Erziehung und Wissenschaft - GEW
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GASTKOMMENTAR<br />
Jan Christian<br />
Müller ist Redakteur<br />
bei der Frankfurter<br />
R<strong>und</strong>schau.<br />
Foto: privat<br />
It’s the game, stupid<br />
Es ist wahrscheinlich um ein<br />
Vielfaches leichter, sich auf<br />
eine Fußball-Weltmeisterschaft<br />
zu freuen, die nicht in<br />
Deutschland stattfindet.<br />
Jedenfalls dann, wenn man<br />
Polizist wäre oder Feuerwehrmann.<br />
Oder Unfallchirurg.<br />
Oder Mitarbeiter im<br />
deutschen Organisationskomitee.<br />
Deren Führungskräfte<br />
leiden regelmäßig wie<br />
H<strong>und</strong>e <strong>und</strong> werden das ungute<br />
Gefühl nicht los, die<br />
Welt habe sich gegen jeden<br />
einzelnen ihrer bienenfleißigen<br />
zirka 230 WM-OK-ler<br />
<strong>und</strong> -innen verschworen.<br />
Der Druck kommt von oben<br />
<strong>und</strong> von unten. Es ist ungeheuer<br />
schwierig, es mittendrin<br />
auszuhalten <strong>und</strong> die<br />
Nerven zu bewahren: Die<br />
WM frisst ihre Kinder.<br />
Der Weltverband Fifa, diese<br />
Krake mit ihren gierigen<br />
Greifarmen um den ganzen<br />
Globus herum, erfindet immer<br />
neue, immer absurder<br />
anmutende Richtlinien <strong>und</strong><br />
noch mehr unvorhersehbare<br />
Interpretationen dieser<br />
Richtlinien. Dazu gesellen<br />
sich Hiobsbotschaften,<br />
durchaus auch hausgemachte:<br />
Die vorgezogene Eröffnungsfeier<br />
wird mal eben abgesagt;<br />
die Stiftung Warentest<br />
grätscht gnadenlos von<br />
hinten; Verbraucher- <strong>und</strong><br />
Datenschützer murren mitunter<br />
hörbar, Politiker sowieso,<br />
<strong>und</strong> die halbe Weltbevölkerung<br />
ist beleidigt,<br />
dass sie sich einen neuen<br />
Hy<strong>und</strong>ai kaufen muss, um<br />
ein Ticket zu ergattern. So<br />
wenige Hy<strong>und</strong>ais gibt es gar<br />
nicht. Dazu der Ärger um<br />
die Torhüter – „Klinsi killt<br />
Kahn“ – <strong>und</strong> den notorisch<br />
unangepassten B<strong>und</strong>estrainer,<br />
der die aufgeschreckten<br />
Verbandsfunktionäre beim<br />
benachbarten DFB in der<br />
Frankfurter Otto-Fleck-<br />
2 <strong>Erziehung</strong> <strong>und</strong> <strong>Wissenschaft</strong> 6/2006<br />
WM-Hype – oder warum es jetzt endlich losgehen soll<br />
Schneise 6 mächtig auf Trab<br />
hält.<br />
Das alles ist gut für Schlagzeilen.<br />
Negative Schlagzeilen,<br />
die lustvoll verarbeitet<br />
werden, weil sich plötzlich<br />
Menschen für Fußball zu interessieren<br />
glauben, die als<br />
Kinder noch zu Daktari umgeschaltet<br />
haben, wenn die<br />
Sportschau begann. Gegen<br />
die bösen Schlagzeilen, die<br />
plötzlich den Weg ganz vorn<br />
in die Tagesschau finden<br />
<strong>und</strong> auf die Titelseiten nicht<br />
nur in Bild <strong>und</strong> kicker, kann<br />
selbst der allgegenwärtige<br />
Franz Beckenbauer gar nicht<br />
um die halbe Welt erfolgreich<br />
anreisen, grüßen <strong>und</strong><br />
hofieren. Da spürt der Kaiser<br />
die Grenzen seiner<br />
Macht.<br />
Es wird Zeit, dass es los geht.<br />
Ganz dringend.<br />
Neulich hat einer in einem<br />
Chatroom im Internet sein<br />
Herz ausgeschüttet. Er hat<br />
nämlich Folgendes geschrieben:<br />
„Oh Mann, wie mich<br />
dieser nervige WM-Hype<br />
nervt.“ Er hat das feinsinnig<br />
formuliert, sein Genervt-<br />
Sein freilich nicht näher ausgeführt,<br />
aber wahrscheinlich<br />
möchte er keine Werbung<br />
mehr vom OBI-Baumarkt<br />
mit Fangesängen im Hintergr<strong>und</strong><br />
im Radio hören <strong>und</strong><br />
keine als Stadien verkleidete<br />
Continental-Reifen an Laternenmasten<br />
auf Einfallstraßen<br />
hängen sehen. Er<br />
hat womöglich keinen<br />
Sohn, der es über Coca-Cola<br />
zum Balljungen bringen<br />
kann oder über McDonalds<br />
zum Händchenhalten beim<br />
Einlaufen. Er kauft seinen<br />
Plasmafernseher vielleicht<br />
lieber beim Elektrohändler<br />
im Dorf <strong>und</strong> nicht bei<br />
Mediamarkt <strong>und</strong> eher von<br />
Loewe-Opta als von LG<br />
Electronics, für die Klinsmann<br />
lächelnd wirbt. Er<br />
macht bei Gewinnspielen im<br />
Radio gr<strong>und</strong>sätzlich nicht<br />
mit. Und er benötigt, weil<br />
beim Ticketkauf im Internet<br />
gescheitert, auch keinen Privatkredit<br />
mit 4,44 Prozent.<br />
Den preist Uwe Seeler in<br />
Zeitungsannoncen für eine<br />
Bank an. Uwe Seeler! So<br />
weit ist es schon gekommen<br />
mit dem WM-Hype.<br />
Es gibt Leute, für die es Zeit<br />
wird, dass alles vorbei ist.<br />
Ganz dringend.<br />
Es sind zum Glück nur ein<br />
paar wenige. Wenn es dann<br />
am 9. Juli so gegen zehn vor<br />
zehn, je nach Spielverlauf<br />
auch später, so weit ist –<br />
wenn Cafu aus Brasilien<br />
oder Cocu aus Holland oder<br />
Cannavaro aus Italien den<br />
schweren Goldpokal in den<br />
Berliner Nachthimmel<br />
recken, spätestens dann wird<br />
sich Wehmut breit machen.<br />
Dann wird der riesige Ballon,<br />
vollgepumpt mit Erwartungen<br />
<strong>und</strong> Ängsten, sich<br />
über exakt vier Wochen hinweg<br />
geleert haben <strong>und</strong> lustlos<br />
im lauen Sommerwind<br />
zappeln. Das Finale soll mit<br />
einem goldenen Ball gespielt<br />
werden, doch die schönste<br />
Zeit ist dann schon vorbei.<br />
Trinidad <strong>und</strong> Tobago wird<br />
längst abgereist sein, die<br />
Elfenbeinküste, Japan,<br />
Spanien ganz sicher. Und<br />
mit ihnen die Fans, die<br />
Deutschland in ein Land des<br />
Lachens verwandeln könnten,<br />
wenn Deutschland<br />
denn tatsächlich mitmacht<br />
(was Deutschland durchaus<br />
schaffen kann). Der folkloristische<br />
Teil der WM endet<br />
am 23. Juni abends mit<br />
Schweiz gegen Südkorea in<br />
Hannover <strong>und</strong> Togo gegen<br />
Frankreich in Köln. Dann ist<br />
die Vorr<strong>und</strong>e vorbei, dann<br />
kommen die Pausen zwischen<br />
den Spielen. Dann beginnt<br />
die Zeit der Superstars.<br />
Es gibt, fern von Werbebotschaften<br />
<strong>und</strong> Gewinnspielen,<br />
Sicherheitsdebatten <strong>und</strong><br />
Ticketfrust, viel mehr Anlass<br />
zur nationalen Vorfreude als<br />
derzeit noch gelebt wird.<br />
Weil es kein vergleichbar<br />
aufregenderes Spiel als Fußball<br />
gibt. Weil sich aus einem<br />
scheinbar harmlosen<br />
Fehlpass an der Mittellinie<br />
übergangslos <strong>und</strong> völlig unerwartet<br />
eine atemraubende<br />
Kombination entwickeln<br />
kann. Fußball ist das komplexeste<br />
<strong>und</strong> kompletteste<br />
<strong>und</strong> einfachste Spiel, das<br />
Menschen bislang erf<strong>und</strong>en<br />
haben. Es kann eben noch<br />
abgr<strong>und</strong>tief hässlich gewesen<br />
sein <strong>und</strong> dann gleich<br />
wieder w<strong>und</strong>erschön. Es ist<br />
kommerziell ausgeschlachtet<br />
worden, aber es hat deshalb<br />
in zweimal 45 Minuten<br />
nichts verloren. Sogar das<br />
Golden Goal haben sie wieder<br />
abgeschafft, als sie dann<br />
endlich gewahr wurden,<br />
dass sie damit die Dramatik<br />
killen.<br />
In diesem Sommer 2006<br />
werden viele Kinder verschlafen<br />
im Unterricht sitzen.<br />
Die Abendspiele fangen<br />
viel zu spät an. Erst um<br />
neun. Manche Eltern werden<br />
deshalb großzügig sein<br />
müssen. Das wäre wichtig.<br />
Man sollte darüber nachdenken,<br />
zwischen 10. Juni <strong>und</strong><br />
10. Juli die ersten beiden<br />
St<strong>und</strong>en ausfallen zu lassen.<br />
Oder am besten gleich die<br />
ganze Schule. Oder zumindest<br />
keine Hausaufgaben.<br />
Um diese Weltmeisterschaft<br />
mit beiden Händen umarmen<br />
zu können. Und mit<br />
den Füßen nachspielen.<br />
St<strong>und</strong>enlang. Rooney gegen<br />
Ronaldinho auf dem Bolzplatz.<br />
Überall auf der Welt.<br />
Das ist WM. Es kann ein<br />
w<strong>und</strong>erschönes Fest werden.<br />
Der Hype ist völlig berechtigt.<br />
Jan Christian Müller