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Work-Life-Balance - BTQ Kassel

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<strong>BTQ</strong><strong>Kassel</strong><br />

<strong>Work</strong>-<strong>Life</strong>-<strong>Balance</strong> in<br />

kleinen und mittleren<br />

Unternehmen<br />

Beratungsstelle für Technologiefolgen und Qualifizierung<br />

im Bildungswerk der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft<br />

(ver.di) im Lande Hessen e.V.


Inhalt<br />

Vorwort 4<br />

„<strong>Work</strong>-<strong>Life</strong>-<strong>Balance</strong>“ ist mehr – und Leben mehr<br />

als Arbeit 5<br />

Vielfältige Erwartungen – aber Skepsis bei der Umsetzung 6<br />

<strong>Work</strong>-<strong>Life</strong>-<strong>Balance</strong> steigert Produktivität auch in kleinen<br />

und mittleren Unternehmen 8<br />

Hilfen zum Einstieg – Wie ist die Lage? 10<br />

Im Mittelpunkt: Die Zeit 11<br />

Welche Zeiten will ich ausbalancieren? 12<br />

Im Zentrum: Fragen der Vereinbarkeit 15<br />

…aus Sicht der Gewerkschaften 15<br />

…aus der betrieblichen Praxis 17<br />

…aus Sicht der Arbeitgeber 20<br />

…aus Sicht des Gesetzgebers 21<br />

Hauptsache gesund – auf der Arbeit und Zuhause 22<br />

Vorschläge zur Reduzierung gesundheitlicher<br />

Belastungen und Gefährdungen 24<br />

Gesunde Arbeit : Überlastanzeige 26<br />

…und Prävention 28<br />

Weiterbildungsbedarf durch <strong>Work</strong>-<strong>Life</strong>-<strong>Balance</strong> 30<br />

Link- und Literaturliste 31<br />

Anhang<br />

Optionszeiten im 7. Familienbericht der Bundesregierung 34<br />

ver.di: Tarifpolitische Grundsätze für biographieorientierte<br />

Zeitkonten 42


Vorwort<br />

4<br />

Das Konzept „<strong>Work</strong>-<strong>Life</strong>-<strong>Balance</strong>“ ist in aller Munde – und erfreut sich<br />

einer hohen Nachfrage in Unternehmen, wenn es darum geht, sich durch<br />

geschickte Inszenierungen als attraktive Arbeitgeber zu präsentieren. Die<br />

Umsetzung in konkrete betriebliche Praxis tut sich naturgemäß mit solch<br />

„großen Würfen“ etwas schwerer. Mit der vorliegenden Broschüre wollen<br />

wir den Nebel lichten und haben eine Übersetzung und Präzisierung vorgenommen:<br />

„Gute Arbeit, gutes Leben“ ist zwar nicht wortwörtlich übersetzt,<br />

aber beschreibt die Ziele ganz gut. Dennoch verwenden wir im Text<br />

den Begriff „<strong>Work</strong>-<strong>Life</strong>-<strong>Balance</strong>“, um an die aktuellen Diskussionen anzuknüpfen<br />

und dafür Handlungswissen zur Verfügung zu stellen.<br />

Bei dem Konzept „<strong>Work</strong>-<strong>Life</strong>-<strong>Balance</strong>“ geht es für die Betriebe um die<br />

Verbesserung der Arbeitsproduktivität, bessere Marktchancen und um<br />

gute Arbeit in kleinen und mittleren Unternehmen. Zeit und Energie für<br />

familiäre Pflege und Betreuung, für die persönliche Entwicklung und für<br />

ehrenamtliches Engagement wollen und brauchen die Beschäftigten. Mit<br />

der Umsetzung des „<strong>Work</strong>-<strong>Life</strong>-<strong>Balance</strong>“-Konzepts können Schritte in die<br />

richtige Richtung gegangen werden. Wegen des demografischen Wandels<br />

und des lebenslangen Lernens müssen Arbeitsplätze so gestaltet werden,<br />

dass Ältere den Arbeitsprozess bewältigen können und Arbeitsbedingungen<br />

gesundheitsgerecht und lernförderlich sind. Die Qualifizierung der<br />

Beschäftigten und der Führungskräfte ist dabei das wesentliche Element.<br />

Die vorliegende Broschüre konzentriert sich auf drei wesentliche Bereiche<br />

der praktischen Umsetzung von „<strong>Work</strong>-<strong>Life</strong>-<strong>Balance</strong>“: Vorrangig geht es<br />

um die Gestaltung der Arbeitszeitsysteme zur besseren Vereinbarkeit, um<br />

Maßnahmen für gesundheitsgerechte Arbeitsbedingungen und den Ausbau<br />

der innerbetrieblichen Bildungsangebote. Für die gesellschaftliche<br />

Debatte um die notwendigen Rahmenbedingungen liegen zwei bemerkenswerte<br />

Dokumente vor, die wir im Anhang abgedruckt haben: Zum<br />

einen handelt es sich um das Modell der „Optionszeiten“, das im 7. Familienbericht<br />

veröffentlicht wurde. Zum anderen um das von der Gewerkschaft<br />

ver.di entwickelte Konzept der „biografieorientierten Arbeitszeit“ –<br />

beides materialreiche und informative Fundgruben für die öffentlichen<br />

Debatten.<br />

Zurück zum Betrieb: Erfolgreiche Umsetzung klappt nur, wenn alle Beteiligten<br />

sich auf den Weg machen. Die Chancen für eine Realisierung stehen<br />

so schlecht nicht: Für die Beschäftigten sind gute Arbeitsbedingungen<br />

wichtig und die Unternehmen können nennenswerte Produktivitätsgewinne<br />

realisieren. Und vieles, was in Großunternehmen notwendigerweise<br />

auf dem Verhandlungswege geregelt und dann schriftlich fixiert<br />

wird, geht in kleinen und mittleren Unternehmen auf dem „kleinen<br />

Dienstweg“. Das Beispiel einer Betriebsvereinbarung, die die Teilnahme<br />

von Kindern am Mittagessen in der betriebseigenen Kantine regelt, ist<br />

dafür ein beredtes Beispiel.<br />

Damit Sie Ihrem Verantwortungsbereich Veränderungsprozesse erfolgreich<br />

angehen können, bietet Ihnen die vorliegende Broschüre einen<br />

Überblick über Elemente von „<strong>Work</strong>-<strong>Life</strong>-<strong>Balance</strong>“ und ermöglicht so den<br />

Startschuss für die betriebliche Praxis.<br />

Wir danken Walter Lochmann für die umfangreiche Unterstützung<br />

bei der Erstellung der Broschüre<br />

Regine Franz, <strong>BTQ</strong> <strong>Kassel</strong>, Februar 2008


„<strong>Work</strong>-<strong>Life</strong>-<strong>Balance</strong>“ ist mehr – und Leben<br />

mehr als Arbeit<br />

„<strong>Work</strong>-<strong>Life</strong>-<strong>Balance</strong> – ich kann diese englischen Managementmoden bald<br />

nicht mehr hören“, so oder ähnlich klingt es aus manchen Betrieben,<br />

wenn Ideen und Anregungen formuliert werden, sich mit dem Thema zu<br />

beschäftigen. Dies ist verständlich, haben sich doch Arbeitsinhalte und<br />

-abläufe, Arbeitszeiten und Flexibilitätsanforderungen in den letzten<br />

Jahren extrem stark verändert. Der permanente Wandel scheint die einzige<br />

verlässliche Größe zu sein, um Wettbewerbs- und Zukunftsfähigkeit zu<br />

sichern. Dennoch ist es lohnenswert, sich mit diesem Konzept auseinanderzusetzen.<br />

Nach einer Phase der Arbeitszeitverkürzung und der Durchsetzung<br />

flexibler Arbeitszeitsysteme ist seit einiger Zeit mit „<strong>Work</strong>-<strong>Life</strong>-<br />

<strong>Balance</strong>“ ein Konzept in der Diskussion, das die <strong>Balance</strong> von Lebens- und<br />

Arbeitszeit verbessern will – und mehr ist als die Vereinbarkeit von Beruf<br />

und Familie. Und es verspricht Beschäftigten, Management, der betrieblichen<br />

Interessenvertretung, der Kundschaft und dem gesellschaftlichen<br />

Umfeld, zu mehr Lebensqualität und verbesserter Arbeitsproduktivität zu<br />

verhelfen. Ein hoher Anspruch, dessen Realisierungschancen aber so<br />

schlecht nicht sind. Im Ergebnis geht es um eine bessere <strong>Balance</strong> zwischen<br />

betrieblichen Anforderungen und persönlichen (Arbeits-)Zeitwünschen.<br />

Ansatzpunkte liefern die Instrumente zur besseren Vereinbarkeit, erste<br />

erfolgversprechende Projekte zum Gesundheitsschutz und Konsequenzen<br />

für die betriebliche Bildung.<br />

Überwiegend wird <strong>Work</strong>-<strong>Life</strong>-<strong>Balance</strong> als Harmonie zwischen beruflichen<br />

und privaten Interessen definiert, wobei die Gewichtung individuell sehr<br />

verschieden sein kann. Öfter wird ein eher individualisierter Zugang zum<br />

Thema präferiert; so häufen sich Beiträge zum Thema der „Persönlichen<br />

<strong>Work</strong>-<strong>Life</strong>-<strong>Balance</strong>“, die durch Seminare, Trainings und <strong>Work</strong>shops helfen<br />

sollen, diese <strong>Balance</strong> für sein eigenes Leben zu definieren und herzustellen.<br />

Allerdings ist das Ausblenden der Arbeitswelt und der dort herrschenden<br />

Bedingungen und Reglements wenig hilfreich für eine wirkliche<br />

„<strong>Work</strong>-<strong>Life</strong>-<strong>Balance</strong>“. Auch das Bild, zwei Bereiche müssten ausbalanciert<br />

werden, trifft die Realität nicht ganz. Zudem greifen solche Definitionen<br />

zu kurz, denn schon der Volksmund weiß „Arbeit ist das halbe Leben“:<br />

Arbeit ist ein Teil des Lebens und Erwerbsarbeit auch nur ein Teil der<br />

Arbeit. Die Pflege von Angehörigen, die Erziehung und Betreuung der<br />

Kinder, ehrenamtliches Engagement oder Fortbildung sind (in der Regel<br />

unbezahlte) Arbeiten, die bei <strong>Work</strong>-<strong>Life</strong>-<strong>Balance</strong> eine gewichtige Rolle<br />

spielen. Eine weltweite Untersuchung hat gezeigt, dass Glück viel mit den<br />

Lebensumständen zu tun hat. Die Lebenszufriedenheit steigt mit dem<br />

Entwicklungs- und Bildungsstand einer Gesellschaft.<br />

5


6<br />

Der Anspruch, ein gutes Leben zu führen, verwirklicht sich ja nicht erst in<br />

der freien Zeit oder dem Ruhestand, sondern gehört auch bei der beruflichen<br />

Tätigkeit auf die Tagesordnung. Das hat viele Facetten: Für den Top-<br />

Manager mögen es Trainings sein „Wie kann ich vom Job abschalten“, für<br />

viele Jobber im Niedriglohnsektor geht es darum, mit dem Einkommen<br />

auszukommen und für viele Eltern steht die Vereinbarkeit von Beruf,<br />

Familien- und Hausarbeit im Zentrum. Hier ist der Genderblick gefragt. Bei<br />

Familien- und Hausarbeit, aber auch bei der Pflege Älterer gilt: Arbeitszeit<br />

hat ein Geschlecht, denn trotz vielfältiger und zunehmender Aktivitäten<br />

von Männern und Vätern bei der Familienarbeit verbleibt die Hauptlast bei<br />

den Frauen. So hat z.B. die 4. Europäische Erhebung<br />

über Arbeitsbedingungen ermittelt, dass teilzeitarbeitende<br />

Frauen eindeutig längere Arbeitszeiten<br />

haben als in Vollzeit beschäftigte Männer, wenn<br />

unbezahlte Tätigkeiten für Betreuung und Haushalt<br />

mitgerechnet werden (www.eurofound.europa.eu).<br />

Vielfältige Erwartungen – aber<br />

Skepsis bei der Umsetzung<br />

Auch wenn <strong>Work</strong>-<strong>Life</strong>-<strong>Balance</strong> in vieler Munde ist –<br />

die Einschätzungen der Beschäftigten und auch<br />

unsere Erfahrungen in der Beratungspraxis weisen<br />

darauf hin, dass den Worten noch mehr Taten folgen<br />

müssen. So hat das Hamburger BAT-Freizeitforschungsinstitut<br />

von Horst W. Opaschowski ermittelt,<br />

dass 60 Prozent der Befragten glauben, dass durch<br />

Teilzeitarbeit im Betrieb keine neue Stellen geschaffen<br />

werden, was in der Regel Mehrarbeit und<br />

Arbeitsintensivierung für die anderen Beschäftigten<br />

bedeutet. Drei Viertel aller Berufstätigen (71 Prozent)<br />

wollen eine Festanstellung mit geregeltem<br />

Feierabend. Sieben Prozent können sich vorstellen,<br />

ihren Arbeitsplatz auch mit Kollegen zu teilen (Job-Sharing), und zehn<br />

Prozent würden gerne zu Hause Telearbeit machen. 59 Prozent der<br />

Männer und 64 Prozent der Frauen sind zudem der Meinung, dass die<br />

Vereinbarkeit von Familie und Beruf (<strong>Work</strong>-<strong>Life</strong>-<strong>Balance</strong>) von den Unternehmen<br />

kaum gefördert wird (www.einblick.dgb.de). Zu einem ähnlichen<br />

Ergebnis kommt der im Herbst 2007 vorgestellte DGB-Index „Gute<br />

Arbeit“. Nur zwölf Prozent der Arbeitsplätze in Deutschland werden von<br />

den Beschäftigten als umfassend positiv beschrieben. 54 Prozent liegen im<br />

Mittelfeld, mehr als ein Drittel der Arbeitsplätze (34 Prozent) ist mangelhaft.<br />

Im Schnitt sei der berufliche Alltag geprägt von Arbeits- und Zeitdruck,<br />

fehlenden Aufstiegsperspektiven, geringer beruflicher Zukunftssicherheit<br />

und einem nicht angemessenen Einkommen. Befragte mit niedrigem<br />

Einkommen berichteten zudem deutlich öfter als Besserbezahlte<br />

von großen gesundheitlichen Belastungen, respektlosem Umgang,


schlechter Führungsqualität und einem Mangel an Aufstiegschancen<br />

(www.dgb-index-gute-arbeit.de).<br />

Aus betriebswirtschaftlicher Sicht sind diese Ergebnisse für kleine und<br />

mittlere Unternehmen ein Warnsignal: wenn schlechte Arbeitsbedingungen<br />

und belastende Arbeitssituationen mit einem niedrigen Einkommen<br />

zusammenkommen sinkt die Motivation, Beschäftigte sind „auf dem<br />

Absprung“ zum besser bezahlten und interessanteren Job und das<br />

Betriebsklima geht in den Keller. Zudem entstehen vermeidbare Kosten im<br />

Bereich Personalgewinnung, die Dienstleistungsqualität und Produktqualität<br />

ist gefährdet,<br />

dauernde Einarbeitung<br />

und ständige<br />

Personalfluktuation<br />

kosten Ressourcen –<br />

alles Entwicklungen,<br />

die schlecht fürs Geschäft<br />

sind.<br />

7


8<br />

<strong>Work</strong>-<strong>Life</strong>-<strong>Balance</strong> steigert Produktivität<br />

auch in kleinen und mittleren<br />

Unternehmen<br />

Mitte 2005 wurde die Studie „<strong>Work</strong>-<strong>Life</strong>-<strong>Balance</strong> – Motor für wirtschaftliches<br />

Wachstum und gesellschaftliche Stabilität“ veröffentlicht, die im<br />

Auftrag des Bundesfamilienministeriums von der Prognos AG durchgeführt<br />

wurde.<br />

In der Studie definieren die Autoren <strong>Work</strong>-<strong>Life</strong>-<strong>Balance</strong> als eine „neue,<br />

intelligente Verzahnung von Arbeits- und Privatleben vor dem Hintergrund<br />

einer veränderten und sich dynamisch verändernden Arbeits- und<br />

Lebenswelt.“ Das Ziel betrieblicher <strong>Work</strong>-<strong>Life</strong>-<strong>Balance</strong>-Maßnahmen sei,<br />

erfolgreiche Berufsbiographien unter Rücksichtnahme auf private, soziale,<br />

kulturelle und gesundheitliche Erfordernisse zu ermöglichen. Als zentraler<br />

Aspekt in dieser grundsätzlichen Perspektive wird hier die <strong>Balance</strong> von<br />

Familie und Beruf angesehen. Bausteine von <strong>Work</strong>-<strong>Life</strong>-<strong>Balance</strong>-Konzepten<br />

sind bedarfsspezifisch ausgestaltete Arbeitszeitmodelle, eine angepasste<br />

Arbeitsorganisation, Modelle zur Flexibilisierung des Arbeitsortes<br />

wie Telearbeit, Führungsrichtlinien sowie weitere unterstützende und<br />

gesundheitspräventive Leistungen für die Beschäftigten. Prognos unterstellt,<br />

dass bis 2020 rund 30% der Beschäftigten an <strong>Work</strong>-<strong>Life</strong>-<strong>Balance</strong>-<br />

Konzepten teilhaben.<br />

Vor allem durch ein verbessertes Arrangement von Berufs- und Privatleben,<br />

einer höheren Lern- und Beschäftigungsfähigkeit der Mitarbeiterinnen<br />

und Mitarbeiter, der Erschließung breiterer Beschäftigungspotenziale<br />

und Kompetenzen sowie einer Unternehmenskultur, die von gegenseitigem<br />

Vertrauen und Loyalität geprägt ist, ergäben sich die Vorteile. Und<br />

die sollen spürbar und vor allem messbar sein: Ein um 1,3 % erhöhtes<br />

Bruttoinlandsprodukt (€ 248 Mrd.), 221.000 zusätzliche sozialversicherungspflichtige<br />

Beschäftigte, eine höhere Geburtenrate (1,56 Geburten<br />

pro Frau), um 0,86 Prozentpunkte niedrigere Sozialversicherungsbeiträge<br />

und einen deutlichen Anstieg der Binnennachfrage. Die Steigerung der<br />

Produktivität pro Erwerbstätigenstunde um 1,6 % stärkt die Wettbewerbsfähigkeit<br />

der Unternehmen im internationalen Vergleich wesentlich<br />

(www.prognos.com).<br />

Allerdings räumen die Prognos-Fachleute ein, dass angesichts kurzfristiger<br />

Renditeerwartungen und fehlender Planungshorizonte die langfristige<br />

Umsetzung möglicherweise erschwert werde. Dennoch: Da die Maßnahmen<br />

grundsätzlich in allen Betrieben umgesetzt werden können, spielen<br />

die KMU aufgrund ihrer Beschäftigungswirksamkeit eine besondere Rolle.


In einer Druckerei im südhessischen Darmstadt wird seit Jahren<br />

bewiesen, dass diese eher theoretisch angelegten Studien in der<br />

betrieblichen Praxis bestens funktionieren.<br />

Der „Klassiker“ der betrieblichen Regelung<br />

zur innovativen Arbeits(zeit)gestaltung ist<br />

noch immer die Betriebliche Vereinbarung der<br />

Firma „Druckwerkstatt Kollektiv GmbH“ zu<br />

„Entlohnung und Arbeitszeitregelung“:<br />

Hintergrund dieser Regelung in diesem Kleinbetrieb ist das Interesse<br />

an einer gelungenen <strong>Work</strong>-<strong>Life</strong>-<strong>Balance</strong>. So heißt es beispielsweise<br />

in einer Selbstdarstellung „Nicht zuletzt die lange Qualifikationsphase<br />

erfordert, die Mitarbeiter/innen möglichst langfristig an den<br />

Betrieb zu binden. Notwendige Voraussetzung dafür ist die persönliche<br />

Zufriedenheit der Mitarbeiter/innen im Betrieb und in der privaten<br />

Lebensgestaltung. Die Firma kann dieses Ziel durch betriebliche<br />

Vereinbarungen unterstützen, die es den Mitarbeiter/innen<br />

ermöglicht, ihre Erwerbsarbeit den veränderten Lebensbedingungen<br />

anpassen zu können. Wir sehen in der Realisierung der<br />

Mitarbeiterwünsche hinsichtlich betrieblichem Hauptarbeitsplatz<br />

und Wochenarbeitszeit die Möglichkeit zur gegenseitigen<br />

Vertrauensbildung und Motivationssicherung.“ Und vor diesem<br />

Hintergrund werden die Beschäftigten so intensiv qualifiziert, dass<br />

im Kernbereich ein flexibler Einsatz in den verschiedenen<br />

Arbeitsbereichen möglich wird.<br />

Und die dort vereinbarten familiengerechten Arbeitszeiten können<br />

sich sehen lassen: Für die Betreuung von Krippenkindern werden<br />

die Beschäftigten sechs Wochenstunden freigestellt, im Kindergartenalter<br />

vier Wochenstunden und im schulpflichtigen Alter gibt es<br />

immerhin noch zwei Stunden Arbeitszeitreduzierung. Diese<br />

Arbeitszeitverkürzung basiert auf einer 30-Stunden-Woche und findet<br />

bei vollem Lohnausgleich statt.<br />

(Weitere Informationen über diesen „Familienfreundlichen Betrieb<br />

2000“ unter www.darmstadt-online.de/druckwerkstattkollektiv)<br />

<strong>Work</strong>-<strong>Life</strong>-<strong>Balance</strong><br />

Von der Studie zur Betriebspraxis:<br />

<strong>Work</strong>-<strong>Life</strong>-<strong>Balance</strong> durch Qualifizierung und<br />

familiengerechter Arbeitszeitverkürzung bei<br />

vollem Lohnausgleich<br />

9


10<br />

Hilfen zum Einstieg – Wie ist die Lage?<br />

<strong>Work</strong>-<strong>Life</strong>-<strong>Balance</strong> hat einen umfassenden Anspruch – aber es hat sich<br />

bewährt, mit überschaubaren „Happen“ anzufangen und daraus im<br />

Rahmen von Dienst- oder Betriebsvereinbarungen die unterschiedlichen<br />

Bereiche zu gestalten. Als Einstieg empfiehlt sich eine Umfrage, die<br />

gemeinsam von Management und betrieblichen Interessenvertretungen<br />

entwickelt und ausgewertet werden sollte.<br />

Möglicher Fragenkatalog zu <strong>Work</strong>-<strong>Life</strong>-<strong>Balance</strong><br />

Wie weit passt meine berufliche Arbeit zu meinen Interessen,<br />

Neigungen und Fähigkeiten?<br />

Wie weit fühle ich mich mit meiner Berufsrolle identisch?<br />

Wie weit erlebe ich meine Arbeit als sinnvoll, lustvoll, interessant,<br />

befriedigend?<br />

Wie weit erlebe ich meine berufliche Arbeit als mühselig, langweilig,<br />

belastend, quälend, entfremdend?<br />

Welche Anerkennung erhalte ich durch meine berufliche Arbeit<br />

(z.B. durch Kolleginnen und Kollegen, Vorgesetzte, die Kundschaft,<br />

Geschäftspartner, Freundinnen und Freunde, Familie)?<br />

Wie schätze ich meine beruflichen Zukunftsaussichten und meine<br />

Arbeitsplatzsicherheit ein?<br />

Wie zufrieden bin ich mit meinen Aufstiegsmöglichkeiten?<br />

Wie zufrieden bin ich mit meinem Einkommen?<br />

Wie weit bin ich in meiner Arbeit selbstbestimmt?<br />

Wie weit erlebe ich meine berufliche Arbeit als erfolgreich (im Sinne<br />

eines Erreichens von inhaltlichen Zielen)?<br />

Wie gut kann ich in anderen Bereichen (Hausarbeit, Erziehungsarbeit,<br />

Fortbildung) aktiv sein?<br />

Welche ehrenamtlichen Aktivitäten verfolge ich, und welchen<br />

Stellenwert haben diese in meinem Leben?<br />

Wie groß ist die Gefahr, dass meine berufliche Arbeit alle anderen<br />

Dimensionen dominiert, sodass diese kaum mehr gelebt werden<br />

können?<br />

Welche Arbeitsbedingungen belasten mich?<br />

Wie empfinde ich den Arbeitsdruck?<br />

Welche beruflichen Anforderungen beeinträchtigen mein Privatleben?<br />

Wie lässt sich meine Arbeitszeit mit meinen familiären Pflichten<br />

vereinbaren?


An wie vielen Tagen in der Woche bin ich verspannt, gereizt oder<br />

„einfach platt“?<br />

Welche Maßnahmen und Ideen habe ich zur Umsetzung von<br />

<strong>Work</strong>-<strong>Life</strong>-<strong>Balance</strong>?<br />

Quellen: Schmidt-Lellek, S. 39 und DGB-Index Gute Arbeit; vom Autor geringfügig<br />

verändert und erweitert<br />

Gerade die zunehmende Individualisierung und Pluralisierung von Lebensstilen<br />

benötigt einen Orientierungsrahmen: kollektive Regelungen wie<br />

Gesetze, Tarifverträge, Dienst- und Betriebsvereinbarungen und dokumentierte<br />

Absprachen sind notwendige Voraussetzungen für ernstgemeinte<br />

Veränderungen. Vor allem die Gestaltung der Arbeitszeit, der<br />

Gesundheitsschutz und die betriebliche Qualifizierung können und sollten<br />

nicht ohne oder gar gegen die betriebliche Interessenvertretung umgesetzt<br />

werden. Dennoch plädieren wir auch hier für pragmatische Lösungen:<br />

vieles, was in Großunternehmen notwendigerweise auf dem<br />

Verhandlungswege geregelt und dann schriftlich fixiert wird, geht in<br />

kleinen und mittleren Unternehmen auf dem „kleinen Dienstweg“. Das<br />

Beispiel einer Betriebsvereinbarung, die die Teilnahme von Kindern am<br />

Mittagessen in der betriebseigenen Kantine regelt, ist dafür ein beredtes<br />

Beispiel.<br />

Im Mittelpunkt: Die Zeit<br />

Die Ansprüche an gutes Leben und faire Arbeit steigen, gleichermaßen<br />

steigt auch der Arbeitsdruck und die Anforderungen an Flexibilität und<br />

Mobilität werden höher. Tendenziell hat sich die geleistete Arbeitszeit<br />

erhöht, das gilt für die faktische Tages-, Wochen- und Lebensarbeitszeit,<br />

dazu gesellt sich ein gestiegener Aufwand für die Fahrten zwischen<br />

Wohnung und Arbeitsort. Idealerweise würde eine biografische Lebensarbeitszeit<br />

mit unterschiedlichen Wahlarbeitszeiten im Verlaufe eines<br />

Berufslebens die Arbeitszeitwünsche der Beschäftigten erfüllen: kürzere<br />

Arbeitszeiten in der Phase von Familiengründung oder bei der Pflege von<br />

Angehörigen, sanfte Ausstiege aus dem Erwerbsleben, zwischendurch<br />

Weiterbildung, Zeit zur Pflege sozialer Netzwerke, Hobbies oder auch mal<br />

„Ranklotzen“. Dieses „Normalarbeitsverhältnis“ lässt sich sobald nicht<br />

verwirklichen. Deshalb konzentrieren wir uns auf gute Ansätze, die es in<br />

der betrieblichen Praxis gibt.<br />

Für jeden Beschäftigten kann <strong>Work</strong>-<strong>Life</strong>-<strong>Balance</strong> etwas Persönliches, ganz<br />

Unterschiedliches sein – und im Verlaufe des Lebens etwas, was sich<br />

ändert. Dreh- und Angelpunkt der Verwirklichung dieser Ziele sind ausreichende<br />

finanzielle Mittel und die Möglichkeit, das Arbeitszeitarrangement<br />

nach den persönlichen Bedürfnissen zu gestalten, ausbalanciert mit<br />

den betrieblichen Erfordernissen.<br />

11


12<br />

OBACHT: Aus unserer Beratungspraxis wissen wir, dass noch so gut<br />

gemeinte und verhandelte Regelungen scheitern, wenn die Unternehmenskultur<br />

sich nicht mitentwickelt hat. Sprüche wie „Karrieren<br />

werden nach 17 Uhr gemacht“ oder ein höhnisch-neidisches „Na,<br />

schon Feierabend“ wenn Beschäftigte um 15 Uhr Kinder vom Hort<br />

abholen oder bei schönem Wetter ins Schwimmbad gehen, sind<br />

dann anschauliche Beispiele schlechter Unternehmenskultur. Dazu<br />

gehören auch kaum verhohlene Drohungen wie „natürlich haben<br />

Sie einen Anspruch auf Teilzeit, aber da sehe ich schwarz für ihren<br />

beruflichen Aufstieg“ oder Hinweise an werdende Väter und<br />

Mütter, sich das „mit der Elternzeit doch noch mal gründlich zu<br />

überlegen“. Kontraproduktiv sind auch die „Schwachleister“-Vorwürfe<br />

an Beschäftigte, die sich weigern, durchschnittlich mehr<br />

Arbeitszeit zu leisten als vertraglich vereinbart. Dem ist nur beizukommen,<br />

wenn die Unternehmensleitung <strong>Work</strong>-<strong>Life</strong>-<strong>Balance</strong> zur<br />

Chefsache macht, den Führungskräften Unterstützung, Coaching<br />

oder Supervision anbietet und die Beschäftigten qualifiziert, mit den<br />

Instrumenten flexibler Arbeitszeitgestaltung verantwortungsbewusst<br />

umzugehen – das ist ein mühsamer, aber lohnender Weg.<br />

Welche Zeiten will ich ausbalancieren?<br />

Der Einstieg in konkrete <strong>Work</strong>-<strong>Life</strong>-<strong>Balance</strong> sind Modelle zur besseren<br />

Vereinbarkeit von Familie und Beruf, häufig weil für die Erledigung familiärer<br />

Aufgaben eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz existiert, höher<br />

noch als für ehrenamtliche Tätigkeiten.<br />

Um das richtige Arbeitszeitinstrument zu finden, sollte geklärt werden,<br />

welche Ziele Beschäftigte verwirklichen wollen.<br />

Arbeitszeitwünsche von Beschäftigten:<br />

Ich will mich während besonders betreuungsintensiver Phasen auf<br />

Familienaufgaben konzentrieren.<br />

Ich will vor allem während der Schulferienzeiten weniger arbeiten.<br />

Ich brauche feste Zeiten, an denen ich mein Ehrenamt ausüben kann.<br />

Ich brauche eine hohe Flexibilität, weil mein Partner oder meine<br />

Partnerin auch berufstätig ist und flexibel arbeitet.<br />

Ich will jetzt mal ranklotzen um dann eine schöpferische Pause<br />

einzulegen.


Ich will mehr arbeiten, um schrittweise zum Ende meiner Arbeitszeit<br />

in Rente gehen zu können.<br />

Ich brauche morgens und abends einen Puffer, um mit dem Holen<br />

und Bringen meiner Kinder weniger Stress zu haben.<br />

Ich brauche eine lange Mittagspause, um nach meinen Eltern zu<br />

sehen oder für die Kinder zu kochen.<br />

Ich will den Zeitaufwand für lange Fahrten zur Arbeitsstätte minimieren<br />

und deshalb einen Teil meiner Arbeitszeit zu Hause erledigen.<br />

Ich brauche zusätzlich zum Wochenende einen Tag in der Woche für<br />

meine Fortbildung.<br />

Mein Partner arbeitet Wechselschicht und wir<br />

wollen die freie Zeit möglichst gemeinsam verbringen.<br />

Diese vielfältigen Wünsche und Notwendigkeiten<br />

zeigen, dass es keine allgemeingültigen Rezepte<br />

geben kann. Vieles hängt davon ab, wie sich die<br />

qualifizierte Kinderbetreuung in Krippen, Kitas und<br />

Horten entwickelt, ob es Ganztagsangebote für<br />

Schülerinnen und Schüler gibt, ob wohnortnahe<br />

Versorgung für gebrechliche Angehörige existiert,<br />

wie die häusliche Arbeit verteilt wird und ob es<br />

soziale Netze und Zusammenhänge gibt, die entlastend<br />

wirken – für deren Funktionieren allerdings<br />

auch Zeit und Energie eingebracht werden muss.<br />

Neben den schon klassischen Arbeitszeitformen wie<br />

Teilzeit, Jobsharing, Schichtarbeit und Gleitzeit mit<br />

Kernzeiten sind vor allem selbstgesteuerte<br />

Arbeitszeiten und Wahlarbeitszeiten im Kommen,<br />

die es den Beschäftigten ermöglichen, die vielfältigen<br />

Anforderungen unter einen Hut zu bringen –<br />

zum Teil auch verknüpft mit alternierender<br />

Telearbeit.<br />

13


14<br />

Allen Flexitrends zum Trotz: Festanstellung mit geregeltem Feierabend und<br />

Schutz vor überbordenden Arbeitszeiten sind für Beschäftigte wichtig.<br />

Aus unserer Arbeitszeitberatung hier einige Eckpunkte, die bei der Einlösung<br />

dieser Ziele helfen:<br />

Ein Ampelkonto mit klar definierten Maßnahmen bei Plus- und<br />

Minusstunden<br />

Ausgleichszeiten und Phasen von Stundenabbau sind wie Urlaub zu<br />

behandeln und verbindlich<br />

Grundsätzlich besteht ein Anspruch auf Freizeitgewährung<br />

Persönliche Zeitfenster können verwirklicht werden<br />

Ein Arbeitszeitausschuss kontrolliert Arbeitsvolumen und -intensität,<br />

Personalbemessung und kann Entlastungsvorschläge machen<br />

Die Möglichkeit der „Überlastungsanzeige“ ist betriebsüblich und<br />

akzeptiert<br />

Karrieren werden auch vor 17 Uhr gemacht<br />

Telearbeit<br />

Teilzeitarbeit auch in Führungspositionen, Schicht- und Außendienst<br />

betriebliche oder betriebsnahe Kinderbetreuung<br />

familienbewusste Personalpolitik<br />

Sensibilisierung der Führungskräfte


Im Zentrum: Fragen der<br />

Vereinbarkeit<br />

Ein zentrales Anliegen der betrieblichen Arbeitszeitgestaltung<br />

aus Beschäftigtensicht bleibt die<br />

Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Aber inzwischen<br />

reichen Teilzeitangebote – wie sie vorwiegend<br />

klassisch und vorrangig für Mütter existierten –<br />

nicht mehr aus. Aus betrieblicher Sicht sind die<br />

Flexibilitätsanforderungen höher geworden, der<br />

Trend zur Ausweitung von Arbeitszeiten ist gestiegen<br />

und die Planbarkeit soll oft zugunsten einer<br />

betrieblichen Verfügbarkeit zurück gedrängt werden.<br />

Aber auch bei den Beschäftigten hat sich einiges<br />

geändert: klassische Familienkonstellationen<br />

lösen sich auf, stabile Beziehungen gibt es auch<br />

ohne Trauschein, Verpflichtungen und Möglichkeiten<br />

zur Haus- und Familienarbeit sind nicht mehr<br />

alleine bei den Frauen und die Pflege gebrechlicher<br />

und pflegebedürftiger Angehöriger wird ebenso<br />

wichtig wie die Betreuung von Kindern.<br />

…aus Sicht der Gewerkschaften<br />

Gerade für Gewerkschaften, Arbeitgeber, Führungskräfte<br />

und Beschäftigte (und natürlich vor<br />

allem für die zu betreuenden Kinder oder zu pflegenden<br />

Angehörigen) sind gute Beispiele in diesem<br />

Regelungsbereich von großer Bedeutung. Aus Sicht<br />

der Gewerkschaften hier einige Erkenntnisse, die<br />

auf den Ergebnissen des Projektes „Vereinbarkeit<br />

von Beruf und Familie. Beratungsangebot für eine<br />

gute Praxis in kleinen und mittleren Unternehmen“<br />

basieren. Dieses Projekt der Abteilung Gleichstellungs-<br />

und Frauenpolitik im DGB-Bundesvorstand<br />

wurde von der BGAG-Stiftung Walter Hesselbach<br />

gefördert und von den Beratungsexpertinnen und<br />

Experten von ISA Consult durchgeführt. Auslöser des Projekts waren<br />

Umfragen des WSI, die einen hohen tariflichen Regelungsbedarf belegen.<br />

54 % der Betriebsräte in West- und 48 % der Betriebsräte in<br />

Ostdeutschland sehen einen (weitergehenden) Bedarf nach tarifpolitischer<br />

Regulierung zu Fragen der Vereinbarkeit von Familie und Beruf<br />

Nur in 8 % der deutschen Betriebe wurde bisher eine Vereinbarung zur<br />

„Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ abgeschlossen.<br />

15


16<br />

Die Häufigkeit von Betriebsvereinbarungen zu diesem Thema steigt mit<br />

der Betriebsgröße. Am häufigsten sind sie in Großbetrieben mit mehr<br />

als 1000 Beschäftigten anzutreffen (20 %).<br />

Freiwillige Initiativen zur Chancengleichheit oder Familienfreundlichkeit<br />

finden sich in 9 % der Betriebe mit betrieblicher Interessenvertretung,<br />

aber nur in 5 % der Betriebe ohne Interessenvertretung.<br />

Betriebliche Vereinbarungen zur Chancengleichheit oder Familienfreundlichkeit<br />

finden sich in 12 % der Betriebe mit Interessenvertretung,<br />

aber nur in 2 % der Betriebe ohne Interessenvertretung.<br />

In Betrieben mit einem Betriebsrat sind familien- oder frauenfreundliche<br />

Maßnahmen um 11 % wahrscheinlicher als in anderen Betrieben.<br />

Kinderbetreuungsangebote sind in Betrieben mit Betriebsrat um 4 %<br />

wahrscheinlicher als in Betrieben ohne Betriebsrat (www.dgb.de).<br />

Tarifvertraglich wurden zahlreiche Regelungen getroffen, die eine bessere<br />

Vereinbarkeit von Familie und Beruf unterstützen. Beispielhafte Regelungen<br />

sind in verschiedenen Broschüren oder auf Internetseiten dokumentiert<br />

(siehe Link- und Literaturverzeichnis). Hier sind einige Beispiele aus<br />

zwei äußerst gelungenen Nachschlagwerken: dem ver.di „Drehbuch für<br />

<strong>Balance</strong>“ (2007) sowie dem jährlich vom WSI des DGB herausgegebenen<br />

Tarif-Handbuch (Im Jahre 2005 mit dem Schwerpunkt „Vereinbarkeit“).<br />

Die Aufzählungen sind beispielhaft und sichern grundsätzlich mehr<br />

Rechte für Eltern, als in den gesetzlichen Regelungen zu finden sind.


… aus der betrieblichen Praxis<br />

Alternierende Telearbeit<br />

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben die Möglichkeit, ihre<br />

Arbeitszeit außerhalb des Betriebes abzuleisten; bspw. zu Hause. Bei<br />

der Inanspruchnahme eines solchen Arbeitsplatzes kann entweder die<br />

bisherige Wochenarbeitszeit beibehalten oder reduziert werden.<br />

Zudem kann individuell vereinbart werden, wie hoch der Anteil der<br />

Arbeitszeit in der außerbetrieblichen Arbeitsstätte ist. Entsprechende<br />

Arbeitsmittel werden dabei auf Kosten des Arbeitgebers zur Verfügung<br />

gestellt. Telearbeitsplätze werden auch als Möglichkeit gesehen, innerhalb<br />

der Erziehungszeit das Arbeitsverhältnis aufrecht zu erhalten.<br />

Erziehungszeit – Anbindung während der Elternzeit und<br />

Arbeitsplatzanspruch<br />

Die hier vereinbarte Variante setzt sich aus der gesetzlichen Elternzeit<br />

(alte Variante vor 2007) und der Betriebs-Elternzeit zusammen. Das<br />

heißt, dass zusätzlich zu dem gesetzlichen Anspruch von 12 Monaten<br />

noch max. 3 Jahre pro Kind in Anspruch genommen werden können.<br />

Die Inanspruchnahme von Erziehungszeiten kann auch kurz hintereinander<br />

erfolgen.<br />

Erziehungszeit kann als ruhendes Arbeitsverhältnis oder in Form von<br />

Arbeitszeitreduzierung bzw. Telearbeit in Anspruch genommen werden.<br />

Zudem besteht die Möglichkeit für beide Elternteile, die Elternzeit<br />

in bis zu vier Zeitabschnitte untereinander aufzuteilen.<br />

Nach Ablauf der Phasen wird den Beschäftigten ein vergleichbarer<br />

Arbeitsplatz zur Verfügung gestellt. Damit die Anbindung an den<br />

Betrieb und die Qualifikationen erhalten bleiben, werden Weiterbildungsmaßnahmen,<br />

die Möglichkeit Urlaubsvertretungen zu übernehmen<br />

und die Teilnahme an Informationsveranstaltungen angeboten.<br />

Anbindung durch Qualifizierung und Vertretungspools<br />

Es gibt einen finanziellen Ausgleich für beruflich bedingte zusätzliche<br />

Betreuungskosten für die Betreuung eigener Kinder und pflegebedürftige<br />

Angehörige, z.B. bei Teilnahme an Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen<br />

im ganz oder überwiegenden Interesse des Arbeitgebers und<br />

wegen angeordneter Überstunden außerhalb der üblichen bzw. bei<br />

Teilzeitbeschäftigten individuell vereinbarten Arbeitszeit.<br />

Elternzeitler/innen werden in „Vertretungspools“ hinterlegt und werden<br />

bei personellen Änderungen bevorzugt eingesetzt.<br />

17


18<br />

Pflegezeit<br />

Die Pflegezeit kann in Anspruch genommen werden, wenn die/der<br />

Beschäftigte die Pflege für ein im Haushalt lebendes Familienmitglied<br />

(ab Pflegestufe 1) übernimmt.<br />

Der Anspruchszeitraum muss mindestens vier und kann max. 36<br />

Monate betragen.<br />

Neben der Möglichkeit einer Freistellung, bei der das Arbeitsverhältnis<br />

ruht, kann auch die wöchentliche Arbeitszeit reduziert werden.<br />

Freistellung zur Pflege eines erkrankten Kindes<br />

Gemäß dem gesetzlichen Anspruch können bei im Haushalt lebenden<br />

erkrankten Kindern, die das 14. Lebensjahr noch nicht beendet haben<br />

und die nicht anderweitig betreut werden können, bis zu fünf Tage<br />

bezahlte Freistellung pro Kind und Kalenderjahr beansprucht werden.<br />

Bei längerer Krankheit des Kindes (bis zum 12. Lebensjahr) besteht ein<br />

zusätzlicher Anspruch auf unbezahlte Freistellung auf fünf Tage<br />

(Alleinerziehende 15) pro Kind und Kalenderjahr. Insgesamt sind bis zu<br />

25 (Alleinerziehende: 50) Arbeitstage Freistellung pro Kalenderjahr<br />

möglich.<br />

Teilzeit und Informationsanspruch<br />

Mit der Reduzierung der Arbeitszeit dürfen keine Arbeitsintensivierung,<br />

keine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen sowie des<br />

Arbeitsplatzes verbunden sein.<br />

Zur Förderung der Teilzeitarbeit werden die Mitarbeiterinnen und<br />

Mitarbeiter auf die gesetzlichen und betrieblichen Möglichkeiten der<br />

Teilzeitarbeit durch die (...) aktiv hingewiesen.<br />

Sofern sich die persönlichen Verhältnisse verändern, prüfen Betriebsrat<br />

und Geschäftsleitung auf entsprechenden Antrag gemeinsam, ob eine<br />

Rückkehr zur Vollzeitarbeit ermöglicht werden kann. In einem solchen<br />

Fall bemüht sich der Arbeitgeber, schnellstmöglich einen Vollzeitarbeitsplatz<br />

zur Verfügung zu stellen. Die entsprechenden Arbeitnehmerinnen<br />

und Arbeitnehmer haben im Rahmen der betrieblichen<br />

Belange Priorität unter Berücksichtigung ihrer Qualifikation bei der<br />

Besetzung entsprechender freier Stellen. Den jeweiligen Mitarbeiterinnen<br />

und Mitarbeitern soll nach Möglichkeit ein gleichwertiger<br />

Arbeitsplatz mit gleicher Eingruppierung zur Verfügung gestellt werden.


Zuschüsse und Unterstützung<br />

Viele Vereinbarungen sehen Zuschüsse und/oder Unterstützung bei der<br />

Kinderbetreuung vor, z. B. durch Betriebskindergärten, für Beschäftigtenkinder<br />

reservierte Plätze in öffentlichen Einrichtungen oder durch<br />

Unterstützungsangebote wie „Kids und Co“ bei der Commerzbank<br />

oder „Fluggi-Land“ am Flughafen Frankfurt. Da diese Instrumente<br />

noch selten genutzt werden, hier einige ausführlichere Beispiele von<br />

Betriebsvereinbarungen mit Angaben der Unternehmen:<br />

ZUSCHUSS FÜR FAMILIENURLAUB<br />

Alle hauptberuflichen und nichtleitenden Mitarbeiter mit mindestens<br />

einem Kind bis 18 Jahre, die in einem unbefristeten, ungekündigten<br />

und aktiven Arbeitsverhältnis stehen, können einen Zuschuss zum<br />

Familienurlaub beantragen. Der Zuschuss beträgt<br />

für den Antragsteller 156 EUR und für jedes mitreisende,<br />

anspruchsberechtigte Kind 52 EUR (Allianz<br />

Lebensversicherung).<br />

GEBURTSBEIHILFE<br />

Die Beihilfe anlässlich der Geburt oder Adoption<br />

eines Kindes beträgt € 800 brutto. Davon sind ab<br />

1.1.2004 € 315 steuerfrei. Sind beide Elternteile<br />

Mitarbeiter der Münchener Rück, erhalten sie<br />

beide die Geburtsbeihilfe. Endet das Arbeitsverhältnis<br />

vor Erreichen einer Betriebszugehörigkeit<br />

von zwei Jahren, ist die Geburtsbeihilfe in voller<br />

Höhe zurückzuzahlen.<br />

KINDERBETREUUNGSKOSTEN<br />

Der Familienförderung berechtigte Mitarbeiter<br />

erhält einen Zuschuss für die Kosten, die er für die<br />

Kinderbetreuung aufzubringen hat, weil er bei der<br />

Münchener Rück erwerbstätig ist. Der Zuschuss beträgt<br />

€ 750 brutto pro Kalendermonat in Vollzeittätigkeit. Für angebrochene<br />

Kalendermonate beträgt der Zuschuss € (750:30 Kalendertage =)<br />

25,00 kalendertäglich. Teilzeitkräfte mit monatlicher Bezahlung erhalten<br />

den sich für Vollzeitkräfte ergebenden Betrag entsprechend ihrem<br />

Beschäftigungsgrad, aufgerundet auf den vollen Euro. Die Auszahlung<br />

erfolgt mit der nächstmöglichen Gehaltsabrechnung (Münchner<br />

Rückversicherungs-Gesellschaft).<br />

KINDERGARTENKOSTEN<br />

Nach dem Ende der Elternzeit können weiterbeschäftigte Mitarbeiterinnen<br />

und Mitarbeiter auf Antrag einen steuerpflichtigen Zuschuss<br />

zu den Kosten für eine offizielle Kinderbetreuungseinrichtung, insbesondere<br />

öffentliche Kindergärten bzw. -tagesstätten erhalten, wenn<br />

das Brutto-Jahreseinkommen der Familie € 45.000,00 nicht übersteigt.<br />

Er beträgt je Monat und Kind € 70,00 (Roche Diagnostics GmbH).<br />

19


20<br />

…aus Sicht der Arbeitgeber<br />

In „Botschaften der Unternehmen“ haben Arbeitgeber und Führungskräfte<br />

ihre Standpunkte formuliert, hier ein von <strong>BTQ</strong> bearbeiteter Auszug:<br />

1. Zufriedene Beschäftigte mit Familie arbeiten produktiver als Beschäftigte<br />

mit Vereinbarkeitsstress<br />

2. Flexible Arbeitszeiten nutzen beiden Seiten: mehr Zeitsouveränität und<br />

Gestaltungsfreiheit und Kosteneinsparungen und Produktivitätsschübe<br />

3. Familienfreundliche Maßnahmen rechnen sich, vor allem werden<br />

Akquise- und Einarbeitungskosten gespart, wenn Frauen aus der<br />

Elternzeit zurückkommen<br />

4. Eltern, mit einer ausgewogenen Teilhabe an Erziehung und Pflege und<br />

Berufstätigkeit sind zufriedener mit ihrer beruflichen und familiären<br />

Situation<br />

5. Das Label „Familienfreundlichkeit“ sichert Imagegewinne und verschafft<br />

Vorteile im Wettbewerb um gut qualifizierte Fachkräfte<br />

6. Betriebsvereinbarungen und Tarifverträge sind keine Voraussetzungen<br />

für familienfreundliche Unternehmen<br />

7. Viele Unternehmen haben keine expliziten Familienprogramme oder<br />

Betriebsvereinbarungen und praktizieren dennoch familienfreundliche<br />

Maßnahmen – als „normale Arbeitsorganisation“, damit der Laden<br />

läuft.<br />

(BMFSFJ 2005, S. 11 f)<br />

Natürlich zeigen die im Abschnitt „...aus der betrieblichen Praxis“ dokumentierten<br />

Beispiele, wie sich Gewerkschaften und Betriebsräte sowie<br />

Unternehmen und Führungskräfte auf gemeinsame Regelungen einigen<br />

können.


…aus Sicht des Gesetzgebers<br />

Auch wenn viele Betriebe ihre Verpflichtung erkannt haben, aktiv familiengerechte Maßnahmen<br />

umzusetzen, ist eine klare Anspruchsgrundlage hilfreich, um solche Lernprozesse zu fördern. Die vielfältigen<br />

Regelungsbereiche zum Thema Vereinbarkeit finden sich ziemlich vollständig im Hessischen<br />

Gleichberechtigungsgesetz, das wir hier ausschnittsweise zitieren (HGlG, § 13):<br />

1<br />

(1) Die Dienststellen sollen Arbeitszeiten und sonstige Rahmenbedingungen anbieten, die den<br />

Beschäftigten die Vereinbarkeit von Beruf und Familie erleichtern, soweit dringende dienstliche<br />

Belange nicht entgegenstehen.<br />

2<br />

(2) Anträgen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern auf Teilzeitbeschäftigung, Beurlaubung<br />

oder flexible Arbeitszeit zur Betreuung von Kindern oder von nach ärztlichem Zeugnis pflegebedürftigen<br />

Angehörigen ist zu entsprechen, soweit nicht dringende dienstliche Belange entgegenstehen.<br />

3<br />

(3) Bei Teilzeitbeschäftigungen und Beurlaubungen aus den in Abs. 2 genannten familiären Gründen<br />

sowie für die Zeit des Beschäftigungsverbotes nach § 6 des Mutterschutzgesetzes und § 6<br />

der Mutterschutzverordnung ist ein personeller Ausgleich vorzunehmen.<br />

4<br />

(4) Teilzeitbeschäftigten sind die gleichen beruflichen Aufstiegsmöglichkeiten und Fortbildungschancen<br />

einzuräumen wie Vollzeitbeschäftigten. Sie werden bei der Gewährung freiwilliger<br />

sozialer Leistungen Vollzeitbeschäftigten gleichgestellt. Die Wahrnehmung von Leitungsaufgaben<br />

steht der Teilzeitbeschäftigung grundsätzlich nicht entgegen.<br />

5<br />

(5) Beschäftigten, die aus den in Abs. 2 genannten familiären Gründen beurlaubt sind, werden von<br />

ihrer Beschäftigungsdienststelle und der Dienststelle, die den sie betreffenden Frauenförderplan<br />

aufgestellt hat, kurzfristige Beschäftigungsverhältnisse bei vorübergehendem Personalbedarf der<br />

Dienststelle vorrangig angeboten. Die Dienststelle soll durch geeignete Maßnahmen den aus<br />

familiären Gründen beurlaubten Beschäftigten die Verbindung zum Beruf und den beruflichen<br />

Wiedereinstieg erleichtern. Soweit in dem jeweiligen Beruf erforderlich, werden ihnen auch<br />

Fortbildungen angeboten, die zur Erhaltung und Anpassung ihrer Qualifikation geeignet sind.<br />

6<br />

(6) Beschäftigte, die eine Teilzeitbeschäftigung oder eine Beurlaubung beantragen, sind auf die<br />

Folgen, insbesondere in Bezug auf renten-, arbeitslosenversicherungs- und versorgungsrechtliche<br />

Ansprüche, in allgemeiner Form hinzuweisen.<br />

Besonders die Regelungen zum personellen Ausgleich, zur Verpflichtung,<br />

Qualifizierungsangebote während der Elternzeit zu machen und die<br />

grundsätzliche Teilbarkeit von Leitungsaufgaben sind hier vorbildlich geregelt.<br />

21


22<br />

Obacht: „Auch Männer haben ein Vereinbarkeitsproblem“<br />

Das neue Elterngeld mit den sogenannten „Vätermonaten“ hat ein<br />

Thema ins Zentrum gerückt, das seit einigen Jahren verstärkt in den<br />

Blick genommen wird: Beruflich engagierte Frauen wollen nicht<br />

alleine für Betreuung und Pflege zuständig sein, aber noch immer<br />

haben Männer mit anderen Schwierigkeiten zu kämpfen, wenn sie<br />

Teilzeit arbeiten wollen, um sich gleichberechtigt in der Familie zu<br />

engagieren. „Männer haben ein Vereinbarkeitsproblem“ – mit diesem<br />

Schwerpunkt hat der Bereich Genderpolitik von ver.di vielfältige<br />

Initiativen gestartet und Materialien veröffentlicht. Alle verfolgen<br />

das Ziel, die Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit aktiver Väter<br />

in der Praxis zu verringern. Die seit 2007 geltenden Regelungen zur<br />

Elternzeit und zum Elterngeld haben dazu geführt, dass bis Ende<br />

September knapp 10% der anspruchsberechtigten Väter Elternzeit<br />

beantragt haben – mit steigender Tendenz. Im Rahmen der<br />

Gleichberechtigung der Geschlechter und des stetig steigenden<br />

Interesses von Männern und Frauen an der gerechten Verteilung<br />

der Erwerbs-, Erziehungs- und Hausarbeit gibt es zahlreiche gelungene<br />

Regelungen und Unterstützungsangebote, die sich gezielt an<br />

Männer und Väter richten. Dies erscheint notwendig, da die Hürden<br />

für aktive Väter, Teilzeit oder Elternzeit zu wählen, noch immer<br />

höher sind als bei Frauen. (Siehe auch im Anhang das Dokument<br />

„Optionszeiten“, die Broschüre von ver.di: „Zwischen Meeting und<br />

Masern“ und www.sozialnetz.de/vater-und-beruf)<br />

Hauptsache gesund – auf der Arbeit und<br />

Zuhause<br />

Die „Rente mit 67“ kommt – und angesichts der aktuellen<br />

Beschäftigungssituation von Älteren ist mehr und länger Lernen nötiger<br />

denn je. Gerade in KMU lässt sich an gute Voraussetzungen anknüpfen:<br />

Umfangreiche Frühverrentungen gab es nicht, die Bereitschaft, vorausschauende<br />

Qualifizierung zu betreiben, ist vorhanden und kleinere<br />

Unternehmen können schneller umsteuern.<br />

Zeit und Gesundheit geraten öfter in Konflikt, weil der Zeitdruck zunimmt<br />

und anders als im klassischen Handwerk und Produktionsbereich im<br />

Dienstleistungsbereich Arbeit selten endet. Das sprichwörtliche „Hammer<br />

fallen lassen“ oder „Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps“ ist nicht<br />

mehr stilbildend für Arbeitsabläufe – da wird dann oft durch längere<br />

Arbeitszeiten und den Verzicht auf Pausen gegengesteuert. Das hat allerdings<br />

gravierende Folgen: Bei der Qualität der Arbeit, weil sich Fehler ein-


schleichen, die Motivation nachlässt, die Kreativität<br />

blockiert wird und ein Gefühl des Ausgebrannt Seins<br />

entsteht. Dies alles führt bei fehlender Entlastung zu<br />

körperlicher und geistig-seelischer Erschöpfung, zu<br />

Schlafstörungen, Gereiztheit und Antriebsarmut.<br />

Bei allen guten Beispielen die existieren, sind die<br />

Themen „Gesundheit am Arbeitsplatz – Gute Arbeit“<br />

nicht ausreichend bearbeitet worden. Das gilt gleichermaßen<br />

für Beschäftigte wie für Arbeitgeber. Das<br />

seit 1996 geltende Arbeitsschutzgesetz sieht zwar<br />

eine Gefährdungsermittlung und -beurteilung aller<br />

Arbeitsplätze vor; allerdings wurden bis 2004 nur in<br />

der Hälfte aller befragten Betriebe Gefährdungsbeurteilungen<br />

durchgeführt. Und hier sind die kleinen und<br />

mittleren Unternehmen nur unterdurchschnittlich<br />

beteiligt. In Betrieben mit weniger als 100 Beschäftigten<br />

sind diese Beurteilungen nur ungefähr in jedem<br />

dritten Betrieb erfolgt. Besonders das Thema „psychische<br />

Belastungen“ wie Zeitdruck, Arbeitsintensität<br />

oder Verantwortungsdruck wurde kaum angegangen.<br />

Von den Betrieben mit durchgeführter Gefährdungsbeurteilung<br />

wurden nur in einem knappen Viertel psychische<br />

Belastungen ausdrücklich überprüft (Schäfer<br />

2004, neuere Daten werden erst Anfang 2009 veröffentlicht).<br />

Quelle: WSI-Betriebsrätebefragung 2004, Gesundheit und Prävention am Arbeitsplatz<br />

(WSI/Hans-Böckler Stiftung, Elke Ahlers)<br />

23


24<br />

Vorschläge zur Reduzierung gesundheitlicher<br />

Belastungen und Gefährdungen<br />

Mit den Eckpunkten eines Tarifvertragsentwurfes für den Bankenbereich<br />

soll dem Thema mehr Bedeutung zugemessen werden. Um gesundheitliche<br />

Belastungen und Gefährdungen zu reduzieren, werden folgende<br />

Instrumente vorgeschlagen:<br />

Belastungs- und Gesundheitszirkel<br />

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben hier die Möglichkeit sich regelmäßig<br />

zu treffen und sich in Bezug auf die Themen Belastungsschutz und<br />

Gesundheitsförderung zu beraten.<br />

a) Gründung einer Belastungs- und Gesundheitskommission<br />

Eine paritätisch besetzte Kommission der Betriebsparteien soll belastende/gesundheitsgefährdende<br />

Situationen überwachen und eingrenzen.<br />

Diese Kommission ist dafür zuständig, dass Belastungsuntersuchungen<br />

durchgeführt werden sowie Maßnahmen zur Vorbeugung<br />

bzw. Vermeidung entwickelt werden. Des Weiteren obliegt ihr die<br />

Aufgabe, ein belastungsorientiertes Kennziffernsystem zu entwickeln.<br />

b) Einrichtung eines belastungsorientierten Kennziffernsystems<br />

Die Betriebsparteien sollen ein Kennziffernsystem einrichten, das es<br />

ermöglicht, die Belastungen am Arbeitsplatz, damit verbundene<br />

gesundheitliche Beeinträchtigungen und die Auswirkungen für die<br />

Beschäftigten zu messen. Dazu können gehören:<br />

ARBEITSZEIT UND URLAUB:<br />

a. die Häufigkeit der Überschreitungen der täglichen oder<br />

wöchentlichen Arbeitszeit<br />

b. der Umfang der Zeitsalden in den Gleitzeit-Arbeitszeit-Konten<br />

c. die Häufigkeit von Verstößen gegen die Nachtruhe<br />

d. die Streichung von Gleitzeit-Arbeitszeit-Konten-Guthaben<br />

e. die Übertragung bzw. das Verfallen von Urlaubsansprüchen<br />

GESUNDHEIT UND FLUKTUATION:<br />

a. Kranken- bzw. Fehlzeitenquoten<br />

b. Fluktuationsraten<br />

c. Personal und Leistung<br />

d. Personalbemessung<br />

e. Qualifizierungsumfang<br />

f. Standards für Zielvereinbarungen<br />

g. Standards für Zielgespräche


c) Die regelmäßige Beurteilung der Belastungssituation<br />

Wenn durch die eingeführten Kennziffern Belastungssituationen identifiziert<br />

werden, muss eine Beurteilung der Belastungssituation durchgeführt<br />

werden. Eine regelmäßige Beurteilung sollte auch in folgenden<br />

Situationen erfolgen:<br />

Bei Reorganisation des Arbeitssystems<br />

Bei neuem Technikeinsatz<br />

Wenn besondere Belastungssituationen auftreten<br />

(z. B. traumatische Ereignisse).<br />

Wenn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie Führungskräfte auf<br />

bestimmte Belastungssituationen hinweisen.<br />

Verfahren zur Beurteilung der Belastungssituation<br />

Das Verfahren zur Beurteilung der Belastungssituation beinhaltet folgende<br />

Kriterien zur Ermittlung von Gefährdungen:<br />

Es wird ein zweistufiges Vorgehen angewendet, das mindestens eine<br />

Grobanalyse/Screening sowie schwerpunktbezogene Detailanalysen des<br />

jeweiligen Arbeitsplatzes beinhalten sollte.<br />

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und Führungskräfte werden systematisch<br />

bei der Ermittlung von Gefährdungen, Beurteilung der Auswirkungen<br />

von Fehlbelastungen (Beanspruchung/Arbeitseffizienz), Maßnahmeentwicklung<br />

sowie der Wirksamkeitskontrolle von Maßnahmen einbezogen.<br />

Quelle: WSI-Betriebsrätebefragung 2004, Gesundheit und Prävention am Arbeitsplatz<br />

(WSI/Hans-Böckler Stiftung, Elke Ahlers)<br />

25


26<br />

Die geplanten Verfahren zur Ermittlung, Messung, Beurteilung und Maßnahmeentwicklung<br />

durch externe Experten müssen vorgestellt, nachvollziehbar<br />

erläutert und mit den betroffenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern<br />

erörtert werden.<br />

Bei den Instrumenten und Verfahren muss darauf geachtet werden, dass<br />

die unterschiedlichen Belastungsfaktoren für verschiedene Altersgruppen<br />

unterschiedlich starke Beanspruchungsfolgen hervorrufen können (Alterssensivität).<br />

Dies sollte besonders herausgestellt werden.<br />

Die einzusetzenden Instrumente und Verfahren bzw. die darauf aufbauenden<br />

Auswertungen haben u. a. nicht nur gemäß der ISO 10075 die einzelnen<br />

Belastungsfaktoren zu ermitteln und zu beurteilen, sondern insbesondere<br />

ihr Zusammenspiel zu untersuchen. Dabei sind auch die subjektiven<br />

Einschätzungen der Betroffenen zu berücksichtigen.<br />

Die einzusetzenden Instrumente und Verfahren bzw. die darauf aufsetzenden<br />

Auswertungen müssen Arbeitsplätze bzw. Arbeitssysteme beurteilbar<br />

machen. Dazu ist es in Abhängigkeit von der Belastungsart und der<br />

Schwere von ggf. vorliegenden Fehlbelastungen erforderlich, detaillierte<br />

Tätigkeitsanalysen vorzunehmen.<br />

(vgl. Inhalte Tarifvertragsentwurf „Gesundheitsschutz im Bankgewerbe“<br />

2006 in ver.di 2007)<br />

Gesunde Arbeit : Überlastanzeige…<br />

Gerade die Belastungen, die im Zusammenhang mit der Einführung neuer<br />

Arbeitszeitsysteme wie Vertrauensarbeitszeit oder Arbeitszeitkonten vermehrt<br />

auftreten, müssen von den Beschäftigten angezeigt werden. Nur<br />

dann haben die Führungskräfte eine Chance und auch die Verpflichtung,<br />

der Arbeit ein verträgliches Maß zu geben. Im Projekt „Faire Arbeit“ des<br />

Bereichs Finanzdienstleistung in Nordrhein-Westfalen (NRW)<br />

(www.fidi.nrw.verdi.de/faire_arbeit) wird dieses in der Arbeitszeitpraxis<br />

entwickelte Instrument auch für das Thema gesunde Arbeit genutzt – vor<br />

allem, um Personalmangel zu dokumentieren, auf nicht im vorgegebenen<br />

Zeitrahmen zu bewältigende Arbeitsmengen hinzuweisen und sich rechtzeitig<br />

gegen Überlastungssituationen zu wehren. Nach ersten Erfahrungen<br />

berichten die betrieblichen Praktiker vor allem über eine besorgniserregend<br />

hohe Einschätzung, dass die Arbeitssituation negativ beurteilt wird<br />

und vor allem Familienleben und die Gesundheit in Mitleidenschaft gezogen<br />

werden.<br />

Das in NRW entwickelte Formular dient als schriftlicher Hinweis, dass eine<br />

ordnungsgemäße Erfüllung der Arbeitsleistung gefährdet ist und dies<br />

sowohl Schaden beim Arbeitgeber als auch möglicherweise beim Kunden<br />

verursachen kann.<br />

Das Formular wurde vom Verfasser der vorliegenden Broschüre leicht<br />

bearbeitet.


An die Geschäftsführung<br />

/ die Personalabteilung<br />

/ den Vorgesetzten<br />

im Hause<br />

Überlastungsanzeige<br />

Arbeitsüberlastung am__________________________________________________<br />

Sehr geehrte Damen und Herren,<br />

in der Abteilung___________________________ist es am_____________________zu einer<br />

erheblichen Arbeitsüberlastung gekommen. Diese wurde verursacht durch<br />

❑ ungeplanten Personalausfall<br />

❑ Urlaub von Personal<br />

❑ unbesetzte Stellen in der Abteilung<br />

❑ einen akuten Notfall<br />

❑ Erhöhter Arbeitsanfall<br />

❑ Nichteinhaltung der Pausenzeiten<br />

❑ Nichteinhaltung der Arbeitszeiten gem. § 3 ArbZG.<br />

❑ ___________________________________________________________________<br />

Aus diesem Grund war es mir nicht möglich,<br />

❑ die anfallenden Arbeiten termingerecht zu erledigen<br />

❑ die erforderliche Qualität meiner Arbeitsleistung sicherzustellen.<br />

❑ ___________________________________________________________________<br />

Dies betrifft im Einzelnen folgende Tätigkeiten:<br />

_____________________________________________________________________<br />

Ich weise darauf hin, dass ich im Falle derartiger Überlastung Fehler bei der Erbringung meiner<br />

Arbeitsleistung nicht ausschließen kann. Ich weise weiter auf den möglichen Eintritt von Schäden insbesondere<br />

in folgenden Bereichen hin:<br />

_____________________________________________________________________<br />

Aufgrund der Tatsache, dass meine Überbelastung auf einer mangelnden Organisation der Abteilung<br />

beruht, kann ich die Verantwortung für auftretende Fehler im Rahmen meiner Arbeitsleistung nicht<br />

übernehmen.<br />

Mit freundlichem Gruß<br />

Auch wenn diese Form der Konfliktanzeige sicher nicht überall angewendet<br />

werden kann, ist das Thema auch angesichts der Zunahme älterer<br />

Beschäftigter ernst zu nehmen.<br />

27


28<br />

… und Prävention<br />

Es gibt vielfältige Möglichkeiten, vorbeugend im Betrieb gesundheitsförderliche<br />

Arbeitsplätze einzurichten, statt teurer und aufwändiger „außerbetrieblicher<br />

Reparatur“ oder der oben beschriebenen eher konfliktorientierten<br />

Lösung. Also nicht im Job durch ungeeignete Möbel und Arbeitsabläufe<br />

Rückenschmerzen erleiden und diese dann im Fitnessstudio kurieren,<br />

sondern die Arbeitsbedingungen untersuchen und verändern. Das<br />

Arbeitsschutzgesetz zielt ausdrücklich auf eine menschengerechte<br />

Gestaltung der Arbeit(szeit), die Kriterien sind „schädigungslos“, „beeinträchtigungsfrei“<br />

und „sozialverträglich“. Mit einer Gefährdungsbeurteilung<br />

können körperliche und psychische Belastungen und gesundheitliche<br />

Beschwerden ermittelt werden. Und das ist sinnvoll als integraler<br />

Bestandteil von Personalentwicklung – es ist weder sinnvoll noch zielführend,<br />

das Thema vor allem mit den Älteren zu bearbeiten, wenn die<br />

Gesundheit schon angegriffen und die Leistungsfähigkeit abgesunken ist.<br />

Gerade im Zusammenhang von <strong>Work</strong>-<strong>Life</strong>-<strong>Balance</strong> ist das Thema „altersgerechtes<br />

Arbeiten und Lernen“ wieder mehr in das Blickfeld geraten;<br />

einige Beispiele sollen zeigen, wie einfach und ohne großen Aufwand<br />

Verbesserungen umzusetzen sind, die sich betrieblich rechnen sowie die<br />

Arbeits- und Lebenssituation verbessern.<br />

Betriebsärztlicher Dienst, die gesetzlichen Krankenkassen, die Unfallkasse<br />

Hessen, die Bundesanstalt für Arbeitsschutz sind nur einige Institutionen,<br />

die über umfangreiches Wissen und entsprechende Fachleute verfügen<br />

und deren Know-how die betrieblichen Interessenvertretungen und die<br />

Personalabteilungen nutzen können.<br />

Ein kurzer Überblick über gelebte Praxis:<br />

Gesundheitszirkel mit einem Budget zur Gesundheitsförderung<br />

Informationsangebote und Seminare<br />

die Möglichkeit – auch ohne Wissen des Arbeitgebers – psychosoziale<br />

Beratung in Anspruch zu nehmen<br />

Mischarbeit für ältere Beschäftigte, Zusatzqualifikationen und Job-<br />

Alternativen<br />

Betriebliches Sportprogramm, Rückenschulen, Stressbewältigung und<br />

Zeitmanagement<br />

Gefährdungsbeurteilung<br />

Auf Wunsch jährlicher und kostenfreier Gesundheitscheck<br />

Vorsorgeuntersuchung für Beschäftigte über betriebsärztlichen Dienst<br />

„Gesunde Woche“ in der Kantine


Ausstieg aus belastenden Schichtsystemen<br />

Mehr Urlaub und längere Entgeltfortzahlung<br />

Zuschüsse zu Familienurlauben<br />

Ergonomisch richtige Einrichtung und Gestaltung von Arbeitsplätzen<br />

Wer jahrelang oder jahrzehntelang „auf dem Bock“ saß braucht einen<br />

adäquaten Job: nur noch zwei bis drei Tage im Fahrdienst und die restliche<br />

Zeit in der Beratung, im Servicebereich oder als Lernpate, um Nachwuchskräfte<br />

weiterzubilden und das Betriebswissen zu sichern und zu<br />

transferieren. Für Erzieherinnen und Erzieher gibt es nach stressiger Arbeit<br />

in der Kita oder im Hort die Möglichkeit des Arbeitsplatzwechsels, unterstützt<br />

von der Kommune als Träger durch Hospitationen in anderen Ämtern<br />

oder einen berufsbegleitenden Verwaltungslehrgang. Der gleitende<br />

Ausstieg aus dem Berufsleben wird an Bedeutung gewinnen; die seither<br />

dominierende Praxis des Blockmodells (Vollzeit weiterarbeiten und dann in<br />

Freistellungsphase wechseln) wird sich relativieren. Denn jetzt geht es um<br />

die faktische Verlängerung der Lebensarbeitszeit – und darum, zu lernen,<br />

das „Leben neben der Arbeit“ zu gestalten. Durch Lernpatenschaften und<br />

ähnliche Arrangements kann der Ausstieg für die Älteren sanfter gestaltet<br />

werden. Die Chancen für Arbeitssuchende und Jugendliche ins Berufsleben<br />

einzusteigen, steigen – dies bedarf neben den betrieblichen Akteurinnen<br />

und Akteuren zumindest im Bereich der KMU einer sozialpolitischen<br />

Flankierung, damit Teilzeitausstiege und (Teilzeit)Einstiege sich<br />

durchsetzen.<br />

29


30<br />

Weiterbildungsbedarf durch<br />

<strong>Work</strong>-<strong>Life</strong>-<strong>Balance</strong><br />

Für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) stehen Fragen der Arbeitszeitgestaltung<br />

und einer lernförderlichen und gesundheitserhaltenden<br />

Arbeitsumgebung im Zentrum, wenn es um <strong>Work</strong>-<strong>Life</strong>-<strong>Balance</strong> geht. Dass<br />

große Unternehmen werbewirksam, mit vierfarbigen Flyern imagebildend<br />

wirken und ihre Attraktivität als Arbeitgeber dokumentieren, sollte<br />

Beschäftigte und Management von kleineren Betrieben nicht abhalten,<br />

ebenfalls dem Motto zu folgen „Tue Gutes und rede darüber“. In KMU<br />

werden in der Regel Arbeitsbeziehungen situativ gestaltet und Personalentwicklung<br />

weniger langfristig-strategisch betrieben. Deshalb ist es<br />

angesichts des sich abzeichnenden Fachkräftemangels und dem längeren<br />

Verbleib der Beschäftigten im Betrieb, steigenden Kundenwünschen und<br />

einem erhöhten Konkurrenzdruck notwendig, die Produktivität zu steigern.<br />

Dies gelingt am besten durch Verbesserung der Arbeitsorganisation<br />

mit entsprechender Qualifizierung, um die Qualität der Arbeit und die<br />

Kreativität und Motivation der Beschäftigten gleichermaßen zu erhöhen.<br />

Die prognostizierten Produktivitätszuwächse basieren im Wesentlichen<br />

auf einer angepassten Arbeitsorganisation und einem Führungsstil, der<br />

mehr auf Ergebnisse und Zielerreichung achtet und mitverantwortlich für<br />

entsprechende Arbeitsbedingungen ist. Für den Weiterbildungsbedarf der<br />

Beschäftigten sind zunehmend Investitionen in sogenannte Schlüsselqualifikationen<br />

nötig. Fähigkeiten („soft skills“) wie Teamfähigkeit, Konfliktfähigkeit,<br />

eigenständiges Arbeiten, Zeitsouveränität aber auch höhere<br />

Ergebnisverantwortung werden zunehmend wichtiger. Die Flexibilisierung<br />

der Arbeit erfordert ebenso Kenntnisse und Fertigkeiten zur Bewältigung<br />

von Belastungen und Beanspruchungen.<br />

Wenn die Unternehmenskultur sich in Richtung <strong>Work</strong>-<strong>Life</strong>-<strong>Balance</strong> verändert,<br />

ändern sich auch berufliche Entwicklungen und Karriereschritte. Für<br />

Führungskräfte ist das eine große, manchmal belastende, Herausforderung:<br />

Statt der selbst durchlebten und durchlittenen „Ochsentour“ mit<br />

ausufernden Arbeitszeiten, permanenter Verfügbarkeit und hoher Präsenz<br />

am Arbeitsplatz müssen nun außerberufliche Interessen akzeptiert und die<br />

Beschäftigten bei der Realisierung unterstützt werden. Deshalb sind für<br />

Führungskräfte neben der klassischen Weiterbildung und Qualifizierung<br />

zusätzlich Coaching und Supervision nötig. Aber dies beinhaltet auch<br />

Chancen für Führungskräfte – wenn sie als Vorbilder selbst den Spagat<br />

zwischen beruflichen Anforderungen und beispielsweise familiären<br />

Verpflichtungen wagen. Zu guter Letzt zwingt die längere Lebensarbeitszeit<br />

die Firmen dazu, ältere Beschäftige von körperlich harter Arbeit zu<br />

entlasten und beispielsweise durch entsprechende Fortbildung für den<br />

kaufmännischen oder den Servicebereich zu qualifizieren.


Link- und Literaturliste<br />

Unter den folgenden links finden Sie zahlreiche Praxisbeispiele,<br />

Erfahrungsberichte, aktuelle Meldungen, können Sie newsletter abonnieren<br />

und in den elektronischen Archiven suchen – und finden.<br />

www.arbeitszeit.de<br />

www.arbeitszeitberatung.de<br />

www.arbeitszeiten.nrw.de<br />

www.baua.de<br />

www.bmas.de<br />

www.beruf-und-familie.de<br />

www.betriebsvereinbarungen.de<br />

www.bmfsfj.de<br />

www.bmas.de<br />

www.btq-kassel.de<br />

www.boeckler.de<br />

www.chefsache-familie.de<br />

www.darmstadt-online.de/druckwerkstattkollektiv<br />

www.dgb-index-gute-arbeit.de<br />

www.einblick.dgb.de<br />

www.erfolgsfaktor-familie.de<br />

www.eurofound.europa.eu<br />

www.fidi.nrw.verdi.de/faire_arbeit<br />

www.gender.verdi.de<br />

www.gendernet.de<br />

www.inqa.de<br />

www.kinder-machen-vaeter.de (wird zurzeit neu gestaltet)<br />

www.labournet.de<br />

www.lokale-buendnisse-fuer-familie.de<br />

www.mittelstand-und-familie.de<br />

www.praevention-online.de<br />

www.pro-mittelstand.org<br />

www.prognos.com<br />

www.qualifizierte-teilzeitarbeit.de<br />

www.sozialnetz.de/vater-und-beruf (wird zurzeit neu gestaltet)<br />

www.tarifvertrag.de<br />

www.vaeter.de<br />

www.verdi.de<br />

www.vereinbarkeit.de<br />

www.work-and-life.de<br />

www.wsi.de<br />

www.zeitpolitik.de<br />

31


32<br />

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ):<br />

Betriebswirtschaftliche Effekte familienfreundlicher Maßnahmen,<br />

Kosten-Nutzen-Analyse, erstellt von Prognos. Berlin 2003<br />

BMFSFJ: Familienfreundliche Regelungen in Tarifverträgen und<br />

Betriebsvereinbarungen. Erstellt vom (arbeitgebernahen) Institut der<br />

deutschen Wirtschaft in Köln. Berlin 2005<br />

BMFSFJ: Führungskräfte und Familie. Wie Unternehmen <strong>Work</strong>-<strong>Life</strong>-<strong>Balance</strong><br />

fördern können. Berlin 2006<br />

BMFSFJ: Familienbewusste Personalpolitik - Informationen für Arbeitnehmervertretungen,<br />

Unternehmens- und Personalleitungen. Berlin 2007<br />

BMFSJ: Neue Wege - Porträts von Männern im Aufbruch. Berlin 2007<br />

Bsirske, Frank/Mönig-Raane, Magret/Wiedemuth, Jörg/Sterkel, Gabriele (Hrsg.).<br />

Perspektive neuer Zeitverteilung. Logbuch 2 der ver.di- Arbeitszeitalternative:<br />

für eine gerechte Verteilung von Arbeit, Zeit und Chancen. Hamburg 2005<br />

DGB: DBG-Index Gute Arbeit 2007. Der Report“, Berlin 2007<br />

Hans-Böckler-Stiftung: In <strong>Balance</strong> arbeiten und leben. Forschungsimpulse<br />

für eine innovative Arbeits(zeit)gestaltung. Düsseldorf 2006<br />

Gersterkamp, Thomas: gutesleben.de, Die neue <strong>Balance</strong> von Arbeit und Liebe.<br />

Stuttgart 2002<br />

Ders. : Die neuen Väter zwischen Kind und Karriere. Freiburg 2007<br />

Ilmarinen, Juhani & Tempel, Jürgen : Arbeitsfähigkeit 2010. Hrsg. Marianne Giesert.<br />

Hamburg 2002.<br />

Oppolzer, Alfred: Gesundheitsmanagement im Betrieb. Hamburg 2007<br />

Pfahl, Svenja & Reuyss, Stefan: Gelebte Chancengleichheit im Betrieb. Fallstudien<br />

von Betriebs- und Dienstvereinbarungen. Frankfurt/Main 2007<br />

Schmidt-Lellek, Dr. Christoph: Ein heuristisches Modell zur <strong>Work</strong>-<strong>Life</strong>-<strong>Balance</strong>,<br />

in: Organisationsberatung, Supervision, Coaching 14 (1), 2006, S. 29-40<br />

ver.di: Arbeit + Erholung = Gesundheit. Arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse zur<br />

Arbeitszeitgestaltung. Berlin, ohne Jahr.<br />

ver.di: drehbuch für balance. Gewerkschaftliche Aktivitäten zur Verbesserung der<br />

Arbeits- und Lebensbedingungen. Berlin 2007.<br />

Herausgeberin und Bezug: ver.di Bundesverwaltung, Bereich Genderpolitik, Paula-<br />

Thiede Ufer 10, 10179 Berlin, Telefon: 030 - 69 56 1173, Fax: 030 6956 3090.


ver.di: „Wem gehört die Zeit“. Neue arbeitszeitpolitische Initiative,<br />

Dokument der Auftaktkonferenz am 25. Juni 2003<br />

ver.di: Zwischen Meeting und Masern. Vereinbarkeit von Beruf und Familie<br />

– ein Thema auch für Männer. Berlin, ohne Jahr.<br />

WSI-Tarifhandbuch: Ein jährlich erscheinendes Handbuch des gewerkschaftsnahen<br />

Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts in der Hans-Böckler-Stiftung (WSI);<br />

zum Thema „Frauen, Familie und Beruf“ Ausgabe 2005<br />

WSI-Sonderbefragung: Erste Ergebnisse einer WSI-Betriebsrätebefragung<br />

zu Gesundheitsbelastungen und Prävention am Arbeitsplatz (Ahlers/Schäfer). 2004<br />

33


Anhang<br />

34<br />

Optionszeiten im 7. Familienbericht<br />

der Bundesregierung<br />

Im 7. Familienbericht wurde das Modell der Optionszeiten vorgestellt, um<br />

den geänderten Lebens- und Arbeitsbedingungen Rechnung zu tragen.<br />

Eine nachhaltige Familienpolitik versucht als Lebenslaufpolitik Möglichkeiten<br />

zu schaffen. In einem sehr viel längeren Leben, das den meisten<br />

Menschen heute vergönnt ist, ist das Ziel, die klassische Dreiteilung des<br />

Lebenslaufs in Kindheit und Jugend als Bildungsphase, in das Erwachsenenalter<br />

als Berufs- oder Familienphase und in das Rentenalter als<br />

Freizeitphase zu überwinden. Durch Zerlegung in nicht unbedingt chronologisch<br />

aufeinander folgende Phasen wird die bestehende „Rushhour des<br />

Lebens“, gekennzeichnet durch die Gleichzeitigkeit von Familiengründung<br />

und Berufsstart, entzerrt. Zeit für andere gesellschaftlich wichtige<br />

Aufgaben kann ebenfalls dadurch gewonnen werden.<br />

Eine Öffnung des traditionellen Lebenslaufs ist durch die Einführung so<br />

genannter „Optionszeiten“ nach dem Vorbild der Erziehungszeit möglich.<br />

Optionszeiten können sein: Erziehungs-, Bildungs- oder Pflegezeit oder<br />

auch andere Formen sozialer Arbeit. Das Optionszeitenmodell zielt auf die<br />

Normalisierung von Unterbrechungen der Erwerbsverläufe ab. Familien-,<br />

Nachbarschafts- und Bildungsengagement sollen nicht zum Nachteil im<br />

Erwerbsverlauf und Rentensystem werden. Das Ziel ist, ein geschlechtsneutrales<br />

Modell zu entwickeln. Die Einführung von Optionszeiten sollte<br />

verpflichtenden Charakter haben, um Unterbrechungen der Erwerbsarbeit<br />

zu entstigmatisieren. Das Modell ist als Drucksache 16/1360 des Deutschen<br />

Bundestags – 16. Wahlperiode – 269 – abgedruckt, findet sich auf<br />

der homepage des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und<br />

Jugend und kann dort auch angefordert werden. „Optionszeiten“ werden<br />

wie folgt beschrieben:


Neue Verknüpfungen von Lebensbereichen im Lebenslauf<br />

(Optionszeitenmodell)<br />

Mit der Schaffung neuer Rahmenbedingungen zur besseren Verknüpfung<br />

von Lebensbereichen und Aktivitätsprofilen durch akzeptierte Unterbrechungsmöglichkeiten<br />

der Erwerbsarbeit verbindet die Kommission zwei<br />

Perspektiven:<br />

Bei Beibehaltung der bestehenden Regelung von 45 Erwerbsjahren, die<br />

für den maximalen Rentenbezug festgelegt ist, wird die Zeitspanne, in<br />

der diese abgeleistet werden können, bei Bedarf über das fünfundsechzigste<br />

Lebensjahr hinaus erweitert. Der Hintergrund sind die in<br />

Kap. II, ausführlicher im 5. Altenbericht der Bundesregierung zusammengetragenen<br />

empirischen Daten zum Altern in relativ guter<br />

Gesundheit. Das WHO-Maß der Gesundheitserwartung, d. h. die<br />

erwarteten Lebensjahre in „relatively good health“ lag 2002 für 60jährige<br />

Männer und Frauen bei 15,9 bzw. 19,0 Jahren. Damit sind viele<br />

Lebensjahre gewonnen worden, ohne dass diese zu neuen – oder auch<br />

nur zu zeitlich proportional veränderten – Lebensläufen geführt hätten.<br />

Wir gehen davon aus, dass hierüber für Männer und Frauen erweiterte<br />

Chancen der Nutzung von – wie wir es im Folgenden nennen –<br />

Optionszeiten entstehen. Sie eröffnen Partizipations- und Gestaltungsmöglichkeiten<br />

an Familie, Bildung und Gemeinwesen. Sie reichern somit<br />

den Lebenslauf mit relevanten Aktivitätsfeldern an und modifizieren den<br />

Viertakter „Bildung – Ausbildung – Arbeitsmarkt– Verrentung“, ohne dass<br />

dieses Engagement die Rentenbezüge gefährden muss. Aus der Idee des<br />

Optionszeitenmodells ergeben sich drei Herausforderungen:<br />

Wofür können diese Optionszeiten genutzt werden?<br />

Wie werden diese Optionszeiten finanziert?<br />

Welcher Verpflichtungscharakter ergibt sich, diese Optionszeiten auch<br />

tatsächlich zu nehmen?<br />

Zur Nutzung<br />

Die bisher nur für die Kinderbetreuung festgelegte Elternzeit als legitime<br />

„Auszeit“ im Erwerbsleben wird als Teil der Berechtigung für „Auszeiten“<br />

rund um die Betreuung Abhängiger (Kinder, pflegebedürftige Partner,<br />

Verwandte im Alter) erweitert und zum Typus „Care-Zeiten“ zusammengefasst.<br />

Zeiten für präventive oder re-integrative Bildungsmaßnahmen<br />

(Bildungszeiten) sowie Zeiten für zivilgesellschaftliches Engagement in<br />

Kommunen und Gemeinden (Sozialzeiten) werden als legitim und als<br />

Erhalt von Gesundheit, kommunaler Integration und Kompetenzerwei-<br />

35


36<br />

terungen erachtet. Dabei ist zu beachten, dass Weiterbildung, bisher<br />

überwiegend betriebsintern als Aufstiegsfortbildung angeboten oder als<br />

extern gesetzte Maßnahme der Umschulung eingesetzt, in Form von<br />

Bildungszeiten systematisch in die eigene Lebensplanung und den Lebenslauf<br />

eingebettet werden muss. Hier sind neue Wege der Verknüpfbarkeit<br />

von Erstausbildungen und Berufspraxis mit Kompetenzerweiterungen<br />

(u. a. über die Nutzung anderer Optionszeiten) zu schaffen, die durchaus<br />

auch, und über den Lebenslauf verteilt, neue Berufsfelder erschließen<br />

können. Weiterbildung darf nicht erst in Arbeitslosigkeit ansetzen, sondern<br />

muss präventiv verankert sein. Ziel ist es, Optionszeiten im normalen<br />

Lebenslauf sicherzustellen und nicht in Ausnahmeregelungen zu verharren.<br />

Zur Finanzierung von Erwerbskarrieren mit phasenweiser Erwerbsumfangreduzierung<br />

oder -unterbrechung, bzw. neuen Verknüpfungsformen<br />

von Arbeit und Rente liegt eine breite Debatte und eine Fülle von<br />

Ansätzen in der Fachliteratur vor (vgl. Langelüddeke/ Rabe/Thiede 1999;<br />

Krupp/Rolf 2005). Diese Ansätze gilt es bezüglich des Optionszeitenmodells<br />

neu zu sichten und weiterzuentwickeln.<br />

Genannt seien folgende Möglichkeiten:<br />

Die Finanzierung<br />

Die Finanzierung kann (a) durch Arbeitszeitkonten nach niederländischem<br />

Vorbild geschehen, durch spezifische Berufsverläufe mit sabbatical-<br />

Anteilen nach angloamerikanischem Vorbild, durch das Ansparen von Zeit<br />

per Überstunden, durch Freistellungsmodelle mit erweiterten Zeitspannen<br />

für Erwerbsarbeit über die Verrentungsmarke hinaus.<br />

Denkbar sind (b) Modelle, bei denen bereits erwirtschaftete Rentenpunkte<br />

schon vor dem Eintritt in den (endgültigen) Ruhestand genutzt und verbraucht<br />

werden können. Für Phasen der Optionszeiten könnten z. B. die<br />

bis zu diesem Zeitpunkt angesammelten Rentenleistungen, die bisher<br />

geschlossen ab Verrentung fällig geworden wären, schon zwischen 35<br />

und 38 oder 40 und 43 Jahren genutzt werden.<br />

Sie könnten als endgültig verbraucht oder als wieder erwirtschaftbar<br />

durch Erwerbsarbeit über das Standard-Rentenalter hinaus gesetzt werden.<br />

Bei öffentlich finanzierten Systemen sollten die geschätzten Kosten/Nutzen<br />

(volkswirtschaftlich und privat) als relationale Größen mitbedacht<br />

und einbezogen werden, die entstehen,<br />

wenn Frauen mit Kind aus dem Erwerbsleben aussteigen zugunsten<br />

der Familie;<br />

wenn Männer mit Kind aus dem Erwerbsleben ausscheren<br />

zugunsten der Familie;<br />

wenn Kinder in Armut fallen;<br />

wenn Frauen und Männer auf Kinder verzichten;<br />

wenn „Care-Zeiten“ nicht mehr familiär bewältigbar sind.<br />

….


Auch bei einer umfassenden Betrachtung z. B. der faktischen Gesamtkosten<br />

für Pflege durch Familienangehörige im Privathaushalt wird eine<br />

Reihe von zusätzlichen Kosten sichtbar, die in der Regel übersehen werden.<br />

Die Kommission betont die Zielperspektive einer Lebenslaufpolitik,<br />

die die Aktivitäten des außerbetrieblichen Alltags und der Erwerbsarbeit<br />

neu aufeinander beziehen. Die Niederlande haben hierzu ein Regierungsressort<br />

für Lebenslaufpolitik (Levensloopbeleid) eingerichtet mit dem Ziel,<br />

konventionelle Lebenslaufmodelle zugunsten neuer Zeitarrangements für<br />

Care, für lebenslanges Lernen, zur Sicherung der Rente usw. zu entwikkeln<br />

und umzusetzen (vgl. Barkholdt 2005). Ein solcher Ansatz verlangt<br />

nach Politiken, die neue Aktivitätskombinationen im Lebenslauf bewusst<br />

und gezielt fördern, samt den damit einhergehenden Unterbrechungen<br />

der Erwerbstätigkeit. Dieser Ansatz würde die Optionszeiten auch unspezifischer<br />

und damit geschlechtsneutraler machen.<br />

Dann wären es nicht nur Frauen, die aufgrund von Kindererziehung und<br />

der Pflege Älterer ihre Erwerbstätigkeit unterbrechen; Unterbrechungen<br />

erfolgten auch durch Männer, wenngleich vermutlich zunächst aus anderen<br />

Gründen. Die Vielfalt und Anreicherung des Lebenslaufs wäre dennoch<br />

ein erster Weg hin zu neuen Gestaltungschancen und zu einer<br />

geschlechtsneutralen Unterbrechungspraxis der üblichen Erwerbskontinuität.<br />

Zum Verpflichtungscharakter: Hier sieht die Kommission zwei<br />

Alternativen:<br />

Optionszeiten müssen, wenn auch im Umfang flexibel, genommen<br />

werden, ansonsten entfallen sie. Dies würde das Ziel unterstützen, den<br />

bestehenden Zusammenhang von Geschlechterordnung und Erwerbsunterbrechungen<br />

zu entkoppeln und Erwerbsarbeit gleichmäßiger auf<br />

Männer und Frauen verteilen.<br />

Das Wort ‚Option’ wäre dann so zu verstehen, dass die Verwendung<br />

dieser Zeiten optional ist, nicht aber das Nehmen dieser Zeiten als solches.<br />

Optionszeiten können, müssen aber nicht genommen werden. Es<br />

bleibt den Personen entsprechend freigestellt, sich für solche Zeiten<br />

finanziell abzusichern bzw. per Anreizsysteme zum Nehmen von<br />

Optionszeiten anregen zu lassen.<br />

Das Optionszeitenmodell zielt auf die Normalisierung von Unterbrechungen<br />

der Erwerbsverläufe ab, die in der zeitlichen Gestaltung und<br />

der Prioritätensetzung hoch unterschiedlich sein können und Familien-,<br />

Nachbarschafts- und Bildungsengagement nicht zum Nachteil im<br />

Erwerbsverlauf und Rentensystem werden lassen.<br />

Während die Kommission die Einführung von Optionszeiten, unabhängig<br />

von deren jeweiligem Inhalt, als notwendig erachtet, präferiert sie den<br />

verpflichtenden Charakter, um Unterbrechungen der Erwerbsarbeit zu<br />

entstigmatisieren und damit deren mittel- und langfristige, auch finanzielle<br />

Folgen zu mindern.<br />

37


38<br />

Was kostet die Volkswirtschaft die informelle Pflege von<br />

Familienangehörigen?<br />

Schneider (Expertise 2004) ermittelte das Gesamtvolumen der im Jahr<br />

1997 für die Betreuung pflegebedürftiger Personen in privaten Haushalten<br />

eingesetzten Zeit mit etwa 5 Milliarden Stunden. Dies würde rechnerisch<br />

dem Stundenvolumen der tatsächlichen Jahresarbeitsleistung von ca.<br />

3 Millionen Vollzeit-Arbeitskräften entsprechen. Dieser Zeiteinsatz in der<br />

Versorgung der pflegebedürftigen Bevölkerung in Privathaushalten kann<br />

zu Marktlohnsätzen bewertet werden. Je nachdem, welche Annahme zur<br />

Qualifikation der Arbeitskräfte getroffen wird, kann das Volumen informeller<br />

Pflege mit 31 Mrd. Euro bis 60 Mrd. Euro im Jahr bewertet werden.<br />

Eine andere Art der Zeitkostenberechnung wäre, die unbezahlte Pflege als<br />

Opportunitätskosten zu bewerten. Dieser Ansatz bewertet den Nutzen,<br />

der dadurch verloren geht, dass unbezahlte Pflegepersonen ihre Zeit nicht<br />

anders, etwa für bezahlte Erwerbsarbeit, einsetzen können Dies zeigt<br />

auch, dass miteinander verbundene Entscheidungen über Erwerbsarbeit<br />

und informelle Pflegearbeit nicht nur das Volumen der Arbeitsstunden<br />

betreffen, sondern zusätzlich auch die Art der bezahlten Tätigkeit und die<br />

Produktivität am Arbeitsplatz. Wird die Erwerbsarbeitszeit reduziert oder<br />

Erwerbsarbeit für den Zeitraum der Pflege aufgegeben, gehen nicht nur<br />

Einkommen und Karrieremöglichkeiten, sondern auch Berufserfahrung<br />

verloren. Der Zugang zu den von Arbeitgebern geförderten Weiterbildungsmaßnahmen<br />

wird erschwert. Zugleich gehen den Gebietskörperschaften<br />

und den Sozialversicherungsträgern Steuer- bzw. Beitragseinnahmen<br />

verloren (Expertise Schneider 2004).<br />

Die Restrukturierung von Berufsverläufen<br />

(Berufsanreicherungsmodell)<br />

Um die Mutterrolle nicht länger als Alternative zu Sackgassenberufen<br />

(oder ungeliebten und wenig perspektivisch angelegten Berufsrollen) zu<br />

favorisieren, bietet es sich an, neue Verknüpfungswege zwischen Erstausbildung,<br />

Optionszeitennutzung, Erwerbsunterbrechungen zu eröffnen<br />

und per Anrechnungsmöglichkeiten von Berufsausbildungen sowie Umstiegsausbildungen,<br />

Berufspraxis und Umschulungen neue Berufswege zu<br />

ermöglichen. Bisherige Sackgassenkonstruktionen von Berufen stammen<br />

noch aus der Zeit der Bismarck-Ära, als weiblich stereotypisierte Berufe<br />

bestenfalls bis zur Heirat tragen sollten. Heute hat sich der Anspruch an<br />

die Ausübungsdauer dieser Berufe geändert.<br />

Als Beispiel sei der Beruf der Erzieher/in genommen, einem in Ausbildung<br />

und Berufspraxis in überwiegend staatlicher Hand liegenden Berufssegment.<br />

Die Ausbildung ist relativ zeitaufwändig. Sie setzt voraus: Mittlere<br />

Reife und/oder eine Sozialassistentenausbildung (je nach Bundesland und<br />

Vorqualifikation ein- oder zweijährig); die Ausbildung umfasst je nach<br />

Anerkennungsregelungen zwei bis vier Jahre (einschließlich Berufspraktikum).


In der Berufspraxis angekommen, fehlen Aufstiegswege innerhalb des<br />

Berufs, sowie Umstiegswege in angrenzende Berufe wie etwa die<br />

Heilerziehungspflege, die Altenpflege, die Grundschulpädagogik, die<br />

Sprachtherapie, Bewegungstherapie usw… Auch diese weisen in ihren<br />

Grundkompetenzen eine Reihe von Schnittmengen untereinander und<br />

mit dem Erzieherberuf auf, verlangen aber noch heute eine jeweils gegeneinander<br />

abgeschottete, eigene Berufsausbildung ohne nennenswerte<br />

Karrierewege danach. Empfohlen wird demgegenüber der Einstieg in eine<br />

Modularisierung beruflicher Bildung, um aus beruflichen Sackgassenkonstruktionen<br />

v. a. in personenbezogenen Dienstleistungen herauszuführen<br />

durch:<br />

Das prinzipielle Angebot, per Anrechnungsverordnung und entsprechend<br />

gekürzter Berufsausbildung (Umsteige-Schulung) in einen Beruf<br />

umzusteigen, um damit dem Phänomen des Ausbrennens v. a. in<br />

sozialen, pflegerischen und Lehrberufen entgegen zu wirken oder sei<br />

es, um während einer Erwerbsunterbrechung neu erworbene Orientierungen<br />

umsetzen zu können.<br />

Die Unterstützung der Kombination von Optionszeitenmodellen und<br />

Berufswegen:<br />

Kompetenzerweiterungen, die aus der Inanspruchnahme von Optionszeiten<br />

(Sozialzeiten, Bildungszeiten, Care-Zeiten) erworben wurden,<br />

werden per Vergabe von nicht altersgebundenen Stipendien bei<br />

Personen mit Umsteigeperspektiven unterstützt.<br />

Beide Modelle erleichtern den Einstieg in Umbrüche im Erwerbsverlauf,<br />

die zudem Optionszeiten integrieren können. Der private und volkswirtschaftliche<br />

Nutzen liegt auf der Hand. Beide Modelle bieten sich für alle<br />

an, die – oft als Folge zu langer Tätigkeit im Beruf – mit dem bekannten<br />

Phänomen der zunehmenden Gleichgültigkeit dem Klientel gegenüber<br />

(z. B. Schülern/ Schülerinnen, Kindern, Sozialhilfeempfängern/Sozialhilfeempfängerinnen<br />

usw.) zu kämpfen haben. Die Effekte von Umsteige- und<br />

Wechselalternativen aktivieren die Fachkompetenz und erhöhen das persönliche<br />

Arbeitsengagement. Sie tragen so zur Qualitätsverbesserung der<br />

Arbeit bei. Hierüber kann zudem erreicht werden, dass Konzepte des<br />

lebenslangen Lernens für neue Altersstrukturen bei Berufsbeginn sorgen<br />

und klassische Frauenberufe der Arbeit mit Kindern auch für Männer mit<br />

anderer Erstberufsausbildung attraktiver werden. Der gesellschaftliche<br />

Gewinn männlicher Bezugspersonen für die Sozialisation von Jungen ist<br />

bedeutsam, und zwar sowohl bezüglich der Erweiterung des<br />

Berufswahlspektrums männlicher Jugendlicher, als auch der Neudefinition<br />

späterer Familienrollen (vgl. Kap. IV).<br />

39


40<br />

Erweiterte Zeiträume zur Realisierung von<br />

Kinderwünschen (Wunschzeitenmodell)<br />

Eine etwas andere Perspektive verlangt die Prüfung von Möglichkeiten,<br />

die Lebensspanne, in der Kinderwünsche realisiert werden, zu erweitern.<br />

(vgl. Kap. II). Diese Möglichkeiten realisieren zu helfen, bedeutet die<br />

Entwicklung von Infrastrukturangeboten bei einer Familiengründung, die<br />

in die Ausbildung fällt oder bei biographisch später Mutter-/Vaterschaft,<br />

die nach einer intensiven, kontinuierlichen und damit karriereförderlichen<br />

Vollzeitbeschäftigung der Partner stattfindet. Unter Optionszeitennutzung<br />

bedeuten diese Alternativen: Wird ein Bildungsabschluss erst nach einer<br />

frühen Mutter-/Vaterschaft erlangt, oder erfolgt diese auf der Basis einer<br />

Zwischenstufe im Bildungsweg, ist das Alter beim ersten oder zweiten<br />

Eintritt in den Arbeitsmarkt zwar höher, aber durch Optionszeitennutzung<br />

legitimiert und die letzterworbene Qualifikation entspricht dem neuesten<br />

Stand. Eine späte Mutter-/Vaterschaft hingegen geht mit hohem<br />

Erfahrungsreichtum im Beruf Hand in Hand, bedeutet aber erhöhten Zeitstress,<br />

der durch Optionszeitennutzung gemildert werden kann und mit<br />

besseren Möglichkeiten der individuellen und organisatorischen Steuerung<br />

von Unterbrechungen verbunden ist. Zu unterstreichen aber ist, dass<br />

Optionszeitenregelungen zwar neue Chancen der Familiengründung<br />

eröffnen, es aber zusätzlicher Verbesserungen der Rahmenbedingungen<br />

bedarf, um die neue Lebensphase mit Kind so gestalten zu können, dass<br />

auch die familienextern aufgebauten Fäden wieder geknüpft werden können<br />

(vgl. Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats für Familienfragen zu<br />

„Elternschaft und Ausbildung“, BMFSFJ 2004a).


Quelle:<br />

Siebter Familienbericht, Familie zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit –<br />

Perspektiven für eine lebenslaufbezogene Familienpolitik und Stellungnahme<br />

der Bundesregierung, Deutscher Bundestag Drucksache 16/1360<br />

16. Wahlperiode 26. 04. 2006 (vom Verfasser für die vorliegende<br />

Broschüre leicht überarbeitet).<br />

Im obigen Dokument zitierte Literatur:<br />

Barkholdt, Corinna (2005). Arbeits(zeit)verteilung in der Lebensperspektive.<br />

Die Lebenslaufpolitik in den Niederlanden. In: Bsirske, Frank/Mönig-Raane,<br />

Magret/Wiedemuth, Jörg/Sterkel, Gabriele (Hrsg.). Perspektive neuer Zeitverteilung.<br />

Logbuch 2 der ver.di- Arbeitszeitalternative: für eine gerechte Verteilung von Arbeit,<br />

Zeit und Chancen. Hamburg, 108–120.<br />

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (2004a).<br />

Elternschaft und Ausbildung. Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats für Familienfragen<br />

beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Berlin.<br />

Krupp, Hans-Jürgen/Rolf, Gabriele (2005). Bürgerversicherung für das Alter.<br />

In: Strengmann-Kuhn, Wolfgang (Hrsg.). Das Prinzip Bürgerversicherung,<br />

Die Zukunft im Sozialstaat. Wiesbaden, 114–156.<br />

Langelüddeke, Anne/Rabe, Birgitta/Thiede, Reinhold (1999). Flexible Anwartschaften<br />

und Anwartschaftszeiten. Ein Modell zum Ausbau der eigenständigen<br />

Frauenalterssicherung und zur Anpassung der Rentenversicherung an den Wandel<br />

der Arbeitswelt. Die Angestelltenversicherung 46(1), 7–13.<br />

Schneider, Ulrike Informelle Pflege aus ökonomischer Sicht<br />

(Expertise für den 7. Familienbericht)<br />

WHO (Hrsg.) 2003, The World Health Report 2003. Shaping the future. Genf.<br />

41


42<br />

ver.di: Tarifpolitische Grundsätze für<br />

biographieorientierte Zeitkonten<br />

Worum geht es<br />

In der Tarifpolitischen Grundsatzabteilung wurde im Rahmen der<br />

Arbeitszeitinitiative „Nimm Dir die Zeit“ das Konzept der „Biografieorientierten<br />

Arbeitszeit“ entwickelt. Im Kern geht es darum, dass alle<br />

Menschen die Möglichkeit haben sollen, ihre Lebensarbeitszeit so zu<br />

gestalten, dass sie mit ihren eigenen Bedürfnissen und Lebensplänen in<br />

Einklang steht.<br />

Diese Idee begründet sich aus der Annahme, dass sich die Verteilung und<br />

Regulierung von Arbeitszeit auf das Leben der einzelnen Frauen und<br />

Männer auswirkt. Gleichzeitig beeinflussen individuelle Lebenskonstellationen<br />

und Lebensführung bestehende Arbeitszeitrealitäten. Deshalb ist<br />

es notwendig, Arbeitszeit im Kontext der individuellen Biografie zu thematisieren.<br />

Es geht nicht nur darum, welche Arbeitszeitrealitäten bestehen,<br />

sondern auch warum und wie sie von den Einzelnen genutzt werden.<br />

Aus dieser Perspektive heraus wird davon ausgegangen, dass Einzelne<br />

durchaus Einfluss auf die Gestaltung von Arbeitszeitmodellen haben.<br />

Dennoch darf der Einfluss von gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen<br />

Faktoren nicht unterschätzt werden. Es erscheint daher sinnvoll<br />

eine Strategie zu entwickeln, die sich auf das ganze Leben und die unterschiedlichen<br />

Lebensphasen konzentriert.<br />

„Biografieorientierte Arbeitszeit“ ist die Antwort. Sie kann als Doppelstrategie<br />

angewendet werden, die Individuen zum einen dazu befähigt,<br />

ihre Zeitgestaltung selbst zu koordinieren und gleichzeitig vor einer Überforderung<br />

des Einzelnen durch die Entgrenzung von Arbeit schützt.<br />

Zudem kann sie ein Instrument zur Umverteilung von Erwerbsarbeit sein.<br />

Der von der Tarifpolitischen Grundsatzabteilung entwickelte Gedanke leitet<br />

sich aus dem bereits praktizierten Altersteilzeitmodell ab. Daraus folgt<br />

eine subventionierte Verkürzung der Arbeitszeit, jedoch nicht am Ende der<br />

Lebensarbeitszeit, sondern flexibel wählbar gemäß den Bedürfnissen der<br />

Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.


Wissenswertes für die Interessenvertretung<br />

Die tarifpolitische Grundsatzabteilung empfiehlt folgende Grundsätze bei<br />

der Einführung bzw. Nutzung von biographieorientierten Arbeitszeitkonten:<br />

Biographieorientierte Zeitkonten sind tarifvertraglich abzusichern. Für<br />

Dienst- oder Betriebsvereinbarungen ist ein enger Rahmen vorzusehen.<br />

Die Laufzeit oder der Zeitraum für Korrekturmöglichkeiten des<br />

Tarifvertrages soll 5 Jahre nicht überschreiten. In einer Sicherungsabrede<br />

ist der von den Beschäftigten bis dahin erreichte Kontostand sowohl<br />

in Zeit- als auch in Geldguthaben abzusichern. Künftige weiterführende<br />

Tarifabschlüsse dürfen diese Guthaben nicht mindern. Erworbene<br />

Ansprüche dürfen nicht in Wegfall geraten, d.h. eine Streichung von<br />

Zeitansprüchen ist nicht zulässig.<br />

Die Kontoführung erfolgt in Zeit und ist tariflich abzusichern.<br />

Sie erfolgt durch den Arbeitgeber, der auch die Kosten dafür<br />

trägt. Auf dem für jeden Beschäftigten individuell geführten Konto<br />

werden Zeitguthaben gebildet. Ein Sollstand ist nicht vorgesehen<br />

(Ausnahmefall: konkretisiertes Vorhaben, wie z. B. Sabbatjahr).<br />

Eingebrachte Entgeltbestandteile werden in Zeit umgerechnet. Parallel<br />

dazu wird ein Geldadäquanzkonto zur finanziellen Absicherung des /<br />

der Beschäftigten geführt. Die Beschäftigten sind regelmäßig über<br />

ihren Zeitkontostand zu informieren.<br />

Die Beschäftigten müssen die tarifvertraglich abgesicherte<br />

Freiheit haben, sich für oder gegen die Bedienung eines für sie<br />

eingerichteten Kontos zu entscheiden. Sie dürfen weder gezwungen<br />

werden, Zeit einzubringen noch Geld einzuzahlen.<br />

Die Beschäftigten müssen jederzeit über ihr Konto verfügen<br />

können. Für die Beschäftigten ist ein Zeitraum festzulegen, in dem sie<br />

über die Änderung, Weiterführung, bzw. das Schließen des Kontos<br />

entscheiden können. Das Konto ermöglicht Plus- und Minussalden. Die<br />

Entnahme der angesammelten Zeit muss spätestens bis zum Übergang<br />

in den Ruhestand realisiert werden. Minusstunden sind in festzulegendem<br />

Umfang für festzulegende Zeiträume zu definieren. Sie können<br />

nur durch Zeitgutschriften ausgeglichen werden, grundsätzlich nicht<br />

durch Reduzierung des (monatlichen) Entgeltes. Das Zeitguthaben<br />

muss vor Veräußerungen oder Belastungen gesichert sein.<br />

Tarifvertraglich ist auszuschließen, dass Erholungsurlaub,<br />

Grundentgelt und bereits erreichte tarifliche Arbeitszeitverkürzungen<br />

in das Konto eingebracht werden können. Wenn Arbeitszeiten<br />

eingebracht werden, können nur Mehrarbeit, Überstunden und<br />

Gleitzeit-Überhänge eingebracht werden. Dabei dürfen die Arbeitszeitbegrenzungsregelungen<br />

der jeweiligen Manteltarifverträge nicht überschritten<br />

werden. Existieren keine tariflichen täglichen, wöchentlichen<br />

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und jährlichen Höchstarbeitszeitgrenzen gilt als Begrenzung eine<br />

Höchstarbeitszeit von täglich 10 Stunden, wöchentlich 48 Stunden<br />

und jährlich max. 152 Mehrarbeits-/ Überstunden. Dies gilt auch, wenn<br />

der Tarifvertrag schlechtere Regelungen als die hier Genannten enthält.<br />

Das Zeitguthaben ist in der Höhe nicht begrenzt. Begrenzungen ergeben<br />

sich aber bei der täglichen, wöchentlichen und jährlichen Höchstarbeitszeit.<br />

Werden zu (faktorisierend) Überstunden eingebracht, ist<br />

der Gesundheitsschutz zu beachten.<br />

Umwandlung von Entgelt in Zeit. Als Geldbeträge, die in Geld<br />

umzuwandeln sind, können ausschließlich steuer- und sozialversicherungspflichtige<br />

Entgeltbestandteile nach § 14 SGB IV verwendet<br />

werden. Das tarifliche Monats- (Tabellen-) Entgelt darf nicht<br />

eingebracht werden. Der jeweils eingebrachte Geldbetrag muss seiner<br />

Höhe nach umgerechnet mindestens einer Stunde entsprechen. Für die<br />

Umrechnung gilt die zum Zeitpunkt der Einstellung in das Konto maßgebende<br />

Bruttovergütung, die sich aus dem jeweiligen Tarifvertrag<br />

ergibt.<br />

Regelungen für die Entnahme von Zeit: In der Freistellungsphase<br />

entfällt die Arbeitsverpflichtung ganz oder teilweise (bei<br />

Teilzeit). Das Beschäftigungsverhältnis als solches bleibt aber<br />

bestehen. Biographieorientierte Zeitkonten sind als Teil der ver.di-<br />

Konzeption zur biographieorientierten Arbeitszeitgestaltung einzusetzen.<br />

Deshalb muss der Anspruch auf Freistellungen (Voll- oder Teilzeit)<br />

während des gesamten Beschäftigungsverhältnisses, spätestens vor<br />

Beginn der gesetzlichen Rente, tarifvertraglich garantiert werden.<br />

Gründe für die Freistellung sollten nicht zwingend vorgegeben werden.<br />

Ein Verfahren (Anmeldung, Fristen und Beilegung von Streitigkeiten)<br />

soll unter Beteiligung von PR/BR festgelegt werden.<br />

Regelungen für die Entnahme von Geld: Grundsätzlich ist keine<br />

Entnahme in Form von Geld möglich. Nur in absoluten Ausnahmefällen<br />

soll eine Entnahme von Geld ermöglicht werden.<br />

Ermittlung des Freistellungsanspruches: Für jeden Freistellungsanspruch<br />

wird die vor Beginn der Freistellung gültige tarifliche bzw. individuell<br />

vereinbarte wöchentliche Arbeitszeit zugrunde gelegt und als<br />

Berechnungsgrundlage herangezogen. Bei der Freistellung ist für den<br />

Jahresurlaub, für tariflich festgelegte freie Tage und für gesetzliche<br />

Feiertage keine Freistellung erforderlich. Diese Tage werden dem<br />

Zeitkonto durch den Arbeitgeber hinzugefügt, soweit sie in den<br />

Zeitraum der beantragten Freistellung fallen.<br />

Vergütung während des Entnahmezeitraums: Berechnungsgrundlage<br />

ist die unmittelbar vor Beginn der Freistellung gezahlte<br />

Bruttovergütung (bei geringfügig Beschäftigten die Nettovergütung).<br />

Tarifliche Gehaltsveränderungen sind in der Freistellungsphase zu<br />

berücksichtigen. Entgeltleistungen, die nicht zum monatlichen Entgelt


gehören, sind in der Freistellungsphase weiter zu zahlen oder, wenn<br />

der Wunsch nach Umwandlung in Zeit besteht, dem Konto gutzuschreiben.<br />

Der Geldwert des Kontos steht im Falle des Todes der/des Beschäftigten<br />

den Erben zu. Es ist gegen Insolvenz zu sichern.<br />

Wo finde ich mehr Informationen<br />

ver.di-Bundesverwaltung<br />

Tarifpolitische Grundsätze<br />

Paula-Thiede-Ufer 10<br />

10179 Berlin<br />

Ansprechpartnerin: Gabriele Sterkel<br />

E-Mail: gabriele.sterkel@verdi.de<br />

Zum Weiterlesen:<br />

Böker, Karl-Hermann: Flexible Arbeitszeit – Langzeitkonten. Analyse und<br />

Handlungsmöglichkeiten, Frankfurt 2007<br />

Bsirske, Frank / Mönig-Raane, Margret/ Sterkel, Gabriele/ Wiedemuth, Jörg (Hrsg.):<br />

Es ist Zeit. Das Logbuch für die ver.di Arbeitszeitinitiative, Hamburg 2004<br />

Quelle:<br />

„Drehbuch für <strong>Balance</strong>“ von ver.di-Bundesverwaltung, Bereich Gender-<br />

Politik, Berlin 2007 (vom Verfasser für die vorliegende Broschüre leicht<br />

überarbeitet)<br />

45


<strong>BTQ</strong><strong>Kassel</strong><br />

Beratungsstelle für Technologiefolgen und<br />

Qualifizierung im Bildungswerk der<br />

Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di)<br />

im Lande Hessen e.V.<br />

Büro <strong>Kassel</strong>:<br />

Angersbachstraße 2–4 · 34127 <strong>Kassel</strong><br />

Tel 05 61/77 60 04 · Fax 05 61/77 60 57<br />

btq@btq-kassel.de · http://www.btq-kassel.de<br />

Gefördert vom Europäischen Sozialfonds<br />

(EU) und dem Land Hessen

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