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Seminar|brief<br />
Freie Hochschule der Christengemeinschaft <strong>Stuttgart</strong><br />
Sommer 2012<br />
PRIESTERSEMINAR STUTTGART<br />
FREIE HOCHSCHULE DER<br />
CHRISTENGEMEINSCHAFT e.V.<br />
In eigener Trägerschaft, ohne staatliche Anerkennung
Über den<br />
„Seminarbrief“<br />
Die Freie Hochschule der Christengemeinschaft <strong>Stuttgart</strong> ist eine der drei<br />
Priesterbildungsstätten der Christengemeinschaft. Die Christengemeinschaft ist<br />
eine weltweite Bewegung für religiöse Erneuerung – in den inneren und äußeren<br />
Umgestaltungen unserer Zeit – gegründet für die Menschen, die ein modernes<br />
sakramentales Leben suchen. In ihrem Mittelpunkt steht der neue Gottesdienst,<br />
die Menschenweihehandlung. Um ihn versammeln sich Menschen in freien<br />
Gemeinden.<br />
Der Seminarbrief wird von den Studenten des <strong>Priesterseminar</strong>s für dessen Freunde<br />
und Förderer geschrieben. Er richtet sich aber ebenso an Interessierte, die auf<br />
diese Weise das Seminar kennen lernen wollen. Unser Ziel ist es, in ihm das<br />
Studium und das gemeinsame Leben als Teile der Priesterbildung anschaulich und<br />
miterlebbar zu machen. Er erscheint zwei Mal jährlich und kann vom Sekretariat<br />
der Freien Hochschule bezogen werden.<br />
Geleitet wird das <strong>Priesterseminar</strong> derzeit von Georg Dreißig, Joachim Knispel und<br />
Gisela Thriemer. Weitere Informationen erhalten Sie im Sekretariat oder auf unserer<br />
Webseite:<br />
Freie Hochschule der Christengemeinschaft <strong>Stuttgart</strong> e.V.<br />
Spittlerstrasse 15<br />
D-70190 <strong>Stuttgart</strong><br />
Tel. +49 (0)7 11 / 166 830<br />
E-Mail info@priesterseminar-stuttgart.de<br />
www.priesterseminar-stuttgart.de
Liebe Freunde des Seminars,<br />
das Jahr 2012 ist, wie bereits im letzten Seminarbrief<br />
beschrieben, ein Jahr der Schwelle. Grund<br />
genug, sich über Schwellensituationen im Allgemeinen<br />
einmal Gedanken zu machen. Wo überschreiten<br />
wir Grenzen, wie tun wir es, wer bringt uns von<br />
einem Ufer ans andere? Über-setzen ist das Thema<br />
dieses Seminarbriefs und der Bindestrich öffnet den<br />
Raum für jegliches „von einem Ort zum anderen<br />
Kommen“. Leben ist eigentlich nichts anderes als ein<br />
Wandern von einem Bereich in einen anderen, über<br />
Grenzen hinweg – wir „setzen“ unsere Gedanken in<br />
gesprochene Sprache „über“ oder in andere kulturelle<br />
Äußerungen, wir interpretieren das, was uns von<br />
einem anderen Menschen entgegenkommt, „setzen“<br />
es „über“ in unsere Welt und reagieren entsprechend.<br />
Außen wird Innen und wieder Außen,<br />
Fremdes wird Eigenes und wieder Fremdes, Geistiges<br />
wird materiell und wieder zu Geist – Ernährung<br />
(außen-innen), Lernen (fremd-eigen) und Schaffen<br />
(Geist-Materie) sind grundlegende Lebensvorgänge.<br />
Übersetzung ist damit etwas viel Grundlegenderes,<br />
als man gemeinhin annehmen könnte, und wird von<br />
uns allen ständig vollzogen. Vielleicht liegt es in der<br />
Natur dieser Ausbildungsstätte, dass wir mit keinem<br />
Artikel auf die Übersetzung von einer Sprache in die<br />
andere eingehen, obwohl ohne sie eine weltweite<br />
Verständigung schlichtweg nicht möglich wäre.<br />
Dafür gibt es Beiträge zu anderen Arten des<br />
Hinübergehens von einem Ort zum anderen.<br />
Grußwort der Redaktion<br />
Diese Ausgabe des Seminarbriefs kommt etwas früher<br />
als gewöhnlich – das ist der Jugendtagung<br />
„Kairos“ in Überlingen zu verdanken. Die im letzten<br />
Heft begonnene Ausschau in die Welt und zu unseren<br />
„Geschwistern“ hat leider in diese Ausgabe nicht<br />
mehr herein gepasst und soll im nächsten Heft fortgesetzt<br />
werden. Sie finden dafür viele Einblicke in<br />
unser Studium und eine ganze Reihe von Wegen ans<br />
Seminar. Ein Ausblick soll auch gegeben werden –<br />
wir arbeiten wieder an einem Kabarett!<br />
Die Veränderungen in der Studentenschaft sind<br />
nicht so deutlich wie im Herbst, dennoch gibt es<br />
kleinere Wechsel, die Sie den Fotos entnehmen können.<br />
Ein großes Ereignis war die Priesterweihe, die<br />
wir diesmal nur zur Hälfte in <strong>Stuttgart</strong> gefeiert<br />
haben. Drei Kandidaten wurden hier, die übrigen drei<br />
zwei Wochen später in Spring Valley in den USA<br />
geweiht. Das Foto zeigt alle sechs kurz vor ihrem<br />
großen Tag.<br />
Bleibt noch Ihnen, unseren verehrten Leserinnen und<br />
Lesern, zu danken für Ihre Unterstützung und Sie zu<br />
ermuntern, mit uns ins Gespräch zu kommen.<br />
Schreiben Sie uns – wir freuen uns über Post! Im Namen<br />
der Redaktion wünsche ich Ihnen sonnige Wochen<br />
und viele glückliche Über-Setzungen,<br />
Ihre<br />
In eigener Sache:<br />
Wir sind uns der schmählichen Tatsache bewusst, dass die männliche Form in der Sprache nur einen Teil der<br />
Bevölkerung bezeichnet. Dennoch haben wir einer besseren Lesbarkeit zugunsten darauf verzichtet, konsequent<br />
immer von AutorInnen oder Leserinnen und Lesern zu sprechen. Wir bitten Sie daher, grundsätzlich<br />
auch die weibliche Hälfte der Bevölkerung mitzulesen und mitzudenken, wenn Sie im Folgenden von<br />
Bewohnern, Helfern, Studenten und anderen Wesen lesen.<br />
3
4<br />
Inhalt<br />
Wege zum Seminar<br />
Über-setzen<br />
Lernen<br />
Leben & Begegnung<br />
Grußwort der Redaktion<br />
Studenten des 3. Trimesters | Sommer 2012 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5<br />
Mein Weg zum Seminar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6<br />
Viele Fragen – wo sind die Antworten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8<br />
Studenten des 6. Trimesters | Sommer 2012 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9<br />
Grenzgänger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10<br />
Ungeahnte Schicksalsführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12<br />
Aller guten Dinge sind drei … . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />
Moral und Naturgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16<br />
Novalis – Übersetzer zwischen den Welten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19<br />
Gedanke – Wort – Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22<br />
Hilfe, ich verstehe mich selbst nicht mehr!!! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24<br />
Fichte – Wirken durch das Ich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25<br />
Dag Hammarskjöld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27<br />
Referate im Wintertrimester | 2012 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30<br />
Referate im Sommertrimester | 2012 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30<br />
Hauptkurse Sommertrimester 2012 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31<br />
Rudolf Köhler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32<br />
Neugeweihte Priester . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35<br />
Der Beginn einer Reise mit Paulus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36<br />
Haikus über das erstorbene Wort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38<br />
Leben mit einem Weihekandidaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39<br />
Vom Werden ... und wie man Priester wird . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40<br />
Brauergärten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42<br />
„Ist das etwa die Hefepaste aus dem Seminar?" . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45<br />
Kairos – weltweite Jugendfesttage in Überlingen . . . . . . . . . . . . . . . . . 46<br />
Priesterweihe in Nordamerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48<br />
Grußwort der Seminarleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49<br />
Impressum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50
Studenten des 3. Trimesters | Sommer 2012<br />
Von oben nach unten<br />
Nikolaus Güttinger, 1986, Schweiz<br />
Viviane Malena Trunkle, 1964, Brasilien<br />
Helge Tietz, 1975, Deutschland<br />
Diana Hurst, 1977, Argentinien<br />
Astrid Bruhns, 1970, Deutschland<br />
Ben Horsington, 1978, Australien<br />
Rose Steinberg, 1985, Deutschland<br />
Julia Ballaty, 1991, Deutschland<br />
Andrea Kluge, 1964, Deutschland<br />
Cécile Lapointe, 1956, Frankreich<br />
Michael Rheinheimer, 1978, Deutschland<br />
Julian Rögge, 1984, Deutschland<br />
Anka Kruczek, 1977, Polen<br />
Wege zum Seminar<br />
5
Wege zum Seminar<br />
6<br />
Mein Weg zum Seminar<br />
| Geert Möbius, 6. Trimester<br />
Berlin, Alexanderplatz, 4. November 1989. Ich stehe<br />
am Rand des riesigen Platzes und staune über die<br />
Ruhe und gespannte Aufmerksamkeit der unübersehbaren<br />
Menschenmenge. Die DDR ist am Ende,<br />
doch es herrscht eine große Ratlosigkeit, wie es mit<br />
dem Staat nun weitergehen soll. Abends dann eine<br />
Versammlung von ca. 70 Jugendlichen. Eigentlich<br />
könnte nun frei gehandelt werden, aber ich bemerkte:<br />
Jetzt fehlten die Ideen, was kommen soll.<br />
Da stand ich nun, 22 Jahre alt, Funktionär einer winzigen<br />
trotzkistischen Kleinpartei mit umso größeren<br />
Idealen, wie das Zusammenleben in unserer Welt so<br />
verwandelt werden könnte, dass jeder Mensch seine<br />
individuellen Fähigkeiten frei entwickeln kann.<br />
Dadurch würde so viel Potenzial wirksam, dass alle<br />
auch ihre Bedürfnisse frei befriedigen könnten.<br />
Leistung und Konsum würden entkoppelt und statt<br />
Konkurrenz und Gier würde sich Brüderlichkeit ausbreiten.<br />
Kurz nach dem Abitur 1987 hatte ich mich<br />
in einem ernsten Gespräch mit der Parteileitung entschieden,<br />
diesen Idealen mein Leben zu widmen.<br />
Anlass für das Gespräch war meine Bewerbung, für<br />
ein Jahr in London im Exilbüro der südafrikanischen<br />
Gruppe unserer internationalen Vereinigung zu<br />
arbeiten. Anschließend kam ich wieder nach<br />
Deutschland und war dann als hauptamtlicher<br />
Betreuer unserer Gruppen in Norddeutschland tätig.<br />
In der Zeit nach dem Zusammenbruch der stalinistischen<br />
Staatsform begann ich zu zweifeln, dass der<br />
historische und dialektische Materialismus den Lauf<br />
der Weltgeschichte richtig erklärt. Hinzu kamen<br />
Zweifel an den Fähigkeiten der Menschen in der<br />
Partei, große Verantwortung tragen zu können. So<br />
zog ich mich schweren Herzens aus der politischen<br />
Arbeit zurück mit der Empfindung, einem tiefen<br />
inneren Impuls untreu werden zu müssen, um neu<br />
verstehen zu können, worin dieser Impuls eigentlich<br />
besteht.<br />
Jetzt stand meine Familie im Mittelpunkt, und ich<br />
absolvierte eine Ausbildung zum Schriftsetzer.<br />
Inzwischen waren meine beiden Kinder Paula (geb.<br />
1994) und Janusz (geb. 1996) in einem Waldorfkindergarten,<br />
und zwar trotz des marxistisch eingestellten<br />
Elternpaars! In der Verpackung des Baby-<br />
Tragetuchs hatte die Telefonnummer einer Frau<br />
gelegen, die den Käufern zeigen würde, wie man das<br />
Tuch umbindet. Und diese Frau ist Mitglied der<br />
Gemeinde Köln-Ost. Sie hatte statt viel zu erklären,<br />
mich einfach erleben lassen, wie gut sich ein solcher<br />
Kindergarten im Vergleich zu den üblichen anfühlt.<br />
Meine Frau ging schon vorher in die Spielgruppe der<br />
Gemeinde und nahm auch an den Kinderfesten teil.<br />
Ich selbst konnte die Stimmung des Kultus noch<br />
nicht ertragen und wollte beim Einsatz säuselnden<br />
Leierklangs am liebsten aus der Taufe eines befreundeten<br />
Kindergartenkindes hinauslaufen. Als meine<br />
Frau mich aufforderte, dies doch einfach mal mit<br />
dem Pfarrer (Christian Schädel) zu besprechen, verließ<br />
mich der Mut: Ich ahnte, dass ich meine Weltanschauung<br />
verlieren würde, und fühlte mich dem<br />
nicht gewachsen.<br />
Die innere und äußere Dramatik um meine Ideale<br />
sollte sich aber noch verstärken: Ich war inzwischen<br />
Anfang 30. Nach einer längeren Phase großer familiärer<br />
Spannungen trennte sich meine Frau von mir,<br />
wir suchten eigene Wohnungen, und sie war bald<br />
von ihrem neuen Freund schwanger. Meine Versuche,<br />
gemeinschaftsbildend zu handeln, waren<br />
gescheitert. Allein in einem leeren Zimmer unter<br />
einer nackten Glühbirne auf dem Boden sitzend<br />
fasste ich einen zweiteiligen Entschluss: Ich würde<br />
noch einmal ganz von vorne beginnen, und zwar bei<br />
mir selbst. Weltanschauung und Ideale erklärte ich<br />
für vorläufig aufgehoben mit dem Vorsatz, alles, was
nun an mich herankommen würde, ganz neu aufzufassen.<br />
Und als zweiten Teil: Ich würde in diesem<br />
Leben wieder froh werden.<br />
Auf der Suche nach neuen Begegnungen traf ich<br />
eine Internetprogrammierin - glaubte ich zumindest.<br />
Doch in Wahrheit wollte sie Heilerin nach der<br />
Barbara Brennan School of Healing werden. Da ich ja<br />
beschlossen hatte, alles unbefangen entgegenzunehmen,<br />
musste ich mich also inhaltlich damit auseinandersetzen:<br />
eine schwere Arbeit, marxistisch<br />
geschulte Denkgewohnheiten aufzulösen. Das führte<br />
mich zu Büchern des spirituellen Lehrers A. H.<br />
Almaas. In diesen fand ich meine seelische Lage so<br />
klar geschildert, dass ich mich entschloss, einen Kurs<br />
seiner Schule (Ridhwan School) zu besuchen.<br />
Während der einwöchigen Seminare lernte ich<br />
regelmäßiges Meditieren und hatte bald genügend<br />
Erlebnisse, die das alte materialistische Denken sehr<br />
effektiv widerlegten. Die innere Arbeit umfasste eine<br />
psychologische Selbstanalyse und griff neben eigenen<br />
geistigen Erlebnissen des Gründers auf traditionelle<br />
Lehren z.B. der Sufis oder auf das Enneagramm<br />
der neun heiligen Ideen zurück. Nach ca. einem Jahr<br />
wurde mir deutlich, dass dieser Weg mich in eine<br />
Selbstversenkung führen und von meinem Urimpuls<br />
weiter ablenken würde.<br />
In Gesprächen über Probleme um die Klassenlehrerin<br />
meines Sohnes lernte ich eine Mutter kennen, die<br />
mich zu einer Sonntagshandlung für die Kinder im<br />
Rohbau der neuen Kirche von Köln-Ost mitnahm und<br />
die mir erste Bücher von Rudolf Steiner auslieh. Die<br />
Raumweihe im Oktober 2005 war meine erste<br />
Menschenweihehandlung. Ich fühlte mich so stark<br />
berührt, dass ich von nun an sonntags in die Kirche<br />
ging und gleich schwungvoll den 14-tägigen Gemeindearbeitskreis<br />
mit meinen Fragen und Ausführungen<br />
aus dem gewohnten Trott brachte. Endlich<br />
war die Zeit reif für ein Gespräch mit Herrn Schädel,<br />
und kurz darauf lud er mich in das Proseminar Köln<br />
ein. Die methodischen und inhaltlichen Widersprüche<br />
der Schulungswege forderten bald eine<br />
Eindeutigkeit. Die Entscheidung ist mir sehr leicht<br />
gefallen: In unserem kultischen Leben habe ich eine<br />
Heimat gefunden, die eine Brücke von der Innenwelt<br />
zur Außenwelt, von der rein geistigen zur äußerlich<br />
wahrnehmbaren bildet. Eine Heimat, die eigenes<br />
inneres Wachstum so ermöglicht, dass es der<br />
Entwicklung der menschlichen Gemeinschaft dient.<br />
Tiefe Dankbarkeit breitet sich seitdem in mir aus. So<br />
konnte ich die innere Treue wiedergewinnen, die<br />
lange Jahre so schmerzlich gefährdet war. Nach<br />
einer Zeit von fast vier Jahren im Proseminar, in der<br />
auch meine beiden Kinder konfirmiert wurden, kam<br />
ich für ein gutes Jahr ins Praktikum in die Wuppertaler<br />
Gemeinde. Und seit Oktober 2011 arbeite ich<br />
nun im zweiten Studienjahr die gesammelten Erfahrungen<br />
ein weiteres Mal vollständig um.<br />
Wege zum Seminar<br />
7
Wege zum Seminar<br />
8<br />
Viele Fragen – wo sind die Antworten?<br />
| Ben Horsington, 3. Trimester<br />
Im Alter von 33 Jahren habe ich mich auf eine Reise<br />
begeben, eine Reise nach Hause. Die Saat für diese<br />
Reise wurde durch einen Impuls zur inneren Erneuerung<br />
vor sechs Jahren gesät. Ich habe festgestellt,<br />
dass Impulse aus der geistigen Welt einige Zeit brauchen,<br />
um sich in äußeren Ereignissen zu manifestieren,<br />
ihre irdische Form zu finden. Nach dem beruflichen<br />
Start als Chiropraktiker in Sydney, Australien,<br />
bemerkte ich, dass die meisten Menschen in meiner<br />
Praxis eine Art Heilmittel für die Seele suchten. Mich<br />
eingeschlossen. Das weckte die kritische Frage in mir,<br />
was zum Menschsein dazugehöre. Ich erkannte, dass<br />
wir ohne das richtige Verständnis unserer selbst oder<br />
ohne die Entwicklung unserer inneren Fähigkeiten<br />
sehr an unserem Getrenntsein von der Welt leiden<br />
können. Ich verließ den Arbeitsbereich der Chiropraktik<br />
und begab mich ins Unbekannte, um mich selbst<br />
zu verstehen und zu entwickeln.<br />
So studierte ich die Welt der Pflanzen, erlebte ihr<br />
Ein- und Ausatmen im Lauf der Jahreszeiten, pflanzte<br />
und jätete mit einem Team zur Aufforstung des<br />
australischen Buschs. Nach einiger Zeit des Jätens an<br />
mir selbst tauchten die Kunst-Formen der Eurythmie<br />
zufällig in einem Gespräch auf. Da war ich neugierig<br />
geworden. Ja, und wie! Ich arbeitete als Hilfskraft bei<br />
unserer örtlichen Waldorfschule und lernte die<br />
Christengemeinschaft kennen. Hier fand ich bald eine<br />
soziale Gemeinschaft, die aus dem Geist und dem<br />
Verständnis der Welt und unseres Platzes darin lebte.<br />
Für mich war es ein Akt des Erinnerns. Nun stellte<br />
sich die Frage, wie ich die Realität dieser Gemein-<br />
schaftsform für mich selbst bestätigen könnte.<br />
Würde sie gegenüber Fragen bestehen und neue<br />
Kraft hervorbringen können? Um diesem Problem<br />
nachzugehen, qualifizierte ich mich kurze Zeit später<br />
als Waldorflehrer (2008) und arbeitete von da an<br />
sowohl Vollzeit als auch aushilfsweise als Klassenlehrer,<br />
bis sich der Weg der Anthroposophie für mich<br />
persönlich und in meinem beruflichen Leben voll<br />
bestätigt hatte.<br />
Diese „Konfirmation“ kam für mich durch die<br />
Tatsache, dass die Anthroposophie Fragen in mir hervorbrachte<br />
und von mir eine aktive Rolle in der Suche<br />
nach den Antworten forderte.<br />
Als nächstes fragte ich mich, was die Religion für<br />
einen Platz in meinem Leben hat und welche Rolle sie<br />
für die Gemeinschaftsbildung spielt, ob sie gar ein<br />
Grundstein zum Bauen dieser erneuerten sozialen<br />
Formen ist. Nach einem Sommeraufenthalt in der<br />
mittelaustralischen Wüstenstadt Alice Springs und<br />
einer lehrreichen Begegnung mit der Kultur der<br />
Ureinwohner und dem Erleben der Kraft der Ewigkeit<br />
in Raum und Zeit entschied ich mich, an den erneuerten<br />
geistigen Impulsen der Christengemeinschaft<br />
mitzuwirken. Denn ich hörte eine “Gemeinschafts-<br />
Stimme“, die Fragen nach sich selbst stellte sowie<br />
nach der sozialen Form, in der sie in eine vielversprechende<br />
Zukunft treten könnte. Es waren Fragen, die<br />
teils einer Klärung galten, teils die Anpassungsfähigkeit<br />
der Form prüfen sollten, damit innere Wahrheiten<br />
in ihr in Erscheinung treten können. Dies alles<br />
fühle ich in der Christengemeinschaft, der Bewegung<br />
für religiöse Erneuerung. Sowohl das Individuum als<br />
auch die Gemeinschaft haben die Freiheit, diese<br />
Fragen zu stellen. Und in dieser Gemeinschaft sehe<br />
ich den Willen, in das Unbekannte einzutreten auf<br />
einem Weg mit offenem Ende, um Antworten zu finden.<br />
Was auch immer auf diesem Erkundungsweg am<br />
<strong>Priesterseminar</strong> in <strong>Stuttgart</strong> kommen mag, es wird<br />
mich mit großer Freude und Ehrfurcht erfüllen. Die<br />
Annäherung an das Unbekannte in Freiheit macht<br />
mein langsames Ankommen so bedeutsam für mich.
Studenten des 6. Trimesters | Sommer 2012<br />
Von links nach rechts<br />
Karin Eppelsheimer, 1961, Deutschland<br />
Geert Möbius, 1967, Deutschland<br />
Johanna Taraba, 1991, Deutschland<br />
Lander van den Bussche, 1974, Belgien<br />
Sebastian Schütze, 1966, Deutschland<br />
Rafal Nowak, 1976, Polen<br />
Soledad Davit, 1985, Italien<br />
Annette Semrau, 1967, Deutschland<br />
Wege zum Seminar<br />
9
Wege zum Seminar<br />
10<br />
Grenzgänger<br />
| Sebastian Schütze, 6. Trimester<br />
Es gibt viele Geheimnisse im Leben. Mein Geburtsort<br />
ist für mich ein solches Geheimnis. Warum bin ich in<br />
Detmold zur Welt gekommen? In der Nähe von<br />
Detmold stehen die Externsteine, die für die<br />
Germanen ein wichtiges Heiligtum waren. Sie waren<br />
so wichtig, dass die Germanen um die Zeitenwende<br />
alle verfügbaren Kräfte mobilisierten, um zu verhindern,<br />
dass die Römer dieses Heiligtum eroberten. Im<br />
Teutoburger Wald war die nördlichen Grenze des<br />
damaligen römischen Reiches.<br />
Mit zehn Jahren fand ich mich nicht an der Grenze<br />
des römischen Reiches, sondern an der innerdeutschen<br />
Zonengrenze wieder. Meine Eltern beschlossen,<br />
das Leben in der Stadt aufzugeben, und begannen<br />
eine biologisch-dynamische Landwirtschaft in<br />
Oberfranken. Unser Hof lag direkt an der grünen<br />
Grenze zwischen Bayern und Thüringen, nur wenige<br />
Meter vom doppelten Grenzzaun und vom Minenfeld<br />
entfernt. Unsere Kühe verliefen sich bisweilen ins<br />
Niemandsland, und unter den Augen russischer,<br />
amerikanischer und deutscher Soldaten holten wir<br />
sie von dort zurück.<br />
Mit siebzehn Jahren begann ich eine Tischlerlehre:<br />
Ich lernte, wie man Türen herstellt und einbaut.<br />
Meinen Zivildienst leistete ich in Frankreich bei dem<br />
französischen Zweig des internationalen Bauordens,<br />
den „Compagnons Bâtisseurs“, ab. Zu Beginn dieses<br />
Dienstes machte ich eine wichtige Erfahrung. Ich<br />
erlebte Einsamkeit, wie ich sie zuvor nicht gekannt<br />
hatte. In ganz Frankreich arbeiteten Regionalgruppen<br />
der „Compagnons Bâtisseurs“. Meine Gruppe<br />
bestand aus mir und Michel. Michel liebte das Leben<br />
auf dem Bau, und am Wochenende spielte er<br />
Fußball. Ich selbst sprach nur spärlich Französisch,<br />
ich kannte niemanden, und für Fußball interessierte<br />
ich mich gar nicht. Aus dieser Situation heraus lernte<br />
ich, dass es möglich ist, eine äußerlich schwierige<br />
Situation durch ein inneres spirituelles Leben zu stabilisieren.<br />
Ich wohnte inmitten der „Sidobre“, einem eher unbekannten<br />
Gebiet im Südwesten Frankreichs. In der<br />
Sidobre wird Granit abgebaut, und sie ist bekannt<br />
für ihre „Pierres Tremblants“, zu deutsch „Wackelsteine“.<br />
Das sind riesengroße vereinzelte Felsbrocken,<br />
die auf einer so kleinen Standfläche ruhen, dass man<br />
glaubt, sie mit dem kleinen Finger umstoßen zu können.<br />
Nach dem Zivildienst begann eine mühsame Phase<br />
der Orientierung, die mich schließlich veranlasste,<br />
Architektur zu studieren. Mein Studienplatz wurde<br />
mir in Berlin zugewiesen. Ich lebte wieder in einer<br />
Grenzsituation, die es zwar offiziell nicht mehr gab,<br />
denn die Mauer war während meines Aufenthalts in<br />
Frankreich gefallen, aber sie prägte noch Jahre das<br />
Stadtbild und lebte weiter in den Menschen. Im ehemaligen<br />
Osten der Stadt schloss ich mich einer<br />
Gruppe von Menschen an, die unter Zuhilfenahme<br />
öffentlicher Fördermittel beschloss, zwei Altbauten<br />
im Stadtteil Weißensee umzubauen und zu sanieren.<br />
Während ich studierte, baute ich mit an unserem
Haus und war verantwortlich für alle Türen. Wir<br />
arbeiteten und diskutierten viel, und nach fünf<br />
Jahren waren wir fertig. In dieser Hausgemeinschaft<br />
erlebten meine Frau und ich unsere ersten Ehejahre<br />
und meine beiden Töchter ihre frühe Kindheit.<br />
Im Winter 2001 war ich mit der Berliner Domkantorei<br />
auf einer Chorreise in Israel. Wir sangen in<br />
Haifa und besuchten das tote Meer, Galiläa, die<br />
Golanhöhen und Jerusalem. In Jerusalem waren wir<br />
mehr oder weniger die einzigen Touristen, weil kurz<br />
nach dem elften September kaum noch jemand fliegen<br />
wollte. Den tiefsten Eindruck machte auf mich<br />
die Golgathakapelle über der Schädelstätte in der<br />
Grabeskirche. Durch eine Öffnung unter dem Altar<br />
können die Besucher den Golgathafelsen berühren.<br />
Ich saß stundenlang dort und erlebte Andacht in<br />
einer mir bis dahin unbekannten Dichte. Ich selbst<br />
habe den Felsen nicht berührt.<br />
Mit 38 Jahren wurde ich arbeitslos, und das einzige<br />
ernstzunehmende Stellenangebot kam aus Genf in<br />
der französischen Schweiz. Die Hälfte meiner Kollegen<br />
dort waren „Frontaliers“, das heißt Grenzgänger.<br />
Sie lebten in Frankreich und fuhren jeden Morgen<br />
über die nahe Grenze in die Schweiz zur Arbeit. Ich<br />
war wieder an der Grenze. Jeden Morgen fuhr ich in<br />
einem kleinen Boot über den Genfer See, denn unsere<br />
Wohnung liegt am linken und das Büro am rechten<br />
Ufer. Am Anleger, wo alle zehn Minuten das<br />
Schiff anlegt, liegen seit Urzeiten zwei gewaltige<br />
Granitbrocken im Wasser. Sie heißen „Pierres de<br />
Niton“ und jeder Schweizer kennt sie, weil sie die<br />
offizielle Höhenreferenz für das ganze Land sind.<br />
In der Gemäldegalerie der Stadt Genf hängt ein Bild<br />
von Konrad Witz. Er hat den wunderbaren Fischzug<br />
an den Genfer See verlegt. Wer genau hinschaut,<br />
kann die beiden Felsen vor der Hand des rechten<br />
Ruderers erkennen. Das linke Ufer, an dem wir leben,<br />
ist auf dem Bild deutlich zu sehen. Inzwischen ist es<br />
dicht bebaut; das Stadtviertel heißt „Eaux-Vives“<br />
(lebendige Wasser). Wir wohnen in der „Rue des<br />
Eaux-Vives“ (Strasse der lebendigen Wasser).<br />
© siehe Impressum<br />
In Genf habe ich mich daran erinnert, dass ich vor<br />
über zwanzig Jahren bei der Konfirmation meiner<br />
Cousine die Menschenweihehandlung erlebt hatte.<br />
Ich suchte auch in Genf nach der Christengemeinschaft<br />
und bin so auf die Genfer Gemeinde gestoßen.<br />
Von hier habe ich den Weg ans <strong>Priesterseminar</strong><br />
begonnen oder vielleicht auch nur fortgesetzt. Auf<br />
diesem Weg bin ich noch immer. Welche Grenzen<br />
dabei noch zu überwinden sind und welche Türen<br />
sich mir noch öffnen werden, wird die Zukunft mir<br />
zeigen.<br />
Wege zum Seminar<br />
11
Wege zum Seminar<br />
12<br />
Ungeahnte Schicksalsführung<br />
| Soledad Davit, 6.Trimester<br />
Johanna Taraba:<br />
Buon giorno! Non ci conosciamo già di vista?<br />
Soledad Davit:<br />
Na Mensch, natürlich kennen wir uns vom Sehen!<br />
Nach eineinhalb Jahren Studium hier…<br />
JT: Mehr Italienisch kann ich leider im Moment<br />
nicht. Also Signora, dann mal los. Du bist 26<br />
Jahre jung und doch schon am <strong>Priesterseminar</strong>.<br />
Wenn ich an Italien denke, dann schnell auch an<br />
die Katholische Kirche und den Papst. Wie bist du<br />
aufgewachsen?<br />
SD: Ich bin in Villar Pellice in der Provinz von Turin<br />
in den Alpen geboren. Diese Gegend ist sehr protestantisch<br />
geprägt. In meinem Dorf war jedes Jahr die<br />
große Synode der Waldenser, da ist immer viel los.<br />
Ich war als Kind immer beim Sonntagsunterricht<br />
gewesen. Da haben wir viel gemalt und Geschichten<br />
gehört, und ich habe viele andere Kinder getroffen.<br />
JT: Du bist also sehr idyllisch aufgewachsen?<br />
SD: Ja, mitten in der Natur, auf einem Bauernhof mit<br />
vielen Tieren. Da brauchte mir keiner zu erzählen,<br />
wie ein Tier auf die Welt kommt und was eine<br />
Kartoffel ist … Nichts war abstrakt, sondern immer<br />
zum Anfassen und Anschauen - jeden Tag! Aber es<br />
war auch abseits der normalen Welt. Ich habe mich<br />
auch manchmal abgetrennt gefühlt. Aber ich hatte<br />
schon auch eine gute Freundin – wir waren immerhin<br />
die einzigen zwei Mädels in der Klasse.<br />
JT: Huch?<br />
SD: Ja, es gab nur sechs Kinder- vier Jungs und zwei<br />
Mädchen. Jaja, darum kamen immer mal Besucher<br />
zu uns auf den Bauernhof. Also nicht wegen uns<br />
Kindern, sondern weil es so schön ist in dem Ort.<br />
JT … in Italien …<br />
SD: Ja, alle Besucher sind ganz idealistisch, hach,<br />
was könnte man alles Tolles machen … und dann<br />
sind sie überrascht, dass man auch praktisch arbeiten<br />
muss. Oft kamen auch Deutsche zu den Synoden<br />
und haben dann Wanderungen zu unserem Hof hoch<br />
gemacht und Pizza gegessen und frischen Käse und<br />
leckeren Honig bei uns gekauft. Menschen brachten<br />
immer ihre Spezialitäten auch mit, die dann ein<br />
wenig geblieben sind in unserem normalen Leben.<br />
JT: Irgendwann bist du aber auch mal herausgekommen<br />
aus dem Tal.<br />
SD: Genau. Ich ging später in ein so genanntes<br />
Europäisches Gymnasium – ich hatte zwei Sprachen<br />
gewählt: Französisch und Englisch. Im Stundenplan<br />
war vorgesehen, dass man Reisen machte mit Briefwechsel<br />
und Klassenaustausch, wo man das Land<br />
und die Menschen kennen lernt.<br />
JT: Und die Liebe zu Fremdsprachen ist dir bis<br />
heute geblieben?<br />
SD: Ja, als Kind war mein Traum, einmal alle Sprachen<br />
der Welt zu können.
JT: Und du bist auf das Gymnasium gegangen,<br />
um dir deinen Kindertraum mit den Sprachen zu<br />
erfüllen?<br />
SD: Als ich noch ganz klein war, träumte meine<br />
Mutter, dass ich die Verbindung zur Welt bin für die<br />
Familie. Auf diese Weise könnte dann durch mich die<br />
Welt in unser kleines Dorf kommen. Deswegen bin<br />
ich dann dahin. Ich wollte mich auch immer überall<br />
selbst verständigen können und die Menschen verstehen.<br />
Später habe ich auch noch Spanisch gelernt,<br />
als ich ein bisschen Management studierte. Die<br />
Sprachen kamen einfach immer zu mir. Im Gymnasium<br />
hatten wir auch Latein gelernt. Da habe ich<br />
besonders das Übersetzen geliebt.<br />
JT: Über - setzen ist ja auch das Thema dieses Seminarbriefs.<br />
Da passt du ja gut rein. Aber wie hast<br />
du eigentlich zur Anthroposophie gefunden?<br />
SD: Ich hatte schon immer viel mit Kindern zu tun<br />
gehabt: so Kinderhüten, Ferienlager. Und immer<br />
fragte ich mich, was denn da nicht stimmt! Was mit<br />
den Kindern in den Ferienlagern gemacht wurde, war<br />
so abstrakt in meinen Augen und so fern von dem<br />
Eigentlichen. Das war nur ein Gefühl, aber ich habe<br />
gemerkt, dass es so erwachsen ist, was wir da mit<br />
den Kindern machen, aber die brauchen etwas ganz<br />
anderes. Und das wollte ich endlich kennen lernen.<br />
Das hat mich auch wirklich dann zu Fragen<br />
gebracht, und ich habe eine innere Sicherheit entwickelt,<br />
dass ich es entdecken kann, was ein Kind<br />
braucht, und da können die anderen sagen, was sie<br />
wollen - ich finde es doch. Und zwar in mir…wenn<br />
ich dem Kind wirklich begegne! Und auf einmal kam<br />
eine Freundin der Familie, die eine Frau kennen<br />
gelernt hatte, die Waldorflehrerein war.<br />
JT: Und da war sofort alles klar für dich?<br />
SD: Sie hat uns nur davon erzählt. Aber ich habe das<br />
sofort gegoogelt und gleich die ersten Vorträge von<br />
Rudolf Steiner gelesen über die zwölf Sinne. Und ich<br />
habe nichts verstanden. Trotzdem bin ich kurz darauf<br />
einfach nach Venedig gefahren und habe das<br />
Waldorflehrerseminar besucht.<br />
JT: Und dich noch am gleichen Tag entschieden,<br />
was?<br />
SD: Ja, du lachst. Es war ganz einfach das, was ich<br />
immer gesucht hatte.<br />
JT: Wenn du aber schon alles mit den Kindern<br />
konntest – was wolltest du noch lernen?<br />
SD: Eigentlich bin ich zum Lehrerseminar gegangen<br />
mit einer Frage: Wie kann ich entdecken, was das<br />
Kind wirklich braucht? Bis dahin hatte ich einfach<br />
meine Wahrnehmungen und habe dann nach ihnen<br />
gehandelt. Aber ich wollte wissen, WIE ich das<br />
mache. Ich wollte eigentlich mich selbst erkennen,<br />
also: Wie komme ich ganz bewusst zu diesem<br />
Unsichtbaren des Menschen, das mich dies wahrnehmen<br />
lässt, was sich im Körper ausdrückt…<br />
JT: Spannende Fragen. Hast du sie in der Ausbildung<br />
beantworten können?<br />
SD: Na, dann wäre ich heute nicht hier. Ich habe die<br />
Ausbildung fertig gemacht. Das war eine gute<br />
anthroposophische Grundlage. Aber meiner<br />
Grundfrage nach dem Unsichtbaren, Unantastbaren<br />
kam ich nicht näher. In einer Eurythmiestunde kam<br />
mir dann eine Eingebung. Da erlebte ich, dass da rein<br />
in der Qualität der Bewegung alles Wesentliche<br />
sichtbar werden kann, ganz bewusst. Und da merkte<br />
ich, wenn ich vielleicht nun noch Eurythmie studiere,<br />
kann ich meine Wahrnehmung so weit üben und<br />
verfeinern, dass ich zwar in der Pädagogik arbeite,<br />
aber noch ein weiteres Instrument habe und somit<br />
bewusster handeln kann.<br />
Wege zum Seminar<br />
13
Wege zum Seminar<br />
14<br />
… Ungeahnte Schicksalsführung<br />
JT: Und du wolltest mal wieder eine neue<br />
Sprache lernen und bist nach <strong>Stuttgart</strong> für dein<br />
Eurythmie-Studium gekommen.<br />
SD: Na, in Italien gibt es gar keine richtige Ausbildung.<br />
Ich bin nach ein paar Gesprächen einfach hier<br />
nach <strong>Stuttgart</strong> gefahren, und es hat mir im Eurythmeum<br />
gleich sehr gut gefallen, und da hab ich mit<br />
dem Studium dort begonnen.<br />
JT: Aber – nun sitzen wir ja zusammen im <strong>Priesterseminar</strong><br />
…<br />
SD: Ja, das Schicksal hat manchmal ungeahnte<br />
Pläne. Die Kinder haben mich zur Anthroposophie<br />
gebracht. Und das war wichtig für mich, da ich so<br />
den frühen Tod meines Vaters besser verarbeiten<br />
konnte. In der Eurythmie war es dann irgendwann<br />
Aller guten Dinge sind drei …<br />
| Ellen Buhles, ehemalige Seminaristin<br />
Ich bin von Beruf Sozialarbeiterin und war alleinerziehende,<br />
berufstätige Mutter (jetzt bereits dreifache<br />
Großmutter und zweifache Pflege-Großmutter).<br />
Ich lebe in Hildesheim.<br />
Mein erster Weg ans Seminar begann mit dem<br />
Besuch eines Orientierungskurses 2001, ich war 48<br />
Jahre alt, in fester Anstellung bei der Stadtverwaltung<br />
als Sozialarbeiterin und hatte über zehn Jahre<br />
einen sozialen Brennpunkt betreut und meine beiden<br />
Töchter in ihr eigenständiges Leben begleitet. Ich<br />
war ausgelaugt. Es musste sich etwas ändern. Die<br />
Idee, Priesterin zu werden, kam irgendwann in dieser<br />
Zeit „angeflogen“, hat mich berührt, ich war völlig<br />
ablehnend – unvorstellbar!!!<br />
Aber sie blieb als Frage, wurde bewegt, ich näherte<br />
rein physisch für mich nicht mehr möglich, weiter zu<br />
machen – aber ich war total dankbar, hier in<br />
Deutschland gelandet zu sein. Und dann kam die<br />
Frage, was ich hier in diesem fremden Land denn<br />
machen sollte. Was war denn meine Aufgabe? Mein<br />
Freund hat mir dann sehr geholfen – er hat gesagt:<br />
„Ja, mach doch mal eine Pause, lass die Sachen ein<br />
wenig ruhen und schau, was kommt.“<br />
Und dann habe ich ein Trimester ausgesetzt und<br />
selbst noch mehr Anthroposophie studiert, und dann<br />
war ich am <strong>Priesterseminar</strong> zur Orientierungswoche.<br />
Und erstaunlicherweise kam es sehr schnell so, dass<br />
auch dies nun mein Weg sein kann.<br />
JT: Na dann alles Gute dir! Und: mille grazie!<br />
SD: S’immàgini! Gern geschehen!<br />
mich an – und wollte es überprüfen. Also habe ich<br />
mich zum Orientierungskurs angemeldet. Dort<br />
wurde mir nach den Gesprächen mit der<br />
Seminarleitung angeboten, für ein Jahr das Studium<br />
aufzunehmen und zum Wintersemester 2002 ans<br />
Seminar zu kommen.<br />
Ich habe den Arbeitsplatz gekündigt, meine Wohnung<br />
untervermietet und die Erfahrung gemacht,<br />
dass viele Menschen mich in dem Vorhaben ideell<br />
und finanziell unterstützen. Es hieß also, alles Bisherige<br />
loszulassen und mit voller Fahrt nach <strong>Stuttgart</strong><br />
in ein anderes Leben zu segeln.<br />
Was für eine Umstellung! Zusammenleben mit vielen<br />
Menschen aus aller Welt, völlig andere Themen, mit<br />
denen ich mich auseinandersetzen durfte, viele
künstlerische Angebote – Musik, Eurythmie, Plastizieren<br />
– Griechisch (mein Lieblingsfach!) und interessante<br />
Hauptkurse. Eine für mich nicht zu bewältigende<br />
Fülle! Das Zusammenleben war überwiegend<br />
harmonisch, wir hatten viele humorvolle Beiträge<br />
und vor allem gute Musik! In dieser Zeit wurde mir<br />
immer klarer, dass ich gern geweiht werden und als<br />
Pfarrerin arbeiten möchte, möglichst in einem sozialen<br />
Brennpunkt. Die Menschen, mit denen ich bisher<br />
gearbeitet hatte, empfand ich als bedürftig und<br />
suchend – alles, was eine Gemeinde der Christengemeinschaft<br />
zu bieten hat, wäre dort sinnvoll und<br />
lebenswichtig. Leider war das nicht möglich.<br />
Ich bin noch ein drittes Semester geblieben, um<br />
mein Leben ohne Seminar vorzubereiten. Es war<br />
außerordentlich schwierig. Mit über 50 Jahren ist<br />
der Arbeitsmarkt ziemlich zu und als Sozialarbeiterin<br />
ist es erst recht schwierig, einen Arbeitsplatz zu finden.<br />
Die Wohnung war aufgelöst…<br />
Und wieder habe ich unglaublich viel Unterstützung<br />
bekommen. Ich durfte bei Freunden wohnen, ich<br />
habe am Kindergartenseminar den berufsbegleitenden<br />
Kurs besuchen können, in einem Waldorf-<br />
Kindergarten für die Kinder und Erzieherinnen<br />
gekocht und eine kleine Hortgruppe betreut. So<br />
konnte ich meinen Lebensunterhalt sichern und<br />
langsam ging’s aufwärts. Jetzt arbeite ich wieder als<br />
Sozialarbeiterin mit Eltern, Pflegeeltern und Kindern.<br />
Diese Aufgabe macht mir Freude.<br />
Der zweite Weg ans Seminar waren die „Ehemaligen-Tagungen“<br />
die seit 2002 immer Anfang Januar<br />
in <strong>Stuttgart</strong> sind. Ich war unmittelbar nach dem<br />
Weggang 2004 gleich das erste Mal dabei und habe<br />
bis 2010 mitgearbeitet. Das war eine wunderbare,<br />
gute Zeit mit interessanten Begegnungen und einer<br />
intensiven Arbeit an den gesetzten Themen, die die<br />
Vorbereiter mit der Seminarleitung vereinbarten,<br />
ergänzt durch die künstlerischen Angebote und den<br />
Austausch über die neuen Lebensschritte nach der<br />
Seminarzeit.<br />
Der dritte Weg ans Seminar war das Aufgreifen des<br />
Angebotes, eine „Gastwoche“ mitzumachen, den<br />
Hauptkurs zu besuchen und am Seminar zu wohnen.<br />
Das habe ich nun dieses Jahr ausprobiert. Ich habe<br />
am Hauptkurs „Embryologie“ bei Frau Goodwin teilgenommen.<br />
Diese Möglichkeit zu nutzen, habe ich<br />
sehr genossen. Ich wurde herzlich aufgenommen,<br />
fühlte mich von Anfang an wohl, hatte interessante<br />
Gespräche und war beeindruckt von der heiteren<br />
Stimmung – obwohl ein Weihesemester dort ist.<br />
Es ist alles wie gewohnt – aber leichter und heiterer.<br />
Ich kann nur empfehlen, es auszuprobieren – eine<br />
Woche Seminar, nur Hauptkurs und den Schlüssel<br />
für die Bibliothek, gute Verköstigung, Freiraum und<br />
viele nette Menschen... Das ist einfach optimal!<br />
Zum Schluss noch etwas aus der Studienzeit: Im<br />
Credo-Kurs bei Herrn Schroeder (Dezember 2002)<br />
lautete eine Aufgabe, einen Dreiminuten-Vortrag zu<br />
einem Satz des Credos zu halten. Mein Satz war:<br />
„Durch Ihn kann der heilende Geist wirken“<br />
Wenn wir in Weihe-Nächten<br />
Den Christus in uns finden<br />
Und mit ihm unser höheres Selbst,<br />
dann kann uns das Feuer der<br />
wesenschaffenden Liebe entzünden,<br />
und wir können schöpferisch-schaffende,<br />
wahrhafte Menschen werden<br />
und die Erde heilen.<br />
In diesem Sinne sind wir<br />
alle aufgerufen mitzuwirken!<br />
Wege vom Seminar<br />
15
16<br />
Über-setzen<br />
Moral und Naturgesetz<br />
| Adam Ricketts, derzeit im Praktikum in Basel<br />
Wer wird uns bringen ans andere Ufer?<br />
Fährmann, Fährmann, komm und hol über!<br />
Eine der grundlegendsten Fragen, die sich ein<br />
Mensch stellen kann, ist die, ob die eigenen moralischen<br />
und religiösen Ideale irgendeinen Einfluss auf<br />
die Welt um ihn haben. Wenn die Welt von<br />
Naturgesetzen bestimmt wird, wie kann dann das,<br />
was in meiner Seele als die Grundlage meines Handelns<br />
lebt, irgendeine Auswirkung auf die Welt haben?<br />
Wenn die moderne Naturwissenschaft recht<br />
hat, dann werden die Sonne, die Erde und der<br />
Kosmos langsam ausbrennen und alles wird zerstört<br />
werden, und ob nun Menschen in der einen oder<br />
anderen Weise gehandelt haben, wird nicht den<br />
geringsten Unterschied machen.<br />
Die Seele des modernen Menschen wird entzwei<br />
gerissen, wenn er die Konsequenzen der Naturgesetze<br />
in seinem Intellekt bewusst akzeptiert und<br />
zugleich versucht, seinen religiösen und spirituellen<br />
Gefühlen Raum zu geben. Wir sind schon so weit,<br />
dass das gesamte moderne Leben langsam auseinandergerissen<br />
wird, und wir finden keinen Weg, diese<br />
beiden Teile des inneren Lebens in eine glückliche<br />
Verbindung zu bringen.<br />
Zwei Welten scheinen nebeneinander zu existieren,<br />
einander widersprechend, Zweifel und Missverständnisse<br />
auslösend und in vielen Seelen auch große<br />
Not. Einerseits wird in der modernen Physiologie und<br />
Psychologie immer wieder betont, dass alles, was wir<br />
tun, wünschen oder hoffen konditioniert sei durch<br />
unsere Körpernatur, durch Vererbung, durch<br />
Faktoren, auf die wir keinerlei Einfluss haben, und<br />
dass wir in einer Illusion leben, wenn wir glauben,<br />
diese Faktoren formen und unseren Bedürfnissen<br />
anpassen zu können. Zur gleichen Zeit ist es für uns<br />
völlig normal und richtig, dass Menschen für<br />
Verbrechen bestraft werden, weil von ihnen erwartet<br />
wird, dass sie aus ihrem moralischen Kern, ihrem Ich<br />
heraus, ganz eigenverantwortlich handeln können.<br />
Wir haben also die Freiheit und Fähigkeit, unsere<br />
Handlungen selbst zu bestimmen. Was für den einen<br />
Bereich unseres Lebens gilt, tut es offenbar nicht für<br />
den anderen. Es scheint keinen größeren Widerspruch<br />
im modernen Leben zu geben, wenn man so<br />
auf den Menschen schaut. Eine Lösung dieses<br />
Widerspruchs zu finden, ist ein drängendes Problem<br />
und wird der entscheidende Faktor für die weitere<br />
menschliche Entwicklung sein.<br />
Diese Kernfrage nach dem Ineinandergreifen von<br />
moralischem und natürlichem Gesetz wird von<br />
Rudolf Steiner die „Kardinalfrage“ genannt. Die<br />
Antwort, die jeder Mensch für sich darauf findet und<br />
finden muss, entscheidet darüber, wie er sein Leben<br />
gestaltet. Erst dann kann er das Vertrauen haben,<br />
dass es von Bedeutung für die naturgesetzliche Welt<br />
ist, wie er seine Seele formt.<br />
Wenn der Mensch keine Brücke findet zwischen dem<br />
Bereich der Moralität und jenem der Naturgesetze,<br />
dann ist sein idealistisches Streben von geringem<br />
Wert für die Welt, und er könnte auch einfach aufgeben<br />
und die kurze Lebensfrist, die ihm gegeben ist,<br />
so gut wie möglich genießen. Oder er könnte es sich<br />
gemütlich machen in einer illusionären Welt des<br />
Glaubens, die es ihm erlauben würde, jene nagenden<br />
Ängste und Zweifel zu verscheuchen. Doch es wäre<br />
vermutlich eine Welt ohne jeglichen Bezug zur<br />
Realität.<br />
Können wir also jene Brücke finden, die uns erlaubt,<br />
eindeutig und dauerhaft zwischen der Welt der<br />
Naturgesetzlichkeit und jener der Moralität hin und<br />
her zu reisen? Gibt es einen Pfad, der beide Gebiete<br />
auf eine Weise verbindet, die sowohl den Naturgesetzlichkeiten<br />
als auch den Geistesgesetzlichkeiten<br />
entspricht, die das eigentliche Wesen der
Moralität bilden? Rudolf Steiner zeigt diese Brücke<br />
auf in dem „Wärmeelement“. Wärme können wir in<br />
vielen Facetten des Lebens antreffen. Die entscheidende<br />
Qualität der Wärme ist, dass sie sowohl als<br />
äußere wie als innere Qualität erlebt werden kann.<br />
Sie ist dasjenige Element, das dem Geistigen am<br />
nächsten liegt. Wenn wir Wärme empfinden, ist nur<br />
ein kleiner Schritt notwendig, um sie auch in ihrer<br />
geistigen Manifestation zu spüren. Wenn wir einer<br />
Kerzenflamme nahekommen, spüren wir Wärme.<br />
Aber auch wenn wir uns für eine Idee begeistern,<br />
haben wir eine bestimmte und deutliche Wärmeempfindung<br />
in unserer Seele. Wo immer Liebe in<br />
egal welcher Erscheinungsform anwesend ist, erfahren<br />
wir die reale, greifbare Präsenz von Wärme, die<br />
Gedanken, Gefühle und sogar unsere Taten formt.<br />
Durch die Wärmeprozesse im Menschen gelangen<br />
die Impulse aus dem geistigen Wesen des Menschen<br />
heraus und durchdringen seine Seele und seinen<br />
Körper. Das Wärmeelement pflanzt Samen in die luftigen,<br />
wässrigen und festen Aspekte unserer<br />
Organisation und verbindet damit nicht nur das<br />
Elementarische innerhalb des Menschen mit den<br />
Elementen in der Welt um ihn herum. Die Wärme,<br />
die in der Ich-Organisation lebt, verkoppelt auch<br />
seine höheren Wesensglieder mit den Elementen,<br />
denn der Astralleib lebt in der luftigen, der Ätherleib<br />
in der wässrigen und der physische Leib in der<br />
festen, erdigen Organisation des Menschen.<br />
Diese Samen werden jedoch nicht notwendigerweise<br />
zur Frucht im äußeren Leben werden. Aber sie haben<br />
kreatives Potential, wie die schlafende Natur des<br />
Saatmaterials, das darauf wartet, in eine geeignete<br />
Umgebung zu kommen, um blühen zu können.<br />
Wenn wir uns mit moralischen und religiösen Idealen<br />
verbinden und dies nicht auf intellektuelle,<br />
kalte und abstrakte Art tun, sondern ihnen erlauben,<br />
unseren Enthusiasmus und unsere Gefühle zu befeuern,<br />
dann bereiten wir damit die Schaffung einer<br />
neuen Natur vor, durchtränkt mit moralischem<br />
Inhalt. Ein geistiges Gesetz bestimmt, dass jede Idee,<br />
die uns nicht zum Ideal wird, Leben von uns nimmt.<br />
Jede Idee hingegen, die mit unseren Idealen zusammengebracht<br />
wird, wärmt uns, füllt uns mit Leben.<br />
Dieses Leben strahlt von uns aus wie die leuchtende<br />
Sonne und gibt der Welt um uns kraftspendendes<br />
Leben.<br />
Nur der Mensch ist in der Lage, sich dem Leben entweder<br />
abstrakt und kalt zu nähern oder warm und<br />
enthusiastisch, mit wahrem Interesse, Staunen und<br />
dem Wunsch teilzunehmen, auf größtmögliche<br />
Weise mit der Welt und ihren Wesenheiten mitzufühlen.<br />
Aus unserer inneren Sonne heraus säen wir ständig<br />
Samen in unser Wesen. Ob sie dort gute Erde finden<br />
oder nicht, hängt von unserer Bereitschaft ab, für sie<br />
in einer Weise zu sorgen, die es ihnen erlaubt, den<br />
© siehe Impressum<br />
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18<br />
Über-setzen<br />
… Moral und Naturgesetz<br />
richtigen Moment für ihr Aufsprießen abzuwarten.<br />
Rudolf Steiner zeichnet ein außergewöhnliches Bild<br />
von der Kraft dieses Samenpotentials: Selbst wenn<br />
nur ein Dutzend Menschen in der Lage sind, ihren<br />
Enthusiasmus zu bewahren und ihre moralischen<br />
Ideale zu verwirklichen, wird die Erde immer noch in<br />
der Lage sein, wie die Sonne zu leuchten.<br />
Das Bild der Aussaat dieser Samen wurde wunderbar<br />
von Vincent van Gogh eingefangen, der in seinen<br />
letzten Jahren viele französische und belgische<br />
Landschaften malte. Eines seiner treffendsten Bilder<br />
ist das des „Sämanns“ vom Juni 1888, kurz vor seinem<br />
tragischen Tod. Wir sehen, wie der Sämann mit<br />
großem Schwung die Landschaft durchschreitet, die<br />
in das Licht der aufgehenden Sonne getaucht ist.<br />
Sein diagonaler Weg durch das Bild erinnert mich an<br />
die Stellung des Priesters, wenn er in der Menschenweihehandlung<br />
das Evangelium verkündet. Fröhlich<br />
verstreut der Sämann den Samen, wohin er auch fallen<br />
mag. Die innere Wärme des Sämanns und die<br />
äußere Wärme der aufgehenden Sonne treffen sich<br />
in den ausgestreuten Samen, die bereit sind, dort zu<br />
sprossen, wo die Menschen sie aufnehmen und pflegen<br />
können, so dass sie sowohl den Menschen als<br />
auch der Erde reichlich Frucht bringen können.<br />
Die Art der Darstellung und die Wahl der Farben<br />
wurden durch das Sämannsgleichnis im Evangelium<br />
(Lk 8,4) inspiriert. Da, wo Samen aus unseren moralischen<br />
Impulsen gepflanzt werden, bringen sie ein<br />
Element in die Welt, das zwar in der Welt wirkt, aber<br />
nicht von ihr stammt. Es ist ein Same, der erst dann<br />
wahrhaft zur Frucht reift, wenn er sich wieder im<br />
Leben zwischen Tod und neuer Geburt befindet und<br />
neue Quellen kreativer Energie in den Kosmos bringt.<br />
Diese Energie kann dann für die Schöpfung zukünftiger<br />
Welten verwandt werden.<br />
Aufgrund ihrer ureigenen Natur gehören uns unsere<br />
moralischen Ideale insofern nicht, als sie uns nicht<br />
erlauben, unser eigenes Wesen um unserer selbst<br />
willen zu manifestieren, sondern sie strahlen aus in<br />
die Welt und füllen sie mit Wärme. Sie durchdringen<br />
die Elemente der Natur selbst und geben ihnen<br />
Leben, auch wenn das Äußere aufgelöst ist.<br />
In der Menschenweihehandlung hören wir das in<br />
dem abschließenden Satz der Opferung, in dem es<br />
um die wesenschaffende Liebe geht. Es ist eine<br />
Ehrfurcht gebietende und sogar etwas erschreckende<br />
Aussicht, sich der Verantwortung bewusst zu<br />
werden, die uns übertragen wurde. Und trotzdem ist<br />
es erfreulich, befreiend und inspirierend zu wissen,<br />
dass unsere Entschlüsse, Ideale und Bemühungen,<br />
das Gute zu tun, einen lebenspendenden, dauerhaften<br />
Beitrag für die künftige Entwicklung von Mensch<br />
und Kosmos bilden.
Novalis – Übersetzer zwischen den Welten<br />
| Julian Rögge, 3. Trimester<br />
Friedrich von Hardenberg<br />
Fährmann zur geistigen Welt<br />
„Unverbrennlich steht das Kreuz – eine Siegesfahne<br />
unseres Geschlechts.“<br />
Am 2. Mai 1772 wurde Georg Friedrich Philipp von<br />
Hardenberg in Oberwiederstadt geboren. Das Geschlecht<br />
der von Hardenberg hatte sich einige Generationen<br />
vor seiner Geburt in zwei Linien aufgespalten.<br />
Die eine diente als Diplomaten und Minister in<br />
preußischen Diensten. Die zweite Linie, welcher sein<br />
Vater angehörte, kann dem Land- und Beamtenadel<br />
Sachsen zugerechnet werden. Durch seine adelige<br />
Geburt genoss Friedrich von Hardenberg vom Beginn<br />
seines Lebens an eine gute Ausbildung. In seiner frühen<br />
Kindheit wird er als ein ruhiges, verträumtes Kind<br />
beschrieben, und so blieb er im Unterricht schnell<br />
hinter seinen jüngeren Geschwistern zurück.<br />
Mit neun Jahren erkrankte er schwer an der Ruhr und<br />
musste einige Tage mit dem Tod kämpfen. Als die<br />
Ärzte ihn schon aufgegeben hatten, gelang es ihm<br />
die Krankheit zu überwinden. Das Kind war danach<br />
wie verwandelt. Es wurde fröhlicher, neugieriger und<br />
aufgeweckter. Seine jüngeren und älteren Geschwister<br />
hatte er schulisch bald überflügelt. Auch der<br />
Hauslehrer war seinem Lerneifer nach kurzer Zeit<br />
nicht mehr gewachsen, und so entschied sein pietistischer<br />
Vater, ihn zu den Herrenhutern nach Neudietendorf<br />
zu schicken.<br />
Hier entwickelte er sich schnell und begann, geistig<br />
unabhängig zu werden. Dies zeigte sich auch in seiner<br />
immer stärkeren Opposition gegen die Herrenhuter<br />
und in der Weigerung, sich bei ihnen konfirmieren<br />
zu lassen. Seine weitere Schulbildung erhielt<br />
er daraufhin an verschiedenen Orten: teilweise im<br />
weltoffenen Haushalt eines Vetters, teilweise durch<br />
gelehrte Hauslehrer und abschließend im berühmten<br />
Gymnasium von Eisleben. Hier erhielt er eine humanistische<br />
Bildung und beschäftigte sich mit den klassischen<br />
antiken Denkern und Dichtern.<br />
Über-setzen<br />
Von seinem Vater, welcher Zeit seines Lebens eine<br />
wichtige Rolle bei allen seinen Berufs- und<br />
Studienentscheidungen spielte, wurde Friedrich von<br />
Hardenberg zum Studium der Jurisprudenz nach Jena<br />
geschickt (1790). Der junge Student wurde jedoch<br />
mehr von den geschichtlich-philosophischen Vorlesungen<br />
Friedrich Schillers angezogen. Er gewann die<br />
Freundschaft Schillers und wurde zu seinem Verehrer<br />
und Verteidiger. Seine Schrift „Apologie Friedrich<br />
Schillers“ zeigt, das er sich endgültig von der Orthodoxie<br />
seines Elternhauses gelöst hatte.<br />
In Jena kam er auch erstmals mit den Schriften<br />
Kants in Berührung. Hier gewann Friedrich von Hardenberg<br />
auch die Freundschaft Friedrich Schlegels,<br />
welcher Zeit seines Lebens einer seiner wichtigsten<br />
Begleiter war. Durch ihn wurde insbesondere sein<br />
Interesse an der Philosophie geweckt. Doch auch<br />
darüber hinaus hatte Schlegel einen großen Einfluss<br />
auf die Erweckung des unabhängigen, freien Geistes<br />
Hardenbergs. Obwohl ihm seine Beschäftigung mit<br />
den Geistesgrößen seiner Zeit, mit Philosophie und<br />
Geschichte wichtiger war, schloss er sein juristisches<br />
Studium nach einem Wechsel an die Universität<br />
Leipzig im Jahr 1794 ab.<br />
In den folgenden Jahren entwickelte sich sein berufliches<br />
Leben in einer klassischen Beamtenlaufbahn.<br />
Zunächst in den verschiedensten Ämtern Sachsens,<br />
dann als Beamter der Salinendirektion. Die ihm<br />
neben seiner Amtstätigkeit verbleibende freie Zeit<br />
verwendete er auf philosophische Studien. Von den<br />
1794 beginnenden Fichte-Studien sind uns viele<br />
Mitschriften und Gedanken erhalten.<br />
Durch Fichte kam Friedrich von Hardenberg auch in<br />
einen vertieften Kontakt zu den Ideen Kants. Fichte<br />
stand mit seiner Philosophie in engem Austausch<br />
mit Goethe, Schelling und Hegel. Zentral war für<br />
Fichte die eigene Denkaktivität, welche sich mit der<br />
Moralität zum Handeln verbinden sollte. Dies zeigt<br />
sich in dem Zitat: „Nicht Wissen, sondern das Tun ist<br />
19
20<br />
Über-setzen<br />
… Novalis – Übersetzer zwischen den Welten<br />
die menschliche Bestimmung.“ Dies galt für ihn<br />
äußerlich, aber auch innerlich. Der Mensch müsse,<br />
so Fichte, sein Ich ergreifen, er müsse 'ichen'. Das Ich<br />
wird nur durch die Tätigkeit greifbar. Ein weiterer<br />
zentraler Punkt Fichtes war der Zugang zur geistigen<br />
Welt. Er sah den Menschen auch schon im irdischen<br />
Leben als Teil der geistigen Welt: „Ich bin und ich bin<br />
mit all meinen Zielen nur in der geistigen Welt. *<br />
Wolle sein, was du sein sollst, was du sein kannst<br />
und eben darum sein willst.“ Der Tod ist damit nur<br />
für den irdischen Leib und für die auf der Erde<br />
zurückbleibenden von Bedeutung. Das Ich des<br />
Menschen wird „(…) in einem höheren Leben wiedergeboren.“<br />
Das Leben in der geistigen Welt gehört für<br />
Fichte zum Menschsein, in ihm liegt und aus ihm<br />
empfängt der Mensch seine Bestimmung. Mit Hilfe<br />
des Denkens kann er in sich die Anlage zum Geistesauge<br />
erwecken und damit das Geistige sehen.<br />
Diese Ideen Fichtes wurden auch für das Denken<br />
Hardenbergs von großer Bedeutung. Zentrale Gedanken,<br />
die er von Fichte übernahm, waren die<br />
Konsequenz im Denken und Handeln, das Ziel der<br />
ästhetischen Schönheit und das Streben nach<br />
Wissenschaft. Von Fichte übernahm er auch das dialektische<br />
Denken, das Denken der Gegensätze und<br />
der Einheit: „Gott. Notwendig. Natur. Wirklich. Ich.<br />
Möglich.“ Er sucht nach der Universalität des Ichs<br />
und beurteilt seine eigenen Auseinandersetzung mit<br />
Fichte: „Spinoza stieg bis zur Natur – Fichte bis zum<br />
Ich, ich bis zur These Gott.“ Hier zeigt sich Hardenbergs<br />
Bestreben über Fichte hinaus zu gehen und<br />
sein Denken mit der Idee Gottes zu verbinden.<br />
Diese Fichte-Studien gehen einher mit der wichtigsten<br />
Schicksalsbegegnung Friedrich von Hardenbergs.<br />
Am 17. November 1794 lernte er die noch<br />
nicht dreizehnjährige Sophie von Kühn kennen. Die<br />
erste Viertelstunde ihrer Begegnung bestimmte sie<br />
beide für den Rest ihres Lebens. Sie verlieben sich<br />
ineinander und verloben sich wenig später. Für den<br />
Dichter Novalis wird Sophie die Inspiration seines<br />
weiteren Schaffens, sie erweckt den Dichter ihn ihm.<br />
Nachdem er schon seit seiner Jugend immer wieder<br />
eigene Gedichte geschrieben hatte, entstand nun<br />
sein eigener, nicht mehr durch seine großen<br />
Vorbilder geprägter Stil. Dem Paar war jedoch nur<br />
eine kurze gemeinsame Zeit auf der Erde vergönnt:<br />
Sophie von Kühn erkrankte schwer und starb kurz<br />
nach ihrem fünfzehnten Geburtstag.<br />
Die folgenden Monate und Jahre seines Lebens<br />
waren für Friedrich von Hardenberg ein Einweihungsprozess<br />
und ermöglichten ihm erst seine großen<br />
dichterischen und philosophischen Werke. Dies<br />
wird unter anderem an der Schilderung des ersten<br />
Besuchs am Grab der Sophie deutlich, welche er später<br />
in den „Hymnen an die Nacht“ verarbeitet:<br />
„Wie ich da nach Hülfe umherschaute, vorwärts nicht<br />
konnte und rückwärts nicht, und am fliehenden, verlöschenden<br />
Leben mit unendlicher Sehnsucht hing: –<br />
da kam aus blauen Fernen – von den Höhen meiner<br />
alten Seligkeit ein Dämmerungsschauer – und mit<br />
einem Male riss das Band der Geburt – des Lichtes<br />
Fessel. Hin floh die irdische Herrlichkeit und meine<br />
Trauer mit ihr – zusammenfloss die Wehmut in eine<br />
neue, unergründliche Welt – du Nachtbegeisterung,<br />
Schlummer des Himmels kamst über mich – die<br />
Gegend hob sich sacht empor; über der Gegend<br />
schwebte mein entbundner, neugeborener Geist. Zur<br />
Staubwolke wurde der Hügel – durch die Wolke sah<br />
ich die verklärten Züge der Geliebten. In ihren Augen<br />
ruhte die Ewigkeit – ich fasste Ihre Hände, und die<br />
Tränen wurden ein funkelndes, unzerreißliches Band.<br />
Jahrtausende zogen abwärts in die Ferne, wie<br />
Ungewitter. (…) und erst seitdem fühl' ich ewigen,<br />
unwandelbaren Glauben an den Himmel der Nacht<br />
und sein Licht, die Geliebte.“
Novalis schildert hier ein klassisches Einweihungserlebnis.<br />
Die „Hymnen an die Nacht“ zeigen, dass das<br />
äußere, irdische Leben für Novalis seine Bedeutung<br />
verloren hatte. Er geht durch ein Todeserlebnis und<br />
wird im Geiste neu geboren. Eine wichtige Rolle<br />
spielt dabei die Beziehung und die Liebe zu seiner<br />
verstorbenen Sophie. Dass Friedrich von Hardenberg<br />
sich einen Zugang zur geistigen Welt errungen<br />
hatte, wird von nun an in all seinen Werken deutlich.<br />
So auch in den „Geistlichen Liedern“:<br />
„Da ich so im stillen krankte,<br />
Ewig weint' und wegverlangte,<br />
Und nur blieb vor Angst und Wahn:<br />
Ward mir plötzlich wie von oben<br />
Weg des Grabes Stein gehoben,<br />
Und mein Innres aufgetan.<br />
Wen ich sah, und wen an seiner<br />
Hand erblickte, frage keiner,<br />
Ewig werd' ich dies nun sehn;<br />
Und von allen Lebensstunden<br />
Wird nur die wie meine Wunde<br />
Ewig heiter, offen stehn.“<br />
Friedrich von Hardenberg durchdrang mit seinem<br />
Denken die Ideen des deutschen Idealismus und verband<br />
sie mit den Inspirationen der göttlichen Welt.<br />
So konnte Novalis die letzten Jahre seines Lebens ein<br />
Übersetzer zwischen den Welten werden und kann<br />
durch seine Werke auch heute noch ein Fährmann in<br />
die geistige Welt sein.<br />
Nach drei Jahren des intensiven Schaffens verstarb<br />
er mit 29 Jahren an einer schweren Krankheit.<br />
Alle Zitate aus „Hymnen an die Nacht“ in: Kluckhohn, Paul;<br />
Samuel, Richard (Hgg): Novalis Schriften, Darmstadt 1977, Bd. 1<br />
© siehe Impressum<br />
Friedrich von Hardenberg1772-1801<br />
Gemälde von Franz Gareis, um 1798<br />
Über-setzen<br />
21
22<br />
Über-setzen<br />
Gedanke – Wort – Schrift<br />
| Astrid Bruns, 3. Trimester<br />
„Der Buchstabe tötet, der Geist macht lebendig“<br />
-2. Korinther, 3<br />
Wir machen uns in der Regel nicht bewusst, was für<br />
ein phantastischer Vorgang dem Lesen zugrunde<br />
liegt. – Wenige Striche und Bögen können ein ganzes<br />
Universum bedeuten, still wartend, dass jemand<br />
kommt und den Inhalt herausliest.<br />
Was geht da vor sich?<br />
Zunächst ist da der Autor, der einen Gedanken hat,<br />
den er teilen, mitteilen möchte. Vielleicht weiß er<br />
schon genau, was er ausdrücken möchte, die Gedanken<br />
sind fertig in seinem Innern, und doch lassen<br />
sie sich nicht so ohne weiteres in Sprache übersetzen.<br />
Wenn wir genau beobachten, sind unsere<br />
Gedanken in den seltensten Fällen Wortgedanken.<br />
Viele Gedanken sind als Ganzes da, unmittelbar und<br />
müssen dann mühsam in Worte gefasst werden,<br />
wenn wir sie ausdrücken wollen. Manchmal sind sie<br />
wie hörbar, erlauschbar, aber eher musikalisch als<br />
sprachlich, wie feine Schwingungen, die bestimmte<br />
Muster bilden, fast sphärisch. Und dann gibt es<br />
Bildgedanken, die plastisch und beweglich farb- und<br />
formfroh in uns leben. Immer geht mit diesem Übersetzungsvorgang<br />
ein gewisses Ohnmachtsgefühl<br />
einher. Wir spüren, dass die Sprache dem, was wir in<br />
uns tragen, nicht gerecht wird. Wir können nur hindeuten<br />
auf das, was wir sagen wollen, nie können<br />
wir wirklich zufrieden sein.<br />
Gedanken die bereits Worte sind – gibt es die? Bei<br />
Wortgedanken liegt immer der Verdacht nahe, dass<br />
es sich um leere Phrasen oder Worthülsen handelt.<br />
Diese muss ich zunächst mit Inhalt füllen und beleben,<br />
bevor ich sie mit gutem Gewissen verwenden<br />
kann. Habe ich ein direktes Gegenüber, mit dem ich<br />
spreche, vollzieht sich der Übersetzungsvorgang von<br />
Gedanken in Sprache sehr schnell, indem wir uns<br />
unbewusst aufeinander einstimmen, einschwingen.<br />
Dabei fällt es umso leichter, je besser ich mein<br />
Gegenüber kenne. Aber auch bei einem Fremden<br />
kann ich ein Gespür dafür entwickeln, ob meine<br />
Worte bei ihm ankommen, und ich kann mich zur<br />
Not immer wieder anders auszudrücken versuchen.<br />
Die Modulation der Stimme ist dabei eine große<br />
Hilfe, denn nicht nur was, sondern auch wie ich<br />
etwas sage, hat Aussagekraft. Selbst bei einer größeren<br />
Zuhörerschaft ist es möglich, ein Stimmungsbild<br />
wahrzunehmen und auf Rückfragen direkt einzugehen,<br />
so dass Missverständnisse ausgeräumt werden<br />
können.<br />
Beim Schreiben eines Artikels für eine zum großen<br />
Teil unbekannte Leserschaft fällt dieser ganze Vorgang<br />
weg. Jedes Wort, das ich benutze, muss ich<br />
gründlich abwägen und immer wieder neu abspüren,<br />
ob man das Geschriebene so verstehen kann, wie es<br />
von mir gemeint ist.<br />
Der Leser hat am Ende nur schwarze Striche und<br />
Bögen auf dem Papier und muss sich diese in<br />
Sprache zurückübersetzen. Dabei muss er sich auf<br />
den Autor einlassen, in dessen Gedankengänge einsteigen.<br />
Er hat keine Unterstützung durch die Stimme<br />
und die Art, wie etwas gesagt wird. Und doch ist<br />
es möglich, sich auf den Autor einzuschwingen, in<br />
Resonanz zu treten und das Gewebe des Textes in<br />
ein Gedankengebäude zurück zu übersetzen. Es ist<br />
möglich, Texte gänzlich fremder Autoren zu verste-
hen, aus den völlig abstrakten Zeichen auf dem<br />
Papier lebendige Gedanken herauszulesen.<br />
Und seltsamer Weise gelingt uns dies bei verschiedenen<br />
Autoren ganz unterschiedlich gut. Manche Texte<br />
erschließen sich mir unmittelbar, andere muss ich<br />
mehrmals lesen und entdecke immer neue Ansätze,<br />
wieder andere bleiben mir verschlossen, ich kann<br />
oder mag dem Autor nicht folgen.<br />
Woran liegt das?<br />
Hat es etwas damit zu tun, was „zwischen den<br />
Zeilen“ steht? Diesen Ausdruck kennt jeder Leser,<br />
obwohl er mit Verstandeslogik kaum zu begründen<br />
ist. Was steht denn da, zwischen den Zeilen? Ist es<br />
die Haltung des Autors, die Intention, mit der er seinen<br />
Text geschrieben hat? Und die meinen wir, herauslesen<br />
zu können?<br />
Wie können wir so etwas?<br />
Ich behaupte, wir können es, indem wir nicht nur mit<br />
dem Verstand, sondern auch mit dem Herzen lesen.<br />
In unseren Herzen haben wir ein untrügliches Organ,<br />
das uns befähigt, in Resonanz mit anderen Wesen,<br />
Bildern, Gedanken u.ä. zu treten. Wir spüren, ob die<br />
entstehenden Schwingungen harmonisch sind, sich<br />
wohlklingend ineinander fügen, oder ob es zu<br />
Dissonanzen und Schwebungen kommt, zu heraus-<br />
© siehe Impressum<br />
fallenden Schwingungen, die darüber schweben<br />
bleiben und Missstimmung erzeugen.<br />
Es ist etwas anderes festzustellen, ob die Thesen<br />
eines Textes logisch haltbar sind oder nicht, oder<br />
hinzuspüren, ob sie uns zu Herzen sprechen. Heutzutage<br />
kommt es viel weniger darauf an, was jemand<br />
sagt, als darauf, wer etwas sagt. Denn der gleiche<br />
Inhalt ist bei verschiedenen Autoren lange noch<br />
nicht derselbe. Auf diesen Umstand hat Rudolf<br />
Steiner öfter hingewiesen: In Zukunft werde es<br />
immer mehr darauf ankommen, dieses Gespür des<br />
„zwischen den Zeilen Lesens“ und „hinter die Worte<br />
Hörens“ zu entwickeln.<br />
1918 sagt Rudolf Steiner in einem Vortrag<br />
sinngemäß:<br />
Worte sind letztlich nur Gebärden, und man muss<br />
den Menschen kennen, der diese Gebärde macht. Es<br />
ist ein Unterschied, ob im persönlichen Ich erkämpft<br />
wird Satz für Satz, oder aber ob es von unten oder<br />
von oben oder von seitwärts her in irgendeiner<br />
Weise zum Beispiel eingegeben ist.<br />
Wir müssen auf den ganzen menschlich-geistigen<br />
Zusammenhang desjenigen sehen, der da spricht.<br />
Es kommt nicht allein darauf an, was da für Worte<br />
stehen, sondern vor allem, aus welchem Geiste heraus<br />
sie sind.<br />
Doch um dies zu bemerken, braucht es Zeit und<br />
Aufmerksamkeit. Das flüchtige Drüberlesen was wir<br />
uns oft, besonders beim Lesen digitaler Texte, angeeignet<br />
haben, lässt ein tieferes Hineinspüren in den<br />
Text meist kaum mehr zu.<br />
Ich selbst erlebe es für mich als hilfreich und gesund,<br />
lieber weniger und dafür gründlicher und mit voller<br />
Aufmerksamkeit zu lesen. Es tun sich mir dann<br />
Facetten auf, die mir sonst verschlossen bleiben.<br />
Aber das mag jeder für sich selbst überprüfen.<br />
Steiner, Rudolf: Der Tod als Lebenswandlung<br />
(GA 182), Vortrag vom 16.10.1918.<br />
Über-setzen<br />
23
24<br />
Über-setzen<br />
Hilfe, ich verstehe mich selbst nicht mehr!!!<br />
| Stefanie Schäfer, derzeit im Praktikum in Wuppertal<br />
Wer übersetzt mir mich selbst? Diese Frage, die ein<br />
wenig amüsant klingt, ist jedoch ernste Realität; und<br />
wir begegnen ihr überall in unserem Alltag. Verstehe<br />
ich mich selbst richtig? Und kann ich dann nach diesem<br />
Verständnis mein Leben ordnen?<br />
Dass der Mensch sich selbst und sein Leben nicht<br />
mehr versteht, scheint eine immer häufiger auftretende<br />
Erscheinung zu sein. Und immer da, wo ein<br />
Bedürfnis auftaucht, schießen die Bedürfnisbefriediger<br />
wie Pilze aus dem Boden. Auf den Türschildern<br />
der „Übersetzungsbüros“ steht dann<br />
Psychoanalyse, Psychotherapie, Gesprächstherapie,<br />
Biografieberatung, spirituelle Lebensbegleitung usw.<br />
Der Erfolg, der daran zu messen wäre, dass sich der<br />
Kunde hinterher tatsächlich besser versteht, liegt<br />
nicht im Namen und der Methode, die das Türschild<br />
preisgibt. Er stellt sich einzig und allein dann ein,<br />
wenn der Therapeut, Lebensbegleiter oder Analytiker<br />
die Fähigkeit mitbringt, in eine echte Übersetzungsarbeit<br />
gehen zu können.<br />
Der Computer scheint diese Fähigkeit nicht zu besitzen.<br />
Er übersetzt eins zu eins auf der horizontalen<br />
Ebene, so dass meist ein ziemlicher Unfug dabei herauskommt<br />
wie z.B. „Machst du des öfteren dort<br />
Urlaub?“ wird zu: Do you frequently holiday there?<br />
Oder:„And his tongue shall be filled with praise.“ wird<br />
zu: Und seine Zunge wird mit Lob gefüllt werden.<br />
Was Sprache ausdrückt, scheint nicht programmierbar<br />
zu sein. Um ein Gedicht in eine andere Sprache<br />
zu übersetzen, so dass es Dichtung bleibt, muss der<br />
Übersetzer alles, was äußere Sprache ist, völlig auslöschen<br />
und zu dem Wesentlichen des Gedichts<br />
gelangen. Da heraus muss er es ganz neu schöpfen,<br />
allerdings in der Intention des Dichters, nicht in seiner<br />
eigenen. Wer Dichtung übersetzt, muss also<br />
selbst Dichter sein, doch ein völlig selbstloser Dichter,<br />
damit Baudelaire Baudelaire bleibt und Blake Blake<br />
und nicht etwa zu Anton Grünschnabel mutiert.<br />
Der Übersetzer von technischen Gebrauchsanweisungen<br />
jedoch sollte sich selbst in Technik auskennen,<br />
wenn die Gebrauchsanweisung sinnvoll und<br />
verständlich sein soll.<br />
Was muss der Übersetzer<br />
meiner selbst demnach sein?<br />
Ein Mensch! Ein Mensch, dem nichts Menschliches<br />
fremd sein darf. Haben wir ein Problem mit uns<br />
selbst (und wir haben ja immer nur Probleme mit uns<br />
selbst, nie mit den anderen), so schätzen wir in der<br />
Regel gar nicht so sehr die Rede eines anderen, sondern<br />
etwas ganz anderes. „Der kann gut zuhören!“,<br />
sagen wir dann, wenn wir uns verstanden fühlen.<br />
Wann aber bin ich ein guter Zuhörer? Wenn ich mich<br />
für den Moment des Hörens selbst auslösche, meine<br />
Gedanken, Erfahrungen, mein Wissen, meine<br />
Assoziationen. Wenn ich auf all das, was mich so<br />
reich macht, verzichte. Erst dann kann ich ganz in<br />
das Wesen des anderen Menschen eintauchen und<br />
ihn in mich aufnehmen. Was ich da aber aufnehme,<br />
ist das, was ihm selbst verborgen ist, weshalb er ja<br />
sich selbst nicht mehr versteht. Es ist sein höheres<br />
Wesen, sein höheres Ich. Aus dem Wahrnehmen dieses<br />
Höheren, aus dem Verständnis desselben kann<br />
ich so dem anderen etwas sagen, worin er sich selbst<br />
erkennt und versteht. Dann habe ich nicht aus mir<br />
gesprochen, sondern aus dem eigentlichen Wesen<br />
des anderen.<br />
Rudolf Steiner nennt diesen Vorgang das soziale<br />
Urphänomen. Wir lassen uns durch das Sprechen des<br />
anderen „einschläfern“ und retten im „Aufwachen“<br />
sein Wesen in unser Bewusstsein, wodurch wir ihn<br />
für sich selbst übersetzen können. Wer ist aber der<br />
eigentliche Übersetzer? Wer ist der Selbstlose, sich<br />
Auslöschende, sich an das andere Wesen Hingebende?<br />
Bleiben wir im Zuhören in unserem Verstand, wollen<br />
wir mit dem Verstand aufnehmen, was der andere<br />
uns mitteilt, werden wir genauso wenig verstehen
wie sein eigener Verstand. Ein echtes Verstehen geht<br />
durch alle äußeren Worte hindurch von Herz zu<br />
Herz. Im Herzen aber wartet Christus. Er ist der<br />
eigentliche Übersetzer. Christus ist derjenige, der uns<br />
das Wesen des anderen verstehen lässt, so dass wir<br />
aus Christus sprechen in unserer Übersetzung.<br />
Immer da, wo wir tatsächlich aus Christus sprechen,<br />
fühlt sich der andere von uns verstanden und versteht<br />
sich dadurch selbst besser.<br />
Fichte – Wirken durch das Ich<br />
| Julia Ballaty, 3. Trimester<br />
Wenn eine Idee zum Gegenstand des Willens wird,<br />
d.h. der Wille zur praktischen Verwirklichung einer<br />
Idee entsteht, sprechen wir von einem Ideal. Was wir<br />
als Idee vor Augen haben, nennen die Griechen idea<br />
– diese leitet sich von dem Wort eidon (ich sah) ab.<br />
Im Ideal werden aus den geistigen Bildern der Idee<br />
geistige Impulse, die wir ins Praktische umsetzen<br />
wollen.<br />
Bezeichnend für die Zeit des deutschen Idealismus<br />
(~1780 bis ~1832) ist, dass in diesen Jahren bedeutende<br />
Persönlichkeiten lebten, die ihre großartigen<br />
Ideen mit vollkommener Hingabe zur Realisierung<br />
bringen wollten, die ihr Leben ihren Idealen opferten.<br />
Nur einige von ihnen seien hier genannt: Kaspar<br />
David Friedrich in der Malerei, Ludwig van<br />
Beethoven und Wolfgang Amadeus Mozart mit der<br />
Musik, Friedrich Schiller, Johann Wolfgang von<br />
Über-setzen<br />
Die letzte Frage daran anknüpfend lautet: Gibt es<br />
eine endgültige Übersetzung? Ein: So! Jetzt hab ich’s<br />
für alle Zeiten? Wir müssen uns darüber im Klaren<br />
sein, dass alles, was uns begegnet in der irdischen<br />
Welt und was wir bemüht sind zu übersetzen, selbst<br />
schon Übersetzung ist, sei es die Bibel, ein Gemälde<br />
oder die physische Erscheinung des Menschen. Es ist<br />
das übersetzte Werk einer Idee, eines geistigen<br />
Wesens, welches dahintersteht oder in ihm verborgen<br />
ist. Es ist übersetzt für eine jeweilige Bewusstseinsstufe<br />
des Menschen. Gehen wir davon aus, dass<br />
der Mensch ein Werdender, ein sich Wandelnder ist,<br />
so müssen die Übersetzungen selbst sich wandeln. In<br />
diesem Werden und Wandeln wandelt Christus mit<br />
uns und hilft uns, uns gegenseitig Übersetzer zu sein.<br />
Goethe und Novalis als Dichter und die Philosophen<br />
Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Wilhelm Joseph<br />
Schelling und Georg Wilhelm Friedrich Hegel.<br />
Obwohl jeder dieser Menschheitsgenies einen<br />
Kosmos für sich bildet, haben sie alle das Prinzip des<br />
Idealismus gemeinsam. Jeder von ihnen ermöglichte<br />
der Menschheit auf seine Weise den Zugang zu einer<br />
höheren Geistigkeit, indem er selbst seine Ideen aus<br />
dieser geistigen Ebene über den Weg des Ideals im<br />
Physischen verwirklicht hat.<br />
Um auf die im Deutschen Idealismus vorherrschende<br />
Dynamik im Detail einzugehen, werfen wir einen<br />
Blick auf Johann Gottlieb Fichte. Ihm gelingt es, in<br />
wenige Sätze gebündelt das auszudrücken, was sein<br />
philosophisches Wirken und dessen Ziele im Wesentlichen<br />
ausmacht. Im Mittelpunkt seiner Philosophie<br />
steht das Ich. „In ihm ist das System der ganzen<br />
Lernen<br />
25
26<br />
Lernen<br />
… Fichte – Wirken durch das Ich<br />
Geisterwelt...“ 1 So tritt das Ich als Möglichkeit für<br />
den Menschen hervor, in bewusste Wechselbeziehung<br />
mit der geistigen Welt zu treten. Diese Möglichkeit<br />
zu ergreifen und auch die ganze Menschheit<br />
dazu zu bewegen, scheint Fichte als tiefste Grundmotivation<br />
zu erfüllen; denn er erkennt eine existenzielle<br />
Bedeutung der Ichtätigkeit im Sinne der Aufnahme<br />
höherer Geistigkeit darin, dass sich diese<br />
Ichtätigkeit auf die Welt und dadurch auf die Göttlichkeit<br />
auswirkt und dass infolge dessen „mit der<br />
fortrückenden Kultur des Menschen zugleich die<br />
Kultur des Weltalls fortrücken werde“ 2 . Dieses Vorgehen<br />
beschreibt Fichte prägnant: „... in jedem Moment<br />
seiner Existenz reißt er [der höhere Mensch]<br />
etwas Neues außer sich in seinen Kreis mit fort, und<br />
er wird fortfahren, an sich zu reißen, bis er alles in<br />
denselben verschlinge: bis alle Materie das Gepräge<br />
seiner Einwirkung trage und alle Geister mit seinem<br />
Geist einen Geist ausmachen.“ 3<br />
Fichtes Handeln entspricht durchaus den eindeutigen<br />
Gedanken, die er sich über die Weltzusammenhänge<br />
macht. Wo die Umstände der Zeit nicht seinen<br />
Ideen, die aus seinem Innersten heraus entstehen,<br />
entsprechen, weist er mit Vehemenz darauf hin, ändert<br />
sie, oder verlässt die Uneinsichtigen, die sich<br />
den Neuerungen widersetzen. Zurückhaltend in dem,<br />
was auf seinen Idealen beruht, ist er keinesfalls.<br />
Beispielsweise gibt er der Mutter derjenigen Kinder,<br />
für die er vom Herbst 1788 bis zum Frühling 1790 in<br />
Zürich als Hauslehrer arbeitet, in einer Zuschrift<br />
deutlich zu erkennen, dass ihm die Erziehung der<br />
Kinder keinerlei Schwierigkeiten bereite, dass aber<br />
die Mutter erzogen werden müsse, und riskiert damit<br />
eine Kündigung. Etwa zwanzig Jahre später wird<br />
Fichte damit beauftragt, einen Plan für die neue<br />
Universität in Berlin zu erstellen. In seinem<br />
'Deducierten Plan einer zu Berlin zu errichtenden<br />
höheren Lehranstalt' entwickelte er in konkreter<br />
Darstellung sein Konzept für „eine Schule der Kunst<br />
des wirklichen Verstandesgebrauchs.“ 4<br />
Aus seinem geisterfüllten Ich heraus wirkte in Fichte<br />
eine Kraft, die sich unmittelbar in seiner energischen<br />
aber klaren Handlungsweise widerspiegelt. „Innerhalb<br />
dieser Tätigkeit [der Menschenseele] findet er<br />
in der Seele auch die Stelle [nämlich das Ich], wo<br />
Weltengeist im Seelengeist sich offenbart. Es webt<br />
und wirkt durch alles Sein für diese Weltanschauung<br />
der Weltenwille.“ 5<br />
Fichte steht also neben einigen seiner Zeitgenossen<br />
als wirklicher Idealist für eine gesamtmenschheitliche<br />
Entwicklungsstufe, in der sich das Ich zum<br />
Gefäß der geistigen Impulse öffnet, um sie in die<br />
praktische Tat überfließen zu lassen. Im Deutschen<br />
Idealismus konnte dieser an Fichte deutlich zu<br />
erkennende Impuls verdichtet einschlagen und weiter<br />
in die Zukunft wirken.<br />
1 Fichte, Johann Gottlieb: Die Bestimmung des Menschen,<br />
Vorlesung „Über die Würde des Menschen“, S. 151.<br />
2 Ebd., 3 Ebd. S. 153, 4 Fichte, Johann Gottlieb: Sämtliche<br />
Werke Band VIII, S. 102.<br />
5 Steiner, Rudolf: Vom Menschenrätsel, GA 20, S. 33.<br />
© siehe Impressum
Dag Hammarskjöld<br />
| Michael Rheinheimer, 3. Trimester<br />
Dag Hammarskjöld wird am 29. Juli 1905 in eine der<br />
angesehensten schwedischen Adelsfamilien hineingeboren.<br />
Sein Geburtsort ist die Stadt Jönköpping<br />
am südschwedischen Vätternsee. Dag ist der jüngste<br />
der vier Söhne des damaligen Justiz- und Kultusministers<br />
Schwedens, Hjalmar Hammarskjöld, der während<br />
des Ersten Weltkriegs drei Jahre schwedischer<br />
Premier- und Verteidigungsminister sein wird. Seit<br />
Jahrhunderten ist es in der Familie Hammarskjöld<br />
Tradition, Staat und Gesellschaft in herausragenden<br />
Spitzenämtern zu dienen: als Politiker, Diplomaten<br />
oder als Offiziere beim Militär.<br />
Der Adelsname Hammarskjöld, zu deutsch „Hammerschild“,<br />
ist auf dem Familienwappen verewigt: zwei<br />
Hämmer über Kreuz auf einem weißen Schild. Name<br />
und Wappen lassen spontan auch an den nordischgermanischen<br />
Donnergott Thor mit seinem Hammer<br />
denken, womit Hammarskjöld selbst Zeit seines<br />
Lebens gerne kokettiert hat. (Als neu gewählter Generalsekretär<br />
der Vereinten Nationen wird er aus der<br />
Bedeutung seines Namens sein Selbstverständnis als<br />
UNO-Chef ableiten: „... ein Schmiedehammer für die<br />
Realisierung der UN-Charta und ein Schutzschild für<br />
die kleinen blockfreien Staaten.“) Der altnordische<br />
Vorname Dag heißt schwedisch „Tag“, das bedeutet<br />
„Zeit, da die Sonne brennt“. Bezeichnenderweise ist<br />
in seinem Geburts- und Todesjahr, 1905 und 1961,<br />
jeweils eine totale Sonnenfinsternis in Teilen Europas<br />
sichtbar gewesen.<br />
1907 zieht die Familie nach Uppsala, dem historischen<br />
Zentrum Schwedens, weniger als 100 Kilometer<br />
nordwestlich von Stockholm, wo Dags Vater<br />
mit Frau und den vier Kindern als neuer Regierungspräsident<br />
im so genannten Roten Schloss residiert.<br />
Seinem Kindermädchen Erna gilt Dag als „das merkwürdigste<br />
Kind der Welt mit seinen strahlend wissenden<br />
Augen-Blicken.“ So vertraut sie seiner Mutter<br />
den heimlichen Eindruck an, dass Dag „einer der bedeutendsten<br />
Männer der Welt werden würde.“<br />
Auch die Mutter wird eines Abends von ihrem Sohn<br />
überrascht, als der beim Nachtgebet eine Schutzbitte<br />
für die kleinen Negerkinder in Afrika hinzufügt.<br />
Niemand in der Familie kann sich erklären, woher<br />
dieses Anliegen bei ihm kommt. Von dem elfjährigen<br />
Knaben, der allein wie in einem Märchen den großen<br />
roten Turm der Schlossburg bewohnt, sind folgende<br />
Zeilen wie ein Menetekel überliefert: „An dem Tag, an<br />
dem du geboren wurdest, waren alle froh – du alleine<br />
weintest. Lebe so, dass in deiner letzten Stunde<br />
alle anderen weinen, und du der einzige bist, der<br />
keine Träne zu verlieren hat. Dann wirst du ruhig dem<br />
Tod begegnen, wann immer er auch kommt.“ 1 Die<br />
Tagebuchaufzeichnungen, die man nach seinem Tod<br />
in seiner New Yorker Privatwohnung findet, werden<br />
ein beredtes Zeugnis dieses Lebens geben.<br />
In der Privatschule der Villa Totembo, die er ab 1911<br />
besucht, ist er als Klassenprimus während der gesamten<br />
Schulzeit seinen Kameraden intellektuell<br />
und bildungsmäßig weit voraus. Dag profitiert von<br />
den hochrangigen Bekanntschaften und Kontakten<br />
seines prominenten Vaters. Einige Mitschüler werden<br />
ihn später auch als unnahbar und abgehoben<br />
beschreiben. Andere erwähnen den tiefen Eindruck,<br />
den seine ungewöhnliche Reinheit, sein großer Ernst<br />
und die christliche Reife auf sie machen.<br />
Zu Dags Konfirmation 1921 schenkt seine Mutter<br />
Agnes ihm „Die Nachfolge Christi“ von Thomas von<br />
Kempen, jenen Klassiker der geistlichen Weltliteratur,<br />
den man vierzig Jahre später zusammen mit<br />
dem Amtseid des UNO-Chefs in seinem Hotelzimmer<br />
finden wird. Die Konfirmation wird in der Domkirche<br />
von Uppsala vollzogen, die auf einer ehemaligen<br />
Mysterienstätte des schon erwähnten germanischen<br />
Gottes Thor gebaut ist.<br />
Nach dem glänzend absolvierten Abitur studiert er in<br />
Uppsala erst Literaturgeschichte und Philosophie,<br />
dann in alter Familientradition Volkswirtschaft,<br />
Lernen<br />
27
28<br />
Lernen<br />
… Dag Hammarskjöld<br />
Rechts- und Wirtschaftswissenschaften. Seine akademische<br />
Ausbildung wird 1930 mit dem Abschluss<br />
einer Dissertation über Zyklen der Konjunkturausbreitung<br />
gekrönt, was im Königreich Schweden einer<br />
Habilitation gleichkommt. Als Volkswirt arbeitet er<br />
nun für den schwedischen Finanzminister Ernst Wigforss<br />
als Assistent und wird mit einunddreißig Jahren<br />
Staatssekretär im Finanzministerium. Er gehört zu<br />
einem Kreis von Leuten, die an dem Modell des so genannten<br />
schwedischen Wohlfahrtsstaates mitwirken.<br />
1949 wird er Unterstaatsekretär im Außenministerium.<br />
Von 1951 bis 1953 ist er zwei Jahre stellvertretender<br />
schwedischer Außenminister und stellvertretender<br />
Leiter der schwedischen Delegation in der<br />
UNO-Generalversammlung. Hammarskjöld ist die<br />
ganzen Jahre über parteilos und wird sowohl von<br />
konservativer, als auch sozialdemokratischer Seite als<br />
hochkompetenter Fachmann geschätzt.<br />
Am 7. April 1953 wird Dag Hammarskjöld dann in<br />
New York, auch für ihn selbst überraschend, zum<br />
zweiten Generalsekretär der Vereinten Nationen vorgeschlagen<br />
und eingesetzt. Obwohl man dem international<br />
noch unbekannten schwedischen Diplomaten<br />
anfangs die nötige Härte zur Lösung internationaler<br />
Konflikte nicht wirklich zutraut, wird er<br />
1957 von der UN-Generalversammlung einstimmig<br />
wiedergewählt. Nachdem es Hammarskjöld 1954<br />
gelungen war, vier amerikanische Kriegsgefangene<br />
des Koreakrieges in Peking frei zu bekommen, war<br />
die allgemeine Skepsis weltweit in Respekt umgeschlagen.<br />
Sein geistiges und auch mystisches Leben und<br />
Arbeiten, das erst 1963 nach der Veröffentlichung<br />
seines Tagebuches der Öffentlichkeit bekannt werden<br />
wird, hält er selbst vor seinen engsten Vertrauten<br />
geheim.<br />
„Die längste Reise<br />
ist die Reise nach innen.<br />
Wer sein Los gewählt hat,<br />
wer die Fahrt begann<br />
zu seiner eigenen Tiefe<br />
(gibt es denn Tiefe?)<br />
noch unter euch,<br />
ist er außerhalb der Gemeinschaft.“ 2<br />
Sture Linner, ein ehemaliger Mitarbeiter, wird später<br />
im Hinblick darauf über Hammarskjöld sagen, auf<br />
dessen Initiative hin sogar ein Meditationsraum im<br />
New Yorker UNO-Gebäude errichtet wird: „Hätten<br />
bestimmte Mächte gewusst, was in Dag Hammarskjöld<br />
wirklich vorgeht, hätten sie ihn niemals zum<br />
Generalsekretär gewählt.“ 3 Und der Herausgeber seines<br />
Tagebuches wird bei der Veröffentlichung darüber<br />
sagen: „Wohl nie ist aus dem Kreis der Mächtigen<br />
ein Dokument erschienen, das wie dieses Tagebuch<br />
eine Art Weißbuch ist schonungsloser Verhandlungen<br />
mit dem Ich und seinem Gott.“ 4<br />
In seinen Aufzeichnungen 1955 schreibt der schwedische<br />
Spitzendiplomat selbst, dem als Friedensvermittler<br />
mehr als einmal zu verdanken ist, dass es<br />
nicht zu einem weltweiten Atomkrieg kommt: „Als<br />
derjenige, der du im Innersten sein musst, um deine<br />
Aufgabe zu erfüllen, darfst du dich nicht zeigen –<br />
damit man dir gestattet, sie zu erfüllen.“ Immer wieder<br />
bekennt er, dass ihm, „ob als nächtliches Traumbild<br />
oder als kurze Vision im Tagesgeschehen, geistige<br />
Phänomene wie zeitweise Hellsichtigkeit nicht<br />
fremd gewesen sind.“ 5 So heißt es bei Hammarskjöld<br />
auch an einer Stelle: „Im Prozess dieser absoluten<br />
Aufrichtigkeit kann einer bei einer Erkenntnis ankommen<br />
von dem, was sich ereignen wird.“ 6<br />
Das, was sich dann tatsächlich ereignen wird, davon<br />
sprechen große Teile der mehr als 500 Einträge dieses<br />
spirituellen Tagebuches in Form von Gedichten,<br />
Aphorismen, oder Meditationen, die Hammarskjöld
sowohl als Student, als Wirtschaftsexperte und Kabinettssekretär<br />
als auch als Generalsekretär der Vereinten<br />
Nationen niedergeschrieben hat:<br />
„Öffnen seh ich geblendet<br />
Das Tor zur Arena<br />
Und geh hinaus, um nackt<br />
Den Tod zu treffen.<br />
Die andern sah ich.<br />
Jetzt bin ich der Erwählte,<br />
fest gespannt auf den Block,<br />
Opfer zu werden, …“ 7<br />
© siehe Impressum<br />
heißt es an einer Stelle. An einer anderen: „Früher<br />
war der Tod immer mit dabei. Heute ist er Tischkamerad:<br />
ich muss Freund mit ihm werden.“ 8<br />
Schließlich: „Um Bürden batest du-. Und wimmertest,<br />
als du beladen wurdest. Dachtest du dir eine<br />
andere Last? Glaubtest du, das Opfer sei anonym?“<br />
fragt Hammarskjöld sich selbst. „Das Opfer der<br />
Opferhandlung ist, als sein Gegenteil beurteilt zu<br />
werden. O Cesarea Philippi. Die Verurteilung als die<br />
Frucht und Voraussetzung des Einsatzes hinzunehmen,<br />
dies hinzunehmen, wenn man seinen Einsatz<br />
kennt und wählt.“ 9 Und an seinem letzten Weihnachtsabend<br />
1960 schreibt er: „Wie richtig, dass<br />
Weihnachten dem Advent folgt. Für den Vorausblickenden<br />
ist Golgatha der Platz für die Krippe und<br />
das Kreuz schon in Bethlehem errichtet.“ 10<br />
Einige Rezensenten werden ihm nach der Lektüre<br />
des Buches Größenwahn und Blasphemie vorwerfen:<br />
„Das Schockierende an diesem Mythos ist, dass Dag<br />
Hammarskjöld offensichtlich davon überzeugt war,<br />
er sei wie Christus von Gott zum Opferlamm ausersehen<br />
worden, und dass er glaubte, er könne durch<br />
Hinnahme dieses Loses ebenso wie Christus die<br />
Menschheit erlösen.“ 11<br />
Als am 18. September 1961 das Flugzeug Hammarskjölds<br />
über der kongolesischen Provinz Katanga<br />
durch ein raffiniertes Komplott internationaler Geheimdienste<br />
zum Absturz gebracht wurde, entdeckte<br />
man auf dem Nachttisch in seinem Hotelzimmer seinen<br />
Amtseid in dem Buch des christlichen Mystikers<br />
Thomas von Kempen: „Die Nachfolge Christi.“ Artikel<br />
99 der UN-Charta, dem Gründungsvertrag der<br />
Vereinten Nationen, auf den er ihn 1953 vor den 51<br />
Gründungsmitgliedern der UN-Vollversammlung in<br />
New York mit einer Hand geschworen hat, lautet:<br />
„Der Generalsekretär kann die Aufmerksamkeit des<br />
Sicherheitsrats auf jede Angelegenheit lenken, die<br />
nach seinem Dafürhalten geeignet ist, die Wahrung<br />
des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit<br />
zu gefährden.“<br />
Dag Hammarskjöld hat seinen Amtseid im Sinne<br />
der UN-Charta mit dieser letzten Botschaft erfüllt.<br />
1 Mögle-Stadel, Stephan: Dag Hammarskjöld. <strong>Stuttgart</strong> 1999, S. 57.<br />
2 Hammarskjöld, Dag: Zeichen am Weg. <strong>Stuttgart</strong> 2011, S. 97.<br />
3 Mögle-Stadel, Stephan: Dag Hammarskjöld, S. 94.<br />
4 Nordmeyer, Barbara: Zeitgewissen. <strong>Stuttgart</strong> 1966, S. 10.<br />
5 Mögle-Stadel, Stephan: Dag Hammarskjöld, S. 94.<br />
6 Hammarskjöld, Dag: Zeichen am Weg. <strong>Stuttgart</strong> 2011, S. 156.<br />
7 Ebd. S. 213, 8 Ebd. S. 134, 9 Ebd. S. 79, 10 Ebd. S. 207.<br />
11 Stolpe, Sven: Dag Hammarskjölds geistiger Weg. Frankfurt/Main<br />
1956, S. 115<br />
Lernen<br />
29
30<br />
Lernen<br />
Referate im Wintertrimester | 2012<br />
Grundstudium 2. Trimester<br />
Ballaty, Julia Simone Weil – ihr Durchbruch zur Christus-Erfahrung<br />
Güttinger, Nikolaus Fercher von Steinwand<br />
Rheinheimer, Michael Dag Hammarskjöld<br />
Steinberg, Rose Emil Bock<br />
Tietz, Helge Paracelsus<br />
Vertiefungsstudium 5. Trimester<br />
Davit, Soledad Über „Glaube, Liebe Hoffnung“ (GA 130; 2. u. 3.12.1911)<br />
Referate im Sommertrimester | 2012<br />
Grundstudium 3. Trimester<br />
Bruns, Astrid Die Freundschaft von Goethe und Schiller<br />
Horsington, Ben Julian Apostata<br />
Hurst, Diana Jeanne d'Arc<br />
Kluge, Andrea Schelling<br />
Kruczek, Anna Janusz Korczak<br />
Lapointe, Cécile George G. Ritchie<br />
Rögge, Julian Origenes<br />
Vertiefungsstudium 6. Trimester<br />
Zu öffentlichen Vorträgen von Rudolf Steiner<br />
Nowak, Rafal A. Die physische Welt und die moralisch-geistigen Impulse<br />
Vier Stufen des inneren Erlebens (GA 84; Dornach am 21.4.1923)<br />
Der Seminargeist<br />
Liebe Leser des Seminarbriefes!<br />
Nach guter, bewährter Sitte möchten wir alle Förderer im Winter- und Sommertrimester 2012 wieder sehr<br />
herzlich einladen, gemeinsam mit uns die Hauptkurse des 1. Jahres wahrzunehmen (Ausnahmen sind mit *<br />
gekennzeichnet). Die Kurse finden in der Regel von Montag bis Samstag von 9.15 bis 10.30 Uhr statt.<br />
Gerne können Sie auch in den Kurswochen mit uns morgens um 7.30 Uhr die Menschenweihehandlung in der<br />
Kapelle des <strong>Priesterseminar</strong>s feiern und uns danach bei einem guten Frühstück in geselliger Runde besser kennen<br />
lernen. Bei Interesse melden Sie sich bitte möglichst frühzeitig im Sekretariat des Seminars an, denn die<br />
Teilnehmerzahl ist begrenzt.<br />
Wir freuen uns auf Ihr Kommen!
Hauptkurse Sommertrimester 2012<br />
Grundstudium 3. Trimester<br />
April 23.04.-28.04. Das erste christliche Jahrtausend Gisela Thriemer<br />
Mai 30.04.-04.05. Lukasevangelium Engelbert Fischer<br />
05.05. freier Studientag<br />
07.05.-12.05. Trinität Michael Debus<br />
14.05.-19.05. Wie bildet sich ein musikalisches<br />
Verhältnis zu Christus? Lothar Reubke<br />
21.05.-26.05. Geheimwissenschaft im Umriß Stephan Meyer*<br />
Pfingsten freie Studienwochen (internationale Jugendtagung in Überlingen)<br />
Juni 04.06.-09.06. Christus und der Gral Andrew Wolpert<br />
11.06.-16.06. Weltreligionen Milan Horák<br />
18.06.-23.06. Theaterimprovisation Jörg Andrees*<br />
25.06.-30.06. Reformation Carola Gerhard<br />
Juli 02.07.-07.07. Junikurs Georg Dreißig*<br />
Vertiefungsstudium 6. Trimester<br />
April 23.04.-05.05. Apokalypse M.Oltmann-Wendenburg<br />
Mai 07.05.-12.05. Einführung in die Idee der sozialen<br />
Dreigliederung mit besonderem Blick<br />
auf die Gemeinde Alfred Wohlfeil<br />
14.05.-19.05. Wie bildet sich ein musikalisches<br />
Verhältnis zu Christus? Lothar Reubke<br />
21.05.-26.05. eigene Projekte<br />
Pfingsten freie Studienwoche (internationale Jugendtagung in Überlingen)<br />
Juni 04.06.-09.06. eigene Projekte<br />
11.06.-16.06. Gemeindearbeit (auch Ehe) Gisela Thriemer<br />
18.06.-23.06. Theaterimprovisation Jörg Andrees<br />
25.06.-30.06. Pastoralmedizin (männlich/weiblich) Christian Schikarski<br />
Juli 02.07.-07.07. Christologie Joachim Knispel<br />
Vorstellung der Projektarbeiten<br />
Änderungen vorbehalten, den aktuellen Stand entnehmen Sie bitte unserer<br />
Homepage: www.priesterseminar-stuttgart.de<br />
Lernen<br />
31
32<br />
Lernen<br />
Rudolf Köhler<br />
Im Vorbereitungskurs, der dem Weihekurs vorausgeht,<br />
ist es eine gute Sitte, dass jeder Kandidat sich<br />
aus dem Kreis der Urpriester einen Paten aussucht.<br />
Die Beschäftigung mit dem Leben dieses gewählten<br />
Urpriesters begleitet den Kandidaten durch die<br />
gesamte Vorbereitungszeit, an deren Ende er die<br />
Biografie in einem Vortrag innerhalb seiner Gruppe<br />
vorstellt. Paul Newton hat sich bereit erklärt, auch für<br />
uns über seinen Paten etwas zu schreiben.<br />
In den 1960er Jahren reiste Dr. Rudolf Köhler als<br />
Lenker für Nordamerika häufig zwischen Toronto<br />
(Kanada) und Chicago hin und her. Er war mit der<br />
Schweizer Familie Zinniker bekannt, die in die USA<br />
gezogen war und dort in der Nähe von East Troy/<br />
Wisconsin, einige Stunden nördlich von Chicago eine<br />
biologisch-dynamische Farm betrieb.<br />
Rosemarie Bergman, die erste Chicagoer Priesterin,<br />
die im September 2011 starb, erzählte mir, wie Dr.<br />
Köhler so oft wie möglich diese Familie besuchte<br />
und manchmal auch ein Kind taufte, wenn er dort<br />
war. Aber er wollte auch eine reale Verbindung<br />
schaffen zwischen dem sakramentalen Leben der<br />
Christengemeinschaft und der Arbeit einer heilenden<br />
Landwirtschaft. Frau Bergman berichtete, wie Dr.<br />
Köhler einmal zu Besuch war und einen LKW vorbeifahren<br />
sah, der ein Fertighaus geladen hatte. Da kam<br />
ihm die Idee, eine solche Konstruktion zu kaufen, auf<br />
die Farm zu bringen und dort als Kapelle zu nutzen.<br />
Gesagt, getan – die folgenden 50 und mehr Jahre<br />
kam fast jeden Monat ein Priester aus Chicago, um<br />
an einem Samstag auf der Zinniker-Farm zu zelebrieren.<br />
Diese Farm ist die älteste biologisch-dynamische<br />
Farm in den USA, und die Mitglieder dieser<br />
Gemeinde kommen aus einem weiten Umkreis. Eine<br />
derjenigen, die die Christengemeinschaft durch die<br />
Gemeinde in East Troy kennenlernten, ist meine Weiheschwester<br />
Ann Burfeind.<br />
Rudolf Köhler wurde 1899 geboren und war wie<br />
Rudolf Steiner Sohn eines Eisenbahnangestellten.<br />
Die Familie war deutsch, lebte aber im Gebiet der<br />
heutigen Tschechischen Republik. Mit zehn Jahren<br />
ging Rudolf Köhler auf das Gymnasium in Dresden.<br />
Gegen Ende des Ersten Weltkriegs leistete er einige<br />
Monate Militärdienst. Danach begann er sein<br />
Theologiestudium und steuerte auf eine Position in<br />
der evangelischen Kirche zu. In dieser Zeit lernte er<br />
die Anthroposophie kennen und engagierte sich sehr<br />
bald im örtlichen Zweig der Anthroposophischen<br />
Gesellschaft. Eines Tages fand er bei seiner Rückkehr<br />
in seine Studentenbude einen Zettel von Rudolf<br />
Frieling an der Tür, der ihn einlud, an den Vorbereitungen<br />
zur Gründung der Christengemeinschaft<br />
teilzunehmen. Damit begann eine lebenslange<br />
Freundschaft, die darin ihren Höhepunkt fand, dass<br />
beide in den 70er Jahren im Siebenerkreis zusammenarbeiteten.<br />
Rudolf Köhler war an Missionsarbeit interessiert und<br />
wurde ausgewählt, an einer Missionsreise der evangelischen<br />
Kirche nach China teilzunehmen. Er lernte<br />
Chinesisch und stürzte sich enthusiastisch auf das<br />
Studium der chinesischen Kultur. Weil er Priester der<br />
neuen Bewegung für religiöse Erneuerung wurde,<br />
konnte er dieses Ziel nicht verwirklichen. Dieser<br />
Leidenschaft verdanken wir aber zwei sehr interessante<br />
Artikel über China, die er Mitte der 20er Jahre<br />
für die Zeitschrift „Die Christengemeinschaft“<br />
schrieb. Darin erklärte er, dass die Intention “Christus<br />
aller Erde” (so der Titel anderer früher Publikationen<br />
unserer Bewegung) auch das riesige und sehr wichtige<br />
China einschließe. Er schreibt über die großen
spirituellen Traditionen Chinas, über Konfuzianismus,<br />
Taoismus und Buddhismus. Man bemerkt, dass<br />
er wie ein Missionar denkt (im positiven Sinne),<br />
insofern er wirklich versucht, die Kultur und Spiritualität<br />
Chinas zu verstehen und, ein ganz wesentlicher<br />
Punkt, wie man diese unterschiedlichen<br />
Traditionen mit dem Christentum verbinden könnte.<br />
Sehr viel später führten Dr. Köhler seine priesterlichen<br />
Aufgaben nach Fernwest statt nach Fernost.<br />
Vor dem Krieg aber gründete er die Christengemeinschaft<br />
in der Schweiz. Die erste Gemeinde entstand<br />
in St. Gallen, wo er auch heiratete und wo sein<br />
erstes Kind auf die Welt kam. Danach gründete er<br />
zusammen mit Rudolf Frieling die Wiener Gemeinde<br />
neu und diesmal erfolgreich. Später ging er nach<br />
Leipzig. Nach dem Krieg gab es eine aufregende<br />
Entwicklung in den USA. Zwei junge Amerikaner,<br />
Greg Brewer und Richard Lewis, kamen ans <strong>Stuttgart</strong>er<br />
<strong>Priesterseminar</strong>, wo auch Dr. Köhler lehrte.<br />
Rev. Lewis beschrieb, wie er Dr. Köhler in der Zeit<br />
erlebte: Er war groß und hielt sich sehr aufrecht, die<br />
Schultern hochgezogen. Er war extrem höflich, ja<br />
vornehm.<br />
Es war geplant, dass Frieling nach New York gehen<br />
sollte und Köhler nach Chicago. 1950 ging er nach<br />
London, um Englisch zu lernen, und wartete auf sein<br />
Visum. Weil er aber als deutscher Soldat im Krieg<br />
gewesen war – wenn er sich auch geweigert hatte,<br />
Offizier zu werden –, war für die Arbeit in Amerika<br />
gesperrt. Deshalb segelte er 1953 zusammen mit<br />
seinem jüngsten Sohn Andreas, der später ebenfalls<br />
Priester werden sollte, nach Kanada. Er ließ sich in<br />
Toronto nieder und gründete schnell eine Gemeinde,<br />
wobei ihm seine alten Verbindungen aus Wiener<br />
Zeiten halfen. Er besuchte regelmäßig Quebec und<br />
Ottawa und reiste jeden Monat 1300 km in seinem<br />
kleinen englischen Auto „Esmeralda“. Wie schwer es<br />
war, die urkanadische Bevölkerung zu erreichen,<br />
berichtete er 1955:<br />
„Das ist überall schwierig, an eigentliche Kanadier<br />
heranzukommen. Die seit Generationen hier Ansäs-<br />
sigen sind reiche und exklusive Leute und scheinen<br />
keine religiösen Probleme zu haben. Sie nehmen die<br />
zahllosen Kirchen und Sekten wie Naturereignisse<br />
hin und werten sie nach ihrer Art für ihre persönlichen<br />
oder sozialen Interessen aus — oder ignorieren<br />
sie ganz. Auch in der Anthroposophischen Gesellschaft,<br />
die kurz bevor wir kamen hier begründet<br />
wurde, sind nach fünzehnjährigen Bemühungen<br />
nicht mehr als zwei geborene Kanadier. Alle anderen<br />
kommen aus Europa oder den Vereinigten Staaten.<br />
Wenn wir in den drei Städten jetzt kleine Gemeinde<br />
haben, so sind sie nicht durch öffentliche Vortragstätigkeit<br />
entstanden, sondern durch die Weihehandlung,<br />
Predigten, Studienkreise und Seelsorge. Wir<br />
haben gleich mit der Weihehandlung angefangen<br />
am 1. Advent 1953 und auf das Kultische den größten<br />
Wert gelegt.”<br />
Später konnte Köhler in die USA reisen und wurde<br />
dort 1961 Lenker. Im selben Jahr weihte er Dorothy<br />
Hegg in Toronto als erste in Nordamerika.<br />
Ein kleines Detail über ihn kommt aus seiner späten<br />
Zeit in England. Er war Anfang der 70er Jahre nach<br />
Europa zurückgekehrt, arbeitete mit Frieling im<br />
Siebenerkreis und zog später nach England, wo er<br />
ein zweites Mal heiratete – die viel jüngere Margaret<br />
Roberts.<br />
Kapelle auf der Zinniker-Farm<br />
Lernen<br />
33
34<br />
Lernen<br />
… Rudolf Köhler<br />
Frau Ute Schobbert erinnert sich, dass Dr. Köhler aus<br />
ästhetischen Gründen, wie er sagte, einen Abscheu<br />
vor Kunstpostkarten hatte. Er nannte ihre häufige<br />
Verwendung in unseren Kreisen eine „anthroposophische<br />
Krankheit”.<br />
Ein anderes Detail aus seinen späten Jahren zeigt<br />
eine ganz andere Seite von ihm. Oliver Steinrueck,<br />
inzwischen selbst Lenker für Nordamerika, verbrachte<br />
in seiner Jugend einige Jahre in <strong>Stuttgart</strong> im selben<br />
Haus wie Dr. Köhler. Eines Abends übte er auf<br />
seiner Blockflöte, als es an der Tür klopfte. Dr. Köhler,<br />
Anfang 80, erklärte ihm, dass er selbst gerade<br />
Blockflöte lernen würde und ob sie nicht zusammen<br />
spielen könnten. Wenn wir in der Weihe die Worte<br />
hören, die den Priester als „Werdenden“ bezeichnen,<br />
dann können wir an jenen würdigen alten Herrn<br />
denken, der es in seinem hohen Alter noch unternahm,<br />
ein Musikinstrument zu erlernen.<br />
Dr. Köhler schrieb ein Büchlein für die Christengemeinschaft:<br />
„Weihe des Sterbens“ (1930). Wenn<br />
Die Welt als Gleichnis –<br />
wie wird Geist greifbar?<br />
Öffentlicher Sommer-Kurs am <strong>Priesterseminar</strong><br />
<strong>Stuttgart</strong><br />
„Kloster auf Zeit“<br />
von Mittwoch, 11. Juli 2012, 17.00 Uhr<br />
bis Mittwoch, 18. Juli 2012, 21.15 Uhr<br />
Leitung: Andreas Weymann in Zusammenarbeit mit<br />
Sabine Layer und Dr. Barbara Hoos de Jokisch.<br />
Weitere Informationen bei:<br />
<strong>Priesterseminar</strong> <strong>Stuttgart</strong><br />
Spittlerstr. 15 | D-70190 <strong>Stuttgart</strong><br />
Tel: 0711-166 83 08 | Fax: 0711-16 68-24<br />
e-mail: info@priesterseminar-stuttgart.de<br />
man dies zusammen nimmt mit den Berichten über<br />
seine Aktivitäten, kann man sein tiefes Gefühl für die<br />
Sakramente mitempfinden. Man kann verstehen,<br />
dass er nach seiner Zeit im Siebenerkreis zur Arbeit<br />
als Gemeindepfarrer zurückkehren wollte.<br />
Rudolf Gädecke, der kurze Biografien der Gründer<br />
aufgeschrieben hat, zitiert Dr. Köhler: „Es ist zum<br />
Chinesisch-Werden interessant.” Man könnte sich<br />
fragen, ob er nicht tatsächlich diesen ursprünglich<br />
weltumfassenden Christusimpuls in dieser Richtung<br />
nach seinem Tod nahm.<br />
Ich danke den Priestern Richard Lewis, Werner<br />
Grimm, Oliver Steinrueck, Jim Hindes und Pearl<br />
Goodwin sowie Frau Ute Schobbert in <strong>Stuttgart</strong> und<br />
Irene Mayerhofer in Toronto für ihre Hilfe bei meinen<br />
Versuchen, mehr über das Leben von Rudolf<br />
Köhler herauszufinden. Nur ein kleiner Teil meiner<br />
Erkenntnisse fand Raum in diesem Artikel. Ich würde<br />
gern mehr über ihn herausfinden. Bitte schreiben Sie<br />
mir unter: paulknewton@msn.com.<br />
Priester werden – ich?<br />
Unter dieser Fragestellung hat auch in Graz (A)<br />
ein Proseminar-Keimling mit Teilnehmern aus<br />
Österreich, Slowenien und Kroatien erste grüne<br />
Blätter hervorgebracht.<br />
Seit September 2011 trifft man sich im Monatsrhythmus<br />
an Wochenenden zur Arbeit an<br />
Evangelium und Credo und zur Vertiefung der<br />
Sakramentenkunde und Christologie, Übungen<br />
an der Sprache und Eurythmie gehören dazu.<br />
Die weitere Entwicklung wird derzeit beraten.<br />
Informationen können angefordert werden bei:<br />
Engelbert Fischer<br />
Menendorfberg 64<br />
A-8042 Graz
Neugeweihte Priester<br />
Von links nach rechts<br />
sitzend<br />
Von links nach rechts<br />
stehend<br />
Ann Burfeind, 1970, USA (entsandt nach Chicago, USA)<br />
Ardan Heerkens, 1973, Niederlande (entsandt nach Amsterdam, Niederlande)<br />
Arnold Lansing, 1983, Deutschland (entsandt nach Hannover, Deutschland)<br />
Paul Newton, 1964, Großbritannien (entsandt zunächst nach Stroud, UK)<br />
Daan Ente, 1960, Niederlande (entsandt nach Herdecke, Deutschland)<br />
Darryl Coonan, 1957, Australien (entsandt nach Boston, USA)<br />
Lernen<br />
35
36<br />
Lernen<br />
Der Beginn einer Reise mit Paulus<br />
| Adam Ricketts, derzeit im Praktikum in Basel<br />
Im zweiten Trimester des zweiten Jahres am<br />
<strong>Priesterseminar</strong> nehmen die Paulusbriefe eine zentrale<br />
Stellung ein. Während dieser zehn Wochen<br />
waren wir aufgerufen, jeweils zu zweit einen der<br />
Briefe zu studieren, vorzubereiten und dann zwei<br />
Kursstunden über diesen Brief zu gestalten. Darüber<br />
hinaus hatten wir die Möglichkeit, in zwei Projektwochen<br />
an den Paulusbriefen oder an damit<br />
verwandten Themen zu arbeiten.<br />
Für viele und auch für mich sind die Paulusbriefe<br />
immer wieder eine Entdeckung. Manches kennt man<br />
sicherlich, doch an wie vielen glänzenden Juwelen,<br />
die so überreich in der Lehre des Paulus verstreut<br />
sind, geht man vorüber, ohne sie wirklich wahrzunehmen!<br />
Umso mehr erstaunt man darüber, wie ein<br />
einziger Mensch, ein Riese von einem Menschen im<br />
Grunde, das Christentum in der bekannten Welt<br />
alleine verbreiten konnte. Und wie er aus seinem Erlebnis<br />
vor Damaskus und seiner daraus entstandenen<br />
Beziehung zum auferstandenen Christus sein tiefes<br />
Wissen schöpfte und seine Lehre entwickeln konnte.<br />
Paulus beschreibt sich selbst als „zu früh geboren“.<br />
Was meinte er damit? An der Art seines Ausdrucks<br />
und an dem Entwicklungsprozess, den er in seinen<br />
Briefen durchmacht, können wir verfolgen, wie er<br />
mit seinem starken Willen ringt, einem Willen, der<br />
ihn vorwärts treibt und der nach einem blinden<br />
Fanatismus gegen die Christen immer mehr von den<br />
Kräften eines neuen Bewusstseins durchdrungen<br />
wird. Aus diesem Willen entwickeln sich lebendige<br />
Begriffe und Ideen, die nicht abstrakt und fertig sind,<br />
sondern keimende Samen für die heutige Zeit bilden.<br />
Paulus lebt nicht nur mit einer Bewusstseinsseele in<br />
der Kultur der sich entwickelnden Verstandesseele,<br />
1500 Jahre bevor sich die Bewusstseinsseele in der<br />
ganzen Menschheit durchzusetzen begann, sondern<br />
erstreckte sich noch über diese hinaus. Er mühte sich<br />
ab, die hervorbrechenden Kräfte der Selbstreflexion,<br />
des Verstandes, sich entgegen den Tendenzen der<br />
Bewusstseinsseele in Abstraktionen zu bewegen, mit<br />
lebendigen Ideen aus der Wärme des Herzens und<br />
dem gebündelten Willen zu durchtränken. Es ist ein<br />
schönes Bild, sich vorzustellen, wie Paulus durch die<br />
mysterienreichen Orte Kleinasiens wandelt, vorbei<br />
an der schönen und kunstvollen Geschichte<br />
Griechenlands, hin zu den genialen Gesetzesmachern<br />
und Technikern Roms. Paulus ging seinen Weg<br />
von den Willenskräften der Mysterien, durch das<br />
vom Gefühl der Weite durchdrungene Leben Griechenlands<br />
zu der starken, formenden Verstandeskraft<br />
Roms. Er verstand alle Menschen die er traf,<br />
war fähig, sie dort abzuholen, wo sie standen und<br />
ihnen einen Weg zu einem Bewusstsein des neuen<br />
Impulses zu zeigen, der alles bisher Entstandene beleben<br />
und in die Zukunft fortsetzen wollte.<br />
In seiner Aussage, dass der auferstandene Christus<br />
die Verkörperung des Gesetzes und dass „das Gesetz“<br />
nunmehr das Ideal „einander zu lieben“ geworden sei,<br />
zeigt er, wie weit sein visionärer Geist in zukünftige<br />
Zeiten reicht. Gab es jemals einen Menschen, der den<br />
Geist des Wandels so radikal, selbstlos, leidenschaftlich<br />
und menschlich verkörperte wie Paulus?<br />
In der „Philosophie der Freiheit“ beschreibt Rudolf<br />
Steiner, wie die Menschheit an Stelle der von außen<br />
an sie herangetragenen Richtlinien mehr und mehr<br />
dazu kommt, ihre eigenen, intuitiv erkannten moralischen<br />
Impulse als Wegweiser zu sich selbst anzuerkennen.<br />
Dieser Prozess birgt in sich das Ziel, die Gelegenheit<br />
und auch die Verantwortung, eine neue<br />
Welt zu schaffen, die auf der Liebe gründet.<br />
Paulus versuchte diese Ideen und Impulse schon vor<br />
zweitausend Jahren zu erfassen. Seit dieser Zeit ist<br />
er eine zentrale Figur in der Entwicklung des Christentums,<br />
die Millionen von Menschen bei ihrer Frage<br />
nach einer Beziehung zu Christus inspiriert und<br />
begeistert, manchmal missverstanden, manchmal<br />
aus dem Zusammenhang gerissen, missbraucht, aber
immer im Zentrum. Man kann das Gefühl bekommen,<br />
dass es noch viel gibt, was Paulus uns sagen<br />
will und dass erst spätere Zeiten die wahre Tiefe seines<br />
Werkes enthüllen werden. Es ist, als ob wir erst<br />
jetzt beginnen würden, die Sinne zu entwickeln, die<br />
wir brauchen, um seine Bilder zu verstehen.<br />
Vor diesem Hintergrund scheint es wichtig, die paulinischen<br />
Ideen und Konzepte nicht nur als „inspirierend“<br />
oder „ermutigend“ zu betrachten. In der Sprache<br />
seiner Zeit entwickelte er eine Reihe von Bildern,<br />
die sein tiefes Verständnis des sich entwickelnden<br />
Verhältnisses des Menschen zum lebendigen Christus<br />
zeigen.<br />
Ich möchte im Folgenden das Bild der göttlichen<br />
Waffenrüstung näher betrachten. Paulus macht<br />
deutlich, dass wir als Menschheit nicht gegen<br />
Mächte aus Fleisch und Blut, sondern gegen geistige<br />
Mächte der höchsten Hierarchien kämpfen. Wir<br />
sind aufgerufen, die göttliche Rüstung anzulegen,<br />
um uns in diesem Kampf zu schützen. Das beginnt in<br />
der Körpermitte: Wir sollen unsere Hüften mit Wahrhaftigkeit<br />
gürten, die Brust mit dem Harnisch der<br />
Rechtschaffenheit schützen, unsere Füße mit der<br />
Bereitschaft, das Evangeliums des Friedens zu verbreiten,<br />
beschlagen, den Schild des Glaubens aufnehmen,<br />
unser Haupt mit dem Helm des Heils schützen<br />
und das Schwert des Gotteswortes ergreifen.<br />
Vieles in diesem Bild kann uns schon Stärke geben,<br />
uns inspirieren, uns standhaft machen und uns<br />
ermutigen, unseren Weg zu gehen. Doch wir können<br />
noch etwas Grundsätzlicheres in diesem Bild sehen.<br />
Wenn wir diese Waffenrüstung darstellen wollen,<br />
können wir dies etwas abstrahiert in der folgenden<br />
Art und Weise tun:<br />
Helm des Heils<br />
Schwert des Wortes | Schild des Glaubens<br />
Harnisch der Rechtschaffenheit<br />
Schuhe des Friedens | Gürtel der Wahrhaftigkeit<br />
Dann sehen wir: Der Mensch wird in Kreuzgestalt<br />
gekleidet, und dieses Kreuz schützt ihn von allen<br />
Seiten mit den Eigenschaften der göttlichen Waffenrüstung.<br />
Wir sehen dann, wie eine klare Unterscheidung<br />
zwischen dem inneren und äußeren Sein<br />
des Menschen besteht. Während wir im normalen<br />
Leben Schutzkleidung anziehen können und dadurch<br />
automatisch geschützt sind, müssen wir bei der<br />
göttlichen Waffenrüstung selbst aktiv werden. Wir<br />
müssen dafür aufwachen, was es im täglichen Leben<br />
bedeuten kann, diese Rüstung anzulegen. Bekleide<br />
ich mich mit den Schuhen des Friedens, bringe ich<br />
auch wirklich Frieden oder etwas anderes? Fordert<br />
der Gürtel nicht Wahrhaftigkeit in dem, was ich tue?<br />
Was lebt in meinen Gedanken und Vorstellungen –<br />
das Heil oder etwas anderes?<br />
Lernen<br />
37
38<br />
Lernen<br />
… Der Beginn einer Reise mit Paulus<br />
Die göttliche Waffenrüstung wird dann nicht nur ein<br />
Schutz, sondern auch ein Fenster in mein eigenes<br />
Sein. Wahrhaftigkeit sollen wir dort umlegen, wo<br />
unsere Bedürfnisse, Instinkte und Impulse schlafen,<br />
im völlig unbewussten Bereich des Willens. Und<br />
doch ist Wahrhaftigkeit nicht ohne das Licht des<br />
Bewusstseins und die Kräfte des Herzens zu erlangen.<br />
Den Gürtel der Wahrhaftigkeit um die Hüften<br />
zu legen, wird damit zur Aufforderung, die verschwommenen<br />
Tiefen unseres Selbst mit Bewusstsein<br />
zu durchdringen. Genauso bin ich aufgerufen,<br />
den Bereich des Denkens und seine Tendenz, sich<br />
selbst zu isolieren und sich in abstrakten, gedanklichen<br />
Bildern zu verhärten, mit den belebenden<br />
Kräften der Erlösung zu durchdringen, mit den Kräften<br />
der Wärme, mit dem neuen Leben künstlerischer<br />
Beweglichkeit.<br />
Die Bewusstseinsseele ist der Teil unseres Seins, der<br />
es uns erlaubt, objektiv auf uns selbst zu schauen, zu<br />
lernen, wie wir aus uns selbst und in der Welt handeln.<br />
Die göttliche Waffenrüstung gibt uns das<br />
Werkzeug in die Hand, uns selbst zu erkennen und<br />
wir selbst zu werden.<br />
Paulus ist ein Mensch unserer Zeit, und was er<br />
gelehrt hat, richtet sich an uns. Zweitausend Jahre<br />
sind seither vergangen. Ist es für die Menschheit<br />
nicht langsam an der Zeit, sich auf den Weg zu<br />
machen und „aufgefordert durch Paulus“ Ruf, die<br />
göttliche Waffenrüstung anzulegen?<br />
Haikus über das erstorbene Wort<br />
| Blütenlese aus dem Wortkurs im vergangenen Herbsttrimester<br />
Lebenslos und still<br />
Die Worte auf dem Papier<br />
Schwarz auf weiß und leer.<br />
Karin Eppelsheimer<br />
Forest filled with life<br />
Becomes a page where I plant<br />
The urns filled with dust.<br />
Rafal Nowak<br />
Leben. Es erstarrt.<br />
Kalte leblose Hülle<br />
Bleibt zurück. Leer. Tot.<br />
Caspar v. Loeper<br />
In mir war der Sinn<br />
Weil das Wort in mir lebte<br />
Bis der Verstand kam.<br />
Sebastian Schütze<br />
Für dich ging ich ganz<br />
In den kalten schwarzen Tod.<br />
Wirst du mich lieben?<br />
Geert Möbius<br />
Katastrophal arm<br />
Mit vielberedtem Schweigen<br />
Prahlt modernes Wort<br />
Annette Semrau
Leben mit einem Weihekandidaten<br />
| Ein kleiner Einblick von Angélique Heerkens<br />
Am Tag, als der Vorbereitungskurs begann, hat unser<br />
Sohn das erste Mal laut gelacht. Er war sechs<br />
Wochen alt und wir so verliebte Eltern, dass der Blick<br />
in den Kinderwagen ihn wahrscheinlich so sehr freute.<br />
Sein mutiger Schritt in das Erdenleben hat uns<br />
eigentlich das ganze halbe Jahr, das der Weihekurs<br />
dauerte, getragen. Er erinnerte uns, wie viel Kraft<br />
und Mut man als Mensch haben kann aus Liebe zu<br />
dieser Welt, zum Leben.<br />
Auf diesen mutigen Schritt haben wir lange gewartet,<br />
weil wir ihn viel eher erwartet hatten. Der Bauch<br />
wurde größer und größer, und der errechnete Termin<br />
war schon überschritten. Wir kamen an einen Punkt,<br />
wo es fast nicht mehr zum Aushalten war, die<br />
Spannung so groß, dass doch endlich etwas passieren<br />
musste. Als wir durch diesen Punkt hindurch<br />
gegangen sind, waren wir ruhiger als zuvor, konnten<br />
die Zeit aushalten, die es brauchte, bis unser Sohn<br />
den Kairos des Erdenlebensbeginns empfunden hat.<br />
Für mich, aus der Peripherie betrachtet, ist der<br />
Vorbereitungs- und spätere Weihekurs nicht das<br />
Absolvieren bestimmter Lerninhalte, sondern es bildet<br />
sich ein Raum, in dem die Kandidaten so sehr mit<br />
sich selbst in Berührung kommen können, dass sie<br />
einen ebensolchen mutigen Schritt machen können.<br />
Denn das ist auch deutlich wahrnehmbar: dass in<br />
dieser Zeit jeder für sich prüft, ob er diesen schicksalsprägenden<br />
Schritt machen möchte, ob die<br />
Berufung zum Priester wirklich seine ist in diesem<br />
Leben.<br />
Diese Bewegungen haben wir als Familie natürlich<br />
mitgemacht, weil auch unser Leben sich dadurch<br />
stark verändern wird. Es sind Fragen, die man nicht<br />
einfach so entscheiden kann, da gibt es nichts abzuwägen,<br />
es ist eher ein Aushalten, die Fragen tragen,<br />
bis man spürt, ob das Leben da mitgehen will.<br />
Rilke hat in einem Brief an den jungen Dichter Franz<br />
Xaver Kappus geschrieben, dass er die Fragen „leben“<br />
soll. „Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten,<br />
die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie<br />
nicht leben könnten. Leben Sie die Fragen. Vielleicht<br />
leben Sie dann allmählich … in die Antwort hinein.“<br />
Für dieses Hineinleben in die Fragen, dafür bildet der<br />
Vorbereitungskurs den Raum. So haben wir also<br />
jeden Tag mehr in die Antwort hinein gelebt und<br />
wurden nicht zuletzt durch das Strahlen unseres<br />
Sohnes darin bestärkt, dass die Antwort richtig ist.<br />
Leben & Begegnung<br />
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Leben & Begegnung<br />
40<br />
Vom Werden ... und wie man Priester wird.<br />
| Eindrücke von der Orientierungswoche und anschließenden Priesterweihe<br />
| März 2012, Corinna Gehrmann<br />
Ich sitze in der Sonne und denke an eine Woche zurück,<br />
die mit einer Suche begann und einer Priesterweihe<br />
endete. Ende Februar führte mich meine<br />
Suche ins <strong>Priesterseminar</strong> nach <strong>Stuttgart</strong> zu einer<br />
Orientierungswoche. Ich wusste zwar, dass es dort<br />
zur selben Zeit eine Priesterweihe geben würde,<br />
doch das interessierte mich nicht primär. Mich interessierte<br />
vielmehr, was es mit mir und dem <strong>Priesterseminar</strong><br />
auf sich hat. Der Ort war schnell gefunden,<br />
der innere Weg, der mich dorthin führte, war weniger<br />
klar. So saß ich in <strong>Stuttgart</strong> erst einmal nachdenklich<br />
im Schlosspark. Es nieselte.<br />
Grübelnd, warum ich hier bin, wurde mir klar: Ich<br />
folge einem Ruf. Am <strong>Priesterseminar</strong> angekommen,<br />
etwas nervös doch auch voller Vorfreude, traf ich auf<br />
meine Mitteilnehmenden. Eine bunte, internationale<br />
Gruppe aus Interessierten, Suchenden und Fragenden<br />
tummelte sich um einen bereits für uns gedeckten<br />
Tisch. (An dieser Stelle sende ich einen Dank an<br />
die Köchinnen für das gute Essen und an alle Seminarmitarbeiter<br />
und -bewohner für die Gastfreundschaft.)<br />
Und bald stellte sich heraus, dass sie alle<br />
irgendwie einem Ruf folgten, ob sie nun Antworten<br />
auf ihre Fragen oder ihre Aufgabe in der Welt suchten.<br />
Wie es bei den Orientierungswochen üblich ist,<br />
nahmen wir im Lauf dieser Woche am Hauptkurs der<br />
Seminaristen des 2. Trimesters teil, an Fachstunden<br />
und ein bisschen am Alltag des Seminarlebens. Der<br />
Hauptkurs war die Einführung in die Priesterweihe.<br />
Da erst stellte ich fest, welches Glück ich hatte,<br />
genau an diesem Orientierungskurs teilzunehmen.<br />
Denn zum Einen konnte ich meine lange gehegten<br />
Vorbehalte gegen die Begriffe „Kirche“ und „Priester“<br />
endlich auflösen. Zum Anderen konnte ich einen<br />
Eindruck von den Mitgliedern des Siebenerkreises<br />
gewinnen, die für die Priesterweihe anreisten und als<br />
Lenkende das „administrative Herz“ der Christengemeinschaft<br />
bilden. Im Hauptkurs bewegten wir zunächst<br />
die Frage, was denn Kirche und Priestertum<br />
heute noch bedeuten. Und wir lernten: „Die Kirche<br />
kann, wenn sie sich selber richtig versteht, nur die<br />
eine Absicht haben, sich unnötig zu machen auf dem<br />
physischen Plane, indem das ganze Leben zum<br />
Ausdruck des Übersinnlichen gemacht wird.“ 1 Allein<br />
dieser Satz ließ mich aufatmen, denn er beinhaltet<br />
den wunderschönen Gedanken, dass in der Begegnung<br />
mit einem anderen Menschen eine Begegnung<br />
mit Gott stattfinden kann, dass wir ein „Tempel<br />
Gottes“ sein können 2 .<br />
Nun folgte natürlich die logische Frage, wozu wir<br />
denn Priester brauchen, wenn die Kirche sich doch<br />
eigentlich unnötig machen soll? Wir hörten einen<br />
Kurzabriss der Historie der Einweihungsriten, des<br />
Bedeutungswandels der Einweihung in die geistige<br />
Welt bis hin zur heutigen Situation, in der der<br />
Mensch mit allem Wissen über die geistige Welt<br />
bereits geboren wird. Leider, um alles im Lauf des<br />
Heranwachsens zu vergessen, um es dann neu lernen<br />
zu müssen. Oder auch nicht „leider“?<br />
Passend zu dieser Frage fand in dieser bemerkenswerten<br />
Woche im Rudolf-Steiner-Haus ein Vortrag<br />
von Herrn Debus statt, zum Thema „Die Karmafrage<br />
als soziale Frage“. Herr Debus referierte über die<br />
Bedeutung von Gemeinschaftsprozessen für das<br />
Karma Einzelner. Um die Gemeinschaft fähig zu<br />
machen, an einem Tempel zu bauen, müsse jeder<br />
Einzelne das verwirklichen können, was er eigentlich<br />
will. Denn in diesem „eigentlich“ stecke der Inkarnationsimpuls,<br />
den dieser Mensch mit auf die Erde<br />
bringe. Und die soziale Aufgabe bestehe auch darin,<br />
dieses Wollen im Anderen zu erkennen ... Michael<br />
Debus nannte es „interpretieren“.<br />
Diese Aufgabe könnte also auch eine besonders<br />
befähigte Arbeitsberatung des „Jobcenters“ sein.<br />
Dafür braucht es keine Priester. Auch das Jobcenter<br />
hat übrigens das Ziel, sich selbst unnötig zu machen,<br />
ebenso wie ein guter Therapeut, Erzieher oder<br />
Zahnarzt. All diese Berufsbilder übernehmen die<br />
Aufgabe, einen hilfsbedürftigen Zustand eines<br />
Menschen zu erkennen und diesen Menschen zu
egleiten, bis er keiner Hilfe mehr bedarf, um gesund<br />
und aus sich heraus lebensvoll zu sein. Wir lernen,<br />
„Werkzeuge“ zu benutzen, Zahnbürsten oder eben<br />
seelische Werkzeuge, wie z.B. die Stimme unseres<br />
Gewissens, die uns sagt, ob wir mit dem, was wir<br />
sein wollen, übereinstimmen. Nun wiederholt sich<br />
die Frage: Wenn, optimistisch ausgedrückt, unsere<br />
Gesellschaft alles bereithält, um einen Menschen<br />
gesund zu machen und in seinen Fragen unterstützend<br />
zu begleiten: Wozu brauchen wir dann noch<br />
Priester?<br />
Nun, der Clou liegt hier im Bewusst-Werden unserer<br />
geistigen Herkunft und des „göttlichen Ebenbildes“<br />
in uns. Die Mitglieder christlicher Gemeinschaften<br />
oder auch verschiedener spiritueller Strömungen<br />
ahnen ja zumindest, dass sich in der Stimme des<br />
Gewissens mehr verbirgt, als nur ein Wegweiser für<br />
ein zufriedenes Leben oder das Mit-sich-im-Reinensein.<br />
Sie suchen einen Raum, in dem sie diesem<br />
„Mehr“ begegnen können. Und hier werden in der<br />
christlichen Gemeinschaft die Priester gebraucht. In<br />
der Menschenweihehandlung entsteht so ein Raum,<br />
in dem jedem Einzelnen die Möglichkeit gegeben<br />
wird, in seinem Ich das, was wir „Christuskraft“ oder<br />
„Christuswesenheit“ nennen, als wirksam zu erleben.<br />
In der Menschen-Weihe-Handlung sagt der Priester<br />
„Christus in euch“. Der Ministrierende antwortet:<br />
„Und Deinen Geist erfülle er“. Denn es kann nur ein<br />
von Christus erfüllter Geist glaubwürdig einen Kultus<br />
vollziehen, der eine so unglaubliche Strahlkraft<br />
hat wie die Menschenweihehandlung. Als Pfarrer<br />
und Mensch unter Menschen ist es dann unter anderem<br />
eine Aufgabe, Einzelnen zu helfen, diesen in der<br />
Menschenweihehandlung erlebten Raum als verinnerlichten<br />
Raum zu etablieren. (Ich nenne diesen<br />
Raum manchmal augenzwinkernd meine innere<br />
„docking station“).<br />
Ich habe während dieser Orientierungswoche erlebt,<br />
mit welchem Ernst der Weg verbunden ist, der einen<br />
zu einem Priester und Pfarrer für die Menschen<br />
macht. Man muss leer werden, um Gott völlig in sich<br />
aufnehmen zu können. 3 Tiefe innere Gespräche und<br />
Auseinandersetzungen mit sich selbst sind Teil des<br />
Studiums am <strong>Priesterseminar</strong>.<br />
Aber auch Lachen und Herzlichkeit durften wir erleben.<br />
Parallel zu unserem „Schnupperkurs“ fanden die<br />
Vorbereitungen der Weihekandidaten für die Priesterweihe<br />
statt. Ein interessantes Bild: Lustig herumflatternde<br />
Neugierige in den Fluren, recht ernste<br />
Zeremonien hinter einzelnen Türen...<br />
Im weiteren Verlauf des Hauptkurses lernten wir<br />
noch so manches über den Ablauf der Priesterweihe,<br />
die gesprochenen Worte, die Handlungen und den<br />
tieferen Sinn all dessen. Während der Priesterweihe<br />
selbst war es, als wären wir Gast bei einem abschließenden<br />
Ritual eines lange zuvor begonnenen Weges.<br />
Die Kandidaten wurden durch die Gemeinschaft der<br />
Priester und durch die Anerkennung ihres steten<br />
Werdens zu neuen Mitgliedern der Gemeinschaft der<br />
Priester ernannt. Und in diesem Werden, das zu dem<br />
eigentlichen Wollen dazugehört, wird ihnen hoffentlich<br />
alle erdenkliche Unterstützung zuteil.<br />
1 Rudolph Steiner: „Was tut der Engel in unserem Astralleib?“<br />
In: Der Tod als Lebenswandlung (GA 182), Vortrag vom 09.10.1918<br />
2 Frei nach Paulus: 1. Korinther 3,16.<br />
3 Frei nach Meister Eckhart: Das Buch der göttlichen Tröstung.<br />
41
Leben & Begegnung<br />
42<br />
Brauergärten<br />
| Nikolaus Güttinger, 3. Trimester<br />
In Zürich gibt es ein Rotlichtmilieu. Es ist nicht groß,<br />
erstreckt sich aber doch über einige Straßen und<br />
Gässchen. Im rausten Eck, es wird im Volksmund<br />
Bermuda-Dreieck genannt, weil dort nicht Schiffe,<br />
aber Menschen verschwinden, möchte ich einen<br />
mobilen Garten auf einem Kiesplatz gründen. Bis<br />
August dieses Jahres soll ein schöner Quartiergarten<br />
mitten im Milieu entstehen. Was wie eine Utopie<br />
klingt, möchte ich tatsächlich versuchen.<br />
Ein Garten aus Recyclingmaterial<br />
Angepflanzt wird in so genannten Pflanzboxen. Das<br />
sind Kisten und Säcke, die aus Recyclingmaterial bestehen<br />
und aus der Lebensmittelbranche stammen.<br />
Diese Pflanzboxen werden mit Bioerde befüllt. Dann<br />
wird gesät, gesetzt und gesteckt. Aus einem alten<br />
Einkaufskorb wächst so z.B. ein Kopfsalat, in einer<br />
ausgemusterten Brotbox eine Handvoll Karotten, in<br />
einem Reissack gedeiht Kohl, aus alten Milchpacks<br />
kommt Pfefferminze, Erdbeeren wachsen in Einkaufswägen.<br />
All diese verschiedenen mobilen Pflanzboxen werden<br />
dann auf dem Kiesplatz, welchen ich von der Stadt<br />
gepachtet habe, zu einem Garten angelegt. Statt in<br />
den üblichen Beeten, wachsen die Pflanzen in diesem<br />
Garten also in Boxen und Säcken, die gut<br />
zugänglich, unproblematisch zu bewässern und zu<br />
pflegen sind. Alle Pflanzboxen sind ohne maschinelle<br />
Hilfe transportierbar. Mit dieser Gartenbauart<br />
kann unabhängig von der Bodenbeschaffenheit und<br />
Bodenqualität jeder Standort begrünt werden, auch<br />
die versiegelte Fläche an der Brauerstrasse, wo der<br />
Garten entstehen soll. Und sie ist nicht nur versiegelt,<br />
sondern mit Bauabfall kontaminiert. Sie darf<br />
deshalb nicht einfach gepflügt und mit guter Erde<br />
angereichert werden. Die Fläche muss so bleiben,<br />
wie sie ist, denn die Stadt möchte diese Fläche<br />
irgendwann einmal verbauen. Darum ist der Vertrag<br />
auf drei Jahre beschränkt, danach muss der ganze<br />
Garten umziehen. Ich hoffe aber, dass die Stadt bis<br />
dahin kein Baugesuch erstellt hat.<br />
Ziele<br />
Mit dem Garten will ich zusammen mit den<br />
Anwohnern einen kleinen friedlichen Platz in einer<br />
sehr rauen und zuweilen auch brutalen Gegend<br />
schaffen. Es soll eine kleine grüne Garteninsel mit<br />
Blumen, Gemüse, Beeren und kleinen Bäumchen<br />
entstehen. Ich will nicht missionieren oder Menschen<br />
verändern oder bekehren - sondern einfach<br />
nur gärtnern. Gärtnern ist sinnvolle Arbeit, und sinnvolle<br />
Arbeit verbindet Menschen. Da braucht es<br />
nicht „Sozikulturellanimationstherapeuten“, sondern<br />
die Möglichkeit, dass jeder seine eigenen Fähigkeiten<br />
einbringen kann. Im Garten gibt es immer etwas,<br />
das jeder kann und sei es nur Erdbeeren probieren<br />
oder gießen oder staunen. Das Gartengelände ist<br />
umringt von Nachtclubs und Bordellen. Wenn ich an<br />
den Wochenenden vom Bahnhof zum Garten gehe,<br />
werden mir Drogen und Frauen angeboten. Es ist<br />
schon ein bisschen eine andere Welt als im<br />
<strong>Priesterseminar</strong>. Die Sprache, der Umgang und vor<br />
allem die Kleidung ist anders. Aber auch an der<br />
Brauerstrasse sind es nur Menschen, Menschen die<br />
etwas suchen - ähnlich wie am Seminar, nur auf eine<br />
andere Art.
Organisation<br />
Die Schweiz ist ein Vereinsland. Es gibt für alles<br />
Vereine. Und tatsächlich: will man etwas auf die<br />
Beine stellen, funktioniert das besser als Verein, als<br />
wenn man nur Privatperson ist. Die Leute haben<br />
mehr Vertrauen, wenn man ein Verein ist. Ich weiß<br />
nicht, woher dieser Vereinswille kommt, wahrscheinlich<br />
hängt das mit dem Kantönligeist zusammen.<br />
Ich habe darum auch einen Verein gegründet.<br />
Dazu braucht man Statuten (Satzung), ein Gründungsprotokoll,<br />
einen Kassier, einen Protokollschreiber<br />
und einen Präsidenten. Die Statuten und<br />
das Gründungsprotokoll habe ich in den Weihnachtsferien<br />
geschrieben. Dann habe ich meinen<br />
Kumpel gefragt, ob er Kassier werden will, und er<br />
sagte zu. Darauf fragte ich meinen Bruder, ob er das<br />
von mir geschriebene Gründungsprotokoll mit seinem<br />
Namen unterschreiben könne, und er tat`s. Nun<br />
war der Verein schon fast gegründet. Es fehlte nur<br />
noch der Präsident. Ich stellte mich zur Verfügung<br />
und wurde ohne Gegenstimme gewählt. So wurde<br />
ich am 2. Dezember 2012 Präsident des Vereins<br />
Brauergarten.<br />
Meine Aufgabe als Möchtegern-Präsident ist alles<br />
Organisatorische. Ich investiere viel Zeit mit dem<br />
Schreiben irgendwelcher Budgets und Konzepte. Alle<br />
wollen Budgets und Konzepte, es scheint, als wäre<br />
die Welt verrückt danach, dabei ist es eine kleine<br />
Fläche von nur 200 m 2 . Auch ist die Suche von<br />
Plastikkisten schwieriger, als ich bis anhin dachte.<br />
Aber der Verein (ich) ist optimistisch, bis Ende März<br />
genügend Kisten, Einkaufswägen und Säcke beisammen<br />
zu haben, damit wir dann endlich mit dem<br />
Gartenaufbau beginnen können und das „nur drüber<br />
reden“ aufhört.<br />
Vorblick<br />
Anfang März war das Grundstück noch ein Kiesplatz.<br />
Mitte März, wenn im Seminar Ferien sind, werden 22<br />
m 2 Bioerde, ca. 150 alte Reissäcke, ca. 100 Plastikkisten,<br />
10 Obstbäume sowie mehrere alte Salzkisten<br />
als Geräteschuppen geliefert. Dann beginnt die<br />
große Aufstellarbeit. Kisten und Säcke werden mit<br />
Erde gefüllt, Regenwassertonnen und Infotafeln aufgestellt,<br />
Samen und Setzlinge organisiert, Interessenten<br />
informiert ... aber, wenn ich ehrlich bin: Wie<br />
genau das vonstatten gehen wird, weiß ich noch<br />
nicht. Irgendwie wird es schon gehen...<br />
Ende März wird der erste Infotag auf dem Gelände<br />
des zukünftigen Gartens stattfinden. Quartierbewohner<br />
werden eingeladen, mit alten Tetrapacks auf<br />
das Gelände zu kommen. Dort wird erklärt, was entstehen<br />
soll, und sie dürfen selbst ein bisschen Garten<br />
gründen. Dazu können sie ihre mitgebrachten<br />
Tetrapacks zu Setzlingsboxen umfunktionieren. Das<br />
geht so: Deckel abschneiden, Löcher in Boden<br />
machen, Tonscherben auf den Grund legen, mit<br />
Aussaaterde auffüllen, Samen stecken, gießen und<br />
auf die Fensterbank stellen. Irgendwann im Mai sind<br />
dann alle Gartengründer herzlich eingeladen, ihre<br />
Setzlinge zu bringen und im Garten in ein großes<br />
Beet zu pflanzen.<br />
Mir ist bewusst, dass nicht alle Pflänzchen von den<br />
Gartengründern gedeihen, darum bekomme ich von<br />
einer Demeter-Gärtnerei noch weitere Setzlinge. Mit<br />
der Gartengründungsaktion geht es nicht direkt um<br />
Setzlinge, sondern darum, alle Interessierten mit einzubeziehen.<br />
Leben & Begegnung<br />
43
Leben & Begegnung<br />
44<br />
… Brauergärten<br />
Zeitplan<br />
Im August gibt es dann ein großes Einweihungsfest.<br />
War der Garten bis dahin nur für aktive Brauergärtner<br />
zugänglich, ist er ab dem Fest für alle offen. Der<br />
Garten soll dann ein Quartiergarten werden. Man<br />
kann kommen und schauen, wenn man will mithelfen,<br />
reden, genießen, sich austauschen. Aus Erfahrung<br />
kenne ich des Gärtners zwei liebste Beschäftigungen.<br />
Das eine ist das Ernten, das andere ist Tipps<br />
geben. Jeder Gärtner vergibt unheimlich gerne Tipps.<br />
Genau das soll gefördert werden. Es soll ein Soziound<br />
Biotop für kreatives Stadtgärtnern werden.<br />
Nun stellt sich die Frage, wie man von<br />
<strong>Stuttgart</strong> aus einen Garten pflegen kann?<br />
Es ist das Ziel, in den Frühlingsferien den Garten so<br />
weit vorzubereiten, dass ich während des Sommertrimesters<br />
alle Arbeiten von <strong>Stuttgart</strong> aus „telegieren“<br />
kann und nur an den Wochenenden nach Zürich<br />
reise. Es haben sich schon viele Freunde und Bekannte<br />
fürs Gießen und Jäten angemeldet, drum bin<br />
ich optimistisch, dass alles klappt.<br />
Idee<br />
Die Idee, in recycelten Gefäßen Pflanzen zu ziehen,<br />
ist mir Anfang August letzten Jahres im Nachtzug<br />
von Zürich nach Ljubljana gekommen. Schon davor<br />
fand ich es nicht gut, alte Einkaufswägen und Körbe<br />
in den See zu schmeißen. Da müsste man was tun,<br />
dachte ich. Plötzlich war die Idee da, in alten Einkaufskörben<br />
Kräuter anzupflanzen. Wochen später<br />
hörte ich durch Zufall von einem Garten in Berlin, der<br />
genau das tut. Noch bevor ich ins Seminar ging, reiste<br />
ich in die Hauptstadt. Und tatsächlich, sie hatten<br />
„meine“ Idee schon zwei Jahre davor verwirklicht.<br />
Zwar nicht genau so, aber sehr ähnlich. Die Idee ließ<br />
mich aber nicht los, und so begann ich in Zürich<br />
geeignete Flächen für ein solches Projekt zu suchen.<br />
Ich musste aber rasch erkennen, dass man als normaler<br />
Bürger in der Verwaltung der Stadt nicht viel zu<br />
sagen hat. Man wird von der einen Warteschleife zur<br />
nächsten weitergeleitet. Als nach drei Wochen immer<br />
noch keine Rückmeldung von der Liegenschaftsverwaltung<br />
kam, schrieb ich der Stadtpräsidentin einen<br />
Brief und ein Kurzkonzept mit Bildern. Und plötzlich<br />
bewegte sich etwas, langsam aber immerhin. Nach<br />
vielen Telefonaten und Gesprächen bekam ich im<br />
Dezember 2011 die Aussicht auf eine kleine Fläche im<br />
Rotlichtmilieu, die als illegale Mülldeponie am Vermüllen<br />
war. Ich schaute mir die Fläche an der Brauerstrasse<br />
von <strong>Stuttgart</strong> aus auf Google Maps an und<br />
sagte, noch bevor ich dort war, zu. In den Trimesterferien<br />
ging ich dann gleich vorbei und unterschrieb<br />
den Vertrag. So kam das alles zustande. Schon komisch,<br />
hätte nie gedacht, dass meine erste gepachtete<br />
Fläche als Bauer ein Kiesplatz mitten im Züricher<br />
Milieu sein wird, aber man muss ja mal anfangen.<br />
Ich glaube, ein solches Gartenkonzept wäre auch<br />
etwas fürs Seminar, denn in Schwaben gehört ja der<br />
Gehsteig zum Garten. Anstatt ihn immer nur zu kehren,<br />
könnte man die Hälfte für Gemüse nutzen. Das<br />
würde Kosten sparen und wäre sinnvoller. Aber das<br />
müsste jemand anders in die Hand nehmen, denn<br />
mir reicht im Moment ein Garten in einem speziellen<br />
Milieu.
„Ist das etwa die Hefepaste aus dem Seminar?"<br />
| Bericht von einer Woche in Dornach (13.-17.11.2011) Geert Möbius, 6. Trimester<br />
Zum Ausgleich für eine ausgefallene Kursstunde<br />
besuchte uns Frau Glöckler im Pfadfinderheim zum<br />
Abendessen und erkannte mit diesem Ausruf den<br />
glänzendbraunen Inhalt eines unbeschrifteten<br />
Schraubglases. Es war wie alle Abende ein fröhliches<br />
Zusammensein in dem großen Aufenthaltsraum des<br />
Pfadiheims, heizbar nur mit einem offenen Kamin,<br />
den wir auch über Nacht nicht ausgehen ließen.<br />
Außer dem Aufenthaltsraum und ein paar großen<br />
Schlafräumen gab es noch eine Küche, in der wir aus<br />
den liebevoll von der Hauswirtschaft zusammengestellten<br />
Vorräten unsere Mittagessen für die 10<br />
<strong>Stuttgart</strong>er (Seminarleiter mitgezählt) und 4 Hamburger<br />
Teilnehmer zubereiteten. Das Pfadiheim liegt<br />
auf halber Höhe zwischen dem Goetheanum und der<br />
Burgruine Dorneck. Unser Lebensrhythmus war<br />
schlicht: Nach dem Aufstehen Lesung eines Teils der<br />
Menschenweihehandlung mit anschließendem Gespräch,<br />
Frühstück, Abstieg aus der Hütte zum<br />
Goetheanum, Morgenkurs, Aufstieg und Mittagessen,<br />
Abstieg und Nachmittagsprogramm, Aufstieg und<br />
Abendessen mit gemütlichem Ausklang. Und alles<br />
begleitet von dem schönsten sonnigen Herbstwetter.<br />
Der Hauptkurs mit Frau Glöckler behandelte die<br />
Stellung der Anthroposophischen Gesellschaft und<br />
der Hochschule in der Welt und auch ihr Verhältnis<br />
zur Christengemeinschaft. Die Woche diente so im<br />
Wesentlichen dazu, Gesichtspunkte zu erfahren, um<br />
unser eigenes, individuelles Verhältnis zur anthroposophischen<br />
Bewegung zu bilden und zu vertiefen.<br />
Neben dem Hauptkurs gab es Führungen durch das<br />
Gebäude und das Archiv und in drei Gesprächsrunden<br />
standen uns aus dem Vorstand Paul Mackay,<br />
Bodo von Plato und Seija Zimmermann zur Verfü-<br />
gung. Ein spontanes Geschenk war die Begegnung<br />
mit Mathias Ganz, einem früher am Goetheanum<br />
tätigen Architekten, der uns erläuternd durch das<br />
Atelier, das Sterbezimmer und die Scheune führte.<br />
Die Besichtigung des Menschheitsrepräsentanten<br />
und der Fenster des großen Saales konnten wir selbständig<br />
unternehmen. Abgerundet wurde das Programm<br />
durch ein Gespräch mit den Interimsleitern<br />
der Jugendsektion. Abgesehen von den Spaziergängen,<br />
die wir in der freien Zeit in der Umgebung<br />
unternehmen konnten, ließ uns die Besichtigung der<br />
Eremitage erleben, an was für einem besonderen<br />
geografischen Ort das Herz der Anthroposophischen<br />
Bewegung sein Zentrum gefunden hat.<br />
Ein zusätzliches Erlebnis war die Besichtigung einer<br />
Ausstellung von Ninetta Sombart in der Ita-<br />
Wegmann-Klinik. Frau Sombart beantwortete geduldig<br />
jede Frage, und wir konnten sie sogar später<br />
noch einmal in ihrem Atelier besuchen, wo sie gerade<br />
an dem neuen Altarbild für Spring Valley, USA,<br />
malt.<br />
Unsere Seminargemeinschaft hat in Dornach eine<br />
wichtige Belebung und Intensivierung erfahren. Und<br />
vor allem ist sie größer geworden: Das Zusammensein<br />
mit den vier Mitseminaristen aus dem<br />
Hamburger Seminar hat den Blick auf die Größe<br />
unserer Gemeinschaft wunderbar erweitert. Es ist<br />
ein bisschen schade, dass der Kontakt jenseits einer<br />
solchen Gelegenheit so schwierig zu pflegen ist. Wir<br />
haben alle bemerkt: Es wäre schön, dies nicht nur<br />
weiter zu pflegen, sondern möglichst nach zusätzlichen<br />
Gelegenheiten zur Begegnung zu suchen.<br />
Leben & Begegnung<br />
45
Leben & Begegnung<br />
46<br />
Kairos – weltweite Jugendfesttage in Überlingen<br />
| Ute Lorenz, derzeit im Praktikum in Überlingen<br />
Warum am Bodensee? Warum zu Pfingsten 2012?<br />
Kairos – Wirklichkeit jetzt. Das ist der Titel, der den<br />
Jugendlichen aus aller Welt sagen soll, was die<br />
Hoffnung, die Sehnsucht, das Ziel dieser Tagung der<br />
Christengemeinschaft am Bodensee ist. In der Vorbereitung<br />
haben wir viele Menschen befragt, was für<br />
sie „Wirklichkeit“ sei. Es gab erstaunlich viele philosophische<br />
Antworten.<br />
Wenn Wirklichkeit entstehen soll, so hat das offenbar<br />
viel mit der Wahrnehmung und Wachheit im<br />
Augenblick zu tun. Die möglichen erkenntnistheoretischen<br />
Erörterungen werde ich hier überspringen. Es<br />
wird aber deutlich, dass eine liebevolle Hinwendung<br />
zur Welt und zu den Menschen, ein warmes Interesse<br />
an allem nötig ist, damit wir im Jetzt wahrnehmen<br />
und damit Wirklichkeit entstehen kann.<br />
Ich habe mich gefragt, ob dieses Thema nicht vielleicht<br />
mehr mit dem Bodensee und seiner Umgebung<br />
als Ort des weltweiten Treffens zu tun hat, als wir<br />
ahnen. Der Ort wurde von den Jugendlichen ausgesucht.<br />
Anna Cecilia Grünn, eine ehemalige Schülerin der<br />
Freien Waldorfschule am Bodensee, berichtet über<br />
ein Erlebnis im Umgang mit der Landschaft des<br />
Bodensees. Mit dem Pferd reitet sie vom Bodensee<br />
aus nach Norden und befragt auf ihrer Reise die<br />
Naturgeister, für deren Leben und Sprechen sie<br />
Wahrnehmungsfähigkeiten hat. Den Hüter der Bodenseelandschaft<br />
fragt sie nach der Entwicklung<br />
dieser Gegend. Seine von ihr übersetzte Antwort lautet:<br />
„Diese Landschaft könnte innerhalb von Gesamtdeutschland<br />
eine Art Ohr werden. Das ist so<br />
gemeint, dass hier die für das Land wichtigen Impulse<br />
aufgenommen und an das ganze Land weitergegeben<br />
werden. Also hier könnte ein Tor zu allem<br />
Neuen entstehen Ein Ort, der der Erde und den<br />
Sternen lauscht und ihre Zukunftsmusik empfängt.“ 1<br />
Und auf die Frage nach der Zukunft der Kultur in<br />
dieser Landschaft antworten die sogenannten Zivilisationsbegleiter:<br />
„In dieser kulturellen Landschaft<br />
wird mehr und mehr die Fähigkeit wachsen, Toleranz<br />
und Charakter zu verbinden.“ 2<br />
Wenn diese Gegend eine Art Ohr wird, dann kann es<br />
schon sein, dass Menschen, die sich hier begegnen,<br />
genauer hinhören, lauschen, um jemandem aus<br />
einem ganz anderen Teil der Welt zu begegnen. Das<br />
wäre auch die Grundlage für Toleranz auf seelischer<br />
Ebene, für Wirklichkeit auf geistiger Ebene.<br />
Die Erde als lebendigen Organismus mit Organen zu<br />
begreifen, war auch im Mittelalter eine Sehnsucht<br />
der Menschen. Sie ahnten, dass die Erde als der Leib<br />
Christi dem menschlichen Leibe ähnlich sein muss.<br />
So gibt es eine Vorstellung von Europa als Sophien-<br />
Gestalt, deren Haupt in Spanien liegt und deren<br />
Füße bis zum Ural reichen. 3
Der Rhein fließt durch ihre Brust und pulsiert als<br />
Herz (nicht auf diesem Bild sichtbar) im Bodensee.<br />
Nimmt man das Bild vom Ohr mit jenem vom Herzen<br />
zusammen, so könnte man einen Satz aus dem<br />
„Kleinen Prinzen“ von Antoine de St. Exupéry abwandeln<br />
und sagen: Man hört nur mit dem Herzen<br />
gut! Wenn uns dieses Motiv bei der Begegnung mit<br />
den Jugendlichen aus aller Welt leiten könnte, so<br />
entstünde „Wirklichkeit jetzt“.<br />
Die Frage nach dem Ort der Tagung lässt aber<br />
sogleich auch die Frage nach der Zeit entstehen.<br />
Welche Bedeutung hat es, dass die weltweite<br />
Begegnung der Jugendlichen zu Pfingsten 2012<br />
stattfinden soll? Ich möchte nur eine Antwort versuchen,<br />
es gibt sicher viele: Am 1. Juli 2012 jährt sich<br />
zum 10. Mal das Flugzeugunglück über dem Bodensee.<br />
Dieser Unfall damals war so unwahrscheinlich,<br />
dass es ihn eigentlich nicht hätte geben dürfen. In<br />
einer langen Nacht las ich das Unfallprotokoll mit<br />
den vielen Einzelereignissen, die sich verketten<br />
mussten, um ein solches Unglück geschehen zu lassen.<br />
In der sternklaren Nacht des 1. Juli 2002 trafen<br />
über dem Bodensee der DHL-Flug 611 von Bergamo,<br />
Italien, kommend mit dem Flug der Bashkirian-Airlines<br />
von Ufa in einem fast exakt rechten Winkel<br />
zusammen. 71 Opfer waren zu beklagen, darunter 49<br />
Kinder und Jugendliche. Sämtliche Wrackteile landeten<br />
in der Umgebung von Überlingen, ohne auf<br />
der Erde einen einzigen Menschen zu verletzen. Mir<br />
fiel auf, dass viele Nationalitäten in diesem Drama<br />
eine Rolle spielten. Neben den Abflugorten Baschkirien<br />
und Italien, den Zielorten Spanien und Belgien<br />
waren als Heimatorte der Kapitäne Kanada, England<br />
und Russland beteiligt. Der Unfall selbst geschah<br />
über der Fläche des Bodensees, die sich die Länder<br />
Deutschland, Österreich und Schweiz teilen. Sie ist,<br />
im Obersee, die einzige Gegend Europas, für die in<br />
der gesamten Geschichte nie feste Grenzen oder<br />
Zugehörigkeiten festgelegt wurden. Das ist auffällig.<br />
Und wenn sich nun gerade hier über diesem geografischen<br />
Herzorgan Toleranz entfalten könnte durch<br />
vertieftes Hinhören und Lauschen?<br />
Mir wurde berichtet, dass nach diesem Absturz<br />
Frauen und Männer erstmals gemeinsam in einer<br />
Moschee in Ufa beteten. Und was noch erstaunlicher<br />
ist: Christliche und muslimische Kinder wurden erstmals<br />
auf einem gemeinsamen Friedhof nebeneinander<br />
bestattet. Vor diesem Hintergrund erscheint<br />
auch die Eröffnungsveranstaltung der Tagung in<br />
einem ganz neuen Licht: „Nathan, der Weise“ von<br />
Lessing soll in einer veränderten Form von Jugendlichen<br />
aus Deutschland und Israel gemeinsam dreisprachig<br />
aufgeführt werden, auf Deutsch, Arabisch<br />
und Hebräisch. Ein neues Wirklichkeits-Erlebnis für<br />
Ohr und Herz entsteht.<br />
1 Grünn, Anna Cecilia: Ellenlang. Meine Reise mit den Naturgeistern<br />
durch Deutschland.<br />
2 ebd.<br />
3 Europa als Reichskönigin in: Heinrich Bünting: Itinerarium Sacrae<br />
Scripturae, 1588<br />
Leben & Begegnung<br />
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Leben & Begegnung<br />
48<br />
Priesterweihe in Nordamerika<br />
| Jakob Butschle<br />
Als ich nach der Priesterweihe in <strong>Stuttgart</strong> nach<br />
Hause fuhr, erfüllt von den Erlebnissen dieses Tages,<br />
dachte ich mir: „Das war dieses Jahr aber wieder<br />
schön.“<br />
Knapp eine Woche später wurde ich von einer<br />
Studentin des <strong>Priesterseminar</strong>s von Spring Valley<br />
vom Flughafen Newark abgeholt und tauchte in das<br />
Seminarleben des nordamerikanischen Seminars ein.<br />
Sowohl die Studenten als auch die Gemeindemitglieder<br />
fieberten einem großen Ereignis entgegen:<br />
dem zweiten Teil der diesjährigen Priesterweihen,<br />
die am 16., 17. und 18. März hier an der<br />
Ostküste der USA stattfinden würden. Seit der<br />
Begründung der Christengemeinschaft in Nordamerika<br />
1948 hatte es erst zwei Weihen in Nordamerika<br />
gegeben, deshalb waren diese Ereignisse, die da<br />
kamen, ein „big deal“.<br />
Drei Kandidaten aus Australien, England und<br />
den USA wurden in diesen drei Tagen geweiht.<br />
Die erste Weihe war am Freitag, den 16. März in der<br />
Gemeinde Taconic Berkshire Region, im Norden des<br />
Bundesstaates New York. Wie der Name schon sagt,<br />
eine Gemeinde für eine ganze Region, wunderschön<br />
gelegen in einem kleinen Tal in der Nähe eines<br />
Flusses; manche Gemeindemitglieder haben einen<br />
Anfahrtsweg von eineinhalb Stunden. In der Woche<br />
vor der Weihe hatte eine Priestersynode stattgefunden<br />
mit Gästen aus Südafrika, Südamerika, Großbritannien<br />
und Australien, so dass ca. 30 Priester an<br />
der Weihe teilnehmen konnten. Die Gemeinde hat<br />
großzügige Gemeinderäume und eine schöne, mittelgroße<br />
Kirche, die fast aus allen Nähten platzte. Im<br />
Anschluss an die Weihe gab es ein Buffet und eine<br />
Möglichkeit der Begegnung, bevor sich der Großteil<br />
der Festgemeinschaft auf den Weg nach Spring<br />
Valley machte, wo die anderen beiden Weihen stattfinden<br />
sollten.<br />
Spring Valley liegt ca. 40 Minuten von New York City<br />
entfernt in direkter Nachbarschaft zu einer Waldorfschule,<br />
einem Waldorflehrerseminar, einer<br />
Eurythmieschule, einem biologisch-dynamischen<br />
Ausbildungszentrum für Gärtner, einer Dreigliederungsgemeinschaft<br />
und einem anthroposophischen<br />
Altersheim. Außerdem befindet sich hier das <strong>Priesterseminar</strong><br />
der Christengemeinschaft, das allerdings<br />
noch keine eigenen Räumlichkeiten hat. Die<br />
Gemeinde hat einen wunderschönen Weiheraum,<br />
aber nur sehr kleine Gemeinderäume, so dass ein<br />
großes Zelt aufgestellt werden musste, das vor der<br />
Weihe als Ausweichsakristei fungierte und nach der<br />
Weihe als Festzelt.<br />
Dicht an dicht standen die Stühle im Weiheraum, so<br />
dass alle anwesenden Priester und rund 140 Gemeindemitglieder<br />
und Angehörige an den Weihen<br />
teilnehmen konnten. Am Samstag fand ein festlicher<br />
Nachmittag mit humorvollen und ernsten Beiträgen<br />
statt. Am Sonntagnachmittag gab es eine Zusammenkunft<br />
mit Musik und abschließenden Worten,<br />
wo u.a. einer der Frischgeweihten an die in <strong>Stuttgart</strong><br />
geweihte Hälfte der Weihegruppe erinnerte, über<br />
jeden von ihnen ein paar Worte sagte und die drei<br />
auf diese Weise auch anwesend sein konnten.<br />
Es war für viele Menschen wichtig, dass diese<br />
Weihen hier in den USA stattfinden konnten. Zum<br />
einen natürlich für die Kandidaten selbst, um in ihrer<br />
Muttersprache das Sakrament zu erleben, aber auch<br />
für die Angehörigen, Freunde und Gemeindemitglieder,<br />
die die weite Reise nach Deutschland vielleicht<br />
nicht auf sich genommen hätten. Für fast alle<br />
der acht Studenten des <strong>Priesterseminar</strong>s waren es<br />
die ersten Weihen, die sie miterlebten. Sie waren<br />
sehr dankbar für die Möglichkeit, in den Räumen, in<br />
denen sonst der Seminarbetrieb stattfindet, Zeuge<br />
zu sein, wie drei Studenten zu Kandidaten wurden,<br />
dann zu Priestern und zum ersten Mal zelebrierten,<br />
die Kommunion austeilten.
Verehrte, liebe Freunde des Seminars,<br />
Im Thema dieses Seminarbriefs – dem Übersetzen –<br />
können wir mühelos die besondere Aufgabe des<br />
Erdenmenschen erkennen – vor allem dann, wenn<br />
wir dabei nicht nur an die etwas staubige Beschaulichkeit<br />
einer Schreibtischexistenz denken, sondern<br />
vielmehr an den, der auf seinem Weg mutig über<br />
einen Abgrund setzt, um auf die andere Seite zu<br />
gelangen.<br />
Ein Sprung, ein Satz wird getan, wenn etwas Unausgesprochenes<br />
ins Wort, in den Begriff findet. Nie<br />
gelingt das völlig. Das ausgesprochene Wort kann<br />
immer nur als Hinweis auf etwas weiterhin Unausgesprochenes<br />
dienen. Das Übersetzen wird letztlich<br />
zur Aufgabe dessen, der das Wort hört und bereit ist,<br />
es als Sprungbrett ins Ungesagte zu nutzen.<br />
Mit jedem Wort, das wir äußern, tun wir einen Satz:<br />
von innen nach außen, aus dem Übersinnlichen ins<br />
Sinnliche, aus dem Ungesagten ins Gesagte. Mit<br />
jedem Wort springt die Tür zwischen zwei Welten<br />
auf; im Wort finden sie zusammen, werden sie eins,<br />
werden ein und dasselbe. D.h. aber zugleich, dass<br />
dasselbe nun auf zweierlei Art wahrgenommen werden<br />
will von dem, der beide Aspekte in dem Einen erfassen<br />
will. Der Sinn muss tiefer dringen, als er zunächst<br />
von sich selbst aus dringen kann: von außen<br />
nach innen, aus dem Sinnlichen ins Übersinnliche,<br />
aus dem Gesagten ins Ungesagte.<br />
Der Mensch ist nicht nur ein sprechendes Wesen,<br />
weil er Worte aus seinem Mund hervorgehen lässt,<br />
sondern er ist selbst Wort, d.h. ein Sprung, ein Satz<br />
über den Abgrund. Er eint in seinem Wesen fortwährend<br />
zwei Welten und ist nur zu verstehen, wenn er<br />
auf zweifache Art verstanden wird: sinnlich und<br />
übersinnlich, als Form und als Impuls, als Erden-Ich<br />
und als Himmelsbote. (Wenn wir unser Seelenleben<br />
beobachten, bemerken wir bald, dass dies die fort-<br />
währende Tätigkeit ist, die wir leisten: Im eigenen<br />
Inneren ersinnen wir, was wir in der Welt verwirklichen<br />
wollen – sei es die nächste Mahlzeit, die wir<br />
zubereiten wollen, sei es unser Berufsziel. Die<br />
Tätigkeit unseres Wesens ist Übersetzen.)<br />
Im Kultus drängt der übersinnliche Teil unseres<br />
Wesens und der Welt weiter in die Sinneswelt vor als<br />
gewöhnlich. Gerade diese Tatsache macht nötig, das<br />
Übersinnliche, das sich offenbaren will, seiner<br />
Wesensart gemäß wahrzunehmen und zu begreifen.<br />
Wir sind eingeladen, im Anschauen, im Anhören, im<br />
Ertasten den Sprung zu tun, den Satz in die Welt des<br />
Geistigen und sie in solchem eigenen Anteilnehmen<br />
– wahrnehmend wahrmachend – mit der Erdenwelt<br />
zu vereinen.<br />
Diese Tätigkeit üben wir hier am Seminar verständlicherweise<br />
etwas ausgiebiger als an anderen Orten<br />
– und fühlen dabei natürlich auch, wie anstrengend<br />
dieses Übersetzen ist; wir werden gelegentlich ein<br />
bisschen atemlos. Immer aber reicht unser Atem, um<br />
Ihnen zu danken, dass Sie uns in unserem Tun auf<br />
Ihre liebevolle, treue Art unterstützen, sich hineindenken<br />
in unsere Arbeit und den Grund schaffen,<br />
dass wir – immer wieder neu – den Sprung wagen<br />
können von hier nach dort und von dort nach hier.<br />
Und da stehen wir wieder vor Ihnen, verneigen uns<br />
vor Ihnen und fühlen uns herzlich mit Ihnen verbunden.<br />
Im Namen der ganzen Seminargemeinschaft grüßt<br />
Sie<br />
Ihr<br />
Grußwort der Seminarleitung<br />
49
50<br />
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