Grundschule aktuell 105
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www.grundschulverband.de · Februar 2009 · D9607F<br />
<strong>Grundschule</strong> <strong>aktuell</strong><br />
Zeitschrift des Grundschulverbandes · Nr. <strong>105</strong><br />
Kindheiten: Wie Kinder<br />
heute leben und lernen<br />
in der Heftmitte: Kurzprogramm zum<br />
Bundesgrundschulkongress 2009
Gemeinsam Schule machen!<br />
GEMEINSAM SCHULE MACHEN<br />
Die<br />
GRUNDSCHUL<br />
ZEITSCHRIFT<br />
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Seit mehr als 20 Jahren bietet Die GRUNDSCHULZEITSCHRIFT<br />
fundierte und praxiserprobte Beiträge aus Praxis und<br />
Forschung. Dabei stehen natürlich die Kinder, aber auch<br />
Sie als Lehrerin und Lehrer mit all Ihren – auch den Unterricht<br />
übergreifenden – Themen und Problemen im Zentrum<br />
der Zeitschrift.<br />
Die Anforderungen an alle sind in den letzten Jahren<br />
gestiegen, Die GRUNDSCHULZEITSCHRIFT möchte Sie mit vielen<br />
Ideen für Ihren Unterricht, aber auch darüber hinaus,<br />
unterstützen und gibt Ihnen notwendige Informationen<br />
zur Bewältigung Ihres Arbeitsalltages in der Schule.<br />
Die GRUNDSCHULZEITSCHRIFT …<br />
◗ … stärkt Sie in Ihrem Berufsalltag!<br />
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Das Grundprinzip: „Die Offene Tür“<br />
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Strukturen der Zusammenarbeit<br />
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Die GRUNDSCHULZEITSCHRIFT erscheint mit 6 Themenheften, 1 Doppelheft und 2 Materialpaketen<br />
und kostet € 99,–inkl. Friedrich Jahresheft und dem Magazin SCHÜLER.<br />
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Das Jahrgangsteam<br />
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Unser Aboservice berät Sie gerne:<br />
Telefon: 0511 / 4 00 04 -151<br />
Fax: 0511 / 4 00 04 -170<br />
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Inhalt<br />
L O G O Bundesgrundschulkongress<br />
Editorial<br />
Tagebuch<br />
S. 2 Chancenungleichheit in der <strong>Grundschule</strong><br />
(Ulrich Hecker)<br />
Thema: Kindheiten<br />
S. 3 Gute und schlechte Nachrichten über Kinder<br />
und Kindheit (Friederike Heinzel)<br />
S. 4 Kaleidoskop des Kinderalltags<br />
(Hans Brügelmann)<br />
S. 6 Wohlbefinden aus Sicht der Kinder<br />
(Sabine Andresen)<br />
S. 9 Kinderleben heute (Maria Fölling-Albers)<br />
Praxis: Kindheiten<br />
S. 12 Was Kinder über Kindheit denken (Rita Fürstenau)<br />
S. 15 Das Erzählcafé (Sarah Alexi)<br />
S. 18 Zwischen Freizeit, Schule und Tests<br />
(Simone Knorre, Anna Lena Wagener)<br />
S. 21 Deutscher Schulpreis 2008<br />
Aktuell …<br />
… aus dem Bundesvorstand<br />
S. 25 VERA im Dilemma (Maresi Lassek)<br />
… aus den Landesgruppen, u. a.<br />
S. 26 Baden-Württemberg: Kritik an VERA<br />
S. 27 Berlin: Gemeinschaftsschule<br />
S. 32 Thüringen: 10 Jahre Schuleingangsphase<br />
Impressum<br />
GRUNDSCHULE AKTUELL, die Zeitschrift des Grundschulverbandes<br />
erscheint viertel jährlich und wird allen Mitgliedern zugestellt.<br />
Der Bezugspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten. Das einzelne Heft<br />
kostet 5 €; für Mitglieder und bei Sammelbestellungen ab 10 Hefte 3 €<br />
(inkl. Versand).<br />
Verlag: Grundschulverband e. V.<br />
Niddastraße 52, 60329 Frankfurt / Main<br />
Tel. 0 69 / 77 60 06, Fax: 0 69 / 7 07 47 80<br />
www.grundschulverband.de, info@grundschulverband.de<br />
Herausgeber:<br />
Dr. Horst Bartnitzky (für den Vorstand des Grundschulverbandes)<br />
Redaktion:<br />
Ulrich Hecker, Hülsdonker Str. 64, 47441 Moers,<br />
Tel. 0 28 41 / 2 17 14, ulrichhecker@aol.com<br />
Fotos: Bert Butzke, Mülheim/Ruhr (Titel, S. 5, 7–11, 14, 19), Autorinnen<br />
und Autoren; Zeichnung: Wilhelm Nüchter, Moers (S. 25)<br />
Herstellung:<br />
novuprint Agentur für Mediendesign, Werbung, Publikationen GmbH,<br />
Bödekerstr. 73, 30161 Hannover, Tel. 0511 / 9 61 69-11,<br />
Fax: 05 11 / 9 61 69-99<br />
Anzeigenverwaltung: Claudia Klinger, Verlagsgruppe Beltz,<br />
Tel. 0 62 01 / 6 00 73 86, Fax 0 62 01 / 6 00 73 93<br />
Druck: Druck Partner Rübelmann, 69502 Hemsbach<br />
ISSN 1860-8604 / Bestellnummer: 6040<br />
Beilagen: »Eine Welt in der Schule« als ständige Beilage,<br />
Plakat und Kurzprogramm zum Bundesgrundschulkongress 2009<br />
(gestaltet von www.hek-design.de)<br />
… so lautet das Motto für den Bundesgrundschulkongress im<br />
September 2009 in Frankfurt am Main.<br />
Alle 10 Jahre findet dieses Großereignis statt – und mit diesem<br />
Heft laden wir Sie herzlich ein, an unserem Kongress teilzunehmen,<br />
Ihren Kolleginnen und Kollegen davon zu berichten und<br />
sie ebenfalls einzuladen, mit Ihnen nach Frankfurt zu kommen.<br />
Unsere Programmübersicht in der Mitte des Heftes zeigt bereits:<br />
Es wird sich lohnen!<br />
Informieren Sie sich. Melden Sie sich an. Wir freuen uns darauf,<br />
möglichst viele Kolleginnen und Kollegen beim Kongress begrüßen<br />
zu können.<br />
Weitere Exemplare des Kurzprogramms können Sie bei unserer<br />
Geschäftsstelle anfordern:<br />
Grundschulverband, Niddastr. 52, 60329 Frankfurt/Main,<br />
Tel.: 0 69 / 77 60 06, E-Mail: info@grundschulverband.de<br />
Beilage: Das Plakat zum Kongress<br />
Diesem Heft liegt das Plakat zum Bundesgrundschulkongress<br />
bei. Bitte hängen Sie es in Ihrem Lehrerzimmer, Seminarraum,<br />
Hochschulfoyer … aus und helfen Sie mit, den Kongress bekannt<br />
zu machen.<br />
Weitere Exemplare des Plakats schickt Ihnen gern unsere Geschäftsstelle<br />
(s. o.)!<br />
Kindheiten<br />
Wer »allen Kindern gerecht werden« will, der oder die muss<br />
wissen, »wie Kinder heute leben und lernen« – das ist das Thema<br />
unseres Heftes. Welche Konsequenzen sich aus den höchst<br />
CMYK- Orange Blau Rot Grün Ocker<br />
unterschiedlichen Lebensbedingungen und Bildungsvoraussetzungen<br />
von M Kindern = 80 % heute M = für 80 die % (Grund-)Schule M = 100 % M ergeben, = 0 % wird M = 40 %<br />
Farben C = 0 % C = 100 % C = 0 % C = 80 % C = 0 %<br />
in den Beiträgen Y = 90 zum % »Thema« Y = 0 % und in Y = unserer 50 % Rubrik Y = 80 »Praxis« % Y = 80 %<br />
entfaltet. K = 0 % K = 0 % K = 0 % K = 0 % K = 0 %<br />
Schrift Deutscher Arial Schulpreis bold und 2008 Arial Black<br />
Die Siegerschule beim »Deutschen Schulpreis 2008« ist die<br />
Wartburg-<strong>Grundschule</strong> in Münster. Seit langem und für eine Reformschule<br />
nur konsequent ist die Wartburgschule Mitglied im<br />
Grundschulverband. »<strong>Grundschule</strong> <strong>aktuell</strong>« hat mit den Kolleginnen<br />
des Schulleitungsteams gesprochen.<br />
In eigener Sache<br />
Mit dieser Ausgabe zeigt unsere Zeitschrift ein neues Gesicht.<br />
Farbige Fotos und Abbildungen gab es schon, nun wird das<br />
ganze Heft farbiger, lebendiger und – so die Erwartung – lesefreundlicher.<br />
Die Neugestaltung besorgten die Fachleute von<br />
»novuprint«, der »Agentur für Mediendesign, Werbung und Publikationen«,<br />
die auch bisher schon unsere Zeitschrift gestaltet<br />
hat. Bei ihnen bedanken wir uns für die vielen Ideen und die<br />
intensive Beratung. Wir hoffen, unseren Leserinnen und Lesern<br />
gefällt unser neues Erscheinungsbild.<br />
He.<br />
GS <strong>aktuell</strong> <strong>105</strong> • Februar 2009<br />
1
Tagebuch<br />
Chancenungleichheit in der <strong>Grundschule</strong>?<br />
Begründung: »In keinem vergleichbaren europäischen<br />
Land ist der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft<br />
und Bildungschancen so eng wie in Deutschland. Schon<br />
am Ende der Grundschulzeit sind die Bildungschancen<br />
weit gehend festgelegt – und zwar überwiegend in Abhängigkeit<br />
von der sozialen Herkunft der Schülerinnen<br />
und Schüler. Diese Erkenntnis ist für ein demokratisches<br />
Schulsystem dem Grunde nach unerträglich.«<br />
Ulrich Hecker<br />
Seit Veröffentlichung des PISA-2006-Ländervergleichs<br />
und von IGLU 2006 im Dezember werden wir wieder mit<br />
vielerlei »Datendeuteleien« (Georg Lind) überhäuft.<br />
Es ist nichts Neues, dass deutsche Grundschulkinder in<br />
den IGLU-Studien regelmäßig besser abschneiden als die<br />
Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe bei PISA.<br />
Vor zu großer Zufriedenheit angesichts der relativ guten<br />
Ergebnisse deutscher Grundschüler bei der »Internationalen<br />
Grundschul-Leseuntersuchung (IGLU)« warnt<br />
allerdings der Vorsitzende des Grundschulverbandes,<br />
Horst Bartnitzky: »Die Schulen sind nicht allmächtig. Die<br />
IGLU-Ergebnisse sind ein Beleg dafür, dass ein längeres<br />
gemeinsames Lernen bis zum Ende der Pflichtschulzeit<br />
sinnvoll und geboten ist.«<br />
Bei all der »Datendeutelei« der Bildungspolitiker ist<br />
bezeichnend: Die soziale Frage wurde bei der innerdeutschen<br />
Auswertung von IGLU 2006 gänzlich außen<br />
vor gelassen. Beim Blick in die Bundesländer fehlt das<br />
Kapitel zum Zusammenhang von sozialer Herkunft und<br />
Schullaufbahnempfehlung!<br />
»Die Kultusminister wollten es nicht«, äußerte Wilfried<br />
Bos, der Leiter der Studie. Oder sie wissen das Ergebnis<br />
längst und umnebeln es in geschwätziger Betriebsamkeit.<br />
Nach wie vor nämlich bleibt es bei dem Skandal: Kinder<br />
aus bildungsfernen Elternhäusern erhalten von ihren<br />
Lehrern und Eltern erst bei deutlich besseren Leistungen<br />
eine Gymnasialempfehlung als Kinder aus bildungsnahen<br />
Elternhäusern.<br />
Besonders brisant: Die sogenannte »Risikogruppe«.<br />
Rund 13 Prozent der Viertklässler können Texte nur<br />
mühsam verstehen. Bis zum Ende der Pflichtschulzeit<br />
wächst diese Gruppe auf über 20 Prozent an.<br />
Angesichts dieser Tatsachen legen nun zwei renommierte<br />
Erziehungswissenschaftler einen Sammelband<br />
mit dem provozierenden Titel »Chancenungleichheit in<br />
der <strong>Grundschule</strong>« vor.<br />
»Die Situation der <strong>Grundschule</strong> in Deutschland ist<br />
prekär«, so Jörg Ramseger und Matthea Wagener. Ihre<br />
Bereits ein erster Blick über die Beiträge zeigt: Noch nie<br />
wurde so viel zu Gunsten benachteiligter Schülerinnen und<br />
Schüler in der <strong>Grundschule</strong> unternommen wie in der Folge<br />
von PISA und IGLU. Allerdings: Schon in seinem einleitenden<br />
Beitrag gießt der Bildungsforscher Klaus Klemm<br />
Wasser in den Wein. Ramseger / Wagener: »Er konzediert<br />
zwar – durchaus zweideutig –, dass ein Teil dieser Ansätze<br />
über ein ›Potenzial der Minderung von Chancenungleichheit<br />
verfügt‹, stellt aber auch fest, dass diese Ansätze insgesamt<br />
wenig Anlass bieten, einen deutlichen Abbau der<br />
Chancenungleichheit im deutschen Schulwesen erwarten<br />
zu lassen« (S. 14).<br />
Chancenungleichheit ist ein Problem der <strong>Grundschule</strong> –<br />
für Kinder, Eltern und Lehrerinnen und Lehrer gleichermaßen.<br />
Aber dieses Problem schafft die herrschende Bildungspolitik<br />
mit ihrem zähen Festhalten am zergliederten<br />
Schulsystem, dessen Auswirkungen tief in die <strong>Grundschule</strong><br />
hineinreichen.<br />
Statt der Sammlung von und dem Herumdeuteln an immer<br />
neuen statistischen Daten sind endlich entschiedene<br />
bildungspolitische Konsequenzen gefordert: Mehr Investitionen<br />
in die Bildung von Kindern und Jugendlichen und,<br />
wie Marianne Demmer formuliert, eine »große Schulreform«.<br />
Ulrich Hecker,<br />
Grundschulrektor in Moers,<br />
Redakteur von<br />
»<strong>Grundschule</strong> <strong>aktuell</strong>«<br />
Ramseger, Jörg / Wagener,<br />
Matthea (Hg.): Chancenungleichheit<br />
in der <strong>Grundschule</strong>.<br />
Ursachen und Wege<br />
aus der Krise, 306 S. Br, 39,90 €.<br />
Wiesbaden: VS – Verlag für<br />
Sozialwissenschaften (2008)<br />
2 GS <strong>aktuell</strong> <strong>105</strong> • Februar 2009
Thema: Wie Kinder heute leben und lernen<br />
Friederike Heinzel<br />
Gute und schlechte Nachrichten<br />
über Kinder und Kindheit<br />
»Es wird uns aber übereinstimmend von allen Lehrern ein<br />
objektives Kriterium berichtet, nämlich, daß sich die Schulleistungen<br />
dauernd verschlechtern. Dabei sind die Anforderungen<br />
nicht oder kaum gewachsen. Viele Fachleute behaupten,<br />
daß die Begabung durchschnittlich geringer vorzufinden<br />
sei als früher. Über eines sind sich aber alle Jugendkenner<br />
einig; es hat sich eine Flatterhaftigkeit und ein mangelndes<br />
Konzentrationsvermögen breitgemacht, wie sie sich früher<br />
nur bei vereinzelten Kindern fand. Die Merkfähigkeit hat<br />
nachgelassen; gleichzeitig sind aber die Kinder leistungsunfähig,<br />
kommen todmüde von der Schule, nachdem sie schon von<br />
der 3. Schulstunde an nicht mehr recht aufnahmebereit gewesen<br />
waren. Diese allgemeine schnelle Ermüdbarkeit macht sie<br />
mißlaunig und verhindert es, daß sich viele Sonderinteressen<br />
ausprägen können, von einem schulischen Ehrgeiz ganz zu<br />
schweigen. Nicht einmal das geringste Pflichtbewußtsein ist<br />
vorhanden, das das Niveau erhalten könnte, wenn schon der<br />
Ehrgeiz des Höherstrebens fehlt. So sagen die Lehrer.<br />
Nicht mindere Klagen kommen von zu Hause. Es sind die<br />
gleichen, die dann in unserer kinderärztlichen Sprechstunde<br />
aufgeführt werden. Die Schulkinder sind auch daheim so<br />
leistungsschwach, daß eine körperliche Krankheit vermutet<br />
wird. Die Mutter muss sich neben ihre Söhne setzen, damit<br />
sie bei der Aufgabe bleiben. Jedes vorbeifahrende Auto, jede<br />
Fliege im Zimmer lenkt sie ab. Anstatt in einer Stunde fertig<br />
zu sein und dann draußen zu spielen, sitzen Mutter und<br />
Kind in den günstigsten Fällen, in den weniger günstigen Fällen<br />
das Kind allein, noch nach drei Stunden unzufrieden, unruhig<br />
am Tisch, die Aufgabe ist voller Fehler. Abends schlafen<br />
sie schlecht ein, nachts sind sie unruhig, morgens todmüde,<br />
zum Frühstück schmeckt es nicht, gehetzt kommen sie in die<br />
Schule, ermüdet nach Hause. Zu höflichen Formen, zu Tischmanieren,<br />
zur Rücksicht aufeinander sind die Kinder – ich<br />
reflektiere nur – überhaupt nicht zu erziehen. Widerspruch<br />
wird schnell laut, Kritik an Geschwistern und Eltern ist stets<br />
vorhanden, dabei sind sie selbst durch Kritik schnell verletzt.<br />
Sie glauben an nichts, nehmen nichts ernst, außer dem Geld,<br />
in dessen Handhabung sie eine erstaunliche Virtuosität entwickeln.<br />
Der Handel blüht in allen Schulen. Außer für technische<br />
Dinge zeigt man wenig Interesse, vor allem keine Ausdauer.«<br />
Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 3/1954, S. 162f<br />
So beschreibt Helmuth Müller,<br />
Chefarzt im Kinderkrankenhaus<br />
Bethel, vor über 30 Jahren die damalige<br />
Kindheit und Jugend. Die Kinder,<br />
die hier beschrieben wurden, sind<br />
heute ca. 60 bis 65 Jahre alt. Vergleichbare<br />
Aussagen gibt es bis heute.<br />
Ein wesentliches Problem in Veröffentlichungen<br />
besteht seit Jahrzehnten<br />
darin, dass meist Erwachsene aus bestimmten<br />
Berufsgruppen (Ärzte und<br />
Ärztinnen, Psychologen und Psychologinnen,<br />
Pädagogen und Pädagoginnen)<br />
über Kinder berichten und dann spezifische<br />
Problemgruppen vor Augen haben.<br />
Erwachsene tendieren außerdem<br />
dazu die eigene, oft als glücklich erlebte<br />
Kindheit zum Vergleich heranzuziehen,<br />
wenn sie auf <strong>aktuell</strong>e Kindheiten blicken<br />
(siehe auch Fölling-Albers in diesem<br />
Heft).<br />
Auch in den Medien sind meist<br />
schlechte Nachrichten über heutige<br />
Kinder und Kindheit zu hören, denn<br />
oft werden Schlagzeilen dort nach dem<br />
einfachen Schema »bad news are good<br />
news« formuliert.<br />
In letzter Zeit wurden nun vermehrt<br />
Studien durchgeführt, in denen Kinder<br />
eigene Sichtweisen zu ihren Lebensbedingungen<br />
äußern konnten. In diesem<br />
Zusammenhang wurde zum Beispiel<br />
das Wohlbefinden von Kindern untersucht<br />
(siehe Sabine Andresen in diesem<br />
Heft).<br />
Verschiedene Studien zeigen, dass heutige<br />
Kindheiten sehr vielfältig und unterschiedlich<br />
sind und es wenig Sinn<br />
macht über »die Kinder von heute« zu<br />
sprechen. Vielmehr ist eine differenzierte<br />
(An-)Sicht erforderlich. Verein-<br />
fachungen und »falsche Panik« sollten<br />
in professionellen Diskursen vermieden<br />
werden. Problembereiche hingegen<br />
müssen klar benannt und als Herausforderungen<br />
in Schule und Gesellschaft<br />
begriffen werden.<br />
Das größte Problem heutiger Kindheit<br />
besteht in der sozialen Ungleichheit<br />
und damit verbunden in der Bildungsbenachteiligung<br />
bestimmter Kindergruppen<br />
beim formalen und informellen<br />
Lernen. Auch die Verbesserung der<br />
Mitbestimmungsmöglichkeiten von<br />
Kindern in Schule und Gesellschaft<br />
stellt sich heute als Herausforderung,<br />
Friederike Heinzel,<br />
Jahrgang 1962, seit 2003 Professorin für Erziehungswissenschaft<br />
mit dem Schwerpunkt Grundschul pädagogik an der<br />
Universität Kassel. Beim Grundschulverband Fachreferentin<br />
für »Grundschulforschung«.<br />
Friederike Heinzel hat den Themenschwerpunkt »Wie Kinder<br />
heute leben und lernen« inhaltlich konzipiert und moderiert.<br />
GS <strong>aktuell</strong> <strong>105</strong> • Februar 2009<br />
3
Thema: Wie Kinder heute leben und lernen<br />
denn hier stehen Machtverhältnisse<br />
zur Diskussion. Texte und Gespräche<br />
mit vielen Kindern zeigen, dass sie sich<br />
durchaus Gedanken über generationale<br />
und gesellschaftliche Strukturen machen<br />
und auch Mitgestaltungsmöglichkeiten<br />
einfordern. Schon in der <strong>Grundschule</strong><br />
müsste noch deutlicher werden,<br />
dass hier Angehörige verschiedener Generationen<br />
aufeinander treffen, die ihre<br />
Lebenserfahrungen austauschen und<br />
ihre Interessen aushandeln müssen.<br />
Gute Nachrichten aus<br />
dem Jahr 2008<br />
● Die meisten Kinder in Deutschland<br />
fühlen sich wohl.<br />
● Die meisten Kinder in Deutschland<br />
bewerten ihre eigene Kindheit als<br />
glücklich.<br />
● Die meisten Kinder in Deutschland<br />
sind mit ihren Eltern sehr zufrieden<br />
und der Ansicht, dass diese ihre<br />
Meinungen wertschätzen.<br />
● Die meisten Kinder in Deutschland<br />
beschäftigen sich in ihrer Freizeit<br />
vielfältig (auch mit Medien).<br />
● Die meisten Kinder an <strong>Grundschule</strong>n<br />
in Deutschland sind sehr<br />
wiss begierig und gehen gerne zur<br />
Schule.<br />
Herausfordernde Nachrichten<br />
aus dem Jahr 2008<br />
● Darstellungen über Kinder in<br />
Deutschland sind viel zu oft negativ<br />
konnotiert.<br />
● Kinder, die sich unwohl fühlen,<br />
stammen aus Elternhäusern mit<br />
niedrigem sozialem Einkommen.<br />
● Einseitiges und bildungsfernes<br />
Verhalten von Kindern in der Freizeit<br />
ist eine soziale Frage.<br />
● Kinder aus sozial schwachen<br />
Familien werden in Schule und<br />
Gesellschaft benachteiligt.<br />
● Die Wissbegier von Kindern nimmt<br />
im Laufe der Schulzeit ab.<br />
● Zu wenige Kinder meinen, dass ihre<br />
Meinungen von Lehrern und Lehrerinnen<br />
wertgeschätzt werden.<br />
Hans Brügelmann<br />
Das Kaleidoskop des Kinderalltags<br />
»Das Kind hinter PISA« heißt ein<br />
Forschungsbericht aus dem »Siegener<br />
Zentrum für Kindheits-, Jugendund<br />
Biografieforschung« und dem<br />
Projekt »Lernbiografien im schulischen<br />
und außerschulischen Kontext«<br />
(LISA&KO) an der dortigen Universität,<br />
aus dem wir in leicht redigierter<br />
Form Teile zitieren, in denen Hans<br />
Brügelmann, Professor für Grundschulpädagogik<br />
und -didaktik in Siegen,<br />
die wichtigsten Befunde zusammengefasst<br />
hat.<br />
1) Heutige Kindheit ist sehr unterschiedlich.<br />
Es gibt keine ›Normalkindheit‹ und<br />
es gibt auch keine durchgängigen Muster.<br />
Wahrscheinlich hat es sie nie gegeben.<br />
Wahrscheinlich haben wir immer,<br />
vor allem im Rückblick, stark stereotypisiert,<br />
wenn wir von ›Straßenkindern‹,<br />
von ›Kriegskindern‹ oder ›Konsumkindern‹<br />
usw. gesprochen haben.<br />
2) Das bedeutet: Jedes Kind lebt ein eigenes<br />
Leben und die ›Diversifikation‹<br />
von Kindheiten (Fölling-Albers), also<br />
die breite Palette der individuell sehr<br />
unterschiedlichen Lebensläufe ist das,<br />
was heutige Kindheit am besten kennzeichnet.<br />
3) Auch wenn heutige Kindheit recht<br />
unterschiedlich ist: Die Lebensthemen<br />
der Kinder sind sich sehr ähnlich – und<br />
sie gleichen auch denen früherer Generationen.<br />
Wichtig sind den Kindern:<br />
● soziale Zugehörigkeit<br />
(positive Beziehungen in Familie, mit<br />
Freunden)<br />
● Anerkennung des eigenen Könnens<br />
(Familie, Schule, Vereine)<br />
● Freiraum für eigene Entscheidungen<br />
(Freizeit, Kleidung, Geld).<br />
4) Zwischen Mädchen und Jungen gibt<br />
es in den Haupttrends (Interessen, Aktivitäten,<br />
Kompetenzen) deutliche Unterschiede,<br />
aber im Einzelfall auch wieder<br />
vielfältige Überlappungen. Obwohl<br />
beide Gruppen eher geschlechtsgruppeninterne<br />
Kontakte pflegen, finden<br />
sich immer wieder auch Beziehungen<br />
zwischen Mädchen und Jungen – teilweise<br />
durchaus sehr enger Art.<br />
5) Heutige Kinder sind auch Medienkinder.<br />
Aber Art und Umfang des Mediengebrauchs<br />
streuen breit – zwischen<br />
den Kindern, meist aber auch beim einzelnen<br />
Kind in unterschiedlichen Phasen.<br />
Vor allem: Bücher und Lesen sind<br />
keineswegs aus dem Leben der Kinder<br />
verschwunden, neue Medien dominieren<br />
den Alltag in der Regel nicht.<br />
6) Die Kinder unserer Studien sind<br />
nicht sozial isoliert. Die meisten haben<br />
viele und vielfältig differenzierte Kontakte<br />
zu Gleichaltrigen.<br />
7) Unsere Kinder leben nicht verhäuslicht:<br />
Sie spielen draußen, viele sind<br />
sportlich engagiert und eine ganze Reihe<br />
hat eine enge Beziehung zur Natur.<br />
8) Handarbeit wird nicht durch die<br />
neuen Medien verdrängt: Viele Kinder<br />
basteln, bauen, konstruieren, malen, gestalten<br />
– oft mit Eltern bzw. Großeltern<br />
und als Helfer bei Alltagsaktivitäten.<br />
9) Die wenigsten Familien bestehen nur<br />
aus Mutter, Vater, Kind. Auch wenn fast<br />
jede Kleinfamilie eine eigene Wohnung<br />
oder gar ein eigenes Haus hat – es bestehen<br />
meist enge und häufige Kontakte<br />
zu Verwandten, vor allem zu den Großeltern,<br />
die in einer anderen Wohnung<br />
in demselben Haus wohnen, im Nachbarhaus,<br />
im Viertel oder in demselben<br />
Ort (›multilokale Großfamilie‹). Eine<br />
Großmutter und / oder ein Großvater<br />
gehören meist zu den wichtigsten Be-<br />
4 GS <strong>aktuell</strong> <strong>105</strong> • Februar 2009
Thema: Wie Kinder heute leben und lernen<br />
zugspersonen – nicht nur als Betreuer,<br />
sondern auch als Vorbild und als<br />
emotionale Stütze. Besuchsbeziehungen<br />
zu verwandten bzw. befreundeten<br />
Familien können ebenfalls die soziale<br />
Entwicklung der Kinder prägen. Nur<br />
wenige Kinder wachsen mit nur einem<br />
Elternteil auf.<br />
10) (Haus-)Tiere spielen quantitativ in<br />
unseren Stichproben und qualitativ in<br />
ihrer Bedeutung für viele einzelne Kinder<br />
eine herausragende Rolle. Oftmals<br />
zählen sie für die Kinder ebenfalls zur<br />
Familie.<br />
11) Zwar nehmen viele Kinder institutionalisierte<br />
Freizeit- oder Förderangebote<br />
wahr. Von Verplanung kann man in<br />
der Regel aber erst auf der Sekundarstufe<br />
sprechen. Dies gilt insbesondere beim<br />
Besuch von Ganztagsschulen, hängt<br />
aber auch mit kirchlichen Verpflichtungen<br />
und wachsender Intensität von Musik-<br />
bzw. Sportübungen zusammen.<br />
12) Die meisten Kinder können spielen<br />
und sie spielen gerne. Viele von ihnen<br />
spielen Gesellschaftsspiele, Rollenspiele,<br />
Spiele am PC oder auf Konsolen – und<br />
meist nicht allein, sondern mit Geschwistern,<br />
mit Eltern, mit FreundInnen.<br />
13) Viele Kinder haben eine Beziehung<br />
zur Musik. Ihre Vorlieben streuen breit,<br />
von Pop bis Klassik. Oft sind sie auch<br />
selbst aktiv – mit eigenen Instrumenten,<br />
im Musikunterricht, Chor oder Orchester.<br />
14) Wenige Kinder haben feste Verpflichtungen<br />
in der Familie. Sie sind zu<br />
Hause meist frei (z. B. von der Beaufsichtigung<br />
kleinerer Geschwister oder<br />
Beiträgen zu den alltäglichen Haushaltspflichten),<br />
dafür oft in Vereinen<br />
oder anderen regelmäßigen Aktivitäten<br />
außer Haus engagiert.<br />
Fazit: Viele in den Medien und im Alltagsgespräch<br />
gängige Urteile über ›Kinder<br />
heute‹ sind in ihrer Verallgemeinerung<br />
und Einseitigkeit Zerrbilder, die<br />
für die meisten Kinder so nicht zutreffen.<br />
Facetten heutiger Kindheit, die für<br />
uns Erwachsene ungewohnt sind, wie<br />
die häufige Mediennutzung, dominieren<br />
unsere Wahrnehmung, so dass<br />
andere wichtige Aspekte ausgeblendet<br />
oder in der Bewertung untergewichtet<br />
werden. Beobachtungen an einzelnen<br />
Kindern oder Kindergruppen werden<br />
oft unzulässig verallgemeinert, so dass<br />
die Vielfalt heutiger Kindheit aus dem<br />
Blick gerät.<br />
Erfahrungen in der Schule<br />
Auch hierzu einige Thesen als kurze<br />
Schlaglichter:<br />
1) Verhaltensweisen und Leistungen<br />
einzelner Kinder streuen oft stark: zwischen<br />
Fächern, innerhalb von Fächern<br />
in verschiedenen Bereichen, in demselben<br />
Fach über die Zeit hinweg. Schulleistung<br />
ist keine Eigenschaft, sondern<br />
abhängig von äußeren Bedingungen.<br />
Besonders augenfällig, manchmal dramatisch<br />
ist dies beim Wechsel der Lehrperson<br />
oder der Schule.<br />
2) Schulische und außerschulische<br />
Leistungen stehen oft unverbunden nebeneinander.<br />
Viele Kinder entwickeln<br />
außerschulisch Kompetenzen (›Domänen‹),<br />
die weit über schulische Anforderungen<br />
hinausgehen, im Unterricht<br />
aber keine Rolle spielen.<br />
3) Persönliche Interessen und schulische<br />
Leistungen stehen meist in einem<br />
engen Wechselverhältnis: Kinder mögen<br />
Fächer, deren Inhalte / Aufgaben in<br />
ihren Interessensbereich gehören – aber<br />
nur, wenn der Unterricht auch Raum<br />
gibt, die eigenen Interessen, Erfahrungen,<br />
Fähigkeiten einzubringen.<br />
4) Neben den Sachinteressen spielt die<br />
Anerkennung durch Personen (vor allem<br />
durch die Lehrperson) eine große<br />
Rolle – auch negativ als Sorge, sich zu<br />
blamieren (vor allem vor den MitschülerInnen).<br />
5) Für viele Kinder ist darüber hinaus<br />
Autonomie, d. h. die Möglichkeit, Themen<br />
oder Aufgaben selbst bestimmen<br />
zu können, wichtig. Sie erleben Fremdbestimmtheit<br />
des Unterrichts als Einschränkung<br />
ihrer Handlungsfreiheit<br />
und Leistungsmöglichkeiten. Umgekehrt<br />
blühen selbst ›Schulversager‹ oft<br />
auf, wenn sie Freiräume erhalten, wenn<br />
ihre Kompetenzen anerkannt werden<br />
und sie sich sozial eingebunden fühlen.<br />
Forscher schätzen, dass wir rund drei<br />
Viertel unseres Wissens und Könnens<br />
außerhalb von Schule und anderen formellen<br />
Bildungseinrichtungen lernen.<br />
Unsere Untersuchungen zeigen, dass<br />
Erfahrungen im Alltag und Lernen im<br />
Unterricht in einem komplexen Wechselverhältnis<br />
stehen. Dieses verstehen<br />
wir noch wenig. Ohne eine Brücke zu<br />
schlagen zu den außerschulischen Interessen<br />
und Kompetenzen der Kinder<br />
bzw. Jugendlichen wird Schule nicht<br />
erfolgreich sein.<br />
Prof. Dr. Hans Brügelmann<br />
Universität Siegen, oase@paedagogik.uni-siegen.de<br />
Forschungsprojekte u. a.: ›LISA & KO‹, ›SCHLAU‹ (vgl. auch<br />
den Beitrag von Knorre / Wagener in diesem Heft S. 18 – 20).<br />
Der gesamte Bericht »Das Kind hinter PISA« kann kosten <br />
los im Internet heruntergeladen werden von der Seite<br />
www.agprim.uni-siegen.de/inprint.htm<br />
GS <strong>aktuell</strong> <strong>105</strong> • Februar 2009<br />
5
Thema: Wie Kinder heute leben und lernen<br />
Sabine Andresen<br />
Wohlbefinden aus Sicht der Kinder<br />
Ergebnisse der World Vision Kinderstudie<br />
In der deutschen, aber insbesondere in<br />
der internationalen Forschung rückt<br />
derzeit die Frage nach dem Wohlbefinden<br />
von Kindern in den Mittelpunkt.<br />
Wie kann man Wohlbefinden<br />
definieren? Wie lässt sich Wohlbefinden<br />
messen? Welchen Wert haben<br />
Erkenntnisse darüber und welche<br />
Schlussfolgerungen lassen sich für politisches<br />
und pädagogisches Handeln<br />
ziehen? Wie verhält es sich mit dem<br />
Wohlbefinden der Kinder in Elternhaus<br />
und Schule? Das sind Fragen, die<br />
diese Forschung begleiten.<br />
Traditionell ist die Untersuchung<br />
des Wohlbefindens von Kindern<br />
und Jugendlichen auf die Lebens-<br />
und Entfaltungsmöglichkeiten in<br />
Entwicklungs- oder Schwellenländern<br />
fokussiert. Das hat seinen Grund zum<br />
einen darin, dass Kinder und Jugendliche<br />
unter 18 Jahren in diesen Ländern<br />
einen großen Bevölkerungsanteil bilden,<br />
und zum anderen, dass ein Leben<br />
im Armut und extremer Armut mit<br />
weniger als einem Dollar pro Tag insbesondere<br />
Menschen im Kindesalter<br />
trifft.<br />
Doch spätestens mit der UNICEF<br />
Studie »Child poverty in perspective:<br />
An overview of child well-being in rich<br />
countries« (2007) hat sich ein Verständnis<br />
dafür durchgesetzt, diese Thematik<br />
generell in der Kindheitsforschung aufmerksam<br />
zu berücksichtigen und zu erforschen.<br />
Das heißt, auch das Wohlbefinden<br />
von Kindern in reichen Industrie- und<br />
Wohlfahrtsländern wie Deutschland<br />
ist zu erheben, zu analysieren und kritisch<br />
zu diskutieren. Dabei geht es vor<br />
allem um die Lebensbedingungen von<br />
Kindern und ihre Möglichkeiten, entscheiden<br />
zu können, was sie sein und<br />
wie sie handeln wollen. Ins Blickfeld<br />
rücken insbesondere Machtverhältnisse<br />
zwischen Kindern und Erwachsenen<br />
in der Familie, in der Schule, in der<br />
Kommune, Möglichkeiten der Kinder<br />
zu Autonomie, Teilhabe und Mitbestimmung,<br />
ihr Zugang zu Ressourcen<br />
unterschiedlichster Art wie Bildung,<br />
Vergnügen, materielle Güter, aber auch<br />
Respekt, Liebe und Fürsorge. Eine große<br />
Herausforderung der Forschung<br />
besteht dabei darin, an den Erfahrungen<br />
der Kinder anzuknüpfen, diese als<br />
Experten ernst zu nehmen, in die Erhebungen<br />
einzubeziehen und mit angemessenen<br />
Forschungsmethoden zu<br />
arbeiten.<br />
In der World Vision Kinderstudie<br />
»Kinder in Deutschland 2007« haben<br />
wir ebenfalls das Wohlbefinden von<br />
Kindern zwischen acht und elf Jahren,<br />
also meist Kinder im Grundschulalter,<br />
in den Blick genommen. Bei unserer<br />
Definition konnten wir uns in<br />
einem ersten Zugang auch an der oben<br />
erwähnten UNICEF-Studie orientieren.<br />
Das Wohlbefinden wurde für den<br />
UNICEF-Bericht anhand der folgenden<br />
Kategorien erhoben und ausgewertet:<br />
1. Die materielle Situation von Kindern,<br />
bemessen an der Häufigkeit relativer<br />
Einkommensarmut der Familie,<br />
Arbeitslosigkeit der Eltern und<br />
finanziellen Mangelsituationen.<br />
2. Gesundheit, bemessen an Säuglingssterblichkeit<br />
und Geburtsgewicht,<br />
am Anteil geimpfter Kinder an der<br />
gesamten Kinderbevölkerung und<br />
am Anteil von Unfällen und Verletzungen.<br />
3. Bildung, ausgedrückt durch schulisches<br />
Leistungsvermögen im Alter<br />
von 15 Jahren, Quote des Besuchs<br />
weiterführender Schulen und des<br />
Übergangs in die Arbeitswelt.<br />
4. Beziehungen zu Eltern und Gleichaltrigen,<br />
bemessen am Anteil von<br />
Zwei-Eltern-Familien, Häufigkeit gemeinsamer<br />
Gestaltung des Familienalltags<br />
und Qualität der Beziehungen<br />
zu Gleichaltrigen.<br />
5. Lebensweisen und Risiken, bemessen<br />
am Ausmaß von gesunder Lebensweise,<br />
risikoreichem Verhalten<br />
und Häufigkeit der Erfahrung mit<br />
Gewalt.<br />
6. Der eigenen Einschätzung der Kinder<br />
zu ihrer Gesundheit, ihrer subjektiven<br />
Bewertung der Schule und<br />
ihrer allgemeinen Zufriedenheit.<br />
Zu den Ergebnissen der<br />
World Vision Kinderstudie<br />
Wie sind wir in der World Vision Kinderstudie<br />
vorgegangen? Methodisch hat<br />
sich die vom Kinderhilfswerk »World<br />
Vision« in Auftrag gegebene Studie<br />
eng an die Shell-Jugendstudien angelehnt.<br />
Das heißt, es wurden knapp 1600<br />
Kinder im Alter von acht bis elf Jahren<br />
mit einem Fragebogen zu ihren Lebensund<br />
Erfahrungsbereichen befragt. Auf<br />
dieser Basis konnten wir zu repräsentativen<br />
Erkenntnissen über Kinderleben<br />
in Deutschland, Erfahrungen, Möglichkeiten<br />
und Grenzen der Kinder in<br />
Elternhaus, Schule, mit Freunden und<br />
in der Freizeit, aber auch ihre Vorstellungen<br />
von Politik, ihre Wünsche und<br />
Ängste gelangen. Darüber hinaus wurden<br />
mit zwölf Kindern ab sechs Jahren<br />
ausführliche Interviews geführt, die<br />
in der Studie in Form von Porträts als<br />
»Kinderpersönlichkeiten« vorgestellt<br />
werden.<br />
Das Wohlbefinden wurde in der<br />
World Vision Kinderstudie über drei<br />
Dimensionen definiert:<br />
1. Die Freiheiten, die Kindern im Alltag<br />
von Eltern gewährt werden (Erziehungsstil).<br />
2. Ihr Wohlbefinden in der Schule.<br />
3. Die Zufriedenheit mit der Anzahl<br />
der Freundinnen und Freunde und<br />
der Qualität der Freundschaften.<br />
Erziehungsstil der Eltern, das Klima<br />
in der Schule und die Bedeutung der<br />
Freunde zielen auf die Beziehungsqualitäten,<br />
die Kinder mit Erwachsenen und<br />
Gleichaltrigen erleben. Die Ergebnisse<br />
des allgemeinen Wohlbefindens, in<br />
dem alle drei Dimensionen berücksichtigt<br />
werden, sind äußerst eindrucksvoll,<br />
denn 59 % der Kinder fühlen sich sehr<br />
wohl, 29 % fühlen sich wohl und 12 %<br />
6 GS <strong>aktuell</strong> <strong>105</strong> • Februar 2009
Thema: Wie Kinder heute leben und lernen<br />
der Acht- bis Elfjährigen fühlen sich<br />
unwohl.<br />
Dabei zeigt sich ein Geschlechterunterschied,<br />
den es sensibel und differenziert<br />
zu berücksichtigen gilt: Denn<br />
64 % der Mädchen fühlen sich sehr<br />
wohl, aber von den Jungen teilen nur<br />
53 % dieses Empfinden, und Jungen bilden<br />
mit 14 % auch die größere Gruppe<br />
gegenüber Mädchen mit 11 %, die sich<br />
unwohl fühlen.<br />
Ein wichtiger Faktor, der den Mangel<br />
an Wohlbefinden bei Kindern mit<br />
bewirkt, ist in Deutschland die soziale<br />
Herkunft. Kinder, die sich unwohl fühlen,<br />
stammen häufig aus Elternhäusern<br />
mit einem niedrigen sozioökonomischen<br />
Status, dieser wurde in der World<br />
Vision Studie maßgeblich über den<br />
Bildungsabschluss der Eltern und das<br />
zur Verfügung stehende Einkommen<br />
(Elternbefragung) ermittelt. Demnach<br />
fühlen sich 31 % der Kinder aus der<br />
Unterschicht und 15 % aus der unteren<br />
Mittelschicht unwohl. Vielfach haben<br />
diese Kinder gemeinsam mit ihren Eltern<br />
die Erfahrung von Armut und<br />
Arbeitslosigkeit gemacht, was auch die<br />
Sorgen und Ängste der Kinder prägt.<br />
Die Mehrheit der Kinder macht jedoch<br />
die Erfahrung, dass sie von ihren Familien<br />
eine große Unterstützung erhalten,<br />
und 85 % sind mit den Freiheiten, die<br />
ihnen ihre Eltern gewähren, sehr zufrieden<br />
oder zufrieden. Es zeigt sich<br />
demnach, welches Potenzial Kinder in<br />
ihren Familien vorfinden können und<br />
wie viel Eltern aus Sicht ihrer Kinder<br />
leisten, aber ebenso wird deutlich, wie<br />
problematisch sich das Aufwachsen gestaltet,<br />
wenn sie in der Familie zu wenig<br />
Unterstützung erfahren.<br />
Diesen Befund ergänzend, wird anhand<br />
unserer Daten sichtbar, dass Kinder,<br />
die sich in ihrer Familie weniger<br />
wohl fühlen, auf besondere Unterstützung<br />
in der Schule und in außerschulischen<br />
Einrichtungen angewiesen sind.<br />
Hier sind in den Schulen Lehrerinnen<br />
und Lehrer ebenso wie die Schulleitung<br />
vor die Herausforderung gestellt, welchen<br />
Beitrag sie für alle Kinder und ins-<br />
Angesichts der Breite und Vielseitigkeit<br />
der Freizeitaktivitäten stellt sich die<br />
Frage, wie man darauf angemessen<br />
reagieren kann.<br />
GS <strong>aktuell</strong> <strong>105</strong> • Februar 2009<br />
7
Thema: Wie Kinder heute leben und lernen<br />
besondere für in ihrem Wohlbefinden<br />
massiv beeinträchtigte Kinder leisten<br />
können.<br />
Ein Anknüpfungspunkt, den wir<br />
neben anderen in der Studie thematisieren,<br />
ist die stärkere Beteiligung von<br />
Kindern an schulischen Entscheidungsprozessen.<br />
Die Erfahrung, dass Wert<br />
auf ihre Meinung gelegt werde, verbinden<br />
Kinder wiederum mehrheitlich mit<br />
ihrer Mutter und ihrem Vater. Lediglich<br />
30 % der Mädchen und 23 % der Jungen<br />
haben den Eindruck, dass ihre Klassenlehrerin<br />
bzw. ihr Klassenlehrer ihre Ansichten<br />
wertschätzen würde.<br />
In außerschulischen Einrichtungen,<br />
z. B. den Sportvereinen, sind die Verantwortlichen<br />
mit dem Befund konfrontiert,<br />
dass der Mangel an Wohlbefinden<br />
bei Kindern dann verstärkt wird,<br />
wenn sie keinen Gruppen oder Vereinen<br />
angehören. Die Mitgliedschaft in einem<br />
Sportverein ist jedoch mittlerweile<br />
auch zu einer sozialen Frage geworden.<br />
Denn in unserer Studie wird deutlich,<br />
dass insbesondere Kinder aus der oberen<br />
Mittelschicht und Oberschicht vom<br />
Sportverein zu profitieren scheinen,<br />
wohingegen Kinder aus den unteren<br />
Herkunftsschichten und hier besonders<br />
Mädchen keinen Zugang zu sportlichen<br />
Aktivitäten in Vereinen haben.<br />
Was Kinder in ihrer Freizeit machen<br />
und welche non-formellen Bildungsangebote<br />
sie realisieren können, prägt<br />
ohne Zweifel auch ihre Schulkarrieren.<br />
In der Studie wurden drei Freizeittypen<br />
diagnostiziert: die normalen Freizeitler,<br />
die vielseitigen Kinder und die Medienkonsumenten.<br />
Die normalen Freizeitler machen<br />
etwa 50 % aus und bei diesem Typus<br />
sind Jungen und Mädchen etwa gleich<br />
vertreten. Sie beschäftigen sich vielfältig<br />
in ihrer außerschulischen Zeit, sie<br />
treiben Sport, machen durchaus auch<br />
Musik, treffen sich gern mit Freunden,<br />
schauen aber auch regelmäßig fern.<br />
Die vielseitigen Kinder stammen<br />
vornehmlich aus den mittleren und<br />
oberen Herkunftsschichten und sie sind<br />
meist weiblichen Geschlechts. Diese<br />
Kinder erwerben in ihrer Freizeit durch<br />
Sport, Musik, intensive Lektüre, kreative<br />
Tätigkeiten, durch Freunde und<br />
gemeinsame Spiele Bildungsressourcen,<br />
die sie ausgezeichnet im schulischen<br />
Kontext wieder einsetzen können. Hier<br />
Sabine Andresen,<br />
Jg. 1966, Professorin für Allgemeine<br />
Erziehungswissenschaft an der Universität<br />
Bielefeld.<br />
Aktuelle Forschungsprojekte u. a.:<br />
Gemeinsam mit Klaus Hurrelmann<br />
wissenschaftliche Leitung der World<br />
Vision Kinderstudie; Familien als<br />
Akteure in der Ganztagsgrundschule,<br />
gefördert vom BMBF; Kommunale<br />
Familienzentren, gefördert von der<br />
Stadt Bielefeld.<br />
wirken schulische Anforderungen und<br />
non-formelle Bildungsangebote, die<br />
Kinder gerne in ihrer Freizeit nutzen,<br />
wenn ihnen der Zugang dazu eröffnet<br />
wird, hervorragend zusammen.<br />
Der dritte Typus, die Medienkonsumenten,<br />
ist durch Kinder aus den unteren<br />
Herkunftsschichten und durch<br />
Jungen geprägt. Die Kinder dieses Typs<br />
treffen sich auch gerne mit Freunden,<br />
sie haben Interesse an Sport und Spielzeug,<br />
aber vor allem verbringen sie ihre<br />
Zeit vor dem Fernseher. Diese Aktivitäten<br />
haben keinen vergleichbaren Input<br />
für schulisches Lernen.<br />
Angesichts solcher Ergebnisse zur Breite<br />
und Vielseitigkeit der Freizeitaktivitäten<br />
und ihrer Bedeutung für schulisches<br />
Lernen stellt sich aus unserer Sicht<br />
die Frage, wie man auf diese Ungleichheit<br />
pädagogisch angemessen reagieren<br />
kann.<br />
Die Ganztagsschule auch schon in der<br />
Grundschulzeit wäre eine Möglichkeit,<br />
Kindern im Lebensraum Schule nonformelle<br />
Bildungsangebote zu machen.<br />
In offenen Ganztagsschulformen stoßen<br />
Lehrerinnen und Lehrer jedoch schnell<br />
an ihre Grenzen, weil sie nur begrenzt<br />
zu einer neuen Rhythmisierung des<br />
Unterrichts kommen können, solange<br />
Eltern entscheiden, ob ihre Kinder am<br />
Ganztag teilnehmen oder nicht.<br />
Darüber hinaus stellt sich aber auch<br />
die Frage, wie man auf Kompetenzen<br />
der »Medienkonsumenten« im Unterricht<br />
zurückgreifen kann bzw. welche<br />
Formen der Förderung noch nicht ausgeschöpft<br />
sind.<br />
Abschließend sei auf einen weiteren Befund<br />
verwiesen, der sich auch in anderen<br />
Studien zeigt: Eine kontinuierliche<br />
und häufige Teilnahme der Kinder in<br />
den verschiedenen Betreuungs- und<br />
Bildungssettings, die in Kommunen<br />
und Bundesländern möglich sind, trägt<br />
zu ihrem Wohlbefinden bei. Wenn es<br />
gelingt, das Angebot quantitativ und<br />
qualitativ auf hohem Niveau auszubauen<br />
und die beteiligten Berufsgruppen<br />
ohne Standesdünkel im Interesse des<br />
einzelnen Kindes miteinander arbeiten,<br />
also Lehrerinnen und Lehrer mit<br />
Sozialarbeitern oder Erzieherinnen in<br />
Ganztagsgrundschulen, wäre für alle<br />
Kinder und Eltern viel erreicht.<br />
Literatur<br />
UNICEF (2007): Child poverty in perspective:<br />
An overview of child well-being in rich countries.<br />
Innocenti Report Card No.7. UNICEF<br />
Innocenti Research Centre, Florence.<br />
World Vision Deutschland e. V. (Hrsg.):<br />
Kinder in Deutschland 2007. 1. World Vision<br />
Kinderstudie. Frankfurt/M.<br />
8 GS <strong>aktuell</strong> <strong>105</strong> • Februar 2009
Thema: Wie Kinder heute leben und lernen<br />
Maria Fölling-Albers<br />
Kinderleben heute –<br />
aus der Perspektive von Erwachsenen und Kindern<br />
Darstellungen über das Aufwachsen<br />
heutiger Kinder sind häufig negativ<br />
konnotiert – insbesondere dann,<br />
wenn sie von Laien für ein breiteres<br />
Publikum geschrieben wurden. Als<br />
implizite Ratgeberliteratur können sie<br />
oft hohe Auflagen erzielen – besonders<br />
dann, wenn sie von Medienstars oder<br />
bekannten Journalist(inn)en geschrieben<br />
worden sind (z. B. Gaschke 2001;<br />
Gerster & Nürnberger 2002; Winterhoff<br />
2008). Auch die umfangreiche<br />
explizite Ratgeberliteratur thematisiert<br />
tatsächliche oder vermeintliche<br />
Einschränkungen und Gefährdungen<br />
heutiger Kindheit. Es ist dabei aber oft<br />
nicht klar, ob es sich um die Verstärkung<br />
eines allgemeinen Unbehagens<br />
über die Erziehungssituation in unserer<br />
Gesellschaft handelt oder um wissenschaftlich<br />
belegbare Sachverhalte<br />
und Probleme.<br />
Aber auch bei Pädagogik-Studentinnen<br />
und -Studenten lassen<br />
sich oft Stereotype zu den<br />
Lebensbedingungen heutiger Kinder<br />
finden, die durch Übernahme von Klischees<br />
(auch hergestellt oder transportiert<br />
durch Massenmedien) entstanden<br />
sind. Um solchen einseitigen oder gar<br />
falschen Einschätzungen entgegenzuwirken,<br />
erhalten die Studierenden in<br />
meinen Seminaren zur »Kindheit heute«<br />
seit einigen Jahren den Auftrag, ihre<br />
Eltern und Großeltern danach zu befragen,<br />
wie sie die Lebensbedingungen<br />
heutiger Kinder im Vergleich zu ihrer<br />
eigenen Kindheit wahrnehmen und<br />
einschätzen. Darüber hinaus sollen sie<br />
jeweils ein Grundschulkind zu dessen<br />
Kindheit befragen und sich auch zu<br />
ihrer eigenen Kindheit äußern. So entsteht<br />
ein Vier-Generationen-Vergleich,<br />
der zwar weitgehend subjektiv ist, aber<br />
diese subjektiven Konstruktionen von<br />
Kindheit sollen ja in den Seminaren<br />
diskutiert werden.<br />
Studierende und ihre Eltern:<br />
Situation heutig er Kinder<br />
ist problematisch<br />
Prof. Dr. Maria Fölling-Albers,<br />
Lehrstuhlinhaberin für Grundschulpädagogik<br />
und -didaktik an der<br />
Universität Regensburg.<br />
Aktuelle Forschungsschwerpunkte:<br />
Kindheitsforschung,<br />
Lehr- / Lernforschung<br />
Die Ergebnisse sind fast in allen Seminaren<br />
mehr oder weniger gleich: Die<br />
Einschätzungen der Studierenden zur<br />
Kindheit heute stimmen weitgehend<br />
mit denen ihrer Eltern (zwischen 45 bis<br />
60 Jahre alt) überein. Beide Gruppen<br />
nehmen die Situation heutiger Kinder<br />
fast ausschließlich als problematisch<br />
wahr: Es gebe zu viel Konsum, zu viel<br />
Medieneinfluss, zu viel Stress (Schulund<br />
Freizeitstress), und zu viele Kinder<br />
wüchsen in unvollständigen Familien<br />
auf. Ihre eigenen Erfahrungen hingegen<br />
erinnern sowohl die Studentinnen<br />
und Studenten als auch ihre Eltern sehr<br />
positiv (»viel draußen gespielt«, »Natur<br />
kennengelernt, »Baumhäuser gebaut«,<br />
»viel gelesen«, insgesamt »glückliche<br />
Kindheit«). Nur wenige Einzelfälle weichen<br />
von dieser Einschätzung ab, z. B.<br />
wenn in der Kindheit die Trennung der<br />
Eltern verarbeitet werden musste, ein<br />
Umzug die vertrauten Freundschaftsbindungen<br />
zerstörte. Die Äußerungen<br />
der Großeltern (meist zwischen 70 bis<br />
85 Jahre) über die Kindheit heute hingegen<br />
sind in der Regel deutlich vielfältiger.<br />
Ein Teil wertet die Bedingungen<br />
des Aufwachsens heutiger Kinder ähnlich<br />
kritisch wie die Eltern- und Studentengeneration;<br />
ein erheblicher anderer<br />
Teil hingegen betont, dass die Kinder<br />
heute viel mehr Freiheiten hätten, mehr<br />
Bildungschancen, mehr Entwicklungsmöglichkeiten.<br />
Kinder sehen ihre Kindheit<br />
in der Regel sehr positiv<br />
Die Ergebnisse der Befragungen der<br />
Kinder über ihre jetzige Kindheit hingegen<br />
stehen in völligem Gegensatz zu<br />
den Einschätzungen der Studierenden<br />
und ihrer Eltern. Die Kinder sehen ihre<br />
Kindheit in der Regel sehr positiv. Sie<br />
GS <strong>aktuell</strong> <strong>105</strong> • Februar 2009<br />
9
Thema: Wie Kinder heute leben und lernen<br />
schätzen, dass sie nicht so viele Pflichten<br />
haben wie ihre Eltern und ihre<br />
Großeltern; insbesondere schätzen sie<br />
die Vielfalt der Medien, die ihnen zur<br />
Verfügung stehen.<br />
Großeltern antworten<br />
meist differenzierter<br />
Fragt man die Gruppe der Studierenden,<br />
Eltern und Großeltern, ob sie, wenn sie<br />
die Alternative hätten, lieber zu der Zeit<br />
ihrer eigenen Kindheit oder lieber heute<br />
aufwachsen möchten, dann äußern die<br />
Studierenden und ihre Eltern fast uneingeschränkt,<br />
dass sie auf keinen Fall<br />
heute Kind sein möchten. Ihre eigene,<br />
fast immer glückliche Kindheit möchten<br />
sie nicht missen. Bei den Großeltern<br />
sind die Antworten auch zu dieser Frage<br />
meist differenzierter. Ein Teil beklagt<br />
die Einschränkungen, Entbehrungen<br />
und Ängste der Kriegs- und Nachkriegszeit<br />
und würde lieber heute Kind<br />
sein. Ein großer anderer Teil hingegen<br />
gibt an, dass sie trotz der Entbehrungen<br />
eine glückliche Kindheit gehabt hätten.<br />
Man habe es nicht anders gekannt, und<br />
es habe auch schöne Phasen gegeben.<br />
Fragt man die Kinder, ob sie lieber jetzt<br />
Kind sein wollen oder lieber in der Zeit<br />
ihrer Eltern oder Großeltern Kinder<br />
gewesen wären, dann antworten nahezu<br />
alle Kinder, dass sie auf keinen Fall<br />
früher hätten Kind sein wollen – wegen<br />
der vielen Pflichten und Entbehrungen,<br />
die ihre Eltern und Großeltern zu ertragen<br />
hatten, vor allem aber auch wegen<br />
der heutigen Medienvielfalt und der<br />
sonstigen liebgewonnenen Möglichkeiten<br />
(eigenes Fahrrad, eigenes Zimmer,<br />
schöne Kleidung, zahlreiche Spielmöglichkeiten<br />
etc.), auf die sie nicht verzichten<br />
möchten.<br />
Wenn man die Studierenden mit der<br />
Tatsache konfrontiert, dass die Zeit, in<br />
der sie selbst aufgewachsen sind (meist<br />
die 1980er/frühe 1990er Jahre), bereits<br />
von der sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung<br />
als die Phase der »veränderten<br />
Kindheit« bezeichnet wird, für<br />
die die Merkmale beschrieben werden,<br />
die sie selbst sehr kritisch der heutigen<br />
Kindheit zuschreiben, dann sind die<br />
meisten Studierenden zunächst äußerst<br />
irritiert, weil fast keine Merkmale, die<br />
sie für die eigene Kindheit angeführt<br />
haben, auf die Zuschreibungen der<br />
»veränderten Kindheit« zuzutreffen<br />
scheinen.<br />
Die hier angeführten Befragungen sind<br />
selbstverständlich nicht repräsentativ<br />
– weder von der Größe noch von der<br />
Auswahl der Stichprobe der Befragten<br />
her. Nicht nur haben die Studierenden<br />
einen anderen Bildungshintergrund, sie<br />
hatten vermutlich auch positivere Entwicklungsmöglichkeiten<br />
als der Durchschnitt<br />
ihrer Altersgenossen. Auch die<br />
Kinder, die sie befragt haben, repräsentieren<br />
sicher nicht die Breite der Bevölkerung.<br />
Vor allem wurden meist nicht<br />
Kinder aus ärmeren Bevölkerungsschichten<br />
und / oder Kinder mit einem<br />
sehr problematischen Familienhintergrund<br />
befragt. Und doch entsprechen<br />
die Aussagen der heutigen Kinder zu<br />
ihrer Kindheit im Wesentlichen den<br />
Ergebnissen, die bei empirischen Erhebungen<br />
mit großen Stichproben gewonnen<br />
worden sind. Mehr als 90 % der<br />
Kinder im Grundschulalter bewerten<br />
nach Bucher ihre Kindheit als glücklich<br />
bzw. sehr glücklich; auch die zum Zeitpunkt<br />
der Erhebung erfragte Befindlichkeit<br />
wurde zu 85 % als positiv bzw.<br />
sehr positiv eingeschätzt (Bucher 2001,<br />
S. 139; vgl. Entsprechendes im <strong>aktuell</strong>en<br />
LBS-Kinderbarometer 2007).<br />
Was bedeuten Kindheitsbewertungen<br />
für die Professionalität<br />
künftiger Leh rerinnen?<br />
Die Aussagen der Studierenden (und<br />
ihrer Eltern) zur heutigen Kindheit<br />
und die Aussagen der Kinder zu ihrer<br />
Kindheit sind nahezu entgegengesetzt.<br />
Zugleich sind die eigenen Kindheitsbewertungen<br />
der heutigen Kinder im Vergleich<br />
zu Einschätzungen der Studierenden<br />
über die Zeit ihres Aufwachens<br />
sehr ähnlich. Wie sind die Gegensätze<br />
und Gemeinsamkeiten zu erklären, und<br />
vor allem: Welchen Stellenwert haben<br />
sie für die Professionalität der (künftigen)<br />
Lehrer/innen?<br />
Menschen scheinen die Tendenz zu<br />
haben, »ein günstiges Bild von sich<br />
selbst aufrechtzuerhalten« (Brandstätter<br />
& Renner 1992, S. 301 – Übs. M.F.-A.).<br />
Um dem Bedürfnis nach einem günstigen<br />
Bild von der eigenen Kindheit<br />
zu entsprechen, werden dazu nicht<br />
passende Situationen und Erfahrungen<br />
ggfs. umgedeutet und als positiv<br />
interpretiert. Die »Theorie der kognitiven<br />
Dissonanz« von Festinger (1978)<br />
erklärt dieses Bedürfnis: Menschen<br />
neigen dazu, Erfahrungen, die im Widerspruch<br />
zu den eigenen Einstellungen<br />
10 GS <strong>aktuell</strong> <strong>105</strong> • Februar 2009
Thema: Wie Kinder heute leben und lernen<br />
stehen, auszublenden oder umzudeuten.<br />
Auf diese Weise wird die als unangenehm<br />
empfundene Dissonanz zwischen<br />
Einstellung und Erfahrung reduziert.<br />
So waren vermutlich auch bei den Erwachsenen<br />
nicht alle Erfahrungen beim<br />
Draußen-Spielen nur angenehm (Stürze;<br />
beim Wettkampf verloren; Ärger zu<br />
Hause, wenn zu spät heimgekommen<br />
etc.). Doch im Rückblick werden solche<br />
Situationen »vergessen« oder als positiv<br />
für die eigene Entwicklung (um-)gedeutet<br />
(vgl. auch das heuristische Modell<br />
zur Erklärung subjektiven Glückserlebens<br />
bei Bucher 2001, S. 88).<br />
Plädoyer für offenere Wahrnehmung<br />
heutigen Kinderlebens<br />
Von daher kann die positive Wertschätzung<br />
der eigenen Kindheit bei den Erwachsenen<br />
als ein Indiz für ein solches<br />
Bedürfnis nach einem positiven Selbstbild<br />
und dem Erhalt des Glücksempfindens<br />
interpretiert werden. Allerdings<br />
sollten Erwachsene – und hier insbesondere<br />
(künftige) Lehrer/innen, die<br />
professionell Umgang mit Kindern haben<br />
– solche psychischen Mechanismen<br />
bedenken, wenn sie ihre eigene Kindheit<br />
wertend den Kindheiten anderer Generationen<br />
gegenüberstellen; es ist problematisch,<br />
die eigene Kindheit zum unreflektierten<br />
Maßstab für eine Bewertung<br />
heutigen Kinderlebens zu machen. Dadurch<br />
wird den heutigen Kindern die<br />
Legitimation verwehrt, sich mit ihrer<br />
eigenen Kindheit zu identifizieren.<br />
Insbesondere die Jungen würden bei<br />
einer abwertenden Einschätzung heutiger<br />
Kindheitserfahrungen benachteiligt,<br />
weil vor allem sie sich mit den Optionen<br />
moderner Medien identifizieren, die<br />
von den Erwachsenen meist an erster<br />
Stelle als problematisch gesehen und<br />
genannt werden. Auch für diese Kinder<br />
sollte gelten, dass deren Interessen und<br />
Erfahrungen zum Ausgangspunkt weitergehender,<br />
auch schulischer Lernprozesse<br />
gemacht werden sollten. Kinder<br />
wachsen nicht in die Vergangenheit hinein,<br />
sondern in eine (zwar immer ungewisse)<br />
Zukunft, die aber vermutlich<br />
mehr Ähnlichkeiten haben wird mit der<br />
Gegenwart der heutigen Kinder als mit<br />
der Kindheit ihrer Eltern.<br />
Das Plädoyer für eine offenere Wahrnehmung<br />
heutigen Kinderlebens und<br />
die stärkere Berücksichtigung der Perspektive<br />
der Kinder bedeutet nicht, alle<br />
Erfahrungen der Kinder gutzuheißen<br />
und Gefährdungen zu ignorieren. Vielmehr<br />
sollte vor allem bei den Studierenden<br />
nicht nur der Blick geschärft<br />
werden für eine kritische Reflexion der<br />
eigenen Kindheit; vielmehr gilt es auch,<br />
den Blick zu schärfen für die Chancen<br />
und Potentiale, die in den Bedingungen<br />
des Aufwachsens heutiger Kinder enthalten<br />
sind – und zwar aller Kinder.<br />
Literatur<br />
Brandstätter, J. & Renner, G. (1992): Coping<br />
with discrepancies between aspirations and<br />
achievements in adult development: A dualprocess<br />
model. In: L. Montada et al. (Eds.).<br />
Life crises and experiences of loss in adulthood.<br />
Hillsdale, NJ, pp. 301 – 319.<br />
Bucher, Anton A. (2001): Was Kinder glücklich<br />
macht. Historische, psychologische und<br />
empirische Annäherungen an Kindheitsglück.<br />
Weinheim und München: Juventa.<br />
Festinger, L. (1978): Theorie der kognitiven<br />
Dissonanz. Bern u. a.: Huber.<br />
Gaschke, S. (2001): Die Erziehungskatastrophe.<br />
Stuttgart, München: Deutsche Verlagsanstalt,<br />
4. Auflage.<br />
Gerster, P. & Nürnberger, C. (2002): Der<br />
Erziehungsnotstand. Berlin: Rowohlt-Verlag,<br />
6. Auflage.<br />
LBS-Kinderbarometer, Deutschland (2007):<br />
Stimmungen, Meinungen, Trends von Kindern<br />
in sieben Bundesländern. Ergebnisse<br />
des Erhebungsjahres 2006/07. Ein Projekt des<br />
Dachverbandes der Landesbausparkassen,<br />
»LBS-Initiative Junge Familie« in Zusammenarbeit<br />
mit dem Deutschen Kinderschutzbund<br />
(DKSB), Durchführung: PROSOZ<br />
Herten ProKids-Institut, September 2007.<br />
Winterhoff, M. (2008): Warum unsere Kinder<br />
Tyrannen werden. Gütersloh: Gütersloher<br />
Verl.-Haus, 10. Auflage. Dieser Band ist seit<br />
längerer Zeit auf der SPIEGEL-Bestseller-<br />
Liste.<br />
GS <strong>aktuell</strong> <strong>105</strong> • Februar 2009<br />
11
Praxis: Wie Kinder heute leben und lernen<br />
Rita Fürstenau<br />
Was Kinder über Kindheit denken<br />
Welche Vorstellungen von Kindheit<br />
haben Kinder und welche Perspektiven<br />
nehmen sie ein, wenn sie ihre Ansichten<br />
darstellen? Was denken Kinder<br />
über Kindheit? Ich möchte einen kurzen<br />
Einblick in die Äußerungen von<br />
Grundschulkindern zu diesem Thema<br />
geben.<br />
Rita Fürstenau<br />
beendete 2005 ihr Studium für das<br />
Lehramt an <strong>Grundschule</strong>n an der<br />
Universität Kassel. Zweitstudium im<br />
Fachbereich Visuelle Kommunika tion<br />
an der Kunsthochschule Kassel.<br />
Arbeitet seit Frühjahr 2008 im<br />
Rahmen des Promotions kollegs<br />
»Kinder und Kindheiten« an ihrer<br />
Dissertation zu Kindheitsvorstellungen<br />
von Grundschulkindern.<br />
r.fuerstenau@uni-kassel.de<br />
Nachdem Kinder aus dritten<br />
und vierten Klassen aufgefordert<br />
wurden, zu den vorgegebenen<br />
Satzanfänge »Ich bin gerne ein<br />
Kind, weil …« und »Ich bin nicht gerne<br />
ein Kind, weil …« Texte zu verfassen,<br />
hatten sie die Möglichkeit, sich einen<br />
der beiden Satzanfänge auszusuchen<br />
oder beide zu bearbeiten. Vor dem<br />
Hintergrund der vorgegebenen positiven<br />
beziehungsweise negativen Bewertung<br />
formulierten die Kinder in ihren<br />
Texten Begründungen dafür, gerne<br />
oder nicht gerne ein Kind zu sein, und<br />
ergänzten diese teilweise mit kurzen<br />
Beschreibungen von beispielhaften Situationen.<br />
In den insgesamt 176 Texten lassen<br />
sich drei Bearbeitungsstrategien erkennen:<br />
Die Kinder leiten ihre Begründungen<br />
entweder aus ihrer eigenen Lebenswelt<br />
ab, beziehen sich auf Kinderwelt<br />
allgemein oder formulieren Bezüge zur<br />
Erwachsenenwelt. Einige inhaltliche<br />
Bezüge, die die Kinder in ihren Texten<br />
formuliert haben, werden im Folgenden<br />
dargestellt und anhand dieser die Sichtweisen<br />
der Kinder gezeigt.<br />
Spielen: grundlegendes<br />
Merkmal von Kindheit<br />
Als häufigste Begründung dafür, gerne<br />
ein Kind zu sein, wurde das Spielen<br />
genannt. Alleine, mit Freunden oder in<br />
der Familie, mit oder ohne Spielzeug,<br />
im Freien, zu Hause oder in der Schule<br />
– Spielen wurde in vielen Kindertexten<br />
als grundlegendes Merkmal von Kindheit<br />
entworfen und dabei durchgängig<br />
positiv belegt. Negativ äußern sich Kinder<br />
zu Spielverboten und Einschränkungen<br />
in ihren Spielwünschen, wie<br />
beispielsweise Zeitmangel oder fehlende<br />
Mitspieler.<br />
Darüber hinaus führten Kinder oftmals<br />
das Spielen als bedeutenden Unterschied<br />
zum Leben der Erwachsenen<br />
an, da Erwachsene nicht spielen könnten,<br />
sondern arbeiten müssten.<br />
Ich bin gerne ein Kind, weil ich dann<br />
mit Spielzeugen spielen kann und mit<br />
Freunden spielen. Ich bin gerne ein<br />
Kind, weil ich dann nicht so beschäftigt<br />
bin wie die Erwachsenen. Ich kann<br />
dann die ganze Zeit spielen. (1) (Mädchen,<br />
4. Klasse)<br />
Ich bin gerne ein Kind, weil man spielen<br />
kann und wenn man erwachsen ist,<br />
kann man nicht spielen. Da muss man<br />
nur arbeiten. (Junge, 4. Klasse)<br />
Ich bin gerne ein Kind, weil man mit<br />
Spielsachen spielen kann. Weil extra nur<br />
Anmerkung<br />
(1) Die Auszüge aus den Kindertexten wurden<br />
zur besseren Verständlichkeit auf ihre<br />
für Kinder Spielsachen erfunden wurden.<br />
(Mädchen, 4. Klasse)<br />
Schule: selbstverständlicher<br />
Bestandteil der Kindheit<br />
Ebenso wie das Spielen sehen viele Kinder<br />
auch die Schule als selbstverständlichen<br />
Bestandteil ihrer Kindheit an. Das<br />
Besuchen der Schule wird sowohl positiv<br />
als auch negativ wahrgenommen<br />
und beurteilt. Schule wird als Ort des<br />
Lernens oder Spielens, als zweites Zuhause<br />
und Zufluchtsort oder als Belastung,<br />
Einschränkung und lästige Pflicht<br />
dargestellt.<br />
Oftmals thematisieren Kinder den<br />
Schulbesuch mit Bezug auf die Arbeit<br />
der Erwachsenen. Dabei werden zwei<br />
Perspektiven sichtbar: In der einen gehen<br />
Kinder zur Schule anstatt zur Arbeit,<br />
in der anderen wird die Schule als<br />
die Arbeit der Kinder dargestellt.<br />
Ich bin gerne ein Kind, weil man als Erwachsener<br />
schwer arbeiten muss um seinen<br />
Lebensunterhalt zu verdienen. Als<br />
Kind muss man nur fünfmal in der Woche<br />
zur Schule gehen. (Junge, 4. Klasse)<br />
Ich bin gerne ein Kind, weil man eine<br />
tolle Arbeit hat. Die Schule ist die tolle<br />
Arbeit. (Mädchen, 3. Klasse)<br />
Als Kind hat man mehr Zeit<br />
Ein weiterer Teil der Kindertexte setzt<br />
sich auf unterschiedliche Weise mit<br />
zeitlichen Strukturen auseinander. In<br />
einer Vielzahl von Texten werden die<br />
freie Zeit und die Freizeit der Kinder<br />
betont und sowohl zur Beschreibung<br />
des Kinderalltags als auch zur Abgrenzung<br />
von Kinderleben und Erwachsenenleben<br />
herangezogen.<br />
Ich bin gerne ein Kind, weil man nicht<br />
zur Arbeit gehen muss und fast gar nicht<br />
auf die Zeit achten muss. Dass man<br />
nachmittags mit Freunden spielen kann,<br />
finde ich aber am besten und ich finde<br />
noch gut, dass man zum Beispiel den<br />
ganzen Nachmittag Gitarre spielen kann<br />
12 GS <strong>aktuell</strong> <strong>105</strong> • Februar 2009
Praxis: Wie Kinder heute leben und lernen<br />
und nicht so viele Verpflichtungen hat<br />
wie Erwachsene. (Junge, 4. Klasse)<br />
Ich bin nicht gerne ein Kind, weil …<br />
Auch die längere Lebenszeit, die Kinder<br />
im Vergleich zu Erwachsenen haben,<br />
wird in manchen Texten thematisiert<br />
und als wesentlicher Vorteil des Kindseins<br />
beschrieben.<br />
Ich bin gerne ein Kind, weil man ist noch<br />
jung und stirbt nicht so schnell und weil<br />
man sein Leben genießen kann. (Junge,<br />
4. Klasse)<br />
Wahrnehmung körperlicher<br />
Unterschiede<br />
Ich bin gerne ein Kind, weil …<br />
Mädchen, 3. Klasse<br />
In ihren Texten gehen einige Kinder<br />
zudem auf die körperlichen Unterschiede<br />
zwischen Kindern und Erwachsenen<br />
ein. Die kleinere Körpergröße von<br />
Kindern wird in den Texten sowohl als<br />
Vorteil als auch als Nachteil beschrieben.<br />
Manche Kinder betonen, dass es<br />
Kindern so sehr viel besser möglich<br />
sei, sich zu verstecken, in Ecken zu<br />
kriechen und durch schmale Gänge<br />
zu klettern. Andere heben die körperliche<br />
Unterlegenheit von Kindern bei<br />
Streitereien mit Erwachsenen und älteren<br />
Kindern hervor oder weisen auf<br />
Situationen hin, in denen Erwachsene<br />
aufgrund ihrer Körpergröße im Vorteil<br />
sind. Eine Überlegenheit der Kinder<br />
gegenüber Erwachsenen wird hingegen<br />
in den Textpassagen deutlich, in denen<br />
sich Kinder als gelenkiger, flinker und<br />
schneller darstellen.<br />
Ich bin gerne ein Kind, weil …<br />
Junge, 4. Klasse<br />
Ich bin nicht gerne ein Kind, weil …<br />
Mädchen, 4. Klasse<br />
Mädchen, 4. Klasse<br />
GS <strong>aktuell</strong> <strong>105</strong> • Februar 2009<br />
13
Praxis: Wie Kinder heute leben und lernen<br />
Die Perspektiven der Kinder beziehen<br />
sich darüber hinaus in einigen Texten<br />
auch explizit auf die Position von<br />
Kindern in generationalen und gesellorthografische<br />
Richtigkeit hin überarbeitet.<br />
Kinder beschäftigen sich vielfältiger als oft angenommen<br />
Ich bin nicht gerne ein Kind, weil wenn<br />
uns ein Ball in den Ästen hängen bleibt,<br />
muss uns immer ein erwachsener Mann<br />
oder eine Frau helfen und das ist schon<br />
blöd und das stört andauernd. (Junge,<br />
3. Klasse)<br />
Ich bin gerne ein Kind, weil ich kann<br />
auch viele Sportarten betreiben, ohne<br />
dass mir der Rücken gleich weh tut.<br />
(Mädchen, 4. Klasse)<br />
Kinder und Gesellschaft<br />
schaftlichen Strukturen und fordern ein<br />
Mitgestaltungsrecht am eigenen Leben<br />
ein.<br />
Ich bin nicht gerne ein Kind, weil man bestimmte<br />
Sachen noch nicht machen darf.<br />
Weil manche Erwachsene Kinder nicht<br />
für voll nehmen. Und weil man meistens<br />
rumkommandiert wird. Und Sachen<br />
machen muss, die die Erwachsenen uns<br />
sagen. Man darf nicht alles machen was<br />
man will. (Mädchen, 4. Klasse)<br />
Ich bin nicht gerne ein Kind, weil die<br />
Politiker alles über uns entscheiden und<br />
wir das machen, wenn wir meinen, dass<br />
das so ist, hören uns die Erwachsenen<br />
gar nicht zu. (Junge, 4. Klasse)<br />
In den ausgewählten Textpassagen wird<br />
deutlich, dass den Kindertexten teilweise<br />
sehr unterschiedliche Vorstellungen<br />
von Kindheit zugrunde liegen. Die in<br />
Erwachsenenperspektiven häufig vorzufindende<br />
Orientierung an Normvorstellungen,<br />
welche beschreiben, wie<br />
Kindheit idealtypisch sein sollte, bzw.<br />
was eine schöne oder schlechte Kindheit<br />
ausmacht, sollte demnach nicht nur vor<br />
dem Hintergrund der stetigen Veränderungen<br />
des Kinderalltags, sondern auch<br />
unter Berücksichtigung der Sichtweisen<br />
von Kindern auf Kindheit reflektiert<br />
werden.<br />
14 GS <strong>aktuell</strong> <strong>105</strong> • Februar 2009
Praxis: Wie Kinder heute leben und lernen<br />
Sarah Alexi<br />
Das Erzählcafé<br />
Generationenvermittlung in der <strong>Grundschule</strong><br />
In der <strong>Grundschule</strong> treffen Lehrer/innen und Schüler/innen und damit Menschen<br />
verschiedener Generationen aufeinander. Es geht im Unterricht deshalb<br />
immer auch um Vermittlungs- und Aushandlungsprozesse, die von der Generationsangehörigkeit<br />
wesentlich beeinflusst werden. Dabei werden Lehrer/innen<br />
in der Schule mit heutigen Kinderwelten konfrontiert, die so völlig anders sind<br />
als ihre eigenen Kindheitserfahrungen. Oftmals vergleichen sie die gegenwärtige<br />
Kindheit mit ihrer eigenen und ihre Wahrnehmungen und Bewertungen bewegen<br />
sich zumeist zwischen den Polen »früher war alles besser« oder »wie gut<br />
es die Kinder doch heute haben«. Es ist daher wünschenswert, dass die jeweils<br />
verschiedenen biographischen Prägungen von Lehrer/innen und Schüler/innen<br />
gegenseitig anerkannt und in Form eines intergenerationalen Dialogs offen thematisiert<br />
werden.<br />
Doch wie können die unterschiedlichen<br />
lebensgeschichtlichen<br />
Erfahrungen der schulischen<br />
Akteure Eingang in Schule und<br />
Unterricht finden? Eine geeignete Methode,<br />
um Angehörige verschiedener<br />
Generationen miteinander ins Gespräch<br />
zu bringen, ist das »Erzählcafé«.<br />
Erzählcafé – Was ist das?<br />
Dabei handelt es sich um ein moderiertes<br />
Kreisgespräch zu einem vorab<br />
festgelegten Thema, zu dem zusätzlich<br />
ältere Menschen eingeladen werden, die<br />
als Experten von früher bzw. von ihrer<br />
Kindheit berichten. In einer möglichst<br />
angenehmen Atmosphäre, die durch die<br />
Darbietung von Getränken und Gebäck<br />
einem »gemütlichen Kaffeeklatsch«<br />
Beispielhafter Ablauf für ein Erzählcafé<br />
1. Empfang und Verteilen der Namensschilder<br />
2. Begrüßung und Festlegen des Ablaufs<br />
und der Gesprächsregeln<br />
3. Vorstellungsrunde<br />
(z. B. als Kennenlern-Spiel)<br />
ähnelt, eröffnet sich im gemeinsamen<br />
Gespräch ein Raum, in dem alle Teilnehmenden<br />
ihre je eigenen Erfahrungen<br />
und Erlebnisse mitteilen und mit<br />
anderen abgleichen können. Durch die<br />
offensichtliche Nähe zum Morgenkreis<br />
lassen sich Erzählcafés ohne größere<br />
Schwierigkeiten im Unterricht anwenden<br />
und können diesen auf unterschiedlichste<br />
Art und Weise bereichern.<br />
Das Durchführen eines Erzählcafés erfordert<br />
im Voraus eine gewisse Planung.<br />
So müssen ältere Menschen für die Teilnahme<br />
gewonnen und ein passendes<br />
Gesprächsthema festgelegt werden. Bei<br />
der Auswahl eines Erzählcafé-Themas<br />
für die <strong>Grundschule</strong> sollte darauf geachtet<br />
werden, dass alle Teilnehmenden<br />
als »Experten ihrer Zeit« etwas zu<br />
4. Einstieg in das Thema<br />
(z. B. anhand von Fotos oder mit gebrachten Gegenständen)<br />
5. Moderiertes Gespräch<br />
6. Abschluss<br />
(z. B. mit einem gemein samen Lied)<br />
Sarah Alexi<br />
(Jahrgang 1981) ist Grund-, Hauptund<br />
Realschul lehrerin. Zurzeit<br />
arbeitet sie als wissenschaftliche<br />
Mitarbeiterin an der Universität<br />
Kassel im Fachbereich Erziehungswissenschaft<br />
/ Human wissenschaften.<br />
berichten haben. Deshalb bietet es sich<br />
an, das geplante »Motto« etwas offener<br />
zu halten, damit alle gleichermaßen<br />
Anschlusspunkte in den Erzählungen<br />
finden und ihre persönlichen Erfahrungen<br />
aktiv ins Erzählcafé einbringen<br />
können.<br />
Themen für Erzählcafés<br />
Mögliche Themenbereiche für Erzählcafés<br />
wären zum Beispiel Schule (Mein<br />
erster Schultag und der Schulanfang,<br />
Klassenfahrten und Klassenausflüge,<br />
Hausaufgaben, Pausenaktivitäten, Unterrichtserlebnisse,<br />
Mein liebstes Schulfach,<br />
Schulfeste etc.), Freizeit (Spiele<br />
drinnen und draußen, Mein tollstes<br />
Spielzeug, Freunde und Freundschaften,<br />
Tiere, Sportereignisse, Hobbys etc.),<br />
Familie (Erlebnisse und Beziehungen,<br />
Ausflüge und Urlaub, Geschwister,<br />
Mein Zuhause, Mein Tagesablauf, Besuche<br />
etc.) oder Feierlichkeiten (Geburtstage,<br />
Weihnachten, Ostern, Fasching,<br />
Silvester etc.). Auch von den Schülerinnen<br />
und Schülern in Morgenkreisen<br />
selbst angesprochene Themen können<br />
als weitere Erzählanlässe dienen.<br />
In der Planung und anschließenden<br />
Durchführung von Erzählcafés sollten<br />
GS <strong>aktuell</strong> <strong>105</strong> • Februar 2009<br />
15
Praxis: Wie Kinder heute leben und lernen<br />
einige organisatorische Punkte beachtet<br />
werden. Dabei sind eine sinnvolle<br />
Strukturierung in zeitlicher und inhaltlicher<br />
Hinsicht sowie eine gewisse<br />
Transparenz im Ablauf für die Teilnehmenden<br />
unabdingbar. Eine Person sollte<br />
die Rolle als Moderatorin bzw. Moderator<br />
übernehmen, um insbesondere<br />
den Anfang und das Ende des Erzählcafés<br />
zu gestalten.<br />
Durch die im Erzählcafé inszenierte<br />
Generationendifferenz wird allen Teilnehmenden<br />
die Möglichkeit geboten,<br />
sich selbst und die Anderen auf eine<br />
neue Art und Weise kennen zu lernen.<br />
Anhand von Identifikation mit der eigenen<br />
und Abgrenzung zu den anderen<br />
Generationen können sich alle gleichermaßen<br />
ihrer eigenen biographischen<br />
Prägung bewusst werden und sich<br />
selbst als Angehörige einer Generation<br />
erfahren.<br />
Ältere Menschen erleben durch die<br />
Teilnahme an Erzählcafés eine besondere<br />
Form der Wertschätzung. So können<br />
sie nicht nur ihre persönlich bedeutsamen<br />
Kindheitserfahrungen mitteilen<br />
und ihr über Jahre hinweg konserviertes<br />
Wissen weitergeben, sondern durch<br />
die Nachfragen der Anderen können sie<br />
ihre Erinnerungen von früher wieder<br />
beleben und neu ordnen.<br />
Im Erzählcafé<br />
Authentisches historisches Lernen<br />
Für Schülerinnen und Schüler eröffnet<br />
sich im Erzählcafé eine Form des<br />
authentischen historischen Lernens.<br />
Indem sie den Berichten der älteren<br />
Generation folgen, werden die geschilderten<br />
Erlebnisse und Geschichten anhand<br />
ihrer realen Darstellung leichter<br />
nachvollziehbar und damit auch besser<br />
begreifbar. Durch einen ständigen<br />
Wechselprozess von passiver Informationsaufnahme<br />
und aktiven Beiträgen<br />
werden zudem Schlüsselqualifikationen<br />
wie Erzählen, Diskutieren, Zuhören<br />
und Verknüpfen von Inhalten trainiert.<br />
Darüber hinaus werden soziale Kompetenzen<br />
und insbesondere der Umgang<br />
mit älteren Menschen geschult.<br />
Lehrerinnen und Lehrern bietet die<br />
Teilnahme an Erzählcafés die Gelegenheit,<br />
ihre Schülerinnen und Schüler als<br />
Gruppe mit eigenen Beziehungsstrukturen,<br />
Bedürfnissen und Erfahrungen,<br />
die im regulären Unterricht so zumeist<br />
nicht erkennbar werden, wahrzunehmen.<br />
Dies führt bestenfalls zu einer<br />
reflexiven Gestaltung der Beziehungen,<br />
die bis in den Unterricht hineinwirkt.<br />
Damit bietet das Erzählcafé sowohl für<br />
Lehrerinnen und Lehrer als auch für<br />
Schülerinnen und Schüler die Chance,<br />
sich über das institutionalisierte schulische<br />
Verhältnis hinaus anders kennen<br />
zu lernen und sich einander auf neue<br />
Art und Weise anzunähern.<br />
S. 17<br />
Spielzeug früher und heute<br />
16 GS <strong>aktuell</strong> <strong>105</strong> • Februar 2009
Praxis: Wie Kinder heute leben und lernen<br />
Erzählcafé: Gesprächsausschnitt<br />
Über das Thema »Spielen in der Kindheit«<br />
sprechen Albert und Berta (ältere<br />
Generation) sowie Heiko und Julia<br />
(jüngere Generation).<br />
Berta: Wir haben manchmal mit ganz<br />
primitiven Sachen gespielt. Zum Beispiel<br />
Wackeln. Wer kennt denn Wackeln von<br />
euch? Oder Murmeln?<br />
(schaut in die Runde)<br />
Albert: Hast du ’ne Murmel mitgebracht?<br />
Heiko: (nickt und zeigt seine kleine Kugel)<br />
Albert: Kennst du das? Murmeln spielen?<br />
Berta: Murmeln spielen?<br />
Heiko: Ja, das kenne ich. Da ist doch so<br />
’n Kreis und da müssen die dann rein.<br />
Berta: Da musste die rein machen. Und<br />
wenn du die anderen geditscht hattest,<br />
dann flogen die weg.<br />
Julia: Nur wenn die über den Rand vom<br />
Kreis kommen, darf man die haben.<br />
Berta: Und dann hatteste manchmal so<br />
ne ganz tolle Glaskugel. Die sah so schön<br />
aus. Na dann kriegte die dann irgendwer<br />
anders und dann haste dich geärgert,<br />
dass die weg war.<br />
Julia: Dann muss man sich eben neue<br />
kaufen.<br />
Früher konnten sich die Kinder meist nicht so viele Murmeln leisten wie heute<br />
Albert: (lacht und schüttelt den Kopf)<br />
Berta: Naja, früher, da hatte man nicht<br />
so viel Geld.<br />
Julia: Ach so, waren die teuer?<br />
Albert: Unsere Eltern waren früher …<br />
Berta: (unterbricht Albert) Unsere Eltern<br />
konnten uns so was nicht kaufen.<br />
Julia: Das ist dann dumm, wenn die wegkommt.<br />
Berta: Ja, genau.<br />
Hier wird erkennbar, wie unterschiedlich<br />
die Kindheitserfahrungen der verschiedenen<br />
Generationen sind. Während für<br />
die ältere Generation der Verlust einer<br />
»ganz tollen Glaskugel« als ärgerlich beschrieben<br />
wird, versucht das Mädchen<br />
Julia eine Lösung anzubringen. Diese<br />
ist aus heutiger Sicht auch durchaus gerechtfertigt,<br />
denn Murmeln haben heute<br />
einen anderen Geldwert als zu damaligen<br />
Zeiten. Berta gelingt es aber, Julia<br />
den damals höheren Wert einer Murmel<br />
zu vermitteln und ermöglicht Julia und<br />
den anderen teilnehmenden Kindern<br />
damit eine Form des authentischen historischen<br />
Lernens.<br />
Beispiel für ein Abschlusslied: OBWISANA SANA<br />
Übersetzung:<br />
»Oh Großmutter, soben habe ich meinen Finger<br />
an einem Stein verletzt.«<br />
Bei diesem Rhythmusspiel aus Ghana werden während des gemeinsamen<br />
Singens kleine Steine passend zur Musik im Kreis von einer Person zur nächsten<br />
weitergereicht.<br />
(Quelle: http://www.labbe.de/liederbaum/index.asp?themaid=3&titelid=645)<br />
»Stone passing Game«:<br />
Die Schüler sitzen mit gekreuzten Beinen auf<br />
dem Boden im Kreis (»Schneidersitz«), davor<br />
liegen nebeneinander zwei handliche Steine.<br />
Im Takt des Liedes wechseln sich zwei Bewegungen<br />
ab:<br />
* Gleichzeitig ergreifen die rechte Hand den<br />
(linken) Stein des Nachbarn und die linke Hand<br />
den (rechts liegenden) Stein vor sich.<br />
* Die rechte Hand legt ihren Stein vor sich auf<br />
den Boden, während die linke Hand ihren Stein<br />
vor den Nachbarn zur Linken hinlegt.<br />
(Quelle: http://www.8ung.at/hansjoergbrugger/obwisana.htm)<br />
GS <strong>aktuell</strong> <strong>105</strong> • Februar 2009<br />
17
Praxis: Wie Kinder heute leben und lernen<br />
Simone Knorre / Anna Lena Wagener<br />
Zwischen Freizeit, Schule und Tests<br />
Wie die Kenntnis der Lernbiografie den Zugang zu<br />
unterschiedlichen Facetten eines Kindes erschließen hilft<br />
Der achtjährige Tom ist ein großer Fan<br />
von Computerspielen. Mehrere Stunden<br />
verbringt er täglich damit, an seinem<br />
Computer oder seiner Spielkonsole zu<br />
spielen. Ein weiteres Hobby des Drittklässlers<br />
ist das Fernsehen. Er liebt Zeichentrickserien<br />
und schaut diese mit<br />
seiner Mutter bereits während des Mittagessens.<br />
Das Lesen gehört ebenfalls<br />
zu den Tätigkeiten, die Toms Alltag bestimmen.<br />
Er beschränkt sich dabei allerdings<br />
ausschließlich auf Comics, die er<br />
jeden Abend vor dem Einschlafen und<br />
sonst nur bei Langeweile liest. Neben<br />
diesen medialen Hobbys geht Tom keinen<br />
weiteren regelmäßigen Aktivitäten<br />
nach. (1)<br />
Stereotypen über Kindheit<br />
Die Bilder heutiger Kinder sind oft<br />
stereotypisiert: Kinder, die viel fernsehen,<br />
zeigen schlechte Leistungen in der<br />
Schule, besonders im Lesen. Unterstützt<br />
werden diese Bilder durch Studien, deren<br />
verkürzte Darstellung oder Berichte<br />
in den Medien über Auswirkungen von<br />
Fernsehkonsum. Diese mögen für einen<br />
Großteil der Probanden gelten und somit<br />
durchaus relevantes Hintergrundwissen<br />
als Folie für pädagogisches Handeln<br />
liefern. (2) Für das einzelne Kind<br />
»Lernbiografien im schulischen und<br />
außerschulischen Kontext« (LISA&KO)<br />
müssen sie aber nicht zwangsläufig zutreffen,<br />
wie die Fallstudie von Tom aus<br />
dem Forschungsprojekt LISA&KO zeigt<br />
(Näheres zum Forschungsprojekt siehe<br />
Kasten):<br />
Betrachtet man Toms schriftsprachliche<br />
Fähigkeiten, fällt auf, dass er ein sehr<br />
leistungsstarker Schüler ist, er gehört zu<br />
den Klassenbesten. Bei allen im Rahmen<br />
der Erhebung durchgeführten Lese- und<br />
Schreibtests schneidet er überdurchschnittlich<br />
gut ab, beispielsweise ist sein<br />
Lesetempo mit dem eines guten erwachsenen<br />
Lesers vergleichbar.<br />
Die Kenntnis über in Studien aufgeführte<br />
Häufigkeiten kann in der pädagogischen<br />
Praxis – z. B. für die Beratung<br />
von Eltern – hilfreich sein. Zu<br />
bedenken ist dabei jedoch immer, dass<br />
es sich bei vielen Befunden der Bildungsforschung<br />
um verdichtete Informationen<br />
aus einer mehr oder weniger<br />
großen Zahl von Fällen handelt, die zudem<br />
punktuell erfasst wurden, und dass<br />
Streuungen durchaus groß sein können.<br />
Zudem könnten – bezogen auf Toms<br />
Beispiel – weitere Faktoren Einfluss auf<br />
seine sprachlichen Fähigkeiten nehmen<br />
wie z. B. die Begleitung des Fernsehens<br />
durch die Eltern. Brügelmann stellt fest:<br />
Welche Bedeutung haben Alltagserfahrungen für die Entwicklung der individuellen<br />
Interessen und Kompetenzen von Kindern? Im Forschungsprojekt LISA&KO erstellen<br />
Studierende seit 1999 schriftliche Porträts von einzelnen Kindern im Rahmen des ersten<br />
Staatsexamens für Lehrämter. Sie besuchen Kinder und Jugendliche zwischen 5<br />
und 15 Jahren in ihren Familien, bei Freizeitaktivitäten und in der Schule bzw. im Kindergarten<br />
und schauen, wie sie leben, lernen, was sie interessiert und <strong>aktuell</strong> beschäftigt.<br />
Auf diese Weise sind bereits 206 solcher Porträts von insgesamt 133 Kindern (die<br />
– so die Grundidee des Projekts – zum Teil bereits mehrfach besucht worden sind)<br />
entstanden.<br />
Der besondere Wert des Projekts LISA&KO im Vergleich zu Großuntersuchungen wie<br />
PISA, IGLU und VERA ist vielschichtig. Bei der Forschung im Projekt LISA&KO wird vor<br />
allem auf (Leistungs-) Unterschiede aufmerksam gemacht, die in den Durchschnittswerten<br />
der »großen« Lernstandserhebungen verloren gehen. Anders als bei den<br />
Rangplätzen in standardisierten Tests werden Kinder und Jugendliche wieder als Personen<br />
mit ihrer individuellen Lebens- und Lerngeschichte erkennbar.<br />
»Befunde der Bildungsforschung sind<br />
[…] nicht nur zeitgebunden, sondern<br />
auch situationsabhängig.« (3) Ein genaueres<br />
Hinschauen bei Einzelfällen ist<br />
daher geboten, um vorschnellen Schlüssen<br />
entgegenzuwirken.<br />
Toms Interesse für Comics hat sich laut<br />
Toms Eltern zufällig im Alter von sieben<br />
Jahren ergeben, als er flüssig zu lesen<br />
begann und ein Micky-Maus-Heft zum<br />
Geburtstag geschenkt bekam. Schnell<br />
festigte sich sein Interesse für Comics<br />
und er begann Donald-Duck-Comics<br />
(›Lustige Taschenbücher‹) zu lesen. Tom<br />
selbst schätzt seinen Besitz auf über 100<br />
›Lustige Taschenbücher‹. Sein Vater erläutert,<br />
dass Tom seiner Meinung nach<br />
die Comics im Laufe der Zeit immer besser<br />
versteht, da er ihn häufiger während<br />
des Lesens lachen hört. Während der<br />
Gespräche im Laufe der Erhebung konnte<br />
Tom von vielen Comicbüchern, die er<br />
gelesen hatte, detailliert den Inhalt wiedergeben.<br />
Zudem konnte er begründen,<br />
warum er bestimmte Bücher interessant<br />
findet.<br />
Tom verfügt auch über Kinderbücher<br />
aus den Reihen ›Leselöwen‹ und ›Was<br />
ist Was?‹. Diese Bücher beachtet er aber<br />
kaum. Er interessiert sich nach eigenem<br />
Bekunden nicht für Abenteuerromane,<br />
Kriminalromane, wahre Geschichten,<br />
Fantasie- oder Tiergeschichten. Er interessiert<br />
sich nur für Donald-Duck-Comics<br />
oder schlägt ab und zu in einem Autolexikon<br />
nach.<br />
Schulische Leseförderung<br />
Schulische Leseförderung setzt oftmals<br />
auf »literarisch vermeintlich wertvolle<br />
Literatur«. Bezogen auf die Vermittlung<br />
bestimmter Inhalte macht das Sinn.<br />
Aber angesichts der nach PISA&Co.<br />
beklagten Leseschwäche und -unlust<br />
vieler Kinder, vor allem einer großen<br />
Zahl von Jungen (4), stellt sich die Frage<br />
nach alternativen Zugängen. Hier können<br />
Fallstudien einen Beitrag leisten,<br />
Einflüsse oder gar Gründe für eine Ent-<br />
18 GS <strong>aktuell</strong> <strong>105</strong> • Februar 2009
Praxis: Wie Kinder heute leben und lernen<br />
wicklung »wider Erwarten« aufzuzeigen<br />
und daraus zu lernen.<br />
Ob Comics einen Beitrag zur Anregung<br />
der Leselust und wertvoll für die<br />
Leseförderung sein können, also ob<br />
Tom gut liest, weil oder obwohl er Comics<br />
liest, kann anhand der vorliegenden<br />
Fallstudie nicht verbindlich beantwortet<br />
werden. Fest steht, dass Tom wie<br />
68 Prozent der Kinder zwischen 6 und<br />
13 Jahren regelmäßig Zeitschriften liest.<br />
5,9 Prozent aller Kinder und sogar 8,3<br />
Prozent aller Jungen geben als bevorzugte<br />
Zeitschrift die ›Lustigen Taschenbücher‹<br />
an. Damit sind diese gleich hinter<br />
dem ›Micky Maus-Magazin‹ (15,3<br />
Prozent) die beliebteste Zeitschrift von<br />
Jungen der befragten Altersgruppe. Comics<br />
werden aber nicht nur von Jungen<br />
bevorzugt gelesen: Auf Platz 1 der bei<br />
Mädchen beliebtesten Magazine liegen<br />
mit 11,1 Prozent das Pferdemagazin<br />
›Wendy‹ und auf Platz 3 mit 8,1 Prozent<br />
das ›Micky Maus-Magazin‹. (5)<br />
In der Schule spielen Comics als literarische<br />
Form kaum eine Rolle. Auch<br />
in Schul- oder Klassenbüchereien sind<br />
sie eher selten zu finden und vermutlich<br />
wäre es falsch aus Einzelfallstudien und<br />
aus Freizeitleseverhalten für alle verbindliche<br />
Comiclesezeiten anzusetzen.<br />
Angesichts der Vorlieben vieler Kinder<br />
könnte hier jedoch ein Beitrag zur<br />
Steigerung der Lesemotivation geleistet<br />
werden. Bertschi-Kaufmann konnte<br />
zudem aufzeigen, dass die Leselust<br />
nicht nur vom persönlichen Interesse<br />
an den Inhalten, sondern auch von<br />
der medialen Form ihrer Präsentation<br />
abhängt. Ihre Studie macht deutlich,<br />
dass viele Jungen zu narrativen Texten<br />
leichter Zugang finden, wenn sie ihnen<br />
am Computer und nicht in Buchform<br />
präsentiert werden. (6) Zwar liest Tom<br />
die Comics in Buchform und nicht am<br />
Computer, doch auch bei ihm spielt die<br />
Präsentation der Texte eine entscheidende<br />
Rolle.<br />
Testverfahren insbesondere die Blickwinkel<br />
unterschiedlicher Personen im<br />
Umfeld des Kindes einbezogen werden:<br />
Auffällig ist, dass sich die Einschätzungen<br />
der Mutter und der Lehrerin, was<br />
Sonjas Persönlichkeit betrifft, stark unterscheiden.<br />
Übereinstimmungen gibt es<br />
nicht. Etwa die Hälfte der Angaben ist<br />
sogar (auf einer Einschätzungsskala zu<br />
Persönlichkeitsmerkmalen) gegensätzlich.<br />
Abgesehen von der natürlicherweise<br />
unterschiedlichen Wahrnehmung der<br />
einzelnen Personen liegt also die Vermutung<br />
nahe, dass sich Sonja in der Schule<br />
anders verhält als zu Hause. Und in der<br />
Tat ließ sich im Rahmen der Erhebungen<br />
beobachten, dass Sonja in der Schule wie<br />
ein völlig anderes Mädchen auftritt als<br />
zu Hause. In der Schule wirkt sie ›unglücklich‹,<br />
unsicher und zurückgezogen,<br />
zu Hause lebhaft, selbstbewusst und<br />
fröhlich. Demnach verwundern die stark<br />
abweichenden Einschätzungen zwischen<br />
Mutter und Lehrerin nicht.<br />
Blick auf das ganze Kind<br />
Der singuläre Blick der Lehrerin liefert<br />
offensichtlich ein sehr eingeschränktes<br />
Bild von Sonja. Dadurch können manche<br />
Potenziale eines Kindes regelrecht<br />
versteckt bleiben. Mehrperspektivität<br />
– und darin eingeschlossen auch die Eigensicht<br />
des Kindes – ist demnach insbesondere<br />
für den schulischen Kontext<br />
von Bedeutung und kann dort beispielsweise<br />
durch regelmäßige Elternkon-<br />
Leistungsvermögen von Kindern<br />
Die Fähigkeiten oder das Leistungsvermögen<br />
eines Kindes können sich in der<br />
Schule und in der Freizeit kontrastiv<br />
darstellen. Deutlich werden solche Kontraste<br />
in den Fallstudien bei LISA&KO,<br />
bei denen neben dem Vergleich von<br />
schulischen Leistungen, informellen<br />
Beobachtungen und standardisierten<br />
Unterschiedliche Facetten eines Kindes<br />
GS <strong>aktuell</strong> <strong>105</strong> • Februar 2009<br />
19
Praxis: Wie Kinder heute leben und lernen<br />
takte, Teamaustausch und kollegiale<br />
Beratung ermöglicht werden.<br />
Wie bei Sonja gesehen können sich Kinder<br />
in unterschiedlichen Kontexten sehr<br />
unterschiedlich präsentieren. Dies gilt<br />
neben der Persönlichkeit eines Kindes<br />
auch für die Leistungen, die es augenscheinlich<br />
erbringt. Hier ergeben sich<br />
Unterschiede beim Einsatz verschiedener<br />
Tests, mitunter jedoch auch bei zwei<br />
Durchführungen desselben Instrumentes<br />
(7) – wie bei Nils:<br />
Während Nils beim ELFE-Lesetest in allen<br />
drei Untertests durchschnittliche bis<br />
überdurchschnittliche Leistungen zeigte,<br />
erreicht er bei dem von der Lehrerin<br />
durchgeführten Leseverständnistest eher<br />
schlechte Ergebnisse. Von 48 möglichen<br />
Punkten erlangt Nils 20, was die Lehrerin<br />
mit ausreichend benotet. Nils liegt<br />
damit im unteren Leistungsdrittel seiner<br />
Klasse […]. Zur weiteren Einschätzung<br />
der Lesekompetenz der Kinder setzte<br />
die Lehrerin zudem den Stolperwörter-<br />
Lesetest ein, den Nils auch im Rahmen<br />
von LISA&KO zu Beginn der Erhebungszeit<br />
bearbeitete. Im Vergleich zur ersten<br />
Durchführung zu Hause erlangte der<br />
Junge […] in der Schule wesentlich bessere<br />
Ergebnisse.<br />
Leistungen: situationsund<br />
kontextabhängig<br />
Die Situations- bzw. Kontextabhängigkeit<br />
von Leistungen findet sich in weiteren<br />
Auszügen aus LISA&KO-Porträts<br />
wieder, was deutlich macht, welch wichtigen<br />
Beitrag die Kenntnis von Lernbiographien<br />
für die Schule / Lehrer haben<br />
können:<br />
Im Gegensatz zur Bearbeitung der Hausaufgaben,<br />
bei der Jule das Bild einer<br />
kompetenten und selbstsicheren Rechnerin<br />
abgibt, deren Auftreten ein hohes<br />
Maß an Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten<br />
vermittelt, zeigt sich die Achtjährige<br />
bei der Durchführung der Mathematiktests<br />
im Rahmen von LISA&KO<br />
sehr verunsichert, was sich sowohl durch<br />
ständiges Nachfragen zu den einzelnen<br />
Aufgabentypen als auch durch resignierte<br />
Bemerkungen von Seiten der Achtjährigen<br />
äußert. Besonders auffällig ist, dass<br />
sich die gestellten Hausaufgaben in den<br />
Bereichen Multiplikation und Addition<br />
Simone Knorre (links)<br />
ist Grundschullehrerin und Diplom-<br />
Sozialpädagogin, arbeitet an einer<br />
<strong>Grundschule</strong> in Kreuztal und als<br />
Mitarbeiterin in der Arbeitsgruppe<br />
Primarstufe an der Universität Siegen.<br />
Anna Lena Wagener (rechts)<br />
Wissenschaftliche Mitarbeiterin und<br />
Doktorandin in der Arbeitsgruppe<br />
Primarstufe der Universität Siegen.<br />
Arbeitsschwerpunkte sind die<br />
Forschungs projekte »Partizipation<br />
an (ganztägigen) <strong>Grundschule</strong>n«<br />
und »Lernbiografien im schulischen<br />
und außerschulischen Kontext«.<br />
nur minimal von den Aufgabenteilen des<br />
Tests unterscheiden, die die gleiche Strategien<br />
und Rechenoperationen erfordern.<br />
Trotzdem klaffen Jules Vorgehensweise<br />
und ihre Leistungen in beiden Situationen<br />
gravierend auseinander.<br />
Hier zeigt sich, dass Tests – nicht nur<br />
wegen der testtheoretischen Einschränkungen<br />
(wie Standardfehlern) – bei<br />
punktuellen Erhebungen nicht das<br />
»wahre« Leistungsvermögen eines Kindes<br />
aufzeigen können. Die Beobachtung<br />
des Kontexts während der Testdurchführung<br />
und die Kontrastierung der<br />
Testergebnisse mit anderen Situationen,<br />
in denen das Kind sein Können präsentieren<br />
kann, reichern die Einschätzungen<br />
der Kompetenzen und das Gesamtbild<br />
des Kindes erheblich an. Vielfältige<br />
und situationsabhängige (Leistungs-)<br />
Einschätzungen eines Kindes, wie sie<br />
beispielsweise in den Fallstudien von<br />
LISA&KO gesammelt werden, gilt es im<br />
schulisch möglichen Rahmen anzustreben<br />
und punktuelle Leistungsüberprüfungen<br />
zu hinterfragen.<br />
Anmerkungen<br />
(1) Teile des Artikels sind auch abgedruckt<br />
in: Wagener, A. L. (2008)<br />
Andere verwendeten Fallbeispiele und Zitate<br />
entstammen Staatsarbeiten aus dem Projekt<br />
LISA&KO an der Universität Siegen.<br />
(2) Zur Wirkweise von Fernsehkonsum auf<br />
die Entwicklung von Sprach- und Lesekompetenzen<br />
vgl. z. B. Ennemoser, M. u. a. (2001).<br />
(3) Brügelmann, H. (2005)<br />
(4) vgl. etwa Brügelmann, H. (2008)<br />
(5) vgl. Höhn, I. / Bauer, R. (2007)<br />
(6) vgl. Bertschi-Kaufmann, A.<br />
(7) Vgl. hierzu auch: Brügelmann, H. /<br />
Projektteam LISA&KO (2005)<br />
Literatur<br />
Bertschi-Kaufmann, A. (1998): Lesen und<br />
Schreiben im offenen Unterricht. Sabe:<br />
Zürich.<br />
Bertschi-Kaufmann, A. (2000): Lesen und<br />
Schreiben in einer Medienumgebung.<br />
Die literalen Aktivitäten von Primarschulkindern.<br />
Aarau: Sauerländer.<br />
Brügelmann, H. und Projektteam LISA&KO<br />
(2005): Jedes Kind ist ganz besonders.<br />
Beobachtungen zu Unterschieden in den<br />
fachlichen Leistungen von Kindern. In:<br />
UniSiegen <strong>aktuell</strong> 4/2005. Universität Siegen.<br />
www.uni-siegen.de/~agprim/printbrue/jedes<br />
kindbesonders.pdf (12.12.2008)<br />
Brügelmann, H. (2005): Von Fall zu Fall.<br />
Plädoyer für einen Miss-Marple-Stil in der<br />
Bildungsforschung. Publiziert im: Forum<br />
Kritische Pädagogik forum-kritische-paed<br />
agogik.de/start/download.php?view.15<br />
(12.12.2008)<br />
Brügelmann, H. (2008): »Jungen brauchen<br />
eigene Lesebücher! Stimmt das?« In: <strong>Grundschule</strong><br />
Deutsch, 5. Jg., H. 17, 23 – 25.<br />
Ennemoser, M. / Schiffer, K. / Schneider, W.<br />
(2001): Empirisches Beispiel: Fernseh-<br />
Einfluss und Lesefertigkeit. In: Groeben, N. /<br />
B. Hurrelmann (Hrsg.): Lesekompetenz –<br />
Bedingungen, Dimensionen, Funktionen<br />
(pp. 236 – 247). Stuttgart: Juventa.<br />
Höhn, I. / Bauer, R. (2008):<br />
»Die KidsVerbraucherAnalyse 2007«<br />
www.ehapamedia.de/pdf_download/<br />
Pressemitteilung_KVA07.pdf (12.12.2008)<br />
Wagener, A. L. (2008): Schriftsprachliche und<br />
mathematische Kompetenzen, Erfahrungen<br />
und Interessen des 8-jährigen ›Tom‹ im Kontext<br />
seiner persönlichen Entwicklung und<br />
sozialen Lebenswelt. In: Huisinga, R. (Hrsg.):<br />
Beiträge zur empirischen Bildungsforschung.<br />
Siegener Studien Bd. 65. Siegen: GFL e. V.<br />
20 GS <strong>aktuell</strong> <strong>105</strong> • Februar 2009
Praxis: Wie Kinder heute leben und lernen<br />
»Jedes Kind muss<br />
erfolgreich sein können«<br />
Aus den Händen von Bundespräsident Köhler erhielt die Wartburg-<strong>Grundschule</strong> in Münster<br />
den »Deutschen Schulpreis 2008«. Mit Gisela Gravelaar und Bettina Pake, dem Schulleitungsteam<br />
der Wartburg-<strong>Grundschule</strong>, sprach Ulrich Hecker, Redakteur von »<strong>Grundschule</strong> <strong>aktuell</strong>«<br />
?<br />
Zunächst auch meinen herzlichen<br />
Glückwunsch zu diesem tollen<br />
Erfolg. Welche Bedeutung hat der<br />
Deutsche Schulpreis für die Wartburg-<br />
<strong>Grundschule</strong>?<br />
Als Schule, die sich individuell entwickelt,<br />
außergewöhnliche Wege geht, um<br />
neuen Herausforderungen pädagogisch<br />
sinnvoll begegnen zu können, fühlen<br />
wir uns in unserer Arbeit sehr bestätigt.<br />
Diese Auszeichnung stärkt auch unsere<br />
Kinder und Eltern in ihrem Gefühl,<br />
eine gute Schulwahl getroffen zu haben.<br />
Der Deutsche Schulpreis stellt enorme<br />
Ansprüche an die Bewerberschulen!<br />
Neben dem hohen Standard der bundesweiten,<br />
schulformübergreifenden<br />
Ausschreibung, haben wir eine Jury erlebt,<br />
die exzellent auf den Schulbesuch<br />
bei uns vorbereitet war und die Tauglichkeit<br />
unserer schriftlichen Bewerbung<br />
in der Praxis auf Herz und Nieren<br />
geprüft hat.<br />
Gefreut haben wir uns, dass wir in<br />
allen sechs Kriterien des Deutschen<br />
Schulpreises hervorragend abgeschnitten<br />
haben: Umgang mit Vielfalt, Unterrichtsqualität,<br />
Verantwortung, Schulleben<br />
/ Partner, Schule als lernende<br />
Organisation und eben auch in der Leistungserziehung.<br />
Wir fühlen uns sehr<br />
ernst genommen in unserer Arbeit und<br />
freuen uns über diese außergewöhnliche<br />
Würdigung.<br />
?<br />
Welche Gelingensfaktoren führen<br />
aus eurer Sicht zu einer »guten<br />
Schule«?<br />
Eine gute Schule entsteht durch ein vernetztes<br />
Zusammenspiel zwischen den<br />
verschiedenen Menschen innerhalb<br />
der Schule und den Unterstützungssystemen,<br />
die von außen auf die Schule<br />
einwirken. Schulentwicklung braucht<br />
Zeit. Gertraud Greiling, die Gründerin<br />
dieses Konzeptes, legte bereits 1979 die<br />
Laudatio auf die Wartburg-<strong>Grundschule</strong>, Münster<br />
Eine kleine pädagogische Stadt im Stadtteil,<br />
aus hellen, einladenden Kinderhäusern<br />
für überschaubare, altersgemischte<br />
Lerngruppen, miteinander verbunden<br />
durch einen elegant geschwungenen<br />
Schulflur, jedes Haus mit direktem Zugang<br />
zum Schulhof, der kein Hof ist,<br />
sondern eine Wiese mit Bachlauf. Hier ist<br />
eine Schule kinderfähig gemacht worden<br />
durch pädagogische Architektur im<br />
wörtlichen wie im übertragenen Sinn.<br />
Seit den siebziger Jahren hat die Schule<br />
sich durch Umbrüche und Umzüge,<br />
wagemutige Konzeptveränderungen<br />
und personelle Wechsel immer wieder<br />
verbessert und ist heute pädagogisch<br />
exzellent. Immer wieder war und ist sie<br />
ihrer Zeit und erst recht den Zeitgeist-<br />
Debatten voraus – mit Freiarbeit und<br />
offenem Unterricht seit den siebziger<br />
Jahren, als erste Ganztagsgrund schule<br />
der Stadt, durch Integrationsklassen,<br />
durch Percussion-, Streicher- und Bläserklassen<br />
und eine Grundschulwerkstatt,<br />
in der Pädagogen von- und miteinander<br />
lernen. Frühe Diagnostik und Förderung,<br />
reichhaltige Lernanlässe über die<br />
Schule hinaus, wirksames Handeln in<br />
Modellversuchen und Forschungsprojekten,<br />
das ist alles selbstverständlich.<br />
Selbstverständlich ist auch ein SchülerInnenparlament,<br />
das über alle wichtigen<br />
Fragen debattiert, den Zoodirektor in die<br />
Schule bittet, um zu klären, was Frösche<br />
brauchen. Ansteckend ist der Geist der<br />
Achtung und der pädagogische Enthusiasmus<br />
dieser Schule – wie die große Stille<br />
während der wöchentlichen Lesezeit,<br />
in der tatsächlich alle ohne Ausnahme<br />
nichts anderes tun als lesen oder sich<br />
vorlesen lassen, Hausmeister, Schulleiterin,<br />
Eltern, Studenten und alle Kinder.<br />
Grundsteine, von denen wir noch heute<br />
profitieren.<br />
Das Kollegium der Wartburg-<strong>Grundschule</strong><br />
ist geprägt durch eine jahrzehntelange<br />
Entwicklungsarbeit. 1979 wurde<br />
die gebundene Ganztagsschule mit wissenschaftlicher<br />
Begleitung aufgebaut.<br />
Damals entstand das Grundgerüst für<br />
unsere Schule (Tagesrhythmisierung,<br />
Aufhebung des 45-Minuten-Unterrichts,<br />
innere Differenzierung und Individualisierung<br />
als Unterrichtsprinzip, Leistungserziehung<br />
ohne Ziffernnoten, projektorientierter<br />
Unterricht, Übernahme<br />
von Verantwortung durch Kinder und<br />
Erwachsene usw.). 1996 haben wir an<br />
unserer Schule Klassen mit gemeinsamem<br />
Unterricht eingerichtet. 2001 organisierten<br />
wir die Schuleingangsphase<br />
jahrgangsübergreifend, 2006 auch die<br />
Stufe 3/4.<br />
Durch den stetigen Wandel bleiben<br />
wir flexibel, entwickeln uns und reflektieren,<br />
ob wir noch auf dem richtigen<br />
Weg sind. Das gemeinsam erstellte<br />
Schulprogramm stellt den roten Faden<br />
der Schule dar. Veränderungen werden<br />
immer vor dem Hintergrund der<br />
Grundsatzziele »Kinder sind verschieden«,<br />
»Jedes Kind muss Erfolg haben<br />
können«, »Kinder übernehmen Verantwortung«<br />
u. a., die bereits 1979 entwickelt<br />
wurden, diskutiert und immer<br />
wieder den sich verändernden Bedingungen<br />
entsprechend inhaltlich gefüllt.<br />
Mit den Jahren hat sich so eine gemeinsame<br />
Vision von Schule im Kollegium<br />
herauskristallisiert und verfestigt.<br />
Ein weiterer sehr wichtiger Baustein<br />
für unsere Entwicklung ist die Übernahme<br />
von Verantwortung durch alle<br />
an Schule Beteiligte.<br />
Jede MitarbeiterInnen-Konferenz ist<br />
eine pädagogische Fortbildung, in der<br />
sich die Mitarbeiterin / der Mitarbeiter<br />
als Lernende erfahren. Oft ist es das<br />
Kollegium selbst, das neue Entwicklungsschritte<br />
anregt.<br />
GS <strong>aktuell</strong> <strong>105</strong> • Februar 2009<br />
21
Grundschulverband · Niddastr. 52 · 60329 Frankfurt/M.<br />
Schulleitung<br />
Wartburg-<strong>Grundschule</strong><br />
Topheideweg 91 – 93<br />
48161 Münster<br />
Vorstand:<br />
Dr. h. c. Horst Bartnitzky (Vorsitzender)<br />
Ulrich Hecker (Stellvertreter)<br />
Maresi Lassek (Stellvertreterin)<br />
Minette Volkwardt (Schatzmeisterin)<br />
Fachreferate:<br />
Dr. Heike de Boer (Gestaltung der <strong>Grundschule</strong>)<br />
Prof. Dr. Hans Brügelmann (Schulische Qualitätsentwicklung)<br />
Eva Hammes-Di Bernardo (Sozialpädagogik)<br />
Prof. Dr. Friederike Heinzel (Grundschulforschung)<br />
Peter Heyer (Länger gemeinsam lernen)<br />
Andrea Pahl (Schule in der Einen Welt)<br />
Prof. Dr. Gudrun Schönknecht (Lehrer/innen-Bildung)<br />
Prof. Dr. Angelika Speck-Hamdan (Bildungsgerechtigkeit)<br />
Liebe Frau Gravelaar,<br />
liebe Frau Greiling,<br />
sehr geehrte Mitglieder des Lehrerkollegiums,<br />
sehr geehrte Eltern,<br />
hallo Kinder der Wartburg-<strong>Grundschule</strong>, Frankfurt a.M., 16. Dezember 2008<br />
im Namen des Grundschulverbandes gratuliere ich Ihnen und euch allen herzlich zum Deutschen Schulpreis<br />
2008. Wir freuen uns mit Ihrer Schule auch deshalb, weil der Grundschulverband der Wartburg- <strong>Grundschule</strong><br />
seit vielen Jahren verbunden ist und weil einmal mehr eine <strong>Grundschule</strong> geehrt wird, die moderne Grundschulpädagogik<br />
praktiziert und eigenständig weiterentwickelt:<br />
Die Wartburg-<strong>Grundschule</strong> erhielt bereits vor 27 Jahren einen Preis, nämlich den Preis des Grundschulverbandes<br />
für das Projekt Gievenbeck. Schon damals bildete sich im pädagogischen Konzept heraus, was die<br />
Schule auch heute auszeichnet: die Zuwendung zu jedem Kind, die individuelle und die soziale Förderung,<br />
der werkstattmäßige Unterricht, der Ganztag in einem Schulzweig. Gievenbeck war pädagogischer Vorreiter<br />
und zeigte, was auch unter den Bedingungen einer öffentlichen Schule möglich war. Die Wartburg-Schule gab<br />
vielen anderen Schulen ansteckendes und Mut stärkendes Beispiel. Gertraud Greiling war damals und über<br />
weitere zwei Jahrzehnte die Seele dieser pädagogischen Arbeit. Sie wurde dafür vom Bundespräsidenten mit<br />
dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.<br />
Inzwischen hat die Wartburg-<strong>Grundschule</strong> die pädagogische Arbeit weitergeführt und weiterentwickelt.<br />
Sie wird nun von Ihnen, liebe Frau Gravelaar, ebenso energisch wie beharrlich geleitet und ist ein pädagogischer<br />
Vorreiter geblieben: der pädagogisch gestaltete Ganztag, die jahrgangsübergreifende Klassenstruktur,<br />
die Integration behinderter Kinder, die Mitverantwortung auch der Kinder für das Gemeinwesen ihrer Schule<br />
und anderes mehr – das alles sind Markenzeichen einer Schule der Zukunft, die an der Wartburg-Schule gelebte<br />
Gegenwart ist. Hilfreich war sicher auch das besondere Engagement des Schulträgers, der Stadt Münster,<br />
das sich zum Beispiel in dem pädagogisch durchdachten Schulbau und Schulgelände zeigt.<br />
Was uns, die wir uns für die Weiterentwicklung der <strong>Grundschule</strong> engagieren, auch bestärkt: Der Deutsche<br />
Schulpreis ging wieder einmal in Konkurrenz zu vielen weiterführenden Schulen an eine <strong>Grundschule</strong>.<br />
Das unterstreicht die Wertschätzung der Juroren einer Schule gegenüber, die Kinder ernst nimmt, ihre<br />
Individualität wertschätzt und ihre Lernwege unterstützend begleitet, die auch den Zusammenhalt der<br />
Kinder fördert und sie politische Grunderfahrungen machen lässt. An Ihrer Schule ist denn auch belegt, dass<br />
eine solche pädagogische Arbeit des Ernstnehmens auch zu besonderen Leistungserfolgen der Kinder führt.<br />
Der Schulpreis ist also auch ein politisches Signal: Nicht die frühe Auslese, das konkurrierende Lernen, das<br />
Lernen unter Zeitdruck, das Ausscheiden lernschwächerer Kinder, die Erteilung von Zensuren machen die<br />
erfolgreiche Schule der Zukunft aus, sondern die Schule, die alle Kinder annimmt, wertschätzt und nach dem<br />
Maße ihrer individuellen Möglichkeiten fördert. Hierfür steht modellhaft die Wartburg-<strong>Grundschule</strong>.<br />
»Seht auf die <strong>Grundschule</strong>n«, so forderte der Grundschulverband Politik und Öffentlichkeit in einer ersten<br />
Erklärung zur Verleihung des Deutschen Schulpreises an Ihre Schule auf. »Seht auf die <strong>Grundschule</strong>n.<br />
Denn sie sind das Modell für erfolgreiche Schulen.« Den überzeugenden Beweis dafür haben Sie und ihr alle<br />
erbracht.<br />
Ihnen und euch eine weiterhin so gedeihliche Arbeit<br />
Ihr<br />
Dr. Horst Bartnitzky<br />
Bundesgeschäftsstelle: Rolf Kielblock M.A., Dipl.-Päd. Sylvia Reinisch<br />
Niddastraße 52 · 60329 Frankfurt/M. · Tel. (069) 776006 · Fax (069) 707 4780<br />
Vorsitzender E-Mail: info@grundschulverband.de des Grundschulverbandes<br />
· Internet: www.grundschulverband.de<br />
Bankverbindungen:<br />
Postbank Frankfurt/M. (BLZ 500 100 60) Kto. 195671-605<br />
Sparkasse Hanau (BLZ 506 500 23) Kto. 9206137
Praxis: Wie Kinder heute leben und lernen<br />
Seit Beginn der Teilnahme am Modellprojekt<br />
»Selbstständige Schule« entwickelt<br />
eine Steuergruppe, die durch<br />
das Kollegium beauftragt ist, die schulischen<br />
Entwicklungsprozesse. Alle<br />
Professionen (GrundschullehrerInnen,<br />
Sonderschulpädagogen, ErzieherInnen),<br />
Eltern und z. T. auch Kinder sind an der<br />
Steuergruppenarbeit beteiligt. Bedingt<br />
durch einen festgelegten rhythmischen<br />
Wechsel wird mit den Jahren jede Kollegin<br />
und jeder Kollege aktiv in der Steuergruppe<br />
mitgearbeitet haben und so<br />
verantwortlich an der Entwicklung der<br />
Schule beteiligt sein.<br />
Die Kinder übernehmen besonders in<br />
den offenen Unterrichtsphasen Verantwortung<br />
für ihr Lernen. Mit Hilfe von<br />
Lerntagebüchern, Lern-Landkarten<br />
usw. werden sie in die Gestaltung und<br />
Umsetzung ihrer Lernprozesse aktiv<br />
eingebunden. Klassenräte, Hausparlamente<br />
und das Schulparlament ermöglichen<br />
eine Verantwortungsübernahme<br />
im sozialen Bereich und bieten die<br />
Chance, eigenen Interessen Gehör zu<br />
verschaffen.<br />
Mit Beginn der selbstständigen Schule<br />
arbeiten wir sehr eng mit einem professionellen<br />
Berater aus der systemischen<br />
Schulentwicklung zusammen. Wir pflegen<br />
jährlich unsere Teamarbeit in einer<br />
Ganztagskonferenz. Auch Fremdevaluationen<br />
gehören zum festen Bestandteil<br />
der Schulentwicklung.<br />
?<br />
Welchen Anteil hat der Unterricht<br />
an dem jetzigen Erfolg?<br />
Gerade im Unterricht haben wir in den<br />
letzten Jahren viel Entwicklungsarbeit<br />
geleistet und unser Konzept weiter optimiert.<br />
Neben der Weiterentwicklung der<br />
individuellen Wochenplanarbeit oder<br />
der strukturierten Freiarbeit, haben wir<br />
Lerntagebücher eingeführt, die den regelmäßigen<br />
Dialog zwischen Kind und<br />
Lernbegleiter unterstützt. Das Buch hat<br />
Portfolio-Anteile, ist Ort der Refle xion<br />
(fachlich wie sozial-emotional), der<br />
Lernprozessplanung (»Was möchtest du<br />
als nächstes lernen?«).<br />
Wir haben die jahrgangsbezogenen<br />
Klassen aufgehoben und die Heterogenität<br />
durch die Bildung jahrgangsübergreifender<br />
Klassen absichtlich erhöht.<br />
Vielfalt sehen wir als eine besondere<br />
Bereicherung an. Wo »anders sein«<br />
normal ist, kann das besonders schnell<br />
lernende Kind genauso Respekt verlangen<br />
wie das Kind mit besonderen Lernschwierigkeiten.<br />
Die Notwendigkeit der<br />
inneren Differenzierung im Unterricht<br />
wird durch die jahrgangsübergreifenden<br />
Klassen noch offensichtlicher.<br />
?<br />
Die Wartburg-<strong>Grundschule</strong> ist<br />
über die Grenzen Nordrhein-Westfalens<br />
auch aufgrund ihres innovativen<br />
Ansatzes zur Leistungserziehung<br />
bekannt. Inwieweit ist ihr Konzept<br />
kompatibel mit dem neuen Schulgesetz<br />
in NRW, das z. B. Ziffernzeugnisse ab<br />
Klasse 2 und Kopfnoten vorschreibt?<br />
Unser Leistungskonzept folgt dem<br />
Grundsätzen »Kinder wollen lernen«<br />
und »Jedes Kind muss erfolgreich sein<br />
können«. Folgerichtig setzen wir eine<br />
die Individualisierung betonende Didaktik<br />
um, die eine Kultur stetiger individueller<br />
Leistungsrückmeldung und<br />
Lern-Landkarten helfen, Kinder in die Gestaltung und Umsetzung ihrer Lernprozesse aktiv einzubinden<br />
GS <strong>aktuell</strong> <strong>105</strong> • Februar 2009<br />
23
Praxis: Wie Kinder heute leben und lernen<br />
Gisela Gravelaar (links)<br />
und Bettina Pake,<br />
das Schulleitungsteam der<br />
Wartburg-<strong>Grundschule</strong><br />
die Entwicklung einer Reflexionskompetenz<br />
erfordert.<br />
Fest installiert in den Unterrichtsalltag<br />
sind die Lerntagebücher, die Kindersprechtage,<br />
Reflexionsgespräche am<br />
Ende von Arbeitseinheiten mit der gesamten<br />
Lerngruppe und individuellen<br />
Rückmeldungen mit einzelnen Kindern,<br />
die (Lern-)Verhalten spiegeln,<br />
Anregungen zur Veränderung<br />
bieten und Handlungsmuster<br />
wie Sprachlichkeiten vermitteln.<br />
Kinder wie Erwachsene<br />
beraten Kinder.<br />
Einen weiteren neuen Baustein<br />
in der Leistungserziehung<br />
entwickeln wir zzt. in<br />
einer Lerngemeinschaft mit<br />
anderen innovativen Schulen<br />
zusammen.<br />
Nach einer Elternbefragung<br />
erhielt die Steuergruppe<br />
vom Kollegium den Auftrag,<br />
ein übersichtliches und klares<br />
Instrument der Leistungsrückmeldung<br />
als Ergänzung<br />
zu den Lernentwicklungsberichten<br />
zu entwickeln. »Lern-<br />
Landkarten« unterstützen<br />
Kinder, sich selbst lehrplan orientierte<br />
Ziele zu setzen, diese zu verfolgen und<br />
umzusetzen. Durch das Fortschreiben<br />
der Lern-Landkarten werden die Kinder<br />
in die eigene Lernprozessgestaltung<br />
verantwortlich eingebunden. Der Pädagoge<br />
begleitet das Kind, indem er sich<br />
dialogbereit hält, zuhört, den Lernweg<br />
des Kindes verstehen lernt, berät, Tipps<br />
gibt usw. Auch an dieser Stelle wird sich<br />
unser Unterricht weiter verändern. Der<br />
Wochenplan wird nicht mehr Aufgaben<br />
enthalten, die der Lehrer auswählt, sondern<br />
die Aufgaben werden sich an den<br />
Zielen der Kinder orientieren und damit<br />
den »Lernprozess vom Kinde aus«<br />
unterstützen.<br />
Ziffernnoten sind für diese Art der Leistungserziehung<br />
völlig kontraproduktiv.<br />
Wir sind immer wieder erstaunt, wie<br />
leistungsfähig unsere Kinder sind. Jedes<br />
Kind strengt sich an. Positive Rückmeldungen<br />
erhält das Kind für seine<br />
individuelle Anstrengungsbereitschaft<br />
und Leistung und nicht im Vergleich<br />
mit anderen Kindern, die ganz andere<br />
Lernbiografien mitbringen. So werden<br />
auch langsam lernende Kinder nicht<br />
beschämt.<br />
Das Ministerium NRW hat uns zugesagt,<br />
unsere Instrumente der Leistungsrückmeldung<br />
zu evaluieren. Wir würden<br />
es sehr begrüßen, wenn sich gerade<br />
in diesem Bereich Türen öffneten und<br />
Schulen, die qualitative Alternativen<br />
zur Ziffernote entwickelt haben, diese<br />
Bundespräsident Horst Köhler überreicht den<br />
Deutschen Schulpreis an Gisela Gravelaar<br />
in ihrer Leistungserziehung weiter umsetzen<br />
und weiter entwickeln können.<br />
Ziffernnoten beschämen Kinder und<br />
verändern ihre Lernmotivation – auch<br />
bei leistungsstarken Kindern. Wir machen<br />
häufig die Erfahrung, dass manche<br />
Kinder Zeit brauchen, ihren Lernrhythmus<br />
zu finden. Mit einer individuellen,<br />
aufbauenden Rückmeldung, die<br />
sich am Anstrengungsgrad des Kindes<br />
orientiert, erhalten wir die Freude am<br />
Lernen aufrecht. Auch die Lernbiologie<br />
belegt, dass die Lernmotivation das tragende<br />
Element für jedes weitere Lernen<br />
ist. Die Leistungsergebnisse an unserer<br />
Schule bestätigen dies.<br />
?<br />
Das hört sich alles nach viel Arbeit<br />
an. Hat die Wartburg-Grund schule<br />
zusätzliche Ressourcen?<br />
Für unsere gebundene Ganztagsschule<br />
haben wir den üblichen 20-prozentigen<br />
Lehrerzuschlag. Die Stadt Münster<br />
finanziert pro »GU-Klasse« (Klasse mit<br />
gemeinsamem Unterricht von behinderten<br />
und nichtbehinderten Kindern)<br />
und pro Ganztagsklasse eine halbe Erzieherinnenstelle.<br />
Mit diesem Personalschlüssel<br />
versorgen wir alle Ganztagskinder<br />
35 Stunden in der Woche. In der<br />
Ganztagsschule fällt kein Unterricht<br />
wegen Krankheit oder Ähnlichem aus.<br />
Unsere Doppelbesetzungen erarbeiten<br />
wir uns, indem die Kolleginnen volle<br />
Zeitstunden (statt 45 Minuten) in den<br />
Stundenplan einbringen. Unsere Schule<br />
lebt darüber hinaus von Teilzeitkräften.<br />
Idealerweise begleitet ein Team von drei<br />
Personen eine Klasse. Dies ist aber nur<br />
möglich, wenn ausreichend Teilzeitkräfte<br />
zur Verfügung stehen.<br />
?<br />
Habt ihr als »beste Schule Deutschlands«<br />
noch weitergehende eigene<br />
Ziele?<br />
Ja, auf jeden Fall. Wir sind dabei die<br />
Lern-Landkarten zu entwickeln, nehmen<br />
an einer mehrtägigen kollegiumsinternen<br />
Fortbildung (über anderthalb<br />
Jahre) zum Kooperativen Lernen<br />
teil, sind auf dem Weg, in der Arbeitsgemeinschaft<br />
»Blick über den Zaun«<br />
Mitglied zu werden und freuen uns<br />
sehr auf die Akademie des Deutschen<br />
Schulpreises, in der wir mit den anderen<br />
Preisträgerschulen zusammenarbeiten<br />
werden.<br />
Weitere Informationen im Internet<br />
Homepage der Wartburg-<strong>Grundschule</strong>:<br />
www.muenster.org/Wartburg-<strong>Grundschule</strong>/<br />
Homepage des Deutschen Schulpreises:<br />
http://schulpreis.bosch-stiftung.de/content/<br />
language1/html/index.asp<br />
Homepage des Arbeitskreises reformpädagogischer<br />
Schulen:<br />
www.blickueberdenzaun.de/index.html<br />
24 GS <strong>aktuell</strong> <strong>105</strong> • Februar 2009
<strong>aktuell</strong> … aus dem Bundesvorstand<br />
VERA im Dilemma<br />
Im September 2008 berichtete »<strong>Grundschule</strong><br />
<strong>aktuell</strong>« über Erfahrungen und<br />
Einschätzungen zum Projekt VERA und<br />
diskutierte die Aufgabenstellungen<br />
der Vergleichsarbeiten für Deutsch und<br />
Mathematik. Zwei Monate später führte<br />
der Grundschulverband im Rahmen einer<br />
Tagung zur Pädagogischen Leistungskultur<br />
in Schmitten einen Diskurs mit<br />
Prof. Dr. Ingmar Hosenfeld (Uni Landau,<br />
Leiter des VERA-Teams) und Anke<br />
Schumacher (Aufgabenentwicklerin<br />
im Fach Deutsch).<br />
Beide Experten konnten in der Diskussion<br />
mit Grundschulfachleuten weder die<br />
Kritikpunkte zur Anlage der Vergleichsarbeiten<br />
noch zur Aufgabenstruktur<br />
ausräumen.<br />
Als Resümee bleibt: VERA trägt den<br />
Lerngegebenheiten und -voraussetzungen<br />
der Kinder nicht genügend Rechnung<br />
und formuliert Ziele, die sich im<br />
Spannungsfeld von externer Evaluation,<br />
öffentlicher Interpretation der Ergebnisse<br />
und Forderung nach interner Evalua tion<br />
nicht erreichen lassen:<br />
● eine Vergleichsperspek tive für das<br />
Leistungsprofil der eigenen Klasse durch<br />
den »fremden Blick«,<br />
● fachdidaktische Impulse über die<br />
Analyse einzelner Aufgaben,<br />
● Ursachenermittlung bei erwartungswidrigen<br />
Klassen- bzw. Schulergebnissen,<br />
● Ausgangspunkt für systemische Förderung,<br />
● Erhöhung der Diagnosegenauigkeit.<br />
Das VERA-Projekt ist damit in eine Vielzahl<br />
von Dilemmata geraten. Der Ansatz,<br />
ein Verfahren in »auswertbarer Form«<br />
für die Gesamtheit eines Jahrgangs zu<br />
präsentieren, erzwingt die Reduzierung<br />
auf ein enges Aufgabenspektrum und<br />
erhöht die Anfälligkeit für Durchführungsfehler.<br />
Falsch verstandene Erwartungen<br />
verleiten zur Fehlinterpreta tion von<br />
Ergebnissen.<br />
Dilemma 2: Anfälligkeit<br />
für Durchführungsfehler<br />
Unterschiedliche Interpretationen bei der<br />
Durchführung und Auswertung sind u. a.<br />
dem Erfolgsdruck geschuldet, der durch<br />
VERA ausgelöst wurde, vom Üben und<br />
Probedurchführen über konkrete Hilfen<br />
beim Lösen der Aufgaben bis zur Ergebniseingabe.<br />
Fehleranfällig erweist sich die<br />
Gewinnung der »weichen« Daten für den<br />
fairen Vergleich. Entscheidend aber ist,<br />
dass VERA guter Grundschularbeit nicht<br />
gerecht wird, grundlegende Anforderungen<br />
der Bildungsstandards nicht berücksichtigt,<br />
Erwartungen an individualisierende<br />
Ansätze nicht erfüllen kann und zu<br />
viele Kinder zutiefst beschämt.<br />
Dilemma 3: Widerspruch zu einem<br />
ermutigenden und förderdiagnostisch<br />
orientierten Unterricht<br />
Die Form der Durchführung, die Reaktionen<br />
der Schülerinnen und Schüler<br />
und die Ungenauigkeit in der Erfassung<br />
von Lernständen vermitteln Lehrkräften<br />
zu undifferenzierte Informationen, um<br />
förderdiagnostische Hinweise für das<br />
einzelne Kind ableiten zu können.<br />
Die Reaktionen entmutigter Kinder rufen<br />
dahingegen Fragen nach der Qualität und<br />
Sinnhaftigkeit von VERA hervor.<br />
Dilemma 4: Verallgemeinerung<br />
der Ergebnisse<br />
Die Outputorientierung der VERA-<br />
Resultate in den Fächern Deutsch und<br />
Mathematik verleitet zu Vergleichen und<br />
Folgerungen, die ihnen nicht zustehen,<br />
u. a. weil<br />
● die Aufgabenauswahl<br />
erheblich eingegrenzt ist.<br />
● die VERA-Aufgaben sprach- und<br />
leselastig sind, was die Möglichkeiten von<br />
Kindern mit Migrationshintergrund zu<br />
wenig berücksichtigt.<br />
● eine ausreichende Differenzierung der<br />
Fähigkeits stufen nicht erfolgt.<br />
Dilemma 5: »Verwertung«<br />
der Ergebnisse<br />
Die Verführung, VERA-Ergebnisse vergleichend<br />
zu nutzen, ist groß, zumal<br />
Vergleichsmöglichkeiten mitgeliefert<br />
werden. Unterschiedliches Vorgehen in<br />
den Bundesländern macht dies deutlich:<br />
z. B. das Abfragen der Ergebnisse durch<br />
die Schulämter, die Veröffentlichung<br />
von Ergebnissen (Ranking) und – wie in<br />
Bremen angedacht – die Überlegung,<br />
über den Nachweis der VERA-Ergebnisse<br />
die Berechtigung zum Übergang in ein<br />
Gymnasium nach Klasse 4 zu gewähren!<br />
Tatsächlich ist es nicht gelungen, die Ziele<br />
der Vergleichsarbeiten VERA über deren<br />
mehrjährige Durchführung zu vermitteln.<br />
Fehlende Akzeptanz kann wohl kaum der<br />
mangelnden Bereitschaft so vieler Lehrkräfte<br />
zugeschrieben werden, Schummelvorwürfe<br />
erweisen sich als wenig hilfreich.<br />
Es wäre also an der Zeit, die Grenzen<br />
des Verfahrens offensiv aufzuzeigen,<br />
um damit weiteren Fehlinterpretationen<br />
entgegenzuwirken.<br />
Maresi Lassek, Stellvertr. Vorsitzende des<br />
Grundschulverbands<br />
Dilemma 1:<br />
Berücksichtigung der<br />
Bildungsstandards<br />
Die Bildungsstandards benennen<br />
als Ziele Kompetenzen, die Kinder<br />
in der <strong>Grundschule</strong> erreichen sollen.<br />
Die Lernstandserhebung VERA kann<br />
dieses nicht abbilden (geschuldet<br />
den Möglichkeiten des Messverfahrens),<br />
es bleibt beim Abtesten enger<br />
Wissensbereiche.<br />
Kinder vermessen?<br />
GS <strong>aktuell</strong> <strong>105</strong> • Februar 2009<br />
25
<strong>aktuell</strong> … aus den Landesgruppen<br />
Baden-Württemberg<br />
Anschrift: Dipl.-Päd. Adolf Messer, Stockacker 15, 79252 Stegen;<br />
www.gsv-bw.de<br />
Kritik an VERA<br />
Beklagt wird die schlechte<br />
Qualität der Aufgaben: Sie<br />
ignorieren, wie Kinder denken,<br />
überlisten sie regelrecht,<br />
lassen keine differenzierte<br />
Auswertung zu und betrügen<br />
sie so um ihre Leistung. Vor<br />
allem Lernschwächere scheitern<br />
am Schwierigkeitsgrad<br />
und an der Aufgabenmenge.<br />
Der pädagogische Nutzen ist<br />
eher gering. Kaum neue Erkenntnisse,<br />
vor allem solche<br />
nicht, die Förderhinweise geben<br />
könnten. Tatsächlich gibt<br />
es Alternativen, die genau<br />
das leisten, und zwar prozessbezogen<br />
und lernbegleitend,<br />
nicht lediglich punktuell.<br />
Dabei ist der Aufwand, den<br />
VERA treibt, immens. Auch an<br />
der Gültigkeit und Zuverlässigkeit<br />
der Testergebnisse<br />
bestehen Zweifel. Wichtige<br />
Kompetenzen werden nicht<br />
oder nur lückenhaft erfasst.<br />
Druck wird erzeugt, das Heil<br />
wird im »Teaching to the test«<br />
gesucht. Die Landesgruppe<br />
hat eine Bilanz erarbeitet, in<br />
der die Wirkungen von VERA<br />
an ihren Zielen gemessen<br />
werden. Damit geht sie in<br />
eine kritische Diskussion mit<br />
Politikern und Organisationen<br />
im Bildungsbereich.<br />
Inklusive Schule<br />
Das Kultusministerium in<br />
Stuttgart und das Regierungspräsidium<br />
in Freiburg<br />
haben den Antrag der<br />
Inte grativen Waldorfschule<br />
Emmendingen auf endgültige<br />
Genehmigung als<br />
integrative Schule abgelehnt.<br />
Zwar wurde ein integratives<br />
Schulentwicklungsprojekt<br />
noch für ein Jahr verlängert.<br />
Jedoch wurden vier behinderte<br />
Kinder einer neuen<br />
ersten Klasse davon ausgeschlossen.<br />
Die Landesgruppe<br />
unterstützt in diesem Zusammenhang<br />
eine Petition der<br />
betroffenen Familien sowie<br />
die Aktivitäten einer Initiative<br />
www.bildung-neu-denken.<br />
de. Dazu wurde in Freiburg<br />
am 22. November 2008 eine<br />
Kundgebung organisiert,<br />
an der der Landesvorstand<br />
beteiligt war. Eine integrative<br />
Beschulung behinderter<br />
Kinder (im Sinne einer<br />
wohnortnahen Integration)<br />
in der Regelschule ist sowohl<br />
ein Gebot der Humanität<br />
wie auch der pädagogischen<br />
Vernunft. In einer integrativen<br />
Schule realisiert sich die<br />
Vision einer Gesellschaft, die<br />
Behinderungen annimmt<br />
anstatt sie auszugrenzen. Für<br />
die Betroffenen bedeutet sie<br />
bei ausreichender Zusatzbetreuung<br />
ein mehr an<br />
Entwicklungschancen. Auch<br />
für nichtbehinderte Kinder<br />
eröffnen sich wertvolle Kontakt-<br />
und Erfahrungsmöglichkeiten,<br />
die ihr Leben und<br />
ihre Entwicklung bereichern.<br />
Die pädagogischen Konzepte<br />
dazu sind schon lange ausgearbeitet<br />
und erprobt, im<br />
Inland, vor allem aber auch<br />
im Ausland. Die Integration<br />
der Sonderpädagogik in den<br />
institutionellen Kontext der<br />
Regelschule wäre ein großer<br />
Gewinn. Sie wäre finanziell<br />
ohne Aufwand zu leisten. Wir<br />
brauchen eine Pädagogik,<br />
die jedes Kind nimmt, wie es<br />
ist, und ihm die Förderung<br />
zuteil werden lässt, die es<br />
braucht, um zu den Zielen zu<br />
kommen, die für es erreichbar<br />
sind.<br />
Bayern<br />
Vorsitzende: Dr. Gudrun Schönknecht, Pfirsichweg 37b, 86169 Augsburg<br />
»Bildungspolitik<br />
als Zukunftspolitik«<br />
»Der Mensch im Mittelpunkt<br />
– Schüler, Pädagogen und<br />
Eltern stehen im Blick unseres<br />
Zukunftsministeriums« –<br />
Dr. Ludwig Spaenle, Bayerns<br />
neuer Kultusminister, und<br />
Dr. Marcel Huber, neuer Kultusstaatssekretär,<br />
beschreiben<br />
somit die Bildungs politik<br />
des Landes als Zukunftspolitik.<br />
Im Koalitionsvertrag zwischen<br />
CSU und FDP sind im<br />
Bereich Bildung u. a. folgende<br />
Arbeitsschwerpunkte,<br />
welche für die <strong>Grundschule</strong>n<br />
ausschlaggebend sind, zu<br />
finden:<br />
● Weiterhin steht jedes<br />
Kind mit seinen individuellen<br />
Fähigkeiten und Begabungen<br />
im Mittelpunkt. Junge Menschen<br />
sollen unabhängig von<br />
ihrer Herkunft ihre<br />
individuellen Fähigkeiten<br />
und Talente nutzen und<br />
entfalten können<br />
● Bildungsgerechtigkeit ist<br />
ein wesentliches Element der<br />
Chancengerechtigkeit. Hohe<br />
Priorität kommt deshalb der<br />
Durchlässigkeit des Bildungssystems<br />
zu.<br />
● Der Ausbau der Ganztagesschulangebote<br />
im Grundschulbereich<br />
wird in den<br />
nächsten Jahren vorangetrieben.<br />
● Es soll die Aufgabe der<br />
Schulgemeinschaft sein,<br />
pädagogische Konzepte<br />
vor Ort selbstständig zu<br />
entwickeln und umzusetzen.<br />
Hiermit soll die Eigenverantwortung<br />
der Schulen gestärkt<br />
werden. Dazu werden die<br />
schulrechtlichen Bestimmungen<br />
geändert.<br />
● Ein Gesamtkonzept zur<br />
Aus-, Fort- und Weiterbildung<br />
für alle pädagogischen Berufe<br />
(vom Kinderpfleger bis zum<br />
Lehrer) soll erstellt werden,<br />
um die Qualität der bayerischen<br />
Bildungseinrichtungen<br />
weiter zu verbessern.<br />
● Die Integration von Kindern<br />
mit Migrations hintergrund<br />
bleibt ein Schwerpunktthema.<br />
● Der Schnittstelle zwischen<br />
Kindergarten und <strong>Grundschule</strong><br />
soll weiterhin hohe Priorität<br />
eingeräumt werden und die<br />
Rolle des Kindergartens als<br />
Bildungs einrichtung gestärkt<br />
werden.<br />
Eine Verschiebung des Ressorts<br />
der Kindertagesstätten<br />
aus dem Sozialministerium in<br />
das Kultusministerium hätte<br />
einen Anstoß für eine noch<br />
intensivere Zusammenarbeit<br />
von Kindertagesstätten und<br />
<strong>Grundschule</strong>n geben können.<br />
Hier gab es jedoch entgegen<br />
mancher Spekulationen<br />
keine Veränderung.<br />
Am dreigliedrigen Schulsystem<br />
hält Bayern nach wie<br />
vor fest und somit auch am<br />
Übertrittsverfahren nach der<br />
4. Klasse in eine weiterführende<br />
Schule.<br />
Die Zukunft wird zeigen, was<br />
von den Zielen in Zeiten der<br />
Finanzkrise übrig bleiben<br />
wird.<br />
für die Landesgruppe:<br />
P. Hiebl, G. Klenk<br />
26 GS <strong>aktuell</strong> <strong>105</strong> • Februar 2009
<strong>aktuell</strong> … aus den Landesgruppen<br />
Bremen<br />
Gemeinsamer Vorsitz: Nina Bode-Kirchhoff, Inga Weiland;<br />
www.grundschulverband-bremen.de<br />
Bremer Schulentwicklungsplan<br />
Kurz vor Weihnachten wurde<br />
der jahrelange Streit über die<br />
Strukturen des bremischen<br />
Schulsystems von den Parteien<br />
SPD, CDU, BÜNDNIS 90/<br />
die GRÜNEN und der FDP im<br />
»Bremer Schulentwicklungsplan«<br />
beigelegt. Mit diesem<br />
Kompromiss der Parteien<br />
wurde die ursprünglich von<br />
den GRÜNEN und der SPD<br />
favorisierte »Schule für alle«,<br />
die auch vom Grundschulverband<br />
seit Jahren eingefordert<br />
wird, zugunsten des »Zwei-<br />
Säulen-Modells« für die<br />
nächste Zeit ad acta gelegt.<br />
Dies bedeutet eine Zementierung<br />
des mehrgliedrigen<br />
Schulsystems: Gymnasien,<br />
Oberschulen und Förderzentren<br />
(Sonderschulen) werden<br />
weiter getrennt voneinander<br />
bestehen. Das Elternrecht<br />
der freien Schulwahl soll<br />
beibehalten werden, wie<br />
genau das Übergangsverfahren<br />
jedoch aussehen soll,<br />
ist noch nicht abschließend<br />
geklärt. Der Schulentwicklungsplan<br />
enthält daneben<br />
auch viele positive Aspekte<br />
wie den Ausbau der Sprachförderung,<br />
die Stärkung<br />
der <strong>Grundschule</strong>n und die<br />
Unterstützung von Unterrichtskonzepten,<br />
bei denen<br />
die Unterschiedlichkeit der<br />
Berlin<br />
Kontakt: Ingrid Kornmesser, Kohlfurter Str. 4, 10999 Berlin;<br />
www.gsv-berlin.de<br />
Lernausgangslagen der<br />
Kinder im Mittelpunkt stehen<br />
soll. Eltern, die ein Kind mit<br />
sonderpädagogischem<br />
Förderbedarf haben, können<br />
zwischen einer allgemeinbildenden<br />
Schule und einem<br />
eigenständigen Zentrum für<br />
unterstützende Pädagogik<br />
wählen. Für dieses Maßnahmenpaket<br />
müsste allerdings<br />
die finanzielle Ausstattung<br />
der Schulen in erheblichem<br />
Maße verbessert werden.<br />
Dieser Aspekt wurde jedoch<br />
im »Bremer Schulentwicklungsplan«<br />
nicht geklärt – die<br />
Frage der Finanzierung blieb<br />
weitgehend offen. Mit diesen<br />
Vereinbarungen ist die Bremer<br />
Bildungspolitik für die<br />
nächsten zehn Jahre festgeschrieben<br />
– und damit das<br />
Ziel einer »Schule für alle« in<br />
weite Ferne gerückt.<br />
Terminkorrektur<br />
Im letzten Heft von <strong>Grundschule</strong><br />
<strong>aktuell</strong> (Heft Nr. 104)<br />
hat sich im Bericht aus<br />
Bremen leider ein Fehler<br />
eingeschlichen. Die erste<br />
Veranstaltung der Fortbildungsreihe<br />
mit dem Thema<br />
»Pädagogische Leistungskultur«<br />
zum Bereich Deutsch von<br />
Erika Brinkmann und Hans<br />
Brügelmann findet am<br />
20. Februar 2009 und nicht<br />
am 22. Februar statt.<br />
für die Landesgruppe:<br />
Nina Bode-Kirchhoff<br />
Forum des Runden Tisches<br />
Gemeinschaftsschule<br />
Der Runde Tisch Gemeinschaftsschule<br />
Berlin (www.<br />
rt-gemeinschaftsschuleberlin.de)<br />
veranstaltete am<br />
15. Oktober 2008 im Berliner<br />
Abgeordnetenhaus<br />
ein öffentliches Forum zur<br />
gesellschaftspolitischen,<br />
wirtschaftlichen und pädagogischen<br />
Begründung<br />
der gemeinsamen Schule<br />
für alle für die Dauer der<br />
Pflichtschulzeit. Die Erziehungswissenschaftlerin<br />
und<br />
ehemalige Bundestagspräsidentin<br />
Rita Süßmuth und<br />
der Erziehungswissenschaftler<br />
Matthias von Saldern<br />
plädierten engagiert für das<br />
längere gemeinsame Lernen<br />
und stellten eine Vielfalt<br />
stichhaltiger und praktisch<br />
verwertbarer Argumente pro<br />
Gemeinschaftsschule vor.<br />
Das 2. »Forum Gemeinschaftsschule«<br />
ist für den<br />
11. März 2009 geplant.<br />
Es geht nicht nur um die<br />
Sanierung der Gebäude!<br />
2009 sollen Berlins Schulen<br />
zusätzlich 50 Millionen Euro<br />
für ihre Sanierung bekommen,<br />
so der Regierende Bürgermeister<br />
Wowereit (SPD).<br />
Es ist wahr: Die Gebäude<br />
vieler Berliner Schulen sind<br />
in einem desolaten Zustand.<br />
Ihre Sanierung ist überfällig!<br />
Aber es geht nicht nur um<br />
Sanierung! Die heutigen<br />
Raumstandards für <strong>Grundschule</strong>n<br />
sind hoffnungslos<br />
veraltet. <strong>Grundschule</strong>n<br />
sind längst keine Schulen<br />
mehr, die Kinder – und ihre<br />
Lehrer(innen) – nur für einige<br />
Unterrichtsstunden pro<br />
Tag besuchen. Alle Berliner<br />
<strong>Grundschule</strong>n sind Ganztagsschulen<br />
mit der erklärten<br />
Aufgabe einer individuellen<br />
Förderung. Das verlangt<br />
grundsätzlich andere und<br />
mehr Räume. Wer eine<br />
leistungsfähige <strong>Grundschule</strong><br />
will, muss auch die Räume<br />
dafür schaffen. Wer möchte,<br />
dass Kinder – und die für ihre<br />
Bildung verantwortlichen<br />
Erwachsenen – ganze Tage in<br />
der Schule verbringen, muss<br />
Schulgebäude und Schulgelände<br />
zur Verfügung stellen,<br />
die den pädagogischen Erfordernissen<br />
ebenso wie den<br />
Bewegungsbedürfnissen der<br />
Kinder im Grundschulalter<br />
gerecht werden. Und, nicht<br />
zu vergessen: In Ganztagsschulen<br />
sind zweckmäßig<br />
eingerichtete Arbeitsräume<br />
für Lehrer und Erzieher unerlässlich.<br />
Die Berliner Landesgruppe<br />
will das Thema »Kinder brauchen<br />
funktionale Schulräume!«<br />
zu einem Schwerpunkt<br />
ihrer künftigen Tätigkeit<br />
machen.<br />
Umbau des Schulsystems<br />
Rot-Rot hat sich geeinigt:<br />
Es wird in Berlin ab 2010<br />
neben den Sonderschulen<br />
nur noch zwei Schulformen<br />
im Sekundarbereich geben:<br />
Gymnasien und fusionierte<br />
Haupt-, Real- und Gesamtschulen.<br />
Wie diese neue<br />
Schulform, die ebenfalls zum<br />
Abitur führt, dann heißen<br />
soll, steht beim Schreiben<br />
dieses Textes noch nicht fest.<br />
Wir werden als Grundschulverband<br />
die Reformentwicklung<br />
kritisch konstruktiv<br />
begleiten. Uns ist dabei<br />
zweierlei besonders wichtig:<br />
dass beide Schulformen auch<br />
hinsichtlich des Zugangs<br />
gleichwertig sind und dass<br />
die beabsichtigte »Zweigliedrigkeit«<br />
längerfristig nicht<br />
die Entwicklung zur Gemeinschaftsschule<br />
verbaut, zur<br />
»Einen Schule für alle«.<br />
für die Landesgruppe:<br />
Peter Heyer;<br />
peterheyer@snafu.de<br />
Donnerstag,<br />
26. Februar 2009,<br />
17 – 20 Uhr<br />
3. Forum <strong>Grundschule</strong><br />
Thema: Neue Schulanfangsphase.<br />
Versuch<br />
einer Standortbestimmung.<br />
Diskussion <strong>aktuell</strong>er<br />
Probleme und Lösungswege.<br />
Ort: Galilei-<strong>Grundschule</strong><br />
(Kreuzberg)<br />
Friedrichstr. 13 (U-Bahnhof<br />
Hallesches Tor)<br />
Weitere Informationen auf<br />
unserer website (www.gsvberlin.de).<br />
GS <strong>aktuell</strong> <strong>105</strong> • Februar 2009<br />
27
<strong>aktuell</strong> … aus den Landesgruppen<br />
Hamburg<br />
Kontakt: Susanne Peters, Güntherstraße 10, 22087 Hamburg;<br />
susanne.peters@gsv.hamburg.de<br />
»Kompetenzorientierter<br />
Unterricht als Renaissance<br />
einer lernzielorientierten<br />
Didaktik?«<br />
So lautete die Fragestellung<br />
des Vortrages von<br />
Frau Professorin Dr. Petra<br />
Hanke, Universität Münster,<br />
am 1. November 2008 im<br />
Rahmen einer Matinee. An<br />
Hand wissenschaftlicher<br />
Ergebnisse und praktischer<br />
Beispiele zeigte sie auf,<br />
dass kompetenzorientierter<br />
Unterricht nicht nur auf<br />
kognitives Lernen und auf die<br />
Entfaltung grundlegender<br />
Arbeitsweisen und Lernstrategien,<br />
sondern auch auf die<br />
Entwicklung von Selbstvertrauen,<br />
Selbstwertgefühl und<br />
Lernmotivation ausgerichtet<br />
sein muss. Diagnosekom-<br />
petenz und die Gestaltung<br />
passungsfähiger Unterrichtsarrangements<br />
nannte sie als<br />
elementare Lehrerkompetenz.<br />
In der anschließenden<br />
Diskussion wurden positive<br />
Aspekte beleuchtet, Beiträge<br />
aus der Schulpraxis verdeutlichten<br />
aber auch Unsicherheiten<br />
und Schwierigkeiten<br />
bei der Entwicklung von<br />
Kompetenzrastern und bei<br />
der Berücksichtigung unterschiedlicher<br />
Kompetenzniveaus<br />
im Unterricht.<br />
»Die Netzflickerinnen<br />
und ihre Schwestern«<br />
Unter diese Überschrift hatte<br />
Frau Professorin Dr. Mechthild<br />
Dehn, Universität Hamburg,<br />
ihre Lesung gestellt, zu<br />
der sich am 23. November<br />
2008 Dozenten und Studierende,<br />
Lehrerinnen und<br />
Lehrer einfanden. Aus ihren<br />
Veröffentlichungen hatte sie<br />
einen Text ausgewählt über<br />
eine Zweitklässlerin, die Zugang<br />
zur Schriftkultur erlangt<br />
durch das Zulassen eines<br />
schulfremden Themas, das<br />
dem Kind sehr am Herzen<br />
lag. Bei der Analyse der ersten<br />
rudimentären Versuche<br />
bis hin zu umfangreichen, liebevoll<br />
ausgestalteten Texten<br />
verdeutlichte Frau Dehn die<br />
Entwicklung der Schriftsprache,<br />
des Selbstwertgefühls<br />
und die ersten Schritte aus<br />
der sozialen Isolation des<br />
Mädchens. Damit rührte sie<br />
die Zuhörer genauso an wie<br />
mit der Interpretation der<br />
intensiven, zum Teil stark<br />
emotionalen Auseinandersetzung<br />
von Drittklässlern<br />
mit dem Liebermannbild<br />
»Die Netzflickerinnen«.<br />
für die Landesgruppe:<br />
Marion Lindner<br />
Nordkettentreffen<br />
Im Februar werden<br />
sich auf einem weiteren<br />
Nordkettentreffen Vertreter<br />
der Landesgruppen über<br />
die bildungspolitische Situation<br />
der Länder und über<br />
ihre Arbeitsschwerpunkte<br />
austauschen. Außerdem soll<br />
versucht werden gemeinsam<br />
Ideen zu entwickeln, den<br />
Grundschulverband verstärkt<br />
an junge Lehrkräfte heranzutragen<br />
und aktive Mitglieder<br />
zu gewinnen.<br />
Hessen<br />
Anschrift: Ilse Marie Krauth, Steigerwaldweg 3, 63456 Hanau<br />
Knapp daneben<br />
ist auch vorbei …<br />
»Hessen – auf dem Weg<br />
zum Bildungsland Nr. 1«,<br />
so lautete das ehrgeizige –<br />
und anmaßende – Ziel der<br />
Regierung Koch in den letzten<br />
Jahren. Nun, nachdem<br />
das Ergebnis der IGLU-Studie<br />
veröffentlicht wurde, wird<br />
offenbar, dass dieses Ziel<br />
nicht so ganz erreicht ist. Und<br />
prompt gibt es hierzulande<br />
politisch Verantwortliche,<br />
die sich darüber freuen, dass<br />
Hessen im internationalen<br />
Vergleich ja ganz gut abschneidet.<br />
Schnell ist man<br />
auch bereit, die Auswahl der<br />
Schulen als nicht repräsentativ<br />
zu bezeichnen und das<br />
Ergebnis anzuzweifeln, weil<br />
nicht sein kann, was nicht<br />
sein darf. Bei allem berechtigten<br />
kritischen Hinterfragen<br />
des Zustandekommens und<br />
der Aussagekraft dieser Studien<br />
gibt das Ergebnis doch<br />
deutliche Hinweise darauf,<br />
dass die Situation an Hessens<br />
<strong>Grundschule</strong>n alles andere<br />
als zufriedenstellend ist.<br />
Dabei wurden in der Vergangenheit<br />
Maßnahmen<br />
ergriffen, die durchaus Sinn<br />
machen.<br />
Sprachstandserhebung und<br />
Sprachförderung vor Schuleintritt,<br />
Lese- und Förderkonzepte<br />
als Bestandteil der<br />
einzelnen Schulen haben<br />
offensichtlich nicht den gewünschten<br />
Erfolg gebracht.<br />
Kinder brauchen gute äußere<br />
Bedingungen und Zeit zum<br />
Lernen und Lehrkräfte brauchen<br />
sie auch, wenn sie jedes<br />
Kind individuell fördern und<br />
nicht nur G 8-fähig machen<br />
wollen. Gerade die haben<br />
sie aber nicht. Die frühe<br />
Selektion, das Einsortieren<br />
in Bildungsschubladen und<br />
das Tempo, das sie in Klasse<br />
5 vielfach erwartet, erzeugen<br />
Druck.<br />
Druck erzeugen auch die<br />
Noten, die es – notfalls auch<br />
mit Hilfe eines der Nachhilfeinstitute,<br />
die wie Pilze aus<br />
dem Boden schießen – zu<br />
erreichen gilt.<br />
Außen vor bleiben die<br />
Kinder, die keine häusliche<br />
Unterstützung haben oder<br />
deren Eltern sich kein Institut<br />
leisten können.<br />
Landeselternbeirat, Grundschulgruppe<br />
der GEW und<br />
wir als Landesgruppe haben<br />
das Aktionsbündnis »<strong>Grundschule</strong><br />
stärken – jetzt, ohne<br />
wenn und aber« geschlossen.<br />
Wir fordern von der<br />
künftigen Landesregierung,<br />
dass eingehalten wird, was<br />
ohnehin durch Erlasslage<br />
geregelt ist:<br />
● Max. 25 Kinder in jeder<br />
Grundschulklasse<br />
● Tatsächliche Zuweisung<br />
der 2 Differenzierungsstunden<br />
pro Klasse<br />
Herr Banzer bietet eine<br />
Klassenobergrenze von<br />
25 Kindern für die ersten<br />
Klassen und eine Differenzierungsstunde.<br />
Bleibt zu hoffen, dass bei<br />
Platz 13 für Hessen doch einige<br />
bildungspolitisch Verantwortliche<br />
über Konsequenzen<br />
nachdenken, vielleicht<br />
sogar über die, dass längeres<br />
gemeinsames Lernen eine<br />
gute Lösung ist.<br />
für die Landesgruppe<br />
Ilse Marie Krauth<br />
28 GS <strong>aktuell</strong> <strong>105</strong> • Februar 2009
<strong>aktuell</strong> … aus den Landesgruppen<br />
Mecklenburg-Vorpommern<br />
Vorsitzender: Ralph Grote, Hasengang 3, 17309 Pasewalk;<br />
ralphgrote@aol.com<br />
Anhörung zum Schulgesetz<br />
Im November 2008 fand die<br />
Anhörung zur Novellierung<br />
des Schulgesetzes im Landtag<br />
Schwerin statt.<br />
Im Ergebnis der Anhörung<br />
lud die SPD-Landtagsfraktion<br />
den GSV ein, um über die<br />
schülerbezogene Stundenzuweisung<br />
zu diskutieren.<br />
Vertreter des Bildungsministeriums<br />
und des Finanzministeriums<br />
waren ebenfalls an<br />
dem Treffen beteiligt.<br />
Durch den GSV wurde dargelegt,<br />
dass gerade Schulen mit<br />
einer Mehrzügigkeit durch<br />
die schülerbezogene Stundenzuweisung<br />
benachteiligt<br />
werden. Die schülerbezogene<br />
Stundenzuweisung in der<br />
Summe aus dem Sockel und<br />
dem Faktor für die Berechnung<br />
der Stundenzuweisung<br />
ergibt für eine geringe Schülerzahl<br />
pro Jahrgang eine<br />
Zuweisung, die höher ist als<br />
das Bandbreitenmodell und<br />
sogar über der zulässigen<br />
Stundentafel für Schüler liegt.<br />
Im Gegensatz dazu wird<br />
nicht einmal die Stundentafel<br />
erfüllt, wenn eine Schule in<br />
einem Jahrgang<br />
ca. 100 Schüler hat. Ursächlich<br />
verschuldet wird dies<br />
durch den Sockelbetrag, der<br />
eine konstante Größe ist, die<br />
unberücksichtigt lässt, wie<br />
viele Schüler innerhalb eines<br />
Jahrgangs beschult werden.<br />
Im Ergebnis der Diskussion<br />
wurde das Bildungsministerium<br />
durch die Abgeordneten<br />
aufgefordert, rechtzeitig vor<br />
dem Beschluss des Schulgesetzes<br />
im Januar Lösungen<br />
für dieses Problem vorzuschlagen.<br />
IGLU in MV<br />
Ab dem Schuljahr 2009/10<br />
bekommen alle <strong>Grundschule</strong>n<br />
zusätzliche Stunden für<br />
die Stärkung der Lesekompetenz<br />
mit dem Ziel, noch<br />
besser auf jeden einzelnen<br />
Schüler eingehen zu können<br />
und ihn zu fördern.<br />
Hintergrund dieser Entscheidung<br />
sind Schlussfolgerungen<br />
aus dem Abschneiden<br />
der Grundschüler aus MV im<br />
IGLU-Vergleich.<br />
Dabei zeigte sich, dass Kinder<br />
aus Elternhäusern mit vielen<br />
Büchern einen deutlichen<br />
Vorsprung vor Kindern aus<br />
Elternhäusern mit wenigen<br />
Büchern haben.<br />
Die stärkere individuelle<br />
Leseförderung soll Kindern<br />
zugutekommen, denen das<br />
Lesen noch schwerfällt.<br />
Im Ländervergleich liegt<br />
Mecklenburg-Vorpommern<br />
in der Lesekompetenz insgesamt<br />
auf Platz 6.<br />
Bezogen auf den Anteil von<br />
Spitzenlesern, die gut abstrahieren,<br />
verallgemeinern und<br />
begründen können, belegte<br />
Mecklenburg-Vorpommern<br />
nach Bayern und Thüringen<br />
sogar Platz 3.<br />
Auch beim Lesen und<br />
Verstehen von literarischen,<br />
informierenden oder wissensbasierten<br />
Texten zeigten<br />
die Schülerinnen und Schüler<br />
aus Mecklenburg-Vorpommern<br />
mit jeweils einem<br />
6. Platz gute Leistungen.<br />
Die Studie macht allerdings<br />
auch deutlich, dass Kinder<br />
aus Elternhäusern mit vielen<br />
Büchern einen deutlichen<br />
Vorsprung vor Kinder aus<br />
Elternhäusern mit nur wenigen<br />
Büchern haben.<br />
Minister Tesch: »Wir müssen<br />
alle Kinder gleichermaßen<br />
lesestark machen – Lesen<br />
ist die Basis für alle weiteren<br />
Lernerfolge. Die stärkere<br />
individuelle Förderung, die<br />
wir mit der Selbstständigen<br />
Schule im Blick haben, wird<br />
insbesondere denjenigen<br />
Schülerinnen und Schülern<br />
zugutekommen, denen das<br />
Lesen noch etwas schwerfällt.«<br />
Minister Tesch verweist außerdem<br />
darauf, dass es noch<br />
besser gelingen muss, in den<br />
weiterführenden Schulen an<br />
die guten Leseleistungen der<br />
ersten Schuljahre anzuknüpfen.<br />
Hier wird mit der Schulgesetzänderung<br />
für mehr<br />
Selbstständigkeit von Schule<br />
künftig weiteres Leistungspotential<br />
freigesetzt.<br />
Das neue Buch des Grundschulverbandes<br />
125 125 Beiträge zur Reform der <strong>Grundschule</strong><br />
Schule ausßerhalb der Schule<br />
Schule außerhalb der Schule<br />
Lehren und Lernen an außerschulischen Orten<br />
Karlheinz Burk,<br />
Marcus Rauterberg,<br />
Gudrun Schönknecht<br />
(Hrsg.)<br />
Band 125, ISBN 3-930024-97-7<br />
Best.-Nr. 1083, 17,– € / f. Mitgl. 13,– €<br />
Wird ein Ort im schulischen Zusammenhang auf gesucht, wird er<br />
zu einem schulischen Lern- oder Lehrort, zur »Schule außerhalb<br />
der Schule«. Gründe, solche Orte aufzusuchen, liegen vor allem in<br />
den besonderen Möglichkeiten, die sie bieten.<br />
Ob dabei auch inhaltlich und methodisch offener und anders<br />
gelernt und gearbeitet wird als in der Schule, ist auch abhängig<br />
von der didaktischen Vorbereitung der Klasse, der Lehrerin oder<br />
des Lehrers sowie von den pädagogisch-didaktischen Angeboten<br />
und Programmen vor Ort.<br />
Von solchen Orten, den Begründungen, solche Orte aufzusuchen<br />
und den Möglichkeiten, dort zu lehren und zu lernen, ist in diesem<br />
Band die Rede.<br />
Es kommen AutorInnen zu Wort, die aus unter schiedlichen<br />
Perspektiven, Erfahrungen und Überzeugungen schreiben.<br />
Diese Vielfalt gibt einen Eindruck von den mannigfaltigen<br />
Möglichkeiten des Lehrens und Lernens außerhalb der Schule.<br />
Mit CD<br />
GS <strong>aktuell</strong> <strong>105</strong> • Februar 2009<br />
29
<strong>aktuell</strong> … aus den Landesgruppen<br />
Nordrhein-Westfalen<br />
Vorsitzende: Gisela Cappel, Habichtstr. 1d, 58285 Gevelsberg<br />
www.grundschulverband-nrw.de<br />
Mitgliederversammlung<br />
2008: Pädagogische Leistungskultur<br />
konkret<br />
Die diesjährige Mitgliederversammlung<br />
des GSV NRW<br />
fand am 25. Oktober 2008<br />
an einem renommierten<br />
Ort statt: In der Bielefelder<br />
Laborschule, die in den<br />
siebziger Jahren von Hartmut<br />
von Hentig gegründet wurde,<br />
trafen sich Vorstand und interessierte<br />
Mitglieder, um Realisierungsmöglichkeiten<br />
einer<br />
pädagogischen Leistungskultur<br />
›vor Ort‹ kennenzulernen.<br />
Nach einem anregenden und<br />
überzeugenden Einführungsvortrag<br />
von Ulrich Bosse,<br />
dem Leiter der Primarstufe,<br />
in das pädagogische<br />
Leistungskonzept der Schule<br />
konnten die Teilnehmer und<br />
Teilnehmerinnen bei einem<br />
ausführlichen Rundgang<br />
durch die Schule Einblick in<br />
gestaltete Lernwelten gewinnen,<br />
die dem selbsttätigen<br />
Lernen und Erforschen der<br />
Kinder sowie einem demokratischen<br />
Zusammenleben<br />
hohe Priorität einräumen.<br />
Mit diesem überzeugenden<br />
Beispiel einer notenfreien<br />
<strong>Grundschule</strong> kontrastierten<br />
Mitgliederversammlung des GSV NRW in der Bielefelder Laborschule<br />
die kurz vorher bekannt<br />
gewordenen Pläne des<br />
Ministeriums zur Verschärfung<br />
der Notenpraxis in der<br />
<strong>Grundschule</strong>, die bereits ab<br />
Klasse vier »die Praxis der<br />
weiterführenden Schulen<br />
einführen soll«. Diese Überlegungen<br />
lehnte die MV mit<br />
einem Beschluss ab, der ein<br />
eindeutiges Bekenntnis zur<br />
individuellen Förderung aller<br />
Kinder ohne Ziffernnoten<br />
enthält – nachzulesen auf der<br />
Homepage!<br />
Neue Kopfnoten<br />
Versprochen war vom<br />
Ministerium eine Evaluation<br />
der im letzten Jahr wieder<br />
eingeführten Kopfnoten<br />
– herauskommen ist eine<br />
›Lightversion‹ der Kopfnoten,<br />
die aber nicht die grundsätzliche<br />
Fragwürdigkeit dieses<br />
Instrumentariums reflektiert,<br />
sondern eher an eine<br />
Würfelrunde erinnert, in der<br />
die verschiedenen Kategorien<br />
beliebig reduziert und<br />
gemischt wurden.<br />
Ulrich Bosse, der Leiter der<br />
Primarstufe der Laborschule<br />
Bielefeld, berichtete anregend<br />
über das pädagogische Leistungskonzept<br />
der Schule<br />
Deutscher Schulpreis<br />
für die Wartburg-Schule<br />
Münster<br />
Freude herrscht beim GSV<br />
über die Auszeichnung der<br />
Wartburg-Schule in Münster<br />
mit dem deutschen Schulpreis<br />
– auch diese Schule<br />
steht für eine langjährige<br />
und erfolgreiche pädagogische<br />
Praxis, die sich einer<br />
ermutigenden und differenzierten<br />
Leistungsrückmeldung<br />
ohne Noten verpflichtet<br />
weiß und seit langem<br />
reformorientiert arbeitet.<br />
Es bleibt unverständlich,<br />
dass die bildungspolitischen<br />
Entscheidungsträger in NRW<br />
diese Beispiele gelingender<br />
und erfolgreicher Schulen<br />
nicht zur Kenntnis nehmen!<br />
Mehr Informationen zu allen<br />
Themen auf unserer Homepage<br />
www.grundschul<br />
verband-nrw.de.<br />
für die Landesgruppe:<br />
Beate Schweitzer<br />
Einladung: Beispiele<br />
einer pädagogischen<br />
Leistungskultur –<br />
Dinslaken , 14. März 2009<br />
Der GSV lädt herzlich ein zu<br />
einer Veranstaltung in der<br />
Averbruchschule in Dinslaken,<br />
um möglichst regional die<br />
Überlegungen und Möglichkeiten<br />
einer kindgerechten,<br />
pädagogisch orientierten<br />
Leistungskultur vorstellen zu<br />
können.<br />
30 GS <strong>aktuell</strong> <strong>105</strong> • Februar 2009
<strong>aktuell</strong> … aus den Landesgruppen<br />
Saarland<br />
Vorsitzende: Lilo Groll, Holbeinstr. 11, 66128 Saarbrücken<br />
Fieber genau zu messen ist<br />
noch keine Diagnose,<br />
Fieber erfolgreich zu senken<br />
noch keine Therapie<br />
In Zusammenhang mit der<br />
Landesgruppenversammlung<br />
hat die Landesgruppe<br />
Saarland am 29. September<br />
2008 im Institut für Lehrerfort-<br />
und -weiterbildung zu<br />
einem Vortrag von Prof. Dr.<br />
Hans Brügelmann (Universität<br />
Siegen) eingeladen. Der<br />
Titel des Vortrages lautete:<br />
»Fieber genau zu messen ist<br />
noch keine Diagnose, Fieber<br />
erfolgreich zu senken noch<br />
keine Therapie.«<br />
Herr Dr. Brügelmann relativierte<br />
die Bedeutung von<br />
Pisa und Co. für das pädagogische<br />
Handeln vor Ort.<br />
Solche Verfahren eignen<br />
sich nur zum Erfassen von<br />
Symptomen, können also<br />
ähnlich wie ein Thermometer<br />
als Warnlampe fungieren; als<br />
Qualitätsmaß für »gute Schule«<br />
oder »guten Unterricht«<br />
hingegen taugen sie nicht.<br />
Statistische Daten gaukeln<br />
eine Allgemeingültigkeit nur<br />
vor. De Fakto sprechen sie<br />
nicht für sich, sondern sind<br />
hoch interpretationsbedürftig.<br />
Jede Lehrkraft muss ihren Unterricht<br />
selbst evaluieren im<br />
Sinne einer »pädagogischen<br />
Leistungskultur«, die sich wie<br />
folgt darstellt:<br />
● Entwicklungsdokumentation<br />
von Fortschritten statt<br />
punktueller Lernstandsvergleiche<br />
● Beachtung der Tiefenstruktur<br />
von Leistungen<br />
(Fehler nicht gleich Fehler)<br />
● Individuelle Förderorientierung<br />
statt zunehmender<br />
Standardisierung der Anforderungen<br />
● Dialogische Lernberatung<br />
statt Leistungsbeurteilung<br />
»ex cathedra«<br />
In einer solchen Sicht sind<br />
standardisierte Tests eine<br />
Erweiterung des Repertoires,<br />
nicht aber ein Ersatz von<br />
Fremdurteil und Selbsteinschätzung.<br />
Hans Brügelmann gab<br />
vielfältige Beispiele für eine<br />
solche Leistungskultur. In<br />
einer anschließenden angeregten<br />
Diskussion wurde der<br />
Widerspruch zwischen dem<br />
Ruf nach stärkerer Differenzierung<br />
/ Individualisierung<br />
und dem gleichzeitigen Ruf<br />
nach Bildungsstandards (alle<br />
sollen zu einem gleichen<br />
Zeitpunkt das Gleiche erreicht<br />
haben) angesprochen.<br />
Auch das Fehlen von kontextbezogenen<br />
Beschreibungen<br />
(welche Rahmenbedingungen<br />
führen zum Erfolg und<br />
welche nicht) wurde kritisch<br />
beurteilt.<br />
Als besonders problematisch<br />
empfanden alle Teilnehmer<br />
die Tatsache, dass Schulreform<br />
Zeit braucht, leider aber<br />
jeden Tag populistisch neue<br />
Reformen angekündigt und<br />
wieder verworfen würden.<br />
Die Landesgruppe dankt<br />
Herrn Brügelmann für den<br />
äußerst interessanten und<br />
kurzweiligen Vortrag.<br />
Folien finden sich unter:<br />
http://www.agprim.unisiegen.de/printbrue.htm<br />
In der anschließenden<br />
Mitgliederversammlung<br />
wurde der Vorstand der<br />
Landesgruppe Saarland neu<br />
gewählt:<br />
Lilo Groll (Vors. Del.),<br />
Ulla Huberich (Stellv.),<br />
Sandra Behrend (Stellv.),<br />
Carolin Eifler (Schatzmeisterin)<br />
und<br />
Katrin Jungfleisch (Schriftführerin).<br />
4. Februar 2009<br />
Grundschultag in<br />
Merzig<br />
in Zusammenarbeit mit dem<br />
Saarländischen Lehrerinnenund<br />
Lehrerverband, dem<br />
Institut für Lehrerfort- und<br />
-weiterbildung, dem Institut<br />
für Pädagogik und Medien<br />
und dem Verband der Schulmusiker<br />
Schleswig-Holstein<br />
Vorsitzende: Dr. Beate Blaseio, Am Binnenhafen 52, 25813 Husum;<br />
www.grundschulverband-sh.de<br />
Experimente,<br />
Mitgliederversammlung,<br />
Vorstandswahl<br />
Am 7. Oktober 2008 folgten<br />
nachmittags ca. 30 Lehrerinnen<br />
und Lehrer der Einladung<br />
in die GS Groß Vollstedt,<br />
um sich praxisnahe Anregungen<br />
für das Experimentieren<br />
mit Grundschulkindern zu<br />
holen. Nach einer Einführung<br />
von Dr. Beate Blaseio über<br />
die Bedeutung des Experimentierens<br />
im Sachunterricht<br />
folgte das Selber-Tun.<br />
In drei Klassenräumen<br />
waren motivierende Stationen<br />
aufgebaut, die zum<br />
Forschen aufforderten. Die<br />
einfach nachzumachenden<br />
Experimente fanden großen<br />
Anklang.<br />
Auf der anschließenden Mitgliederversammlung<br />
wurde<br />
Rückschau auf die vergangenen<br />
zwei Jahre gehalten und<br />
Michael Lorbeer-Andresen<br />
für seine langjährige Mitarbeit<br />
im Vorstand der Landesgruppe<br />
gedankt. Die anschließende<br />
Vorstandswahl<br />
ergab folgendes Ergebnis:<br />
Dr. Beate Blaseio<br />
( Vorsit zende)<br />
Michael Lorbeer-Andresen<br />
(Delegierter)<br />
Jutta Schweitzer (Schriftführerin)<br />
Jörg Keyser (Kassenwart)<br />
Sabine Jesumann,<br />
Andrea Klimmek<br />
(Öffentlichkeits arbeit)<br />
Wir gratulieren Susanne Rink,<br />
die ein Mädchen geboren hat<br />
und sich weiterhin aktiv in<br />
die Vorstandsarbeit mit einbringen<br />
will. Erwähnenswert<br />
ist die Wiederaktivierung von<br />
Jörg Keyser, der ursprünglich<br />
zur Gruppe der Gründungsmitglieder<br />
der Landesgruppe<br />
gehörte. Wir danken den<br />
Mitgliedern für ihr Vertrauen<br />
und hoffen auch in Zukunft<br />
unseren Einsatz im Sinne reformorientierter<br />
Grundschularbeit<br />
erbringen zu können.<br />
VERA und der Verrat<br />
Im Herbst tourte der Staatssekretär<br />
Herr Dr. Meyer-<br />
Hesemann durch die Landkreise.<br />
Auf verpflichtenden<br />
Schulleiterdienstversammlungen<br />
wurde eindringlich<br />
auf die Wichtigkeit der<br />
VERA-Ergebnisse hingewiesen.<br />
Schade nur, dass eine<br />
Rückmeldungsmöglichkeit<br />
zwar angekündigt, aber<br />
deutlich nicht erwünscht<br />
war. Der Hinweis auf Kritik<br />
aus dem Grundschulverband<br />
wurde als Polemik und nicht<br />
wissenschaftlich begründbar<br />
abgeschmettert. Das wirkte<br />
wie ein doppelter Verrat.<br />
Erstens gibt es kein schlüssiges<br />
Nachdenken über die<br />
Nützlichkeit von VERA in der<br />
<strong>Grundschule</strong> im Ministerium,<br />
zweitens sind die Ergebnisse<br />
entgegen der Versprechungen<br />
von ministerieller Ebene<br />
in den Schulporträts veröffentlicht<br />
worden.<br />
für die Landesgruppe: Sabine<br />
Jesumann, Andrea Klimmek<br />
GS <strong>aktuell</strong> <strong>105</strong> • Februar 2009<br />
31
<strong>aktuell</strong> … aus den Landesgruppen<br />
Rheinland-Pfalz<br />
Anschrift: Werner Lang, Am Wingertsberg 8, 67756 Hinzweiler<br />
Fortbildungen<br />
Pädagogische Leistungskultur<br />
– und was die neue<br />
Grundschulordnung dazu<br />
sagt, diese seit den Sommerferien<br />
laufende Fortbildungsreihe<br />
der Landesgruppe RLP<br />
wurde bislang mit großem<br />
Erfolg von rund 500 Lehrerinnen<br />
und Lehrern wahrgenommen.<br />
Fragen zur<br />
pädagogischen Leistungskultur<br />
sowie zu Chancen und<br />
Verpflichtungen der neuen<br />
Grundschulordnung konnten<br />
an verschiedenen Tagungsorten<br />
in Rheinland-Pfalz auf<br />
den Grund gegangen werden.<br />
Die Powerpoint-Präsentation<br />
zur Fortbildung finden<br />
Sie auf der Homepage:<br />
www.wl-lang.de (Grundschulpädagogik<br />
/ Fortbildungen/Pädagogische<br />
Leistungskultur).<br />
für die Landesgruppe:<br />
Konstanze Rosinus<br />
Grundschultag 2009<br />
Basierend auf dem Leitprinzip<br />
<strong>Grundschule</strong> auf dem<br />
Weg zur neuen Lernkultur<br />
wird am 6. Oktober 2009<br />
an der Univer sität Koblenz-<br />
Landau, Campus Landau,<br />
der nächste Grundschultag<br />
mit dem<br />
Schwerpunkt Kunst – Musik<br />
– Bewegung stattfinden.<br />
Dieser Termin ersetzt den<br />
bisher angekündigten<br />
(3. März 2009) aus organisatorischen<br />
Gründen. Nähere<br />
Informationen werden nach<br />
den Sommerferien 2009 auf<br />
der Homepage der Landesgruppe<br />
(s. o.) veröffentlicht.<br />
Thüringen<br />
Steffi Jünemann, Hauptstraße 7, 99734 Nordhausen<br />
10 Jahre Schuleingangsphase<br />
in Thüringen<br />
Am 21. November 2008<br />
folgten Erzieher, Lehrer, Wissenschaftler<br />
und Politiker der<br />
Einladung des Thüringer Instituts<br />
für Lehrerfortbildung,<br />
Lehrplan und Medien (Thillm)<br />
in den Festsaal des Erfurter<br />
Rathauses, um gemeinsam<br />
auf die Ergebnisse des Schulentwicklungsprojektes<br />
»Begleitete<br />
Schuleingangsphase<br />
in Thüringen entwickeln«<br />
(BeSTe) zurückzublicken und<br />
die Weiterentwicklung der<br />
Schuleingangsphase anzustoßen.<br />
10 Jahre Schuleingangsphase<br />
heißt in erster Linie 10 Jahre<br />
Innovation aus wissenschaftlicher<br />
und pädagogischer<br />
Sicht, heißt immanentes<br />
Fortschreiten der Thüringer<br />
<strong>Grundschule</strong>n.<br />
Vor 10 Jahren, damals noch<br />
unter der Bezeichnung<br />
»Veränderte Schuleingangsphase«,<br />
war es eine kleine<br />
Gruppe von <strong>Grundschule</strong>n,<br />
die sich unter der wissenschaftlichen<br />
Begleitung von<br />
Frau Prof. Carle dem gemeinsamen<br />
Ziel – Jedem Kind die<br />
bestmögliche Entwicklung<br />
zu ermöglichen – stellten.<br />
Die Ergebnisse des Schulversuches<br />
spiegeln sich u. a. in<br />
der Novellierung des Thüringer<br />
Schul- und Förderschulgesetzes<br />
wider. Das nachfolgende<br />
Projekt »optimierte<br />
Schuleingangsphase« setzte<br />
sich mit der Frage nach der<br />
Einbindung des erworbenen<br />
Wissens in die Ausbildung<br />
von Lehrern und die Begleitung<br />
der <strong>Grundschule</strong>n<br />
auseinander. Die daraus<br />
gewonnenen Erkenntnisse<br />
führten zum o. g. Schulentwicklungsprojekt<br />
»BeSTe«.<br />
Aktuell beteiligen sich<br />
89 Thüringer <strong>Grundschule</strong>n<br />
mit Begleitung und eine Vielzahl<br />
weiterer <strong>Grundschule</strong>n<br />
an diesem Projekt. Qualitative<br />
Ziele wie »Allen Kindern<br />
die Chance zum Lernen in<br />
ihrer <strong>Grundschule</strong> geben«,<br />
heißt aus unserer Sicht vor<br />
allem: die <strong>Grundschule</strong> kindgerecht<br />
gestalten.<br />
Altersgerechte Einschulung,<br />
zieldifferenter, klassenstufenübergreifender<br />
und<br />
gemeinsamer Unterricht,<br />
Begabungsförderung,<br />
flexible Schuleingangsphase,<br />
anregende Lernumgebung<br />
sind nur einige der anstehenden<br />
Aufgaben, um o. g.<br />
Ziel zu erreichen. Um aus<br />
Visionen Wirklichkeit werden<br />
zu lassen, wurden an allen<br />
Schulamtsbereichen professionelle<br />
Unterstützersysteme<br />
initiiert. Spezielle Berater<br />
für die Schuleingangsphase<br />
mit Grundschul- und Förderschulkompetenz<br />
(Tandems)<br />
zeichnen sich u. a. durch eine<br />
umfangreiche Qualifizierung<br />
in eben diesen Bereichen aus.<br />
Ihnen obliegt es:<br />
● Pädagogen und Schulen<br />
in ihren Bestrebungen zum<br />
klassenstufenübergreifenden<br />
und Gemeinsamen Unterricht<br />
zu informieren, fortzubilden,<br />
zu beraten,<br />
● neue Schulen für die<br />
Einführung dieser Schuleingangsphase<br />
zu gewinnen,<br />
● Schulen bei der Entwicklung<br />
eines gemeinsamen<br />
Planes zur Gestaltung desselben<br />
zu unterstützen,<br />
● Unterrichtsberatungen<br />
anzubieten,<br />
● schulinterne Fortbildungen<br />
für die Gestaltung einer<br />
förderwirksamen Schuleingangsphase<br />
zu forcieren,<br />
● BeSTe-Schulen im Entwicklungsvorhaben<br />
»Eigenverantwortliche<br />
Schule« zu<br />
unterstützen.<br />
All diese Aufgaben sind<br />
ohne die Einbindung der<br />
Eltern, die Mitwirkung von<br />
allen Pädagogen und die<br />
Unterstützung durch die<br />
Administration nicht möglich.<br />
Herr Kultusminister Bernward<br />
Müller forderte in seiner<br />
Rede u. a. Kreativität. Wir<br />
denken, dass dieser Forderung<br />
eine Offenheit in methodisch-organisatorischem,<br />
didaktisch-inhaltlichem und<br />
pädagogisch-politischem Bereich<br />
zu Grunde liegen muss.<br />
für die Landesgruppe:<br />
Steffi Jünemann<br />
Am 9. Mai 2009 findet das<br />
traditionelle Symposium<br />
»Lernen im<br />
Miteinander von<br />
Kindertageseinrichtungen<br />
und Schule« in der Universität<br />
Erfurt statt. Alle interessierten<br />
Eltern, Erzieher, Lehrer<br />
und Politiker sind herzlich<br />
eingeladen. Die Einladung<br />
der Mitglieder der Landesgruppe<br />
Thüringen des<br />
Grundschulverbandes e. V.<br />
erfolgt über den Postweg.<br />
32 GS <strong>aktuell</strong> <strong>105</strong> • Februar 2009
Beitrittserklärung<br />
An den<br />
Grundschulverband e.V.<br />
Niddastraße 52<br />
60329 Frankfurt/Main<br />
Ich beantrage die Mitgliedschaft im<br />
Grundschulverband e. V. – gegr. als Arbeitskreis <strong>Grundschule</strong><br />
Als Mitglied erhalte ich jährlich zwei neue Mitgliedsbände aus der Reihe »Beiträge zur Reform<br />
der <strong>Grundschule</strong>« sowie die 32-seitige Vierteljahreszeitschrift »<strong>Grundschule</strong> <strong>aktuell</strong>« jeweils nach<br />
Fertigstellung kostenfrei zugesandt.<br />
Den angekreuzten Betrag<br />
Mitgliedsbeitrag: 55,– €<br />
Ermäßigter Beitrag (bitte belegen!): 33,– €<br />
(für Studierende, Arbeitslose, Lehramts anwärter/innen sowie für<br />
Teilzeitbeschäftigte in den neuen Ländern)<br />
Förderbeitrag: mindestens 33,– €<br />
(keine Mitgliedsbände, nur Zeitschrift – für Pensionäre, die weiterhin <strong>aktuell</strong> informiert werden<br />
wollen und andere Förderer, die die Arbeit des Grundschul verbandes unterstützen möchten)<br />
zahle ich nach Erhalt der Jahresrechnung per Bankeinzug<br />
Konto Nr. _______________________<br />
Sie können sich auch im Internet anmelden<br />
(www.grundschulverband. de) oder<br />
uns diese Beitritts erklärung faxen an<br />
Fax 0 69 / 7 07 47 80<br />
Bankleitzahl _____________________________________<br />
Bankname ________________________________________________________________________<br />
Name ____________________________________________________________________________<br />
Straße und Hausnummer ____________________________________________________________<br />
PLZ und Ort _______________________________________________________________________<br />
E-Mail________________________________________________Tel. _________________________<br />
__________________________________________________________________________________<br />
Datum und Unterschrift<br />
Grundschul<br />
verband<br />
Als Mitglied im<br />
Grundschulverband …<br />
… unterstützen Sie unsere Ziele:<br />
»Die pädagogisch begründeten<br />
Ansprüche der Kinder dieser Schulstufe<br />
zu vertreten, die Grundschulpädagogik<br />
weiter zu ent wickeln<br />
und die Stellung der <strong>Grundschule</strong><br />
im öffent lichen Bildungswesen zu<br />
verbessern.« (aus der Satzung)<br />
… erhalten Sie jährlich<br />
zwei neue Bände der Reihe<br />
»Beiträge zur Reform der <strong>Grundschule</strong>«<br />
… erhalten Sie viermal jährlich<br />
die 32-seitige Mitglieder zeitschrift<br />
»<strong>Grundschule</strong> <strong>aktuell</strong>« mit Beiträgen<br />
zur Bildungs politik, aus der Grundschul<br />
forschung und zur pädagogischen<br />
Praxis<br />
Für Ihren Beitritt können Sie<br />
sich aus der Ihnen zugehenden<br />
Wunschliste einen Band aussuchen.<br />
Nur selbstbewusste Kinder<br />
können sich wehren.<br />
Das Sicher-Stark-Team macht Kinder in ganz Deutschland<br />
stark gegen Gewalt und Missbrauch. Es wurden<br />
bereits über 300.000 Kinder und Eltern in ganz<br />
Deutschland geschult! Unsere soziale Initiative ist<br />
einer der führenden Anbieter auf diesem Gebiet<br />
und benötigt weitere Geldspender, Förderer und<br />
Sponsoren. Die neue Hörbuch-CD „Achtung! Starkes<br />
Kind!“ ist sehr gut geeignet, Eltern und Lehrern<br />
und allen, die mit Grundschulkindern arbeiten,<br />
zu vermitteln, wie sie ihre Kinder sicher und stark<br />
machen können.<br />
Helfen Sie mit, damit keine Kinder mehr missbraucht<br />
werden oder einem Gewaltverbrechen<br />
zum Opfer fallen. Es gibt jetzt sehr effektive Möglichkeiten,<br />
sie zu schützen. Kostenlose Hörproben<br />
unter www.sicher-stark.de | info@sicher-stark.de<br />
Servicenummer: 01 80 - 55501332*<br />
Servicefax: 01 80 - 55501330<br />
*14 Cent die Minute aus dem deutschen Festnetz<br />
Spendenkonto:<br />
Sicher-Stark-Team<br />
Kto.-Nr. 100113520<br />
BLZ 37060590<br />
Sparda Bank Euskirchen<br />
www.sicher-stark.de
Allen<br />
Kindern<br />
Bundesgrundschulkongress 2009<br />
Universität<br />
Frankfurt am Main<br />
Campus West<br />
Grüneburgplatz 1<br />
11.-12. September<br />
gerecht<br />
werden<br />
Anmeldung per Post an den Grundschulverband<br />
Niddastraße 52, 60329 Frankfurt am Main<br />
oder per Fax 069 -707 47 80<br />
oder über das Internet mit dem eingestellten<br />
Formular: www.grundschulverband.de<br />
www.hek-design.de