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Grundschule aktuell 105

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www.grundschulverband.de · Februar 2009 · D9607F<br />

<strong>Grundschule</strong> <strong>aktuell</strong><br />

Zeitschrift des Grundschulverbandes · Nr. <strong>105</strong><br />

Kindheiten: Wie Kinder<br />

heute leben und lernen<br />

in der Heftmitte: Kurzprogramm zum<br />

Bundesgrundschulkongress 2009


Gemeinsam Schule machen!<br />

GEMEINSAM SCHULE MACHEN<br />

Die<br />

GRUNDSCHUL<br />

ZEITSCHRIFT<br />

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2 Ausgaben im<br />

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Seit mehr als 20 Jahren bietet Die GRUNDSCHULZEITSCHRIFT<br />

fundierte und praxiserprobte Beiträge aus Praxis und<br />

Forschung. Dabei stehen natürlich die Kinder, aber auch<br />

Sie als Lehrerin und Lehrer mit all Ihren – auch den Unterricht<br />

übergreifenden – Themen und Problemen im Zentrum<br />

der Zeitschrift.<br />

Die Anforderungen an alle sind in den letzten Jahren<br />

gestiegen, Die GRUNDSCHULZEITSCHRIFT möchte Sie mit vielen<br />

Ideen für Ihren Unterricht, aber auch darüber hinaus,<br />

unterstützen und gibt Ihnen notwendige Informationen<br />

zur Bewältigung Ihres Arbeitsalltages in der Schule.<br />

Die GRUNDSCHULZEITSCHRIFT …<br />

◗ … stärkt Sie in Ihrem Berufsalltag!<br />

◗ … entwickelt Schul- und Unterrichtskultur!<br />

◗ … gibt Orientierung in bildungspolitisch turbulenten Zeiten!<br />

◗ … zeigt vielfältige Unterrichtsideen!<br />

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Das Grundprinzip: „Die Offene Tür“<br />

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Strukturen der Zusammenarbeit<br />

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Die GRUNDSCHULZEITSCHRIFT erscheint mit 6 Themenheften, 1 Doppelheft und 2 Materialpaketen<br />

und kostet € 99,–inkl. Friedrich Jahresheft und dem Magazin SCHÜLER.<br />

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Das Jahrgangsteam<br />

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Unser Aboservice berät Sie gerne:<br />

Telefon: 0511 / 4 00 04 -151<br />

Fax: 0511 / 4 00 04 -170<br />

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Sie möchten gleich bestellen?<br />

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Inhalt<br />

L O G O Bundesgrundschulkongress<br />

Editorial<br />

Tagebuch<br />

S. 2 Chancenungleichheit in der <strong>Grundschule</strong><br />

(Ulrich Hecker)<br />

Thema: Kindheiten<br />

S. 3 Gute und schlechte Nachrichten über Kinder<br />

und Kindheit (Friederike Heinzel)<br />

S. 4 Kaleidoskop des Kinderalltags<br />

(Hans Brügelmann)<br />

S. 6 Wohlbefinden aus Sicht der Kinder<br />

(Sabine Andresen)<br />

S. 9 Kinderleben heute (Maria Fölling-Albers)<br />

Praxis: Kindheiten<br />

S. 12 Was Kinder über Kindheit denken (Rita Fürstenau)<br />

S. 15 Das Erzählcafé (Sarah Alexi)<br />

S. 18 Zwischen Freizeit, Schule und Tests<br />

(Simone Knorre, Anna Lena Wagener)<br />

S. 21 Deutscher Schulpreis 2008<br />

Aktuell …<br />

… aus dem Bundesvorstand<br />

S. 25 VERA im Dilemma (Maresi Lassek)<br />

… aus den Landesgruppen, u. a.<br />

S. 26 Baden-Württemberg: Kritik an VERA<br />

S. 27 Berlin: Gemeinschaftsschule<br />

S. 32 Thüringen: 10 Jahre Schuleingangsphase<br />

Impressum<br />

GRUNDSCHULE AKTUELL, die Zeitschrift des Grundschulverbandes<br />

erscheint viertel jährlich und wird allen Mitgliedern zugestellt.<br />

Der Bezugspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten. Das einzelne Heft<br />

kostet 5 €; für Mitglieder und bei Sammelbestellungen ab 10 Hefte 3 €<br />

(inkl. Versand).<br />

Verlag: Grundschulverband e. V.<br />

Niddastraße 52, 60329 Frankfurt / Main<br />

Tel. 0 69 / 77 60 06, Fax: 0 69 / 7 07 47 80<br />

www.grundschulverband.de, info@grundschulverband.de<br />

Herausgeber:<br />

Dr. Horst Bartnitzky (für den Vorstand des Grundschulverbandes)<br />

Redaktion:<br />

Ulrich Hecker, Hülsdonker Str. 64, 47441 Moers,<br />

Tel. 0 28 41 / 2 17 14, ulrichhecker@aol.com<br />

Fotos: Bert Butzke, Mülheim/Ruhr (Titel, S. 5, 7–11, 14, 19), Autorinnen<br />

und Autoren; Zeichnung: Wilhelm Nüchter, Moers (S. 25)<br />

Herstellung:<br />

novuprint Agentur für Mediendesign, Werbung, Publikationen GmbH,<br />

Bödekerstr. 73, 30161 Hannover, Tel. 0511 / 9 61 69-11,<br />

Fax: 05 11 / 9 61 69-99<br />

Anzeigenverwaltung: Claudia Klinger, Verlagsgruppe Beltz,<br />

Tel. 0 62 01 / 6 00 73 86, Fax 0 62 01 / 6 00 73 93<br />

Druck: Druck Partner Rübelmann, 69502 Hemsbach<br />

ISSN 1860-8604 / Bestellnummer: 6040<br />

Beilagen: »Eine Welt in der Schule« als ständige Beilage,<br />

Plakat und Kurzprogramm zum Bundesgrundschulkongress 2009<br />

(gestaltet von www.hek-design.de)<br />

… so lautet das Motto für den Bundesgrundschulkongress im<br />

September 2009 in Frankfurt am Main.<br />

Alle 10 Jahre findet dieses Großereignis statt – und mit diesem<br />

Heft laden wir Sie herzlich ein, an unserem Kongress teilzunehmen,<br />

Ihren Kolleginnen und Kollegen davon zu berichten und<br />

sie ebenfalls einzuladen, mit Ihnen nach Frankfurt zu kommen.<br />

Unsere Programmübersicht in der Mitte des Heftes zeigt bereits:<br />

Es wird sich lohnen!<br />

Informieren Sie sich. Melden Sie sich an. Wir freuen uns darauf,<br />

möglichst viele Kolleginnen und Kollegen beim Kongress begrüßen<br />

zu können.<br />

Weitere Exemplare des Kurzprogramms können Sie bei unserer<br />

Geschäftsstelle anfordern:<br />

Grundschulverband, Niddastr. 52, 60329 Frankfurt/Main,<br />

Tel.: 0 69 / 77 60 06, E-Mail: info@grundschulverband.de<br />

Beilage: Das Plakat zum Kongress<br />

Diesem Heft liegt das Plakat zum Bundesgrundschulkongress<br />

bei. Bitte hängen Sie es in Ihrem Lehrerzimmer, Seminarraum,<br />

Hochschulfoyer … aus und helfen Sie mit, den Kongress bekannt<br />

zu machen.<br />

Weitere Exemplare des Plakats schickt Ihnen gern unsere Geschäftsstelle<br />

(s. o.)!<br />

Kindheiten<br />

Wer »allen Kindern gerecht werden« will, der oder die muss<br />

wissen, »wie Kinder heute leben und lernen« – das ist das Thema<br />

unseres Heftes. Welche Konsequenzen sich aus den höchst<br />

CMYK- Orange Blau Rot Grün Ocker<br />

unterschiedlichen Lebensbedingungen und Bildungsvoraussetzungen<br />

von M Kindern = 80 % heute M = für 80 die % (Grund-)Schule M = 100 % M ergeben, = 0 % wird M = 40 %<br />

Farben C = 0 % C = 100 % C = 0 % C = 80 % C = 0 %<br />

in den Beiträgen Y = 90 zum % »Thema« Y = 0 % und in Y = unserer 50 % Rubrik Y = 80 »Praxis« % Y = 80 %<br />

entfaltet. K = 0 % K = 0 % K = 0 % K = 0 % K = 0 %<br />

Schrift Deutscher Arial Schulpreis bold und 2008 Arial Black<br />

Die Siegerschule beim »Deutschen Schulpreis 2008« ist die<br />

Wartburg-<strong>Grundschule</strong> in Münster. Seit langem und für eine Reformschule<br />

nur konsequent ist die Wartburgschule Mitglied im<br />

Grundschulverband. »<strong>Grundschule</strong> <strong>aktuell</strong>« hat mit den Kolleginnen<br />

des Schulleitungsteams gesprochen.<br />

In eigener Sache<br />

Mit dieser Ausgabe zeigt unsere Zeitschrift ein neues Gesicht.<br />

Farbige Fotos und Abbildungen gab es schon, nun wird das<br />

ganze Heft farbiger, lebendiger und – so die Erwartung – lesefreundlicher.<br />

Die Neugestaltung besorgten die Fachleute von<br />

»novuprint«, der »Agentur für Mediendesign, Werbung und Publikationen«,<br />

die auch bisher schon unsere Zeitschrift gestaltet<br />

hat. Bei ihnen bedanken wir uns für die vielen Ideen und die<br />

intensive Beratung. Wir hoffen, unseren Leserinnen und Lesern<br />

gefällt unser neues Erscheinungsbild.<br />

He.<br />

GS <strong>aktuell</strong> <strong>105</strong> • Februar 2009<br />

1


Tagebuch<br />

Chancenungleichheit in der <strong>Grundschule</strong>?<br />

Begründung: »In keinem vergleichbaren europäischen<br />

Land ist der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft<br />

und Bildungschancen so eng wie in Deutschland. Schon<br />

am Ende der Grundschulzeit sind die Bildungschancen<br />

weit gehend festgelegt – und zwar überwiegend in Abhängigkeit<br />

von der sozialen Herkunft der Schülerinnen<br />

und Schüler. Diese Erkenntnis ist für ein demokratisches<br />

Schulsystem dem Grunde nach unerträglich.«<br />

Ulrich Hecker<br />

Seit Veröffentlichung des PISA-2006-Ländervergleichs<br />

und von IGLU 2006 im Dezember werden wir wieder mit<br />

vielerlei »Datendeuteleien« (Georg Lind) überhäuft.<br />

Es ist nichts Neues, dass deutsche Grundschulkinder in<br />

den IGLU-Studien regelmäßig besser abschneiden als die<br />

Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe bei PISA.<br />

Vor zu großer Zufriedenheit angesichts der relativ guten<br />

Ergebnisse deutscher Grundschüler bei der »Internationalen<br />

Grundschul-Leseuntersuchung (IGLU)« warnt<br />

allerdings der Vorsitzende des Grundschulverbandes,<br />

Horst Bartnitzky: »Die Schulen sind nicht allmächtig. Die<br />

IGLU-Ergebnisse sind ein Beleg dafür, dass ein längeres<br />

gemeinsames Lernen bis zum Ende der Pflichtschulzeit<br />

sinnvoll und geboten ist.«<br />

Bei all der »Datendeutelei« der Bildungspolitiker ist<br />

bezeichnend: Die soziale Frage wurde bei der innerdeutschen<br />

Auswertung von IGLU 2006 gänzlich außen<br />

vor gelassen. Beim Blick in die Bundesländer fehlt das<br />

Kapitel zum Zusammenhang von sozialer Herkunft und<br />

Schullaufbahnempfehlung!<br />

»Die Kultusminister wollten es nicht«, äußerte Wilfried<br />

Bos, der Leiter der Studie. Oder sie wissen das Ergebnis<br />

längst und umnebeln es in geschwätziger Betriebsamkeit.<br />

Nach wie vor nämlich bleibt es bei dem Skandal: Kinder<br />

aus bildungsfernen Elternhäusern erhalten von ihren<br />

Lehrern und Eltern erst bei deutlich besseren Leistungen<br />

eine Gymnasialempfehlung als Kinder aus bildungsnahen<br />

Elternhäusern.<br />

Besonders brisant: Die sogenannte »Risikogruppe«.<br />

Rund 13 Prozent der Viertklässler können Texte nur<br />

mühsam verstehen. Bis zum Ende der Pflichtschulzeit<br />

wächst diese Gruppe auf über 20 Prozent an.<br />

Angesichts dieser Tatsachen legen nun zwei renommierte<br />

Erziehungswissenschaftler einen Sammelband<br />

mit dem provozierenden Titel »Chancenungleichheit in<br />

der <strong>Grundschule</strong>« vor.<br />

»Die Situation der <strong>Grundschule</strong> in Deutschland ist<br />

prekär«, so Jörg Ramseger und Matthea Wagener. Ihre<br />

Bereits ein erster Blick über die Beiträge zeigt: Noch nie<br />

wurde so viel zu Gunsten benachteiligter Schülerinnen und<br />

Schüler in der <strong>Grundschule</strong> unternommen wie in der Folge<br />

von PISA und IGLU. Allerdings: Schon in seinem einleitenden<br />

Beitrag gießt der Bildungsforscher Klaus Klemm<br />

Wasser in den Wein. Ramseger / Wagener: »Er konzediert<br />

zwar – durchaus zweideutig –, dass ein Teil dieser Ansätze<br />

über ein ›Potenzial der Minderung von Chancenungleichheit<br />

verfügt‹, stellt aber auch fest, dass diese Ansätze insgesamt<br />

wenig Anlass bieten, einen deutlichen Abbau der<br />

Chancenungleichheit im deutschen Schulwesen erwarten<br />

zu lassen« (S. 14).<br />

Chancenungleichheit ist ein Problem der <strong>Grundschule</strong> –<br />

für Kinder, Eltern und Lehrerinnen und Lehrer gleichermaßen.<br />

Aber dieses Problem schafft die herrschende Bildungspolitik<br />

mit ihrem zähen Festhalten am zergliederten<br />

Schulsystem, dessen Auswirkungen tief in die <strong>Grundschule</strong><br />

hineinreichen.<br />

Statt der Sammlung von und dem Herumdeuteln an immer<br />

neuen statistischen Daten sind endlich entschiedene<br />

bildungspolitische Konsequenzen gefordert: Mehr Investitionen<br />

in die Bildung von Kindern und Jugendlichen und,<br />

wie Marianne Demmer formuliert, eine »große Schulreform«.<br />

Ulrich Hecker,<br />

Grundschulrektor in Moers,<br />

Redakteur von<br />

»<strong>Grundschule</strong> <strong>aktuell</strong>«<br />

Ramseger, Jörg / Wagener,<br />

Matthea (Hg.): Chancenungleichheit<br />

in der <strong>Grundschule</strong>.<br />

Ursachen und Wege<br />

aus der Krise, 306 S. Br, 39,90 €.<br />

Wiesbaden: VS – Verlag für<br />

Sozialwissenschaften (2008)<br />

2 GS <strong>aktuell</strong> <strong>105</strong> • Februar 2009


Thema: Wie Kinder heute leben und lernen<br />

Friederike Heinzel<br />

Gute und schlechte Nachrichten<br />

über Kinder und Kindheit<br />

»Es wird uns aber übereinstimmend von allen Lehrern ein<br />

objektives Kriterium berichtet, nämlich, daß sich die Schulleistungen<br />

dauernd verschlechtern. Dabei sind die Anforderungen<br />

nicht oder kaum gewachsen. Viele Fachleute behaupten,<br />

daß die Begabung durchschnittlich geringer vorzufinden<br />

sei als früher. Über eines sind sich aber alle Jugendkenner<br />

einig; es hat sich eine Flatterhaftigkeit und ein mangelndes<br />

Konzentrationsvermögen breitgemacht, wie sie sich früher<br />

nur bei vereinzelten Kindern fand. Die Merkfähigkeit hat<br />

nachgelassen; gleichzeitig sind aber die Kinder leistungsunfähig,<br />

kommen todmüde von der Schule, nachdem sie schon von<br />

der 3. Schulstunde an nicht mehr recht aufnahmebereit gewesen<br />

waren. Diese allgemeine schnelle Ermüdbarkeit macht sie<br />

mißlaunig und verhindert es, daß sich viele Sonderinteressen<br />

ausprägen können, von einem schulischen Ehrgeiz ganz zu<br />

schweigen. Nicht einmal das geringste Pflichtbewußtsein ist<br />

vorhanden, das das Niveau erhalten könnte, wenn schon der<br />

Ehrgeiz des Höherstrebens fehlt. So sagen die Lehrer.<br />

Nicht mindere Klagen kommen von zu Hause. Es sind die<br />

gleichen, die dann in unserer kinderärztlichen Sprechstunde<br />

aufgeführt werden. Die Schulkinder sind auch daheim so<br />

leistungsschwach, daß eine körperliche Krankheit vermutet<br />

wird. Die Mutter muss sich neben ihre Söhne setzen, damit<br />

sie bei der Aufgabe bleiben. Jedes vorbeifahrende Auto, jede<br />

Fliege im Zimmer lenkt sie ab. Anstatt in einer Stunde fertig<br />

zu sein und dann draußen zu spielen, sitzen Mutter und<br />

Kind in den günstigsten Fällen, in den weniger günstigen Fällen<br />

das Kind allein, noch nach drei Stunden unzufrieden, unruhig<br />

am Tisch, die Aufgabe ist voller Fehler. Abends schlafen<br />

sie schlecht ein, nachts sind sie unruhig, morgens todmüde,<br />

zum Frühstück schmeckt es nicht, gehetzt kommen sie in die<br />

Schule, ermüdet nach Hause. Zu höflichen Formen, zu Tischmanieren,<br />

zur Rücksicht aufeinander sind die Kinder – ich<br />

reflektiere nur – überhaupt nicht zu erziehen. Widerspruch<br />

wird schnell laut, Kritik an Geschwistern und Eltern ist stets<br />

vorhanden, dabei sind sie selbst durch Kritik schnell verletzt.<br />

Sie glauben an nichts, nehmen nichts ernst, außer dem Geld,<br />

in dessen Handhabung sie eine erstaunliche Virtuosität entwickeln.<br />

Der Handel blüht in allen Schulen. Außer für technische<br />

Dinge zeigt man wenig Interesse, vor allem keine Ausdauer.«<br />

Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 3/1954, S. 162f<br />

So beschreibt Helmuth Müller,<br />

Chefarzt im Kinderkrankenhaus<br />

Bethel, vor über 30 Jahren die damalige<br />

Kindheit und Jugend. Die Kinder,<br />

die hier beschrieben wurden, sind<br />

heute ca. 60 bis 65 Jahre alt. Vergleichbare<br />

Aussagen gibt es bis heute.<br />

Ein wesentliches Problem in Veröffentlichungen<br />

besteht seit Jahrzehnten<br />

darin, dass meist Erwachsene aus bestimmten<br />

Berufsgruppen (Ärzte und<br />

Ärztinnen, Psychologen und Psychologinnen,<br />

Pädagogen und Pädagoginnen)<br />

über Kinder berichten und dann spezifische<br />

Problemgruppen vor Augen haben.<br />

Erwachsene tendieren außerdem<br />

dazu die eigene, oft als glücklich erlebte<br />

Kindheit zum Vergleich heranzuziehen,<br />

wenn sie auf <strong>aktuell</strong>e Kindheiten blicken<br />

(siehe auch Fölling-Albers in diesem<br />

Heft).<br />

Auch in den Medien sind meist<br />

schlechte Nachrichten über heutige<br />

Kinder und Kindheit zu hören, denn<br />

oft werden Schlagzeilen dort nach dem<br />

einfachen Schema »bad news are good<br />

news« formuliert.<br />

In letzter Zeit wurden nun vermehrt<br />

Studien durchgeführt, in denen Kinder<br />

eigene Sichtweisen zu ihren Lebensbedingungen<br />

äußern konnten. In diesem<br />

Zusammenhang wurde zum Beispiel<br />

das Wohlbefinden von Kindern untersucht<br />

(siehe Sabine Andresen in diesem<br />

Heft).<br />

Verschiedene Studien zeigen, dass heutige<br />

Kindheiten sehr vielfältig und unterschiedlich<br />

sind und es wenig Sinn<br />

macht über »die Kinder von heute« zu<br />

sprechen. Vielmehr ist eine differenzierte<br />

(An-)Sicht erforderlich. Verein-<br />

fachungen und »falsche Panik« sollten<br />

in professionellen Diskursen vermieden<br />

werden. Problembereiche hingegen<br />

müssen klar benannt und als Herausforderungen<br />

in Schule und Gesellschaft<br />

begriffen werden.<br />

Das größte Problem heutiger Kindheit<br />

besteht in der sozialen Ungleichheit<br />

und damit verbunden in der Bildungsbenachteiligung<br />

bestimmter Kindergruppen<br />

beim formalen und informellen<br />

Lernen. Auch die Verbesserung der<br />

Mitbestimmungsmöglichkeiten von<br />

Kindern in Schule und Gesellschaft<br />

stellt sich heute als Herausforderung,<br />

Friederike Heinzel,<br />

Jahrgang 1962, seit 2003 Professorin für Erziehungswissenschaft<br />

mit dem Schwerpunkt Grundschul pädagogik an der<br />

Universität Kassel. Beim Grundschulverband Fachreferentin<br />

für »Grundschulforschung«.<br />

Friederike Heinzel hat den Themenschwerpunkt »Wie Kinder<br />

heute leben und lernen« inhaltlich konzipiert und moderiert.<br />

GS <strong>aktuell</strong> <strong>105</strong> • Februar 2009<br />

3


Thema: Wie Kinder heute leben und lernen<br />

denn hier stehen Machtverhältnisse<br />

zur Diskussion. Texte und Gespräche<br />

mit vielen Kindern zeigen, dass sie sich<br />

durchaus Gedanken über generationale<br />

und gesellschaftliche Strukturen machen<br />

und auch Mitgestaltungsmöglichkeiten<br />

einfordern. Schon in der <strong>Grundschule</strong><br />

müsste noch deutlicher werden,<br />

dass hier Angehörige verschiedener Generationen<br />

aufeinander treffen, die ihre<br />

Lebenserfahrungen austauschen und<br />

ihre Interessen aushandeln müssen.<br />

Gute Nachrichten aus<br />

dem Jahr 2008<br />

● Die meisten Kinder in Deutschland<br />

fühlen sich wohl.<br />

● Die meisten Kinder in Deutschland<br />

bewerten ihre eigene Kindheit als<br />

glücklich.<br />

● Die meisten Kinder in Deutschland<br />

sind mit ihren Eltern sehr zufrieden<br />

und der Ansicht, dass diese ihre<br />

Meinungen wertschätzen.<br />

● Die meisten Kinder in Deutschland<br />

beschäftigen sich in ihrer Freizeit<br />

vielfältig (auch mit Medien).<br />

● Die meisten Kinder an <strong>Grundschule</strong>n<br />

in Deutschland sind sehr<br />

wiss begierig und gehen gerne zur<br />

Schule.<br />

Herausfordernde Nachrichten<br />

aus dem Jahr 2008<br />

● Darstellungen über Kinder in<br />

Deutschland sind viel zu oft negativ<br />

konnotiert.<br />

● Kinder, die sich unwohl fühlen,<br />

stammen aus Elternhäusern mit<br />

niedrigem sozialem Einkommen.<br />

● Einseitiges und bildungsfernes<br />

Verhalten von Kindern in der Freizeit<br />

ist eine soziale Frage.<br />

● Kinder aus sozial schwachen<br />

Familien werden in Schule und<br />

Gesellschaft benachteiligt.<br />

● Die Wissbegier von Kindern nimmt<br />

im Laufe der Schulzeit ab.<br />

● Zu wenige Kinder meinen, dass ihre<br />

Meinungen von Lehrern und Lehrerinnen<br />

wertgeschätzt werden.<br />

Hans Brügelmann<br />

Das Kaleidoskop des Kinderalltags<br />

»Das Kind hinter PISA« heißt ein<br />

Forschungsbericht aus dem »Siegener<br />

Zentrum für Kindheits-, Jugendund<br />

Biografieforschung« und dem<br />

Projekt »Lernbiografien im schulischen<br />

und außerschulischen Kontext«<br />

(LISA&KO) an der dortigen Universität,<br />

aus dem wir in leicht redigierter<br />

Form Teile zitieren, in denen Hans<br />

Brügelmann, Professor für Grundschulpädagogik<br />

und -didaktik in Siegen,<br />

die wichtigsten Befunde zusammengefasst<br />

hat.<br />

1) Heutige Kindheit ist sehr unterschiedlich.<br />

Es gibt keine ›Normalkindheit‹ und<br />

es gibt auch keine durchgängigen Muster.<br />

Wahrscheinlich hat es sie nie gegeben.<br />

Wahrscheinlich haben wir immer,<br />

vor allem im Rückblick, stark stereotypisiert,<br />

wenn wir von ›Straßenkindern‹,<br />

von ›Kriegskindern‹ oder ›Konsumkindern‹<br />

usw. gesprochen haben.<br />

2) Das bedeutet: Jedes Kind lebt ein eigenes<br />

Leben und die ›Diversifikation‹<br />

von Kindheiten (Fölling-Albers), also<br />

die breite Palette der individuell sehr<br />

unterschiedlichen Lebensläufe ist das,<br />

was heutige Kindheit am besten kennzeichnet.<br />

3) Auch wenn heutige Kindheit recht<br />

unterschiedlich ist: Die Lebensthemen<br />

der Kinder sind sich sehr ähnlich – und<br />

sie gleichen auch denen früherer Generationen.<br />

Wichtig sind den Kindern:<br />

● soziale Zugehörigkeit<br />

(positive Beziehungen in Familie, mit<br />

Freunden)<br />

● Anerkennung des eigenen Könnens<br />

(Familie, Schule, Vereine)<br />

● Freiraum für eigene Entscheidungen<br />

(Freizeit, Kleidung, Geld).<br />

4) Zwischen Mädchen und Jungen gibt<br />

es in den Haupttrends (Interessen, Aktivitäten,<br />

Kompetenzen) deutliche Unterschiede,<br />

aber im Einzelfall auch wieder<br />

vielfältige Überlappungen. Obwohl<br />

beide Gruppen eher geschlechtsgruppeninterne<br />

Kontakte pflegen, finden<br />

sich immer wieder auch Beziehungen<br />

zwischen Mädchen und Jungen – teilweise<br />

durchaus sehr enger Art.<br />

5) Heutige Kinder sind auch Medienkinder.<br />

Aber Art und Umfang des Mediengebrauchs<br />

streuen breit – zwischen<br />

den Kindern, meist aber auch beim einzelnen<br />

Kind in unterschiedlichen Phasen.<br />

Vor allem: Bücher und Lesen sind<br />

keineswegs aus dem Leben der Kinder<br />

verschwunden, neue Medien dominieren<br />

den Alltag in der Regel nicht.<br />

6) Die Kinder unserer Studien sind<br />

nicht sozial isoliert. Die meisten haben<br />

viele und vielfältig differenzierte Kontakte<br />

zu Gleichaltrigen.<br />

7) Unsere Kinder leben nicht verhäuslicht:<br />

Sie spielen draußen, viele sind<br />

sportlich engagiert und eine ganze Reihe<br />

hat eine enge Beziehung zur Natur.<br />

8) Handarbeit wird nicht durch die<br />

neuen Medien verdrängt: Viele Kinder<br />

basteln, bauen, konstruieren, malen, gestalten<br />

– oft mit Eltern bzw. Großeltern<br />

und als Helfer bei Alltagsaktivitäten.<br />

9) Die wenigsten Familien bestehen nur<br />

aus Mutter, Vater, Kind. Auch wenn fast<br />

jede Kleinfamilie eine eigene Wohnung<br />

oder gar ein eigenes Haus hat – es bestehen<br />

meist enge und häufige Kontakte<br />

zu Verwandten, vor allem zu den Großeltern,<br />

die in einer anderen Wohnung<br />

in demselben Haus wohnen, im Nachbarhaus,<br />

im Viertel oder in demselben<br />

Ort (›multilokale Großfamilie‹). Eine<br />

Großmutter und / oder ein Großvater<br />

gehören meist zu den wichtigsten Be-<br />

4 GS <strong>aktuell</strong> <strong>105</strong> • Februar 2009


Thema: Wie Kinder heute leben und lernen<br />

zugspersonen – nicht nur als Betreuer,<br />

sondern auch als Vorbild und als<br />

emotionale Stütze. Besuchsbeziehungen<br />

zu verwandten bzw. befreundeten<br />

Familien können ebenfalls die soziale<br />

Entwicklung der Kinder prägen. Nur<br />

wenige Kinder wachsen mit nur einem<br />

Elternteil auf.<br />

10) (Haus-)Tiere spielen quantitativ in<br />

unseren Stichproben und qualitativ in<br />

ihrer Bedeutung für viele einzelne Kinder<br />

eine herausragende Rolle. Oftmals<br />

zählen sie für die Kinder ebenfalls zur<br />

Familie.<br />

11) Zwar nehmen viele Kinder institutionalisierte<br />

Freizeit- oder Förderangebote<br />

wahr. Von Verplanung kann man in<br />

der Regel aber erst auf der Sekundarstufe<br />

sprechen. Dies gilt insbesondere beim<br />

Besuch von Ganztagsschulen, hängt<br />

aber auch mit kirchlichen Verpflichtungen<br />

und wachsender Intensität von Musik-<br />

bzw. Sportübungen zusammen.<br />

12) Die meisten Kinder können spielen<br />

und sie spielen gerne. Viele von ihnen<br />

spielen Gesellschaftsspiele, Rollenspiele,<br />

Spiele am PC oder auf Konsolen – und<br />

meist nicht allein, sondern mit Geschwistern,<br />

mit Eltern, mit FreundInnen.<br />

13) Viele Kinder haben eine Beziehung<br />

zur Musik. Ihre Vorlieben streuen breit,<br />

von Pop bis Klassik. Oft sind sie auch<br />

selbst aktiv – mit eigenen Instrumenten,<br />

im Musikunterricht, Chor oder Orchester.<br />

14) Wenige Kinder haben feste Verpflichtungen<br />

in der Familie. Sie sind zu<br />

Hause meist frei (z. B. von der Beaufsichtigung<br />

kleinerer Geschwister oder<br />

Beiträgen zu den alltäglichen Haushaltspflichten),<br />

dafür oft in Vereinen<br />

oder anderen regelmäßigen Aktivitäten<br />

außer Haus engagiert.<br />

Fazit: Viele in den Medien und im Alltagsgespräch<br />

gängige Urteile über ›Kinder<br />

heute‹ sind in ihrer Verallgemeinerung<br />

und Einseitigkeit Zerrbilder, die<br />

für die meisten Kinder so nicht zutreffen.<br />

Facetten heutiger Kindheit, die für<br />

uns Erwachsene ungewohnt sind, wie<br />

die häufige Mediennutzung, dominieren<br />

unsere Wahrnehmung, so dass<br />

andere wichtige Aspekte ausgeblendet<br />

oder in der Bewertung untergewichtet<br />

werden. Beobachtungen an einzelnen<br />

Kindern oder Kindergruppen werden<br />

oft unzulässig verallgemeinert, so dass<br />

die Vielfalt heutiger Kindheit aus dem<br />

Blick gerät.<br />

Erfahrungen in der Schule<br />

Auch hierzu einige Thesen als kurze<br />

Schlaglichter:<br />

1) Verhaltensweisen und Leistungen<br />

einzelner Kinder streuen oft stark: zwischen<br />

Fächern, innerhalb von Fächern<br />

in verschiedenen Bereichen, in demselben<br />

Fach über die Zeit hinweg. Schulleistung<br />

ist keine Eigenschaft, sondern<br />

abhängig von äußeren Bedingungen.<br />

Besonders augenfällig, manchmal dramatisch<br />

ist dies beim Wechsel der Lehrperson<br />

oder der Schule.<br />

2) Schulische und außerschulische<br />

Leistungen stehen oft unverbunden nebeneinander.<br />

Viele Kinder entwickeln<br />

außerschulisch Kompetenzen (›Domänen‹),<br />

die weit über schulische Anforderungen<br />

hinausgehen, im Unterricht<br />

aber keine Rolle spielen.<br />

3) Persönliche Interessen und schulische<br />

Leistungen stehen meist in einem<br />

engen Wechselverhältnis: Kinder mögen<br />

Fächer, deren Inhalte / Aufgaben in<br />

ihren Interessensbereich gehören – aber<br />

nur, wenn der Unterricht auch Raum<br />

gibt, die eigenen Interessen, Erfahrungen,<br />

Fähigkeiten einzubringen.<br />

4) Neben den Sachinteressen spielt die<br />

Anerkennung durch Personen (vor allem<br />

durch die Lehrperson) eine große<br />

Rolle – auch negativ als Sorge, sich zu<br />

blamieren (vor allem vor den MitschülerInnen).<br />

5) Für viele Kinder ist darüber hinaus<br />

Autonomie, d. h. die Möglichkeit, Themen<br />

oder Aufgaben selbst bestimmen<br />

zu können, wichtig. Sie erleben Fremdbestimmtheit<br />

des Unterrichts als Einschränkung<br />

ihrer Handlungsfreiheit<br />

und Leistungsmöglichkeiten. Umgekehrt<br />

blühen selbst ›Schulversager‹ oft<br />

auf, wenn sie Freiräume erhalten, wenn<br />

ihre Kompetenzen anerkannt werden<br />

und sie sich sozial eingebunden fühlen.<br />

Forscher schätzen, dass wir rund drei<br />

Viertel unseres Wissens und Könnens<br />

außerhalb von Schule und anderen formellen<br />

Bildungseinrichtungen lernen.<br />

Unsere Untersuchungen zeigen, dass<br />

Erfahrungen im Alltag und Lernen im<br />

Unterricht in einem komplexen Wechselverhältnis<br />

stehen. Dieses verstehen<br />

wir noch wenig. Ohne eine Brücke zu<br />

schlagen zu den außerschulischen Interessen<br />

und Kompetenzen der Kinder<br />

bzw. Jugendlichen wird Schule nicht<br />

erfolgreich sein.<br />

Prof. Dr. Hans Brügelmann<br />

Universität Siegen, oase@paedagogik.uni-siegen.de<br />

Forschungsprojekte u. a.: ›LISA & KO‹, ›SCHLAU‹ (vgl. auch<br />

den Beitrag von Knorre / Wagener in diesem Heft S. 18 – 20).<br />

Der gesamte Bericht »Das Kind hinter PISA« kann kosten ­<br />

los im Internet heruntergeladen werden von der Seite<br />

www.agprim.uni-siegen.de/inprint.htm<br />

GS <strong>aktuell</strong> <strong>105</strong> • Februar 2009<br />

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Thema: Wie Kinder heute leben und lernen<br />

Sabine Andresen<br />

Wohlbefinden aus Sicht der Kinder<br />

Ergebnisse der World Vision Kinderstudie<br />

In der deutschen, aber insbesondere in<br />

der internationalen Forschung rückt<br />

derzeit die Frage nach dem Wohlbefinden<br />

von Kindern in den Mittelpunkt.<br />

Wie kann man Wohlbefinden<br />

definieren? Wie lässt sich Wohlbefinden<br />

messen? Welchen Wert haben<br />

Erkenntnisse darüber und welche<br />

Schlussfolgerungen lassen sich für politisches<br />

und pädagogisches Handeln<br />

ziehen? Wie verhält es sich mit dem<br />

Wohlbefinden der Kinder in Elternhaus<br />

und Schule? Das sind Fragen, die<br />

diese Forschung begleiten.<br />

Traditionell ist die Untersuchung<br />

des Wohlbefindens von Kindern<br />

und Jugendlichen auf die Lebens-<br />

und Entfaltungsmöglichkeiten in<br />

Entwicklungs- oder Schwellenländern<br />

fokussiert. Das hat seinen Grund zum<br />

einen darin, dass Kinder und Jugendliche<br />

unter 18 Jahren in diesen Ländern<br />

einen großen Bevölkerungsanteil bilden,<br />

und zum anderen, dass ein Leben<br />

im Armut und extremer Armut mit<br />

weniger als einem Dollar pro Tag insbesondere<br />

Menschen im Kindesalter<br />

trifft.<br />

Doch spätestens mit der UNICEF<br />

Studie »Child poverty in perspective:<br />

An overview of child well-being in rich<br />

countries« (2007) hat sich ein Verständnis<br />

dafür durchgesetzt, diese Thematik<br />

generell in der Kindheitsforschung aufmerksam<br />

zu berücksichtigen und zu erforschen.<br />

Das heißt, auch das Wohlbefinden<br />

von Kindern in reichen Industrie- und<br />

Wohlfahrtsländern wie Deutschland<br />

ist zu erheben, zu analysieren und kritisch<br />

zu diskutieren. Dabei geht es vor<br />

allem um die Lebensbedingungen von<br />

Kindern und ihre Möglichkeiten, entscheiden<br />

zu können, was sie sein und<br />

wie sie handeln wollen. Ins Blickfeld<br />

rücken insbesondere Machtverhältnisse<br />

zwischen Kindern und Erwachsenen<br />

in der Familie, in der Schule, in der<br />

Kommune, Möglichkeiten der Kinder<br />

zu Autonomie, Teilhabe und Mitbestimmung,<br />

ihr Zugang zu Ressourcen<br />

unterschiedlichster Art wie Bildung,<br />

Vergnügen, materielle Güter, aber auch<br />

Respekt, Liebe und Fürsorge. Eine große<br />

Herausforderung der Forschung<br />

besteht dabei darin, an den Erfahrungen<br />

der Kinder anzuknüpfen, diese als<br />

Experten ernst zu nehmen, in die Erhebungen<br />

einzubeziehen und mit angemessenen<br />

Forschungsmethoden zu<br />

arbeiten.<br />

In der World Vision Kinderstudie<br />

»Kinder in Deutschland 2007« haben<br />

wir ebenfalls das Wohlbefinden von<br />

Kindern zwischen acht und elf Jahren,<br />

also meist Kinder im Grundschulalter,<br />

in den Blick genommen. Bei unserer<br />

Definition konnten wir uns in<br />

einem ersten Zugang auch an der oben<br />

erwähnten UNICEF-Studie orientieren.<br />

Das Wohlbefinden wurde für den<br />

UNICEF-Bericht anhand der folgenden<br />

Kategorien erhoben und ausgewertet:<br />

1. Die materielle Situation von Kindern,<br />

bemessen an der Häufigkeit relativer<br />

Einkommensarmut der Familie,<br />

Arbeitslosigkeit der Eltern und<br />

finanziellen Mangelsituationen.<br />

2. Gesundheit, bemessen an Säuglingssterblichkeit<br />

und Geburtsgewicht,<br />

am Anteil geimpfter Kinder an der<br />

gesamten Kinderbevölkerung und<br />

am Anteil von Unfällen und Verletzungen.<br />

3. Bildung, ausgedrückt durch schulisches<br />

Leistungsvermögen im Alter<br />

von 15 Jahren, Quote des Besuchs<br />

weiterführender Schulen und des<br />

Übergangs in die Arbeitswelt.<br />

4. Beziehungen zu Eltern und Gleichaltrigen,<br />

bemessen am Anteil von<br />

Zwei-Eltern-Familien, Häufigkeit gemeinsamer<br />

Gestaltung des Familienalltags<br />

und Qualität der Beziehungen<br />

zu Gleichaltrigen.<br />

5. Lebensweisen und Risiken, bemessen<br />

am Ausmaß von gesunder Lebensweise,<br />

risikoreichem Verhalten<br />

und Häufigkeit der Erfahrung mit<br />

Gewalt.<br />

6. Der eigenen Einschätzung der Kinder<br />

zu ihrer Gesundheit, ihrer subjektiven<br />

Bewertung der Schule und<br />

ihrer allgemeinen Zufriedenheit.<br />

Zu den Ergebnissen der<br />

World Vision Kinderstudie<br />

Wie sind wir in der World Vision Kinderstudie<br />

vorgegangen? Methodisch hat<br />

sich die vom Kinderhilfswerk »World<br />

Vision« in Auftrag gegebene Studie<br />

eng an die Shell-Jugendstudien angelehnt.<br />

Das heißt, es wurden knapp 1600<br />

Kinder im Alter von acht bis elf Jahren<br />

mit einem Fragebogen zu ihren Lebensund<br />

Erfahrungsbereichen befragt. Auf<br />

dieser Basis konnten wir zu repräsentativen<br />

Erkenntnissen über Kinderleben<br />

in Deutschland, Erfahrungen, Möglichkeiten<br />

und Grenzen der Kinder in<br />

Elternhaus, Schule, mit Freunden und<br />

in der Freizeit, aber auch ihre Vorstellungen<br />

von Politik, ihre Wünsche und<br />

Ängste gelangen. Darüber hinaus wurden<br />

mit zwölf Kindern ab sechs Jahren<br />

ausführliche Interviews geführt, die<br />

in der Studie in Form von Porträts als<br />

»Kinderpersönlichkeiten« vorgestellt<br />

werden.<br />

Das Wohlbefinden wurde in der<br />

World Vision Kinderstudie über drei<br />

Dimensionen definiert:<br />

1. Die Freiheiten, die Kindern im Alltag<br />

von Eltern gewährt werden (Erziehungsstil).<br />

2. Ihr Wohlbefinden in der Schule.<br />

3. Die Zufriedenheit mit der Anzahl<br />

der Freundinnen und Freunde und<br />

der Qualität der Freundschaften.<br />

Erziehungsstil der Eltern, das Klima<br />

in der Schule und die Bedeutung der<br />

Freunde zielen auf die Beziehungsqualitäten,<br />

die Kinder mit Erwachsenen und<br />

Gleichaltrigen erleben. Die Ergebnisse<br />

des allgemeinen Wohlbefindens, in<br />

dem alle drei Dimensionen berücksichtigt<br />

werden, sind äußerst eindrucksvoll,<br />

denn 59 % der Kinder fühlen sich sehr<br />

wohl, 29 % fühlen sich wohl und 12 %<br />

6 GS <strong>aktuell</strong> <strong>105</strong> • Februar 2009


Thema: Wie Kinder heute leben und lernen<br />

der Acht- bis Elfjährigen fühlen sich<br />

unwohl.<br />

Dabei zeigt sich ein Geschlechterunterschied,<br />

den es sensibel und differenziert<br />

zu berücksichtigen gilt: Denn<br />

64 % der Mädchen fühlen sich sehr<br />

wohl, aber von den Jungen teilen nur<br />

53 % dieses Empfinden, und Jungen bilden<br />

mit 14 % auch die größere Gruppe<br />

gegenüber Mädchen mit 11 %, die sich<br />

unwohl fühlen.<br />

Ein wichtiger Faktor, der den Mangel<br />

an Wohlbefinden bei Kindern mit<br />

bewirkt, ist in Deutschland die soziale<br />

Herkunft. Kinder, die sich unwohl fühlen,<br />

stammen häufig aus Elternhäusern<br />

mit einem niedrigen sozioökonomischen<br />

Status, dieser wurde in der World<br />

Vision Studie maßgeblich über den<br />

Bildungsabschluss der Eltern und das<br />

zur Verfügung stehende Einkommen<br />

(Elternbefragung) ermittelt. Demnach<br />

fühlen sich 31 % der Kinder aus der<br />

Unterschicht und 15 % aus der unteren<br />

Mittelschicht unwohl. Vielfach haben<br />

diese Kinder gemeinsam mit ihren Eltern<br />

die Erfahrung von Armut und<br />

Arbeitslosigkeit gemacht, was auch die<br />

Sorgen und Ängste der Kinder prägt.<br />

Die Mehrheit der Kinder macht jedoch<br />

die Erfahrung, dass sie von ihren Familien<br />

eine große Unterstützung erhalten,<br />

und 85 % sind mit den Freiheiten, die<br />

ihnen ihre Eltern gewähren, sehr zufrieden<br />

oder zufrieden. Es zeigt sich<br />

demnach, welches Potenzial Kinder in<br />

ihren Familien vorfinden können und<br />

wie viel Eltern aus Sicht ihrer Kinder<br />

leisten, aber ebenso wird deutlich, wie<br />

problematisch sich das Aufwachsen gestaltet,<br />

wenn sie in der Familie zu wenig<br />

Unterstützung erfahren.<br />

Diesen Befund ergänzend, wird anhand<br />

unserer Daten sichtbar, dass Kinder,<br />

die sich in ihrer Familie weniger<br />

wohl fühlen, auf besondere Unterstützung<br />

in der Schule und in außerschulischen<br />

Einrichtungen angewiesen sind.<br />

Hier sind in den Schulen Lehrerinnen<br />

und Lehrer ebenso wie die Schulleitung<br />

vor die Herausforderung gestellt, welchen<br />

Beitrag sie für alle Kinder und ins-<br />

Angesichts der Breite und Vielseitigkeit<br />

der Freizeitaktivitäten stellt sich die<br />

Frage, wie man darauf angemessen<br />

reagieren kann.<br />

GS <strong>aktuell</strong> <strong>105</strong> • Februar 2009<br />

7


Thema: Wie Kinder heute leben und lernen<br />

besondere für in ihrem Wohlbefinden<br />

massiv beeinträchtigte Kinder leisten<br />

können.<br />

Ein Anknüpfungspunkt, den wir<br />

neben anderen in der Studie thematisieren,<br />

ist die stärkere Beteiligung von<br />

Kindern an schulischen Entscheidungsprozessen.<br />

Die Erfahrung, dass Wert<br />

auf ihre Meinung gelegt werde, verbinden<br />

Kinder wiederum mehrheitlich mit<br />

ihrer Mutter und ihrem Vater. Lediglich<br />

30 % der Mädchen und 23 % der Jungen<br />

haben den Eindruck, dass ihre Klassenlehrerin<br />

bzw. ihr Klassenlehrer ihre Ansichten<br />

wertschätzen würde.<br />

In außerschulischen Einrichtungen,<br />

z. B. den Sportvereinen, sind die Verantwortlichen<br />

mit dem Befund konfrontiert,<br />

dass der Mangel an Wohlbefinden<br />

bei Kindern dann verstärkt wird,<br />

wenn sie keinen Gruppen oder Vereinen<br />

angehören. Die Mitgliedschaft in einem<br />

Sportverein ist jedoch mittlerweile<br />

auch zu einer sozialen Frage geworden.<br />

Denn in unserer Studie wird deutlich,<br />

dass insbesondere Kinder aus der oberen<br />

Mittelschicht und Oberschicht vom<br />

Sportverein zu profitieren scheinen,<br />

wohingegen Kinder aus den unteren<br />

Herkunftsschichten und hier besonders<br />

Mädchen keinen Zugang zu sportlichen<br />

Aktivitäten in Vereinen haben.<br />

Was Kinder in ihrer Freizeit machen<br />

und welche non-formellen Bildungsangebote<br />

sie realisieren können, prägt<br />

ohne Zweifel auch ihre Schulkarrieren.<br />

In der Studie wurden drei Freizeittypen<br />

diagnostiziert: die normalen Freizeitler,<br />

die vielseitigen Kinder und die Medienkonsumenten.<br />

Die normalen Freizeitler machen<br />

etwa 50 % aus und bei diesem Typus<br />

sind Jungen und Mädchen etwa gleich<br />

vertreten. Sie beschäftigen sich vielfältig<br />

in ihrer außerschulischen Zeit, sie<br />

treiben Sport, machen durchaus auch<br />

Musik, treffen sich gern mit Freunden,<br />

schauen aber auch regelmäßig fern.<br />

Die vielseitigen Kinder stammen<br />

vornehmlich aus den mittleren und<br />

oberen Herkunftsschichten und sie sind<br />

meist weiblichen Geschlechts. Diese<br />

Kinder erwerben in ihrer Freizeit durch<br />

Sport, Musik, intensive Lektüre, kreative<br />

Tätigkeiten, durch Freunde und<br />

gemeinsame Spiele Bildungsressourcen,<br />

die sie ausgezeichnet im schulischen<br />

Kontext wieder einsetzen können. Hier<br />

Sabine Andresen,<br />

Jg. 1966, Professorin für Allgemeine<br />

Erziehungswissenschaft an der Universität<br />

Bielefeld.<br />

Aktuelle Forschungsprojekte u. a.:<br />

Gemeinsam mit Klaus Hurrelmann<br />

wissenschaftliche Leitung der World<br />

Vision Kinderstudie; Familien als<br />

Akteure in der Ganztagsgrundschule,<br />

gefördert vom BMBF; Kommunale<br />

Familienzentren, gefördert von der<br />

Stadt Bielefeld.<br />

wirken schulische Anforderungen und<br />

non-formelle Bildungsangebote, die<br />

Kinder gerne in ihrer Freizeit nutzen,<br />

wenn ihnen der Zugang dazu eröffnet<br />

wird, hervorragend zusammen.<br />

Der dritte Typus, die Medienkonsumenten,<br />

ist durch Kinder aus den unteren<br />

Herkunftsschichten und durch<br />

Jungen geprägt. Die Kinder dieses Typs<br />

treffen sich auch gerne mit Freunden,<br />

sie haben Interesse an Sport und Spielzeug,<br />

aber vor allem verbringen sie ihre<br />

Zeit vor dem Fernseher. Diese Aktivitäten<br />

haben keinen vergleichbaren Input<br />

für schulisches Lernen.<br />

Angesichts solcher Ergebnisse zur Breite<br />

und Vielseitigkeit der Freizeitaktivitäten<br />

und ihrer Bedeutung für schulisches<br />

Lernen stellt sich aus unserer Sicht<br />

die Frage, wie man auf diese Ungleichheit<br />

pädagogisch angemessen reagieren<br />

kann.<br />

Die Ganztagsschule auch schon in der<br />

Grundschulzeit wäre eine Möglichkeit,<br />

Kindern im Lebensraum Schule nonformelle<br />

Bildungsangebote zu machen.<br />

In offenen Ganztagsschulformen stoßen<br />

Lehrerinnen und Lehrer jedoch schnell<br />

an ihre Grenzen, weil sie nur begrenzt<br />

zu einer neuen Rhythmisierung des<br />

Unterrichts kommen können, solange<br />

Eltern entscheiden, ob ihre Kinder am<br />

Ganztag teilnehmen oder nicht.<br />

Darüber hinaus stellt sich aber auch<br />

die Frage, wie man auf Kompetenzen<br />

der »Medienkonsumenten« im Unterricht<br />

zurückgreifen kann bzw. welche<br />

Formen der Förderung noch nicht ausgeschöpft<br />

sind.<br />

Abschließend sei auf einen weiteren Befund<br />

verwiesen, der sich auch in anderen<br />

Studien zeigt: Eine kontinuierliche<br />

und häufige Teilnahme der Kinder in<br />

den verschiedenen Betreuungs- und<br />

Bildungssettings, die in Kommunen<br />

und Bundesländern möglich sind, trägt<br />

zu ihrem Wohlbefinden bei. Wenn es<br />

gelingt, das Angebot quantitativ und<br />

qualitativ auf hohem Niveau auszubauen<br />

und die beteiligten Berufsgruppen<br />

ohne Standesdünkel im Interesse des<br />

einzelnen Kindes miteinander arbeiten,<br />

also Lehrerinnen und Lehrer mit<br />

Sozialarbeitern oder Erzieherinnen in<br />

Ganztagsgrundschulen, wäre für alle<br />

Kinder und Eltern viel erreicht.<br />

Literatur<br />

UNICEF (2007): Child poverty in perspective:<br />

An overview of child well-being in rich countries.<br />

Innocenti Report Card No.7. UNICEF<br />

Innocenti Research Centre, Florence.<br />

World Vision Deutschland e. V. (Hrsg.):<br />

Kinder in Deutschland 2007. 1. World Vision<br />

Kinderstudie. Frankfurt/M.<br />

8 GS <strong>aktuell</strong> <strong>105</strong> • Februar 2009


Thema: Wie Kinder heute leben und lernen<br />

Maria Fölling-Albers<br />

Kinderleben heute –<br />

aus der Perspektive von Erwachsenen und Kindern<br />

Darstellungen über das Aufwachsen<br />

heutiger Kinder sind häufig negativ<br />

konnotiert – insbesondere dann,<br />

wenn sie von Laien für ein breiteres<br />

Publikum geschrieben wurden. Als<br />

implizite Ratgeberliteratur können sie<br />

oft hohe Auflagen erzielen – besonders<br />

dann, wenn sie von Medienstars oder<br />

bekannten Journalist(inn)en geschrieben<br />

worden sind (z. B. Gaschke 2001;<br />

Gerster & Nürnberger 2002; Winterhoff<br />

2008). Auch die umfangreiche<br />

explizite Ratgeberliteratur thematisiert<br />

tatsächliche oder vermeintliche<br />

Einschränkungen und Gefährdungen<br />

heutiger Kindheit. Es ist dabei aber oft<br />

nicht klar, ob es sich um die Verstärkung<br />

eines allgemeinen Unbehagens<br />

über die Erziehungssituation in unserer<br />

Gesellschaft handelt oder um wissenschaftlich<br />

belegbare Sachverhalte<br />

und Probleme.<br />

Aber auch bei Pädagogik-Studentinnen<br />

und -Studenten lassen<br />

sich oft Stereotype zu den<br />

Lebensbedingungen heutiger Kinder<br />

finden, die durch Übernahme von Klischees<br />

(auch hergestellt oder transportiert<br />

durch Massenmedien) entstanden<br />

sind. Um solchen einseitigen oder gar<br />

falschen Einschätzungen entgegenzuwirken,<br />

erhalten die Studierenden in<br />

meinen Seminaren zur »Kindheit heute«<br />

seit einigen Jahren den Auftrag, ihre<br />

Eltern und Großeltern danach zu befragen,<br />

wie sie die Lebensbedingungen<br />

heutiger Kinder im Vergleich zu ihrer<br />

eigenen Kindheit wahrnehmen und<br />

einschätzen. Darüber hinaus sollen sie<br />

jeweils ein Grundschulkind zu dessen<br />

Kindheit befragen und sich auch zu<br />

ihrer eigenen Kindheit äußern. So entsteht<br />

ein Vier-Generationen-Vergleich,<br />

der zwar weitgehend subjektiv ist, aber<br />

diese subjektiven Konstruktionen von<br />

Kindheit sollen ja in den Seminaren<br />

diskutiert werden.<br />

Studierende und ihre Eltern:<br />

Situation heutig er Kinder<br />

ist problematisch<br />

Prof. Dr. Maria Fölling-Albers,<br />

Lehrstuhlinhaberin für Grundschulpädagogik<br />

und -didaktik an der<br />

Universität Regensburg.<br />

Aktuelle Forschungsschwerpunkte:<br />

Kindheitsforschung,<br />

Lehr- / Lernforschung<br />

Die Ergebnisse sind fast in allen Seminaren<br />

mehr oder weniger gleich: Die<br />

Einschätzungen der Studierenden zur<br />

Kindheit heute stimmen weitgehend<br />

mit denen ihrer Eltern (zwischen 45 bis<br />

60 Jahre alt) überein. Beide Gruppen<br />

nehmen die Situation heutiger Kinder<br />

fast ausschließlich als problematisch<br />

wahr: Es gebe zu viel Konsum, zu viel<br />

Medieneinfluss, zu viel Stress (Schulund<br />

Freizeitstress), und zu viele Kinder<br />

wüchsen in unvollständigen Familien<br />

auf. Ihre eigenen Erfahrungen hingegen<br />

erinnern sowohl die Studentinnen<br />

und Studenten als auch ihre Eltern sehr<br />

positiv (»viel draußen gespielt«, »Natur<br />

kennengelernt, »Baumhäuser gebaut«,<br />

»viel gelesen«, insgesamt »glückliche<br />

Kindheit«). Nur wenige Einzelfälle weichen<br />

von dieser Einschätzung ab, z. B.<br />

wenn in der Kindheit die Trennung der<br />

Eltern verarbeitet werden musste, ein<br />

Umzug die vertrauten Freundschaftsbindungen<br />

zerstörte. Die Äußerungen<br />

der Großeltern (meist zwischen 70 bis<br />

85 Jahre) über die Kindheit heute hingegen<br />

sind in der Regel deutlich vielfältiger.<br />

Ein Teil wertet die Bedingungen<br />

des Aufwachsens heutiger Kinder ähnlich<br />

kritisch wie die Eltern- und Studentengeneration;<br />

ein erheblicher anderer<br />

Teil hingegen betont, dass die Kinder<br />

heute viel mehr Freiheiten hätten, mehr<br />

Bildungschancen, mehr Entwicklungsmöglichkeiten.<br />

Kinder sehen ihre Kindheit<br />

in der Regel sehr positiv<br />

Die Ergebnisse der Befragungen der<br />

Kinder über ihre jetzige Kindheit hingegen<br />

stehen in völligem Gegensatz zu<br />

den Einschätzungen der Studierenden<br />

und ihrer Eltern. Die Kinder sehen ihre<br />

Kindheit in der Regel sehr positiv. Sie<br />

GS <strong>aktuell</strong> <strong>105</strong> • Februar 2009<br />

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Thema: Wie Kinder heute leben und lernen<br />

schätzen, dass sie nicht so viele Pflichten<br />

haben wie ihre Eltern und ihre<br />

Großeltern; insbesondere schätzen sie<br />

die Vielfalt der Medien, die ihnen zur<br />

Verfügung stehen.<br />

Großeltern antworten<br />

meist differenzierter<br />

Fragt man die Gruppe der Studierenden,<br />

Eltern und Großeltern, ob sie, wenn sie<br />

die Alternative hätten, lieber zu der Zeit<br />

ihrer eigenen Kindheit oder lieber heute<br />

aufwachsen möchten, dann äußern die<br />

Studierenden und ihre Eltern fast uneingeschränkt,<br />

dass sie auf keinen Fall<br />

heute Kind sein möchten. Ihre eigene,<br />

fast immer glückliche Kindheit möchten<br />

sie nicht missen. Bei den Großeltern<br />

sind die Antworten auch zu dieser Frage<br />

meist differenzierter. Ein Teil beklagt<br />

die Einschränkungen, Entbehrungen<br />

und Ängste der Kriegs- und Nachkriegszeit<br />

und würde lieber heute Kind<br />

sein. Ein großer anderer Teil hingegen<br />

gibt an, dass sie trotz der Entbehrungen<br />

eine glückliche Kindheit gehabt hätten.<br />

Man habe es nicht anders gekannt, und<br />

es habe auch schöne Phasen gegeben.<br />

Fragt man die Kinder, ob sie lieber jetzt<br />

Kind sein wollen oder lieber in der Zeit<br />

ihrer Eltern oder Großeltern Kinder<br />

gewesen wären, dann antworten nahezu<br />

alle Kinder, dass sie auf keinen Fall<br />

früher hätten Kind sein wollen – wegen<br />

der vielen Pflichten und Entbehrungen,<br />

die ihre Eltern und Großeltern zu ertragen<br />

hatten, vor allem aber auch wegen<br />

der heutigen Medienvielfalt und der<br />

sonstigen liebgewonnenen Möglichkeiten<br />

(eigenes Fahrrad, eigenes Zimmer,<br />

schöne Kleidung, zahlreiche Spielmöglichkeiten<br />

etc.), auf die sie nicht verzichten<br />

möchten.<br />

Wenn man die Studierenden mit der<br />

Tatsache konfrontiert, dass die Zeit, in<br />

der sie selbst aufgewachsen sind (meist<br />

die 1980er/frühe 1990er Jahre), bereits<br />

von der sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung<br />

als die Phase der »veränderten<br />

Kindheit« bezeichnet wird, für<br />

die die Merkmale beschrieben werden,<br />

die sie selbst sehr kritisch der heutigen<br />

Kindheit zuschreiben, dann sind die<br />

meisten Studierenden zunächst äußerst<br />

irritiert, weil fast keine Merkmale, die<br />

sie für die eigene Kindheit angeführt<br />

haben, auf die Zuschreibungen der<br />

»veränderten Kindheit« zuzutreffen<br />

scheinen.<br />

Die hier angeführten Befragungen sind<br />

selbstverständlich nicht repräsentativ<br />

– weder von der Größe noch von der<br />

Auswahl der Stichprobe der Befragten<br />

her. Nicht nur haben die Studierenden<br />

einen anderen Bildungshintergrund, sie<br />

hatten vermutlich auch positivere Entwicklungsmöglichkeiten<br />

als der Durchschnitt<br />

ihrer Altersgenossen. Auch die<br />

Kinder, die sie befragt haben, repräsentieren<br />

sicher nicht die Breite der Bevölkerung.<br />

Vor allem wurden meist nicht<br />

Kinder aus ärmeren Bevölkerungsschichten<br />

und / oder Kinder mit einem<br />

sehr problematischen Familienhintergrund<br />

befragt. Und doch entsprechen<br />

die Aussagen der heutigen Kinder zu<br />

ihrer Kindheit im Wesentlichen den<br />

Ergebnissen, die bei empirischen Erhebungen<br />

mit großen Stichproben gewonnen<br />

worden sind. Mehr als 90 % der<br />

Kinder im Grundschulalter bewerten<br />

nach Bucher ihre Kindheit als glücklich<br />

bzw. sehr glücklich; auch die zum Zeitpunkt<br />

der Erhebung erfragte Befindlichkeit<br />

wurde zu 85 % als positiv bzw.<br />

sehr positiv eingeschätzt (Bucher 2001,<br />

S. 139; vgl. Entsprechendes im <strong>aktuell</strong>en<br />

LBS-Kinderbarometer 2007).<br />

Was bedeuten Kindheitsbewertungen<br />

für die Professionalität<br />

künftiger Leh rerinnen?<br />

Die Aussagen der Studierenden (und<br />

ihrer Eltern) zur heutigen Kindheit<br />

und die Aussagen der Kinder zu ihrer<br />

Kindheit sind nahezu entgegengesetzt.<br />

Zugleich sind die eigenen Kindheitsbewertungen<br />

der heutigen Kinder im Vergleich<br />

zu Einschätzungen der Studierenden<br />

über die Zeit ihres Aufwachens<br />

sehr ähnlich. Wie sind die Gegensätze<br />

und Gemeinsamkeiten zu erklären, und<br />

vor allem: Welchen Stellenwert haben<br />

sie für die Professionalität der (künftigen)<br />

Lehrer/innen?<br />

Menschen scheinen die Tendenz zu<br />

haben, »ein günstiges Bild von sich<br />

selbst aufrechtzuerhalten« (Brandstätter<br />

& Renner 1992, S. 301 – Übs. M.F.-A.).<br />

Um dem Bedürfnis nach einem günstigen<br />

Bild von der eigenen Kindheit<br />

zu entsprechen, werden dazu nicht<br />

passende Situationen und Erfahrungen<br />

ggfs. umgedeutet und als positiv<br />

interpretiert. Die »Theorie der kognitiven<br />

Dissonanz« von Festinger (1978)<br />

erklärt dieses Bedürfnis: Menschen<br />

neigen dazu, Erfahrungen, die im Widerspruch<br />

zu den eigenen Einstellungen<br />

10 GS <strong>aktuell</strong> <strong>105</strong> • Februar 2009


Thema: Wie Kinder heute leben und lernen<br />

stehen, auszublenden oder umzudeuten.<br />

Auf diese Weise wird die als unangenehm<br />

empfundene Dissonanz zwischen<br />

Einstellung und Erfahrung reduziert.<br />

So waren vermutlich auch bei den Erwachsenen<br />

nicht alle Erfahrungen beim<br />

Draußen-Spielen nur angenehm (Stürze;<br />

beim Wettkampf verloren; Ärger zu<br />

Hause, wenn zu spät heimgekommen<br />

etc.). Doch im Rückblick werden solche<br />

Situationen »vergessen« oder als positiv<br />

für die eigene Entwicklung (um-)gedeutet<br />

(vgl. auch das heuristische Modell<br />

zur Erklärung subjektiven Glückserlebens<br />

bei Bucher 2001, S. 88).<br />

Plädoyer für offenere Wahrnehmung<br />

heutigen Kinderlebens<br />

Von daher kann die positive Wertschätzung<br />

der eigenen Kindheit bei den Erwachsenen<br />

als ein Indiz für ein solches<br />

Bedürfnis nach einem positiven Selbstbild<br />

und dem Erhalt des Glücksempfindens<br />

interpretiert werden. Allerdings<br />

sollten Erwachsene – und hier insbesondere<br />

(künftige) Lehrer/innen, die<br />

professionell Umgang mit Kindern haben<br />

– solche psychischen Mechanismen<br />

bedenken, wenn sie ihre eigene Kindheit<br />

wertend den Kindheiten anderer Generationen<br />

gegenüberstellen; es ist problematisch,<br />

die eigene Kindheit zum unreflektierten<br />

Maßstab für eine Bewertung<br />

heutigen Kinderlebens zu machen. Dadurch<br />

wird den heutigen Kindern die<br />

Legitimation verwehrt, sich mit ihrer<br />

eigenen Kindheit zu identifizieren.<br />

Insbesondere die Jungen würden bei<br />

einer abwertenden Einschätzung heutiger<br />

Kindheitserfahrungen benachteiligt,<br />

weil vor allem sie sich mit den Optionen<br />

moderner Medien identifizieren, die<br />

von den Erwachsenen meist an erster<br />

Stelle als problematisch gesehen und<br />

genannt werden. Auch für diese Kinder<br />

sollte gelten, dass deren Interessen und<br />

Erfahrungen zum Ausgangspunkt weitergehender,<br />

auch schulischer Lernprozesse<br />

gemacht werden sollten. Kinder<br />

wachsen nicht in die Vergangenheit hinein,<br />

sondern in eine (zwar immer ungewisse)<br />

Zukunft, die aber vermutlich<br />

mehr Ähnlichkeiten haben wird mit der<br />

Gegenwart der heutigen Kinder als mit<br />

der Kindheit ihrer Eltern.<br />

Das Plädoyer für eine offenere Wahrnehmung<br />

heutigen Kinderlebens und<br />

die stärkere Berücksichtigung der Perspektive<br />

der Kinder bedeutet nicht, alle<br />

Erfahrungen der Kinder gutzuheißen<br />

und Gefährdungen zu ignorieren. Vielmehr<br />

sollte vor allem bei den Studierenden<br />

nicht nur der Blick geschärft<br />

werden für eine kritische Reflexion der<br />

eigenen Kindheit; vielmehr gilt es auch,<br />

den Blick zu schärfen für die Chancen<br />

und Potentiale, die in den Bedingungen<br />

des Aufwachsens heutiger Kinder enthalten<br />

sind – und zwar aller Kinder.<br />

Literatur<br />

Brandstätter, J. & Renner, G. (1992): Coping<br />

with discrepancies between aspirations and<br />

achievements in adult development: A dualprocess<br />

model. In: L. Montada et al. (Eds.).<br />

Life crises and experiences of loss in adulthood.<br />

Hillsdale, NJ, pp. 301 – 319.<br />

Bucher, Anton A. (2001): Was Kinder glücklich<br />

macht. Historische, psychologische und<br />

empirische Annäherungen an Kindheitsglück.<br />

Weinheim und München: Juventa.<br />

Festinger, L. (1978): Theorie der kognitiven<br />

Dissonanz. Bern u. a.: Huber.<br />

Gaschke, S. (2001): Die Erziehungskatastrophe.<br />

Stuttgart, München: Deutsche Verlagsanstalt,<br />

4. Auflage.<br />

Gerster, P. & Nürnberger, C. (2002): Der<br />

Erziehungsnotstand. Berlin: Rowohlt-Verlag,<br />

6. Auflage.<br />

LBS-Kinderbarometer, Deutschland (2007):<br />

Stimmungen, Meinungen, Trends von Kindern<br />

in sieben Bundesländern. Ergebnisse<br />

des Erhebungsjahres 2006/07. Ein Projekt des<br />

Dachverbandes der Landesbausparkassen,<br />

»LBS-Initiative Junge Familie« in Zusammenarbeit<br />

mit dem Deutschen Kinderschutzbund<br />

(DKSB), Durchführung: PROSOZ<br />

Herten ProKids-Institut, September 2007.<br />

Winterhoff, M. (2008): Warum unsere Kinder<br />

Tyrannen werden. Gütersloh: Gütersloher<br />

Verl.-Haus, 10. Auflage. Dieser Band ist seit<br />

längerer Zeit auf der SPIEGEL-Bestseller-<br />

Liste.<br />

GS <strong>aktuell</strong> <strong>105</strong> • Februar 2009<br />

11


Praxis: Wie Kinder heute leben und lernen<br />

Rita Fürstenau<br />

Was Kinder über Kindheit denken<br />

Welche Vorstellungen von Kindheit<br />

haben Kinder und welche Perspektiven<br />

nehmen sie ein, wenn sie ihre Ansichten<br />

darstellen? Was denken Kinder<br />

über Kindheit? Ich möchte einen kurzen<br />

Einblick in die Äußerungen von<br />

Grundschulkindern zu diesem Thema<br />

geben.<br />

Rita Fürstenau<br />

beendete 2005 ihr Studium für das<br />

Lehramt an <strong>Grundschule</strong>n an der<br />

Universität Kassel. Zweitstudium im<br />

Fachbereich Visuelle Kommunika tion<br />

an der Kunsthochschule Kassel.<br />

Arbeitet seit Frühjahr 2008 im<br />

Rahmen des Promotions kollegs<br />

»Kinder und Kindheiten« an ihrer<br />

Dissertation zu Kindheitsvorstellungen<br />

von Grundschulkindern.<br />

r.fuerstenau@uni-kassel.de<br />

Nachdem Kinder aus dritten<br />

und vierten Klassen aufgefordert<br />

wurden, zu den vorgegebenen<br />

Satzanfänge »Ich bin gerne ein<br />

Kind, weil …« und »Ich bin nicht gerne<br />

ein Kind, weil …« Texte zu verfassen,<br />

hatten sie die Möglichkeit, sich einen<br />

der beiden Satzanfänge auszusuchen<br />

oder beide zu bearbeiten. Vor dem<br />

Hintergrund der vorgegebenen positiven<br />

beziehungsweise negativen Bewertung<br />

formulierten die Kinder in ihren<br />

Texten Begründungen dafür, gerne<br />

oder nicht gerne ein Kind zu sein, und<br />

ergänzten diese teilweise mit kurzen<br />

Beschreibungen von beispielhaften Situationen.<br />

In den insgesamt 176 Texten lassen<br />

sich drei Bearbeitungsstrategien erkennen:<br />

Die Kinder leiten ihre Begründungen<br />

entweder aus ihrer eigenen Lebenswelt<br />

ab, beziehen sich auf Kinderwelt<br />

allgemein oder formulieren Bezüge zur<br />

Erwachsenenwelt. Einige inhaltliche<br />

Bezüge, die die Kinder in ihren Texten<br />

formuliert haben, werden im Folgenden<br />

dargestellt und anhand dieser die Sichtweisen<br />

der Kinder gezeigt.<br />

Spielen: grundlegendes<br />

Merkmal von Kindheit<br />

Als häufigste Begründung dafür, gerne<br />

ein Kind zu sein, wurde das Spielen<br />

genannt. Alleine, mit Freunden oder in<br />

der Familie, mit oder ohne Spielzeug,<br />

im Freien, zu Hause oder in der Schule<br />

– Spielen wurde in vielen Kindertexten<br />

als grundlegendes Merkmal von Kindheit<br />

entworfen und dabei durchgängig<br />

positiv belegt. Negativ äußern sich Kinder<br />

zu Spielverboten und Einschränkungen<br />

in ihren Spielwünschen, wie<br />

beispielsweise Zeitmangel oder fehlende<br />

Mitspieler.<br />

Darüber hinaus führten Kinder oftmals<br />

das Spielen als bedeutenden Unterschied<br />

zum Leben der Erwachsenen<br />

an, da Erwachsene nicht spielen könnten,<br />

sondern arbeiten müssten.<br />

Ich bin gerne ein Kind, weil ich dann<br />

mit Spielzeugen spielen kann und mit<br />

Freunden spielen. Ich bin gerne ein<br />

Kind, weil ich dann nicht so beschäftigt<br />

bin wie die Erwachsenen. Ich kann<br />

dann die ganze Zeit spielen. (1) (Mädchen,<br />

4. Klasse)<br />

Ich bin gerne ein Kind, weil man spielen<br />

kann und wenn man erwachsen ist,<br />

kann man nicht spielen. Da muss man<br />

nur arbeiten. (Junge, 4. Klasse)<br />

Ich bin gerne ein Kind, weil man mit<br />

Spielsachen spielen kann. Weil extra nur<br />

Anmerkung<br />

(1) Die Auszüge aus den Kindertexten wurden<br />

zur besseren Verständlichkeit auf ihre<br />

für Kinder Spielsachen erfunden wurden.<br />

(Mädchen, 4. Klasse)<br />

Schule: selbstverständlicher<br />

Bestandteil der Kindheit<br />

Ebenso wie das Spielen sehen viele Kinder<br />

auch die Schule als selbstverständlichen<br />

Bestandteil ihrer Kindheit an. Das<br />

Besuchen der Schule wird sowohl positiv<br />

als auch negativ wahrgenommen<br />

und beurteilt. Schule wird als Ort des<br />

Lernens oder Spielens, als zweites Zuhause<br />

und Zufluchtsort oder als Belastung,<br />

Einschränkung und lästige Pflicht<br />

dargestellt.<br />

Oftmals thematisieren Kinder den<br />

Schulbesuch mit Bezug auf die Arbeit<br />

der Erwachsenen. Dabei werden zwei<br />

Perspektiven sichtbar: In der einen gehen<br />

Kinder zur Schule anstatt zur Arbeit,<br />

in der anderen wird die Schule als<br />

die Arbeit der Kinder dargestellt.<br />

Ich bin gerne ein Kind, weil man als Erwachsener<br />

schwer arbeiten muss um seinen<br />

Lebensunterhalt zu verdienen. Als<br />

Kind muss man nur fünfmal in der Woche<br />

zur Schule gehen. (Junge, 4. Klasse)<br />

Ich bin gerne ein Kind, weil man eine<br />

tolle Arbeit hat. Die Schule ist die tolle<br />

Arbeit. (Mädchen, 3. Klasse)<br />

Als Kind hat man mehr Zeit<br />

Ein weiterer Teil der Kindertexte setzt<br />

sich auf unterschiedliche Weise mit<br />

zeitlichen Strukturen auseinander. In<br />

einer Vielzahl von Texten werden die<br />

freie Zeit und die Freizeit der Kinder<br />

betont und sowohl zur Beschreibung<br />

des Kinderalltags als auch zur Abgrenzung<br />

von Kinderleben und Erwachsenenleben<br />

herangezogen.<br />

Ich bin gerne ein Kind, weil man nicht<br />

zur Arbeit gehen muss und fast gar nicht<br />

auf die Zeit achten muss. Dass man<br />

nachmittags mit Freunden spielen kann,<br />

finde ich aber am besten und ich finde<br />

noch gut, dass man zum Beispiel den<br />

ganzen Nachmittag Gitarre spielen kann<br />

12 GS <strong>aktuell</strong> <strong>105</strong> • Februar 2009


Praxis: Wie Kinder heute leben und lernen<br />

und nicht so viele Verpflichtungen hat<br />

wie Erwachsene. (Junge, 4. Klasse)<br />

Ich bin nicht gerne ein Kind, weil …<br />

Auch die längere Lebenszeit, die Kinder<br />

im Vergleich zu Erwachsenen haben,<br />

wird in manchen Texten thematisiert<br />

und als wesentlicher Vorteil des Kindseins<br />

beschrieben.<br />

Ich bin gerne ein Kind, weil man ist noch<br />

jung und stirbt nicht so schnell und weil<br />

man sein Leben genießen kann. (Junge,<br />

4. Klasse)<br />

Wahrnehmung körperlicher<br />

Unterschiede<br />

Ich bin gerne ein Kind, weil …<br />

Mädchen, 3. Klasse<br />

In ihren Texten gehen einige Kinder<br />

zudem auf die körperlichen Unterschiede<br />

zwischen Kindern und Erwachsenen<br />

ein. Die kleinere Körpergröße von<br />

Kindern wird in den Texten sowohl als<br />

Vorteil als auch als Nachteil beschrieben.<br />

Manche Kinder betonen, dass es<br />

Kindern so sehr viel besser möglich<br />

sei, sich zu verstecken, in Ecken zu<br />

kriechen und durch schmale Gänge<br />

zu klettern. Andere heben die körperliche<br />

Unterlegenheit von Kindern bei<br />

Streitereien mit Erwachsenen und älteren<br />

Kindern hervor oder weisen auf<br />

Situationen hin, in denen Erwachsene<br />

aufgrund ihrer Körpergröße im Vorteil<br />

sind. Eine Überlegenheit der Kinder<br />

gegenüber Erwachsenen wird hingegen<br />

in den Textpassagen deutlich, in denen<br />

sich Kinder als gelenkiger, flinker und<br />

schneller darstellen.<br />

Ich bin gerne ein Kind, weil …<br />

Junge, 4. Klasse<br />

Ich bin nicht gerne ein Kind, weil …<br />

Mädchen, 4. Klasse<br />

Mädchen, 4. Klasse<br />

GS <strong>aktuell</strong> <strong>105</strong> • Februar 2009<br />

13


Praxis: Wie Kinder heute leben und lernen<br />

Die Perspektiven der Kinder beziehen<br />

sich darüber hinaus in einigen Texten<br />

auch explizit auf die Position von<br />

Kindern in generationalen und gesellorthografische<br />

Richtigkeit hin überarbeitet.<br />

Kinder beschäftigen sich vielfältiger als oft angenommen<br />

Ich bin nicht gerne ein Kind, weil wenn<br />

uns ein Ball in den Ästen hängen bleibt,<br />

muss uns immer ein erwachsener Mann<br />

oder eine Frau helfen und das ist schon<br />

blöd und das stört andauernd. (Junge,<br />

3. Klasse)<br />

Ich bin gerne ein Kind, weil ich kann<br />

auch viele Sportarten betreiben, ohne<br />

dass mir der Rücken gleich weh tut.<br />

(Mädchen, 4. Klasse)<br />

Kinder und Gesellschaft<br />

schaftlichen Strukturen und fordern ein<br />

Mitgestaltungsrecht am eigenen Leben<br />

ein.<br />

Ich bin nicht gerne ein Kind, weil man bestimmte<br />

Sachen noch nicht machen darf.<br />

Weil manche Erwachsene Kinder nicht<br />

für voll nehmen. Und weil man meistens<br />

rumkommandiert wird. Und Sachen<br />

machen muss, die die Erwachsenen uns<br />

sagen. Man darf nicht alles machen was<br />

man will. (Mädchen, 4. Klasse)<br />

Ich bin nicht gerne ein Kind, weil die<br />

Politiker alles über uns entscheiden und<br />

wir das machen, wenn wir meinen, dass<br />

das so ist, hören uns die Erwachsenen<br />

gar nicht zu. (Junge, 4. Klasse)<br />

In den ausgewählten Textpassagen wird<br />

deutlich, dass den Kindertexten teilweise<br />

sehr unterschiedliche Vorstellungen<br />

von Kindheit zugrunde liegen. Die in<br />

Erwachsenenperspektiven häufig vorzufindende<br />

Orientierung an Normvorstellungen,<br />

welche beschreiben, wie<br />

Kindheit idealtypisch sein sollte, bzw.<br />

was eine schöne oder schlechte Kindheit<br />

ausmacht, sollte demnach nicht nur vor<br />

dem Hintergrund der stetigen Veränderungen<br />

des Kinderalltags, sondern auch<br />

unter Berücksichtigung der Sichtweisen<br />

von Kindern auf Kindheit reflektiert<br />

werden.<br />

14 GS <strong>aktuell</strong> <strong>105</strong> • Februar 2009


Praxis: Wie Kinder heute leben und lernen<br />

Sarah Alexi<br />

Das Erzählcafé<br />

Generationenvermittlung in der <strong>Grundschule</strong><br />

In der <strong>Grundschule</strong> treffen Lehrer/innen und Schüler/innen und damit Menschen<br />

verschiedener Generationen aufeinander. Es geht im Unterricht deshalb<br />

immer auch um Vermittlungs- und Aushandlungsprozesse, die von der Generationsangehörigkeit<br />

wesentlich beeinflusst werden. Dabei werden Lehrer/innen<br />

in der Schule mit heutigen Kinderwelten konfrontiert, die so völlig anders sind<br />

als ihre eigenen Kindheitserfahrungen. Oftmals vergleichen sie die gegenwärtige<br />

Kindheit mit ihrer eigenen und ihre Wahrnehmungen und Bewertungen bewegen<br />

sich zumeist zwischen den Polen »früher war alles besser« oder »wie gut<br />

es die Kinder doch heute haben«. Es ist daher wünschenswert, dass die jeweils<br />

verschiedenen biographischen Prägungen von Lehrer/innen und Schüler/innen<br />

gegenseitig anerkannt und in Form eines intergenerationalen Dialogs offen thematisiert<br />

werden.<br />

Doch wie können die unterschiedlichen<br />

lebensgeschichtlichen<br />

Erfahrungen der schulischen<br />

Akteure Eingang in Schule und<br />

Unterricht finden? Eine geeignete Methode,<br />

um Angehörige verschiedener<br />

Generationen miteinander ins Gespräch<br />

zu bringen, ist das »Erzählcafé«.<br />

Erzählcafé – Was ist das?<br />

Dabei handelt es sich um ein moderiertes<br />

Kreisgespräch zu einem vorab<br />

festgelegten Thema, zu dem zusätzlich<br />

ältere Menschen eingeladen werden, die<br />

als Experten von früher bzw. von ihrer<br />

Kindheit berichten. In einer möglichst<br />

angenehmen Atmosphäre, die durch die<br />

Darbietung von Getränken und Gebäck<br />

einem »gemütlichen Kaffeeklatsch«<br />

Beispielhafter Ablauf für ein Erzählcafé<br />

1. Empfang und Verteilen der Namensschilder<br />

2. Begrüßung und Festlegen des Ablaufs<br />

und der Gesprächsregeln<br />

3. Vorstellungsrunde<br />

(z. B. als Kennenlern-Spiel)<br />

ähnelt, eröffnet sich im gemeinsamen<br />

Gespräch ein Raum, in dem alle Teilnehmenden<br />

ihre je eigenen Erfahrungen<br />

und Erlebnisse mitteilen und mit<br />

anderen abgleichen können. Durch die<br />

offensichtliche Nähe zum Morgenkreis<br />

lassen sich Erzählcafés ohne größere<br />

Schwierigkeiten im Unterricht anwenden<br />

und können diesen auf unterschiedlichste<br />

Art und Weise bereichern.<br />

Das Durchführen eines Erzählcafés erfordert<br />

im Voraus eine gewisse Planung.<br />

So müssen ältere Menschen für die Teilnahme<br />

gewonnen und ein passendes<br />

Gesprächsthema festgelegt werden. Bei<br />

der Auswahl eines Erzählcafé-Themas<br />

für die <strong>Grundschule</strong> sollte darauf geachtet<br />

werden, dass alle Teilnehmenden<br />

als »Experten ihrer Zeit« etwas zu<br />

4. Einstieg in das Thema<br />

(z. B. anhand von Fotos oder mit gebrachten Gegenständen)<br />

5. Moderiertes Gespräch<br />

6. Abschluss<br />

(z. B. mit einem gemein samen Lied)<br />

Sarah Alexi<br />

(Jahrgang 1981) ist Grund-, Hauptund<br />

Realschul lehrerin. Zurzeit<br />

arbeitet sie als wissenschaftliche<br />

Mitarbeiterin an der Universität<br />

Kassel im Fachbereich Erziehungswissenschaft<br />

/ Human wissenschaften.<br />

berichten haben. Deshalb bietet es sich<br />

an, das geplante »Motto« etwas offener<br />

zu halten, damit alle gleichermaßen<br />

Anschlusspunkte in den Erzählungen<br />

finden und ihre persönlichen Erfahrungen<br />

aktiv ins Erzählcafé einbringen<br />

können.<br />

Themen für Erzählcafés<br />

Mögliche Themenbereiche für Erzählcafés<br />

wären zum Beispiel Schule (Mein<br />

erster Schultag und der Schulanfang,<br />

Klassenfahrten und Klassenausflüge,<br />

Hausaufgaben, Pausenaktivitäten, Unterrichtserlebnisse,<br />

Mein liebstes Schulfach,<br />

Schulfeste etc.), Freizeit (Spiele<br />

drinnen und draußen, Mein tollstes<br />

Spielzeug, Freunde und Freundschaften,<br />

Tiere, Sportereignisse, Hobbys etc.),<br />

Familie (Erlebnisse und Beziehungen,<br />

Ausflüge und Urlaub, Geschwister,<br />

Mein Zuhause, Mein Tagesablauf, Besuche<br />

etc.) oder Feierlichkeiten (Geburtstage,<br />

Weihnachten, Ostern, Fasching,<br />

Silvester etc.). Auch von den Schülerinnen<br />

und Schülern in Morgenkreisen<br />

selbst angesprochene Themen können<br />

als weitere Erzählanlässe dienen.<br />

In der Planung und anschließenden<br />

Durchführung von Erzählcafés sollten<br />

GS <strong>aktuell</strong> <strong>105</strong> • Februar 2009<br />

15


Praxis: Wie Kinder heute leben und lernen<br />

einige organisatorische Punkte beachtet<br />

werden. Dabei sind eine sinnvolle<br />

Strukturierung in zeitlicher und inhaltlicher<br />

Hinsicht sowie eine gewisse<br />

Transparenz im Ablauf für die Teilnehmenden<br />

unabdingbar. Eine Person sollte<br />

die Rolle als Moderatorin bzw. Moderator<br />

übernehmen, um insbesondere<br />

den Anfang und das Ende des Erzählcafés<br />

zu gestalten.<br />

Durch die im Erzählcafé inszenierte<br />

Generationendifferenz wird allen Teilnehmenden<br />

die Möglichkeit geboten,<br />

sich selbst und die Anderen auf eine<br />

neue Art und Weise kennen zu lernen.<br />

Anhand von Identifikation mit der eigenen<br />

und Abgrenzung zu den anderen<br />

Generationen können sich alle gleichermaßen<br />

ihrer eigenen biographischen<br />

Prägung bewusst werden und sich<br />

selbst als Angehörige einer Generation<br />

erfahren.<br />

Ältere Menschen erleben durch die<br />

Teilnahme an Erzählcafés eine besondere<br />

Form der Wertschätzung. So können<br />

sie nicht nur ihre persönlich bedeutsamen<br />

Kindheitserfahrungen mitteilen<br />

und ihr über Jahre hinweg konserviertes<br />

Wissen weitergeben, sondern durch<br />

die Nachfragen der Anderen können sie<br />

ihre Erinnerungen von früher wieder<br />

beleben und neu ordnen.<br />

Im Erzählcafé<br />

Authentisches historisches Lernen<br />

Für Schülerinnen und Schüler eröffnet<br />

sich im Erzählcafé eine Form des<br />

authentischen historischen Lernens.<br />

Indem sie den Berichten der älteren<br />

Generation folgen, werden die geschilderten<br />

Erlebnisse und Geschichten anhand<br />

ihrer realen Darstellung leichter<br />

nachvollziehbar und damit auch besser<br />

begreifbar. Durch einen ständigen<br />

Wechselprozess von passiver Informationsaufnahme<br />

und aktiven Beiträgen<br />

werden zudem Schlüsselqualifikationen<br />

wie Erzählen, Diskutieren, Zuhören<br />

und Verknüpfen von Inhalten trainiert.<br />

Darüber hinaus werden soziale Kompetenzen<br />

und insbesondere der Umgang<br />

mit älteren Menschen geschult.<br />

Lehrerinnen und Lehrern bietet die<br />

Teilnahme an Erzählcafés die Gelegenheit,<br />

ihre Schülerinnen und Schüler als<br />

Gruppe mit eigenen Beziehungsstrukturen,<br />

Bedürfnissen und Erfahrungen,<br />

die im regulären Unterricht so zumeist<br />

nicht erkennbar werden, wahrzunehmen.<br />

Dies führt bestenfalls zu einer<br />

reflexiven Gestaltung der Beziehungen,<br />

die bis in den Unterricht hineinwirkt.<br />

Damit bietet das Erzählcafé sowohl für<br />

Lehrerinnen und Lehrer als auch für<br />

Schülerinnen und Schüler die Chance,<br />

sich über das institutionalisierte schulische<br />

Verhältnis hinaus anders kennen<br />

zu lernen und sich einander auf neue<br />

Art und Weise anzunähern.<br />

S. 17<br />

Spielzeug früher und heute<br />

16 GS <strong>aktuell</strong> <strong>105</strong> • Februar 2009


Praxis: Wie Kinder heute leben und lernen<br />

Erzählcafé: Gesprächsausschnitt<br />

Über das Thema »Spielen in der Kindheit«<br />

sprechen Albert und Berta (ältere<br />

Generation) sowie Heiko und Julia<br />

(jüngere Generation).<br />

Berta: Wir haben manchmal mit ganz<br />

primitiven Sachen gespielt. Zum Beispiel<br />

Wackeln. Wer kennt denn Wackeln von<br />

euch? Oder Murmeln?<br />

(schaut in die Runde)<br />

Albert: Hast du ’ne Murmel mitgebracht?<br />

Heiko: (nickt und zeigt seine kleine Kugel)<br />

Albert: Kennst du das? Murmeln spielen?<br />

Berta: Murmeln spielen?<br />

Heiko: Ja, das kenne ich. Da ist doch so<br />

’n Kreis und da müssen die dann rein.<br />

Berta: Da musste die rein machen. Und<br />

wenn du die anderen geditscht hattest,<br />

dann flogen die weg.<br />

Julia: Nur wenn die über den Rand vom<br />

Kreis kommen, darf man die haben.<br />

Berta: Und dann hatteste manchmal so<br />

ne ganz tolle Glaskugel. Die sah so schön<br />

aus. Na dann kriegte die dann irgendwer<br />

anders und dann haste dich geärgert,<br />

dass die weg war.<br />

Julia: Dann muss man sich eben neue<br />

kaufen.<br />

Früher konnten sich die Kinder meist nicht so viele Murmeln leisten wie heute<br />

Albert: (lacht und schüttelt den Kopf)<br />

Berta: Naja, früher, da hatte man nicht<br />

so viel Geld.<br />

Julia: Ach so, waren die teuer?<br />

Albert: Unsere Eltern waren früher …<br />

Berta: (unterbricht Albert) Unsere Eltern<br />

konnten uns so was nicht kaufen.<br />

Julia: Das ist dann dumm, wenn die wegkommt.<br />

Berta: Ja, genau.<br />

Hier wird erkennbar, wie unterschiedlich<br />

die Kindheitserfahrungen der verschiedenen<br />

Generationen sind. Während für<br />

die ältere Generation der Verlust einer<br />

»ganz tollen Glaskugel« als ärgerlich beschrieben<br />

wird, versucht das Mädchen<br />

Julia eine Lösung anzubringen. Diese<br />

ist aus heutiger Sicht auch durchaus gerechtfertigt,<br />

denn Murmeln haben heute<br />

einen anderen Geldwert als zu damaligen<br />

Zeiten. Berta gelingt es aber, Julia<br />

den damals höheren Wert einer Murmel<br />

zu vermitteln und ermöglicht Julia und<br />

den anderen teilnehmenden Kindern<br />

damit eine Form des authentischen historischen<br />

Lernens.<br />

Beispiel für ein Abschlusslied: OBWISANA SANA<br />

Übersetzung:<br />

»Oh Großmutter, soben habe ich meinen Finger<br />

an einem Stein verletzt.«<br />

Bei diesem Rhythmusspiel aus Ghana werden während des gemeinsamen<br />

Singens kleine Steine passend zur Musik im Kreis von einer Person zur nächsten<br />

weitergereicht.<br />

(Quelle: http://www.labbe.de/liederbaum/index.asp?themaid=3&titelid=645)<br />

»Stone passing Game«:<br />

Die Schüler sitzen mit gekreuzten Beinen auf<br />

dem Boden im Kreis (»Schneidersitz«), davor<br />

liegen nebeneinander zwei handliche Steine.<br />

Im Takt des Liedes wechseln sich zwei Bewegungen<br />

ab:<br />

* Gleichzeitig ergreifen die rechte Hand den<br />

(linken) Stein des Nachbarn und die linke Hand<br />

den (rechts liegenden) Stein vor sich.<br />

* Die rechte Hand legt ihren Stein vor sich auf<br />

den Boden, während die linke Hand ihren Stein<br />

vor den Nachbarn zur Linken hinlegt.<br />

(Quelle: http://www.8ung.at/hansjoergbrugger/obwisana.htm)<br />

GS <strong>aktuell</strong> <strong>105</strong> • Februar 2009<br />

17


Praxis: Wie Kinder heute leben und lernen<br />

Simone Knorre / Anna Lena Wagener<br />

Zwischen Freizeit, Schule und Tests<br />

Wie die Kenntnis der Lernbiografie den Zugang zu<br />

unterschiedlichen Facetten eines Kindes erschließen hilft<br />

Der achtjährige Tom ist ein großer Fan<br />

von Computerspielen. Mehrere Stunden<br />

verbringt er täglich damit, an seinem<br />

Computer oder seiner Spielkonsole zu<br />

spielen. Ein weiteres Hobby des Drittklässlers<br />

ist das Fernsehen. Er liebt Zeichentrickserien<br />

und schaut diese mit<br />

seiner Mutter bereits während des Mittagessens.<br />

Das Lesen gehört ebenfalls<br />

zu den Tätigkeiten, die Toms Alltag bestimmen.<br />

Er beschränkt sich dabei allerdings<br />

ausschließlich auf Comics, die er<br />

jeden Abend vor dem Einschlafen und<br />

sonst nur bei Langeweile liest. Neben<br />

diesen medialen Hobbys geht Tom keinen<br />

weiteren regelmäßigen Aktivitäten<br />

nach. (1)<br />

Stereotypen über Kindheit<br />

Die Bilder heutiger Kinder sind oft<br />

stereotypisiert: Kinder, die viel fernsehen,<br />

zeigen schlechte Leistungen in der<br />

Schule, besonders im Lesen. Unterstützt<br />

werden diese Bilder durch Studien, deren<br />

verkürzte Darstellung oder Berichte<br />

in den Medien über Auswirkungen von<br />

Fernsehkonsum. Diese mögen für einen<br />

Großteil der Probanden gelten und somit<br />

durchaus relevantes Hintergrundwissen<br />

als Folie für pädagogisches Handeln<br />

liefern. (2) Für das einzelne Kind<br />

»Lernbiografien im schulischen und<br />

außerschulischen Kontext« (LISA&KO)<br />

müssen sie aber nicht zwangsläufig zutreffen,<br />

wie die Fallstudie von Tom aus<br />

dem Forschungsprojekt LISA&KO zeigt<br />

(Näheres zum Forschungsprojekt siehe<br />

Kasten):<br />

Betrachtet man Toms schriftsprachliche<br />

Fähigkeiten, fällt auf, dass er ein sehr<br />

leistungsstarker Schüler ist, er gehört zu<br />

den Klassenbesten. Bei allen im Rahmen<br />

der Erhebung durchgeführten Lese- und<br />

Schreibtests schneidet er überdurchschnittlich<br />

gut ab, beispielsweise ist sein<br />

Lesetempo mit dem eines guten erwachsenen<br />

Lesers vergleichbar.<br />

Die Kenntnis über in Studien aufgeführte<br />

Häufigkeiten kann in der pädagogischen<br />

Praxis – z. B. für die Beratung<br />

von Eltern – hilfreich sein. Zu<br />

bedenken ist dabei jedoch immer, dass<br />

es sich bei vielen Befunden der Bildungsforschung<br />

um verdichtete Informationen<br />

aus einer mehr oder weniger<br />

großen Zahl von Fällen handelt, die zudem<br />

punktuell erfasst wurden, und dass<br />

Streuungen durchaus groß sein können.<br />

Zudem könnten – bezogen auf Toms<br />

Beispiel – weitere Faktoren Einfluss auf<br />

seine sprachlichen Fähigkeiten nehmen<br />

wie z. B. die Begleitung des Fernsehens<br />

durch die Eltern. Brügelmann stellt fest:<br />

Welche Bedeutung haben Alltagserfahrungen für die Entwicklung der individuellen<br />

Interessen und Kompetenzen von Kindern? Im Forschungsprojekt LISA&KO erstellen<br />

Studierende seit 1999 schriftliche Porträts von einzelnen Kindern im Rahmen des ersten<br />

Staatsexamens für Lehrämter. Sie besuchen Kinder und Jugendliche zwischen 5<br />

und 15 Jahren in ihren Familien, bei Freizeitaktivitäten und in der Schule bzw. im Kindergarten<br />

und schauen, wie sie leben, lernen, was sie interessiert und <strong>aktuell</strong> beschäftigt.<br />

Auf diese Weise sind bereits 206 solcher Porträts von insgesamt 133 Kindern (die<br />

– so die Grundidee des Projekts – zum Teil bereits mehrfach besucht worden sind)<br />

entstanden.<br />

Der besondere Wert des Projekts LISA&KO im Vergleich zu Großuntersuchungen wie<br />

PISA, IGLU und VERA ist vielschichtig. Bei der Forschung im Projekt LISA&KO wird vor<br />

allem auf (Leistungs-) Unterschiede aufmerksam gemacht, die in den Durchschnittswerten<br />

der »großen« Lernstandserhebungen verloren gehen. Anders als bei den<br />

Rangplätzen in standardisierten Tests werden Kinder und Jugendliche wieder als Personen<br />

mit ihrer individuellen Lebens- und Lerngeschichte erkennbar.<br />

»Befunde der Bildungsforschung sind<br />

[…] nicht nur zeitgebunden, sondern<br />

auch situationsabhängig.« (3) Ein genaueres<br />

Hinschauen bei Einzelfällen ist<br />

daher geboten, um vorschnellen Schlüssen<br />

entgegenzuwirken.<br />

Toms Interesse für Comics hat sich laut<br />

Toms Eltern zufällig im Alter von sieben<br />

Jahren ergeben, als er flüssig zu lesen<br />

begann und ein Micky-Maus-Heft zum<br />

Geburtstag geschenkt bekam. Schnell<br />

festigte sich sein Interesse für Comics<br />

und er begann Donald-Duck-Comics<br />

(›Lustige Taschenbücher‹) zu lesen. Tom<br />

selbst schätzt seinen Besitz auf über 100<br />

›Lustige Taschenbücher‹. Sein Vater erläutert,<br />

dass Tom seiner Meinung nach<br />

die Comics im Laufe der Zeit immer besser<br />

versteht, da er ihn häufiger während<br />

des Lesens lachen hört. Während der<br />

Gespräche im Laufe der Erhebung konnte<br />

Tom von vielen Comicbüchern, die er<br />

gelesen hatte, detailliert den Inhalt wiedergeben.<br />

Zudem konnte er begründen,<br />

warum er bestimmte Bücher interessant<br />

findet.<br />

Tom verfügt auch über Kinderbücher<br />

aus den Reihen ›Leselöwen‹ und ›Was<br />

ist Was?‹. Diese Bücher beachtet er aber<br />

kaum. Er interessiert sich nach eigenem<br />

Bekunden nicht für Abenteuerromane,<br />

Kriminalromane, wahre Geschichten,<br />

Fantasie- oder Tiergeschichten. Er interessiert<br />

sich nur für Donald-Duck-Comics<br />

oder schlägt ab und zu in einem Autolexikon<br />

nach.<br />

Schulische Leseförderung<br />

Schulische Leseförderung setzt oftmals<br />

auf »literarisch vermeintlich wertvolle<br />

Literatur«. Bezogen auf die Vermittlung<br />

bestimmter Inhalte macht das Sinn.<br />

Aber angesichts der nach PISA&Co.<br />

beklagten Leseschwäche und -unlust<br />

vieler Kinder, vor allem einer großen<br />

Zahl von Jungen (4), stellt sich die Frage<br />

nach alternativen Zugängen. Hier können<br />

Fallstudien einen Beitrag leisten,<br />

Einflüsse oder gar Gründe für eine Ent-<br />

18 GS <strong>aktuell</strong> <strong>105</strong> • Februar 2009


Praxis: Wie Kinder heute leben und lernen<br />

wicklung »wider Erwarten« aufzuzeigen<br />

und daraus zu lernen.<br />

Ob Comics einen Beitrag zur Anregung<br />

der Leselust und wertvoll für die<br />

Leseförderung sein können, also ob<br />

Tom gut liest, weil oder obwohl er Comics<br />

liest, kann anhand der vorliegenden<br />

Fallstudie nicht verbindlich beantwortet<br />

werden. Fest steht, dass Tom wie<br />

68 Prozent der Kinder zwischen 6 und<br />

13 Jahren regelmäßig Zeitschriften liest.<br />

5,9 Prozent aller Kinder und sogar 8,3<br />

Prozent aller Jungen geben als bevorzugte<br />

Zeitschrift die ›Lustigen Taschenbücher‹<br />

an. Damit sind diese gleich hinter<br />

dem ›Micky Maus-Magazin‹ (15,3<br />

Prozent) die beliebteste Zeitschrift von<br />

Jungen der befragten Altersgruppe. Comics<br />

werden aber nicht nur von Jungen<br />

bevorzugt gelesen: Auf Platz 1 der bei<br />

Mädchen beliebtesten Magazine liegen<br />

mit 11,1 Prozent das Pferdemagazin<br />

›Wendy‹ und auf Platz 3 mit 8,1 Prozent<br />

das ›Micky Maus-Magazin‹. (5)<br />

In der Schule spielen Comics als literarische<br />

Form kaum eine Rolle. Auch<br />

in Schul- oder Klassenbüchereien sind<br />

sie eher selten zu finden und vermutlich<br />

wäre es falsch aus Einzelfallstudien und<br />

aus Freizeitleseverhalten für alle verbindliche<br />

Comiclesezeiten anzusetzen.<br />

Angesichts der Vorlieben vieler Kinder<br />

könnte hier jedoch ein Beitrag zur<br />

Steigerung der Lesemotivation geleistet<br />

werden. Bertschi-Kaufmann konnte<br />

zudem aufzeigen, dass die Leselust<br />

nicht nur vom persönlichen Interesse<br />

an den Inhalten, sondern auch von<br />

der medialen Form ihrer Präsentation<br />

abhängt. Ihre Studie macht deutlich,<br />

dass viele Jungen zu narrativen Texten<br />

leichter Zugang finden, wenn sie ihnen<br />

am Computer und nicht in Buchform<br />

präsentiert werden. (6) Zwar liest Tom<br />

die Comics in Buchform und nicht am<br />

Computer, doch auch bei ihm spielt die<br />

Präsentation der Texte eine entscheidende<br />

Rolle.<br />

Testverfahren insbesondere die Blickwinkel<br />

unterschiedlicher Personen im<br />

Umfeld des Kindes einbezogen werden:<br />

Auffällig ist, dass sich die Einschätzungen<br />

der Mutter und der Lehrerin, was<br />

Sonjas Persönlichkeit betrifft, stark unterscheiden.<br />

Übereinstimmungen gibt es<br />

nicht. Etwa die Hälfte der Angaben ist<br />

sogar (auf einer Einschätzungsskala zu<br />

Persönlichkeitsmerkmalen) gegensätzlich.<br />

Abgesehen von der natürlicherweise<br />

unterschiedlichen Wahrnehmung der<br />

einzelnen Personen liegt also die Vermutung<br />

nahe, dass sich Sonja in der Schule<br />

anders verhält als zu Hause. Und in der<br />

Tat ließ sich im Rahmen der Erhebungen<br />

beobachten, dass Sonja in der Schule wie<br />

ein völlig anderes Mädchen auftritt als<br />

zu Hause. In der Schule wirkt sie ›unglücklich‹,<br />

unsicher und zurückgezogen,<br />

zu Hause lebhaft, selbstbewusst und<br />

fröhlich. Demnach verwundern die stark<br />

abweichenden Einschätzungen zwischen<br />

Mutter und Lehrerin nicht.<br />

Blick auf das ganze Kind<br />

Der singuläre Blick der Lehrerin liefert<br />

offensichtlich ein sehr eingeschränktes<br />

Bild von Sonja. Dadurch können manche<br />

Potenziale eines Kindes regelrecht<br />

versteckt bleiben. Mehrperspektivität<br />

– und darin eingeschlossen auch die Eigensicht<br />

des Kindes – ist demnach insbesondere<br />

für den schulischen Kontext<br />

von Bedeutung und kann dort beispielsweise<br />

durch regelmäßige Elternkon-<br />

Leistungsvermögen von Kindern<br />

Die Fähigkeiten oder das Leistungsvermögen<br />

eines Kindes können sich in der<br />

Schule und in der Freizeit kontrastiv<br />

darstellen. Deutlich werden solche Kontraste<br />

in den Fallstudien bei LISA&KO,<br />

bei denen neben dem Vergleich von<br />

schulischen Leistungen, informellen<br />

Beobachtungen und standardisierten<br />

Unterschiedliche Facetten eines Kindes<br />

GS <strong>aktuell</strong> <strong>105</strong> • Februar 2009<br />

19


Praxis: Wie Kinder heute leben und lernen<br />

takte, Teamaustausch und kollegiale<br />

Beratung ermöglicht werden.<br />

Wie bei Sonja gesehen können sich Kinder<br />

in unterschiedlichen Kontexten sehr<br />

unterschiedlich präsentieren. Dies gilt<br />

neben der Persönlichkeit eines Kindes<br />

auch für die Leistungen, die es augenscheinlich<br />

erbringt. Hier ergeben sich<br />

Unterschiede beim Einsatz verschiedener<br />

Tests, mitunter jedoch auch bei zwei<br />

Durchführungen desselben Instrumentes<br />

(7) – wie bei Nils:<br />

Während Nils beim ELFE-Lesetest in allen<br />

drei Untertests durchschnittliche bis<br />

überdurchschnittliche Leistungen zeigte,<br />

erreicht er bei dem von der Lehrerin<br />

durchgeführten Leseverständnistest eher<br />

schlechte Ergebnisse. Von 48 möglichen<br />

Punkten erlangt Nils 20, was die Lehrerin<br />

mit ausreichend benotet. Nils liegt<br />

damit im unteren Leistungsdrittel seiner<br />

Klasse […]. Zur weiteren Einschätzung<br />

der Lesekompetenz der Kinder setzte<br />

die Lehrerin zudem den Stolperwörter-<br />

Lesetest ein, den Nils auch im Rahmen<br />

von LISA&KO zu Beginn der Erhebungszeit<br />

bearbeitete. Im Vergleich zur ersten<br />

Durchführung zu Hause erlangte der<br />

Junge […] in der Schule wesentlich bessere<br />

Ergebnisse.<br />

Leistungen: situationsund<br />

kontextabhängig<br />

Die Situations- bzw. Kontextabhängigkeit<br />

von Leistungen findet sich in weiteren<br />

Auszügen aus LISA&KO-Porträts<br />

wieder, was deutlich macht, welch wichtigen<br />

Beitrag die Kenntnis von Lernbiographien<br />

für die Schule / Lehrer haben<br />

können:<br />

Im Gegensatz zur Bearbeitung der Hausaufgaben,<br />

bei der Jule das Bild einer<br />

kompetenten und selbstsicheren Rechnerin<br />

abgibt, deren Auftreten ein hohes<br />

Maß an Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten<br />

vermittelt, zeigt sich die Achtjährige<br />

bei der Durchführung der Mathematiktests<br />

im Rahmen von LISA&KO<br />

sehr verunsichert, was sich sowohl durch<br />

ständiges Nachfragen zu den einzelnen<br />

Aufgabentypen als auch durch resignierte<br />

Bemerkungen von Seiten der Achtjährigen<br />

äußert. Besonders auffällig ist, dass<br />

sich die gestellten Hausaufgaben in den<br />

Bereichen Multiplikation und Addition<br />

Simone Knorre (links)<br />

ist Grundschullehrerin und Diplom-<br />

Sozialpädagogin, arbeitet an einer<br />

<strong>Grundschule</strong> in Kreuztal und als<br />

Mitarbeiterin in der Arbeitsgruppe<br />

Primarstufe an der Universität Siegen.<br />

Anna Lena Wagener (rechts)<br />

Wissenschaftliche Mitarbeiterin und<br />

Doktorandin in der Arbeitsgruppe<br />

Primarstufe der Universität Siegen.<br />

Arbeitsschwerpunkte sind die<br />

Forschungs projekte »Partizipation<br />

an (ganztägigen) <strong>Grundschule</strong>n«<br />

und »Lernbiografien im schulischen<br />

und außerschulischen Kontext«.<br />

nur minimal von den Aufgabenteilen des<br />

Tests unterscheiden, die die gleiche Strategien<br />

und Rechenoperationen erfordern.<br />

Trotzdem klaffen Jules Vorgehensweise<br />

und ihre Leistungen in beiden Situationen<br />

gravierend auseinander.<br />

Hier zeigt sich, dass Tests – nicht nur<br />

wegen der testtheoretischen Einschränkungen<br />

(wie Standardfehlern) – bei<br />

punktuellen Erhebungen nicht das<br />

»wahre« Leistungsvermögen eines Kindes<br />

aufzeigen können. Die Beobachtung<br />

des Kontexts während der Testdurchführung<br />

und die Kontrastierung der<br />

Testergebnisse mit anderen Situationen,<br />

in denen das Kind sein Können präsentieren<br />

kann, reichern die Einschätzungen<br />

der Kompetenzen und das Gesamtbild<br />

des Kindes erheblich an. Vielfältige<br />

und situationsabhängige (Leistungs-)<br />

Einschätzungen eines Kindes, wie sie<br />

beispielsweise in den Fallstudien von<br />

LISA&KO gesammelt werden, gilt es im<br />

schulisch möglichen Rahmen anzustreben<br />

und punktuelle Leistungsüberprüfungen<br />

zu hinterfragen.<br />

Anmerkungen<br />

(1) Teile des Artikels sind auch abgedruckt<br />

in: Wagener, A. L. (2008)<br />

Andere verwendeten Fallbeispiele und Zitate<br />

entstammen Staatsarbeiten aus dem Projekt<br />

LISA&KO an der Universität Siegen.<br />

(2) Zur Wirkweise von Fernsehkonsum auf<br />

die Entwicklung von Sprach- und Lesekompetenzen<br />

vgl. z. B. Ennemoser, M. u. a. (2001).<br />

(3) Brügelmann, H. (2005)<br />

(4) vgl. etwa Brügelmann, H. (2008)<br />

(5) vgl. Höhn, I. / Bauer, R. (2007)<br />

(6) vgl. Bertschi-Kaufmann, A.<br />

(7) Vgl. hierzu auch: Brügelmann, H. /<br />

Projektteam LISA&KO (2005)<br />

Literatur<br />

Bertschi-Kaufmann, A. (1998): Lesen und<br />

Schreiben im offenen Unterricht. Sabe:<br />

Zürich.<br />

Bertschi-Kaufmann, A. (2000): Lesen und<br />

Schreiben in einer Medienumgebung.<br />

Die literalen Aktivitäten von Primarschulkindern.<br />

Aarau: Sauerländer.<br />

Brügelmann, H. und Projektteam LISA&KO<br />

(2005): Jedes Kind ist ganz besonders.<br />

Beobachtungen zu Unterschieden in den<br />

fachlichen Leistungen von Kindern. In:<br />

UniSiegen <strong>aktuell</strong> 4/2005. Universität Siegen.<br />

www.uni-siegen.de/~agprim/printbrue/jedes<br />

kindbesonders.pdf (12.12.2008)<br />

Brügelmann, H. (2005): Von Fall zu Fall.<br />

Plädoyer für einen Miss-Marple-Stil in der<br />

Bildungsforschung. Publiziert im: Forum<br />

Kritische Pädagogik forum-kritische-paed<br />

agogik.de/start/download.php?view.15<br />

(12.12.2008)<br />

Brügelmann, H. (2008): »Jungen brauchen<br />

eigene Lesebücher! Stimmt das?« In: <strong>Grundschule</strong><br />

Deutsch, 5. Jg., H. 17, 23 – 25.<br />

Ennemoser, M. / Schiffer, K. / Schneider, W.<br />

(2001): Empirisches Beispiel: Fernseh-<br />

Einfluss und Lesefertigkeit. In: Groeben, N. /<br />

B. Hurrelmann (Hrsg.): Lesekompetenz –<br />

Bedingungen, Dimensionen, Funktionen<br />

(pp. 236 – 247). Stuttgart: Juventa.<br />

Höhn, I. / Bauer, R. (2008):<br />

»Die KidsVerbraucherAnalyse 2007«<br />

www.ehapamedia.de/pdf_download/<br />

Pressemitteilung_KVA07.pdf (12.12.2008)<br />

Wagener, A. L. (2008): Schriftsprachliche und<br />

mathematische Kompetenzen, Erfahrungen<br />

und Interessen des 8-jährigen ›Tom‹ im Kontext<br />

seiner persönlichen Entwicklung und<br />

sozialen Lebenswelt. In: Huisinga, R. (Hrsg.):<br />

Beiträge zur empirischen Bildungsforschung.<br />

Siegener Studien Bd. 65. Siegen: GFL e. V.<br />

20 GS <strong>aktuell</strong> <strong>105</strong> • Februar 2009


Praxis: Wie Kinder heute leben und lernen<br />

»Jedes Kind muss<br />

erfolgreich sein können«<br />

Aus den Händen von Bundespräsident Köhler erhielt die Wartburg-<strong>Grundschule</strong> in Münster<br />

den »Deutschen Schulpreis 2008«. Mit Gisela Gravelaar und Bettina Pake, dem Schulleitungsteam<br />

der Wartburg-<strong>Grundschule</strong>, sprach Ulrich Hecker, Redakteur von »<strong>Grundschule</strong> <strong>aktuell</strong>«<br />

?<br />

Zunächst auch meinen herzlichen<br />

Glückwunsch zu diesem tollen<br />

Erfolg. Welche Bedeutung hat der<br />

Deutsche Schulpreis für die Wartburg-<br />

<strong>Grundschule</strong>?<br />

Als Schule, die sich individuell entwickelt,<br />

außergewöhnliche Wege geht, um<br />

neuen Herausforderungen pädagogisch<br />

sinnvoll begegnen zu können, fühlen<br />

wir uns in unserer Arbeit sehr bestätigt.<br />

Diese Auszeichnung stärkt auch unsere<br />

Kinder und Eltern in ihrem Gefühl,<br />

eine gute Schulwahl getroffen zu haben.<br />

Der Deutsche Schulpreis stellt enorme<br />

Ansprüche an die Bewerberschulen!<br />

Neben dem hohen Standard der bundesweiten,<br />

schulformübergreifenden<br />

Ausschreibung, haben wir eine Jury erlebt,<br />

die exzellent auf den Schulbesuch<br />

bei uns vorbereitet war und die Tauglichkeit<br />

unserer schriftlichen Bewerbung<br />

in der Praxis auf Herz und Nieren<br />

geprüft hat.<br />

Gefreut haben wir uns, dass wir in<br />

allen sechs Kriterien des Deutschen<br />

Schulpreises hervorragend abgeschnitten<br />

haben: Umgang mit Vielfalt, Unterrichtsqualität,<br />

Verantwortung, Schulleben<br />

/ Partner, Schule als lernende<br />

Organisation und eben auch in der Leistungserziehung.<br />

Wir fühlen uns sehr<br />

ernst genommen in unserer Arbeit und<br />

freuen uns über diese außergewöhnliche<br />

Würdigung.<br />

?<br />

Welche Gelingensfaktoren führen<br />

aus eurer Sicht zu einer »guten<br />

Schule«?<br />

Eine gute Schule entsteht durch ein vernetztes<br />

Zusammenspiel zwischen den<br />

verschiedenen Menschen innerhalb<br />

der Schule und den Unterstützungssystemen,<br />

die von außen auf die Schule<br />

einwirken. Schulentwicklung braucht<br />

Zeit. Gertraud Greiling, die Gründerin<br />

dieses Konzeptes, legte bereits 1979 die<br />

Laudatio auf die Wartburg-<strong>Grundschule</strong>, Münster<br />

Eine kleine pädagogische Stadt im Stadtteil,<br />

aus hellen, einladenden Kinderhäusern<br />

für überschaubare, altersgemischte<br />

Lerngruppen, miteinander verbunden<br />

durch einen elegant geschwungenen<br />

Schulflur, jedes Haus mit direktem Zugang<br />

zum Schulhof, der kein Hof ist,<br />

sondern eine Wiese mit Bachlauf. Hier ist<br />

eine Schule kinderfähig gemacht worden<br />

durch pädagogische Architektur im<br />

wörtlichen wie im übertragenen Sinn.<br />

Seit den siebziger Jahren hat die Schule<br />

sich durch Umbrüche und Umzüge,<br />

wagemutige Konzeptveränderungen<br />

und personelle Wechsel immer wieder<br />

verbessert und ist heute pädagogisch<br />

exzellent. Immer wieder war und ist sie<br />

ihrer Zeit und erst recht den Zeitgeist-<br />

Debatten voraus – mit Freiarbeit und<br />

offenem Unterricht seit den siebziger<br />

Jahren, als erste Ganztagsgrund schule<br />

der Stadt, durch Integrationsklassen,<br />

durch Percussion-, Streicher- und Bläserklassen<br />

und eine Grundschulwerkstatt,<br />

in der Pädagogen von- und miteinander<br />

lernen. Frühe Diagnostik und Förderung,<br />

reichhaltige Lernanlässe über die<br />

Schule hinaus, wirksames Handeln in<br />

Modellversuchen und Forschungsprojekten,<br />

das ist alles selbstverständlich.<br />

Selbstverständlich ist auch ein SchülerInnenparlament,<br />

das über alle wichtigen<br />

Fragen debattiert, den Zoodirektor in die<br />

Schule bittet, um zu klären, was Frösche<br />

brauchen. Ansteckend ist der Geist der<br />

Achtung und der pädagogische Enthusiasmus<br />

dieser Schule – wie die große Stille<br />

während der wöchentlichen Lesezeit,<br />

in der tatsächlich alle ohne Ausnahme<br />

nichts anderes tun als lesen oder sich<br />

vorlesen lassen, Hausmeister, Schulleiterin,<br />

Eltern, Studenten und alle Kinder.<br />

Grundsteine, von denen wir noch heute<br />

profitieren.<br />

Das Kollegium der Wartburg-<strong>Grundschule</strong><br />

ist geprägt durch eine jahrzehntelange<br />

Entwicklungsarbeit. 1979 wurde<br />

die gebundene Ganztagsschule mit wissenschaftlicher<br />

Begleitung aufgebaut.<br />

Damals entstand das Grundgerüst für<br />

unsere Schule (Tagesrhythmisierung,<br />

Aufhebung des 45-Minuten-Unterrichts,<br />

innere Differenzierung und Individualisierung<br />

als Unterrichtsprinzip, Leistungserziehung<br />

ohne Ziffernnoten, projektorientierter<br />

Unterricht, Übernahme<br />

von Verantwortung durch Kinder und<br />

Erwachsene usw.). 1996 haben wir an<br />

unserer Schule Klassen mit gemeinsamem<br />

Unterricht eingerichtet. 2001 organisierten<br />

wir die Schuleingangsphase<br />

jahrgangsübergreifend, 2006 auch die<br />

Stufe 3/4.<br />

Durch den stetigen Wandel bleiben<br />

wir flexibel, entwickeln uns und reflektieren,<br />

ob wir noch auf dem richtigen<br />

Weg sind. Das gemeinsam erstellte<br />

Schulprogramm stellt den roten Faden<br />

der Schule dar. Veränderungen werden<br />

immer vor dem Hintergrund der<br />

Grundsatzziele »Kinder sind verschieden«,<br />

»Jedes Kind muss Erfolg haben<br />

können«, »Kinder übernehmen Verantwortung«<br />

u. a., die bereits 1979 entwickelt<br />

wurden, diskutiert und immer<br />

wieder den sich verändernden Bedingungen<br />

entsprechend inhaltlich gefüllt.<br />

Mit den Jahren hat sich so eine gemeinsame<br />

Vision von Schule im Kollegium<br />

herauskristallisiert und verfestigt.<br />

Ein weiterer sehr wichtiger Baustein<br />

für unsere Entwicklung ist die Übernahme<br />

von Verantwortung durch alle<br />

an Schule Beteiligte.<br />

Jede MitarbeiterInnen-Konferenz ist<br />

eine pädagogische Fortbildung, in der<br />

sich die Mitarbeiterin / der Mitarbeiter<br />

als Lernende erfahren. Oft ist es das<br />

Kollegium selbst, das neue Entwicklungsschritte<br />

anregt.<br />

GS <strong>aktuell</strong> <strong>105</strong> • Februar 2009<br />

21


Grundschulverband · Niddastr. 52 · 60329 Frankfurt/M.<br />

Schulleitung<br />

Wartburg-<strong>Grundschule</strong><br />

Topheideweg 91 – 93<br />

48161 Münster<br />

Vorstand:<br />

Dr. h. c. Horst Bartnitzky (Vorsitzender)<br />

Ulrich Hecker (Stellvertreter)<br />

Maresi Lassek (Stellvertreterin)<br />

Minette Volkwardt (Schatzmeisterin)<br />

Fachreferate:<br />

Dr. Heike de Boer (Gestaltung der <strong>Grundschule</strong>)<br />

Prof. Dr. Hans Brügelmann (Schulische Qualitätsentwicklung)<br />

Eva Hammes-Di Bernardo (Sozialpädagogik)<br />

Prof. Dr. Friederike Heinzel (Grundschulforschung)<br />

Peter Heyer (Länger gemeinsam lernen)<br />

Andrea Pahl (Schule in der Einen Welt)<br />

Prof. Dr. Gudrun Schönknecht (Lehrer/innen-Bildung)<br />

Prof. Dr. Angelika Speck-Hamdan (Bildungsgerechtigkeit)<br />

Liebe Frau Gravelaar,<br />

liebe Frau Greiling,<br />

sehr geehrte Mitglieder des Lehrerkollegiums,<br />

sehr geehrte Eltern,<br />

hallo Kinder der Wartburg-<strong>Grundschule</strong>, Frankfurt a.M., 16. Dezember 2008<br />

im Namen des Grundschulverbandes gratuliere ich Ihnen und euch allen herzlich zum Deutschen Schulpreis<br />

2008. Wir freuen uns mit Ihrer Schule auch deshalb, weil der Grundschulverband der Wartburg- <strong>Grundschule</strong><br />

seit vielen Jahren verbunden ist und weil einmal mehr eine <strong>Grundschule</strong> geehrt wird, die moderne Grundschulpädagogik<br />

praktiziert und eigenständig weiterentwickelt:<br />

Die Wartburg-<strong>Grundschule</strong> erhielt bereits vor 27 Jahren einen Preis, nämlich den Preis des Grundschulverbandes<br />

für das Projekt Gievenbeck. Schon damals bildete sich im pädagogischen Konzept heraus, was die<br />

Schule auch heute auszeichnet: die Zuwendung zu jedem Kind, die individuelle und die soziale Förderung,<br />

der werkstattmäßige Unterricht, der Ganztag in einem Schulzweig. Gievenbeck war pädagogischer Vorreiter<br />

und zeigte, was auch unter den Bedingungen einer öffentlichen Schule möglich war. Die Wartburg-Schule gab<br />

vielen anderen Schulen ansteckendes und Mut stärkendes Beispiel. Gertraud Greiling war damals und über<br />

weitere zwei Jahrzehnte die Seele dieser pädagogischen Arbeit. Sie wurde dafür vom Bundespräsidenten mit<br />

dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.<br />

Inzwischen hat die Wartburg-<strong>Grundschule</strong> die pädagogische Arbeit weitergeführt und weiterentwickelt.<br />

Sie wird nun von Ihnen, liebe Frau Gravelaar, ebenso energisch wie beharrlich geleitet und ist ein pädagogischer<br />

Vorreiter geblieben: der pädagogisch gestaltete Ganztag, die jahrgangsübergreifende Klassenstruktur,<br />

die Integration behinderter Kinder, die Mitverantwortung auch der Kinder für das Gemeinwesen ihrer Schule<br />

und anderes mehr – das alles sind Markenzeichen einer Schule der Zukunft, die an der Wartburg-Schule gelebte<br />

Gegenwart ist. Hilfreich war sicher auch das besondere Engagement des Schulträgers, der Stadt Münster,<br />

das sich zum Beispiel in dem pädagogisch durchdachten Schulbau und Schulgelände zeigt.<br />

Was uns, die wir uns für die Weiterentwicklung der <strong>Grundschule</strong> engagieren, auch bestärkt: Der Deutsche<br />

Schulpreis ging wieder einmal in Konkurrenz zu vielen weiterführenden Schulen an eine <strong>Grundschule</strong>.<br />

Das unterstreicht die Wertschätzung der Juroren einer Schule gegenüber, die Kinder ernst nimmt, ihre<br />

Individualität wertschätzt und ihre Lernwege unterstützend begleitet, die auch den Zusammenhalt der<br />

Kinder fördert und sie politische Grunderfahrungen machen lässt. An Ihrer Schule ist denn auch belegt, dass<br />

eine solche pädagogische Arbeit des Ernstnehmens auch zu besonderen Leistungserfolgen der Kinder führt.<br />

Der Schulpreis ist also auch ein politisches Signal: Nicht die frühe Auslese, das konkurrierende Lernen, das<br />

Lernen unter Zeitdruck, das Ausscheiden lernschwächerer Kinder, die Erteilung von Zensuren machen die<br />

erfolgreiche Schule der Zukunft aus, sondern die Schule, die alle Kinder annimmt, wertschätzt und nach dem<br />

Maße ihrer individuellen Möglichkeiten fördert. Hierfür steht modellhaft die Wartburg-<strong>Grundschule</strong>.<br />

»Seht auf die <strong>Grundschule</strong>n«, so forderte der Grundschulverband Politik und Öffentlichkeit in einer ersten<br />

Erklärung zur Verleihung des Deutschen Schulpreises an Ihre Schule auf. »Seht auf die <strong>Grundschule</strong>n.<br />

Denn sie sind das Modell für erfolgreiche Schulen.« Den überzeugenden Beweis dafür haben Sie und ihr alle<br />

erbracht.<br />

Ihnen und euch eine weiterhin so gedeihliche Arbeit<br />

Ihr<br />

Dr. Horst Bartnitzky<br />

Bundesgeschäftsstelle: Rolf Kielblock M.A., Dipl.-Päd. Sylvia Reinisch<br />

Niddastraße 52 · 60329 Frankfurt/M. · Tel. (069) 776006 · Fax (069) 707 4780<br />

Vorsitzender E-Mail: info@grundschulverband.de des Grundschulverbandes<br />

· Internet: www.grundschulverband.de<br />

Bankverbindungen:<br />

Postbank Frankfurt/M. (BLZ 500 100 60) Kto. 195671-605<br />

Sparkasse Hanau (BLZ 506 500 23) Kto. 9206137


Praxis: Wie Kinder heute leben und lernen<br />

Seit Beginn der Teilnahme am Modellprojekt<br />

»Selbstständige Schule« entwickelt<br />

eine Steuergruppe, die durch<br />

das Kollegium beauftragt ist, die schulischen<br />

Entwicklungsprozesse. Alle<br />

Professionen (GrundschullehrerInnen,<br />

Sonderschulpädagogen, ErzieherInnen),<br />

Eltern und z. T. auch Kinder sind an der<br />

Steuergruppenarbeit beteiligt. Bedingt<br />

durch einen festgelegten rhythmischen<br />

Wechsel wird mit den Jahren jede Kollegin<br />

und jeder Kollege aktiv in der Steuergruppe<br />

mitgearbeitet haben und so<br />

verantwortlich an der Entwicklung der<br />

Schule beteiligt sein.<br />

Die Kinder übernehmen besonders in<br />

den offenen Unterrichtsphasen Verantwortung<br />

für ihr Lernen. Mit Hilfe von<br />

Lerntagebüchern, Lern-Landkarten<br />

usw. werden sie in die Gestaltung und<br />

Umsetzung ihrer Lernprozesse aktiv<br />

eingebunden. Klassenräte, Hausparlamente<br />

und das Schulparlament ermöglichen<br />

eine Verantwortungsübernahme<br />

im sozialen Bereich und bieten die<br />

Chance, eigenen Interessen Gehör zu<br />

verschaffen.<br />

Mit Beginn der selbstständigen Schule<br />

arbeiten wir sehr eng mit einem professionellen<br />

Berater aus der systemischen<br />

Schulentwicklung zusammen. Wir pflegen<br />

jährlich unsere Teamarbeit in einer<br />

Ganztagskonferenz. Auch Fremdevaluationen<br />

gehören zum festen Bestandteil<br />

der Schulentwicklung.<br />

?<br />

Welchen Anteil hat der Unterricht<br />

an dem jetzigen Erfolg?<br />

Gerade im Unterricht haben wir in den<br />

letzten Jahren viel Entwicklungsarbeit<br />

geleistet und unser Konzept weiter optimiert.<br />

Neben der Weiterentwicklung der<br />

individuellen Wochenplanarbeit oder<br />

der strukturierten Freiarbeit, haben wir<br />

Lerntagebücher eingeführt, die den regelmäßigen<br />

Dialog zwischen Kind und<br />

Lernbegleiter unterstützt. Das Buch hat<br />

Portfolio-Anteile, ist Ort der Refle xion<br />

(fachlich wie sozial-emotional), der<br />

Lernprozessplanung (»Was möchtest du<br />

als nächstes lernen?«).<br />

Wir haben die jahrgangsbezogenen<br />

Klassen aufgehoben und die Heterogenität<br />

durch die Bildung jahrgangsübergreifender<br />

Klassen absichtlich erhöht.<br />

Vielfalt sehen wir als eine besondere<br />

Bereicherung an. Wo »anders sein«<br />

normal ist, kann das besonders schnell<br />

lernende Kind genauso Respekt verlangen<br />

wie das Kind mit besonderen Lernschwierigkeiten.<br />

Die Notwendigkeit der<br />

inneren Differenzierung im Unterricht<br />

wird durch die jahrgangsübergreifenden<br />

Klassen noch offensichtlicher.<br />

?<br />

Die Wartburg-<strong>Grundschule</strong> ist<br />

über die Grenzen Nordrhein-Westfalens<br />

auch aufgrund ihres innovativen<br />

Ansatzes zur Leistungserziehung<br />

bekannt. Inwieweit ist ihr Konzept<br />

kompatibel mit dem neuen Schulgesetz<br />

in NRW, das z. B. Ziffernzeugnisse ab<br />

Klasse 2 und Kopfnoten vorschreibt?<br />

Unser Leistungskonzept folgt dem<br />

Grundsätzen »Kinder wollen lernen«<br />

und »Jedes Kind muss erfolgreich sein<br />

können«. Folgerichtig setzen wir eine<br />

die Individualisierung betonende Didaktik<br />

um, die eine Kultur stetiger individueller<br />

Leistungsrückmeldung und<br />

Lern-Landkarten helfen, Kinder in die Gestaltung und Umsetzung ihrer Lernprozesse aktiv einzubinden<br />

GS <strong>aktuell</strong> <strong>105</strong> • Februar 2009<br />

23


Praxis: Wie Kinder heute leben und lernen<br />

Gisela Gravelaar (links)<br />

und Bettina Pake,<br />

das Schulleitungsteam der<br />

Wartburg-<strong>Grundschule</strong><br />

die Entwicklung einer Reflexionskompetenz<br />

erfordert.<br />

Fest installiert in den Unterrichtsalltag<br />

sind die Lerntagebücher, die Kindersprechtage,<br />

Reflexionsgespräche am<br />

Ende von Arbeitseinheiten mit der gesamten<br />

Lerngruppe und individuellen<br />

Rückmeldungen mit einzelnen Kindern,<br />

die (Lern-)Verhalten spiegeln,<br />

Anregungen zur Veränderung<br />

bieten und Handlungsmuster<br />

wie Sprachlichkeiten vermitteln.<br />

Kinder wie Erwachsene<br />

beraten Kinder.<br />

Einen weiteren neuen Baustein<br />

in der Leistungserziehung<br />

entwickeln wir zzt. in<br />

einer Lerngemeinschaft mit<br />

anderen innovativen Schulen<br />

zusammen.<br />

Nach einer Elternbefragung<br />

erhielt die Steuergruppe<br />

vom Kollegium den Auftrag,<br />

ein übersichtliches und klares<br />

Instrument der Leistungsrückmeldung<br />

als Ergänzung<br />

zu den Lernentwicklungsberichten<br />

zu entwickeln. »Lern-<br />

Landkarten« unterstützen<br />

Kinder, sich selbst lehrplan orientierte<br />

Ziele zu setzen, diese zu verfolgen und<br />

umzusetzen. Durch das Fortschreiben<br />

der Lern-Landkarten werden die Kinder<br />

in die eigene Lernprozessgestaltung<br />

verantwortlich eingebunden. Der Pädagoge<br />

begleitet das Kind, indem er sich<br />

dialogbereit hält, zuhört, den Lernweg<br />

des Kindes verstehen lernt, berät, Tipps<br />

gibt usw. Auch an dieser Stelle wird sich<br />

unser Unterricht weiter verändern. Der<br />

Wochenplan wird nicht mehr Aufgaben<br />

enthalten, die der Lehrer auswählt, sondern<br />

die Aufgaben werden sich an den<br />

Zielen der Kinder orientieren und damit<br />

den »Lernprozess vom Kinde aus«<br />

unterstützen.<br />

Ziffernnoten sind für diese Art der Leistungserziehung<br />

völlig kontraproduktiv.<br />

Wir sind immer wieder erstaunt, wie<br />

leistungsfähig unsere Kinder sind. Jedes<br />

Kind strengt sich an. Positive Rückmeldungen<br />

erhält das Kind für seine<br />

individuelle Anstrengungsbereitschaft<br />

und Leistung und nicht im Vergleich<br />

mit anderen Kindern, die ganz andere<br />

Lernbiografien mitbringen. So werden<br />

auch langsam lernende Kinder nicht<br />

beschämt.<br />

Das Ministerium NRW hat uns zugesagt,<br />

unsere Instrumente der Leistungsrückmeldung<br />

zu evaluieren. Wir würden<br />

es sehr begrüßen, wenn sich gerade<br />

in diesem Bereich Türen öffneten und<br />

Schulen, die qualitative Alternativen<br />

zur Ziffernote entwickelt haben, diese<br />

Bundespräsident Horst Köhler überreicht den<br />

Deutschen Schulpreis an Gisela Gravelaar<br />

in ihrer Leistungserziehung weiter umsetzen<br />

und weiter entwickeln können.<br />

Ziffernnoten beschämen Kinder und<br />

verändern ihre Lernmotivation – auch<br />

bei leistungsstarken Kindern. Wir machen<br />

häufig die Erfahrung, dass manche<br />

Kinder Zeit brauchen, ihren Lernrhythmus<br />

zu finden. Mit einer individuellen,<br />

aufbauenden Rückmeldung, die<br />

sich am Anstrengungsgrad des Kindes<br />

orientiert, erhalten wir die Freude am<br />

Lernen aufrecht. Auch die Lernbiologie<br />

belegt, dass die Lernmotivation das tragende<br />

Element für jedes weitere Lernen<br />

ist. Die Leistungsergebnisse an unserer<br />

Schule bestätigen dies.<br />

?<br />

Das hört sich alles nach viel Arbeit<br />

an. Hat die Wartburg-Grund schule<br />

zusätzliche Ressourcen?<br />

Für unsere gebundene Ganztagsschule<br />

haben wir den üblichen 20-prozentigen<br />

Lehrerzuschlag. Die Stadt Münster<br />

finanziert pro »GU-Klasse« (Klasse mit<br />

gemeinsamem Unterricht von behinderten<br />

und nichtbehinderten Kindern)<br />

und pro Ganztagsklasse eine halbe Erzieherinnenstelle.<br />

Mit diesem Personalschlüssel<br />

versorgen wir alle Ganztagskinder<br />

35 Stunden in der Woche. In der<br />

Ganztagsschule fällt kein Unterricht<br />

wegen Krankheit oder Ähnlichem aus.<br />

Unsere Doppelbesetzungen erarbeiten<br />

wir uns, indem die Kolleginnen volle<br />

Zeitstunden (statt 45 Minuten) in den<br />

Stundenplan einbringen. Unsere Schule<br />

lebt darüber hinaus von Teilzeitkräften.<br />

Idealerweise begleitet ein Team von drei<br />

Personen eine Klasse. Dies ist aber nur<br />

möglich, wenn ausreichend Teilzeitkräfte<br />

zur Verfügung stehen.<br />

?<br />

Habt ihr als »beste Schule Deutschlands«<br />

noch weitergehende eigene<br />

Ziele?<br />

Ja, auf jeden Fall. Wir sind dabei die<br />

Lern-Landkarten zu entwickeln, nehmen<br />

an einer mehrtägigen kollegiumsinternen<br />

Fortbildung (über anderthalb<br />

Jahre) zum Kooperativen Lernen<br />

teil, sind auf dem Weg, in der Arbeitsgemeinschaft<br />

»Blick über den Zaun«<br />

Mitglied zu werden und freuen uns<br />

sehr auf die Akademie des Deutschen<br />

Schulpreises, in der wir mit den anderen<br />

Preisträgerschulen zusammenarbeiten<br />

werden.<br />

Weitere Informationen im Internet<br />

Homepage der Wartburg-<strong>Grundschule</strong>:<br />

www.muenster.org/Wartburg-<strong>Grundschule</strong>/<br />

Homepage des Deutschen Schulpreises:<br />

http://schulpreis.bosch-stiftung.de/content/<br />

language1/html/index.asp<br />

Homepage des Arbeitskreises reformpädagogischer<br />

Schulen:<br />

www.blickueberdenzaun.de/index.html<br />

24 GS <strong>aktuell</strong> <strong>105</strong> • Februar 2009


<strong>aktuell</strong> … aus dem Bundesvorstand<br />

VERA im Dilemma<br />

Im September 2008 berichtete »<strong>Grundschule</strong><br />

<strong>aktuell</strong>« über Erfahrungen und<br />

Einschätzungen zum Projekt VERA und<br />

diskutierte die Aufgabenstellungen<br />

der Vergleichsarbeiten für Deutsch und<br />

Mathematik. Zwei Monate später führte<br />

der Grundschulverband im Rahmen einer<br />

Tagung zur Pädagogischen Leistungskultur<br />

in Schmitten einen Diskurs mit<br />

Prof. Dr. Ingmar Hosenfeld (Uni Landau,<br />

Leiter des VERA-Teams) und Anke<br />

Schumacher (Aufgabenentwicklerin<br />

im Fach Deutsch).<br />

Beide Experten konnten in der Diskussion<br />

mit Grundschulfachleuten weder die<br />

Kritikpunkte zur Anlage der Vergleichsarbeiten<br />

noch zur Aufgabenstruktur<br />

ausräumen.<br />

Als Resümee bleibt: VERA trägt den<br />

Lerngegebenheiten und -voraussetzungen<br />

der Kinder nicht genügend Rechnung<br />

und formuliert Ziele, die sich im<br />

Spannungsfeld von externer Evaluation,<br />

öffentlicher Interpretation der Ergebnisse<br />

und Forderung nach interner Evalua tion<br />

nicht erreichen lassen:<br />

● eine Vergleichsperspek tive für das<br />

Leistungsprofil der eigenen Klasse durch<br />

den »fremden Blick«,<br />

● fachdidaktische Impulse über die<br />

Analyse einzelner Aufgaben,<br />

● Ursachenermittlung bei erwartungswidrigen<br />

Klassen- bzw. Schulergebnissen,<br />

● Ausgangspunkt für systemische Förderung,<br />

● Erhöhung der Diagnosegenauigkeit.<br />

Das VERA-Projekt ist damit in eine Vielzahl<br />

von Dilemmata geraten. Der Ansatz,<br />

ein Verfahren in »auswertbarer Form«<br />

für die Gesamtheit eines Jahrgangs zu<br />

präsentieren, erzwingt die Reduzierung<br />

auf ein enges Aufgabenspektrum und<br />

erhöht die Anfälligkeit für Durchführungsfehler.<br />

Falsch verstandene Erwartungen<br />

verleiten zur Fehlinterpreta tion von<br />

Ergebnissen.<br />

Dilemma 2: Anfälligkeit<br />

für Durchführungsfehler<br />

Unterschiedliche Interpretationen bei der<br />

Durchführung und Auswertung sind u. a.<br />

dem Erfolgsdruck geschuldet, der durch<br />

VERA ausgelöst wurde, vom Üben und<br />

Probedurchführen über konkrete Hilfen<br />

beim Lösen der Aufgaben bis zur Ergebniseingabe.<br />

Fehleranfällig erweist sich die<br />

Gewinnung der »weichen« Daten für den<br />

fairen Vergleich. Entscheidend aber ist,<br />

dass VERA guter Grundschularbeit nicht<br />

gerecht wird, grundlegende Anforderungen<br />

der Bildungsstandards nicht berücksichtigt,<br />

Erwartungen an individualisierende<br />

Ansätze nicht erfüllen kann und zu<br />

viele Kinder zutiefst beschämt.<br />

Dilemma 3: Widerspruch zu einem<br />

ermutigenden und förderdiagnostisch<br />

orientierten Unterricht<br />

Die Form der Durchführung, die Reaktionen<br />

der Schülerinnen und Schüler<br />

und die Ungenauigkeit in der Erfassung<br />

von Lernständen vermitteln Lehrkräften<br />

zu undifferenzierte Informationen, um<br />

förderdiagnostische Hinweise für das<br />

einzelne Kind ableiten zu können.<br />

Die Reaktionen entmutigter Kinder rufen<br />

dahingegen Fragen nach der Qualität und<br />

Sinnhaftigkeit von VERA hervor.<br />

Dilemma 4: Verallgemeinerung<br />

der Ergebnisse<br />

Die Outputorientierung der VERA-<br />

Resultate in den Fächern Deutsch und<br />

Mathematik verleitet zu Vergleichen und<br />

Folgerungen, die ihnen nicht zustehen,<br />

u. a. weil<br />

● die Aufgabenauswahl<br />

erheblich eingegrenzt ist.<br />

● die VERA-Aufgaben sprach- und<br />

leselastig sind, was die Möglichkeiten von<br />

Kindern mit Migrationshintergrund zu<br />

wenig berücksichtigt.<br />

● eine ausreichende Differenzierung der<br />

Fähigkeits stufen nicht erfolgt.<br />

Dilemma 5: »Verwertung«<br />

der Ergebnisse<br />

Die Verführung, VERA-Ergebnisse vergleichend<br />

zu nutzen, ist groß, zumal<br />

Vergleichsmöglichkeiten mitgeliefert<br />

werden. Unterschiedliches Vorgehen in<br />

den Bundesländern macht dies deutlich:<br />

z. B. das Abfragen der Ergebnisse durch<br />

die Schulämter, die Veröffentlichung<br />

von Ergebnissen (Ranking) und – wie in<br />

Bremen angedacht – die Überlegung,<br />

über den Nachweis der VERA-Ergebnisse<br />

die Berechtigung zum Übergang in ein<br />

Gymnasium nach Klasse 4 zu gewähren!<br />

Tatsächlich ist es nicht gelungen, die Ziele<br />

der Vergleichsarbeiten VERA über deren<br />

mehrjährige Durchführung zu vermitteln.<br />

Fehlende Akzeptanz kann wohl kaum der<br />

mangelnden Bereitschaft so vieler Lehrkräfte<br />

zugeschrieben werden, Schummelvorwürfe<br />

erweisen sich als wenig hilfreich.<br />

Es wäre also an der Zeit, die Grenzen<br />

des Verfahrens offensiv aufzuzeigen,<br />

um damit weiteren Fehlinterpretationen<br />

entgegenzuwirken.<br />

Maresi Lassek, Stellvertr. Vorsitzende des<br />

Grundschulverbands<br />

Dilemma 1:<br />

Berücksichtigung der<br />

Bildungsstandards<br />

Die Bildungsstandards benennen<br />

als Ziele Kompetenzen, die Kinder<br />

in der <strong>Grundschule</strong> erreichen sollen.<br />

Die Lernstandserhebung VERA kann<br />

dieses nicht abbilden (geschuldet<br />

den Möglichkeiten des Messverfahrens),<br />

es bleibt beim Abtesten enger<br />

Wissensbereiche.<br />

Kinder vermessen?<br />

GS <strong>aktuell</strong> <strong>105</strong> • Februar 2009<br />

25


<strong>aktuell</strong> … aus den Landesgruppen<br />

Baden-Württemberg<br />

Anschrift: Dipl.-Päd. Adolf Messer, Stockacker 15, 79252 Stegen;<br />

www.gsv-bw.de<br />

Kritik an VERA<br />

Beklagt wird die schlechte<br />

Qualität der Aufgaben: Sie<br />

ignorieren, wie Kinder denken,<br />

überlisten sie regelrecht,<br />

lassen keine differenzierte<br />

Auswertung zu und betrügen<br />

sie so um ihre Leistung. Vor<br />

allem Lernschwächere scheitern<br />

am Schwierigkeitsgrad<br />

und an der Aufgabenmenge.<br />

Der pädagogische Nutzen ist<br />

eher gering. Kaum neue Erkenntnisse,<br />

vor allem solche<br />

nicht, die Förderhinweise geben<br />

könnten. Tatsächlich gibt<br />

es Alternativen, die genau<br />

das leisten, und zwar prozessbezogen<br />

und lernbegleitend,<br />

nicht lediglich punktuell.<br />

Dabei ist der Aufwand, den<br />

VERA treibt, immens. Auch an<br />

der Gültigkeit und Zuverlässigkeit<br />

der Testergebnisse<br />

bestehen Zweifel. Wichtige<br />

Kompetenzen werden nicht<br />

oder nur lückenhaft erfasst.<br />

Druck wird erzeugt, das Heil<br />

wird im »Teaching to the test«<br />

gesucht. Die Landesgruppe<br />

hat eine Bilanz erarbeitet, in<br />

der die Wirkungen von VERA<br />

an ihren Zielen gemessen<br />

werden. Damit geht sie in<br />

eine kritische Diskussion mit<br />

Politikern und Organisationen<br />

im Bildungsbereich.<br />

Inklusive Schule<br />

Das Kultusministerium in<br />

Stuttgart und das Regierungspräsidium<br />

in Freiburg<br />

haben den Antrag der<br />

Inte grativen Waldorfschule<br />

Emmendingen auf endgültige<br />

Genehmigung als<br />

integrative Schule abgelehnt.<br />

Zwar wurde ein integratives<br />

Schulentwicklungsprojekt<br />

noch für ein Jahr verlängert.<br />

Jedoch wurden vier behinderte<br />

Kinder einer neuen<br />

ersten Klasse davon ausgeschlossen.<br />

Die Landesgruppe<br />

unterstützt in diesem Zusammenhang<br />

eine Petition der<br />

betroffenen Familien sowie<br />

die Aktivitäten einer Initiative<br />

www.bildung-neu-denken.<br />

de. Dazu wurde in Freiburg<br />

am 22. November 2008 eine<br />

Kundgebung organisiert,<br />

an der der Landesvorstand<br />

beteiligt war. Eine integrative<br />

Beschulung behinderter<br />

Kinder (im Sinne einer<br />

wohnortnahen Integration)<br />

in der Regelschule ist sowohl<br />

ein Gebot der Humanität<br />

wie auch der pädagogischen<br />

Vernunft. In einer integrativen<br />

Schule realisiert sich die<br />

Vision einer Gesellschaft, die<br />

Behinderungen annimmt<br />

anstatt sie auszugrenzen. Für<br />

die Betroffenen bedeutet sie<br />

bei ausreichender Zusatzbetreuung<br />

ein mehr an<br />

Entwicklungschancen. Auch<br />

für nichtbehinderte Kinder<br />

eröffnen sich wertvolle Kontakt-<br />

und Erfahrungsmöglichkeiten,<br />

die ihr Leben und<br />

ihre Entwicklung bereichern.<br />

Die pädagogischen Konzepte<br />

dazu sind schon lange ausgearbeitet<br />

und erprobt, im<br />

Inland, vor allem aber auch<br />

im Ausland. Die Integration<br />

der Sonderpädagogik in den<br />

institutionellen Kontext der<br />

Regelschule wäre ein großer<br />

Gewinn. Sie wäre finanziell<br />

ohne Aufwand zu leisten. Wir<br />

brauchen eine Pädagogik,<br />

die jedes Kind nimmt, wie es<br />

ist, und ihm die Förderung<br />

zuteil werden lässt, die es<br />

braucht, um zu den Zielen zu<br />

kommen, die für es erreichbar<br />

sind.<br />

Bayern<br />

Vorsitzende: Dr. Gudrun Schönknecht, Pfirsichweg 37b, 86169 Augsburg<br />

»Bildungspolitik<br />

als Zukunftspolitik«<br />

»Der Mensch im Mittelpunkt<br />

– Schüler, Pädagogen und<br />

Eltern stehen im Blick unseres<br />

Zukunftsministeriums« –<br />

Dr. Ludwig Spaenle, Bayerns<br />

neuer Kultusminister, und<br />

Dr. Marcel Huber, neuer Kultusstaatssekretär,<br />

beschreiben<br />

somit die Bildungs politik<br />

des Landes als Zukunftspolitik.<br />

Im Koalitionsvertrag zwischen<br />

CSU und FDP sind im<br />

Bereich Bildung u. a. folgende<br />

Arbeitsschwerpunkte,<br />

welche für die <strong>Grundschule</strong>n<br />

ausschlaggebend sind, zu<br />

finden:<br />

● Weiterhin steht jedes<br />

Kind mit seinen individuellen<br />

Fähigkeiten und Begabungen<br />

im Mittelpunkt. Junge Menschen<br />

sollen unabhängig von<br />

ihrer Herkunft ihre<br />

individuellen Fähigkeiten<br />

und Talente nutzen und<br />

entfalten können<br />

● Bildungsgerechtigkeit ist<br />

ein wesentliches Element der<br />

Chancengerechtigkeit. Hohe<br />

Priorität kommt deshalb der<br />

Durchlässigkeit des Bildungssystems<br />

zu.<br />

● Der Ausbau der Ganztagesschulangebote<br />

im Grundschulbereich<br />

wird in den<br />

nächsten Jahren vorangetrieben.<br />

● Es soll die Aufgabe der<br />

Schulgemeinschaft sein,<br />

pädagogische Konzepte<br />

vor Ort selbstständig zu<br />

entwickeln und umzusetzen.<br />

Hiermit soll die Eigenverantwortung<br />

der Schulen gestärkt<br />

werden. Dazu werden die<br />

schulrechtlichen Bestimmungen<br />

geändert.<br />

● Ein Gesamtkonzept zur<br />

Aus-, Fort- und Weiterbildung<br />

für alle pädagogischen Berufe<br />

(vom Kinderpfleger bis zum<br />

Lehrer) soll erstellt werden,<br />

um die Qualität der bayerischen<br />

Bildungseinrichtungen<br />

weiter zu verbessern.<br />

● Die Integration von Kindern<br />

mit Migrations hintergrund<br />

bleibt ein Schwerpunktthema.<br />

● Der Schnittstelle zwischen<br />

Kindergarten und <strong>Grundschule</strong><br />

soll weiterhin hohe Priorität<br />

eingeräumt werden und die<br />

Rolle des Kindergartens als<br />

Bildungs einrichtung gestärkt<br />

werden.<br />

Eine Verschiebung des Ressorts<br />

der Kindertagesstätten<br />

aus dem Sozialministerium in<br />

das Kultusministerium hätte<br />

einen Anstoß für eine noch<br />

intensivere Zusammenarbeit<br />

von Kindertagesstätten und<br />

<strong>Grundschule</strong>n geben können.<br />

Hier gab es jedoch entgegen<br />

mancher Spekulationen<br />

keine Veränderung.<br />

Am dreigliedrigen Schulsystem<br />

hält Bayern nach wie<br />

vor fest und somit auch am<br />

Übertrittsverfahren nach der<br />

4. Klasse in eine weiterführende<br />

Schule.<br />

Die Zukunft wird zeigen, was<br />

von den Zielen in Zeiten der<br />

Finanzkrise übrig bleiben<br />

wird.<br />

für die Landesgruppe:<br />

P. Hiebl, G. Klenk<br />

26 GS <strong>aktuell</strong> <strong>105</strong> • Februar 2009


<strong>aktuell</strong> … aus den Landesgruppen<br />

Bremen<br />

Gemeinsamer Vorsitz: Nina Bode-Kirchhoff, Inga Weiland;<br />

www.grundschulverband-bremen.de<br />

Bremer Schulentwicklungsplan<br />

Kurz vor Weihnachten wurde<br />

der jahrelange Streit über die<br />

Strukturen des bremischen<br />

Schulsystems von den Parteien<br />

SPD, CDU, BÜNDNIS 90/<br />

die GRÜNEN und der FDP im<br />

»Bremer Schulentwicklungsplan«<br />

beigelegt. Mit diesem<br />

Kompromiss der Parteien<br />

wurde die ursprünglich von<br />

den GRÜNEN und der SPD<br />

favorisierte »Schule für alle«,<br />

die auch vom Grundschulverband<br />

seit Jahren eingefordert<br />

wird, zugunsten des »Zwei-<br />

Säulen-Modells« für die<br />

nächste Zeit ad acta gelegt.<br />

Dies bedeutet eine Zementierung<br />

des mehrgliedrigen<br />

Schulsystems: Gymnasien,<br />

Oberschulen und Förderzentren<br />

(Sonderschulen) werden<br />

weiter getrennt voneinander<br />

bestehen. Das Elternrecht<br />

der freien Schulwahl soll<br />

beibehalten werden, wie<br />

genau das Übergangsverfahren<br />

jedoch aussehen soll,<br />

ist noch nicht abschließend<br />

geklärt. Der Schulentwicklungsplan<br />

enthält daneben<br />

auch viele positive Aspekte<br />

wie den Ausbau der Sprachförderung,<br />

die Stärkung<br />

der <strong>Grundschule</strong>n und die<br />

Unterstützung von Unterrichtskonzepten,<br />

bei denen<br />

die Unterschiedlichkeit der<br />

Berlin<br />

Kontakt: Ingrid Kornmesser, Kohlfurter Str. 4, 10999 Berlin;<br />

www.gsv-berlin.de<br />

Lernausgangslagen der<br />

Kinder im Mittelpunkt stehen<br />

soll. Eltern, die ein Kind mit<br />

sonderpädagogischem<br />

Förderbedarf haben, können<br />

zwischen einer allgemeinbildenden<br />

Schule und einem<br />

eigenständigen Zentrum für<br />

unterstützende Pädagogik<br />

wählen. Für dieses Maßnahmenpaket<br />

müsste allerdings<br />

die finanzielle Ausstattung<br />

der Schulen in erheblichem<br />

Maße verbessert werden.<br />

Dieser Aspekt wurde jedoch<br />

im »Bremer Schulentwicklungsplan«<br />

nicht geklärt – die<br />

Frage der Finanzierung blieb<br />

weitgehend offen. Mit diesen<br />

Vereinbarungen ist die Bremer<br />

Bildungspolitik für die<br />

nächsten zehn Jahre festgeschrieben<br />

– und damit das<br />

Ziel einer »Schule für alle« in<br />

weite Ferne gerückt.<br />

Terminkorrektur<br />

Im letzten Heft von <strong>Grundschule</strong><br />

<strong>aktuell</strong> (Heft Nr. 104)<br />

hat sich im Bericht aus<br />

Bremen leider ein Fehler<br />

eingeschlichen. Die erste<br />

Veranstaltung der Fortbildungsreihe<br />

mit dem Thema<br />

»Pädagogische Leistungskultur«<br />

zum Bereich Deutsch von<br />

Erika Brinkmann und Hans<br />

Brügelmann findet am<br />

20. Februar 2009 und nicht<br />

am 22. Februar statt.<br />

für die Landesgruppe:<br />

Nina Bode-Kirchhoff<br />

Forum des Runden Tisches<br />

Gemeinschaftsschule<br />

Der Runde Tisch Gemeinschaftsschule<br />

Berlin (www.<br />

rt-gemeinschaftsschuleberlin.de)<br />

veranstaltete am<br />

15. Oktober 2008 im Berliner<br />

Abgeordnetenhaus<br />

ein öffentliches Forum zur<br />

gesellschaftspolitischen,<br />

wirtschaftlichen und pädagogischen<br />

Begründung<br />

der gemeinsamen Schule<br />

für alle für die Dauer der<br />

Pflichtschulzeit. Die Erziehungswissenschaftlerin<br />

und<br />

ehemalige Bundestagspräsidentin<br />

Rita Süßmuth und<br />

der Erziehungswissenschaftler<br />

Matthias von Saldern<br />

plädierten engagiert für das<br />

längere gemeinsame Lernen<br />

und stellten eine Vielfalt<br />

stichhaltiger und praktisch<br />

verwertbarer Argumente pro<br />

Gemeinschaftsschule vor.<br />

Das 2. »Forum Gemeinschaftsschule«<br />

ist für den<br />

11. März 2009 geplant.<br />

Es geht nicht nur um die<br />

Sanierung der Gebäude!<br />

2009 sollen Berlins Schulen<br />

zusätzlich 50 Millionen Euro<br />

für ihre Sanierung bekommen,<br />

so der Regierende Bürgermeister<br />

Wowereit (SPD).<br />

Es ist wahr: Die Gebäude<br />

vieler Berliner Schulen sind<br />

in einem desolaten Zustand.<br />

Ihre Sanierung ist überfällig!<br />

Aber es geht nicht nur um<br />

Sanierung! Die heutigen<br />

Raumstandards für <strong>Grundschule</strong>n<br />

sind hoffnungslos<br />

veraltet. <strong>Grundschule</strong>n<br />

sind längst keine Schulen<br />

mehr, die Kinder – und ihre<br />

Lehrer(innen) – nur für einige<br />

Unterrichtsstunden pro<br />

Tag besuchen. Alle Berliner<br />

<strong>Grundschule</strong>n sind Ganztagsschulen<br />

mit der erklärten<br />

Aufgabe einer individuellen<br />

Förderung. Das verlangt<br />

grundsätzlich andere und<br />

mehr Räume. Wer eine<br />

leistungsfähige <strong>Grundschule</strong><br />

will, muss auch die Räume<br />

dafür schaffen. Wer möchte,<br />

dass Kinder – und die für ihre<br />

Bildung verantwortlichen<br />

Erwachsenen – ganze Tage in<br />

der Schule verbringen, muss<br />

Schulgebäude und Schulgelände<br />

zur Verfügung stellen,<br />

die den pädagogischen Erfordernissen<br />

ebenso wie den<br />

Bewegungsbedürfnissen der<br />

Kinder im Grundschulalter<br />

gerecht werden. Und, nicht<br />

zu vergessen: In Ganztagsschulen<br />

sind zweckmäßig<br />

eingerichtete Arbeitsräume<br />

für Lehrer und Erzieher unerlässlich.<br />

Die Berliner Landesgruppe<br />

will das Thema »Kinder brauchen<br />

funktionale Schulräume!«<br />

zu einem Schwerpunkt<br />

ihrer künftigen Tätigkeit<br />

machen.<br />

Umbau des Schulsystems<br />

Rot-Rot hat sich geeinigt:<br />

Es wird in Berlin ab 2010<br />

neben den Sonderschulen<br />

nur noch zwei Schulformen<br />

im Sekundarbereich geben:<br />

Gymnasien und fusionierte<br />

Haupt-, Real- und Gesamtschulen.<br />

Wie diese neue<br />

Schulform, die ebenfalls zum<br />

Abitur führt, dann heißen<br />

soll, steht beim Schreiben<br />

dieses Textes noch nicht fest.<br />

Wir werden als Grundschulverband<br />

die Reformentwicklung<br />

kritisch konstruktiv<br />

begleiten. Uns ist dabei<br />

zweierlei besonders wichtig:<br />

dass beide Schulformen auch<br />

hinsichtlich des Zugangs<br />

gleichwertig sind und dass<br />

die beabsichtigte »Zweigliedrigkeit«<br />

längerfristig nicht<br />

die Entwicklung zur Gemeinschaftsschule<br />

verbaut, zur<br />

»Einen Schule für alle«.<br />

für die Landesgruppe:<br />

Peter Heyer;<br />

peterheyer@snafu.de<br />

Donnerstag,<br />

26. Februar 2009,<br />

17 – 20 Uhr<br />

3. Forum <strong>Grundschule</strong><br />

Thema: Neue Schulanfangsphase.<br />

Versuch<br />

einer Standortbestimmung.<br />

Diskussion <strong>aktuell</strong>er<br />

Probleme und Lösungswege.<br />

Ort: Galilei-<strong>Grundschule</strong><br />

(Kreuzberg)<br />

Friedrichstr. 13 (U-Bahnhof<br />

Hallesches Tor)<br />

Weitere Informationen auf<br />

unserer website (www.gsvberlin.de).<br />

GS <strong>aktuell</strong> <strong>105</strong> • Februar 2009<br />

27


<strong>aktuell</strong> … aus den Landesgruppen<br />

Hamburg<br />

Kontakt: Susanne Peters, Güntherstraße 10, 22087 Hamburg;<br />

susanne.peters@gsv.hamburg.de<br />

»Kompetenzorientierter<br />

Unterricht als Renaissance<br />

einer lernzielorientierten<br />

Didaktik?«<br />

So lautete die Fragestellung<br />

des Vortrages von<br />

Frau Professorin Dr. Petra<br />

Hanke, Universität Münster,<br />

am 1. November 2008 im<br />

Rahmen einer Matinee. An<br />

Hand wissenschaftlicher<br />

Ergebnisse und praktischer<br />

Beispiele zeigte sie auf,<br />

dass kompetenzorientierter<br />

Unterricht nicht nur auf<br />

kognitives Lernen und auf die<br />

Entfaltung grundlegender<br />

Arbeitsweisen und Lernstrategien,<br />

sondern auch auf die<br />

Entwicklung von Selbstvertrauen,<br />

Selbstwertgefühl und<br />

Lernmotivation ausgerichtet<br />

sein muss. Diagnosekom-<br />

petenz und die Gestaltung<br />

passungsfähiger Unterrichtsarrangements<br />

nannte sie als<br />

elementare Lehrerkompetenz.<br />

In der anschließenden<br />

Diskussion wurden positive<br />

Aspekte beleuchtet, Beiträge<br />

aus der Schulpraxis verdeutlichten<br />

aber auch Unsicherheiten<br />

und Schwierigkeiten<br />

bei der Entwicklung von<br />

Kompetenzrastern und bei<br />

der Berücksichtigung unterschiedlicher<br />

Kompetenzniveaus<br />

im Unterricht.<br />

»Die Netzflickerinnen<br />

und ihre Schwestern«<br />

Unter diese Überschrift hatte<br />

Frau Professorin Dr. Mechthild<br />

Dehn, Universität Hamburg,<br />

ihre Lesung gestellt, zu<br />

der sich am 23. November<br />

2008 Dozenten und Studierende,<br />

Lehrerinnen und<br />

Lehrer einfanden. Aus ihren<br />

Veröffentlichungen hatte sie<br />

einen Text ausgewählt über<br />

eine Zweitklässlerin, die Zugang<br />

zur Schriftkultur erlangt<br />

durch das Zulassen eines<br />

schulfremden Themas, das<br />

dem Kind sehr am Herzen<br />

lag. Bei der Analyse der ersten<br />

rudimentären Versuche<br />

bis hin zu umfangreichen, liebevoll<br />

ausgestalteten Texten<br />

verdeutlichte Frau Dehn die<br />

Entwicklung der Schriftsprache,<br />

des Selbstwertgefühls<br />

und die ersten Schritte aus<br />

der sozialen Isolation des<br />

Mädchens. Damit rührte sie<br />

die Zuhörer genauso an wie<br />

mit der Interpretation der<br />

intensiven, zum Teil stark<br />

emotionalen Auseinandersetzung<br />

von Drittklässlern<br />

mit dem Liebermannbild<br />

»Die Netzflickerinnen«.<br />

für die Landesgruppe:<br />

Marion Lindner<br />

Nordkettentreffen<br />

Im Februar werden<br />

sich auf einem weiteren<br />

Nordkettentreffen Vertreter<br />

der Landesgruppen über<br />

die bildungspolitische Situation<br />

der Länder und über<br />

ihre Arbeitsschwerpunkte<br />

austauschen. Außerdem soll<br />

versucht werden gemeinsam<br />

Ideen zu entwickeln, den<br />

Grundschulverband verstärkt<br />

an junge Lehrkräfte heranzutragen<br />

und aktive Mitglieder<br />

zu gewinnen.<br />

Hessen<br />

Anschrift: Ilse Marie Krauth, Steigerwaldweg 3, 63456 Hanau<br />

Knapp daneben<br />

ist auch vorbei …<br />

»Hessen – auf dem Weg<br />

zum Bildungsland Nr. 1«,<br />

so lautete das ehrgeizige –<br />

und anmaßende – Ziel der<br />

Regierung Koch in den letzten<br />

Jahren. Nun, nachdem<br />

das Ergebnis der IGLU-Studie<br />

veröffentlicht wurde, wird<br />

offenbar, dass dieses Ziel<br />

nicht so ganz erreicht ist. Und<br />

prompt gibt es hierzulande<br />

politisch Verantwortliche,<br />

die sich darüber freuen, dass<br />

Hessen im internationalen<br />

Vergleich ja ganz gut abschneidet.<br />

Schnell ist man<br />

auch bereit, die Auswahl der<br />

Schulen als nicht repräsentativ<br />

zu bezeichnen und das<br />

Ergebnis anzuzweifeln, weil<br />

nicht sein kann, was nicht<br />

sein darf. Bei allem berechtigten<br />

kritischen Hinterfragen<br />

des Zustandekommens und<br />

der Aussagekraft dieser Studien<br />

gibt das Ergebnis doch<br />

deutliche Hinweise darauf,<br />

dass die Situation an Hessens<br />

<strong>Grundschule</strong>n alles andere<br />

als zufriedenstellend ist.<br />

Dabei wurden in der Vergangenheit<br />

Maßnahmen<br />

ergriffen, die durchaus Sinn<br />

machen.<br />

Sprachstandserhebung und<br />

Sprachförderung vor Schuleintritt,<br />

Lese- und Förderkonzepte<br />

als Bestandteil der<br />

einzelnen Schulen haben<br />

offensichtlich nicht den gewünschten<br />

Erfolg gebracht.<br />

Kinder brauchen gute äußere<br />

Bedingungen und Zeit zum<br />

Lernen und Lehrkräfte brauchen<br />

sie auch, wenn sie jedes<br />

Kind individuell fördern und<br />

nicht nur G 8-fähig machen<br />

wollen. Gerade die haben<br />

sie aber nicht. Die frühe<br />

Selektion, das Einsortieren<br />

in Bildungsschubladen und<br />

das Tempo, das sie in Klasse<br />

5 vielfach erwartet, erzeugen<br />

Druck.<br />

Druck erzeugen auch die<br />

Noten, die es – notfalls auch<br />

mit Hilfe eines der Nachhilfeinstitute,<br />

die wie Pilze aus<br />

dem Boden schießen – zu<br />

erreichen gilt.<br />

Außen vor bleiben die<br />

Kinder, die keine häusliche<br />

Unterstützung haben oder<br />

deren Eltern sich kein Institut<br />

leisten können.<br />

Landeselternbeirat, Grundschulgruppe<br />

der GEW und<br />

wir als Landesgruppe haben<br />

das Aktionsbündnis »<strong>Grundschule</strong><br />

stärken – jetzt, ohne<br />

wenn und aber« geschlossen.<br />

Wir fordern von der<br />

künftigen Landesregierung,<br />

dass eingehalten wird, was<br />

ohnehin durch Erlasslage<br />

geregelt ist:<br />

● Max. 25 Kinder in jeder<br />

Grundschulklasse<br />

● Tatsächliche Zuweisung<br />

der 2 Differenzierungsstunden<br />

pro Klasse<br />

Herr Banzer bietet eine<br />

Klassenobergrenze von<br />

25 Kindern für die ersten<br />

Klassen und eine Differenzierungsstunde.<br />

Bleibt zu hoffen, dass bei<br />

Platz 13 für Hessen doch einige<br />

bildungspolitisch Verantwortliche<br />

über Konsequenzen<br />

nachdenken, vielleicht<br />

sogar über die, dass längeres<br />

gemeinsames Lernen eine<br />

gute Lösung ist.<br />

für die Landesgruppe<br />

Ilse Marie Krauth<br />

28 GS <strong>aktuell</strong> <strong>105</strong> • Februar 2009


<strong>aktuell</strong> … aus den Landesgruppen<br />

Mecklenburg-Vorpommern<br />

Vorsitzender: Ralph Grote, Hasengang 3, 17309 Pasewalk;<br />

ralphgrote@aol.com<br />

Anhörung zum Schulgesetz<br />

Im November 2008 fand die<br />

Anhörung zur Novellierung<br />

des Schulgesetzes im Landtag<br />

Schwerin statt.<br />

Im Ergebnis der Anhörung<br />

lud die SPD-Landtagsfraktion<br />

den GSV ein, um über die<br />

schülerbezogene Stundenzuweisung<br />

zu diskutieren.<br />

Vertreter des Bildungsministeriums<br />

und des Finanzministeriums<br />

waren ebenfalls an<br />

dem Treffen beteiligt.<br />

Durch den GSV wurde dargelegt,<br />

dass gerade Schulen mit<br />

einer Mehrzügigkeit durch<br />

die schülerbezogene Stundenzuweisung<br />

benachteiligt<br />

werden. Die schülerbezogene<br />

Stundenzuweisung in der<br />

Summe aus dem Sockel und<br />

dem Faktor für die Berechnung<br />

der Stundenzuweisung<br />

ergibt für eine geringe Schülerzahl<br />

pro Jahrgang eine<br />

Zuweisung, die höher ist als<br />

das Bandbreitenmodell und<br />

sogar über der zulässigen<br />

Stundentafel für Schüler liegt.<br />

Im Gegensatz dazu wird<br />

nicht einmal die Stundentafel<br />

erfüllt, wenn eine Schule in<br />

einem Jahrgang<br />

ca. 100 Schüler hat. Ursächlich<br />

verschuldet wird dies<br />

durch den Sockelbetrag, der<br />

eine konstante Größe ist, die<br />

unberücksichtigt lässt, wie<br />

viele Schüler innerhalb eines<br />

Jahrgangs beschult werden.<br />

Im Ergebnis der Diskussion<br />

wurde das Bildungsministerium<br />

durch die Abgeordneten<br />

aufgefordert, rechtzeitig vor<br />

dem Beschluss des Schulgesetzes<br />

im Januar Lösungen<br />

für dieses Problem vorzuschlagen.<br />

IGLU in MV<br />

Ab dem Schuljahr 2009/10<br />

bekommen alle <strong>Grundschule</strong>n<br />

zusätzliche Stunden für<br />

die Stärkung der Lesekompetenz<br />

mit dem Ziel, noch<br />

besser auf jeden einzelnen<br />

Schüler eingehen zu können<br />

und ihn zu fördern.<br />

Hintergrund dieser Entscheidung<br />

sind Schlussfolgerungen<br />

aus dem Abschneiden<br />

der Grundschüler aus MV im<br />

IGLU-Vergleich.<br />

Dabei zeigte sich, dass Kinder<br />

aus Elternhäusern mit vielen<br />

Büchern einen deutlichen<br />

Vorsprung vor Kindern aus<br />

Elternhäusern mit wenigen<br />

Büchern haben.<br />

Die stärkere individuelle<br />

Leseförderung soll Kindern<br />

zugutekommen, denen das<br />

Lesen noch schwerfällt.<br />

Im Ländervergleich liegt<br />

Mecklenburg-Vorpommern<br />

in der Lesekompetenz insgesamt<br />

auf Platz 6.<br />

Bezogen auf den Anteil von<br />

Spitzenlesern, die gut abstrahieren,<br />

verallgemeinern und<br />

begründen können, belegte<br />

Mecklenburg-Vorpommern<br />

nach Bayern und Thüringen<br />

sogar Platz 3.<br />

Auch beim Lesen und<br />

Verstehen von literarischen,<br />

informierenden oder wissensbasierten<br />

Texten zeigten<br />

die Schülerinnen und Schüler<br />

aus Mecklenburg-Vorpommern<br />

mit jeweils einem<br />

6. Platz gute Leistungen.<br />

Die Studie macht allerdings<br />

auch deutlich, dass Kinder<br />

aus Elternhäusern mit vielen<br />

Büchern einen deutlichen<br />

Vorsprung vor Kinder aus<br />

Elternhäusern mit nur wenigen<br />

Büchern haben.<br />

Minister Tesch: »Wir müssen<br />

alle Kinder gleichermaßen<br />

lesestark machen – Lesen<br />

ist die Basis für alle weiteren<br />

Lernerfolge. Die stärkere<br />

individuelle Förderung, die<br />

wir mit der Selbstständigen<br />

Schule im Blick haben, wird<br />

insbesondere denjenigen<br />

Schülerinnen und Schülern<br />

zugutekommen, denen das<br />

Lesen noch etwas schwerfällt.«<br />

Minister Tesch verweist außerdem<br />

darauf, dass es noch<br />

besser gelingen muss, in den<br />

weiterführenden Schulen an<br />

die guten Leseleistungen der<br />

ersten Schuljahre anzuknüpfen.<br />

Hier wird mit der Schulgesetzänderung<br />

für mehr<br />

Selbstständigkeit von Schule<br />

künftig weiteres Leistungspotential<br />

freigesetzt.<br />

Das neue Buch des Grundschulverbandes<br />

125 125 Beiträge zur Reform der <strong>Grundschule</strong><br />

Schule ausßerhalb der Schule<br />

Schule außerhalb der Schule<br />

Lehren und Lernen an außerschulischen Orten<br />

Karlheinz Burk,<br />

Marcus Rauterberg,<br />

Gudrun Schönknecht<br />

(Hrsg.)<br />

Band 125, ISBN 3-930024-97-7<br />

Best.-Nr. 1083, 17,– € / f. Mitgl. 13,– €<br />

Wird ein Ort im schulischen Zusammenhang auf gesucht, wird er<br />

zu einem schulischen Lern- oder Lehrort, zur »Schule außerhalb<br />

der Schule«. Gründe, solche Orte aufzusuchen, liegen vor allem in<br />

den besonderen Möglichkeiten, die sie bieten.<br />

Ob dabei auch inhaltlich und methodisch offener und anders<br />

gelernt und gearbeitet wird als in der Schule, ist auch abhängig<br />

von der didaktischen Vorbereitung der Klasse, der Lehrerin oder<br />

des Lehrers sowie von den pädagogisch-didaktischen Angeboten<br />

und Programmen vor Ort.<br />

Von solchen Orten, den Begründungen, solche Orte aufzusuchen<br />

und den Möglichkeiten, dort zu lehren und zu lernen, ist in diesem<br />

Band die Rede.<br />

Es kommen AutorInnen zu Wort, die aus unter schiedlichen<br />

Perspektiven, Erfahrungen und Überzeugungen schreiben.<br />

Diese Vielfalt gibt einen Eindruck von den mannigfaltigen<br />

Möglichkeiten des Lehrens und Lernens außerhalb der Schule.<br />

Mit CD<br />

GS <strong>aktuell</strong> <strong>105</strong> • Februar 2009<br />

29


<strong>aktuell</strong> … aus den Landesgruppen<br />

Nordrhein-Westfalen<br />

Vorsitzende: Gisela Cappel, Habichtstr. 1d, 58285 Gevelsberg<br />

www.grundschulverband-nrw.de<br />

Mitgliederversammlung<br />

2008: Pädagogische Leistungskultur<br />

konkret<br />

Die diesjährige Mitgliederversammlung<br />

des GSV NRW<br />

fand am 25. Oktober 2008<br />

an einem renommierten<br />

Ort statt: In der Bielefelder<br />

Laborschule, die in den<br />

siebziger Jahren von Hartmut<br />

von Hentig gegründet wurde,<br />

trafen sich Vorstand und interessierte<br />

Mitglieder, um Realisierungsmöglichkeiten<br />

einer<br />

pädagogischen Leistungskultur<br />

›vor Ort‹ kennenzulernen.<br />

Nach einem anregenden und<br />

überzeugenden Einführungsvortrag<br />

von Ulrich Bosse,<br />

dem Leiter der Primarstufe,<br />

in das pädagogische<br />

Leistungskonzept der Schule<br />

konnten die Teilnehmer und<br />

Teilnehmerinnen bei einem<br />

ausführlichen Rundgang<br />

durch die Schule Einblick in<br />

gestaltete Lernwelten gewinnen,<br />

die dem selbsttätigen<br />

Lernen und Erforschen der<br />

Kinder sowie einem demokratischen<br />

Zusammenleben<br />

hohe Priorität einräumen.<br />

Mit diesem überzeugenden<br />

Beispiel einer notenfreien<br />

<strong>Grundschule</strong> kontrastierten<br />

Mitgliederversammlung des GSV NRW in der Bielefelder Laborschule<br />

die kurz vorher bekannt<br />

gewordenen Pläne des<br />

Ministeriums zur Verschärfung<br />

der Notenpraxis in der<br />

<strong>Grundschule</strong>, die bereits ab<br />

Klasse vier »die Praxis der<br />

weiterführenden Schulen<br />

einführen soll«. Diese Überlegungen<br />

lehnte die MV mit<br />

einem Beschluss ab, der ein<br />

eindeutiges Bekenntnis zur<br />

individuellen Förderung aller<br />

Kinder ohne Ziffernnoten<br />

enthält – nachzulesen auf der<br />

Homepage!<br />

Neue Kopfnoten<br />

Versprochen war vom<br />

Ministerium eine Evaluation<br />

der im letzten Jahr wieder<br />

eingeführten Kopfnoten<br />

– herauskommen ist eine<br />

›Lightversion‹ der Kopfnoten,<br />

die aber nicht die grundsätzliche<br />

Fragwürdigkeit dieses<br />

Instrumentariums reflektiert,<br />

sondern eher an eine<br />

Würfelrunde erinnert, in der<br />

die verschiedenen Kategorien<br />

beliebig reduziert und<br />

gemischt wurden.<br />

Ulrich Bosse, der Leiter der<br />

Primarstufe der Laborschule<br />

Bielefeld, berichtete anregend<br />

über das pädagogische Leistungskonzept<br />

der Schule<br />

Deutscher Schulpreis<br />

für die Wartburg-Schule<br />

Münster<br />

Freude herrscht beim GSV<br />

über die Auszeichnung der<br />

Wartburg-Schule in Münster<br />

mit dem deutschen Schulpreis<br />

– auch diese Schule<br />

steht für eine langjährige<br />

und erfolgreiche pädagogische<br />

Praxis, die sich einer<br />

ermutigenden und differenzierten<br />

Leistungsrückmeldung<br />

ohne Noten verpflichtet<br />

weiß und seit langem<br />

reformorientiert arbeitet.<br />

Es bleibt unverständlich,<br />

dass die bildungspolitischen<br />

Entscheidungsträger in NRW<br />

diese Beispiele gelingender<br />

und erfolgreicher Schulen<br />

nicht zur Kenntnis nehmen!<br />

Mehr Informationen zu allen<br />

Themen auf unserer Homepage<br />

www.grundschul<br />

verband-nrw.de.<br />

für die Landesgruppe:<br />

Beate Schweitzer<br />

Einladung: Beispiele<br />

einer pädagogischen<br />

Leistungskultur –<br />

Dinslaken , 14. März 2009<br />

Der GSV lädt herzlich ein zu<br />

einer Veranstaltung in der<br />

Averbruchschule in Dinslaken,<br />

um möglichst regional die<br />

Überlegungen und Möglichkeiten<br />

einer kindgerechten,<br />

pädagogisch orientierten<br />

Leistungskultur vorstellen zu<br />

können.<br />

30 GS <strong>aktuell</strong> <strong>105</strong> • Februar 2009


<strong>aktuell</strong> … aus den Landesgruppen<br />

Saarland<br />

Vorsitzende: Lilo Groll, Holbeinstr. 11, 66128 Saarbrücken<br />

Fieber genau zu messen ist<br />

noch keine Diagnose,<br />

Fieber erfolgreich zu senken<br />

noch keine Therapie<br />

In Zusammenhang mit der<br />

Landesgruppenversammlung<br />

hat die Landesgruppe<br />

Saarland am 29. September<br />

2008 im Institut für Lehrerfort-<br />

und -weiterbildung zu<br />

einem Vortrag von Prof. Dr.<br />

Hans Brügelmann (Universität<br />

Siegen) eingeladen. Der<br />

Titel des Vortrages lautete:<br />

»Fieber genau zu messen ist<br />

noch keine Diagnose, Fieber<br />

erfolgreich zu senken noch<br />

keine Therapie.«<br />

Herr Dr. Brügelmann relativierte<br />

die Bedeutung von<br />

Pisa und Co. für das pädagogische<br />

Handeln vor Ort.<br />

Solche Verfahren eignen<br />

sich nur zum Erfassen von<br />

Symptomen, können also<br />

ähnlich wie ein Thermometer<br />

als Warnlampe fungieren; als<br />

Qualitätsmaß für »gute Schule«<br />

oder »guten Unterricht«<br />

hingegen taugen sie nicht.<br />

Statistische Daten gaukeln<br />

eine Allgemeingültigkeit nur<br />

vor. De Fakto sprechen sie<br />

nicht für sich, sondern sind<br />

hoch interpretationsbedürftig.<br />

Jede Lehrkraft muss ihren Unterricht<br />

selbst evaluieren im<br />

Sinne einer »pädagogischen<br />

Leistungskultur«, die sich wie<br />

folgt darstellt:<br />

● Entwicklungsdokumentation<br />

von Fortschritten statt<br />

punktueller Lernstandsvergleiche<br />

● Beachtung der Tiefenstruktur<br />

von Leistungen<br />

(Fehler nicht gleich Fehler)<br />

● Individuelle Förderorientierung<br />

statt zunehmender<br />

Standardisierung der Anforderungen<br />

● Dialogische Lernberatung<br />

statt Leistungsbeurteilung<br />

»ex cathedra«<br />

In einer solchen Sicht sind<br />

standardisierte Tests eine<br />

Erweiterung des Repertoires,<br />

nicht aber ein Ersatz von<br />

Fremdurteil und Selbsteinschätzung.<br />

Hans Brügelmann gab<br />

vielfältige Beispiele für eine<br />

solche Leistungskultur. In<br />

einer anschließenden angeregten<br />

Diskussion wurde der<br />

Widerspruch zwischen dem<br />

Ruf nach stärkerer Differenzierung<br />

/ Individualisierung<br />

und dem gleichzeitigen Ruf<br />

nach Bildungsstandards (alle<br />

sollen zu einem gleichen<br />

Zeitpunkt das Gleiche erreicht<br />

haben) angesprochen.<br />

Auch das Fehlen von kontextbezogenen<br />

Beschreibungen<br />

(welche Rahmenbedingungen<br />

führen zum Erfolg und<br />

welche nicht) wurde kritisch<br />

beurteilt.<br />

Als besonders problematisch<br />

empfanden alle Teilnehmer<br />

die Tatsache, dass Schulreform<br />

Zeit braucht, leider aber<br />

jeden Tag populistisch neue<br />

Reformen angekündigt und<br />

wieder verworfen würden.<br />

Die Landesgruppe dankt<br />

Herrn Brügelmann für den<br />

äußerst interessanten und<br />

kurzweiligen Vortrag.<br />

Folien finden sich unter:<br />

http://www.agprim.unisiegen.de/printbrue.htm<br />

In der anschließenden<br />

Mitgliederversammlung<br />

wurde der Vorstand der<br />

Landesgruppe Saarland neu<br />

gewählt:<br />

Lilo Groll (Vors. Del.),<br />

Ulla Huberich (Stellv.),<br />

Sandra Behrend (Stellv.),<br />

Carolin Eifler (Schatzmeisterin)<br />

und<br />

Katrin Jungfleisch (Schriftführerin).<br />

4. Februar 2009<br />

Grundschultag in<br />

Merzig<br />

in Zusammenarbeit mit dem<br />

Saarländischen Lehrerinnenund<br />

Lehrerverband, dem<br />

Institut für Lehrerfort- und<br />

-weiterbildung, dem Institut<br />

für Pädagogik und Medien<br />

und dem Verband der Schulmusiker<br />

Schleswig-Holstein<br />

Vorsitzende: Dr. Beate Blaseio, Am Binnenhafen 52, 25813 Husum;<br />

www.grundschulverband-sh.de<br />

Experimente,<br />

Mitgliederversammlung,<br />

Vorstandswahl<br />

Am 7. Oktober 2008 folgten<br />

nachmittags ca. 30 Lehrerinnen<br />

und Lehrer der Einladung<br />

in die GS Groß Vollstedt,<br />

um sich praxisnahe Anregungen<br />

für das Experimentieren<br />

mit Grundschulkindern zu<br />

holen. Nach einer Einführung<br />

von Dr. Beate Blaseio über<br />

die Bedeutung des Experimentierens<br />

im Sachunterricht<br />

folgte das Selber-Tun.<br />

In drei Klassenräumen<br />

waren motivierende Stationen<br />

aufgebaut, die zum<br />

Forschen aufforderten. Die<br />

einfach nachzumachenden<br />

Experimente fanden großen<br />

Anklang.<br />

Auf der anschließenden Mitgliederversammlung<br />

wurde<br />

Rückschau auf die vergangenen<br />

zwei Jahre gehalten und<br />

Michael Lorbeer-Andresen<br />

für seine langjährige Mitarbeit<br />

im Vorstand der Landesgruppe<br />

gedankt. Die anschließende<br />

Vorstandswahl<br />

ergab folgendes Ergebnis:<br />

Dr. Beate Blaseio<br />

( Vorsit zende)<br />

Michael Lorbeer-Andresen<br />

(Delegierter)<br />

Jutta Schweitzer (Schriftführerin)<br />

Jörg Keyser (Kassenwart)<br />

Sabine Jesumann,<br />

Andrea Klimmek<br />

(Öffentlichkeits arbeit)<br />

Wir gratulieren Susanne Rink,<br />

die ein Mädchen geboren hat<br />

und sich weiterhin aktiv in<br />

die Vorstandsarbeit mit einbringen<br />

will. Erwähnenswert<br />

ist die Wiederaktivierung von<br />

Jörg Keyser, der ursprünglich<br />

zur Gruppe der Gründungsmitglieder<br />

der Landesgruppe<br />

gehörte. Wir danken den<br />

Mitgliedern für ihr Vertrauen<br />

und hoffen auch in Zukunft<br />

unseren Einsatz im Sinne reformorientierter<br />

Grundschularbeit<br />

erbringen zu können.<br />

VERA und der Verrat<br />

Im Herbst tourte der Staatssekretär<br />

Herr Dr. Meyer-<br />

Hesemann durch die Landkreise.<br />

Auf verpflichtenden<br />

Schulleiterdienstversammlungen<br />

wurde eindringlich<br />

auf die Wichtigkeit der<br />

VERA-Ergebnisse hingewiesen.<br />

Schade nur, dass eine<br />

Rückmeldungsmöglichkeit<br />

zwar angekündigt, aber<br />

deutlich nicht erwünscht<br />

war. Der Hinweis auf Kritik<br />

aus dem Grundschulverband<br />

wurde als Polemik und nicht<br />

wissenschaftlich begründbar<br />

abgeschmettert. Das wirkte<br />

wie ein doppelter Verrat.<br />

Erstens gibt es kein schlüssiges<br />

Nachdenken über die<br />

Nützlichkeit von VERA in der<br />

<strong>Grundschule</strong> im Ministerium,<br />

zweitens sind die Ergebnisse<br />

entgegen der Versprechungen<br />

von ministerieller Ebene<br />

in den Schulporträts veröffentlicht<br />

worden.<br />

für die Landesgruppe: Sabine<br />

Jesumann, Andrea Klimmek<br />

GS <strong>aktuell</strong> <strong>105</strong> • Februar 2009<br />

31


<strong>aktuell</strong> … aus den Landesgruppen<br />

Rheinland-Pfalz<br />

Anschrift: Werner Lang, Am Wingertsberg 8, 67756 Hinzweiler<br />

Fortbildungen<br />

Pädagogische Leistungskultur<br />

– und was die neue<br />

Grundschulordnung dazu<br />

sagt, diese seit den Sommerferien<br />

laufende Fortbildungsreihe<br />

der Landesgruppe RLP<br />

wurde bislang mit großem<br />

Erfolg von rund 500 Lehrerinnen<br />

und Lehrern wahrgenommen.<br />

Fragen zur<br />

pädagogischen Leistungskultur<br />

sowie zu Chancen und<br />

Verpflichtungen der neuen<br />

Grundschulordnung konnten<br />

an verschiedenen Tagungsorten<br />

in Rheinland-Pfalz auf<br />

den Grund gegangen werden.<br />

Die Powerpoint-Präsentation<br />

zur Fortbildung finden<br />

Sie auf der Homepage:<br />

www.wl-lang.de (Grundschulpädagogik<br />

/ Fortbildungen/Pädagogische<br />

Leistungskultur).<br />

für die Landesgruppe:<br />

Konstanze Rosinus<br />

Grundschultag 2009<br />

Basierend auf dem Leitprinzip<br />

<strong>Grundschule</strong> auf dem<br />

Weg zur neuen Lernkultur<br />

wird am 6. Oktober 2009<br />

an der Univer sität Koblenz-<br />

Landau, Campus Landau,<br />

der nächste Grundschultag<br />

mit dem<br />

Schwerpunkt Kunst – Musik<br />

– Bewegung stattfinden.<br />

Dieser Termin ersetzt den<br />

bisher angekündigten<br />

(3. März 2009) aus organisatorischen<br />

Gründen. Nähere<br />

Informationen werden nach<br />

den Sommerferien 2009 auf<br />

der Homepage der Landesgruppe<br />

(s. o.) veröffentlicht.<br />

Thüringen<br />

Steffi Jünemann, Hauptstraße 7, 99734 Nordhausen<br />

10 Jahre Schuleingangsphase<br />

in Thüringen<br />

Am 21. November 2008<br />

folgten Erzieher, Lehrer, Wissenschaftler<br />

und Politiker der<br />

Einladung des Thüringer Instituts<br />

für Lehrerfortbildung,<br />

Lehrplan und Medien (Thillm)<br />

in den Festsaal des Erfurter<br />

Rathauses, um gemeinsam<br />

auf die Ergebnisse des Schulentwicklungsprojektes<br />

»Begleitete<br />

Schuleingangsphase<br />

in Thüringen entwickeln«<br />

(BeSTe) zurückzublicken und<br />

die Weiterentwicklung der<br />

Schuleingangsphase anzustoßen.<br />

10 Jahre Schuleingangsphase<br />

heißt in erster Linie 10 Jahre<br />

Innovation aus wissenschaftlicher<br />

und pädagogischer<br />

Sicht, heißt immanentes<br />

Fortschreiten der Thüringer<br />

<strong>Grundschule</strong>n.<br />

Vor 10 Jahren, damals noch<br />

unter der Bezeichnung<br />

»Veränderte Schuleingangsphase«,<br />

war es eine kleine<br />

Gruppe von <strong>Grundschule</strong>n,<br />

die sich unter der wissenschaftlichen<br />

Begleitung von<br />

Frau Prof. Carle dem gemeinsamen<br />

Ziel – Jedem Kind die<br />

bestmögliche Entwicklung<br />

zu ermöglichen – stellten.<br />

Die Ergebnisse des Schulversuches<br />

spiegeln sich u. a. in<br />

der Novellierung des Thüringer<br />

Schul- und Förderschulgesetzes<br />

wider. Das nachfolgende<br />

Projekt »optimierte<br />

Schuleingangsphase« setzte<br />

sich mit der Frage nach der<br />

Einbindung des erworbenen<br />

Wissens in die Ausbildung<br />

von Lehrern und die Begleitung<br />

der <strong>Grundschule</strong>n<br />

auseinander. Die daraus<br />

gewonnenen Erkenntnisse<br />

führten zum o. g. Schulentwicklungsprojekt<br />

»BeSTe«.<br />

Aktuell beteiligen sich<br />

89 Thüringer <strong>Grundschule</strong>n<br />

mit Begleitung und eine Vielzahl<br />

weiterer <strong>Grundschule</strong>n<br />

an diesem Projekt. Qualitative<br />

Ziele wie »Allen Kindern<br />

die Chance zum Lernen in<br />

ihrer <strong>Grundschule</strong> geben«,<br />

heißt aus unserer Sicht vor<br />

allem: die <strong>Grundschule</strong> kindgerecht<br />

gestalten.<br />

Altersgerechte Einschulung,<br />

zieldifferenter, klassenstufenübergreifender<br />

und<br />

gemeinsamer Unterricht,<br />

Begabungsförderung,<br />

flexible Schuleingangsphase,<br />

anregende Lernumgebung<br />

sind nur einige der anstehenden<br />

Aufgaben, um o. g.<br />

Ziel zu erreichen. Um aus<br />

Visionen Wirklichkeit werden<br />

zu lassen, wurden an allen<br />

Schulamtsbereichen professionelle<br />

Unterstützersysteme<br />

initiiert. Spezielle Berater<br />

für die Schuleingangsphase<br />

mit Grundschul- und Förderschulkompetenz<br />

(Tandems)<br />

zeichnen sich u. a. durch eine<br />

umfangreiche Qualifizierung<br />

in eben diesen Bereichen aus.<br />

Ihnen obliegt es:<br />

● Pädagogen und Schulen<br />

in ihren Bestrebungen zum<br />

klassenstufenübergreifenden<br />

und Gemeinsamen Unterricht<br />

zu informieren, fortzubilden,<br />

zu beraten,<br />

● neue Schulen für die<br />

Einführung dieser Schuleingangsphase<br />

zu gewinnen,<br />

● Schulen bei der Entwicklung<br />

eines gemeinsamen<br />

Planes zur Gestaltung desselben<br />

zu unterstützen,<br />

● Unterrichtsberatungen<br />

anzubieten,<br />

● schulinterne Fortbildungen<br />

für die Gestaltung einer<br />

förderwirksamen Schuleingangsphase<br />

zu forcieren,<br />

● BeSTe-Schulen im Entwicklungsvorhaben<br />

»Eigenverantwortliche<br />

Schule« zu<br />

unterstützen.<br />

All diese Aufgaben sind<br />

ohne die Einbindung der<br />

Eltern, die Mitwirkung von<br />

allen Pädagogen und die<br />

Unterstützung durch die<br />

Administration nicht möglich.<br />

Herr Kultusminister Bernward<br />

Müller forderte in seiner<br />

Rede u. a. Kreativität. Wir<br />

denken, dass dieser Forderung<br />

eine Offenheit in methodisch-organisatorischem,<br />

didaktisch-inhaltlichem und<br />

pädagogisch-politischem Bereich<br />

zu Grunde liegen muss.<br />

für die Landesgruppe:<br />

Steffi Jünemann<br />

Am 9. Mai 2009 findet das<br />

traditionelle Symposium<br />

»Lernen im<br />

Miteinander von<br />

Kindertageseinrichtungen<br />

und Schule« in der Universität<br />

Erfurt statt. Alle interessierten<br />

Eltern, Erzieher, Lehrer<br />

und Politiker sind herzlich<br />

eingeladen. Die Einladung<br />

der Mitglieder der Landesgruppe<br />

Thüringen des<br />

Grundschulverbandes e. V.<br />

erfolgt über den Postweg.<br />

32 GS <strong>aktuell</strong> <strong>105</strong> • Februar 2009


Beitrittserklärung<br />

An den<br />

Grundschulverband e.V.<br />

Niddastraße 52<br />

60329 Frankfurt/Main<br />

Ich beantrage die Mitgliedschaft im<br />

Grundschulverband e. V. – gegr. als Arbeitskreis <strong>Grundschule</strong><br />

Als Mitglied erhalte ich jährlich zwei neue Mitgliedsbände aus der Reihe »Beiträge zur Reform<br />

der <strong>Grundschule</strong>« sowie die 32-seitige Vierteljahreszeitschrift »<strong>Grundschule</strong> <strong>aktuell</strong>« jeweils nach<br />

Fertigstellung kostenfrei zugesandt.<br />

Den angekreuzten Betrag<br />

Mitgliedsbeitrag: 55,– €<br />

Ermäßigter Beitrag (bitte belegen!): 33,– €<br />

(für Studierende, Arbeitslose, Lehramts anwärter/innen sowie für<br />

Teilzeitbeschäftigte in den neuen Ländern)<br />

Förderbeitrag: mindestens 33,– €<br />

(keine Mitgliedsbände, nur Zeitschrift – für Pensionäre, die weiterhin <strong>aktuell</strong> informiert werden<br />

wollen und andere Förderer, die die Arbeit des Grundschul verbandes unterstützen möchten)<br />

zahle ich nach Erhalt der Jahresrechnung per Bankeinzug<br />

Konto Nr. _______________________<br />

Sie können sich auch im Internet anmelden<br />

(www.grundschulverband. de) oder<br />

uns diese Beitritts erklärung faxen an<br />

Fax 0 69 / 7 07 47 80<br />

Bankleitzahl _____________________________________<br />

Bankname ________________________________________________________________________<br />

Name ____________________________________________________________________________<br />

Straße und Hausnummer ____________________________________________________________<br />

PLZ und Ort _______________________________________________________________________<br />

E-Mail________________________________________________Tel. _________________________<br />

__________________________________________________________________________________<br />

Datum und Unterschrift<br />

Grundschul<br />

verband<br />

Als Mitglied im<br />

Grundschulverband …<br />

… unterstützen Sie unsere Ziele:<br />

»Die pädagogisch begründeten<br />

Ansprüche der Kinder dieser Schulstufe<br />

zu vertreten, die Grundschulpädagogik<br />

weiter zu ent wickeln<br />

und die Stellung der <strong>Grundschule</strong><br />

im öffent lichen Bildungswesen zu<br />

verbessern.« (aus der Satzung)<br />

… erhalten Sie jährlich<br />

zwei neue Bände der Reihe<br />

»Beiträge zur Reform der <strong>Grundschule</strong>«<br />

… erhalten Sie viermal jährlich<br />

die 32-seitige Mitglieder zeitschrift<br />

»<strong>Grundschule</strong> <strong>aktuell</strong>« mit Beiträgen<br />

zur Bildungs politik, aus der Grundschul<br />

forschung und zur pädagogischen<br />

Praxis<br />

Für Ihren Beitritt können Sie<br />

sich aus der Ihnen zugehenden<br />

Wunschliste einen Band aussuchen.<br />

Nur selbstbewusste Kinder<br />

können sich wehren.<br />

Das Sicher-Stark-Team macht Kinder in ganz Deutschland<br />

stark gegen Gewalt und Missbrauch. Es wurden<br />

bereits über 300.000 Kinder und Eltern in ganz<br />

Deutschland geschult! Unsere soziale Initiative ist<br />

einer der führenden Anbieter auf diesem Gebiet<br />

und benötigt weitere Geldspender, Förderer und<br />

Sponsoren. Die neue Hörbuch-CD „Achtung! Starkes<br />

Kind!“ ist sehr gut geeignet, Eltern und Lehrern<br />

und allen, die mit Grundschulkindern arbeiten,<br />

zu vermitteln, wie sie ihre Kinder sicher und stark<br />

machen können.<br />

Helfen Sie mit, damit keine Kinder mehr missbraucht<br />

werden oder einem Gewaltverbrechen<br />

zum Opfer fallen. Es gibt jetzt sehr effektive Möglichkeiten,<br />

sie zu schützen. Kostenlose Hörproben<br />

unter www.sicher-stark.de | info@sicher-stark.de<br />

Servicenummer: 01 80 - 55501332*<br />

Servicefax: 01 80 - 55501330<br />

*14 Cent die Minute aus dem deutschen Festnetz<br />

Spendenkonto:<br />

Sicher-Stark-Team<br />

Kto.-Nr. 100113520<br />

BLZ 37060590<br />

Sparda Bank Euskirchen<br />

www.sicher-stark.de


Allen<br />

Kindern<br />

Bundesgrundschulkongress 2009<br />

Universität<br />

Frankfurt am Main<br />

Campus West<br />

Grüneburgplatz 1<br />

11.-12. September<br />

gerecht<br />

werden<br />

Anmeldung per Post an den Grundschulverband<br />

Niddastraße 52, 60329 Frankfurt am Main<br />

oder per Fax 069 -707 47 80<br />

oder über das Internet mit dem eingestellten<br />

Formular: www.grundschulverband.de<br />

www.hek-design.de

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