oder eine<br />
griffgünstig platzierte Lampe: Der «Legend»<br />
ist bereits heute ein Sammlerstück<br />
078 <strong>VECTURA</strong> #15
TECHNISCHE DATEN<br />
LAND ROVER DEFENDER 110<br />
Konzept Waschechter Geländewagen mit Stahlkastenrahmen und<br />
Starrachsen / Längslenkern, Aluminiumkarosserie, 5 Türen, 5 / 7 Sitzplätze.<br />
Kugelumlauflenkung mit Servo, Scheibenbremsen rundum (v. belüftet),<br />
permanenter Allradantrieb, Untersetzung, sperrbares Mittendifferential<br />
Motor Turbodiesel-CR-Direkteinspritzer (2.2 Td4) v. längs verbaut, 4 Ventile<br />
/ Zyl., 2 oben lieg. Nockenwellen (Kette), Turbolader (VNG); Intercooler<br />
Hubraum in cm 3 2198<br />
Bohrung x Hub in mm 86 x 94,6<br />
Verdichtung 15,5:1<br />
Leistung in PS (kW) @ U / min 122 (90) @ 3500<br />
Max. Drehmoment in Nm @ U / min 360 @ 2000<br />
Kraftübertragung<br />
M6<br />
Abmessungen (L/ B / H) in cm 478,5 / 179 / 218<br />
Radstand in cm 279,5<br />
Spur vorne / hinten in cm 148,5<br />
Reifen und Räder 235 / 85 R16 auf 5,5J<br />
Tankinhalt in L 75<br />
Kofferraum (L/ B / H) in cm 190 / 92,5 / 105<br />
Leergewicht (ohne Fahrer) in kg 1970<br />
Zulässiges Gesamtgewicht in kg 3050<br />
Leistungsgewicht in kg / PS 16,1<br />
0 – 100 km / h in Sek. 17,0<br />
Höchstgeschwindigkeit in km / h 145<br />
Durchschnittsverbrauch* in L / 100 km 9,7<br />
CO 2 -Emission in g / km 295<br />
Energieeffizienzkategorie<br />
– (Nutzfahrzeug)<br />
Preis ab CHF 45 900.–<br />
* gemessen nach NEFZ: Neuer Europäischer Fahrzyklus<br />
SOMMER 2015 079
MODELLWECHSEL<br />
Der 110 SW (Station Wagon) ist die<br />
bis heute beliebteste von neun<br />
verschiedenen Karosserievarianten<br />
mehrere Magazine zum Thema, treffen sich Landyianer regelmässig<br />
zu volksfestartigen Geländefahrten oder Teilebörsen. Auch<br />
als Trailsportwagen macht der Defender eine gute Figur; er unterhält<br />
sogar eine eigene Rennserie (www.bowlermotorsport.com).<br />
Was die Landy-Welt etwas tröstet, ist die Tatsache, dass das im<br />
Herbst 2011 als Nachfolger präsentierte Defender Concept 100<br />
nicht in Serie gehen wird: Es war vielen doch zu weichgespült<br />
geraten, und deshalb arbeitet man aktuell an einer kernigeren<br />
Variante, die 2019 kommen soll. Es gibt also eine zeitliche Lücke<br />
zwischen dem noch aktuellen und nächsten Defender, und vielleicht<br />
ist das ganz gut so.<br />
Um den lange hinausgezögerten, unvermeidbar gewordenen<br />
Abschied gebührend zu würdigen, ist man kürzlich an den Ort<br />
der Entstehung zurückgekehrt: Am Strand der Red Wharf Bay<br />
furchten fünf Landy-Generationen eindrucksvoll ihre eigene<br />
Silhouette ins Watt, welche vom Helikopter aus fotografiert wurde,<br />
bevor die Flut sie wieder wegspülte. Die logistisch anspruchsvolle,<br />
spektakuläre Aktion war gleichzeitig ein Sinnbild für die<br />
Vergänglichkeit alles Materiellen und barg die passende Portion<br />
Wehmut, um schnell nochmal ein Tränchen zu vergiessen.<br />
Wir haben uns kürzlich einen gebrauchten 110er Jahrgang 2006<br />
gekauft, bevor die Occasionspreise unverschämt werden. Und<br />
für die ganz persönliche Memorial-Fahrt zur Schneegrenze<br />
eine Schweiz-exklusive, auf 100 Exemplare limitierte Sonderserie<br />
«Legend» ausgeliehen, die mit speziellen Ausstattungsdetails<br />
aufwartet und – Sie ahnen es schon – bereits ausverkauft<br />
ist. Normale, immer noch weitgehend in Handarbeit produzierte<br />
Neu-Defender fahren sich aber ebenso legendär, und<br />
allen Landy-Novizen sei gesagt: Dieser Geländewagen ist kein<br />
Pw! Sondern ein Truck, und genau so will er auch angefasst<br />
werden. Wer das verinnerlicht, hat alle Hände voll zu tun, erfährt<br />
aber auch unverfälschte, unmittelbare Fortbewegung, die sich<br />
nicht über Geschwindigkeit definiert. Und er verspürt das gute<br />
Gefühl, überall ankommen zu können. Leb wohl alter Freund, wir<br />
sehen uns wieder! Irgendwo.<br />
080 <strong>VECTURA</strong> #15
Porsche<br />
Porsche<br />
empfiehlt<br />
empfiehlt<br />
und<br />
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Wenn die Welt eine Bühne ist,<br />
ist das hier Stage Diving.<br />
Der neue Boxster Spyder.<br />
Leichter. Stärker. Radikaler. Der neue Boxster Spyder treibt die Idee des Roadsters<br />
auf den Gipfel. Mit der geballten Mittelmotorperformance aus 3,8 Litern Hubraum:<br />
276 kW (375 PS). Und mit einem puristischen Verdeck, das trotz seiner Alltagstauglichkeit<br />
vor allem auf ein niedriges Leistungsgewicht einzahlt. Die Kurvenjagd kann<br />
beginnen. Mehr unter www.porsche.de/BoxsterSpyder<br />
Kraftstoffverbrauch (in l/100 km) innerorts 14,2 · außerorts 7,5 · kombiniert 9,9; CO 2<br />
-Emissionen 230 g/km<br />
CO 2<br />
-Mittelwert aller in der Schweiz angebotenen Fahrzeugmodelle: 144 g/km · Energieeffizienz-Kategorie: G
RASCHELN IM UNTERHOLZ<br />
NACH DEM SX4 S-CROSS HAT SUZUKI KÜRZLICH DEN<br />
KOMPLETT NEUEN VITARA LANCIERT. UND DER MACHT<br />
FAST ALLES RICHTIG<br />
Text Axel F. Busse, hh · Fotos Ian G.C. White, map<br />
082 <strong>VECTURA</strong> #15
FAHRTERMIN<br />
SOMMER 2015 083
FAHRTERMIN<br />
Seit den Tagen des legendären «Eljot» hat sich Suzuki<br />
zwar nicht durch weitere Allrad-Innovationen hervorgetan<br />
(siehe <strong>VECTURA</strong> #4). Aber die Japaner haben es stets<br />
verstanden, Publikumswünsche geschmackssicher zu erkennen<br />
und für sich zu nutzen. Und weil der SUV-Boom inzwischen<br />
quer durch alle Fahrzeugklassen und -grössen reicht, bringen<br />
die Japaner jetzt nach dem bereits sehr beliebten SX4 S-Cross<br />
ein zweites Auto, das dem kompakten Allrad-Sektor zuzurechnen<br />
ist und die gleiche Plattform nutzt. Der Name ist vertraut, die<br />
Form komplett neu: Der erste Fahreindruck im Vitara stimmt zuversichtlich<br />
– wächst hier vielleicht ein neuer Bestseller heran, der<br />
sogar das beliebteste Suzuki-Modell Swift überflügeln könnte?<br />
Der Modellname Vitara wurde erstmals 1988 verwendet. Das als<br />
Drei- und Fünftürer mit festem oder klappbarem Dach verfügbare<br />
Auto wollten seitdem mehr als 2,8 Millionen Kunden weltweit<br />
haben. Mit solch gewaltigen Zahlen wird beim neuen Modell noch<br />
nicht operiert, aber 70 000 könnten es im ersten Jahr auf dem<br />
europäischen Markt schon sein. In der Schweiz rechnet der<br />
Importeur bis Ende 2015 noch mit 2000 Einheiten; 2016 sollen<br />
es dann 2600 werden. Zum Vergleich: Vom Preis-Leistungs-Verhältnis<br />
her überzeugenden, 12,5 Zentimeter längeren, aber auch<br />
drei Zentimeter flacheren S-Cross hat man im letzten Jahr rund<br />
2200 Exemplare verkaufen können.<br />
Optisch spricht nichts gegen hohe Erwartungen: Der neueste<br />
Vitara – die bisherige Zusatzbezeichnung «Grand» entfällt – ist<br />
sehr kompakt geraten. Sein Styling bringt harmonisch wirkende<br />
und sportlich-muskuläre Elemente geschickt in Einklang, und es<br />
ist bei Suzuki sicher nicht unwillkommen, dass man sich bei der<br />
Front an den Range Rover Evoque erinnert fühlt, der ja seit Jahren<br />
überraschend erfolgreich unterwegs ist. Der Vitara hat grosse<br />
Glasflächen und bietet eine entsprechend gute Rundumsicht;<br />
parallel vermittelt die ansteigende Seitenlinie eine dynamische<br />
Note. Vielfältige Individualisierungs-Möglichkeiten, zum Beispiel<br />
mit Kontrastfarben an den Dächern und Wunschdesign am Frontgrill,<br />
gehören nun auch bei Suzuki zur Vermarktungs-Praxis.<br />
Akzente im Farbton des Aussenlacks finden sich auch im Innenraum,<br />
dessen stilsichere Einrichtung hier und da von kargen<br />
Hartplastikflächen unterbrochen wird. Originell ist dagegen die<br />
Idee, die Analog-Uhr zwischen den Lüftungsdüsen in Armaturenbrettmitte<br />
individuell zu gestalten: So, wie man beim Kauf<br />
einer Armbanduhr verschiedene Zifferblatt- und Zahlendesigns<br />
wählen kann, so ist auch die Optik dieser Cockpit-Uhr variabel.<br />
Der Preis für den Luxus ist mit 90 Franken überschaubar – und<br />
lockt zum Beispiel mit der Option alt-japanischer Tiersymbole,<br />
die vor Hunderten von Jahren für die Darstellung von Tageszeiten<br />
verwandt wurden.<br />
Die Cockpitgestaltung selbst ist ergonomisch korrekt, funktional<br />
und klar strukturiert, auch die Touchscreen-Bedienung für<br />
Entertainment und Navigation ging uns intuitiv von der Hand. Auf<br />
Anhieb gefallen konnte auch die ebenso leichtgängige wie zielgenaue<br />
Lenkung, während die Federung eher von der robusten<br />
Sorte ist. Entsprechend stärker ausgeformt wünscht man sich<br />
die Sitze, die auch mehr Seitenhalt bieten dürften. Damit hier<br />
kein falscher Eindruck entsteht: Es sitzt sich gut im Vitara und<br />
für kürzere Strecken reicht das Seriengestühl allemal. Nur wer<br />
öfter und länger unterwegs ist, sollte Nachrüst-Alternativen in<br />
Betracht ziehen.<br />
084 <strong>VECTURA</strong> #15
SOMMER 2015 085
FAHRTERMIN<br />
TECHNISCHE DATEN SUZUKI VITARA<br />
Konzept Neuauflage des japanischen SUV-Bestsellers. Selbsttragende Karosserie, 5 Türen / Sitzplätze. Zahnstangenlenkung mit Servo, Dreieckquerlenker<br />
vorne, Verbundlenkerachse hinten, Scheibenbremsen rundum (v. belüftet). Fünfganggetriebe oder Sechsstufenautomat, Front- oder Allradantrieb<br />
Motor Wassergekühlter Vierzylinder-Benziner oder -Diesel (mit Common-Rail-Einspritzung und Turbolader / Intercooler), vorne längs eingebaut. 4 Ventile / Zyl.,<br />
2 oben liegende Nockenwellen (Zahnriemen), 5fach gelagerte Kurbelwelle. Jeweils mit Stopp-Start-Automatik<br />
Top 4x4<br />
Top Diesel 4x4<br />
Hubraum in cm 3 1586 1598<br />
Bohrung x Hub in mm 78 x 83 79,5 x 80,5<br />
Verdichtung 11:1 16,5:1<br />
Leistung in PS (kW) @ U / min 120 (88) @ 6000 120 (88) @ 3750<br />
Max. Drehmoment in Nm @ U / min 156 @ 4400 320 @ 1750<br />
Kraftübertragung M5 / A6 M6<br />
Abmessungen (L/ B / H) in cm 417,5 / 177,5 / 161<br />
Radstand in cm 250<br />
Spur vorne / hinten in cm 153,5 / 150,5<br />
Reifen und Räder<br />
215 / 60 R16 auf 6,5J / 215 / 55 R17 auf 7J<br />
Tankinhalt in L 47<br />
Kofferraumvolumen in L 375 – 1120<br />
Leergewicht (ohne Fahrer) in kg 1230 / 1245 1360<br />
Zulässiges Gesamtgewicht in kg 1730 1870<br />
Leistungsgewicht in kg / PS 10,3 / 10,4 11,3<br />
0 – 100 km / h in Sek. 12,0 / 13,0 12,4<br />
Höchstgeschwindigkeit in km / h 180<br />
Durchschnittsverbrauch* in L / 100 km 5,6 / 5,7 4,2<br />
CO 2 -Emission in g / km 130 / 131 111<br />
Energieeffizienzkategorie D A<br />
Preis ab CHF 22 990.– / 29 990.– 30 990.–<br />
* gemessen nach NEFZ: Neuer Europäischer Fahrzyklus<br />
Platztechnisch bietet der neueste Suzuki ein gutes Mittelmass:<br />
Vier Erwachsene kommen bequem unter, 375 Liter Kofferraumvolumen<br />
sind Standard und sie können durch Umlegen der 60:40<br />
teilbaren Rücksitzlehne bis auf 1120 Liter erweitert werden. Die<br />
Kofferraumkante ist mit 72 cm zwar recht hoch ausgefallen, aber<br />
dafür ist der Ladeboden variabel arretierbar. Für ältere Menschen<br />
ist das etwas mühsam, doch während der SX4 und sein<br />
Pendant S-Cross ein Publikum ansprechen, das auf die 60 zugeht<br />
oder sie schon hinter sich gelassen hat, sieht das Marketing<br />
den alleinstehenden 40-Jährigen als Musterkunden für den<br />
Vitara. Laut Marktforschung legt der ein aktives Freizeitverhalten<br />
an den Tag und hat sportliche Hobbys – ein Lebensstil, der<br />
sich im Auto widerspiegeln soll. Dass man ein Smartphone unkompliziert<br />
mit dem Bordsystem des Fahrzeugs verbinden kann,<br />
ist deshalb wichtig, während dies für die Nutzer des S-Cross angeblich<br />
kaum eine Rolle spielt.<br />
Schweiz-exklusiv ist das limitierte Sondermodell «Sergio Cellano»,<br />
das unter anderem mit LED-Tagfahrlicht, adaptivem Tempomat, dem<br />
erwähnten Touchscreen-Multimediasystem inklusive Navigation<br />
und Rückfahrkamera, Panorama-Glasschiebedach, schlüssellosem<br />
Zugang, zusätzlich zierenden Chrom- und Schriftapplikationen,<br />
mobiler Espresso-Maschine (!), 5-Jahres-Garantie sowie einem<br />
Ausstattungspreisvorteil von über 1700 Franken lockt. Die Bling-<br />
Bling-artige Sonderserie gibt es bereits bei anderen Suzuki-Baureihen<br />
und erfreut sich ganz offenbar grosser Wertschätzung.<br />
086 <strong>VECTURA</strong> #15
SOMMER 2015 087
FAHRTERMIN<br />
Zur Vitara-Serienausstattung zählen grundsätzlich Annehmlichkeiten<br />
wie Sitzheizung (ausser Basismodell), Bluetooth-Radio<br />
mit USB-Anschluss, Klimaautomatik oder Stopp-Start-System.<br />
Ein hohes Mass an Sicherheit garantieren sieben Airbags, ESP<br />
oder ein Radar-gestützter Kollisionsassistent, der kritische Abstände<br />
erkennt, den Fahrer bei zu schneller Annäherung mit einem<br />
schrillen Piepston warnt und sogar selbstständig notbremst,<br />
um einen unvermeidlichen Aufprall abzuschwächen. Und natürlich<br />
kann man den Japaner auch mit Einparkhilfen, Regensensor<br />
oder Anhängerkupplung ordern.<br />
So vielfältig die optischen und optionalen Möglichkeiten sind, so<br />
schlicht gestrickt ist das Antriebsangebot. Bei Suzuki will man<br />
sich nicht verzetteln und stattet den Vitara generell mit 1,6 Liter<br />
grossen Benzin- und Diesel-Vierzylindern aus. Beide Aggregate<br />
leisten 120 PS, wobei der von Fiat zugelieferte Selbstzünder mit<br />
320 Newtonmeter das stattlichere Drehmoment mobilisiert. Weil<br />
es ihm an Turboaufladung mangelt, ist vom Benziner nur knapp<br />
die Hälfte dieser Durchzugskraft zu erwarten. Dieses Manko will<br />
folglich mit Drehzahl kompensiert werden, was dann zu einem<br />
recht hohen Geräuschpegel im Innenraum sorgt.<br />
Für uns fährt der Selbstzünder folglich vorne: Er ist zwar auch<br />
kein Leisetreter, passt mit seinem niedrigeren Drehmomentniveau<br />
aber besser zum Fahrzeug, agiert in allen Lastzuständen<br />
ausreichend souverän und leistungswillig. Wenn wir ausreichend<br />
sagen, meinen wir das gefühlt zurückhaltende Temperament<br />
des Triebwerks, welches seinem auf geringen Verbrauch getrimmten<br />
Magermix geschuldet ist. Vorteil Benziner: Es gibt ihn<br />
ab diesem Sommer wahlweise mit Sechsstufen-Automat inklusive<br />
Lenkradpaddel, während der Diesel nur mit Handschaltung<br />
zu haben ist. Fahrleistungstechnisch sind beide Kandidaten<br />
nahezu identisch und bei uns (anders als im europäischen<br />
Ausland) ausschliesslich mit elektronisch geregeltem Allradantrieb<br />
verfügbar. In der Schweiz ist zudem davon auszugehen,<br />
dass sich die meisten Käufer für die automatisierte Benzinvariante<br />
entscheiden werden.<br />
Der mühelose Umgang mit Türen und Heckklappe gibt einen<br />
Hinweis darauf, wie ernst Suzuki es mit dem Leichtbau seiner<br />
Neuentwicklung genommen hat: In seiner schlichtesten 4x4-<br />
Ausführung wiegt der Wagen keine 1200 Kilogramm, und das<br />
ist weniger, als mancher Kleinwagen auf die Waage bringt. Bemerkenswert<br />
auch, dass die Diesel-Version mit Allradantrieb mit<br />
1370 Kilogramm immer noch weniger wiegt als die vergleichbare<br />
Vitara-Erstausgabe von 1988. Entsprechend positiv fällt denn auch<br />
der Verbrauch aus: Unser Diesel-Testwagen genehmigte sich<br />
inklusive einiger Berg- und Talfahrten durchschnittlich 5,0 L –<br />
ein zeitgemäss guter Wert. Bemerkenswert auch: Trotz Leichtbauprogramm<br />
erzielte der Vitara beim Euro-NCAP-Crashtest die<br />
Bestnote von fünf Sternen.<br />
Und wie steht es um die Offroad-Fähigkeiten des japanischen<br />
4x4-Modells? Grenzen setzen in erster Linie die Wahl der Reifen<br />
sowie die Bodenfreiheit. Der Vitara kraxelt recht behände über<br />
gröbere Feldwege; selbst holprige Geröllpisten oder steilere<br />
Hänge stellen kein Problem dar; dank Bergabfahrhilfe geht es<br />
ebenso mühelos wie sicher talwärts. Schnee oder Eis? Ein Dreh<br />
am Regler des «Allgrip»-Allradsystems, und das Auto passt sich<br />
mit zurückhaltender Gasannahme der Situation an; unter den<br />
vier Fahrprogrammen gibt es aber auch den Auto-Mode – plus<br />
einem per Knopfdruck sperrbaren Differential. Kurz: Unkomplizierter<br />
geht es nicht, und so lernt man den Vitara selbst im weitgehend<br />
asphaltierten Alltag schnell als angenehmen Begleiter<br />
zu schätzen.<br />
Auch preislich macht der Vitara eine Suzuki-typisch gute Figur:<br />
Das günstigste Angebot liegt bei knapp 30 000 Franken; mit allen<br />
verfügbaren Extras bringt es der Cellano Top Diesel auf rund<br />
44 500 Franken. Sicherheits-fokussierte Interessenten sollten<br />
wissen, dass es den Kollisionswarner in der Einstiegsversion nicht<br />
gibt, während er bei allen anderen Ausführungen standardmässig<br />
an Bord ist. So kann man denn mit der Kaufentscheidung auch<br />
nicht viel falsch machen: Der Vitara ist ein Auto für alle Fälle und<br />
entsprechend oft wird man ihm künftig begegnen.<br />
088 <strong>VECTURA</strong> #15
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DER ERSTEN JEEP IN EUROPA FAHREN<br />
WIR DEN RENEGADE TRAILHAWK<br />
Text Wolfgang Peters · Fotos Werk
FAHRTERMIN<br />
Der Weg zeigt zwei freundliche Spuren. Wir zögern noch,<br />
denn in der Mitte zwischen den parallel verlaufenden<br />
Vertiefungen erhebt sich ein kleiner Wall. Er ist oben<br />
etwas abgeplattet von den Bäuchen der Traktoren und Unimogs,<br />
die den Weg schon bewältigt haben. Daneben gibt es einen<br />
schmalen Pfad. Dieser ist mit lustigen Schildern gekennzeichnet,<br />
auf denen Menschen mit Hüten, Rucksäcken und Wanderstöcken<br />
ausschreiten. Beide Wege führen vom Parkplatz zu einer<br />
ein samen Wirtschaft, wo es Kochkäse mit Kümmel und einmal<br />
in der Woche, immer am Donnerstag, Kalbskopfvinaigrette mit<br />
fein gehackten Zwiebeln, mit Essig und grob geschnittenem, sehr<br />
krustigem Bauernbrot gibt, das, wenn man Glück hat, noch warm<br />
auf den Tisch kommt. Heute ist Montag.<br />
Wir sind mit dem neuen Jeep Renegade in der recht aufwendigen,<br />
nicht billigen Trailhawk-Ausführung unterwegs und verspüren<br />
Hunger. Ausserdem riecht der Jeep noch so neu, dass<br />
wir beschlossen haben, den saftigen Duft nach dem wirklichen<br />
Leben in ihn hineinzutragen. Und etwas Dreck an den Rädern,<br />
in den Radkästen und den Radläufen und vielleicht auf den fein<br />
lackierten Flanken zu platzieren. Eventuell poltern dabei auch ein<br />
paar freche Steine an den Unterboden. Schlamm zu finden wäre<br />
also schön. Das sollte uns gelingen, denn der Weg zu dem alten<br />
Gasthaus kennt eine wenig bekannte Abschweifung durch eine<br />
aufgegebene Kiesgrube und dann über eine sumpfige Wiese, mit<br />
der wir direkt zu der Hähnchenbraterei eines Trucker-Parkplatzes<br />
finden. Man fährt dann einfach der Nase nach. Und ein gebratenes<br />
Hähnchen mit fetten Pommes, nebst serbischem Krautsalat,<br />
könnte wohl die Gerüche nach Kunststoff, Leder und Elektronik<br />
aus dem geschniegelten und fettfreien Innenraum des<br />
Jeep vertreiben. Wetten, dass?<br />
Allein schon dieser Name. Jeep. Erinnerungen an Begegnungen<br />
mit dieser Marke sind von alten Filmen des Vaters in der Kindheit,<br />
von Klettern und Risiko begleitet. Der allererste Jeep war<br />
kein Auto, es war eine offene Plattform mit Rädern und Gartenstühlen,<br />
auf denen gut genährte Männer mit sehr weissen, gesunden<br />
Zähnen sassen und Schokolade verschenkten. Der Mann<br />
mit der Kamera hatte kleine, aber gesunde Äpfel zu bieten. Als<br />
«Long Distance Runner» ist viel später ein Grand Cherokee mit<br />
den wunderbar weichsten Lederbezügen und grossem Durst<br />
unvergessen. Und ein älterer Wrangler hätte uns mal bei einer<br />
Panikbremsung wegen zwar prompter, aber sehr einseitiger<br />
Verzögerung fast ins grüne Abseits geworfen.<br />
Für Fiat ist die vom Pullover-tragenden Chef Sergio Marchionne<br />
eingefädelte und durchgezogene Liaison mit Chrysler keine Liebesheirat.<br />
Eher eine Notwendigkeit. Die Chrysler-Familie selbst<br />
ist ein bisschen müde. Sogar der veraltete Thema von der maroden<br />
Stilikone Lancia wirkt als Italo-Amerikaner vergleichsweise<br />
nobel, aber ohne Feuer am Tresen im Verkaufsraum. Für<br />
SOMMER 2015 091
FAHRTERMIN<br />
Man muss den Namen ausatmend<br />
sprechen und gleichzeitig<br />
ein bisschen Wrigleys kauen dabei<br />
FCA-Konzernchef Marchionne (Fiat Chrysler Automobiles) ist<br />
Chrysler eine amerikanische Herausforderung mit ungewissem<br />
Ausgang; immerhin konnte das wieder profitable US-Geschäft<br />
2013 die Fiat-Verluste ausgleichen. Vor allem die unschätzbar<br />
wertvolle Mitgift Jeep aus dem Chrysler-Konzern hat es in sich.<br />
Denn diese Ikone der ruralen und doch komfortablen Fortbewegung<br />
erlebt schon wieder einen Frühling. Immer mehr potentielle<br />
Interessenten an Geländewagen sind auf der Suche nach<br />
dem Original und wollen nicht mehr irgendeine Kopie. Die orientierungslosen<br />
und in ihrem Modellprogramm verarmten Italiener<br />
fassen Tritt in Amerika und die unter Modernisierungszwang<br />
stöhnende Kultmarke mit ihren zu gross und zu durstig geratenen<br />
Geländewagen erhält modernen Familienzuwachs: Jeep<br />
Renegade heisst der technisch eng mit dem Fiat 500X verwandte,<br />
mit Fiat-Diesel gekräftigte, in Richtung Offroad-Tradition gebürstete<br />
und mit moderner Geländetechnik aufwartende Mini-SUV.<br />
Und dieser kommt für die wiedererwachte Marke Jeep gerade<br />
zur rechten Zeit. Denn im boomenden Markt der modernen<br />
Kompakt-SUV musste das legendäre Label bisher passen –<br />
und zusehen, wie potentielle Kunden auf Opel Mokka, Renault<br />
Captur oder Nissan Juke abfuhren. Jetzt hält Jeep mit dem Jeep<br />
Renegade dagegen; als Topmodell dieser Baureihe ist die technisch<br />
und phonetisch herausragende Version Trailhawk – man<br />
muss den Namen beim Ausatmen sprechen und ein bisschen<br />
Wrigleys kauen dabei – eine besondere. Sie wird der moderne<br />
Jeep, und ob ihr Weg in den Kult führt oder an der Legende vorbeischrammt,<br />
das weiss noch keiner. Aber sie kann mehr abseits<br />
von Asphalt, als man ihr zutraut. <br />
092 <strong>VECTURA</strong> #15
SOMMER 2015 093
FAHRTERMIN<br />
TECHNISCHE DATEN JEEP RENEGADE<br />
Konzept Kompakt-Softroader (Basis: Fiat 500L / X). Selbsttragende Stahlkarosserie, 5 Türen / Sitzplätze. Zahnstangenlenkung mit el. Servo,<br />
Einzelradaufhängung rundum (vorne McPherson, hinten Längslenker), Scheibenbremsen rundum (v. belüftet), wahlweise Front- oder Heckantrieb<br />
Motor Vierzylinder-Benziner mit Mehrpunkteinspritzung, 4 Ventile / Zyl. (an der Einlassseite elektrohydr.), oben liegende Nockenwelle (Zahnriemen),<br />
5fach gel. Kurbelwelle, Turbolader und Intercooler. Vierzyl.-Turbodiesel mit Common-Rail-Einspr., 2 oben liegenden Nockenwellen, Turbo (VNG)<br />
und Intercooler. Jeweils mit Stopp-Start-System. Weltweit sind sieben Motoren verfügbar; fünf davon werden in Europa angeboten<br />
1.4 Multiair Limited 2.0 CRD Trailhawk<br />
Hubraum in cm 3 1368 1956<br />
Bohrung x Hub in mm 72 x 84 83 x 90,4<br />
Verdichtung 9,8:1 16,5:1<br />
Leistung in PS (kW) @ U / min 140 (103) @ 5000 170 (125) @ 3750<br />
Max. Drehmoment in Nm @ U / min 230 @ 1750 350 @ 1500 – 2500<br />
Kraftübertragung M6 A9<br />
Abmessungen (L/ B / H) in cm 423 / 180,5 / 169<br />
Radstand in cm 257<br />
Spur vorne / hinten in cm 154 / 154<br />
Reifen und Räder 225 / 55 R18 auf 7,0J 215 / 65 R17 auf 7,0J<br />
Tankinhalt in L 48<br />
Kofferraumvolumen in L 525 – 1440<br />
Leergewicht (ohne Fahrer) in kg 1356 1548<br />
Zulässiges Gesamtgewicht in kg 1865 2080<br />
Leistungsgewicht in kg / PS 9,7 9,1<br />
0 – 100 km / h in Sek. 9,3 8,9<br />
Höchstgeschwindigkeit in km / h 194 196<br />
Durchschnittsverbrauch* in L / 100 km 6,0 5,9<br />
CO 2 -Emission in g / km 140 155<br />
Energieeffizienzkategorie D D<br />
Preis ab CHF 31 350.– 39 650.–<br />
* gemessen nach NEFZ: Neuer Europäischer Fahrzyklus<br />
094 <strong>VECTURA</strong> #15
Trotz allzu deutlichen Bemühungen um<br />
die gute alte Jeep-Tradition bleibt<br />
noch genügend harter Charakter übrig<br />
Das zeigt sich nach wenigen Metern auf dem Weg in den Wald.<br />
Denn der fussläufige Pfad verschwindet nach links zwischen<br />
dicken Eichenstämmen und der Weg mit den Rinnen verliert sich<br />
in einem Hain voller Buchen und ungeordneten Haufen aus Laub.<br />
Eine Herausforderung alter Art: tiefe Kuhlen voll feinem Sand und<br />
dazwischen Wurzeln im Rübezahl-Design. Schroffe Anstiege mit<br />
bösen Kuppen und tückischen Gefällen. Ein bierkastengrosses<br />
Loch links und eine hundertjährige Wurzel rechts. Der Trailhawk<br />
knurrt erwartungsfroh und taucht in Kuhlen und Untiefen, er nähert<br />
sich dem Ansatz der Steigung, mit langsamer Fahrt, und der<br />
Zweiliter-Diesel stemmt muskulöse 170 PS plus massige 350 Nm<br />
in die Antriebstechnik. Die Neunstufenautomatik kooperiert perfekt<br />
und aus dem im Normalgeläuf über die Vorderräder angetriebenen<br />
Renegade wird der 4x4-Jeep. Dafür sorgen Heerscharen<br />
von Sensoren und Halbleitern, raffinierte Traktionsprogramme<br />
und jene moderne Elektronik, die alles unauffälliger erledigt, als<br />
das früher krachend eingelegte Untersetzungen und knirschende<br />
Differentialsperren mit heulenden Achslagern umzusetzen in<br />
der Lage waren. Beim Trailhawk sitzen die alles überwindenden<br />
Helfer im Track Mode und es gibt Active Drive und Active Drive<br />
Low zur Erhöhung der Motorzugkraft bei niedrigen Motortouren,<br />
während Hill-Descent Control nur ganz wenig Schwung beim<br />
Bergabfahren gestattet. Die Bodenfreiheit des kleinsten Jeep ist<br />
nicht riesig, aber ausreichend. Der Fahrer kann sich das Offroad-<br />
Menu über Tasten und ein Wählrädchen selbst zusammenstellen –<br />
oder sich mit dem Modus Auto begnügen. Dann übernimmt die<br />
Elektronik das Kommando im Dienst der Traktion.<br />
Alle Räder schieben in den Hügel hinein, der Renegade knurrt<br />
und ruckt etwas, dann ist die Wurzel überwunden, er gewinnt an<br />
Höhe, der Fahrer blickt in Wolken und Äste, der Jeep durch-<br />
SOMMER 2015 095
FAHRTERMIN<br />
schneidet die Steigung, erreicht den Scheitel, Fuhre und Fahrer<br />
verharren für einen Moment, suchen das nicht vorhandene<br />
Gipfelkreuz, und gestärkt und erfrischt röchelt sich der Diesel in<br />
das Gefälle hinein, der Unterfahrschutz berührt die Sandhügel,<br />
zart, wie ein ermatteter Liebhaber mit dem Flaum im Nacken<br />
seiner Gefährtin wohl umginge.<br />
Auch der Trailhawk taugt zum Gefährten. Trotz modischer Details<br />
und den allzu deutlichen Bemühungen um die Beschwörung<br />
der Jeep-Tradition bleibt noch genügend harter Charakter.<br />
Dieser wird nicht mit Zitaten aus der Jeep-Vergangenheit erhalten<br />
und gestärkt, sondern wächst aus der Freude des Umgangs<br />
mit dem Trailhawk heraus. Steile Scheiben für den ernsthaften<br />
Auftritt, gute Proportionen in Diensten unverzichtbarer Eleganz,<br />
kein Knirschen und Knacken in bedrohlicher Schräglage und<br />
jede Menge praktischer Details sowie hohe Tauglichkeit für die<br />
flotte Fahrt auf der Strasse. Mit dem Renegade fährt die Jeep-<br />
Tradition in eine Zukunft, welche überall zu spüren ist. Für Stadt,<br />
Land, Fluss ist der Trailhawk der beste Joker.<br />
Zärtliches Röcheln oder knurriges<br />
Schieben – der Trailhawk kann beides.<br />
Und angenehm kraftvoll ist er auch<br />
Sein Geruch im Innenraum bleibt derweil unverändert. Die<br />
Hähn chenbraterei wird zwar erreicht, es gibt sie aber nicht<br />
mehr. Auch der Trucker-Parkplatz ist inzwischen geschlossen,<br />
weil seine enge Zufahrt wohl zu gefährlich wurde. Der Renegade<br />
Trailhawk findet sie dagegen ganz toll: Der Dreck fliegt bis<br />
zur Heckscheibe.<br />
096 <strong>VECTURA</strong> #15
NICHT JEDER KANN EIN NISMO SEIN.<br />
Man braucht mehr als eine neue Lackierung und einen roten Streifen, um ein NISMO zu<br />
sein. Wenn Technologie und Leistung verschmelzen: Unsere Ingenieure verwandeln urbane<br />
Fahrzeuge in kompromisslose Kraftpakete, die sich auf der Rennstrecke genauso souverän<br />
fahren wie auf der Strasse. Ihre neueste Errungenschaft: der NISSAN JUKE NISMO RS.<br />
Verdammt aufregend. Und in jeder Hinsicht auch verdammt schnell weg.<br />
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AUSWAHL AKTUELLER UND KOMMENDER MODELLE<br />
098 <strong>VECTURA</strong> #15
SHOWROOM<br />
MENU SURPRISE: CITROËN AIRCROSS<br />
Die bullige Studie kommt mit allen Attributen, die heute von einem SUV erwartet werden: hohe Motorhaube,<br />
massige Bug- und Heckschürzen, Kotflügelverbreiterungen, dazu riesige Räder oder eine fette Dachreling. Dass<br />
das auch sehr avantgardistisch statt abgedroschen aussehen kann, ist die vielleicht grösste Überraschung beim<br />
Aircross, der ab Ende 2016 gebaut wird – hoffentlich in unveränderter Form. Nicht wegen den gegenläufig öffnenden<br />
Türen oder den gestrickten Sitzbezügen. Sondern wegen der originellen Gesamtdarbietung – und der<br />
Ehrlichkeit, auf pseudo-funktionales Allrad-Getue zu verzichten bei einem Familienauto, das in erster Linie für<br />
die Strasse konzipiert worden ist. Der Offroad-Faktor dürfte entsprechend niedrig ausfallen.<br />
<br />
SOMMER 2015 099
SHOWROOM<br />
BRIT-BUGGY: ARIEL NOMAD<br />
Der britische Kleinserienhersteller ist bekannt für seinen radikalen, leichten und<br />
sehr schnellen Mittelmotorsportler Atom. Jetzt schiebt die Marke aus Somerset<br />
den Nomad hinterher – einen nackten Zweisitzer, diesmal allerdings fürs Fahren<br />
ohne Asphalt gedacht. Die Neukonstruktion – lediglich Bodenplatte, Lenksäule,<br />
Instrumente und Pedale stammen aus dem Atom – wird von einem 235 PS starken<br />
2,4-L-iVTEC-Vierzylinder von Honda angetrieben. In Verbindung mit 640 Kilogramm<br />
Leergewicht sind 100 km / h in 3,4 Sekunden erreicht. Natürlich kann man<br />
den ca. 47 000 Franken teuren Buggy auch auf Strassen bewegen; die Schweizer<br />
Zulassung dürfte allerdings ein Fall für die Einzelabnahme sein. Offroad-Faktor:<br />
extrem hoch, extrem fun.<br />
<br />
NEUE LEICHTIGKEIT: AUDI Q7<br />
Schon optisch hat sich die ab Sommer erhältliche zweite Generation verändert:<br />
Kantiger, straffer, ja sehniger kommt sie daher. Und ist mit 5,05 Meter Länge, 1,97 m<br />
Breite und 1,74 m Höhe kürzer und schmaler als der Vorgänger. Auch unter<br />
dem Blech hat sich viel getan: Dank konsequentem Leichtbau hat der neue Q7<br />
ganze 325 Kilo abgespeckt, was Respekt verdient und das Fahrzeug in allen Bereichen<br />
agiler und zeitgemässer macht. Angeboten werden zunächst der 3.0 TFSI<br />
mit 333 PS (ab CHF 86 900.–) und der 3.0 TDI mit 272 PS (ab CHF 82 900.–);<br />
beide verfügen über einen Achtstufenautomaten. Bereits angekündigt ist der Q7 E-<br />
Tron Quattro Plug-in-Hybrid mit 373 PS Systemleistung, 56 km rein elektrischer<br />
Reichweite und 1,7 L Normverbrauch. Offroad-Faktor: befriedigend.<br />
<br />
ALL-TERRAIN-OPULENZ: BENTLEY BENTAYGA<br />
Offroad-Autos aus Crewe hat es bereits gegeben – es waren Sonderanfertigungen<br />
für arabische und asiatische Kunden. 2016 kommt das Serienmodell, dessen<br />
Name sich vom gleichnamigen Berg auf Gran Canaria ableitet, aber auch auf<br />
Marke und Taiga verweisen soll (gemeint sind die Wälder als synonym für Wildnis;<br />
mit dem Lada Taiga hat das nichts zu tun). Damit ist klar, dass der Luxus-SUV als<br />
ernsthafter Geländewagen verstanden werden will. Über Antriebsdetails schweigt<br />
sich die VW-Tochter noch aus. Fest steht, dass es neben der W12-Twinturbo-<br />
Variante (rund 600 PS / 800 Nm) einen Vierliter-V8-Turbo sowie ein Hybridmodell<br />
geben wird. Der Einstiegspreis soll bei rund 230 000 Franken liegen. Offroad-<br />
Faktor: ganz gut, aber eigentlich viel zu schade dafür.<br />
<br />
GELÄNDE XXL: CADILLAC ESCALADE<br />
Wer beim Thema Offroad nostalgische Gefühle hegt, dem sei der grösste Caddy<br />
empfohlen – die vierte Generation ist 5,18 Meter lang und wird wie in den guten<br />
alten Zeiten von einem 6,2-L-V8-Benziner mit 426 PS und 621 Nm angetrieben.<br />
Der erste Escalade erschien 1999, trotzdem spricht der Hersteller von «einer langen<br />
Tradition im Premiumsegment». Verbrauchsdebatten? Sind für andere. Zu<br />
den äusseren Highlights zählen LED-Scheinwerfer und 22-Zoll-Felgen; innen finden<br />
sich bis zu acht Sitzplätze (Option) oder ein Head-up-Display. Die Kabine ist<br />
erwartungsgemäss riesig und auffällig gut isoliert; Preise ab 116 800 Franken entsprechen<br />
der Dimension. Wem das nicht genügt: Die 5,7-Meter-Langversion ESV<br />
kostet CHF 119 500.–. Offroad-Faktor: mit den richtigen Reifen – überlegen.<br />
<br />
100 <strong>VECTURA</strong> #15
DISCOUNT-VERGLEICH: DACIA DUSTER UND CO.<br />
Ein Erfolgsgeheimnis der rumänischen Renault-Tochter bestand bisher unter anderem<br />
darin, Autos mit möglichst simpel geformten, weil billig produzierbaren Blechen<br />
auf den Markt zu bringen. Der 4,32 Meter lange, schon fünf Jahre alte, aber zeitlose<br />
Duster ist dennoch attraktiv – und sieht robuster aus, als er tatsächlich ist. Angetrieben<br />
von Benzinern (115 / 125 PS) oder einem 110-PS-Diesel, geht es munter vorwärts;<br />
Allradantrieb ist bereits in der 14 900 Franken günstigen Basisversion an Bord.<br />
Offroad-Faktor: schmerzfrei durch die Furche. Als Alternative sei hier ein anderes Ost-<br />
Produkt erwähnt – der Lada 4x4 (früher hiess er Niva, auf manchen Märkten nennt<br />
man ihn Taiga). Sein Ruf, unkaputtbar zu sein, ist ebenso legendär wie der Offroad-<br />
Faktor. Inklusive Russland-Charme ab 17 900 Franken.<br />
<br />
MAINSTREAM: FORD EDGE<br />
Nach Kuga und EcoSport rundet Ford seine SUV-Palette Ende Jahr nach oben ab.<br />
Dabei will der weltweit angebotene Edge nicht als Softroader, sondern als trendiger<br />
Fullsize-Pw mit kerniger Optik begriffen werden: Stattliche 4,8 Meter lang, sieht der<br />
Fünftürer zwar stämmig-robust aus, weist mit mässiger Bodenfreiheit oder abrolloptimierten<br />
Reifen aber klar auf seine Strassen-Bestimmung hin. 4x4 gibt es gegen<br />
Aufpreis; zu den technischen Highlights zählt die adaptive Lenkung, optional hat es<br />
Innenraum-Geräuschunterdrückung oder eine «Front-Split-View»-Kamera. Angeboten<br />
werden ausschliesslich Turbodiesel mit 180 (Sechsganggetriebe) oder 210 PS<br />
(Sechsstufenautomat); die Preisliste beginnt bei über 60 000 Franken. Offroad-Faktor:<br />
Bitte an die Leasing-Rückgabe denken!<br />
<br />
ASIA FOOD: HONDA HR-V<br />
Mit der zweiten, 4,3 m langen HR-V-Generation (die erste lief von 1999 bis 2005)<br />
offerieren die Japaner ab Spätsommer wieder einen SUV unterhalb des CR-V. Die<br />
von «High Rider Vehicle» abgeleitete Bezeichnung umschreibt gut, worum es geht:<br />
einen hochgelegten Kompaktwagen (Basis: Jazz), optional mit Allradantrieb, der<br />
gegen Opel Mokka und Co. antritt. Der 1,6-L-Diesel leistet 120, ein 1,5-L-Benziner<br />
130 PS; sie verbrauchen 4,0 bzw. 5,2 L, sind mit Sechsgangschaltgetrieben kombiniert<br />
(Benziner: optional Doppelkupplung) und spurten in je 10,5 Sekunden auf 100.<br />
Es gibt moderne Infotainment- sowie kamera- und radargestützte Assistenzsysteme;<br />
der Kofferraum fasst 455 bis 1025 L, der Preis beträgt ca. 21 000 Franken aufwärts.<br />
Offroad-Faktor: etwas wenig Bodenfreiheit.<br />
<br />
SCHARFE KRALLEN: JAGUAR F-PACE<br />
Ab Anfang 2016 faucht die britische Wildkatze artgerecht auch abseits der Strasse.<br />
Der erste SUV des Hauses soll ein leistungsstarker Crossover werden, der auf einer<br />
innovativen Aluminium-Plattform aufbaut, fünf Sitzplätze bietet – und sich den<br />
Platzhirschen Audi Q5, BMW X3 oder Porsche Macan als leichteste Alternative des<br />
Segments entgegensetzt. Der «Sportwagen für die Familie» ergänzt dann als fünfte<br />
Baureihe die Modellpalette und wird von neuen, effizienten Vier- und Sechszylindern<br />
angetrieben (Diesel 163–300 PS, Benziner bis 380 Kompressor-PS); ein 500-PS-<br />
V8 soll folgen. Das Allradsystem kommt von Land Rover, der Offroad-Faktor ist also<br />
vielversprechend. Preislich dürfte es bei rund 60 000 Franken losgehen; darunter soll<br />
es auch eine Version mit reinem Heckantrieb geben.<br />
<br />
SOMMER 2015 101
SHOWROOM<br />
SVRRRRRRR: RANGE ROVER SPORT MEETS RACE TRACK<br />
Der Sound ist infernalisch, metallisch hämmernd und fast<br />
furchteinflössend. Mit Volldampf schieben sich über<br />
2,5 Tonnen leicht seitlich driftend durch eine abfallende<br />
Kurve, beschleunigen auf der kurzen Geraden, um sich dann mit<br />
4500 Umdrehungen den Hang zur Links-rechts-links-Kombination<br />
hochzusaugen. Wir sind zu Gast im Monticello Motor Club,<br />
auf einer über sechs Kilometer langen Privatrennstrecke 90 Minuten<br />
nordwestlich von Manhattan. «Sehr schön, jetzt lass ihn da<br />
vorne nicht zu weit hinaustreiben, lenk mit dem Gasfuss sachte<br />
gegen und brems etwas früher», sagt mein Beifahrer Don Floyd.<br />
Der Mann hat 1987, 88 und 89 an der legendären Camel Trophy<br />
teilgenommen, ist hauptberuflich Testfahrer, kennt den Kurs bestens<br />
und muss es schliesslich wissen.<br />
Wir sitzen im Range Rover Sport SVR, was etwas holprig mit «Special<br />
Vehicles Racing» übersetzt werden könnte. Wenn man aber<br />
das eigens entworfene Logo betrachtet, findet sich da auch ein<br />
kreisrundes «O». Genau genommen steht das Kürzel also für «Special<br />
Vehicle Operations», die 2014 gegründete Sonderabteilung von<br />
Jaguar Land Rover, und dann schlicht «Racing» für das besagte<br />
Modell. Ein Anfang April auf der New York Auto Show vorgestellter,<br />
wahlweise stark individualisierter Range Rover wird dagegen<br />
SV Autobiography genannt. Die anderen bisherigen Projekte<br />
von SVO waren sechs weitgehend nach Originalplänen gebaute<br />
E-Type Lightweight (siehe <strong>VECTURA</strong> #12) und das F-Typebasierte<br />
«Project 7», von dem 250 Exemplare entstanden, die<br />
Jaguar angeblich aus den Händen gerissen wurden.<br />
Nun also der erste Land Rover, pardon: Range Rover. Sportwagenkenner<br />
reagieren ob dem Kürzel etwas stutzig: SV-R, das war<br />
von 1996 bis 99 auch ein Lamborghini-Sondermodell … «Wir<br />
schreiben das aber ohne Bindestrich», versucht SVO-Managerin<br />
Michelle Mortiboys jede Verwechslung im Keim zu ersticken.<br />
Denn von der Leistung her gibt es durchaus Parallelen: Der Diablo<br />
SV-R (für Sport Veloce Racing) verfügte seinerzeit über einen 5,7-L-<br />
V12 mit 535 PS und 598 Nm, der Range Rover Sport SVR hat 550<br />
Pferde plus 680 Nm. Sein Triebwerk, ein Fünfliter-V8-Kompressor,<br />
wird ähnlich auch im F-Type R verwendet. Zu den SVR-speziellen<br />
motorischen Massnahmen gehören beispielsweise andere<br />
Bypass-Ventile; dazu kommen um 50 Prozent reduzierte Hochschaltzeiten<br />
des ZF-Achtstufen-Automaten, verstärkte Bremsen,<br />
ein überarbeitetes Fahrwerk oder Kurvenerkennung – störende<br />
Gangwechsel werden dann unterbunden. «Der SVR ist der stärkste<br />
und schnellste Land Rover, den wir je gebaut haben», betont der<br />
SVO-Technik-Verantwortliche Andy Smith. Zu den optischen, SVRexklusiven<br />
Merkmalen zählen ein eigener Bugspoiler für mehr Luftdurchsatz,<br />
blaue Bremssättel oder die hier gezeigte Launch-Farbe<br />
Estoril; innen hat es sportive Schalensitze mit integrierten Kopfstützen<br />
oder eben – eine Soundtaste.<br />
Dass man dem im Frühjahr 2013 eingeführten, bisher 150 000<br />
Mal verkauften, 4,85 Meter langen und auch im Gelände sehr fähigen<br />
Allradler jetzt Beine macht, kommt nicht von ungefähr. Es<br />
waren leistungshungrige Kunden, welche Land Rover die Hölle<br />
heiss gemacht und nach einem Äquivalent für Cayenne Turbo S,<br />
X5 M oder ML 63 AMG verlangt haben. Nach einem, das dabei<br />
auch richtig tönt. Und weil BMW, Porsche und Co. beste Geschäfte<br />
mit dieser Art Fahrzeugen machen, wollte man nicht<br />
länger abseitsstehen, hat dreieinhalb Jahre entwickelt. «Die Zeit<br />
beinhaltete eine lange Testphase», sagt Mortiboys, «und es ist<br />
102 <strong>VECTURA</strong> #15
SHOWROOM<br />
mehr geworden als eine Range-Rover-Sport-Variante. Der SVR<br />
ist eigentlich ein komplett neu gedachtes Auto. Wir haben dabei<br />
auch definiert, was SVR ist: Es steht für unsere ultimativsten Sportwagen<br />
– leistungsbetonte Sonderserien, die leichter sowie technologisch<br />
und aerodynamisch kompromissloser veranlagt sind.»<br />
Der SVR beschleunigt in 4,7 Sekunden auf Tempo 100 und ist bis<br />
zu 260 abgeregelte Stundenkilometer schnell; die Nürburgring-<br />
Nordschleife umrundet der Fünftürer in 8 Minuten 41 Sekunden;<br />
die Allradspezialisten aus dem britischen Solihull sprechen deshalb<br />
gerne von «Sportwagen-Feeling». Das ist ansatzweise tatsächlich<br />
vorhanden; wir sind noch nie so schnell mit einem Landy<br />
unterwegs gewesen. Gewicht und Lastwechsel geben hier jedoch<br />
die fahrdynamischen Grenzen vor, wobei die Elektronik sehr<br />
bemüht ist, der Physik ein Schnippchen zu schlagen. Dass der<br />
Verbrauch von durchschnittlich 12,8 L nicht höher ausgefallen<br />
ist als beim «normalen» Range Sport 5.0 Supercharged mit 510<br />
PS, freut die Tankkarte und darf darüber hinaus als Argument für<br />
weniger motorbegeisterte Mitmenschen herhalten. Tatsächlich<br />
ist ein SVR-Range knapp 50 kg leichter als das Standardmodell.<br />
Bemerkenswert ist, dass die Geländetauglichkeit trotz aller Rasanz<br />
nahezu uneingeschränkt erhalten geblieben ist – wenn man<br />
vom vorderen Rampenwinkel absieht, der aufgrund des tieferen<br />
Frontspoilers ein, zwei Grad flacher ausfällt. Auch die optionalen<br />
22-Zoll-Räder sollten offroad nicht montiert sein, zumal es sie nur<br />
mit Strassen-Sommerbereifung gibt. «Es ging uns nicht darum,<br />
ein Rennstreckenauto zu machen, aber wir nutzen den Rundkurs,<br />
um das Potential zu zeigen», erläutert Mortiboys. Und sie lässt<br />
durchblicken, dass weitere SVR-Fahrzeuge vorgesehen sind, verrät<br />
aber nicht, ob es mehr Jaguar oder Land / Range Rover sein<br />
werden: «Es muss einfach zum jeweiligen Modell passen.» Und<br />
da scheinen einige infrage zu kommen: Die SVO-Abteilung, in der<br />
momentan rund 400 Mitarbeiter tätig sind, soll in den nächsten<br />
Jahren auf 1000 Personen aufgestockt werden.<br />
Die SVR-Nachfrage gibt dieser Strategie offenbar recht: Allein in<br />
der Schweiz, wo der sportivste Range seit März in homöopathischen<br />
Dosen und zu Preisen ab 159 400 Franken ausgeliefert wird<br />
(abzüglich Swiss Deal von 16 000.–, also für CHF 143 400.–), reicht<br />
das Kontingent nicht: Wer jetzt bestellt, wird erst 2016 bedient.<br />
Mortiboys arbeitet übrigens seit 26 Jahren bei Land Rover.<br />
1989 bereitete sich die Marke darauf vor, die Modelle 90 und 110<br />
in Defender umzubenennen (siehe S. 070ff.); der Discovery wurde<br />
gerade eingeführt und das mit 182 PS stärkste Angebot des Hauses<br />
war ein Range Rover mit 3,9-L-V8. Der Range Rover Sport<br />
wäre damals undenkbar gewesen. You’ve come a long way, baby,<br />
you’ve come a long way. map<br />
SOMMER 2015 103
SHOWROOM<br />
SORGLOSPAKET: KIA SORENTO<br />
Mit ausgewogenem Design und grosszügigen Platzverhältnissen bei nur moderat<br />
gewachsenen Abmessungen (L / B / H: 4,78 / 1,89 / 1,69) tritt die dritte Generation<br />
des koreanischen Allradlers gegen etablierte Konkurrenten an. Sie tut das<br />
selbstbewusst und mit sauberer Verarbeitung (sieben Jahre Garantie). Innen gibt<br />
es eine geteilt klappbare Rückbank, die sich auch längs verschieben und bequem<br />
vom Laderaum fernentriegeln lässt, der Kofferraum schluckt bis zu 1730 L,<br />
optional gibt es eine dritte Sitzreihe. Die Ausstattungsmöglichkeiten sind vielfältig;<br />
der 2,2-L-Vierzylinder-Turbodiesel leistet 200 PS / 441 Nm, schafft über 200 km / h,<br />
verbraucht 6,6 L und kommt mit Sechsstufenautomat. Preis: ab 39 950 Franken.<br />
Offroad-Faktor: nicht schlecht.<br />
<br />
UNTER STROM: LEXUS RX 200T<br />
Rund ein Jahr nach dem NX (siehe <strong>VECTURA</strong> #13) erneuert die Toyota-Tochter<br />
ihren Erfolgs-SUV RX. Auch der tritt nun mit extrovertiertem Design auf – ganz<br />
besonders im dynamischen F-Sport-Look. Als Basistriebwerk dient dem 4,89 m<br />
langen Fünfplätzer der auch im NX 200t erhältliche Zweiliter-Turbobenziner mit<br />
230 PS / 350 Nm: Als weltweit erstes Triebwerk verfügt er über einen wassergekühlten<br />
Zylinderkopf für ein besseres Abgasverhalten. Ein Sechsstufenautomat<br />
ist im Preis von 65 000 Franken enthalten; darüber rangiert ein RX350 mit 3,5-L-<br />
V6. Als Topmodell kommt der RX 450h mit aufgewertetem Hybridantrieb (Systemleistung<br />
etwa 300 PS) für ca. 80 000 Franken; Markteinführung ist Ende 2015.<br />
Offroad-Faktor: am liebsten in der Nähe einer Steckdose.<br />
<br />
AL DENTE: MASERATI LEVANTE<br />
Mit der Idee eines sportiven Luxus-SUV liebäugeln die Italiener seit Jahren; 2016<br />
lassen sie Taten folgen: Formal wie technisch orientiert sich der Levante am viertürigen<br />
Ghibli S Q4, sprich: bedarfsweise gelangen bis zu 50 Prozent der Kraft via<br />
Lamellenkupplung zu den Vorderrädern. Die motorische Spitze markiert zunächst<br />
der bekannte 3,8-L-V8-Biturbo mit bis zu 530 PS. Darunter finden sich aufgeladene<br />
Sechszylinder (Benzin und Diesel) mit einem Leistungsspektrum von 250<br />
bis 410 PS. Seine offizielle Premiere wird der Levante nächsten Januar auf der<br />
North American International Auto Show in Detroit feiern; bei den Preisen tippen<br />
wir auf 80 000 Franken plus. Offroad-Faktor: auf zur Trüffelsuche in das Piemont!<br />
<br />
ALLROUNDER: RENAULT KADJAR<br />
Endlich kommt auch Renault auf den Geschmack und springt auf den Crossover-<br />
Schnellzug auf. Beflügelt vom erfolgreichen Captur (siehe S. 050) löst der rund<br />
30 Zentimeter längere Kadjar diesen Sommer das Mauerblümchen Koleos ab,<br />
welches noch auf einer Samsung / Nissan-Plattform stand. Der Kadjar basiert auf<br />
dem Nissan Qashqai und wird entweder von Turbodieseln mit 110 und 130 PS<br />
angetrieben, die zwischen 3,8 und 4,9 L / 100 km verbrauchen. Oder von einem<br />
1,2-L-Turbobenziner, der 120 PS leistet und sich 5,6 L genehmigt. Das Topmodell<br />
verfügt über Allradantrieb und dank diverser Fahrprogramme macht der Fünfsitzer<br />
auch in leichtem Gelände eine gute Figur; die Preise starten bei 24 900 Franken.<br />
Offroad-Faktor: soft, s’il vous plaît!<br />
<br />
104 <strong>VECTURA</strong> #15
AKTUELL NUR FWD: SSANGYONG TIVOLI<br />
Nach dem in der Schweiz sehr beliebten Korando erweitern die Südkoreaner<br />
ihr Angebot ab diesem Sommer nach unten. Der 4,2 Meter lange Fünfsitzer soll<br />
dabei nicht nur preislich, mit fünf Jahren Garantie oder seinen sieben Airbags<br />
überzeugen. Bezüglich Designsprache findet der Hersteller blumige Worte:<br />
«Nature-born 3 Motion – rhythmisch, dynamisch, würdevoll». Angetrieben wird<br />
das Auto von einem neuen wie sparsamen 1,6-L-Vierzylinder-Benziner mit<br />
126 PS, verfügt derzeit aber nur über Frontantrieb. Der Offroad-Faktor ist also<br />
sehr überschaubar. Angeboten werden drei Ausstattungsniveaus, die Preisliste<br />
startet aktuell bei CHF 17 900.–, eine Sechsstufenautomatik kostet 2000 Franken<br />
extra. Diesel- und Allrad-Varianten sollen später folgen.<br />
<br />
FÜR SIE ÜBERWINDEN<br />
WIR HINDERNISSE<br />
PLUG AND PLAY: VENTURI AMERICA<br />
Vor 15 Jahren kaufte der Monegasse Gildo Pastor die französische Sportwagenmarke<br />
Venturi und machte aus ihr einen E-Mobil-Hersteller. Das jüngste Modell<br />
heisst America: 2014 zum 30. Markengeburtstag vorgestellt, trägt der «Hochvolt-<br />
Buggy» die Elektrifizierung in sandiges Gelände. Angetrieben von einer 53-kWh-<br />
Lithium-Ionen-Polymer-Batterie und zwei E-Motoren (Systemleistung: 300<br />
kW / 480 Nm), saust der offene Zweisitzer in nur 4,5 Sekunden auf Tempo 100;<br />
für den Spurt auf 200 km / h genügen 14 Sekunden (!). Die Vmax beträgt 220, die<br />
maximale Reichweite 250 km. Der heckgetriebene, aus Alu, Karbon und Kunststoff<br />
bestehende Flitzer kostet stolze 330 000 Franken, denn die Produktion ist<br />
auf nur 25 Exemplare limitiert. Offroad-Faktor: extraordinaire!<br />
<br />
Genossenschaftliche<br />
Solidität –<br />
fünf Gründe, weshalb Sie<br />
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SOMMER 2015 105
EVOLUTION<br />
RUBRIKEN<br />
SHOWROOM<br />
OFFROAD<br />
Es ist vollbracht: Das Concept GLC Coupé demonstriert, dass ab 2016 weichere Formen kommen werden<br />
LUXUS-LASTER IN ALLEN KLASSEN<br />
WERDEN DIE STRASSEN DER WELT EIGENTLICH IMMER SCHLECHTER? ODER WIRD<br />
DER FREIHEITSDRANG DER MENSCHEN IMMER GRÖSSER? WIE SONST IST DER<br />
LODERNDE SUV-MARKT ZU ER KLÄREN? ZU DEN MARKEN, DIE DAS MEISTE ÖL INS<br />
FEUER GIESSEN, GEHÖRT MERCEDES: DIE STUTTGARTER VERFÜGEN ÜBER DAS<br />
UMFASSENDSTE, VIELSEITIGSTE ANGEBOT AM MARKT – UND LEGEN STÄNDIG<br />
NACH. IST JA AUCH LOGISCH: EINST HAT MAN DAS FEUER MIT ANGEZÜNDET –<br />
LANGE VOR DEM LEGENDÄREN G<br />
Text Jochen Kruse, hh · Fotos Werk<br />
106 <strong>VECTURA</strong> #15
Manchmal sind die kleinsten Mitglieder der Familie die<br />
schnellsten: Im Frühjahr 2014 nahm der Mercedes-<br />
Benz GLA die neue Nomenklatur vorweg, die jetzt für<br />
alle Modelle mit Stern eingeführt wird. Künftig tragen sämtliche<br />
SUV die Kennzeichnung GL und danach als dritten Buchstaben<br />
denjenigen jener Baureihe, deren robustere Variante sie<br />
markieren.<br />
Als Wanderer zwischen den automobilen Welten hat der Mercedes<br />
GLA (Baureihen-Kürzel: X156) das Segment der kompakten<br />
SUV neu interpretiert (siehe <strong>VECTURA</strong> #10). Leicht füssig nimmt<br />
der wie A- und B-Klasse auf einer modularen Frontantriebsarchitektur<br />
aufbauende Grenzgänger alle Hürden des Alltags – und<br />
ist gleichzeitig robust genug für die kleinen Fluchten zwischendurch.<br />
Der erste Stern im schnell wachsenden Segment kleiner<br />
Crossover ist handlich in der Stadt, spritzig auf Land- und Passstrassen<br />
sowie dynamisch und effizient auf der Autobahn (cw-<br />
Wert 0,29). Gleichzeitig komplettieren die Allrad-Versionen das<br />
umfangreiche Mercedes-SUV-Angebot: Mit den sechs Baureihen<br />
GLA, GLK (künftig GLC; wir gehen noch darauf ein), GLE / GLE<br />
Coupé, GL (das Facelift kommt im Herbst und nennt sich logischerweise<br />
GLS) sowie dem klassisch-kantigen G verfügt man<br />
über die breiteste Palette aller europäischen Premiumhersteller.<br />
Und hofft natürlich, auf den individuellen Shoppinglisten einer<br />
weltweiten Kundschaft ganz vorne dabei zu sein.<br />
Zu den Auslösern des knapp zwei Jahrzehnte anhaltenden<br />
SUV-Booms zählt sicherlich die M-Klasse (die als Modellbezeichnung<br />
immer ML trug, weil das M schon für BMW reserviert war):<br />
1997 war die M-Klasse (W163) jedenfalls das erste deutsche<br />
Premium-SUV. Gerade hat Mercedes die dritte Generation seines<br />
Millionsellers gründlich überarbeitet und in GLE umbenannt;<br />
zu den Highlights der intern W166 genannten, ab September verfügbaren<br />
Baureihe gehören neben einer dynamischeren Frontund<br />
Heckpartie umfangreiche motorische Massnahmen, die<br />
hinsichtlich Emissionen und Antrieb neue Bestwerte ermöglichen.<br />
Ausserdem ist der GLE 500 e 4matic der erste Plug-in-Hybrid in<br />
der SUV-Historie des Hauses. Er wird die geringen Verbrauchswerte<br />
des Effizienzchampions GLE 250 d mit Vierzylinder-<br />
Dieselmotor nochmals unterbieten – und dabei die Leistungsfähigkeit<br />
eines V8-Modells erreichen. Überlegene Fahreigenschaften<br />
on- wie offroad, ein üppiges Platzangebot und die hohe<br />
aktive und passive Sicherheit sind weitere Vorteile des neuen<br />
GLE. Das obere Ende markieren die Versionen Mercedes-AMG<br />
GLE 63 4matic und GLE 63 S 4matic mit 550 respektive 577 PS.<br />
Klassenlose M-Klasse: Auf sie fährt seit 1997 ein Millionenpublikum<br />
ab. Die nunmehr dritte Auflage (oben) heisst GLE und ist auch als<br />
Coupé verfügbar (unten)<br />
Anfang Jahr feierte ausserdem das GLE-Schwestermodell GLE<br />
Coupé (C292) seine Weltpremiere. Mit ihm will Mercedes mehr<br />
Sport wagen: Statt robuster SUV-Linien dominieren eher sportliche<br />
Zweitürer-Gene, die in fliessenden Seitenlinien, dem gestreckt-flachen<br />
Greenhouse, einem markanten Kühlergrill und<br />
der eigenwillig-flachen Heckgestaltung zum Ausdruck kommen.<br />
Zur Markteinführung Ende Juli steht das GLE Coupé mit einer<br />
Leistungsbreite von 258 bis 367 PS als Diesel- oder Benzinmodell<br />
zur Verfügung. Das Topmodell GLE 450 AMG repräsentiert<br />
dabei erstmals eine neue Produktlinie – die AMG-Sportmodelle.<br />
Immer an Bord sind hier ein Fahrdynamik- und diverse Assistenzsysteme,<br />
die Sport-Direktlenkung, das neunstufige Automatikgetriebe<br />
9G-Tronic und der permanente Allradantrieb 4matic.<br />
Als «Top of the Line» steht das Mercedes-AMG GLE 63 Coupé<br />
als besonders kraftvolle Interpretation eines viertürigen<br />
SOMMER 2015 107
EVOLUTION<br />
Hoch das Bein: So gross der GL auch ist, so offroadtauglich ist er auch. Bis zu sieben Personen kommen hier ganz locker vom rechten Weg ab<br />
S-Klasse fürs Grobe: Ab Ende Jahr<br />
wird aus dem stattlichen GL ein GLS<br />
Coupés bereit, dessen starkes Herz, der AMG-5,5-Liter-V8-<br />
Biturbomotor mit 577 PS, im S-Modell mit 585 PS noch schneller<br />
schlägt. Ein Fahrwerk mit einer aktiven Wankstabilisierung<br />
namens Active Curve System und die sehr direkte Servosportlenkung<br />
bieten perfekte Voraussetzungen für ein hochdynamisches<br />
Onroad-Fahrerlebnis – die heckbetonte Kraftübertragung<br />
des Allradantriebs tut ein Übriges.<br />
Der grosse GL, der ab Ende Jahr GLS heissen wird, verkörpert<br />
mit 5,12 Meter Länge dagegen das Beste aus zwei Welten –<br />
echte Offroad-Tauglichkeit mit Luxusyacht-artigem Strassenkomfort.<br />
Die Rücksitze beispielsweise klappen auf Knopfdruck<br />
um und – das ist noch besser – auch wieder in ihre ursprüngliche<br />
Position zurück. Die Lenkradheizung wärmt bei klammen<br />
Tagen und eine Sitzbelüftung kühlt bei heissen, dazu kommt<br />
eine Rückenmassage in mehreren Funktionen und vorwählbaren<br />
Stufen. Kurz: Dieser Strassenkreuzer macht seinen bis zu sieben<br />
108 <strong>VECTURA</strong> #15
RUBRIKEN<br />
Solide bis ins Mark: Wer ein Auto zum Vererben sucht – hier ist es. Das G-Modell ist im<br />
Gelände eine Klasse für sich – und war 2014 sogar als 6x6 Pick-up zu haben<br />
bequem sitzenden Insassen viel Freude – aber nicht unbedingt<br />
Freunde. Denn wenn man in Städten um geparkte Autos herumkurvt,<br />
geht der Gegenverkehr schon 100 Meter weiter respektvoll<br />
in die Eisen. Auch der Flirt-Faktor in einem X166 tendiert stark<br />
gen null, denn in diesem Auto wird man nicht gegrüsst – ausser<br />
vielleicht von GL-Fahrerinnen, die einen wissend anlächeln nach<br />
dem Motto: Naaa, auch schon im Parkhaus gewesen heute und<br />
ohne Beulen wieder rausgekommen? Respekt – das ist es, was<br />
GL-Lenkern entgegengebracht wird. Weil sie offensichtlich sehr<br />
gut Auto fahren können. Weil sie eine riesige Familie haben<br />
müssen. Viel Geld. Und – am allerwichtigsten – Selbstbewusstsein.<br />
Wer das alles mitbringt, wird kaum ein besseres Auto<br />
finden. Die «Kraft der Gelassenheit» gibt es in vier Versionen, angefangen<br />
bei einem erstaunlich sparsamen, 255 PS leistenden<br />
Dreiliter-V6-Turbodiesel über ausgesprochen leistungsstarke,<br />
aber auch durstige Benziner mit sechs (ab 329 PS) oder acht<br />
Zylindern bis 5,5 Liter Hubraum und 550 PS.<br />
Aus der neuen SUV-Nomenklatur im Zeichen des Sterns schert<br />
nur einer aus, der das schon seit 36 Jahren tut – der G (siehe<br />
<strong>VECTURA</strong> #4). Er trug den stolzen Buchstaben-Namen schon,<br />
als dies im Hause Mercedes allenfalls S und SL durften, und wie<br />
diese hat er sich mit einer Beharrlichkeit zur automobilen Ikone<br />
entwickelt, die seine Väter wohl am meisten überraschte. Um<br />
den angekündigten Tod aber nicht nur einmal, sondern immer<br />
wieder zu überleben, musste der G-Wagen seinen Charakter im<br />
Laufe der Jahre drastisch verändern, ohne sich das äusserlich<br />
anmerken zu lassen. Begonnen hatte es einst mit einem recht<br />
müde motorisierten und spartanisch ausgestatteten Militär- und<br />
Jagdmobil, das es bis zum Jahr 2000 nicht nur als Puch G gab,<br />
sondern zwischen 1981 und 88 auch als anders motorisierte<br />
Peugeot-Variante namens P4 VLTT (Voiture Légère Tous Terrains).<br />
Diese rustikalen, im Gelände aber auch sehr fähigen Fahrzeuge<br />
begeisterten auf dem Zivilmarkt allenfalls Sahara-Durchquerer<br />
und Anden-Eroberer, doch häuften sich Anfragen nach besser<br />
ausgestatteten Varianten.<br />
So entstand neben dem Nutzmodell W460 ab 1990 eine W463<br />
genannte Variante, die dort feine Teppiche oder Leder trug und<br />
trägt, wo es beim Urmodell nur blankes weiter auf Seite 114<br />
SOMMER 2015 109
110 <strong>VECTURA</strong> #15<br />
EVOLUTION
Wo Bergsteiger ihre Eisen rausholen, da<br />
fährt der 4x4 2 einfach weiter. V8-Power<br />
und Portalachsen machen es möglich<br />
SOMMER 2015 111
AHNENFORSCHUNG<br />
EIN STERN AUF EXTRATOUR<br />
77 JAHRE MERCEDES-ALLRAD-GESCHICHTE:<br />
SCHON 1938 GING ES AB INS GELÄNDE<br />
Die aktuellen Mercedes-SUV haben einen langen Stammbaum.<br />
Der erste kräftige Zweig war der G5, der im Oktober<br />
1938 auf der Motor-Show in London als «Kolonialund<br />
Jagdwagen» präsentiert wurde, weil das heimische Militär<br />
kein Interesse zeigte. Diese Baureihe W152 (1937–41) hatte Allradantrieb<br />
und eine zuschaltbare Vierradlenkung. Ab Werk gab<br />
es drei Karosserievarianten – einen Militär-Kübelaufbau, einen<br />
Tourenwagen mit Seitenfenstern und tropenfestem Faltverdeck<br />
sowie einen einfacheren Kübelwagen, beispielsweise für den<br />
Polizeieinsatz. Für den Antrieb sorgte ein Zweiliter-Vierzylinder<br />
mit 45 PS bei 3700/min. Der Allradantrieb war mit drei Sperrdifferentialen<br />
ausgestattet und das Getriebe hatte fünf Vorwärtsgänge,<br />
wobei der erste mit einem Untersetzungsverhältnis von<br />
7,22:1 ausschliesslich dem Geländebetrieb vorbehalten war.<br />
Die Handbremse wirkte auf die Kardanwelle, die Räder hatte<br />
man alle einzeln aufgehängt. Die Höchstgeschwindigkeit des G5<br />
betrug Tempo 85 und bei aktivierter Vierradlenkung sollen laut<br />
Betriebsanleitung 30 km / h nicht überschritten werden. Trotz des<br />
Variantenreichtums und seiner technischen Perfektion blieb der G5<br />
eine Randerscheinung; insgesamt wurden nur 378 Stück gebaut.<br />
Laut Mercedes der erste Allrad-Pw der Welt: Dernburg-Wagen von 1907<br />
1903 schuf Paul Daimler<br />
einen ersten Personenwagen<br />
mit Vierradantrieb<br />
Innovative Daimler-AWD-Zugmaschine (oben) mit Vierrad -<br />
lenkung, Baujahr 1919. Unten: achträdriger,<br />
schwimmfähiger Mannschaftstransporter MTw1 von 1928<br />
112 <strong>VECTURA</strong> #15
Ob das Luxus-Cabriolet G4 mit Reihenachtzylinder und zwei Hinterachsen<br />
oder der G5 Bergwachtwagen: An technischen Ideen hat es<br />
Mercedes nie gemangelt<br />
Noch weiter zurück reicht die Geschichte der Allrad-Pw: Schon<br />
1903 schuf Paul Daimler, der Sohn des Firmengründers, eine<br />
erste Konstruktion mit Allradantrieb. 1907 entstand dann der<br />
Dernburg-Wagen für Fahrten in Afrika – auf Basis eines Lw,<br />
aber als Personenwagen konzipiert. Ab 1934 wurde der mächtige<br />
sechsrädrige Personenwagen G4 (Baureihe W31) im Werk<br />
Untertürkheim gebaut. Die Kraftübertragung auf die beiden<br />
hinteren Starrachsen erfolgte per Kardanwelle; für gute Geländegängigkeit<br />
sorgten zwei Sperrdifferentiale; die Steigfähigkeit bei<br />
voller Belastung betrug 43 Prozent. Insgesamt entstanden mit<br />
allen Motorvarianten bis 1939 immerhin 57 Exemplare.<br />
Darüber hinaus hatte und hat das Unternehmen immer geländetaugliche<br />
Nutzfahrzeuge im Angebot – vom legendären Unimog<br />
über Lastwagen bis hin zu Lieferfahrzeugen wie Vito und Sprinter.<br />
Aber das ist ein ganz anderes Kapitel. jk<br />
Zwischen dem ersten Unimog (oben) und der M-Klasse (re.) liegen<br />
fast 50 Jahre. Seither sind 4x4 nicht mehr nur Nutzfahrzeuge, sondern<br />
auch Lifestyle-Mobile<br />
SOMMER 2015 113
EVOLUTION<br />
Blech und Plastik hatte. Dazu gesellte sich mehr Leistung. Was<br />
dagegen blieb, waren das kantige Äussere, der Hardcore-Leiterrahmen<br />
sowie die konkurrenzlose Offroad-Performance mit<br />
permanentem Allradantrieb, Geländeuntersetzung und drei nun<br />
elektronisch während der Fahrt schaltbaren Differentialsperren.<br />
Das heutige Einstiegsmodell, falls der Begriff hier passt, reisst<br />
als G 350d nach der jüngsten Leistungskur mit 245 PS und<br />
600 Nm so an, wie sich das zu Zeiten des Ur-Diesel 240 GD<br />
mit 72 PS niemand hätte ausdenken können. Darüber rangiert<br />
Technik von AMG: Der neueste G500 trägt den V8 Biturbo des<br />
AMG GT, hier allerdings «nur» mit 422 PS und einem Drehmoment<br />
von 610 Newtonmeter. Es geht freilich noch mehr: Als AMG G 63<br />
stehen aktuell 571 PS und 760 Nm zur Verfügung, während es der<br />
AMG G 65 V12 gar auf 630 PS und 1000 Nm bringt.<br />
Abschied von der Kante: Mit dem Rückzug des GLK<br />
beginnt formal eine neue Ära. Und das GLC Coupé<br />
hat gute Chancen auf den Preis «schönster Rücken»<br />
Den 6,3-L-V8 gab es 2014 mit 544 PS auch als Hardcore-G<br />
namens 6x6, was schon alles sagt. Mit 5,88 Meter Länge und<br />
einem Preis von 550 000 Franken ist er der G-Spot unter den<br />
Geländewagen und wird wohl auch der ultimative Gipfel des<br />
G-Wesens bleiben; man hat ihn genau 150 Mal gebaut und auch<br />
verkauft. Das jüngste Extrem-Modell heisst G500 4x4 2 und stand<br />
in Genf – der passende G für Beverly Hills ist satte 2,25 Meter<br />
hoch und 2,1 m breit. Angetrieben vom neuen Vierliter-V8, garantieren<br />
Portalachsen und 45 Zentimeter Bodenfreiheit selbst in<br />
den ungastlichsten Gegenden sicheres Fortkommen. Das Auto<br />
kommt im September und hat seinen Preis; rund 350 000 Franken<br />
werden nicht dementiert.<br />
Das war’s dann aber mit der klaren Kante innerhalb der aktuellen<br />
Mercedes-SUV-Parade. Der kurz bevorstehende Abschied vom<br />
2008 eingeführten GLK (X204) beraubt der Baureihe zudem das<br />
K, weil der ab Sommer verfügbare Nachfolger GLC (X253) fortan<br />
auch nominell jener Baureihe zugeordnet wird, der er auch technisch<br />
angehört. Wohin die Reise stilistisch geht, demonstrierte<br />
im April das Concept GLC Coupé auf der Automesse in Shanghai:<br />
Diese besonders dynamische Modell-Spielart wird – Achtung,<br />
Range Rover Evoque! – ebenfalls in Serie gehen und Mitte<br />
2016 erwartet. Das mit 4,73 Meter Länge unterhalb des GLE angesiedelte<br />
Auto macht richtig Lust, sofort einzusteigen und loszufahren<br />
– und auch deutlich, dass Mercedes beim Ausbau seines<br />
SUV-Portfolios künftig nicht lockerlässt. Bereits heute gibt<br />
es keinen anderen Hersteller mit einem grösseren Geländewagen-<br />
und Softroader-Angebot. Rechnet man den 2016 erwarteten<br />
Lifestyle-Pick-up auf Nissan-NP300-Basis (er kommt als Doppelkabine<br />
und soll GLT genannt werden) sowie die SUV-Version des<br />
Smart Forfour hinzu, von der immer wieder gemunkelt wird, dann<br />
hat die Daimler AG bald neun unterschiedliche Geländewagen<br />
und -sportler im Programm.<br />
114 <strong>VECTURA</strong> #15
Alfa Romeo mit<br />
Carbon-Monocoque, Aluminium-Chassis und eine perfekte Balance. Pur Alfa Romeo.<br />
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KLARTEXT<br />
«DER SUV-MARKT WÄCHST WELTWEIT»<br />
LOTUS-CHEF JEAN-MARC GALES SPRICHT ÜBER DEN NEUEN EVORA, DIE ZUKUNFTSSTRATEGIE DER<br />
MARKE UND DEN ALLRADLER FÜR ASIEN, DER 2019 KOMMT<br />
Fragen map · Fotos Wale Pfäffli<br />
Herr Gales, das Lotus-Portfolio besteht aus einer über 20-<br />
jährigen Konstruktion und einem Topmodell, das in den letzten<br />
Jahren viel Abstand zum Wettbewerb gewonnen hat. Mit<br />
dem Evora 400 haben Sie kürzlich eine leistungsgesteigerte<br />
Version präsentiert. Ist das auch die Vision für die Marke? Welchen<br />
mittelfristigen Plan haben Sie?<br />
Ich könnte jetzt antworten, dass einer unserer Stuttgarter Wettbewerber<br />
seit 50 Jahren ein Auto kontinuierlich weiterentwickelt.<br />
Genau das machen wir auch. Den Evora allerdings als Weiterentwicklung<br />
zu bezeichnen, wäre zu kurz gesprungen. Das Auto ist zu<br />
zwei Dritteln neu, es hat 406 PS und wir haben nicht nur die Leistung<br />
massiv gesteigert, sondern auch das Gewicht deutlich reduziert.<br />
Mehr Power bedeutet immer auch mehr Masse – grössere<br />
Bremsen, Räder oder einen Kompressor. Trotzdem haben<br />
wir es geschafft, den Evora um 22 Kilo leichter zu machen. Fahrdynamisch<br />
ist er eine Klasse für sich und beschleunigt jetzt in 4,2 Sekunden<br />
auf Tempo 100, was in dieser Leistungsklasse sehr sehr gut<br />
ist. Das Auto geht auch 300 und vor allem – auf unserer Teststrecke<br />
in Hethel ist es sechs Sekunden schneller als sein Vorgänger. Auch<br />
das Konstruktionsprinzip ist moderner denn je – ein verklebtes Alu-<br />
Chassis wie im Flugzeugbau, gewichtsmässig absolut vergleichbar<br />
mit Karbon, aber nur ein Viertel so teuer! Und dazu kompatibel mit<br />
allen unseren drei Baureihen Evora, Exige, Elise; wir setzen nur verschiedene<br />
Composite-Karosserien oben drauf. Ganz im Sinne von<br />
Firmengründer Colin Chapman haben wir unsere Fahrzeuge komplett<br />
auseinandergenommen: Wenn Sie mal nach Hethel kommen,<br />
werden Sie dort einen riesigen Raum vorfinden …<br />
… das Lightweight Lab.<br />
Jaa! Und in diesem Lab liegen alle Komponenten unserer Autos<br />
auf Tischen – mit einem kleinen Preisschild und der Gewichtsangabe.<br />
Wir haben uns jedes Teil genau angesehen und es entweder<br />
neu konstruiert, um es zu vereinfachen. Oder neu verhandelt,<br />
um es kostengünstiger zu machen. Oder einfach fallen<br />
gelassen. Diese Methode hat es uns erlaubt, die Autos leichter<br />
zu machen, denn sie haben konstruktiv noch viel Leben in sich.<br />
Der nächste Exige wird bis Ende 2016 ähnlich überarbeitet werden<br />
wie der Evora – viel stärker, mit dem gleichen Motor, aber<br />
auch viel leichter. 15 Kilo werden wir schaffen.<br />
Wo gewinnen Sie denn die meisten Pfunde – im Chassis?<br />
Da werden wir sicher sieben, acht Kilo holen. Und die 17-Kilo-Batterie<br />
durch ein 12-Kilo-Modell ersetzen. Im Exige wollen wir sogar<br />
eine Lithium-Ionen-Batterie anbieten, die nur fünf Kilo wiegt.<br />
Sitze, Sitzschienen – auch hier kann man noch zwei, drei Kilo<br />
herausnehmen. Der Exige hat heute Gussräder; mit Schmiederädern<br />
sind zwei Kilo pro Rad machbar. Sie sehen: Wenn man<br />
Kilo sucht, findet man die auch – muss man die finden, weil das<br />
Auto ja den etwas schwereren Motor erhält.<br />
Wo Sie Kilo finden, entstehen auch Mehrkosten. Lotus war<br />
nie eine Billigmarke; welche Preise muss man sich künftig<br />
vorstellen?<br />
Es ist uns gelungen, die Herstellungskosten des Evora um zehn<br />
Prozent zu senken.<br />
116 <strong>VECTURA</strong> #15
Jetzt also auch Lotus – und so stellt sich Mark Stehrenberger die dritte Baureihe für uns vor<br />
Aber er wird dadurch nicht zehn Prozent günstiger.<br />
Nein, weil das Auto ja jetzt viel stärker ist und Kunden genau<br />
dafür bezahlen. Aber der Evora ist im Wettbewerb sehr gut positioniert;<br />
er kommt Ende August und wird ab 92 000 Franken<br />
kosten. In den USA starten wir dann Ende Jahr.<br />
Bisherige Evora-Versionen wird es nicht mehr geben?<br />
Der 400 ersetzt sie komplett. Wir hatten ja den 280er, aber der<br />
hat sich nicht bewährt und am Ende seiner Laufbahn deutlich<br />
schlechter verkauft als der 350er. Das Fahrwerk verkraftet<br />
400 und mehr PS problemlos. Wir haben noch etwas anderes<br />
gemacht: die Alltagstauglichkeit verbessert, denn das ist wichtig<br />
für künftige Kunden. Der Schweller ist jetzt tiefer, man steigt einfacher<br />
ein und aus. Auch die Klimatisierung wurde massiv überarbeitet;<br />
jetzt heizt man im Winter und kühlt im Sommer, was<br />
vorher nicht immer der Fall war. Die Instrumente sind ablesbarer<br />
und viel ergonomischer gestaltet, was vor allem im täglichen<br />
Umgang viel Freude macht.<br />
Denken Sie darüber nach, bestimmte Produktionsprozesse<br />
künftig auszulagern?<br />
Wir werden weiterhin in Hethel produzieren und ein klares Bekenntnis<br />
zum Standort Norwich abgeben. Als ich kam, wurden<br />
1300 Autos gebaut – viel zu wenig! Jetzt sind wir bei 50 die Woche<br />
und werden uns bis Ende Jahr auf 70 steigern. Wir haben<br />
zuerst die Belegschaft reduziert, weil es zu viele Ingenieure und<br />
Personal in indirekten Bereichen wie Einkauf, Finanz, Personal<br />
gehabt hat. Wir werden allerdings in den kommenden Monaten<br />
wieder 150 neue Leute einstellen, vor allem in der Fertigung,<br />
um mehr Autos bauen zu können. Wir sind bei sechs Evora die<br />
Woche und wollen auf 30 kommen.<br />
Das wären dann wieder über 1000 Beschäftigte.<br />
Wir werden wieder über 1000 gehen, jawohl. Wir waren bei 1200<br />
und gehen auf rund 1100, und das mit einer anderen Zu sam -<br />
mensetzung.<br />
10 000 Fahrzeuge pro Jahr haben Sie als Hausnummer genannt;<br />
reichen 1100 Mitarbeiter?<br />
Diese Zahlen haben wir nie bestätigt; sie sind langfristig sicherlich<br />
ein Ziel für jeden Hersteller, der in einer Nische lebt. Mittelfristig<br />
wollen wir zunächst einmal auf 3000 Autos kommen; das<br />
Geschäftsjahr läuft bei uns von April 2015 bis März 2016. Im<br />
letzten Jahr haben wir über 2000 geschafft, was ein Fortschritt war.<br />
Bis März 2017 wollen wir dann wieder schwarze Zahlen schreiben,<br />
die Produktion auf 4000 Einheiten steigern und diesen Level<br />
für eine gewisse Zeit halten. Weiteres Wachstum geht nur mit<br />
neuen Modellen und wir überlegen derzeit, welche das sein könnten.<br />
Ich schliesse dabei weder eine Karosserieform noch ein Fahrzeugsegment<br />
aus.<br />
Ein SUV für Asien ist der gangbarste, auch finanziell interessanteste<br />
Weg. Auch einer, der zur Lotus-Geschichte passt,<br />
wenn man an Talbot Sunbeam zurückdenkt – vielleicht unter<br />
etwas glücklicheren Vorzeichen?<br />
Das ist sicherlich ein gangbarer Weg. Zudem liegt der SUV-Markt<br />
weltweit bei zehn Prozent und steigt, vor allem in Asien. Und wir<br />
werden einen SUV anbieten, der sich deutlich von dem unterscheidet,<br />
was man heute in diesem Segment sieht.<br />
Wie wird das Fahrzeug denn aussehen?<br />
Die meisten SUV sind heute sehr gross und schwer. Der Lotus-<br />
SUV wird niedriger, mit Sicherheit deutlich leichter, sieht sehr gut<br />
aus und wird im Bereich Handling Benchmark sein. Das ist unsere<br />
DNA und die wollen wir behalten.<br />
Leichtbau und Simplicity – das sind Ihre Steckenpferde, habe<br />
ich gelesen. Und dass Sie immer schon Lotus-Fan gewesen<br />
sein sollen.<br />
Ja.<br />
Ist Einfachheit in einer immer komplexeren Autowelt mit immer<br />
höheren Sicherheitsanforderungen überhaupt noch möglich?<br />
Mit niedrigem Gewicht?<br />
Unsere Autos erfüllen alle gängigen Vorschriften, auf jeden Fall.<br />
Wir haben jetzt Reifendrucksensoren in allen Modellen, der Evora<br />
400 ist der erste Lotus mit Seitenairbags und allen intelligenten<br />
Sensoren, die wir für den US-Markt brauchen werden. Der Jahrgang<br />
2016 ist ein Weltauto, das wir überall verkaufen können –<br />
was beweist, dass sich Sicherheitsnormen und Leichtbau nicht<br />
ausschliessen.<br />
Für Weltautos brauchen Sie natürlich auch einen Motorlieferanten.<br />
Wird es bei der Kooperation mit Toyota bleiben?<br />
SOMMER 2015 117
KLARTEXT<br />
Wird es Änderungen im Design geben?<br />
Der neue alte Designer heisst Russell Carr.<br />
Zur Vertriebsstruktur: Sie sind derzeit bei rund 180 Händlern<br />
und wollen bis Ende 2015 auf 200 kommen. Reicht das?<br />
Nein, das wird nicht ausreichen. Wir waren Mitte 2014 bei 138<br />
Händlern, hatten jedoch keine in Paris, London, Madrid, Berlin,<br />
Mexiko, den Philippinen. Und waren in vielen Hauptstädten überhaupt<br />
nicht vertreten, was wir gerade ändern.<br />
Hoffnungsträger: der neue Evora 400<br />
Ja, die Zusammenarbeit ist sehr gut und erfolgreich. Was auch<br />
Ihre vorhin gestellte Frage neu beantwortet: Es wäre für Lotus kein<br />
gangbarer Weg, selbst Motoren zu entwickeln. Den 3,5-Liter-V6<br />
im neuen Evora haben wir allerdings mit unserem eigenen Kompressor<br />
und Motormanagement beflügelt.<br />
Ist das die Spitze des Eisberges?<br />
Nein, aus dem Hubraum kann man noch mehr rausholen (lächelt).<br />
Es kommt ja ein Cup-Modell …<br />
Zuerst werden wir nächstes Jahr eine offene Version anbieten,<br />
die sehr viel Sinn macht, vor allem in den USA, wo die Hälfte aller<br />
Supersportwagen dachfrei ist. Erst dann folgt eine noch leichtere<br />
Cup-Version, bei der wir ein paar Extra-PS eingeplant haben.<br />
Motorsport, Markencup – sind das Themen für Sie? Vielleicht<br />
mit externen Partnern?<br />
Das haben wir auf jeden Fall auf dem Schirm. Es passt zu Lotus,<br />
und unsere Motorsportabteilung wird sich auf verschiedene<br />
lokale, nationale Markencups konzentrieren – das sind unsere<br />
Fans, die Autos kaufen und die auch fahren, auf der Strecke oder<br />
im Alltag. Endurance ist auch ein Thema für uns, da wollen wir<br />
stärker werden. Ich schliesse nicht aus, dass Sie uns ab 2016<br />
wieder bei einigen 24-Stunden-Rennen sehen werden. Das ist<br />
eine gute und relativ preiswerte Form, Motorsport zu betreiben<br />
und eine hohe Aufmerksamkeit zu erzielen.<br />
Und eine schöne Verbindung in die Vergangenheit, genauso<br />
wie Kunststoffkarosserien. Blech, der favorisierte Werkstoff<br />
Ihres Vorgängers Bahar, ist gar kein Thema mehr?<br />
Nein, kein Thema mehr. Bei dem geklebten Chassis sind wir eindeutig<br />
führend und beim Kunststoff werden wir noch einen Schritt<br />
weiter gehen mit einer niedrigeren Dichte bei sehr hoher Festigkeit<br />
– etwas, das erst seit drei, vier Jahren möglich ist. Das, vor<br />
allem bei den Leichtbaumodellen, ist wieder typisch Lotus. Man<br />
sieht es auch beim Wettbewerb, der zunehmend in diese Richtung<br />
geht; wir hatten viele Nachfragen zu dieser Technologie.<br />
Das bestätigt uns in unserem Tun.<br />
Ist der Alfa Romeo 4C momentan der bessere Elise?<br />
Die Presse sagt Nein: In den mir bekannten vier Vergleichstests<br />
hat jeweils der Elise gewonnen. Dem ist von meiner Seite wenig<br />
hinzuzufügen. Natürlich nehmen wir jeden Wettbewerber ernst<br />
und werden das auch weiterhin tun. Aber wenn eine alte Konstruktion<br />
in der Lage ist, ein modernes Auto zu schlagen, hat man<br />
wohl alles richtig gemacht. Wir werden allerdings nicht aufhören<br />
und den Elise natürlich weiterentwickeln.<br />
Das sind dann Mehrmarkenhändler?<br />
Das sind Mehrmarkenhändler, die aber eine sehr hohe Lotus-<br />
Begeisterung mitbringen.<br />
Gibt es eine Unterscheidung zu Exklusivhändlern?<br />
Nein, ich bin froh um jeden Händler, der grün-gelbes Blut hat<br />
und uns vertreten wird. Wir sind sehr glücklich darüber, dass wir<br />
in Paris und London Partner gefunden haben, die uns jetzt dort<br />
repräsentieren. Vor allem London, wo wir nach fünf Jahren zurückkommen,<br />
ist wichtig für uns, der Markt ist wichtig für Lotus.<br />
UK ist Kernmarkt …<br />
Derzeit auf Platz 3 nach Japan und den Vereinigten Staaten. Wir<br />
hatten in England elf Händler, sind jetzt bei 17 und wollen auf<br />
20 hoch. Das ist wichtig; Interessenten wollen das Auto sehen<br />
und probefahren. Und 30 Prozent kaufen dann – das sind viel mehr<br />
als bei anderen Marken. 2017 wollen wir weltweit über 300 Händler<br />
verfügen. Das Vertrauen, das uns von Kunden und Partnern<br />
entgegengebracht wird, ist faszinierend.<br />
Sie bieten jetzt ein Drei-Jahre-Sorglospaket inklusive Service<br />
an. Wird es ein «Certified»-Programm für Occasionen geben?<br />
Das Programm ist fertig entwickelt, wir suchen nur noch nach einem<br />
geeigneten Zeitpunkt, um es in diesem Jahr zu lancieren, aber<br />
es kommt in Kürze. Ich bin davon überzeugt, dass man das braucht.<br />
Das Gute an Lotus ist ja auch, dass die Restwerte extrem hoch<br />
sind; in England sind wir da sogar auf Platz 1. Lotus fahren macht<br />
also nicht nur Spass – es ist auch eine gute Wertanlage.<br />
Was für eine Vita: Jean-Marc Gales, Jahrgang 1962, ist seit Mai 2014 Lotus-<br />
Chef. Er folgte auf Dany Bahar, der die britische Marke komplett neu aufstellen<br />
wollte und viel Geld ausgab, wofür er schliesslich vom malaysischen Markeninhaber<br />
Proton, der wiederum zur DRB-HICOM Group gehört, gefeuert wurde.<br />
Gales ist geholt worden, um die Stagnation möglichst rasch zu beenden und<br />
Lotus fit zu machen für eine hoffentlich vielversprechende Zukunft. Zuvor arbeitete<br />
der gebürtige Luxemburger, der in London Management und in Karlsruhe<br />
Maschinenbau studiert hat, knapp zwei Jahre als CEO des europäischen Zuliefererverbandes<br />
CLEPA (European Association of Automotive Suppliers). Zwischen<br />
März 2009 und 12 war Gales bei PSA Peugeot Citroën (zuerst als Citroën-<br />
Direktor, später als Präsident), verantwortete davor drei Jahre lang den weltweiten<br />
Mercedes-Vertrieb, hatte zwischen 2003 und 06 verschiedene Positionen<br />
bei General Motors inne, gehörte von 2001 bis 03 als Marketing- sowie Flottenverkaufs-Direktor<br />
dem Volkswagen-Konzern an und ist davor ein Jahr lang in<br />
ähnlicher Position bei Fiat gewesen. Begonnen hat seine Karriere aber 1998 bei<br />
VW, wo er bis Anfang 2000 das strategische Marketing betreut hat. Gales ist<br />
verheiratet und Vater einer Tochter. map<br />
118 <strong>VECTURA</strong> #15
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<strong>VECTURA</strong>MAG.CH
120 <strong>VECTURA</strong> #15
FAHRTERMIN<br />
KRAFT<br />
MAL<br />
VIER<br />
DER NEUE XC90 FÄHRT<br />
ENDLICH VOR – UND IST<br />
VOLVO XXL, ABER OHNE<br />
ALLZU VIEL POMP ODER<br />
BLING-BLING. DENN DER<br />
GROSSE SCHWEDE<br />
TRÄGT SEINEN FEINEN<br />
PELZ NACH INNEN, WIE<br />
WIR BEREITS ERLE-<br />
BEN DURFTEN. ALS<br />
OFFROADER FÜR<br />
SCHWERES GELÄNDE<br />
IST ER ALLERDINGS<br />
NICHT GEDACHT<br />
Text map, Jo Clahsen<br />
Fotos Christian Bittmann<br />
SOMMER 2015 121
122 <strong>VECTURA</strong> #15<br />
FAHRTERMIN
SOMMER 2015 123
124 <strong>VECTURA</strong> #15
FAHRTERMIN<br />
Lange haben Markenfans auf diesen Gegenentwurf unter<br />
den SUV gewartet, nun steht er tatsächlich und leibhaftig<br />
vor uns. Was für ein Wagen: stattliche 4,95 Meter lang,<br />
über 1,9 Meter breit und knapp 1,8 Meter hoch. Gewaltig ist er,<br />
der neue XC90 von Volvo. Und mit mindestens 1,9 Tonnen Leergewicht<br />
auch ein recht massiver Bursche. Da, so die konditionierte<br />
Denkweise, sollte es unter der Haube tüchtig rumoren. Tut<br />
es aber nicht, denn durch die ganze, übrigens selbst entwickelte<br />
und auch produzierte Motorenpalette hindurch sind maximal vier<br />
Zylinder an Bord. Plus ein Bi-Triebwerk mit zusätzlichen 80 E-PS<br />
im Plug-in-Hybrid. «Pffff», mag da mancher Kaufinteressent sagen.<br />
Aber nur, wenn er noch nie eingestiegen ist …<br />
Alain Visser, als Senior Vice President Marketing bei Volvo für die<br />
passenden Botschaften zuständig, gesteht, dass «wir grossen<br />
Respekt vor den deutsche Premium-Herstellern Mercedes, BMW<br />
und Audi haben. Aber genau in dieses Segment wird Volvo in<br />
den nächsten Jahren eindringen». Der XC90 signalisiere Volvo<br />
Premium und sei komplett «Made in Sweden». Wir unterschreiben<br />
das ausnahmsweise: Die Verarbeitungsqualität ist wirklich<br />
erstklassig. Fahrwerk, Drivetrain und Karosserie, aber auch eine<br />
neue Produktarchitektur (siehe <strong>VECTURA</strong> #8) weisen auf direktem<br />
Weg in Richtung Zukunft. Auch beim Design will Volvo punkten;<br />
auffälligstes Merkmal ist ein LED-Tagfahrlicht, das wie Thors<br />
Hammer die gesamten Frontscheinwerfer durchzieht. Oder der<br />
neue Grill mit senkrechten Chromleisten und einem signifikanteren<br />
Markenlogo.<br />
Wir boarden inzwischen: Man reicht uns zuerst das 400 PS starke<br />
Topmodell T8, eben jenen benannten Hybrid. Komplexe Technik,<br />
von der man nichts sieht. Bedient und gelenkt aus einem nordisch<br />
klaren Innenraum, in dem gerade mal acht Schalter und<br />
Knöpfe zu sehen sind (ausserhalb der Digital-Instrumente werden<br />
Zusatzinformationen in die Windschutzscheibe eingespiegelt).<br />
Eine solche Bedien-Askese gab es zuletzt vor Jahrzehnten<br />
in einer alten, analogen, fast vergessenen Zeitrechnung. In<br />
unserer reizüberfluteten Multimedia-Gegenwart wirkt das bestens<br />
isolierte Cockpit wie eine Wellness-Oase der Ruhe und<br />
Erholung, fällt die «Schnell-noch-meine-Mails-checken»-Nervosität<br />
von den Insassen ab.<br />
Obwohl auch das vortrefflich geht im Volvo-Topmodell. Hinter<br />
dem zentralen, hochkant angeordneten Touch-Display von<br />
der Grösse eines Maxi-iPad versteckt sich das World Wide<br />
Web mit all seinen Verlockungen, eröffnen sich neue Perspektiven.<br />
Alternative Routen- und Restaurant-Empfehlungen sind<br />
da fast schon Banalitäten, die Funktionen sind vielfältig, die<br />
Menu-Strukturen dank Home-Button selbsterklärend. Ein wenig<br />
«over-done» muten da höchstens der wahlweise aus Kristallglas<br />
gefertigte Schalthebel oder ein Startknopf (jetzt zum<br />
Drehen statt zum Drücken) an, aber hey: Jeder Hersteller versucht<br />
schliesslich, seinen Fahrzeugen eine individuelle Note<br />
zu verleihen. Und die Volvo-Atmosphäre ist eine sehr dezente,<br />
behutsame, ja rücksichtsvolle.<br />
Dazu passen die verfügbaren aktiven und passiven Insassensowie<br />
Fussgängerschutzsysteme, auf die wir noch eingehen<br />
werden. Und die Lautlosigkeit, mit der sich der Plug-in-Hybrid in<br />
Bewegung setzt. Beeindruckend, wie leichtfüssig sich der XC90<br />
bewegen lässt! Aus zart wird allerdings ganz schnell hart, wenn<br />
per Kick-down die gesamte Kraft auf die Strasse zitiert wird – und<br />
auch das fasziniert! Denn das Beben der «Gas Guzzler» bleibt<br />
aus, der Schub ist linear, aber auch sehr nachdrücklich. Angenehm<br />
anders, möchten wir sagen. Bei normalem Tempo können<br />
bis zu 40 Kilometer rein elektrisch zurückgelegt werden, rechnen<br />
uns die Schweden voller Stolz vor.<br />
Das aktuell andere Ende der skandinavischen SUV-Fahnenstange<br />
heisst derzeit noch D5, denn Volvo wird Ende Jahr zwei<br />
weitere Motorisierungen nachreichen – eine davon ist ebenfalls<br />
ein Diesel, der D4 heisst und ab Ende 2015 weniger mit seinen<br />
190 PS als vielmehr dem Frontantrieb und günstigem Einstiegspreis<br />
von unter 70 000 Franken punkten dürfte. Der D5 Biturbo<br />
dagegen hat Allrad permanent und 225 PS; seine wahre Währung<br />
ist aber das satte Drehmoment, welches Berge zu versetzen<br />
scheint. Auch hier ist Sanftheit erfahrbar, denn der Selbstzünder<br />
ist kein Triebwerk für Heizer. Dennoch steht man nie irgendjemandem<br />
im Weg; die Landschaft um das Auto bewegt sich nicht<br />
hektisch, sondern entschlossen und zielorientiert. Mal ehrlich: Ist<br />
das heutzutage nicht die übliche Art der Fortbewegung? Volvo<br />
liegt da genau richtig, dazu kommen angenehm lange Tankstellen-Abstände,<br />
kurzum: Wer noch kein Diesel-Freund ist, könnte<br />
hier zu einem werden.<br />
Ein Geländegänger will und soll<br />
der Super-Volvo nicht sein. Dafür ist er<br />
ganz einfach zu fein, zu wertvoll<br />
Ohnehin wird Performance sekundär, wenn es innen gemütlich<br />
ist und uns das Internet das Autofahren verschönert. Oder<br />
wenn wir – bei Richtgeschwindigkeit und unter Einsatz des adaptiven<br />
Tempomaten – verzückt der Carmina Burana lauschen,<br />
die dank einer Bowers&Wilkins-Anlage so präzise wiedergegeben<br />
wird, dass man in manchen Passagen glaubt, das Anzug-<br />
Rascheln des Dirigenten heraushören zu können. Dies kann<br />
man auch zu siebt tun – zwei weitere Einzelsitze verstecken sich<br />
im Kofferraumboden. Der XC90 eignet sich aber auch als clever<br />
arrangierte Business-Lounge, wenn statt Beifahrersitz eine<br />
multifunktionale Konsole zum Einsatz kommt, die als Beinauflage,<br />
Schreibtisch, Heimkino, Schminkkonsole oder Schuhregal<br />
fungiert (siehe S. 130). Dieses neuartige Komfort-Feature<br />
wurde letzten April anlässlich der Shanghai Motor Show gezeigt<br />
und wird wohl demnächst auch in einer Chauffeurs-Version des<br />
XC90 erhältlich sein.<br />
Orthopädische Sitze mit adaptiven Kopfstützen und Gurtstraffern<br />
gehören selbstredend dazu. Denn wie von den Schweden<br />
gewohnt steht Fahrzeug- und Insassensicherheit an erster Stelle.<br />
Neben den üblichen Verdächtigen wie Tot-Winkel-Assistent, Verkehrszeichenerkennung,<br />
Stau-Assistent, Notbrems-Assistent<br />
City Safety, Überschlagsschutz und dem Querverkehrswarner<br />
beim Rangieren aus Parklücken steht jetzt noch ein System für<br />
Kreuzungen bereit, das automatisch bremst, wenn der Fahrer<br />
zum Beispiel beim Abbiegen in den Gegenverkehr zu fahren<br />
droht. Mit Off Road Protection gibt es auch einen Assistenten,<br />
der den Wagen davon abhält, von der Strasse abzukommen.<br />
Einparken kann der XC90 auch fast alleine: Der Fahrer muss nur<br />
noch Gas und Bremse betätigen, eine 360°-Kamera liefert ein<br />
SOMMER 2015 125
126 <strong>VECTURA</strong> #15
FAHRTERMIN<br />
Hochwertige Materialien, Eleganz, beste<br />
Ergonomie, ein grosser Touchscreen, wenige<br />
Knöpfe und viel Ruhe prägen den Innenraum<br />
SOMMER 2015<br />
127
FAHRTERMIN<br />
TECHNISCHE DATEN VOLVO XC90<br />
Konzept Nach 13 Jahren die zweite Generation des schwedischen Luxus-SUV; Downsizing-Konzept (nur Vierzylinder-Motoren). Selbsttragende Karosserie<br />
mit Hilfsrahmen vorne, 5 Türen, 5 / 7 teils versenkbare Sitzplätze. Zahnstangenlenkung mit Servo, doppelte Dreieckquerlenker vorne, Mehrlenkerachse hinten,<br />
Scheibenbremsen rundum (belüftet). Achtstufen-Automat, permanenter Allradantrieb<br />
Motor Vierzylinder in drei Leistungsstufen (Benziner, Diesel und Benzin-Plug-in-Hybrid) mit Turbo und / oder Kompressor, Intercooler.<br />
Neue Einstiegsmotorisierungen (D4 mit Frontantrieb und 190 PS und T5 AWD mit 254 PS) sind ab Herbst verfügbar<br />
D5 AWD T6 AWD T8 AWD Twin Engine<br />
Hubraum in cm 3 1969<br />
Bohrung x Hub in mm 82 x 93,2<br />
Verdichtung 15,8:1 10,3:1 10,3:1<br />
Leistung in PS (kW) @ U / min 225 (165) @ 4250 320 (235) @ 5700 318 (234) @ 6000 + 82 (60)<br />
Max. Drehmoment in Nm @ U / min 470 @ 1750 – 2500 400 @ 2200 – 4500 400 @ 2200 – 5400<br />
Kraftübertragung<br />
A8<br />
Abmessungen (L/ B / H) in cm 495 / 192,5 / 177,5<br />
Radstand in cm 298,5<br />
Spur vorne / hinten in cm 166,5 / 167,5<br />
Reifen und Räder 235 / 60 R18 auf 8J 265/60 R18 auf 8J 235 / 55 R19 auf 8J<br />
Tankinhalt in L 70 70 50<br />
Kofferraumvolumen in L 315–1895 315 – 1895 315–1870<br />
Leergewicht (ohne Fahrer) in kg 1930 1850 2275<br />
Zulässiges Gesamtgewicht in kg 2630 2630 3010<br />
Leistungsgewicht in kg / PS 8,6 5,8 5,7<br />
0 – 100 km / h in Sek. 7,8 6,5 5,6<br />
Höchstgeschwindigkeit in km / h 220 230 230<br />
Durchschnittsverbrauch* in L / 100 km 5,8 7,7 2,1<br />
CO 2 -Emission in g / km 152 179 49<br />
Energieeffizienzkategorie C F A<br />
Preis ab CHF 74 000.– 78 500.– 99 990.–<br />
* gemessen nach NEFZ: Neuer Europäischer Fahrzyklus<br />
128 <strong>VECTURA</strong> #15
Bild aus der Vogelperspektive und die Elektronik kümmert sich<br />
um die Lenkung. Damit ist Volvo ganz vorne bei Premium dabei,<br />
denn mehr haben auch die deutschen Hersteller in dieser<br />
Preisklasse nicht zu bieten. Die Achtstufenautomatik ist Stand<br />
der Dinge und eine Luftfederung gibt es optional, auch mit fünf<br />
verschiedenen Fahrmodi.<br />
Die Kolonne vor uns bremst unvermittelt, der XC90 verzögert<br />
selbstständig mit ausreichend Abstand und dem Selbstbewusstsein<br />
eines Volvo. Auch das fühlt sich gut an; wenig später steigen<br />
wir wieder um. Diesmal in die goldene Mitte, den ebenfalls doppelt<br />
aufgeladenen T6-Benziner. Und der hat alles – die Seidigkeit<br />
von 95 Oktan, den leichtesten Antriebsstrang und in unserem<br />
Fall auch das Executive-Paket mit vielen der eben erwähnten<br />
Ausstattungen, welche die 48-seitige Optionsliste bereithält.<br />
Derart fein ausstaffiert wagen wir uns von der Strasse auf schwedische<br />
Schotterpisten und durchqueren dabei dichte Birkenhaine,<br />
in denen man Elche vermuten mag. Der Kies spritzt nach<br />
allen Seiten, der T6 schiebt durch die Kurven und lässt sich dabei<br />
sogar ein wenig anstellen. Mit Regenwasser gefüllte Furchen und<br />
selbst unbefestigte Hänge lässt er mühelos hinter sich, während<br />
es uns reut. Gut, es geht, auch die berühmte Skihütte kann sich<br />
im nächsten Winter auf Besuch freuen, der garantiert ankommt.<br />
Indes – ein Geländegänger will und soll der Super-Volvo nicht<br />
sein. Dafür ist er ganz einfach zu fein, zu wertvoll. Er mag Golfbags<br />
transportieren, keine toten Füchse. Als modernster Vertreter<br />
einer Zunft hat man ihn weniger für den Wald als viel mehr<br />
für die Randbezirke unserer Zivilisation konzipiert. Und dort kann<br />
es ja gelegentlich auch recht wild zugehen.<br />
SOMMER 2015 129
NACHGEHAKT<br />
FÜNF FRAGEN AN TOM ANLIKER,<br />
CHEF VON VOLVO SCHWEIZ<br />
Tom, warum ist der XC90 so wichtig für Volvo?<br />
Mit dem neuen XC90 läuten wir eine neue Ära der Firmengeschichte<br />
ein. Er bietet mehr Luxus als jeder Volvo zuvor – und er<br />
stellt den Menschen und seine Bedürfnisse ins Zentrum des Geschehens.<br />
Der XC90 ist der Startschuss zu «A New Beginning» –<br />
mit ihm macht die Marke nicht nur einen entscheidenden Schritt<br />
in die Zukunft, sondern kehrt auch zu ihren Wurzeln zurück. Das<br />
Fahrzeug wurde komplett in Schweden entwickelt und wird auch<br />
dort gebaut. Es ist nicht einfach nur ein neuer Volvo – es symbolisiert<br />
die Neulancierung der Marke.<br />
Wie wichtig ist das Auto für den Schweizer Markt?<br />
Der XC90 wird für uns auch das Aushängeschild für zukünftige<br />
Modelle sein – und er wird die Schweizer überraschen. Insofern<br />
setzen wir nicht einzig auf Absatzzahlen, sondern sehen den<br />
Wagen auch als Markenbotschafter. Dass wir den Nerv der Zeit<br />
getroffen haben, beweisen die Vorbestellungen: Noch vor der<br />
ersten Auslieferung haben wir bereits knapp 80 Prozent unseres<br />
Absatzziels für 2015 erreicht – ohne dass je ein Kunde das<br />
Fahrzeug gefahren ist, ich bin beeindruckt.<br />
Gibt es den typischen XC90-Käufer?<br />
Ich möchte nicht von einem typischen XC90-Käufer sprechen<br />
– viel lieber vom typischen Volvo-Kunden. Der ist kein Angeber,<br />
aber erfolgreich. Er weiss, was er wert ist, und pflegt Understatement.<br />
Volvo steht für noble Zurückhaltung und progressive<br />
Werte. Steve Jobs von Apple und Ingvar Kamprad von Ikea waren<br />
oder sind ambitionierte Volvo-Fahrer. Somit sprechen wir mit<br />
der Marke Volvo selbstbewusste Individualisten an, die sich von<br />
der Masse abheben möchten. Damit ist Volvo die skandinavische<br />
Antwort im Premiumsegment.<br />
Nach der Testfahrt wissen wir: Vier Zylinder sind nicht zu wenig.<br />
Wird das Antriebskonzept weiterentwickelt werden?<br />
Die Strategie, welche wir 2013 kommunizierten, ist und bleibt<br />
ganz klar eine Vierzylinder-Strategie. Und mit unserer Drive-E-<br />
Motorenfamilie müssen Kunden auf nichts verzichten. Sie bietet<br />
Effizienz in einer neuen Dimension und sorgt auch damit für viel<br />
Fahrspass. Zudem sind die Drive-E-Aggregate von vornherein auf<br />
eine künftige Elektrifizierung ausgelegt. Mit unseren Twin-Engine-<br />
Modellen, dem V60 und XC90, verfügen wir über nachhaltige Produkte<br />
mit den jeweils besten Emissionswerten ihrer Kategorie.<br />
Wie geht es 2016 modelltechnisch weiter?<br />
Volvo startet mit dem neuen XC90 eine noch nie dagewesene<br />
Modelloffensive. In den nächsten vier Jahren wird die gesamte<br />
Produktpalette erneuert. Somit wird der heute neue Volvo XC90<br />
in 2019 die älteste Baureihe sein. 2016 werden wir mit der Limousine<br />
S90 und dem Fünftürer V90 beginnen und so die 90er-<br />
Reihe komplettieren. map<br />
Fahren lassen: Mit dem Lounge-Console-Konzept zeigt Volvo, wie ein XC90 zur Stretchlimousine werden kann<br />
130 <strong>VECTURA</strong> #15
AUSERLESENE IMMOBILIENUNTERNEHMEN IHRER REGION<br />
WWW.PRESTIGEHOME.CH
BRIEF AUS BORDEAUX<br />
Lieber Freund, Du hast mich nach meiner Meinung zum aktuellen<br />
französischen Automobildesign gebeten. Darauf antworte<br />
ich Dir gerne, doch gestatte mir zunächst, auf die historische<br />
Entwicklung einzugehen, ohne die ich kein objektives Urteil zur<br />
Moderne abgeben kann.<br />
Von 1920 bis Mitte der 1930er-Jahre war die handwerkliche und<br />
technische Ausführung des französischen Automobilbaus von<br />
grosser Sachkenntnis geprägt und entsprechend beeindruckend<br />
anzuschauen. Diese Arbeiten übten nachweislich auch einen positiven<br />
Einfluss auf die junge Generation amerikanischer Stilisten<br />
aus – auf Harley Earl zum Beispiel, der dann später die General<br />
Motors Styling Division aufgebaut hat. Kurz: Der französische Stil<br />
auf diesem Gebiet war weltweit führend.<br />
Nach dem Zweiten Weltkrieg entstand leider eine gegenteilige<br />
Ideologie; per politischem Diktat wurden alle französischen Konstrukteure<br />
dazu gezwungen, nur noch kleine, kostengünstige<br />
Autos zu entwerfen. Luxuriöse Limousinen waren fortan tabu.<br />
Das Ergebnis dieser unseligen Entscheidung wirkt sich noch<br />
heute negativ aus. Der Fortschritt ging verloren, dazu kamen<br />
Untermotorisierung und Unzuverlässigkeit; die Qualität liess also<br />
in mehrerlei Hinsicht stark zu wünschen übrig. Überhaupt war<br />
die Praxis, billige Stilelemente auch auf das gehobene Preisniveau<br />
zu übertragen, ein riesiger Irrtum. Die Oberklasse bleibt<br />
doch immer eine wichtige Signatur, sie ist das Aushängeschild<br />
einer Marke.<br />
Eine Karosserie sollte eine rollende Skulptur sein, kein kurz lebiges<br />
Gimmick mit allerhand wahllos darauf verteilten Chromelementen.<br />
Zu viele Linien verderben das Gesamtbild, dazu kommen<br />
immer öfter riesige Rückleuchten mit teils skurrilen, ja affektierten<br />
Formen. Furchtbar. Solche Details nähren meine Ansicht,<br />
dass sich die aktuelle französische Designsprache in die falsche<br />
Richtung begibt.<br />
Bitte: Ich möchte meine jungen Kollegen hier nicht schlechtmachen<br />
und als verbitterter älterer Stilist gelten. Das würde auch<br />
nicht der Wahrheit entsprechen. Doch während meiner mittlerweile<br />
60 Jahre in diesem Beruf war ich stets bemüht, eine dauerhafte<br />
Form zu finden, die ebenso fliessend wie dynamisch<br />
und zeitlos sein sollte. Das will natürlich gelernt sein; es braucht<br />
viel Übung und Augenmass. Ich erinnere mich genau an meine<br />
erste bewusste Begegnung mit einem Auto. Das war 1939 und<br />
ein richtiger Schock – vor mir stand ein blauer Buick mit weissem<br />
Verdeck; seine flüssige Linie hat mich fasziniert. Meine<br />
erste Lektion bekam ich bei Saoutschik in Paris; als Kind habe<br />
ich in seiner Werkstatt gespielt. Und einmal ein Modell gebaut,<br />
aus der Fantasie, und es dem Meister gezeigt. Der schimpfte:<br />
Wie kannst du so etwas machen? Das ist eine Delage-Front mit<br />
einem Cadillac-Heck!<br />
Der aktuell praktizierte «Pseudobarock» hat leider eine kurze<br />
Halbwertszeit, wird schlecht altern und schnell zu einer visuellen<br />
Umweltbelastung führen. Ausserdem hat diese Art der Gestaltung<br />
132 <strong>VECTURA</strong> #15
keine Chance, in 20 Jahren einen Concours d’Élégance zu gewinnen.<br />
Schlichtheit und die Suche nach ihr sind mir ausgesprochen<br />
wichtig. Frank Lloyd Wright hat es einmal besonders passend<br />
ausgedrückt: «Sie ist die perfekte Harmonie zwischen Schönheit,<br />
Nützlichkeit und Genauigkeit.»<br />
Als ich in der Autoindustrie anfing, gab es einen Ingenieur, und<br />
der bestimmte im Wesentlichen, wie ein Auto auszusehen hatte.<br />
Was man heute Designer nennt, war zuerst ein Modelleur, dann<br />
der Stylist. Inzwischen ist die Technik in den Hintergrund getreten,<br />
Design bestimmt ein Fahrzeugkonzept – und das Marketing.<br />
Gestalterisch gibt es jetzt viel mehr Möglichkeiten, die Segmente<br />
verschwimmen, Crossover überall. Zu meiner Berufszeit<br />
mussten wir noch um 21 Zentimeter breite Scheinwerfer herummodellieren,<br />
weil es damals einfach nichts anderes gab. Heute<br />
verfügt man über LED, die den formalen Spielraum enorm vergrössern.<br />
Leider wurde bisher noch nicht viel daraus gemacht –<br />
meist fehlt es den Unternehmen an Mut, aber auch an Kreativität.<br />
Glücklicherweise geniesst französische Eleganz in der Modewelt<br />
noch hohes Ansehen. Und ich empfinde grossen Respekt<br />
für dieses seit Jahrhunderten ausgeübte Können auf gleichbleibend<br />
hohem Niveau – schau Dir nur Hermès an, die Schöpfungen<br />
von Yves Saint Laurent oder Nr.5 von Chanel. Wir durchleben gerade<br />
eine strenge ökonomische Krise, in der um das Überleben<br />
solcher Passion gekämpft werden muss. Und sollten uns deshalb<br />
an die unglaubliche Dynamik und Kreativität einer kleinen<br />
Gruppe amerikanischer Stilisten erinnern, die trotz der furchtbaren<br />
Folgen der Weltwirtschaftskrise nach 1929 diese einmalige,<br />
ja phantastische Stromlinie erfanden, die dann das Design bis<br />
1941 prägen sollte. Und im 20. Jahrhundert das einzige Beispiel<br />
einer perfekten Harmonie in allen Industriebereichen gewesen<br />
ist – im Verkehrswesen bei Autos, Zügen und Flugzeugen, aber<br />
auch bei Haushaltprodukten wie Kühlschränken oder Mixern –<br />
und natürlich in der Architektur.<br />
Umso wichtiger erscheint es mir heute, wieder einen homogenen,<br />
fortschrittlichen, ja herausragenden, unverwechselbaren französischen<br />
Stil zu finden. Sicher, die Modellzyklen sind kürzer geworden,<br />
doch gutes Design folgt den gleichen Regeln, damals<br />
wie heute, und ein guter Strich kostet nicht mehr als ein schlechter<br />
Strich. Mit der Zwangsvorstellung, bloss nicht deutsche Autos<br />
zu kopieren, ist französisches Design krampfhaft auf der Suche<br />
nach besonders originellen Ideen, die dann weder eigenständig<br />
noch überzeugend sind. Sich an anderen zu orientieren, ist eine<br />
schlechte Vorgehensweise. Man sollte doch stets versuchen, etwas<br />
besser zu machen. Das Potential ist zweifellos vorhanden:<br />
Die Citroën Déesse war ein solches Auto – individuell, innovativ,<br />
vorbildlich. Aber auch eine Ausnahmeerscheinung.<br />
Was auch immer geschehen wird: Über Geschmack lässt sich<br />
trefflich streiten, über Stil nicht, glaube mir. Und da ich über ausreichend<br />
Erfahrung verfüge, weiss ich auch, wer das am besten<br />
beurteilen kann: die Zeit. Herzlich, Dein Paul<br />
Paul Bracq wurde am 13. Dezember 1933 als Sohn eines Vertreters für Friedhofs-Dekorationen<br />
in Bordeaux geboren. Der Wunsch, Autos zu entwerfen, entstand<br />
schon sehr früh und deshalb folgte eine klassische Ausbildung: Mit 17 Jahren<br />
begann Bracq eine Holzbildhauerlehre an einem renommierten Pariser Institut,<br />
schloss mit dem ersten Platz ab und lernte anschliessend Karosseriebau.<br />
1953 war er als Assistent von Philippe Charbonneaux am Design der spanischen<br />
Pegaso-Sportwagen oder einer Citroën-Präsidentenlimousine beteiligt. Alle von<br />
Bracq entworfenen Studien, Concept Cars und Sonderanfertigungen zu nennen,<br />
würde hier den Rahmen sprengen. 1957 begann er bei Mercedes in Stuttgart,<br />
um zunächst Prospektzeichnungen anzufertigen … Sein Einfluss auf kommende<br />
Baureihen ist heute Legende. 1967 zog es den Franzosen zurück in die<br />
Heimat: Bei Brissonneau & Lotz in La Rochelle entwarf er den prestigeträchtigen<br />
Hochgeschwindigkeitszug TGV und machte damit Platz für Bruno Sacco, der<br />
später Mercedes-Designdirektor wurde. 1970 zieht es Bracq zurück in die Autoindustrie,<br />
wechselte er als neuer Chefstilist zu BMW und zeigte gleich mit seiner<br />
ersten Arbeit, der Flügeltür-Studie Turbo, was er draufhatte. Die nur 115 Zentimeter<br />
hohe Flunder ist sein vielleicht berühmtestes Auto, doch Bracq hat das<br />
Strassenbild nachhaltig geprägt. Ab 1974 kümmert er sich dann um die Interieur-<br />
Gestaltung sämtlicher Peugeot-Baureihen: «Unsere Kinder wurden grösser, das<br />
Gehalt bei BMW war denkbar knapp und eine Erhöhung nicht in Sicht.» Rückblickend<br />
mag man sich wundern, warum er nicht auch das Exterieur verantwortet<br />
hat, obwohl er gelegentlich Einfluss nimmt, beispielsweise beim 205: «Die ses<br />
Modell hat das Unternehmen gerettet – mit einer klaren, einfachen Gestaltung,<br />
die noch in 50 Jahren ansprechend wirken wird», meint er heute. Die Liste der<br />
von ihm verantworteten Serienfahrzeuge ist beeindruckend und liest sich chronologisch<br />
wie folgt: Mercedes SE Coupé (W111; 1961–69), SL (W113; 1963–71),<br />
600 (W100; 1964–81), S (W108, 1965–72) und / 8 (W114 / 115; 1967–76). BMW<br />
2002 Turbo (E20; 1973 / 74), 5er (E12; 1972–81), 3er (E21; 1975–81), 6er (E24;<br />
1976–89) und 7er (E23; 1977–86). Peugeot (jeweils nur Interieur) 305 (1977–89),<br />
505 (1979–92), 205 (1983–98), 405 (1987–96), 605 (1989–99), 106 (1991–2003),<br />
406 (1995–2004), 206 (1998–2012). Nach vielen Jahren im Ausland und seiner<br />
Peugeot-Zeit in Paris kehrten Bracq und seine Frau Alice, mit der er seit mittlerweile<br />
54 Jahren verheiratet ist, mit ihren Katzen 1996 nach Bordeaux zurück.<br />
Dort geniesst das Paar den Unruhestand; die diplomierte Künstlerin entwirft<br />
Schmuck, Mode oder Gebrauchsgegenstände, er Metallskulpturen oder Sonderkarosserien<br />
für Mercedes-Enthusiasten. Nach wie vor malt der Grandseigneur<br />
des guten Geschmacks leidenschaftlich gerne grosse Ölbilder – bevorzugt<br />
mit Automobilen, versteht sich. Dass die Bracqs ebenso kreative Kinder haben,<br />
verwundert kaum: Isabelle Apolline war Modedesignerin bei Armani, Boris betrieb<br />
ein eigenes Studio für Industriedesign. 2013 haben sich die Geschwister<br />
zusammengetan und restaurieren seither sehr erfolgreich Mercedes-Modelle<br />
der 1950er- und 60er-Jahre (www.lesatelierspaulbracq.com). map<br />
SOMMER 2015 133
DER STOLZ<br />
DER GRANDE<br />
NATION<br />
VOR ÜBER 30 JAHREN HAT RENAULT MIT DEM<br />
KANTIGEN ERSTEN ESPACE DAS EUROPÄISCHE<br />
VAN-SEGMENT ETABLIERT. JETZT WOLLEN<br />
DIE FRANZOSEN DIE BAUREIHE NEU ERFINDEN –<br />
ALS LIFESTYLE-SHUTTLE UND DESIGN-IKONE<br />
Text Stefan Lüscher · Fotos Werk<br />
134 <strong>VECTURA</strong> #15
FAHRTERMIN<br />
Mit grossen Baureihen hat sich Renault in den letzten<br />
Jahrzehnten nicht leicht getan. Selbst die Staatschefs<br />
fahren öfters mit der Konkurrenz oder deutschen<br />
Alternativen. Man erinnere sich zum Beispiel an die graue<br />
Maus Safrane und den formal polarisierenden Vel Satis.<br />
Mit dem Espace hat Renault vor drei Dekaden zwar einen grossartigen<br />
Coup gelandet (siehe <strong>VECTURA</strong> #9). Allein in der Schweiz<br />
wurden 59 000 Einheiten des geräumigen Franzosen abgesetzt.<br />
Die opulente, vom Espace geförderte Fahrzeugklasse<br />
ist aber inzwischen zugunsten kleinerer Van-Modelle (Scénic,<br />
Touran, Zafira), SUV und Crossover dramatisch geschrumpft, ja<br />
regelrecht aus der Mode gekommen. Mehr noch: Mit 4,57 Meter<br />
ist ein Grand Scénic inzwischen sechs Zentimeter länger als<br />
der Espace III.<br />
Die fünfte Espace-Generation trägt diesem Trend Rechnung<br />
und soll dem Espace ein grossartiges Comeback bescheren.<br />
Schliesslich hat man sich bis zum Neubeginn lange zwölf Jahre<br />
Zeit gelassen, das Konzept komplett neu überdacht, schliesslich<br />
sämtliche Komponenten neu konstruiert und den Wagen anders<br />
positioniert.<br />
Das in den drei Ausstattungsniveaus Life, Intens und Initiale als erstes<br />
Fahrzeug seiner Klasse komplett mit LED-Lichtern anrollende<br />
Ergebnis ist unübersehbar ein Espace – aber einer wie aus einer<br />
coolen, zukünftigen Welt eingeflogen. Man hat sich von den behäbigen<br />
Van-Proportionen verabschiedet; Nummer 5 ist ein Crossover<br />
geworden mit je einem Schuss SUV und langgestrecktem Sportkombi.<br />
Wir kennen das bereits vom Ford S-Max, aber der Renault<br />
streckt sich knapp zehn Zentimeter weiter. Bei unveränderter<br />
SOMMER 2015 135
136 <strong>VECTURA</strong> #15
FAHRTERMIN<br />
SOMMER 2015 137
TECHNISCHE DATEN RENAULT ESPACE<br />
Konzept Neu gedachte Grossraumlimousine. Selbsttragende Karosserie, fünf Türen, 5 / 7 teils versenkbare Sitzplätze. Elektrische Zahnstangenlenkung mit<br />
adapt. Servo, elektronisch gesteuerte Vierradlenkung (Option). Vorne Dreieckquerlenker, hinten Verbundlenkerachse mit Längslenkern. Rundum Schraubenfedern,<br />
adaptive Stossdämpfer, Kurvenstabilisator. Scheibenbremsen rundum (innen belüftet), Schalt- oder Doppelkupplungsgetriebe mit 6 und 7 Gängen,<br />
elektronisches Sperrdifferential, Vorderradantrieb<br />
Motor Vorne quer verbaute, wassergekühlte Downsizing-Triebwerke mit 1,6 Liter Hubraum und Turbotechnologie. Jeweils 2 oben liegende Nockenwellen<br />
(Kette), 4 Ventile pro Zylinder, 5fach gelagerte Kurbelwelle. Partiell bei Renault Sport entwickelter Benziner mit Direkteinspritzung, Turbodiesel in zwei Leistungsstufen<br />
(Turbo und Twin-Turbo)<br />
dCi 130 Manuel dCi 160 EDC 6 TCE 200 EDC 7<br />
Hubraum in cm 3 1598 1598 1618<br />
Bohrung x Hub in mm 76 x 80,5 76 x 80,5 79,5 x 80,5<br />
Verdichtung 15,7:1 15,4:1 9,5:1<br />
Leistung in PS (kW) @ U / min 130 (96) @ 4000 160 (118) @ 4000 200 (147) @ 5750<br />
Max. Drehmoment in Nm @ U / min 320 @ 1750 380 @ 1750 260 @ 2500<br />
Kraftübertragung M6 6DKG 7DKG<br />
Abmessungen (L/ B / H) in cm 486 / 189 / 168 486 / 189 / 168 486 / 189 / 168<br />
Radstand in cm 288<br />
Spur vorne / hinten in cm 163 / 162<br />
Bodenfreiheit in mm 160<br />
Reifen und Räder 235 / 65 R17 auf 7J 235 / 60 R18 auf 7,5J 235 / 55 R19 auf 8J<br />
Tankinhalt in L 58<br />
Kofferraumvolumen in L 245 – 2100<br />
Leergewicht (ohne Fahrer) in kg ab 1715 ab 1810 ab 1780<br />
Zulässiges Gesamtgewicht in kg 2355 2470 2410<br />
Anhängelast gebremst 2000<br />
Leistungsgewicht in kg / PS 13,2 11,3 8,9<br />
0 – 100 km / h in Sek. 10,7 9,9 8,6<br />
Höchstgeschwindigkeit in km / h 191 202 211<br />
Durchschnittsverbrauch* in L/100 km 4,4 4,6 6,2<br />
CO 2 -Emission in g / km 116 120 140<br />
Energieeffizienzkategorie A A D<br />
Preis ab CHF 37 500.– 45 200.– 43 400.–<br />
* gemessen nach NEFZ: Neuer Europäischer Fahrzyklus<br />
138 <strong>VECTURA</strong> #15
FAHRTERMIN<br />
Nach 31 Jahren wagt Renault den<br />
Neuanfang. Es ist aber auch eine<br />
Flucht nach vorn: Vive la Révolution!<br />
Gesamtlänge zum einstigen Grand Espace (jetzt gibt es nur noch<br />
eine Länge mit optional sieben Sitzplätzen) wurde der Auftritt<br />
etwas breiter und zugleich niedriger, während die Bodenfreiheit<br />
beinahe auf ein Softroader-Mass von 16 Zentimeter erhöht wurde,<br />
damit man auch vor Feldwegen nicht kapitulieren muss.<br />
Die trendigeren Proportionen gehen zwangsläufig zulasten des<br />
einst rekordverdächtigen Innenraumvolumens. Es bedeutet allerdings<br />
auch, dass die vormals bleischweren Einzelsitze nicht mehr<br />
ausgebaut werden müssen, sondern an drei Orten elegant per<br />
Knopfdruck – sogar via Touchscreen – entriegelt und im Wagenboden<br />
versenkt werden können. So fasst der Espace je nach der<br />
ansonsten unveränderten Bestuhlung mit fünf bis sieben Sitzen<br />
und je nach Lehnenkonfiguration immer noch üppige 245 bis<br />
2100 Liter Gepäck.<br />
Ein echter Hingucker ist das funktionell noch aufgeräumtere,<br />
optisch hochwertigere Cockpit mit Designanleihen an die Flugzeugwelt.<br />
Da drängen sich sogar Vergleiche mit dem Tesla Model<br />
S auf, denn zentral in der Mittelkonsole thront ein elegant<br />
eingebettetes, vertikal montiertes 9-Zoll-Touchscreen-Display,<br />
das wie ein iPad als intuitiv und einfach bedienbare Kommandozentrale<br />
vorgesehen ist – für Navigation, Telefon, Klimasteuerung,<br />
diverse neue Assistenzsysteme wie Spurhalteassistent<br />
oder den neuartigen, weil auch selbstständig ausparkierenden<br />
Park Assist, ausserdem Sprachsteuerung, Licht-Ambiente, das<br />
neue Head-up-Display, das Abklappen der hinteren Sitzlehnen<br />
und das herausragende Bose-Surround-Audio-System mit zwölf<br />
Lautsprechern.<br />
Sehr stolz ist Renault auch auf das frische Multisense-System:<br />
Es ist die Schnittstelle für sämtliche Technikkomponenten und<br />
bietet dem Espace-Fahrer ein personalisierbares Fahrerlebnis mit<br />
fünf Fahrprogrammen – vier sind vorprogrammiert, eines ist frei<br />
definierbar. Ungewöhnlich viele Parameter lassen sich dabei beeinflussen;<br />
auf der technischen Seite sind dies Vierradlenkung,<br />
Stossdämpfer, Lenkungsservo, Motorcharakteristik und Doppelkupplungsgetriebe.<br />
Für ein entsprechendes Innenraum-Ambiente<br />
sorgen virtueller Motorklang, Klimaautomatik, Massagefunktion<br />
der Vordersitze und das Licht-Angebot für unterschiedliche<br />
Cockpitbeleuchtungen.<br />
An dieser Fülle neuer Features kann man erkennen, dass sich<br />
Renault einiges hat einfallen lassen, um dem Espace eine neue<br />
Daseinsberechtigung zu geben. Er soll jetzt weit mehr sein als<br />
ein Raumfahrzeug. Ob der Kunde andererseits auf Allradantrieb<br />
verzichten will (obwohl die Plattform allradfähig wäre) und dafür<br />
lieber eine Allradlenkung möchte, bleibt dahingestellt. Renault hat<br />
sich vorerst aber für diesen Weg entschieden, wie uns Renault-<br />
Suisse-CEO Uwe Hochgeschurtz bestätigt hat.<br />
Unabhängig davon kann sich das Ergebnis auf der ersten Testfahrt<br />
durchaus sehen und fühlen lassen. Der Espace wird allein<br />
SOMMER 2015 139
FAHRTERMIN<br />
Keiner ist feiner: Das Topmodell Initiale<br />
weiss mit Details zu überzeugen.<br />
High-Tech ist fast selbstverständlich<br />
140 <strong>VECTURA</strong> #15
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FAHRTERMIN<br />
schon von seinen Dimensionen her niemals ein Sportwagen sein,<br />
er lässt sich aber agil über kurvige Strassen fahren und fühlt sich<br />
auch im Stadtverkehr handlich an. Bei den Modellen mit Vierradlenkung<br />
schlagen die hinteren Räder bei niedrigen Geschwindigkeiten<br />
entgegen den vorderen ein und verkleinern so den Wendekreis<br />
von 11,9 auf 11,1 Meter. Bei höheren Geschwindigkeiten<br />
lenken sie parallel zu den vorderen und verleihen dem Fahrzeug<br />
ein agileres Handling. Insgesamt lassen sich die elektronisch<br />
gesteuerten Hinterräder um 3,5° drehen; ausser dem positiven<br />
Eindruck bekommen die Insassen nichts davon mit.<br />
Gut getroffen wurde auch die Fahrwerksabstimmung: Die Federung<br />
vermittelt angenehmen französischen Langstrecken-Reisekomfort,<br />
wie man ihn erwartet, ohne dabei an ein schwerfälliges<br />
Raumschiff erinnert zu werden. Dank adaptiven Dämpfern fühlt<br />
sich das Ganze im Sportprogramm noch etwas straffer an, mit<br />
mehr Rückmeldung von der Strasse.<br />
Als Kraftquelle dienen dem Espace drei neue, für ihre nominelle<br />
Grösse sehr souveräne, ausserordentlich leise und unangestrengt<br />
laufende 1,6-Liter-Vierzylinder-Aggregate. Topmodell<br />
ist ein Turbobenziner mit Direkteinspritzung, der es auf<br />
200 PS bringt. In Verbindung mit dem ebenfalls neuen Sechsstufen-Doppelkupplungsgetriebe<br />
beschleunigt er den im Vergleich<br />
zum Vorgängermodell um bis zu 250 kg abgespeckten<br />
Espace in behänden 8,6 s auf Tempo 100. Der mit einem<br />
Siebenstufen-DKG gekoppelte Spitzendiesel benötigt für die<br />
gleiche Übung 9,9 Sekunden und sein Normverbrauch beträgt<br />
lediglich 4,5 L / 100 km – für ein Fahrzeug dieses Ausmasses<br />
eine echte Ansage.<br />
Überhaupt bekommen Käufer viel Auto fürs Geld; die Preise<br />
starten bei 37 500 Franken für das 130 PS starke Basismodell.<br />
Das mit Nappaleder und allen beschriebenen Nettigkeiten<br />
ausgestattete Topmodell Initiale Paris kostet ab 50 000 Franken,<br />
was immer noch ein Wort ist. Fazit: Renault hat alles getan,<br />
um die Erfolgsgeschichte fortzusetzen, wenn auch unter<br />
anderen Vorzeichen. Auf jeden Fall bleibt auch der fünfte Espace<br />
ein Charakterdarsteller, der aus der automobilen Masse<br />
herausragt.<br />
142 <strong>VECTURA</strong> #15
SOMMER 2015 143
DER NÄCHSTE SPRUNG?<br />
ÜBER DIE NEUEN EURO6-DIESELAGGREGATE VON PSA<br />
Text Christian Bartsch · Reklame Werk<br />
Vor 15 Jahren führte Peugeot in der Baureihe 607 als<br />
erster Automobilhersteller die Verwendung eines Partikelfilters<br />
ein, damals noch mit Zugabe des hochgiftigen<br />
Additivs Eolys. Mit zunehmendem Erkenntnisgewinn wurde die<br />
ursprünglich zum Abbrennen der Russpartikel benötigte Substanz<br />
auch bei den Franzosen überflüssig: Im Sinne der Euro5-<br />
Abgasgrenzwerte schwenkte auch PSA (Peugeot / Citroën) auf die<br />
Kombination eines Oxidationskatalysators mit einem «trockenen»<br />
Partikelfilter ein. Nun zünden die Franzosen mit überarbeiteten<br />
Dieselaggregaten plus geändertem Abgassystem die nächste<br />
Stufe, von der hier die Rede sein wird.<br />
Krinolinen und Korsettstäbe Peugeot gehört zu den ältesten<br />
Familienbetrieben, deren Name sich bis ins 15. Jahrhundert<br />
zurückverfolgen lässt. Die Mitglieder dieses Clans hatten für<br />
den Markt stets offene Ohren. So stellte das Unternehmen im<br />
19. Jahrhundert unter anderen Produkten wie Pfeffermühlen<br />
(übrigens bis heute) und Fahrräder auch hunderttausende von<br />
Reifröcken (Krinolinen) und Korsettstäben für die Damenwelt her,<br />
bevor man sich dem Automobil zuwandte. Hier gibt es Parallelen<br />
zur Marke Opel, die ja auch bis zur Übernahme durch GM<br />
1929 ein Familienbetrieb gewesen ist. Das Jahr 1890 gilt als<br />
das Geburtsjahr der Peugeot-Automobile – natürlich mit Benzinmotoren,<br />
denn erst 1897 erschien Rudolf Diesels erster Selbstzünder.<br />
Auch wenn ihm vorschwebte, damit Automobile anzutreiben,<br />
dauerte es doch fast 40 Jahre, bis Mercedes 1936 den<br />
ersten Personenwagen mit Dieselmotor vorstellte.<br />
So weit war Peugeot damals noch nicht, doch immerhin hatte das<br />
Unternehmen (und das ebenfalls im Jahr 1936) einen Vierzylinder-<br />
Diesel für leichte Nutzfahrzeuge entwickelt. Ein Diesel-Auto<br />
bot Peugeot allerdings erst 1959 in Form des 403 D an, der aus<br />
Man nennt den Zusammenhang von<br />
Stickoxid und Partikeln auch<br />
«das Dilemma des Dieselmotors»<br />
1818 cm³ bereits 48 PS leistete. Das reichte für eine Höchstgeschwindigkeit<br />
von 120 km / h, und 1968 kam dann ein kleiner Diesel<br />
mit 1255 cm³ hinzu, der zunächst in den 204 Break eingebaut<br />
wurde. Mit seinen 36 PS und einer Höchstgeschwindigkeit von<br />
122 km / h war kein Staat zu machen, zumal seine Konstrukteure<br />
vergessen hatten, dass ein Auto auch beschleunigt werden muss.<br />
Stattdessen war der Motor auf geringsten Verbrauch ausgelegt;<br />
das war damals der Trend, und Peugeot konnte Mercedes die<br />
Hand reichen, denn die Diesel-Pw aus Stuttgart verhielten sich<br />
auch nicht temperamentvoller. Ganz anders der 1976 erschienene<br />
VW Golf Diesel mit 50 PS aus 1,5 Liter Hubraum. Erst er hat<br />
schliesslich dem Diesel im Personenwagen den Weg bereitet.<br />
Andere Reihenfolge Von der Öffentlichkeit kaum bemerkt<br />
hat sich Peugeot seither zu einem der grössten Hersteller von<br />
Dieselmotoren weltweit entwickelt, pflegte Kooperationen und<br />
liefert seine Triebwerke seit vielen Jahren an Ford und andere<br />
Hersteller, nun auch an BMW. Es ist also nur natürlich, dass<br />
Peugeot für die Abgasgrenzwerte der EU6 neue Systeme entwickelte.<br />
Während VW seine kleinen Diesel mit einem NO x -<br />
Speicher ausrüstet und nur die stärkeren Motoren mit SCR<br />
(Selective Catalytic Reduction), verwendet Peugeot sein eigenes<br />
SCR-System von Motoren ab 1,6 Liter Hubraum aufwärts<br />
für alle Baureihen. Dabei ist interessant, dass man nach dem<br />
Oxidationskatalysator nicht wie sonst üblich einen Partikelfilter<br />
einbaut, sondern eben den SCR-Kat. Erst dann folgt im gleichen<br />
Gehäuse der Partikelfilter. Oxikat und SCR-Katalysator sind<br />
durch eine kurze Rohrleitung getrennt, während VW die SCR-<br />
Funktion in den Partikelfilter verlegt und eine extrem kompakte<br />
Abgasanlage für geringsten Wärmeverlust an die Rückseite des<br />
Motors schraubt. Denn der Diesel mit seinen «kalten» Abgasen<br />
hat es schwer, die notwendige Wärme für die Funktion der Abgasnachbehandlung<br />
aufzubringen.<br />
Die Verwendung des SCR-Systems schon bei den relativ kleinen<br />
Peugeot-Motoren verschafft ihnen gegenüber dem Wettbewerb<br />
und der Vorgängergeneration der Peugeot-Diesel einen<br />
Verbrauchsvorteil von bis zu fünf Prozent. Da man die NO x -<br />
Reduktion dem SCR-System überlässt, können die Motoren im<br />
Bereich des Verbrauchsoptimums laufen. Dort wird zwar «viel»<br />
Stickoxid produziert, jedoch wenig Treibstoff verbraucht und es<br />
entstehen weniger Partikel. Man nennt den Zusammenhang von<br />
Stickoxid und Partikeln auch «das Dilemma des Dieselmotors».<br />
Wieder mit Additiv Die Verwendung des SCR-Systems hat<br />
sich seit Jahren bewährt, zunächst bei den Lastwagenmotoren,<br />
danach bei den grossen Pw-Dieseln. Von dort aus zieht es<br />
nun auch bei den kleineren Motoren ein. Dabei wird eine wässerige<br />
Harnstofflösung fein zerstäubt in das Auspuffrohr vor dem<br />
SCR-Reaktor eingespritzt und verdampft. Der Vorratstank für das<br />
«AdBlue» genannte Additiv ist bei Peugeot wie üblich im Wagenheck<br />
untergebracht und nimmt 17 Liter auf. Der Hersteller gibt an,<br />
dass diese Menge für rund 20 000 km genügt, das ist ein knapper<br />
Liter auf tausend Kilometer. Dieser Verbrauch deckt sich mit den<br />
Angaben anderer Hersteller. Auf die Überwachung des Füllstandes<br />
brauchen wir hier nicht einzugehen. Er wird ohnehin bei den<br />
Inspektionen in der Werkstatt kontrolliert und notfalls ergänzt.<br />
Der Peugeot 208 ist mit drei Dieselmotoren zu haben, alle mit<br />
1,6 Liter Hubraum, jedoch unterschiedlicher Leistung. Zwei davon<br />
sollen im NEFZ (Neuer Europäischer Fahrzyklus) nur drei Liter<br />
Treibstoff auf 100 Kilometer verbrauchen, das sind 79 Gramm<br />
CO 2 pro Kilometer. Wir halten die von den Politikern geliebte<br />
Angabe des CO 2 -Wertes für Unfug, denn der Autofahrer verlangt<br />
an der Tankstelle keine Tüte voll Kohlendioxid, sondern Treibstoff.<br />
Und den natürlich so preiswert wie möglich. Abgesehen<br />
davon ist CO 2 kein Schadstoff, sondern ein überlebensnotwendiger<br />
Bestandteil der Luft. Aber darüber haben wir ja bereits in<br />
<strong>VECTURA</strong> #14 referiert.<br />
144 <strong>VECTURA</strong> #15
TECHNIK<br />
Dieselmodelle, hier die Mittelklasselimousinen 403 und 404, gehören seit Jahrzehnten zum Peugeot-Portfolio<br />
SOMMER 2015 145
SCHÖNE NEUE WELT<br />
NACH DAMPFMASCHINE, MASSENFERTIGUNG UND AUTOMATION STEHT<br />
DER AUTOMOBIL INDUSTRIE UND ANDEREN PRODUZIERENDEN BRANCHEN<br />
EINE VIERTE REVOLUTION INS HAUS. SIE BRINGT EINE DIGITALE VERNET-<br />
ZUNG VON FABRIKEN UND MASCHINEN UND DAZU ROBOTER, DIE DEM MEN-<br />
SCHEN BEI SCHWEREN ARBEITEN HELFEN – BIS HIN ZU INTELLIGENTEN<br />
SYSTEMEN, IN DENEN WERKZEUGE SELBST ÜBER DEN ABLAUF DER PRODUK-<br />
TION BESTIMMEN. DOCH DAS ERZEUGT NICHT NUR HOFFNUNGEN, SONDERN<br />
AUCH ÄNGSTE. EINE ANALYSE<br />
Text Thomas Imhof · Fotos Werk<br />
Bereit zum Teamwork mit menschlichen Kollegen: YuMi von ABB<br />
146 <strong>VECTURA</strong> #15
MASCHINENBAU<br />
YuMi hat zwei tatkräftig ineinander verschränkte Arme<br />
und einen Kopf, der entfernt menschliche Züge trägt.<br />
Der Zweiarmroboter von ABB war einer der Stars der<br />
diesjährigen, weltweit wichtigsten Industriemesse in Hannover.<br />
Denn er steht für eine neue Dimension der Automatisierung, bei<br />
der er Hand in Hand mit menschlichen Kollegen arbeitet. Sein<br />
Name ist Programm – YuMi steht für «You and Me».<br />
Der Energie- und Automatisierungstechnikkonzern mit Hauptsitz<br />
in Zürich hat YuMi entwickelt, um mit ihm zunächst in der Elektronikindustrie<br />
und dort in der Kleinteilmontage schnell und flexibel<br />
auf unterschiedliche Fertigungsanforderungen reagieren zu können.<br />
Es dürfte aber nur eine Frage der Zeit sein, bis intelligente<br />
Androide wie YuMi nach und nach auch in anderen Branchen<br />
ihren Dienst antreten. Darunter auch in der Automobilwirtschaft,<br />
in der aktuell «Industrie 4.0» neben dem autonomen Fahren das<br />
ganz grosse Thema ist.<br />
«Viele Annahmen über Fertigungsverfahren und Industrieprozesse<br />
wird man dank YuMi neu überdenken müssen», sagt Per-<br />
Vegard Nerseth, Leiter des globalen Geschäftsbereichs Robotik<br />
bei ABB. Um dies zu untermauern, berichtet er von einem Fallbeispiel,<br />
bei dem zwei YuMis und zwei Arbeiter im Teamwork bis<br />
zu zehn Schalter oder Doppelsteckdosen in nur 3 Minuten und<br />
40 Sekunden hergestellt hätten – eine neue Bestzeit.<br />
Ähnlich clever wie YuMi ist Baxter, das neueste Geschöpf der<br />
Robotik-Koryphäe Rodney Brooks vom Massachusetts Institute<br />
of Technology (MIT). Baxter muss nicht mehr von Ingenieuren<br />
programmiert werden, um zum Beispiel einen Gegenstand<br />
aus einer Kiste zu nehmen und anderswo abzusetzen. Es reicht,<br />
dass der Nutzer einen der Arme des Roboters greift und ihm die<br />
Bewegung vormacht. Die Software merkt sich dann für die Zukunft<br />
den Vorgang und kann ihn – falls nötig – sogar variieren.<br />
Und damit auch Baxter sympathisch daherkommt, sitzt auf seinem<br />
Unterbau ein Display, auf dem zwei weit aufgerissene Kinderaugen<br />
in der Manier einer Comicfigur den Bewegungen des<br />
Roboters folgen. Das löst beim Menschen so genannte anthropomorphe<br />
Reflexe aus – ein subtiler Trick der Erfinder, um die Distanz<br />
zwischen humaner und künstlicher Intelligenz zu reduzieren.<br />
Doch auch ohne solche Personifizierungen erleben Fertigungsroboter<br />
gerade einen regelrechten Entwicklungsschub – allein<br />
schon deshalb, weil sich die Rechenleistung im Schnitt alle zwei<br />
Jahre verdoppelt. Zugleich sinken die Kosten für Speicherchips<br />
rasant. Galt es bislang als schwer bis unmöglich, den maschinellen<br />
Hilfskräften die Wahrnehmung und Beweglichkeit eines einjährigen<br />
Kindes beizubringen, zeigen zahlreiche Beispiele, dass<br />
diese Schwelle längst überschritten ist.<br />
Automatisierungs-Pionier und Marktführer Kuka arbeitet schon<br />
an Robotern, die in Krankenhäusern dem überlasteten Personal<br />
Routinetätigkeiten wie das Anliefern des Essens abnehmen<br />
können. Solche Serviceleistungen kann auch der Care-O-bot 4<br />
liefern, eine Co-Produktion von Phoenix Design, Schunk (Greiftechnik)<br />
und dem für die Software verantwortlichen Fraunhofer-<br />
Institut für Produktionstechnik und Automatisierung. Seine Väter<br />
preisen den modular aufgebauten Alleskönner aufgrund seiner<br />
Mimik und Gestik als «vielseitigen Gentleman» an. Der in der<br />
Küche und im Krankenhaus genauso dienstbeflissen ist wie<br />
Display als «Gesicht» mit Mienenspiel: humanoider Roboter Baxter<br />
SOMMER 2015 147
YuMi, Baxter und Care-O-bot 4 erinnern ebenso wie der seit<br />
rund 20 Jahren in mehreren Generationen existente Asimo von<br />
Honda an Androiden aus Hollywood-Filmen à la «Star Wars». Sie<br />
stehen vor einer grossen Zukunft, doch die in der Automobilindustrie<br />
wichtigeren Produktionsroboter brauchen keine Mimik und<br />
kommen oft mit nur einem Arm aus. Wie zum Beispiel der automatische<br />
Produktionsassistent Apas von Bosch. Er spürt dank<br />
einer Sensorhaut, die an Lederbezüge von Autositzen erinnert,<br />
wenn sich ein Mensch nähert, und zieht spätestens bei einer<br />
Annäherung sanft zurück. Apas halte alles, was auch Baxter verspricht,<br />
behauptet Bosch. Er sei aber auch so stark, schnell und<br />
exakt wie ein herkömmlicher Industrieroboter und kann sich seine<br />
Joblisten über die Daten-Cloud mit anderen Robotern teilen.<br />
Hilft im Haushalt: Care-O-bot 4 ist ein vielseitiger Gentleman<br />
im Wohnzimmer, wo er nicht mehr ganz so gelenkigen Zeitgenossen<br />
hilft, Bücher aus den oberen Etagen eines Regales anzureichen.<br />
Roboter von Kuka wiederum leisten demonstrativ wertvolle<br />
Hilfe bei der Restaurierung historischer Skulpturen am kanadischen<br />
Parlamentsgebäude in Ottawa. Oder beim Bau des sechsten<br />
und letzten Messner Mountain Museums auf dem Kronplatz<br />
in Südtirol. Und der 20 Kilogramm schwere Greifarm LBR iiwa<br />
der Augsburger unterstützt Daimler-Arbeiter in der Endmontage<br />
beim Verschrauben oder Schweissen.<br />
Zur Sicherheit gepolstert: Produktionsassistent Apas von Bosch<br />
Man ahnt anhand solcher Beispiele, warum eine ganze Branche<br />
aktuell geradezu elektrisiert ist. Industrie 4.0 lockt mit riesigen<br />
Einsparpotentialen, dem Ende einiger für Menschen gefährlichen<br />
und gesundheitsschädigenden Montagearbeiten sowie höherer<br />
Verarbeitungsqualität bei gleichzeitig grösserer Produktvielfalt.<br />
Selbst vor Schwellenländern mit einer noch hohen Rate manueller<br />
Tätigkeiten wird die digitale Revolution nicht haltmachen. Wo<br />
das hinführt, zeigt sich in China, wo 2014 ganze 56 000 Industrieroboter<br />
neu installiert wurden – ein Plus von 54 Prozent gegenüber<br />
dem Vorjahr. Schon 2017 werde China das Land mit dem<br />
höchsten Anteil an Robotern sein, prognostiziert der Branchenweltverband<br />
International Federation of Robotics (IFR).<br />
Für Reinhold Achatz, den Technikchef bei Thyssen-Krupp, steht<br />
schon jetzt fest: «Industrie 4.0 wird einen ähnlichen Siegeszug<br />
antreten wie das Internet.» Die digitale Vernetzung von Fabriken<br />
und Maschinen, von Kunden, Lieferanten und Produzenten sei<br />
eine fundamentale Veränderung. Auch die Politik heizt das Thema<br />
an, aber «die USA machen bei Industrie 4.0 deutlich mehr Dampf<br />
als Europa», mahnt Franz Gruber, Chef der IT-Technologie- und<br />
-Beratungsfirma Forcam aus Ravensburg am Bodensee.<br />
Mit ihrer weltweit einzigartigen Produktionskomplexität und dem<br />
hohen Qualitätsanspruch sind die Automobilhersteller und ihre<br />
Zulieferer geradezu prädestiniert für eine Vorreiterrolle in Sachen<br />
4.0. Laut einer Studie der Strategieberatung Strategy& gaben<br />
80 Prozent der befragten Firmen an, entsprechende Schritte bereits<br />
in den nächsten fünf Jahren umsetzen zu wollen. Ein Selbstläufer<br />
sei das Thema aber nicht. Nur einheitliche Standards, mit<br />
deren Hilfe maschinenübergreifend kommuniziert werden kann,<br />
sowie eine sichere Kommunikation würden Erfolg verheissen.<br />
Um weitverbreitete Sorgen vor Daten- und Know-how-Klau zu<br />
zerstreuen, müssten die Maschinen in der Lage sein, Informationen<br />
verschlüsselt miteinander und mit allen angebundenen<br />
Systemen auszutauschen. Daneben sei eine massiv geschützte<br />
Cloud-Plattform gefordert, die Vertraulichkeit, Integrität und Verfügbarkeit<br />
von Produktions- und Unternehmensdaten ermöglicht.<br />
An diesem Punkt sei an die Automobilproduktion der 1960er- und<br />
70er-Jahre erinnert: Autowerke sind damals noch ein Ort voller<br />
Lärm, Dreck und Ausdünstungen jeder Art. Die Pressen im Rohbau<br />
hämmern einen Takt wie sonst nur Hochhöfen. Noch legen<br />
Werker die einzelnen Bleche per Hand ein, von Automatisierung<br />
keine Spur. Die in der Lackiererei tätigen Kollegen tragen per Hand<br />
den Lack auf, vor giftigen Dämpfen abgeschirmt nur durch einen<br />
Mundschutz. Beim Zusammenschweissen der Karosserien stieben<br />
Funken; nur Schweissmasken schützen die Gesichter der Arbeiter.<br />
148 <strong>VECTURA</strong> #15
MASCHINENBAU<br />
Die Erleichterungen kommen in Etappen. General Motors zum<br />
Beispiel beginnt schon 1961 mit dem Zwei-Tonnen-Ungetüm Unimate,<br />
erste Schweissarbeiten von Robotern ausführen zu lassen;<br />
in europäischen und japanischen Werken geschieht der gleiche<br />
Vorgang erst rund ein Jahrzehnt später. In den 1980ern werden<br />
Roboter dann grossflächig eingesetzt – zunächst im Karosseriebau,<br />
wo sie dem Menschen nach und nach alle Punktschweisszangen<br />
aus den Händen nehmen. Die 1990er-Jahre sind dann<br />
vom Einzug der Industrieroboter in die Lackierereien geprägt.<br />
Zusammen mit wasserlöslichen Lacken sind sie ein Segen für<br />
die Werktätigen. Ab den 2000ern nehmen dann Werkplaner zunehmend<br />
Über-Kopf-Arbeiten und andere physisch komplexe<br />
Fertigungsschritte unter die Lupe. Ein Beispiel ist der bei Opel<br />
eingeführte, schieb- und drehbare Ergo-Chair, auf dem Monteure<br />
während der Endmontage in den Innenraum eines Modells<br />
gefahren werden – mit Akkuschraubern und anderen Werkzeugen<br />
in Griffnähe.<br />
Auch fahrerlose Transportsysteme (FTS) erleichtern bis heute die<br />
Arbeiten in Autowerken. Erfunden wurden auch sie in Amerika,<br />
als die Firma Barrett Vehicle Systems aus Northbrook (Illinois)<br />
ab 1953 einen Schlepper einführte, der dank optischem Sensor<br />
selbstständig einem im Boden eingelassenen Farbstreifen<br />
folgte. Nach demselben Prinzip arbeiteten 1956 Fahrzeuge von<br />
EMI in England; auch deutsche Firmen wie Jungheinrich oder<br />
Mit sieben Achsen beweglicher als der menschliche Arm:<br />
kollaborativer Roboter LBR iiWA von Kuka, unten als<br />
multifunktionales Steuerhorn in der Rinspeed-Studie Budii<br />
SOMMER 2015 149
MASCHINENBAU<br />
Kann sich auf zwei Beinen fortbewegen: Honda Asimo<br />
Wagner rüsteten ihre Gabelhub- und Plattformfahrzeuge mit photoelektrischen<br />
und später induktiven Steuerungen aus. Heute<br />
werden die führerlosen Helfer meist per Lasernavigation durch<br />
die Werkhallen gelotst, aber auch Rasternavigation, Funkpeilung<br />
oder der Einsatz von optischen, magnetischen oder induktiven<br />
Leitlinien sind noch zu finden.<br />
Die neue Roboter-Generation darf<br />
ihr Gefängnis verlassen – doch nicht<br />
jedem Menschen gefällt das<br />
Bei der VW-Tochter Audi transportieren seit Februar 2015 zwei<br />
Roboter frisch produzierte Autos selbstständig auf eine Zwischenfläche,<br />
bevor sie – nach Versandzielen geordnet – von Logistikmitarbeitern<br />
auf Bahnwaggons verladen werden. Die Idee<br />
für die Roboter namens Ray hatte das bayerische Unternehmen<br />
Serva Transport Systems. Live für jedermann zu erleben ist die<br />
Anlage am Flughafen Düsseldorf, wo Ray-Roboter gestressten<br />
Geschäftsreisenden helfen, wertvolle Minuten bei der Parkplatzsuche<br />
einzusparen. Fluggäste fahren einfach in eine von sechs<br />
futuristisch anmutenden Boxen – der Startposition für den automatischen<br />
Gabelstapler. Im Trio schafft es Ray, statt vorher 160<br />
nun 240 Autos in dem Gebäude unterzubringen – dicht an dicht<br />
aufgereiht mit den Aussenspiegeln auf Tuchfühlung. Aussteigen<br />
wäre da nicht mehr möglich, ist aber auch nicht nötig. «Der<br />
Kunde fährt seinen Wagen in die Station, nimmt die Koffer heraus,<br />
bestätigt am Bedienfeld seine Einfahrt und kann zum Abflug<br />
gehen», erklärt Thomas Schnalke, Geschäftsführer des Flughafens.<br />
Das Ganze dauere nur drei Minuten. Dann gehe Ray lautlos,<br />
weil akkubetrieben, ans Werk, wobei er vom Smart bis zur<br />
Stretch-Limo alle denkbaren Modelle anpacken kann.<br />
Der grosse Quantensprung für die Automobilindustrie kommt<br />
aber nun in Form der eingangs erwähnten kollaborativen oder<br />
koexistenten Roboter. Anders als ihre Vorgänger, die noch in Kabinen<br />
oder hinter Gittern operierten, um Kollisionen mit dem fest<br />
programmierten Roboterarm auszuschliessen, darf die neue Generation<br />
ihr Gefängnis verlassen – um ihren Kollegen aus Fleisch<br />
und Blut ergonomisch komplexe oder schlicht anstrengende<br />
Arbeitsschritte abzunehmen. «Die Roboter der Zukunft werden<br />
kleiner, leichter und sicherer sein», sagt VW-Produktionsvorstand<br />
Horst Neumann: «Arbeitsräume von Mensch und Maschine<br />
werden sich überschneiden, sie werden gemeinsam an<br />
einem Bauteil arbeiten.»<br />
Um bei VW zu bleiben: In der Montage des Golf fallen fünf Prozent<br />
aller Arbeitsschritte unter das Prädikat «sehr anstrengend»;<br />
immerhin 25 Prozent gelten als «anstrengend». Beim Bau eines<br />
150 <strong>VECTURA</strong> #15
Automobilproduktion bei Opel in den 1930er-, 50er- und 60er-Jahren bis<br />
heute: Vom Presswerk über Rohbau und Lackiererei ersetzen Roboter<br />
inzwischen fast alle physisch anstrengenden und toxischen Arbeiten<br />
SOMMER 2015 151
Jahrgang 1962: erster induktiv geführter fahrerloser Stapler Teletrak von Jungheinrich<br />
WAS IST EIN ROBOTER?<br />
Die Bezeichnung wurde erstmals vom Tschechen Josef apek<br />
geprägt, dessen Bruder Karel sie dann 1921 in seinem Theaterstück<br />
«R.U.R.» (Rossum’s Universal Robots) verwendet hat. Dazu<br />
liess er künstlich gezüchtete, menschenähnliche Arbeiter in Tanks<br />
auftreten. Im Verlauf des Theaterstücks rebellieren die Kreaturen<br />
jedoch und vernichten die Menschheit. Mit seinem Werk griff<br />
apek das klassische, ebenfalls in der Prager Literatur der jüdischen<br />
Mystik verbreitete Motiv des Golems auf.<br />
1954 meldete George Devol in den USA ein Patent für einen<br />
programmierbaren Manipulator an; das Datum gilt als Geburtsstunde<br />
für die Entwicklung von Industrierobotern. Devol war<br />
auch Mitbegründer der Firma Unimation, die 1960 den ersten<br />
hydraulisch betriebenen Industrieroboter vorstellte. 1961 begann<br />
erstmals ein Zwei-Tonnen-Koloss namens «Unimate» bei<br />
General Motors mit selbständigen Schweissarbeiten. In Japan<br />
erwies sich Kawasaki Ende der 1960er-Jahre als Vorreiter beim<br />
Bau elektrisch statt hydraulisch betriebener Industrieroboter.<br />
Und um 1970 wurde am Zentrum für künstliche Intelligenz des<br />
Stanford Research Institute der erste mobile Roboter «Shakey»<br />
entwickelt.<br />
In deutschen Autowerken nahmen erste Roboter Anfang der<br />
1970er-Jahre ihre Arbeit im Karosserierohbau auf. 1973 führte<br />
der deutsche Robotik-Pionier Kuka mit «Famulus» den weltweit<br />
ersten Industrieroboter mit sechs elektromechanisch angetriebenen<br />
Achsen ein; ein Jahr später stellte das schwedische Unternehmen<br />
ASEA (heute ABB) seinen vollständig elektrisch angetriebenen<br />
Roboter IRb6 vor.<br />
Nach der VDI-Richtlinie 2860 «sind Industrieroboter universell<br />
einsetzbare Bewegungsautomaten mit mehreren Achsen, deren<br />
Bewegungen hinsichtlich Bewegungsfolge und Wegen bzw. Winkeln<br />
frei (d. h. ohne mechanischen bzw. menschlichen Eingriff)<br />
programmierbar und gegebenenfalls sensorgeführt sind. Sie sind<br />
mit Greifern, Werkzeugen oder anderen Fertigungsmitteln ausrüstbar<br />
und können Handhabungs- und / oder Fertigungsaufgaben<br />
ausführen.»<br />
Die Definition der Robotic Industries Association lautet: «Ein Roboter<br />
ist ein programmierbares Mehrzweck-Handhabungsgerät<br />
für das Bewegen von Material, Werkstücken, Werkzeugen oder<br />
Spezialgeräten. Der frei programmierbare Bewegungsablauf<br />
macht ihn für verschiedenste Aufgaben einsetzbar.» Dazu kommt<br />
der Zusatz, dass ein Roboter über mindestens drei frei bewegliche<br />
Achsen verfügen muss.<br />
Noch fehlen einheitliche Sicherheitsstandards für ausserhalb eines<br />
Käfigs arbeitende Roboter. «Bis heute ist nicht abschliessend<br />
geklärt, wie stark ein Roboter einen Menschen berühren darf»,<br />
sagt Norbert Elkmann vom Fraunhofer-Institut für Fabrikbetrieb<br />
und -automatisierung (IFF) in Magdeburg. Seine Erkenntnis<br />
nach Tests mit Probanden: «Ein blauer Fleck geht in Ordnung,<br />
bei kleinen Wunden hört der Spass auf.» Weil verbindliche Sicherheitsstandards<br />
fehlen, begann BMW mit seinen Versuchen<br />
auch im Werk Spartanburg, weil in den USA weniger hohe bürokratische<br />
Hürden zu überwinden waren.<br />
Zur Gruppe der Roboter gehören auch autonome Waffen- oder<br />
Aufklärungssysteme wie Smart Bombs, unbemannte Drohnen,<br />
Wach- und Kampfroboter – oder auch fahrerlos funktionierende<br />
Autos, kurz Robo Cars. ti<br />
152 <strong>VECTURA</strong> #15
MASCHINENBAU<br />
Beispiel BMW: Roboter montieren<br />
Türdichtungen oder helfen bei der<br />
Gestenkontrolle im Stossfängerbau<br />
SOMMER 2015 153
MASCHINENBAU<br />
T6 oder Amarok sind sogar zehn Prozent als «sehr anstrengend»<br />
und 27 Prozent als «anstrengend» eingestuft. Darunter fallen alle<br />
Arbeiten, bei denen sich die Werker drehen, winden oder etwas<br />
heben und schleppen müssen. «Sieben Stunden lang im Minutentakt<br />
eine Nockenwelle mit exakt sechsmal acht Tropfen Öl zu<br />
versorgen, ist anstrengend und monoton», weiss Neumann, der<br />
als Ex-Gewerkschaftsfunktionär keineswegs im Verdacht steht,<br />
ein Turbokapitalist zu sein.<br />
Die letzten noch vermeidbaren körperlichen Anstrengungen finden<br />
vor allem in der Endmontage statt. Im VW-Rohbau, wo eine<br />
Armee aus 1800 Robotern pro Tag mehr als 2000 Golf-Karosserien<br />
herstellt, sind bereits über 90 Prozent aller Arbeitsschritte<br />
automatisiert. Auch im Presswerk müssen Maschinisten nicht<br />
mehr wie früher ihr Ohr an die Anlagen halten – Sensoren liefern<br />
stündlich Daten über Ölstand und Schwingungen ab. In der Endmontage<br />
beträgt der Roboteranteil hingegen nur 20 Prozent; vor<br />
allem weiche Teile wie Teppiche, Schläuche und Verkabelungen<br />
gelten als automatisch nur schwer verbaubar.<br />
Wo manuelle Prozesse ergonomisch kritisch sind und neben<br />
Feinmotorik auch Fingerspitzengefühl erforderlich ist, kommt zunehmend<br />
das Job-Sharing zwischen Mensch und Maschine zur<br />
Anwendung. Als aktuelles Paradebeispiel gilt bei Volkswagen der<br />
sechsachsige Leichtbauroboter UR5 des dänischen Herstellers<br />
Universal Robots: Der kollaborierende Kollege ist in der Zylinderkopfmontage<br />
des Werkes Salzgitter beschäftigt und dort für das<br />
Einstecken der hochempfindlichen Glühstiftkerzen in die Zylinderköpfe<br />
von Dieselmotoren zuständig. Zuvor galt es, die Glühstiftkerzen<br />
in einer vorn übergebeugten Haltung in kaum einsehbare<br />
und daher schwer zugängliche Bohrungen einzusetzen. Im<br />
Nutzfahrzeugwerk Hannover stellte VW Anfang Mai eine weitere<br />
Anwendung für eine den Menschen entlastende Hand-in-Hand-<br />
Arbeitsweise vor: Dort «clipst» Kukas siebenachsiges Pendant<br />
zum UR5 Innenverkleidungen des Transporters. Der Bandarbeiter<br />
muss seinen Helfer zuvor nur noch von Hand mit einem Rollwagen<br />
in den Laderaum schieben – den Rest erledigt dieser dann<br />
selbst. Noch ist diese Arbeitsteilung im Versuchsstadium, doch<br />
Ray stellt Autos präzise und platzsparend in Parkhäusern ab<br />
sind sie bei VW optimistisch, den Robotern schon 2016 einen<br />
festen Job anbieten zu können.<br />
Ein weiteres Exempel für die intelligente Interaktion ist das Pilotprojekt<br />
einer berührungslosen Gestenerkennung im BMW-Werk<br />
Landshut. Bei dem zusammen mit dem Fraunhofer-Institut in Karlsruhe<br />
entwickelten System werden Stossfänger nach dem Durchlaufen<br />
der Lackierstrassen per Fingerzeig einer Qualitätskontrolle<br />
unterzogen. Die aus der Welt der Spielekonsolen bekannte Gestenerkennung<br />
über zwei 3D-Kameras spart erheblich Zeit, ausserdem<br />
entfallen jetzt zusätzliche Laufwege. Im US-amerikanischen<br />
BMW-Werk Spartanburg arbeiten Mensch und Maschine in der<br />
Türmontage sogar noch inniger zusammen. Vier kollaborative<br />
Robots fixieren dort die Schall- und Feuchtigkeitsisolierung auf<br />
der Türinnenseite des X3 – eine sehr präzise auszuführende sowie<br />
kraftraubende Tätigkeit. In dem ebenfalls mit Technik von Universal<br />
Robots realisierten Projekt stecken laut BMW zwei Jahre<br />
Entwicklung. Auch im Audi-Werk Ingolstadt hat die Zukunft längst<br />
begonnen: In der A4-, A5- und Q5-Montage assistiert seit Januar<br />
2015 ein Roboter, intern PART4you genannt. Seine Aufgabe ist es,<br />
mittels Kamera und Sauggreifer schwergewichtige Kühlmittelausgleichsbehälter<br />
aus einer tiefen Materialbox zu holen.<br />
Schöne Beispiele für Industrie 4.0 – doch wie steht es um die<br />
sozialen Begleiterscheinungen? Das Verhältnis der Menschen<br />
zu Robotern war schon immer ambivalent. Im Drama «Rossum’s<br />
Universal Robots» des Tschechen Karel apek von 1921 (siehe<br />
Box Seite 152) sind Androide anfangs nur billige Arbeitskräfte.<br />
Doch dann rebellieren sie und vernichten die Menschheit. Ist der<br />
Hollywood-Streifen «Terminator 3 – Rebellion der Maschinen»<br />
vielleicht mehr als Kinokassen-Trash? Selbst der deutschen Bundeskanzlerin<br />
Angela Merkel entfuhr bei der Besichtigung eines<br />
Elektronikwerkes von Siemens beim Anblick einer volldigitalisierten<br />
Fertigungslinie scherzhaft der Satz: «Ich hoffe, dass die<br />
Maschinen brav sind und keinen Unsinn machen!»<br />
Gewerkschaften und Sozialverbände begrüssen zwar die Erleichterungen<br />
bei schweren manuellen Tätigkeiten, befürchten<br />
als Folge der zunehmenden Automatisierung jedoch den Wegfall<br />
vieler Arbeitsplätze. Milagros Caiña-Andree, als Arbeitsdirektorin<br />
für das Personal- und Sozialwesen bei BMW Mitglied<br />
des Vorstands, empfiehlt, erst mal abzuwarten: «Es ist noch zu<br />
früh, um beurteilen zu können, ob wir aufgrund von Digitalisierung<br />
und Vernetzung mehr oder weniger Mitarbeiter beschäftigen<br />
werden. Im Automobilbau sehe ich die menschenleere<br />
Fabrik aber nicht. Den Einsatz von koexistenten Robotern neben<br />
den Werkern sehe ich als Chance in unserer alternden Gesellschaft,<br />
um demographiefest zu werden.» Der ehemalige BMW-<br />
Produktionschef und jetzige Vorstandsvorsitzende Harald Krüger<br />
will ebenfalls nicht über eine «reine Automatisierung» reden und<br />
stapelt bei der Frage nach dem Potential von Industrie 4.0 eher<br />
tief: «Ich rechne nicht mit einem digitalen Sprung von 20 bis 30<br />
Prozent mehr Produktivität. Aber ich freue mich über tägliche,<br />
kleine Fortschritte. Nur fünf Prozent wären schon viel, wenn Sie<br />
das auf zwei Millionen Fahrzeuge im Jahr umlegen.»<br />
Fakt ist: Viele der in der Babyboomer-Zeit zwischen 1955 und 65<br />
geborenen Menschen erreichen zwischen 2015 und 30 das Rentenalter<br />
– überproportional viele im VW-Konzern, der deutschlandweit<br />
etwa 32 000 Mitarbeiter mehr als im langjährigen Durchschnitt<br />
verlieren wird. «Wir könnten diesen Abgang gar nicht<br />
154 <strong>VECTURA</strong> #15
kom plett durch junge Mitarbeiter ersetzen», sagt Produktionschef<br />
Neumann. Die alternde Gesellschaft ist für die Wirtschaftskapitäne<br />
ein Glücksfall, können sie doch durch zunehmende<br />
Roboterisierung den Verlust an Humankapital weitgehend kompensieren.<br />
Und, so sieht es zum Beispiel Kuka-CEO Till Reuter,<br />
sogar den Automobilstandort Deutschland wieder attraktiver machen<br />
und sichern. Denn als weiteres Argument für die Losung<br />
«Roboter aus den Käfigen» kommen die Lohnkosten hinzu. Für<br />
einen heute bei VW arbeitenden Roboter errechnet der Wolfsburger<br />
Produktionschef bei einer Laufzeit von im Schnitt 35 000<br />
Stunden Gesamtkosten von 100 000 bis 200 000 Euro. Ergibt<br />
nur fünf Euro pro Stunde. Im Vergleich verdient ein Arbeiter bei<br />
VW 40, in manchen Werken sogar bis zu 50 Euro. Selbst Osteuropa<br />
(mit elf) und China (noch unter zehn Euro) haben Mühe, die -<br />
ses Lohndumping mitzugehen. Zumal neue Robotergenerationen<br />
ihrem Job wohl noch billiger nachgehen werden.<br />
Peter Mosch, Gesamtbetriebsratsvorsitzender bei Audi, will da<br />
nicht widersprechen, stellt aber klar: «Die voranschreitende Vernetzung<br />
von Mensch und Maschine ist zu begrüssen, wenn sie<br />
weder Arbeitsplätze gefährdet noch dazu führt, dass der Mensch<br />
von Maschinen entmündigt wird.» Für jene Jobanwärter, die auch<br />
in Zukunft noch neu eingestellt werden, ändert sich das Berufsbild<br />
gewaltig in Richtung Höherqualifizierung. «Digitalisierung und<br />
Vernetzung werden unsere Ausbildungsberufe verändern. Die<br />
Auszubildenden, die jetzt im Sommer anfangen, werden neue<br />
berufsspezifische Kompetenzen erlernen», kündigt VW-Manager<br />
Neumann an. Auch Opel-Sprecher Alexander Bazio betont:<br />
«Der Trend geht weg von einfachen Einlege- und Montageoperationen<br />
zu einer, wie wir es nennen, ‹Fertigungsfacharbeit›. Der<br />
Mitarbeiter ist weiter in die Fertigungsprozesse integriert, überwacht<br />
aber auch die Qualität und betreibt vorbeugende Instandhaltung,<br />
Wartung und bis zu einem gewissen Grad auch die<br />
Beseitigung von Störungen.»<br />
Die Frage nach den Arbeitsplätzen, die am Ende tatsächlich übrigbleiben,<br />
steht dabei weiter im Raum. Aktuell sind im Autoland<br />
Deutschland noch etwa sieben Millionen Menschen in mehr als<br />
22 000 Unternehmen des verarbeitenden Gewerbes tätig. Allein<br />
in der Volkswagen-Produktion sind es 120 000. Wie viele davon<br />
auch noch in fünf oder zehn Jahren in Lohn und Brot sind – das<br />
weiss keiner ganz genau. Bernd Dworschak vom Fraunhofer-<br />
Institut für Arbeitswissenschaft und Organisation geht davon aus,<br />
dass alle heute noch an Akademiker gestellten Anforderungen<br />
künftig auch für Facharbeiter gelten. «Gering Qualifizierte wie zum<br />
Beispiel Gabelstaplerfahrer werden die Verlierer von Industrie 4.0<br />
sein. Die Zeiten, in denen eine Firma Arbeiter mit jedweder Ausbildung<br />
für Bandarbeiten anheuerte, sind schon jetzt vorbei.»<br />
Detlef Zühlke vom Forschungszentrum für künstliche Intelligenz<br />
sieht ebenfalls traditionelle Berufe und Tätigkeiten wegfallen, dafür<br />
allerdings neue in den Bereichen Datensicherheit- und -schutz<br />
entstehen. Michael Rüssmann vom Beratungsunternehmen Boston<br />
Consulting rechnet in den nächsten zehn Jahren sogar mit<br />
390 000 Jobs durch 4.0. «Es wird weiter auch Arbeiter geben, die<br />
gemeinsam mit Robotern arbeiten, zugleich werden Fertigungsjobs<br />
IT-lastiger, das heisst, es entwickeln sich neue Tätigkeiten.»<br />
Carl Benedikt Frey und Michael Osborne von der Universität<br />
Oxford sehen das ganz anders: Zähle man die Digitalisierung als<br />
Ganzes zusammen, seien 47 Prozent der Arbeitsplätze in den<br />
USA in Gefahr – und nicht nur da, sondern auch in Europa. Auch<br />
sie haben in erster Linie Jobs in Transport- und Logistikberufen<br />
im Visier, dazu einen Grossteil der Büroangestellten und Arbeiten<br />
in Produktionsberufen. Jeremy Bowles von der London School of<br />
Economics veröffentlichte 2014 eine Studie, wonach durch Automatisierungsschübe<br />
in den nächsten 20 Jahren 51 Prozent aller<br />
heutigen Jobs gefährdet sind. Weltweit könnten 140 Millionen<br />
Vollzeitstellen in anspruchsvollen Berufen wegfallen.<br />
Schnelle Entwicklung: Roboter werden<br />
schlauer, feinfühliger und dank<br />
Miniaturisierung immer vielseitiger<br />
Noch ist es so, dass mit der Entwicklung und dem Einsatz neuer<br />
Technik Wachstum generiert wird, noch steigt zum Beispiel in der<br />
Autoindustrie trotz des massiven Einsatzes von Robotern die Zahl<br />
der Arbeitsplätze. Der Deal – Roboter greifen dem Menschen unter<br />
die Arme, die müssen nicht länger am Band schuften und die<br />
Fehlerquote sinkt obendrein – scheint in schnell alternden Gesellschaften<br />
plausibel. Doch viele trauen dem Frieden nicht: Wie lange<br />
sind diese Zugewinne stark genug, um massiven Jobabbau ausgleichen<br />
zu können? Wird es wirklich so kommen, dass Roboter<br />
und Computer in den nächsten 20 Jahren in fast der Hälfte von<br />
etwa 700 Berufen den Menschen ersetzen? «Ganze Berufsbilder<br />
sind von der Digitalisierung bedroht», fürchtet nicht nur der Chef<br />
der deutschen Gewerkschaft Verdi, Frank Birske. Joe Schoendorf,<br />
einer der Leiter des Weltwirtschaftsforums in Davos, bekennt. «DIE<br />
Lösung gibt es im Moment nicht. Ich bin seit 49 Jahren im Silicon<br />
Valley, aber für mich ist es das grösste Problem, was ich jemals gesehen<br />
habe. In China, wo Elektronikgerätehersteller gerade angeblich<br />
mehr als eine Million Roboter bestellt haben, gab es kürzlich<br />
schon Proteste von Arbeitern. Das sind die ersten Auswirkungen.»<br />
Das sind düstere Prognosen, die mit Blick auf bereits heute existente<br />
Computerfähigkeiten nicht völlig aus der Luft gegriffen sind.<br />
Denn die Einsatzfelder wachsen. In intelligenten Schokoladenfabriken<br />
entscheiden Maschinen schon zum Teil selbst über<br />
den Ablauf der Produktion: Beim Hersteller Chocri zum Beispiel<br />
werden per Online-Bestellung angegebene Kundenwünsche direkt<br />
an die jeweiligen Maschinen weitergegeben. Süssigkeiten-<br />
Fans können aus 80 Zutaten wählen und sogar die Lieblingsverpackung<br />
bestimmen. Zuvor mussten Mitarbeiter die Order wie<br />
«Zartbitter» oder «Vollmilch-Nuss» noch in mehreren Arbeitsschritten<br />
selbst bearbeiten. Auch Konkurrent Ritter Sport wirbt<br />
mit «Eurer eigenen Schokoladenkreation, die Ihr auch noch selbst<br />
benennen könnt». Der Name werde zu guter Letzt dann sogar<br />
noch auf das Etikett gedruckt.<br />
Keine Frage: Roboter haben unschätzbare Vorteile – sie kennen<br />
keine festen Arbeitszeiten, keinen Stress, kein Burn-out. Und<br />
sie werden immer schlauer, feinfühliger und dank Miniaturisierung<br />
immer vielfältiger einsetzbar. Ihre Fähigkeiten nehmen stetig<br />
zu, bis hin zu fast schon skurrilen Anwendungen. Wie der Schlagzeuger<br />
der Band Compressorhead, der zusammen mit Kollegen<br />
den Heavy-Metal-Klassiker «Ace of Spades» von Motörhead<br />
intonieren kann – mit gleich vier Armen, denn wie seine beiden<br />
Mitstreiter ist auch der Drummer eine Maschine.<br />
SOMMER 2015 155
MASCHINENBAU<br />
Showdown: Der Kuka-Kleinroboter tritt gegen<br />
Tischtennis-Star Timo Boll an<br />
Kawasaki baut – übrigens im gleichen Werk wie die Motorrä<br />
der – einen komplett in Edelstahl gehüllten Roboter. Der mit<br />
seinen sieben Gelenken beweglicher als ein Mensch agierende<br />
Automat ist bei Pharmaindustrieausrüstern beliebt, weil das<br />
Gerät ohne aussenliegende Kabel auskommt und so auch in reinen<br />
Arbeitsräumen ans Werk gehen darf. Mit 130 000 Euro ist<br />
der Spass nicht gerade billig, doch selbst Toyota setzt in seinen<br />
Autowerken bevorzugt auf Roboter von Kawa.<br />
Andere Talente zeigt der Fastpicker von Stäubli aus Horgen am<br />
Zürichsee. 200 Teile pro Minute aufzunehmen und exakt abzulegen<br />
– das sei Spitze, frohlockt Verkaufsleiter Heiko Göllnitz. Entwickelt<br />
wurde der fixe und zugleich sensible Greifer ursprünglich für<br />
Solarzellenhersteller. Längst wird er aber auch dankend von der<br />
Verpackungsindustrie angeschafft – darunter auch Lebensmittelhersteller,<br />
weil auch Fastpicker eine hohe Reinraumklasse erfüllt.<br />
Unilever im deutschen Ansbach verpackt seine Bifi-Würstchen<br />
ebenfalls mit ABB-Gerät, einem Produktionszuwachs von 25 Prozent<br />
und einer Flexibilität, die das Einschweissen von sechs verschiedenen<br />
Sorten erlaubt. Roland Murten in der Schweiz konfektioniert<br />
ebenfalls mit ABB-Hilfe stündlich 134 Kilogramm an<br />
Brezeln, die dabei in nur noch vier statt zuvor zwölf Prozent aller<br />
Fälle zu Bruch gehen.<br />
Braucht Platz zum Hüpfen: bionisches Känguru von Festo<br />
Ein Kleinroboter von Kuka trat sogar schon an der Tischtennisplatte<br />
gegen den deutschen Ping-Pong-Star Timo Boll an – und<br />
musste sich erst nach hartem Kampf geschlagen geben. Das<br />
dazu gedrehte Video «The Duel» (www.kuka-timoboll.com) und<br />
ein zweiter Clip haben im Internet längst ihr Millionenpublikum gefunden.<br />
Überhaupt Kuka: Der Spezialist versteht es, das Thema<br />
Robotics auf unkonventionelle Art salonfähig zu machen. Während<br />
der Computermesse Cebit konnten Internet-User und Messebesucher<br />
mithilfe einer Handy-App eigene Sitzmöbel entwerfen<br />
und gleich live produzieren lassen. Vier Kuka-Roboter aus<br />
der KR-Quantec-Serie fertigten an fünf Messetagen 2000 Würfel,<br />
die dann auch an die Nutzer verschickt wurden. So könnten<br />
– wie auch beim Beispiel Schokolode – Konsumenten in<br />
Zukunft Produzenten werden. Im Konzeptauto Rinspeed Budii<br />
des Schweizers Frank Rinderknecht übernimmt ein dank Steerby-wire-Technologie<br />
raumsparend zwischen Fahrer und Beifahrer<br />
angeordneter Kuka-Arm wichtige Funktionen. Er dient als Steuerknüppel<br />
und kann je nach Gusto hin- und hergeschoben, als<br />
Ablagetisch oder zuvorkommender Butler genutzt werden: Anders<br />
als der menschliche Arm, dessen Bewegungsmöglichkeiten<br />
konstruktiv eingeschränkt sind, kann der Roboter mit 180 statt<br />
nur 90 Grad um ein Hindernis herumgreifen.<br />
Der für gelegentliche Ausflüge in die Bionik bekannte Hersteller<br />
Festo setzt auf einen Roboter in Känguru-Form. Den Entwicklern<br />
schwebt vor, einen Grossteil der bei einem Sprung eingesetzten<br />
Energie bei der Landung zu speichern und sie für<br />
den nächsten Sprung zu nutzen. Ebenso wie es das echte<br />
Beuteltier mit seinen Achillessehnen tut. Den Vogel schiesst<br />
show mässig jedoch die Bionic Bar an Bord des Kreuzfahrtschiffes<br />
«Anthem of the Seas» der Reederei Royal Caribbean ab:<br />
Dort mixen zwei Kuka-Roboter hochprozentige Cocktails,<br />
deren Zutaten ihnen die Gäste zuvor per App und Smartphone<br />
geschickt haben.<br />
So harmlos solche Beispiele anmuten, so ernst ist auch der<br />
Hintergrund der ganzen Thematik. «Politik und Technologie befinden<br />
sich in einem Wettlauf auf Leben und Tod», beschreibt<br />
Peter Thiel, Gründer von Skype und Wagniskapitalgeber, das<br />
(für ihn) ungleiche Rennen. Gewerkschaften sehen als Schreckgespenst<br />
die Entstehung eines neuen, diesmal digitalen Proletariats<br />
aufziehen. Im dem würden Aufträge in immer kleinere<br />
Portionen zerlegt und von einem ganzen Heer schlecht abgesicherter<br />
Heimarbeiter erledigt. Als abschreckendes Beispiel nennen<br />
sie ausgerechnet Local Motors, jene Firma, die als Technik-<br />
Pionier in den USA Autos am 3D-Drucker bauen will (siehe VEC-<br />
TURA #13) – mit nur rund 80 Festangestellten und 50 000 freien<br />
Crowd-Mitgliedern.<br />
Diese Schreckensszenarien werden gottlob nicht über Nacht<br />
Wirklichkeit. Die International Federation of Robots rechnet bis<br />
2016 mit 95 000 neuen menschenfreundlichen Robotern in der<br />
Industrie – im Vergleich zu 1,5 Millionen Industrierobotern weltweit<br />
(noch) ein Nischenmarkt. Doch die zunehmende Digitalisierung<br />
aller Produktions- und Servicebereiche scheint unaufhaltsam.<br />
Colin Crouch, ebenso streitbarer britischer Soziologe<br />
und Politikwissenschaftler wie auch scharfer Kritiker des Neo-<br />
Liberalismus, schrieb kürzlich, die wirtschaftliche Stabilität der<br />
Menschen unterhalb des mittleren Einkommensniveaus werde<br />
zu einer Art öffentlichen Guts. Und fordert daher schon jetzt<br />
einen neuen Sozialvertrag.<br />
156 <strong>VECTURA</strong> #15
Die rahmenlosen Schiebefenster von Sky-Frame gehen schwellenlos in ihre Umgebung über. Innenräume<br />
verwandeln sich so zu Aussenräumen und ermöglichen eine einzigartige Wohnatmosphäre: SKY-FRAME.CH
ROBOTER IM ALL<br />
SEIT BEGINN DES WELTRAUMZEITALTERS WUR-<br />
DEN MASCHINEN VERWENDET, UM RAUE UM-<br />
GEBUNGEN ZU ERFORSCHEN, WISSENSCHAFT-<br />
LICHE ERKENNTNISSE ZU GEWINNEN UND<br />
MENSCH LICHE REISEN VORZUBEREITEN –<br />
ODER UM ASTRONAUTEN ZU UNTERSTÜTZEN<br />
Text Eric Halbach (übersetzt von Thomas Imhof) · Fotos NASA, Werk<br />
Extraterrestrische Verhältnisse: Erprobung von Prototypen des JPL ATHLETE in Kalifornien<br />
Die beiden Hauptgründe für die Verwendung von Robotern<br />
in der Raumfahrt sind schnell genannt: Es geht<br />
darum, sowohl das Risiko für den Menschen als auch<br />
die Kosten zu senken. Weil Maschinen keine lebenserhaltenden<br />
Systeme brauchen, fallen sie insgesamt leichter und kompakter<br />
aus, was zusätzlich Startgewicht spart. Und da Roboter kein<br />
Unwohlsein verspüren, können sie auf Missionen geschickt werden,<br />
die für einen Menschen heikel oder gar unmöglich wären –<br />
aus zeitlichen Gründen oder wegen der Strahlung im Weltraum.<br />
Als «Roboter» gilt eigentlich jede bewegliche elektromechanische<br />
Apparatur, die von einem Computer oder mindestens<br />
elektronisch gesteuert wird. So gesehen kann jeder die Erde<br />
umkreisende Satellit als Weltraum-Roboter bezeichnet werden –<br />
einschliesslich Sputnik 1. Der wurde bereits im Oktober 1957 von<br />
den Sowjets als erstes künstliches Objekt in eine Umlaufbahn<br />
geschossen. 21 Tage lang sendete Sputnik Funksignale, bis die<br />
Batterien leer waren.<br />
In den Jahren danach heizte der Kalte Krieg den Wettlauf zwischen<br />
den USA und der Sowjetunion im Weltraum an. Als<br />
Folge wurden Dutzende Satelliten zur Erkundung des inneren<br />
Sonnensystems in den Orbit katapultiert. Das vom Weltraum-<br />
unternehmen Lawotschkin verantwortete Programm der Russen<br />
verzeichnete besonders auf dem Mond und der Venus Erfolge.<br />
Im Rahmen der Luna-Mission gelang 1966 mit Luna 9<br />
die erste weiche Landung auf dem Mond und erstmals auch<br />
die Übermittlung von Messwerten und Bildern zurück zur Erde;<br />
1970 brachte Luna 17 zusätzlich den ersten Mond-Rover auf<br />
den Erdtrabanten. Auf der Venus blieben die Venera-Raumsonden<br />
die bisher einzigen, die zwischen 1970 und 81 nach mehreren<br />
vorangegangenen Missionen dort landeten und Daten von<br />
der Oberfläche lieferten.<br />
Die vom Jet Propulsion Laboratory (JPL) im kalifornischen Pasadena<br />
gesteuerten Aktivitäten der NASA konzentrierten sich über<br />
das Apollo-Programm auch auf den Mond, wobei die zwischen<br />
1966 und 68 eingesetzten Surveyor-Raumsonden als Wegbereiter<br />
für bemannte Missionen fungierten. Die US-Weltraumbehörde<br />
blickt ausserdem auf sehr erfolgreiche Expeditionen zum Mars zurück.<br />
Schon drei Rover-Generationen haben den «Roten Planeten»<br />
erkundet, daneben wurden auch die vier grossen Gas-Giganten<br />
Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun besucht sowie Sonden in<br />
den interstellaren Raum geschickt. Pluto, der nicht mehr den Status<br />
eines Planeten geniesst, soll im Juli 2015 im Zuge der New-<br />
Horizons-Mission einen Vorbeiflug erleben.<br />
158 <strong>VECTURA</strong> #15
MASCHINENBAU<br />
Inzwischen haben auch Europa und Japan eine aktive Rolle bei<br />
der Erforschung des Sonnensystems übernommen; in jüngerer<br />
Zeit gefolgt von China und Indien.<br />
Während alle auf einer Umlaufbahn kreisenden Satelliten und<br />
Sonden als Roboter gelten können, werden mit dem Begriff<br />
«Weltraumroboter» in der Regel Systeme bezeichnet, die physisch<br />
mit ihrer Umwelt interagieren. Darunter fallen Roboter-Arme –<br />
sowohl im All für Montage und Service oder auf dem Boden<br />
eines Planeten für Grabungen und das Sammeln von Bodenproben<br />
– und ganz spezielle sogenannte Rover, die unbekanntes<br />
Terrain erforschen müssen.<br />
Die Steuerung dieser Systeme kann bei zu weiten Entfernungen<br />
zwischen Erde und Empfänger zum Problem werden, weil die<br />
Datenübertragung dann nur zeitversetzt funktioniert. Befinden<br />
sich Roboter und Betreiber in der gleichen Umgebung, zum Beispiel<br />
ein Astronaut auf der Internationalen Raumstation und ein<br />
Onboard-Roboter-Arm, ist eine direkte und reibungslose Fernsteuerung<br />
möglich. Auf Erde–Mond-Distanzen sind die Funksignale<br />
zwar mit Lichtgeschwindigkeit unterwegs und haben nur<br />
eine Umlaufzeit von wenigen Sekunden. Doch schon daraus ergibt<br />
sich eine merkliche Verzögerung, die aber immer noch eine<br />
direkte Fernbedienung oder Teleoperation in Echtzeit ermöglicht.<br />
Oben: der hochmobile RoboSimian von JPL. Darunter eine Computersimulation<br />
jenes ESA ExoMars-Rover, der 2018 auf dem Mars landen soll. Unten:<br />
Der JPL-Rover Axel wurde entwickelt, um steile Hänge zu erforschen<br />
Diese Methode wurde in den 1970er-Jahren zur Steuerung<br />
des sowjetischen Lunochod-Rovers verwendet. Die Techniker<br />
im Kontrollzentrum sahen ein Live-Fernsehbild des Rovers<br />
vor sich und sandten ihm auf dieser Basis neue Fahrbefehle.<br />
Im Juni 1973, am Ende einer 19 Wochen langen Mission, stellte<br />
das zweite russische Mondmobil Lunochod 2 mit einer Gesamtfahrleistung<br />
von 39 Kilometer einen neuen ausserirdischen Streckenrekord<br />
auf. Und überbot die im Jahr zuvor von der Apollo-<br />
17-Crew aufgestellte Bestmarke. Im Dezember 1972 hatten die<br />
US-Astronauten Eugene Cernan und Harrison Schmitt mit ihrem<br />
Lunar Roving Vehicle (siehe <strong>VECTURA</strong> #3) an drei Tagen<br />
zusammen 36 Kilometer geschafft; die längste Einzeltour betrug<br />
20 Kilometer.<br />
Hier zeigt sich ein wesentlicher Unterschied zwischen Missionen<br />
mit Robotern und Astronauten bzw. Kosmonauten. Die «menschlichen»<br />
Apollo-Missionen konnten zwar schneller (bis zu 13 km / h)<br />
fahren und in kürzerer Zeit längere Distanzen zurücklegen, doch<br />
die begrenzte Masse ihrer Lebenserhaltungssysteme reduzierte<br />
den Aufenthalt jeweils auf wenige Tage. Zum Vergleich konnten<br />
die gerade einmal zwei Stundenkilometer schnellen Lunochods<br />
weitaus länger auf dem Mond herumkurven und in der Addition<br />
auch längere Strecken abspulen. Doch für Erfolg oder Misserfolg<br />
einer Weltraummission ist weniger die Fahrstrecke, sondern<br />
die wissenschaftliche Ausbeute entscheidend – in dieser Hinsicht<br />
war das Apollo-Programm aufgrund der grossen Menge an Proben<br />
ohne Zweifel sehr erfolgreich.<br />
Der Streckenrekord von Lunochod 2 galt bemerkenswert<br />
lange – erst 41 Jahre später schaffte der NASA-Mars-Rover Opportunity<br />
eine Distanz von 40 Kilometer. Nach der Landung im<br />
Januar 2004 erledigten Opportunity und sein baugleicher Kollege<br />
Spirit ihren Job deutlich länger als die zunächst avisierten<br />
90 Tage. Ein Grund für ihre Langlebigkeit war das günstige<br />
Wetter: Marswinde reinigten ihre Solarpaneele regelmässig von<br />
Staub und hielten so die Stromversorgung aufrecht. Während<br />
das Kontrollzentrum das letzte Spirit-Lebenszeichen im März<br />
2010 auffing, setzte Opportunity seine Arbeit bis Mai 2015 fort.<br />
Lunochod stellte seinen Rekord in 19 Wochen auf – Opportunity<br />
hingegen brauchte über zehn Jahre, um ihn zu brechen. Schuld<br />
daran war die weitaus grössere Zeitverzögerung zwischen Erde<br />
und Mars. Funksignale sind (in einer Richtung) zwischen vier<br />
und 20 Minuten unterwegs; eine Teleoperation in Echtzeit ist damit<br />
unmöglich. Als Folge ist der Kontakt auf eine Kommando-<br />
Sequenz pro Tag begrenzt. Der Rover führt sie selbstständig aus,<br />
ehe er die Resultate zurück zur Erde funkt, die dann dort genau<br />
analysiert werden. Dieser vorsichtigere Marschplan auf Tagesbasis<br />
begrenzt die Distanzen auf 50 bis 100 Meter; die von Opportunity<br />
2005 an einem Tag erreichten 220 Meter bedeuteten<br />
da schon einen absoluten Rekord.<br />
Der seit August 2012 auf dem Mars tätige NASA-Rover Curiosity<br />
ist grösser und leistungsfähiger als seine beiden Vorgänger und<br />
hatte im April 2015 schon mehr als zehn Kilometer zurückgelegt.<br />
Statt mit den üblichen Solarzellen wird dieser Rover mit einer<br />
SOMMER 2015 159
MASCHINENBAU<br />
Radionuklidbatterie betrieben (siehe <strong>VECTURA</strong> #11). Sie macht<br />
ihn unabhängiger von Sonnenlicht, auch staubbedeckte Solarpaneele<br />
sind kein Problem mehr. Doch obwohl Curiosity – wie<br />
zuvor schon Opportunity – längere Tagesmärsche angehen kann,<br />
wird er aktuell von unerwartet schwierigem Terrain eingebremst.<br />
Der ultimative limitierende Faktor für die auf dem Mars und künftig<br />
noch ferneren Planeten operierenden Weltraumfahrzeuge ist<br />
jedoch die Zeitspanne, in der neue Entscheidungen von der Erde<br />
zu ihnen vordringen. Sie könnte künftig von einem Tag auf wenige<br />
Stunden oder noch weniger verkürzt werden – begrenzt nur<br />
durch die Übertragungszeit mit Lichtgeschwindigkeit. Vorstellbar<br />
sind Rover, die mithilfe stärkerer Antennen ihre Daten direkt<br />
zur Erde funken, anstatt eine Weltraumsonde als Relaisstation<br />
nutzen zu müssen. Die Wissenschaftler auf der Erde erhielten<br />
so ein höheres Mass an «Telepräsenz» oder konkretere Vorstellungen<br />
über die aktuelle Position des Rovers – und könnten ihm<br />
Hollywood-tauglich: bemanntes NASA Space Exploration Vehicle<br />
mit kutschenartigem, zwölfrädrigem Fahrgestell.<br />
Unten: das gleiche Chassis, diesmal mit Schaufel für Erdarbeiten<br />
schneller neue Anweisungen übermitteln. Weiterentwickelte Formen<br />
der künstlichen Intelligenz könnten sogar dazu führen, dass<br />
der Rover wie ein Geologe denkt und selbst entscheidet, welcher<br />
Felsen beispielsweise in Augenschein genommen werden sollte.<br />
Eine weitere Möglichkeit zur Verkürzung der Befehlszyklen wäre<br />
die Stationierung menschlicher Kontrolleure in näherer Distanz<br />
zu den Maschinen. Ein denkbares Szenario ist, auf dem Mars<br />
eingesetzte Fahrzeuge von einer um den Planeten kreisenden<br />
Raumstation aus zu steuern. Oder von einer festen Basis auf der<br />
Oberfläche, nachdem die ersten Menschen dort gelandet sind.<br />
Dies erscheint sicherer zu sein, als sich in bemannten Rovern<br />
weit von der Bodenstation zu entfernen.<br />
Für die Zukunft erwarten Weltraumforscher eine Zunahme von<br />
Roboter-Missionen in unser Sonnensystem. Um Kosten zu sparen,<br />
wird teilweise auf vorhandene Designmuster zurückgegriffen<br />
und eine Art Plattformstrategie verfolgt. Sowohl die NASA-<br />
Mars-Sonde Phoenix (2008) als auch die für einen Start im Jahr<br />
2016 vorgesehene Insight beinhalten Komponenten einer fast<br />
fertiggestellten, 2001 jedoch am Boden gebliebenen Sonde<br />
namens Mars Surveyor 2001 Lander. Und ein für 2020 projektierter<br />
Mars-Rover wird technische Komponenten von Curiosity<br />
übernehmen.<br />
Von weiterentwickelten Rovern erwarten sich die Wissenschaftler<br />
in Zukunft auch eine bessere Geländetauglichkeit.<br />
Wie an steilen Abhängen auf dem Mars, an denen man saisonale<br />
Wasserströme beobachtet hat. Denkbar wäre es, einen<br />
Rover sozusagen als Anker auf der Hügelkuppe zu platzieren,<br />
von wo aus er ein zweites Fahrzeug an einer Seilwinde ablassen<br />
würde. Auf Stelzen stehende Roboter könnten an Stellen<br />
zum Einsatz kommen, die für Fahrzeuge auf Rädern nicht<br />
mehr erreichbar sind.<br />
Jenseits von Mars streben die führenden Raumfahrtbehörden<br />
in die weiteren Tiefen des Sonnensystems. Vor allem die Monde<br />
von Jupiter und Saturn stehen ganz oben auf der Wunschliste.<br />
Der Nachweis von unterirdischen Ozeanen auf den drei grössten<br />
Jupitermonden Ganymed, Kallisto und Europa könnten auf<br />
die Existenz von Leben hindeuten.<br />
Zu den für die 2020er-Jahre geplanten Missionen zählen JUICE<br />
(Jupiter Icy Moons Explorer) der europäischen Raumfahrtbehörde<br />
ESA und ein auf den Planeten Europa zielendes NASA-<br />
Projekt. Dies sind primär Weltraummissionen, doch könnte eine<br />
von Russland gelieferte Sonde für eine Landung auf Ganymed<br />
das JUICE-Programm ergänzen. Ganz ambitionierte Pläne sehen<br />
sogar den Einsatz beheizter Sonden vor. Sie würden auf den mit<br />
Eis bedeckten Ozeanen landen und nach Auftauen der Oberfläche<br />
Unterseeboote im Wasser absetzen.<br />
Auch der Saturnmond Titan mit seiner dichten Atmosphäre<br />
sowie Seen und Flüssen aus flüssigem Methan bleibt ein faszinierendes<br />
Reiseziel. Im Anschluss an die ESA-Sonde Huygens,<br />
die 2004 einige vielversprechende Bilder von der Oberfläche des<br />
Titan zur Erde schickte, könnten künftige Missionen mit schwimmenden<br />
Sonden arbeiten, die auf den Seen wassern. Oder an<br />
Ballons durch die Luft schweben. Darüber hinaus bleiben auch<br />
Uranus und Neptun sowie deren Monde weitere Ziele für künftige<br />
Roboter-Missionen.<br />
160 <strong>VECTURA</strong> #15
Jüngste Entwicklungen in wiederverwendbarer Raketentechnik<br />
bedeuten, dass die Kosten für Abstecher in den Orbit schon in<br />
naher Zukunft um den Faktor 10 bis 100 sinken könnten. Das<br />
würde zu einer entsprechenden Erhöhung des Verkehrsaufkommens<br />
im Weltall führen, sowohl aus Sicht von nationalen Behörden<br />
wie Privatunternehmen. Sündhaft teure Projekte wie die in<br />
Planung befindliche Mission MSR (Mars Sample Return) von ESA<br />
und NASA, bei der erstmals Gesteinsproben vom Mars zur Erde<br />
gebracht werden sollen, könnten sich so plötzlich rechnen. Und<br />
für Nachwuchs-Wissenschaftler, Studenten und Universitäten<br />
aus aller Welt wären regelmässige Roboter-Ausflüge zum Mond<br />
keine Utopie mehr. Aktuell entwickeln sie so genannte «Cube-<br />
Sats» – das sind in der Grösse normierte Kleinstsatelliten, die auf<br />
Missionen zahlender Kunden mitgeführt und so in eine Umlaufbahn<br />
geschossen werden.<br />
Auch wenn der Vorreiter im Weltraumtourismus, Richard Branson<br />
und sein Unternehmen Virgin Galactic, nach dem Absturz des<br />
Raumflugzeugs SpaceShipTwo in der Mojave-Wüste 2014 einen katastrophalen<br />
Rückschlag verzeichnen musste, könnten regelmässige<br />
kommerzielle Reisen ins All (die ersten gab es ja bereits; sieben<br />
zahlende Passagiere flogen zwischen 2001 und 09 zur ISS) zumindest<br />
für sehr solvente Kunden trotzdem irgendwann Realität werden.<br />
Bis zum Jahr 2050 könnten wir Hotels in der Erdumlaufbahn<br />
und auf dem Mond erleben, ebenso wie eine erste Mars-Kolonie.<br />
Oben: geplantes russisches Ganymede-Landemodul für die ESA-<br />
JUICE-Mission zum Jupiter. Mitte: Konzept einer beheizten Sonde,<br />
die sich durch das Eis des Jupitermondes Europa schmilzt. Unten:<br />
Schwimmroboter erkunden einen Methan-See auf Saturnmond Titan<br />
In einer Zukunft mit erhöhten menschlichen Weltraumaktivitäten<br />
werden Roboter eine wichtige Rolle spielen. Mehr noch: Der<br />
Bedarf an Infrastrukturen und Ressourcen zur Unterstützung<br />
menschlicher Basen und Siedlungen wird zu einer industriellen<br />
Verwendung von maschinellen Helfern führen. Roboter werden<br />
die Bestandteile von auf einem Planeten eingeschlagenen Asteroiden<br />
ebenso wie Oberflächenmaterial von Mond und Mars<br />
dazu verwenden, um Wasser, Sauerstoff und andere nützliche<br />
Chemikalien und Mineralien zu gewinnen.<br />
Zur Erhöhung der Sicherheit werden Roboter so oft wie möglich<br />
für monotone, gefährliche Arbeiten eingesetzt werden – genauso<br />
wie hier auf der Erde. Parallel werden auch Weltraum-Roboter<br />
in der Lage sein, den Menschen zu assistieren und, wo sinnvoll,<br />
in Mensch-Maschine-Teams zu arbeiten. Darauf zielt unter anderem<br />
der Eurobot der ESA – ein vierrädriger Rover mit zwei Armen,<br />
der sich entweder autonom oder mit einem Astronauten<br />
am Steuer fortbewegt. Auch multifunktionale Roboter sind im<br />
Kommen – wie ein von der NASA entwickelter Prototyp namens<br />
ATHLETE: Diese sechsfüssige Weltraumspinne kann auf Rädern<br />
fahren oder laufen und so beim Aufbau von Weltraumbasen äusserst<br />
nützlich sein. Der zwölfrädrige Space-Bulli Chariot dient als<br />
Chassis für bemannte Weltraumautos oder kann für alle Arten<br />
von Erdbewegungsarbeiten eingesetzt werden.<br />
Eine weitere wichtige Aufgabe für Roboter wird die Beseitigung<br />
von Weltraumschrott sein. Seit 1957, als Sputnik 1 als Erster<br />
durch die noch unberührte Umlaufbahn der Erde segelte, ist die<br />
Region mit Hunderttausenden von Abfallobjekten übersät worden.<br />
Diese Trümmer stellen eine permanente Gefahr für funktionsfähige<br />
Satelliten und bemannte Raumschiffe dar. Dank reduzierter<br />
Kosten wird es bald wirtschaftlich vertretbar sein, Roboter<br />
zum Reinemachen ins All zu schicken, damit auch künftige Generationen<br />
– frei nach Kultregisseur Stanley Kubrick – keine «Space<br />
Odyssey» erleben müssen.<br />
SOMMER 2015 161
RUBRIKEN IMPRESSUM<br />
Herausgeberin Prestige Media International AG<br />
Verleger Francesco J. Ciringione<br />
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Chefredaktor Matthias Pfannmüller (map)<br />
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Gestaltung Corinna Kost<br />
Autoren dieser Ausgabe<br />
Simon Baumann, Christian Bartsch, Paul Bracq,<br />
Axel F. Busse, Jo Clahsen, Dieter Günther,<br />
Eric Halbach, Hubertus Hoslin, Daniel Huber,<br />
Thomas Imhof, Jochen Kruse, Stefan Lüscher,<br />
Wolfgang Peters, Mark Stehrenberger<br />
Fotografen (Illustratoren) dieser Ausgabe<br />
Christian Bittmann, Nick Dimbleby, map,<br />
Wale Pfäffli, (Mark Stehrenberger), Ian G.C. White<br />
Lektorat Andreas Probst<br />
Produktionsleitung Corinna Kost<br />
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Auflage 20 500 Exemplare<br />
WEMF / REMP-beglaubigt (2014) 16 375 Ex.<br />
<strong>VECTURA</strong> #16<br />
erscheint im<br />
September 2015<br />
Wiedergabe von Artikeln und Bildern,<br />
auszugsweise oder in Ausschnitten, nur mit<br />
ausdrücklicher Genehmigung der Redaktion.<br />
Für unverlangte Zusendungen wird von<br />
Redaktion und Verlag jede Haftung abgelehnt<br />
WWW.<strong>VECTURA</strong>MAG.CH<br />
Titelfoto und -film Werk<br />
162 <strong>VECTURA</strong> #15
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Seit seiner Gründung entwickelt Perrier-Jouët blumigen Champagner mit einer seltenen Feinheit,<br />
die durch Chardonnay gekennzeichnet ist.<br />
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