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Freiräume

Querspur: Das Zukunftsmagazin des ÖAMTC Ausgabe 08/2015

Querspur: Das Zukunftsmagazin des ÖAMTC
Ausgabe 08/2015

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Querspur Das Zukunftsmagazin des ÖAMTC

Ausgabe 08/2015

FREIRÄUME

FREIRÄUME

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FREIRÄUME

Wie hängen

Freiräume mit

Vertrauen zusammen?

Ob Freiräume gewährt werden, hängt eng mit dem

Vertrauen in eine Person zusammen. Das wird nicht

nur im Privaten so erlebt, sondern spielt auch in der

Arbeitswelt eine große Rolle. Diese Freiräume am

Arbeitsplatz sind bekanntlich Biotop für neue

Ideen und Innovation und werden in der

Managementliteratur unter dem Begriff Empowerment

geführt. Verschiedene Maßnahmen wie u. a.

die Teilhabe der Mitarbeiter an Entscheidungen,

Übernahme von Verantwortung und ständiges

Weiterlernen sollen die Motivation und

die Fähigkeiten des Einzelnen stärken,

was wiederum der gesamten

Organisation zugute

kommt.

Wird es enger

auf der Welt?

Wo wird

die Welt am

stärksten wachsen?

Das stärkste Bevölkerungswachstum

ist für die heutigen Entwicklungsländer

vorhergesagt. Auf dem afrikanischen

Kontinent soll sich die Zahl der Menschen

bis 2050 verdoppeln. In Europa hingegen

ist bis 2050 ein Rückgang der

Bevölkerung um ca. 100 Millionen

Menschen (von 742 Mio.

auf 639 Mio.)

prognostiziert.

Impressum und Offenlegung

Medieninhaber und Herausgeber

Österreichischer Automobil-, Motorrad- und Touring Club (ÖAMTC),

Schubertring 1-3, 1010 Wien, Telefon: +43 (0)1 711 99 0

www.oeamtc.at

ZVR-Zahl: 730335108, UID-Nr.: ATU 36821301

Vereinszweck ist insbesondere die Förderung der Mobilität unter

Bedachtnahme auf die Wahrung der Interessen der Mitglieder.

Rechtsgeschäftliche Vertretung

DI Oliver Schmerold, Verbandsdirektor

Mag. Christoph Mondl, stellvertretender Verbandsdirektor

Konzept und Gesamtkoordination winnovation consulting gmbh

Chefredaktion Mag. Gabriele Gerhardter (ÖAMTC),

Dr. Gertraud Leimüller (winnovation consulting)

Chefin 2 vom Dienst Silvia Wasserbacher-Schwarzer, BA, MA

Was ist

unter Freiräumen

zu verstehen?

In der Landschaftsplanung versteht man

unter Freiräumen unbebaute Stellen.

Abseits dieser städteplanerischen Verwendung

des Begriffes definiert der Duden Freiraum als

„Möglichkeit zur Entfaltung eigener Kräfte

und Ideen (für eine Person oder Gruppe)“.

Die Nutzung solcher Freiräume ist

wiederum abhängig von Freiheit,

worunter Unabhängigkeit,

Ungebundenheit

verstanden

wird.

Die Erde umfasst

149,4 Millionen km2 Land (29,3 % der

gesamten Oberfläche). An dieser Zahl wird

sich in den nächsten 100 Jahren nicht

viel ändern. Die Bevölkerung hingegen

wird stark wachsen: Laut UNO von

heute 7,1 Milliarden Menschen auf

9,6 Milliarden im Jahr 2050 und

10,9 Milliarden im Jahr 2100.

Statistisch steht somit jedem

Menschen weniger Platz

zur Verfügung.

Was kann

Freiheit in der Kunst

bedeuten?

„Der Zeit ihre Kunst– der Kunst ihre Freiheit“

ist der Leitspruch der Wiener Secession und steht

unter der Goldkuppel zu lesen. Das Zitat stammt vom

ungarisch-österreichischen Schriftsteller Ludwig Hevesi

(1843–1910). Es ist Ausdruck des Geistes der Künstlervereinigung

rund um Gustav Klimt, Koloman Moser,

Carl Moll u. a., die sich im Fin de Siècle, im Übergang

zum 20. Jahrhundert, gegen das konservative

Kunstdiktat des damaligen Künstlerhauses stellten.

Die Künstler vereinigung wollte eine ganzheitliche Kunst

realisieren, d. h. disziplinenübergreifend eine Synthese

verschiedener Bereiche wie etwa Architektur,

Malerei, Medizin erarbeiten. Bis heute ist

die Secession ein Ausstellungshaus

für zeitgenössische

Kunst.

Essen im Park –

woher kommt

das Wort Picknick?

Es ist nicht restlos geklärt, ob

Engländer oder Franzosen das Picknick

erfunden haben. Daher ist auch nicht ganz

eindeutig zu sagen, wo das Wort

seinen Ursprung hat. Naheliegend ist die

Theorie, dass Picknick eine französische

Kreation ist: pique-nique von

„piquer“ (stechen oder stehlen) und

„nique“ (Kleinigkeit). Das Picknick

hat es bis ins Japanische

geschafft und wird dort

als pikunikku

bezeichnet.

Ist Freiheit

berechenbar?

Nein, sagt der

österreichische Ökonom

und Wirtschaftsnobelpreisträger

Friedrich von Hayek:

„Sie sichert uns keinerlei bestimmte

Möglichkeiten, sondern überlässt

es uns zu entscheiden, was wir aus

den Umständen machen,

in denen wir uns

befinden.“

Was ist

der Zweck

der Freiheit?

Nach dem Ökonom Friedrich

von Hayek sei es der Zweck der Freiheit,

eine neue, nicht voraussagbare

„Möglichkeit von Entwicklungen zu

schaffen“. Deshalb könnten wir auch nicht

wissen, was wir durch die Beschränkung

der Freiheit verlieren. Gewiss ist jedoch,

dass gerade Beschränkungen häufig

der Ausgangspunkt sind, um

wiederum neue Freiräume

zu suchen.

Mitarbeiter dieser Ausgabe Dipl.-Bw. Maren Baaz, Ancuta Barbu, Thomas Berg,

Catherine Gottwald, Margit Hurich, Mag. (FH) Christian Huter, Mag. Claudia Kesche,

Mag. Astrid Kuffner, MMag. Ursula Messner, Dr. Daniela Müller, Dr. Ruth Reitmeier,

DI Anna Várdai, Silvia Wasserbacher-Schwarzer, BA, MA

Fotos Karin Feitzinger; Umschlag: Karin Feitzinger

Grafik Design, Illustrationen Drahtzieher Design & Kommunikation, Barbara Wais, MA

Korrektorat Mag. Christina Preiner, vice-verba

Druck Hartpress

Blattlinie Querspur ist das zweimal jährlich erscheinende Zukunftsmagazin des ÖAMTC.

Ausgabe 08/2015, erschienen im Oktober 2015

Download www.querspur.at


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Heute

Freie Räume

Trotz Individualisierung erleben wir weniger

persönlichen Freiraum. Muss das sein?

Von Ruth Reitmeier

Raum auf Zeit

Wie die temporäre Nutzung von

Gebäuden, Baustellen oder Brachen

eine Stadt beleben.

Von Thomas Berg

Vom Gaspedal

Der Freiraum der Straße wird für

die Zukunft neu defi niert.

Von Daniela Müller

Der Streber ist der neue Rebell

Haben Jugendliche heute mehr

Freiräume als früher?

Von Daniela Müller

Die Seele baumeln lassen

Wo Freiräume messbar werden.

Von Silvia Wasserbacher-Schwarzer

Morgen

Unerwartet mehr möglich!

Von heute auf morgen ein anderes Leben.

Von Astrid Kuffner

Nicht der Output,

sondern die Wirkung zählt

OTELO Gründer Martin Hollinetz

über seine Innovationslabore am Land.

Von Catherine Gottwald

Mit Abstand am besten

Abstand zwischen Fahrzeugen wird auch

in Zukunft wesentlich sein. Am Boden wie

auch in der Luft.

Von Thomas Berg

Selbstbestimmt als Ideal

DJane Susanne Rogenhofer, alias

Sweet Susie, im Interview über Musik

und ihre befl ügelnde Wirkung im

Gemeindebau.

Von Catherine Gottwald

Der Heuhaufen sucht mit

Predictive Analytics sagen voraus,

was wir morgen kaufen werden.

Von Ruth Reitmeier

Startups

Spannende Ideen zum Thema Freiräume.

Von Ancuta Barbu

Foto: © Karin Feitzinger

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Foto: © Karin Feitzinger Foto: © Otelo

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Foto: © inbloon

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FREIRÄUME

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Foto: © Karin Feitzinger


TROTZ FORTSCHREITENDER INDIVIDUALISIERUNG MACHT SICH DAS GEFÜHL

BREIT, DASS DIE PERSÖNLICHEN FREIRÄUME KLEINER WERDEN. DA IST ETWAS

DRAN, DOCH ES LIEGT IN DER HAND DES EINZELNEN, DAGEGEN VORZUGEHEN.

Von Ruth Reitmeier

Die einen meinen, man müsse sie sich

nehmen, erkämpfen, ausverhandeln;

die anderen sprechen davon, dass

sie quasi allgegenwärtig sind und

man sich nur auf sie einlassen muss.

Die Rede ist von Freiräumen. Beide

Sichtweisen treffen zu, und echte

Freiräume liegen wohl irgendwo

dazwischen.

WAS MENSCHSEIN

BEDEUTET, IST EINE

KERNFRAGE DER

PHILOSOPHIE

Eine freundliche, lockere Begrüßung

auf dem Gang des Instituts für Philosophie

der Universität Wien. Georg

Stenger gestaltet seine Rolle nicht

in der Tradition des professoralen

Habitus. Er trägt Poloshirt und Jeans,

Krawatte binden kann er nicht, wie er

betont, und er schätzt einen kollegialen

Umgang auf Augenhöhe. Er hat

den Lehrstuhl für „Philosophie in einer

globalen Welt“ inne. „Jede Kultur prägt

ihre Philosophie und umgekehrt, beide

bedingen einander gegenseitig, sie

gehen auseinander hervor“, sagt er.

Um das zu verstehen, muss man sich

so Essenzielles fragen, wie etwa was

Mensch(sein) bedeutet. Ein Beispiel:

Das japanische Wort ningen bedeutet

nicht nur Mensch, so wie es in unserem

Kulturkreis verstanden wird,

sondern auch „zwischen Mensch

und Mensch“ – die Bedeutung von

ningen umfasst auch das Zwischenmenschliche.

Die Seinsstruktur des

Menschen ist also vielschichtig.

Japaner verstehen sich als Teil eines

Ganzen, als Teil der Natur. Dies ist

freilich grundlegend anders als in der

christlich-westlichen Tradition, wo

Natur und Kultur in Opposition zueinander

stehen, wo Natur zivilisiert und

beherrscht werden soll. „Macht Euch

die Erde untertan“, lautet Gottes Auftrag

an den Menschen in der Genesis.

OHNE FREIHEIT

KEIN FREIRAUM

Der Kampf um Freiräume ist die Geschichte

der westlichen Welt,

Freiraum ist gewissermaßen das Ergebnis

von Freiheit. „Dies ist uns

nicht in den Schoß gefallen, darum

haben wird jahrhundertelang gekämpft“,

betont Ulrike Ackermann,

Gründerin des John Stuart Mill Instituts

für Freiheitsforschung in Heidelberg.

Wenn viele Menschen trotz fortschreitender

Individualisierung das

bange Gefühl nicht loswerden, dass

es enger wird, dass es immer weniger

Freiräume gibt, so liegen sie damit

nicht falsch. Das Paradoxe daran:

Das Problem ist selbstverschuldet,

zumal viele Menschen unter Bedingungen

der Digitalisierung Freiräume

freiwillig aufgeben. Ackermann kennt

den Wert der Freiheit, hatte sie doch

ihren Verlust am eigenen Leib zu spüren

bekommen. In den 1970er Jahren,

mit osteuropäischen Bürgerrechtsbewegungen

verbandelt, brachte sie

immer wieder Dokumente über die

Grenze. 1978 wurde sie von der

tschechoslowakischen Polizei aufgegriffen

und inhaftiert. Sie verbrachte

mehrere Wochen, auf ihren Prozess

wartend, im Gefängnis und konnte

letztlich nur durch geheimdiplomatische

Beziehungen freikommen.

EXHIBITIONISMUS IN

SOZIALEN NETZWERKEN

IST DER AUSWUCHS

INDIVIDUELLER FREIHEIT

Umso irritierter beobachtet Ackermann,

wie Menschen ihre Freiräume

geradezu freiwillig aufgegeben. In

ihrem 2013 erschienen Buch „Im Sog

des Internets“ analysiert sie Öffentlichkeit

und Privatheit im digitalen

Zeitalter. Die Privatsphäre sei unbedingt

schützenswert, zumal gerade

sie so viele Handlungsfreiräume biete.

Via Social Media wird aber immer

mehr Privates mintunter exhibitionistisch

geteilt. Da ist am Ende nicht

mehr viel übrig, das unangetastet,

intim oder gar geheim bleibt. Durch

das Transparentmachen des Privatund

Innenlebens feiert der Einzelne

öffentlich seine Individualität, doch

dies sei ein Trugschluss. Tatsächlich

büßt er dabei an Autonomie ein und

wird zur Anpassung genötigt. Beim

digitalen Voten gibt es ähnlich wie

bei kommunistischen Wahlen schließlich

nur den Like-Button. Wer alles

offenlegt, engt letztlich seine Freiräume

und auch seine Wahlfreiheit ein.

DAS SMARTPHONE

ALS MITTEL

ZUR EINFALT

Wer sich von Algorithmen verschlingen

lässt, wird Teil einer Monokultur,

die den Daumen stets befürwortend

hochhält. Konkret: Wer sich etwa von

seinem Smartphone auf einen nach

persönlichen Vorlieben optimierten

Stadtrundgang mitnehmen lässt, wird

letztlich wenige Überraschungen erleben.

Es ist also nur scheinbar eine

ganz exklusive Tour. Der Smartphone-

Reisende wird genauso über standardisierte

Pfade durch die Stadt geschleift

wie andere Reisegruppen

auch. Denn er beschreitet vorfabrizierte

Wege, beraubt der Möglichkeit,

sich auf wirklich Neues, Fremdes, Unbekanntes

einzulassen. Doch gerade

in der spontanen Entdeckung entstehen

Freiräume.

„Es ist ein Wunsch nach Gemeinschaft“,

beurteilt Ackermann den

Trend zur virtuellen Extrovertiertheit,

„es ist eine Reaktion auf die Angst, in

einer unübersichtlicher werdenden

Welt verloren zu gehen“. Die Politikwissenschaftlerin

plädiert dafür, sich

dies unbedingt bewusst zu machen.

FREIRÄUME

5


Jeder Mensch sollte quasi für sich

selbst Technologiefolgenabschätzung

betreiben. Denn, um Freiräume zu

verteidigen, braucht es heute digitale

Selbstbestimmung. Freiraum ist in

diesem Sinne auch ein Schutzraum für

die Freiheit. „Wir müssen herausfi n-

den, wie Autonomie unter den neuen

Bedingungen aussieht“, sagt Ackermann.

So sei es rat- und heilsam, ein

paar Geheimnisse zu hüten, nicht alles

offenzulegen, auszuplaudern, und

sei es nur, um nicht nonstop die Fassade

wahren zu müssen.

DIE BÜHNE DES

LEBENS HAT

ZWEI SEITEN

Der kanadische Soziologe Erving

Goffman unterschied, wie Menschen

auf der „Vorder-“ oder der „Hinterbühne“

ihres Lebens agierten: Was

sich auf der Vorderbühne abspielt,

das ist offi ziell, für alle sichtbar. Man

weiß, dass man beobachtet wird, und

spielt eine Rolle. Die Hinterbühne hingegen

ist ein Ort des inoffi ziellen, nur

für Eingeweihte und Beteiligte sichtbaren

Geschehens. Dort fühlt man

sich unbeobachtet und kann sich

auch einmal erlauben, aus der Rolle

zu fallen. Es geht darum, die Hinterbühne

als echte Privatsphäre zu verteidigen.

ORTE DER

WEITERENTWICKLUNG

UND INNOVATION

„Selbstverständlich hängen Freiheit

und Freiraum zusammen. Freiraum ist

Handlungsraum“, betont Ackermann.

Freiräume seien Orte der Innovationskraft

einer Gesellschaft und somit

unverzichtbarer Entwicklungsraum.

Im Freiraum kann der Mensch experimentieren,

schöpferisch werden.

Dieser wird oftmals als „Biotop“

für neue Ideen beschrieben – für

bessere Ideen. Die Grenzen des eigenen

Freiraums verlaufen seit jeher

entlang jener, wo sich andere in ihrer

Freiheit beeinträchtigt fühlen. Wobei

sich dem nach Freiraum Suchenden

immer auch die Frage stellt, wie weit

er gehen kann, gehen muss, um dorthin

zu gelangen, wo er hin will. Menschen,

die „ihr Ding machen“, werden

von vielen bewundert, doch der Grat

zwischen Egoismus und Freiraum ist

schmal. Deshalb müssen Freiräume

mit anderen austariert werden. Zudem

werden sie nicht ausschließlich im Alleingang

bespielt, sondern können mit

anderen geteilt werden. Am Beispiel

der Emanzipation:

In einer modernen Beziehung werden

tradierte Rollen nicht einfach akzeptiert,

sondern von jedem Paar ausverhandelt.

Und das macht Arbeit – womit

ein wichtiger Punkt angesprochen

ist. Sich Freiräume zu schaffen kann

anstrengend werden. Wer auf sie aber

verzichtet, bleibt übrig: in einem verhassten

Job, in einer unbefriedigenden

Beziehung. Gelegentliches, hobbymäßiges

Herumspinnen in einer

selbstgebastelten Ecke gilt nicht.

Echte Freiräume lassen sich nicht

derart eingrenzen.

ECHTE FREIRÄUME

SIND NICHT

FREMDBESTIMMT

Georg Stenger vom Institut für Philosophie

der Uni Wien unterstreicht,

dass er Freiraum nicht als Gegensatz

zum Stressraum interpretiert wissen

will. Sein Verständnis von Freiräumen

ist vielschichtiger: „Sie liegen nicht

einfach vor, so wenig wie sie anhand

eines Zeitmanagements geplant werden

könnten. Wer so vorgeht, der

hat den ‚Freiraum‘ schon funktionalisiert,

sprich von einem anderen

Zweck her festgelegt, also fremdbestimmt.“

Raum im Sinne eines Freiraums

entsteht demnach aus einem

wechselseitigen Resonanzgeschehen

„im Zwischen“ von Räumen, und genau

dieses nicht unmittelbar Fassenkönnen

mache den Raum zu einem

Freiraum, der einen (trotz) scheinbaren

Stresses gelassen sein, ja einen

sich erholen oder gar genießen lässt.

„Mit dem yx und Genießen melden

sich erste Indikatoren eines Freiraumes“,

betont Stenger.

ZURÜCKLEHNEN

UND SICH TREIBEN

LASSEN

Freiräume können sich in Zwischenzeiten

ergeben. Etwa in der Enge eines

Flugzeugs, wo sich der Reisende

Raum verschafft, indem er sich in ein

Buch vertieft oder Musik hört. Dabei

mag sich ein Wechsel von einem in

einen weiteren Raum vollziehen und

im Schwebezustand ein Freiraum

ergeben, in den er eintaucht.

Freiräume entstehen auch auf der

Vorderbühne, etwa in der Gestaltung

von Berufsrollen. Ein Beispiel dafür ist

der Ober in einem Wiener Kaffeehaus.

Die besten von ihnen beherrschen das

ironische Spiel mit der österreichischen

Tradition, diese nicht ganz

ernst gemeinte, gelassene Art der

Ausübung einer Service-Dienstleistung.

Nicht zuletzt deshalb ist der

Wiener Ober ein „Herr Ober“ und

das ist zweifellos etwas anderes als

Servierpersonal. Freiraum ist also

Lebensart.

AN MANCHEN

ARBEITSPLÄTZEN

GIBT ES KEINE

AUSSCHALT-TASTE

Was im Kaffeehaus möglich ist, funktioniert

im Big Business immer weniger.

In Managementbüchern wird zwar unermüdlich

die Wichtigkeit von kreativen

Freiräumen betont. Doch mit der Realität

des Arbeitsalltags in multinationalen

Konzernen hat das wenig zu tun.

Rigide Prozesse und 24/7-E-mail-

Empfangsbereitschaft lassen kaum

Raum zum Durchatmen.

6


Foto: © shutterstock

Freiräume entstehen in bestimmten Situationen und/oder werden aktiv geschaffen. Zum Beispiel dient das Zeitunglesen, Musikhören

oder das Benützen des Mobiltelefones in der U-Bahn während der Rush Hour auch dazu, der Enge des Raums zu entfl iehen und in einen

Freiraum einzutauchen.

SCHLIMMER ALS DIE

ZENSUR IST DIE

SELBSTZENSUR

Was stört, sind jedoch weniger die

Zwänge der Organisation als vielmehr

die beschriebene Freiwilligkeit, mit

der private Freiräume aufgegeben und

letztlich auch persönliche Freiheit

geopfert werden. Wie bewusst dieser

Verzicht passiert, ob die Menschheit

nun tatsächlich sehenden Auges

Mitläufer in einer Diktatur des „Babyphone

für Erwachsene“ – wie Ackermann

das optimierte Smartphone

nennt – wird, sei dahingestellt.

In früheren Zeiten, als Menschen in

Europa in Klassen und Stände getrennt

waren, verhielt es sich eher

umgekehrt. Die Unterprivilegierten,

die etwa das Gesindehaus nicht zu

verlassen wagten, schmerzte wohl

nicht zuletzt die Einsicht, nicht alles

versucht zu haben, es dennoch zu

tun. Schlimmer als die Zensur ist

die Selbstzensur, schlimmer als die

Unterdrückung ist die Unterwerfung.

Denn Freiheit hat im europäischwestlichen

Verständnis untrennbar

mit Eigenverantwortung, mit Mündigkeit,

mit Erwachsensein zu tun.

Freiraum entsteht allein dadurch,

dass man ihn sucht.

EIN SCHMALER GRAT

ZWISCHEN SELBST-

VERWIRKLICHUNG UND

SELBSTAUSBEUTUNG

Parallel zur selbstverursachten Freiheitsberaubung

manifestiert sich in

der Welt der Wirtschaft ein Trend zur

Selbstausbeutung. Einst gab es den

Bauern und den Knecht, den Industriellen

und den Fabriksarbeiter. Die

Rollen waren klar verteilt, es herrschte

das Prinzip der Fremdausbeutung –

kein Arbeiter wäre je auf die romantische

Idee gekommen, sich als Unternehmer

seiner Selbst zu verstehen. In

der Arbeitswelt unserer Tage gelten

diese Trennungen als längst überholt.

Das hat viele Vorteile, jedoch führt es

auch dazu, dass sich die Menschen

zunehmend selbst ausbeuten – in

der Illusion, sich zu verwirklichen. Der

Berliner Philosoph mit koreanischen

Wurzeln Byung-Chul Han spricht

deshalb von einer „Krise der Freiheit“.

In seinem Buch „Psychopolitik. Neoliberalismus

und die neuen Machttechniken“

argumentiert er, dass wir uns in

einer historischen Phase befi nden, wo

die Freiheit selbst Zwänge hervorrufen

kann. Es sei die Freiheit des Könnens,

die weit mehr Zwang als das disziplinarische

Sollen ausübt. Hat das Sollen

Grenzen, gilt dies nicht für das

Können. Freiheit heißt jedoch frei von

Zwängen sein. So entstehe laut Han

eine paradoxe Situa tion. Der Philosoph

hält etwa die Zunahme an Burnout-Erkrankungen

für einen Ausdruck dieser

Krise der Freiheit. Andere Stimmen

argumentieren wiederum, dass gerade

zu viele Freiräume die Gesundheit gefährden,

zumal auch deren Anforderungen

in die Überlastungsdepression

führen können.

FREIRÄUME ALS

PSYCHOHYGIENE

Unterm Strich spricht wohl mehr

dafür, Freiräume zu suchen, als dafür,

es erst gar nicht zu versuchen und im

Gesindehaus 2.0. sitzen zu bleiben.

Denn Freiräume sind zweifellos auch

Schutzräume für die Psyche. – Und

wenn schon ausbrennen, dann doch

besser im Freiraum als im Kerker.

FREIRÄUME

7


USERSTORY

Unerwartet

mehr möglich!

SIE SITZT IN DER AUSLAGE EINER NICHT MEHR GROSSEN STADT, ER

STEHT NICHT MEHR IM RAMPENLICHT. DIE BERATERIN MARIE-THERES

ZIRM UND DER EHEMALIGE MOTOCROSS-PROFI MARKUS MAUSER SIND

IN NEUE, UNERWARTETE FREIRÄUME EINGETAUCHT. Von Astrid Kuffner

Kreativwirtschaft

trifft weites Land

Eine Netzwerkerin wie Marie-Theres Zirm braucht keine Großstadt als Schaltzentrale.

Die Wienerin übersiedelte Anfang 2013 in die oststeirische Bezirkshauptstadt Weiz und

ist sich dort selbst näher gekommen.

Fotos: © Renate Woditschka

Leben, lieben und arbeiten sind bei Marie-Theres Zirm eng

verwoben: Mit ihrem Mann Christian Heuegger-Zirm gründete

sie 2007, damals noch in Wien, die Agentur cardamom und

ist seither landesweit unterwegs, um (Kleinst-)Unternehmen

im Kreativbereich zu beraten, zu coachen und zu vernetzen.

Doch während der Jahre des familienbedingten Pendelns

nach Weiz, wo ihr Mann aufgewachsen ist, „hat sich etwas

vorbereitet“, sagt sie: Es entstand die Bereitschaft der Großstädterin

für ein Leben auf dem Land. Im Herbst 2012 fragte

sie ihren Mann dann von sich aus, ob sie mit Tochter (damals

vier Jahre alt) und Sohn (zwei Jahre alt) ins Grüne ziehen sollten.

Auch wenn ihr eines schon damals klar war: „Dass ich

mich nicht als Mäuschen in den Hinterhof setzen werde.“

Die ersten Wochen in der neuen Heimat genoss Zirm ganz

bewusst als Zeit der Narrenfreiheit. In Weiz kannte sie niemand,

sie konnte alles in Ruhe beobachten. Wenig später

stand sie mit ihren Aktivitäten bereits in der Regionalzeitung.

Vorgenommen hatte sie sich das nicht. Es war ihr einfach

ein Anliegen gewesen, einen Treffpunkt für KreativunternehmerInnen

in der Umgebung zu schaffen. Mit Erfolg: Der Begriff

Kreativwirtschaft gehört mittlerweile zum Selbstverständnis

der Oststeiermark und wird dort als wichtige

Wirtschaftsbranche verstanden.

Gemeinsam mit einer Weizer Werbeagentur ist die Agentur

cardamom in einem ehemaligen Schuhgeschäft eingemietet.

Marie-Theres Zirm sitzt im Wortsinn in der Auslage. Der begrünte

Innenhof ist zum Branchentreff geworden. Für ihr

Unter nehmen war der Umzug goldrichtig: „Wir nehmen uns

in der Arbeit einen großen Freiraum, halten ihn offen zum

Spielen, Experimentieren und Scheitern. Dass wir so schnell

bezahlte Projekte in der Region an Land ziehen konnten, haben

wir nicht erwartet.“

Geholfen hat dabei die eigene Offenheit, der Ansatz: „Ich

komme und will lernen“ anstatt „Ich bin aus Wien und weiß

alles besser“. Bei der raschen Integration half es, lokale

Grenzziehungen (und damit Zugehörigkeiten) zu beachten:

Was gehört zu Weiz, wo endet die Region Oststeiermark und

warum gehört ein paar Kilometer entfernter Ort nicht mehr

dazu? Weiz ist übrigens ein Bildungs- und Industriestandort

mit 11.300 Menschen. Stärker als im Wiener Grätzl, dem

Servitenviertel, in dem sie aufgewachsen ist, ist die soziale

Kontrolle in dieser Kleinstadt auch nicht. Ihre Welt ist eigentlich

größer geworden, betont sie und freut sich, dass ihre Kinder

durch regelmäßige Wien-Besuche zwei Welten erleben.

Hat sie sich angepasst, um dazuzugehören? Nein! Sie blieb

sie selbst und entdeckte ein paar neue Seiten an sich: So

bewegt sie sich heute mehr im Freien, sitzt manchmal still

und schaut den frisch geschlüpften Küken zu und hat mit

dem Herdfeuer im eigenen Kamin auch ihr Zuhause verankert.

Wenn die Zeit reif ist, fallen unbewusste Wünsche auf

fruchtbaren Boden und keimen aus: „Ich werde immer mehr

ich selbst und kann mir aus heutiger Sicht nicht vorstellen,

wieder wegzugehen“.

www.cardamom.at

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Foto: © Martin Mauser

Der Schnellste zu sein war für Markus Mauser, ehemaliger Motocross-Profi,

zehn Jahre lang das Wichtigste. Doch nach einem Unfall stand der Motocross-

Staatsmeister an einem Wendepunkt und lenkte sein Leben in neue Bahnen.

Die Freiheit,

„nein“ zu sagen

Das Weinviertel ist nicht nur Heimat rescher Weißweine, sondern

auch das gelobte Land des Motocross-Sports. Zehn

Rennstrecken kann Markus Mauser von seinem Heimatort

in nur einer Stunde Fahrtzeit erreichen. Er kennt sie

alle. Obwohl in Österreich eine Randsportart, ist Motocross

in seiner Familie stark verbreitet: Vater, Onkel, Cousins – alle

fahren. Mit drei Jahren absolvierte er erste Fahrversuche, mit

acht Jahren fuhr er die komplette Rennsaison auf einer Kawasaki

(60 ccm/15 PS). Mit 14 fi ng er neben der KFZ-Mechaniker-Lehre

als Profi fahrer an. 30 Wochenenden im Jahr

verbrachte Markus Mauser bei Rennen, trainierte mehrmals

pro Woche und bastelte an Rennmaschinen herum. Es

machte ihm Spaß und er war erfolgreich.

2007 stieg der damals 24-jährige für einen internationalen

Bewerb recht abrupt auf eine Viertakt-Maschine um. Prompt

überschlug er sich im Training, das 110-Kilogramm-Zweirad

fi el ihm in den Rücken und er wurde einen Moment bewusstlos.

Als er wieder zu sich kam, dehnten sich Sekunden zu

gefühlten Stunden: Werde ich wieder aufstehen? Kann ich

meine Finger und Zehen bewegen? Werde ich zum Rennen

antreten? Muss ich meine Karriere beenden?

Er hatte Glück: Nach zwei Wochen war er wieder auf den

Beinen, begann mit der Physiotherapie und steckte sich

neue Ziele. Er wollte beim Sport bleiben: Bandscheiben entlasten

durch Muskelaufbau, gezieltes Training und rückenschonend

Rennen fahren lautete das Motto. Letzteres

erwies sich als ebenso unmöglich wie sanft ins Gelände

zu springen oder schaumgebremst Gas zu geben. Der Gymnastikball

war immer mit im Gepäck, aber nach jedem Rennen

hatte er Schmerzen. Der Staatsmeister-Titel 2007 markierte

den Wendepunkt. Nach diesem Erfolg konnte er

endlich auf seine innere Stimme hören – und aufhören. Um

diese Entscheidung Sponsoren, Rennkollegen und Fans zu

kommunizieren, brauchte er noch bis 2008. Es war nicht

leicht, bei sich zu bleiben, weil sein Umfeld ihm weitere zehn

Jahre als aktiver Profi einreden wollte. Manche könnten seine

Entscheidung bis heute nicht verstehen und wollten ihn

immer wieder zu Rennen überreden, sagt Mauser.

Doch dieser holte sich den Spaß zurück, indem auf die Einschränkungen

des Profi sports, nämlich der Schnellste zu

sein, verzichtete. Er machte stattdessen die Matura nach,

absolvierte eine Banklehre und arbeitet seit April 2011 in

der Raiffeisenbank Wolkersdorf. Er ist Vater von zwei Töchtern

(drei Monate und zwei Jahre alt) und sagt heute, dass

er „auch in zehn Jahren noch aufrecht gehen können“ wolle:

„Am Limit zu fahren interessiert mich nicht mehr. Ich drehe

einfach meine Runden.“ Seit 2015 arbeitet er zudem bei der

Obersten Sportkommission Motorsport mit: Er nimmt Strecken

ab, testet E-Bikes und gibt seine Erfahrungen an junge

Moto-Crosser weiter. Das Wochenende genießt er mit der

Familie. Die ist auch dabei, wenn er seine KTM ausführt. Ob

er seine Begeisterung weitergeben kann, ist offen. Seine

ältere Tochter hat für den Motorsport derzeit nur folgende

Worte übrig: „Papa! Motorrad laut!“.

FREIRÄUME

9


„Nicht der Output,

sondern die

Wirkung zählt“

INNOVATIONSPROZESSE BENÖTIGEN GEISTIGE UNVOREINGENOMMENHEIT

UND PLATZ ZUM EXPERIMENTIEREN. FREIRÄUME, DIE ES ABSEITS URBANER

BALLUNGSRÄUME MEIST NICHT GIBT. UM DIES ZU ÄNDERN, GRÜNDETE

MARTIN HOLLINETZ OTELO (OFFENES TECHNOLOGIE LABOR), WO KINDER

UND ERWACHSENE IM LÄNDLICHEN RAUM INNOVATIVE IDEEN ERPROBEN

KÖNNEN. Das Gespräch führte Catherine Gottwald

querspur: Das von Ihnen 2010

initiierte Offene Technologie Labor,

kurz OTELO, versteht sich als systematischer

Freiraum, der Menschen abseits

urbaner Ballungszentren kostenlose

Infrastruktur für kreative und technische

Aktivitäten zur Verfügung stellt

und bei der Verwirklichung ihrer Ideen

unterstützt. In einem Interview haben

Sie OTELO einmal als Mischung aus

„Jugendzentrum und Forschungslabor“

bezeichnet. Gilt das auch heute noch?

Martin Hollinetz: Nein. Heute würde

ich OTELO weniger als Jugendzentrum,

sondern mehr als „Forschungslabor

für generationenübergreifende

Aktivitäten“ bezeichnen. Fakt ist, dass

die meisten Menschen, die ins OTELO

kommen, zwischen 25 und 70 Jahre alt

sind. Wir sehen das OTELO als „bürgerschaftliches

Forschungslabor“, wo

wir gemeinsam in partizipatorischen

Prozessen an der Zukunft der eigenen

Kommune arbeiten.

TECHNOLOGIE ALS

KUNSTFERTIGKEIT

VERSTEHEN

querspur: Schlummert in den Bürgern

also ein bisher unerkanntes Potenzial,

das in Innovationsfreiräumen, wie sie

OTELO bietet, aus dem Dornröschenschlaf

geweckt werden kann? Im

OTELO gibt es ja keine Vorgaben

bezüglich der Erreichung von Zielen …

Hollinetz: Wir schaffen Rahmenbedingungen,

wo wir etwas dürfen und

nicht müssen. Wir sind von keinem

System im Umfeld verpflichtet, für

eine bestimmte Problemlösung etwas

austüfteln zu müssen, für das wir

im Gegenzug Geld bekommen. Unsere

Legitimation ist, gemeinsam mit

den Bürgern Zukunft offen und lustvoll

zu entwickeln. Das ist ein Riesenprivileg

und es braucht auch die Bereitschaft

einer Kommune, sich das zu

gönnen. So wird der Raum zum Raum

für die gesamte Bevölkerung, wo jeder

das Recht hat, etwas zu tun.

querspur: OTELO steht also allen

Menschen offen, die Lust am Experimentieren,

Erfahren und Wissensaustausch

haben und/oder sich inspirieren

lassen wollen.

Hollinetz: Technische oder andere

Vorkenntnisse sind nicht Voraussetzung,

um bei OTELO mitzumachen.

Offenheit, Neugierde, künstlerisches,

kreatives oder technisches

Interesse sowie soziale Orientierung

schon. „Offenes Technologie-Labor“

klingt oft zu technisch. Wir möchten

aber den Begriff Technologie in seiner

ursprünglichen Form nutzbar machen

und verstanden wissen: Technologie

im griechischen Sinne von „Kunstfertigkeit“

beschreibt den Prozess der

Gestaltung von Natur und Umwelt.

Wir verbinden diesen schöpferischen

Akt mit einer Laborsituation.

10


Foto: © Martin Hollinetz

Der Oberösterreicher Martin Hollinetz,

Jahrgang 1972, ist EDV-Techniker und studierte

Sozial- und Berufspädagogik. Derzeit

unterrichtet er auch transgenerationales Lernen

an der Kunstuniversität Linz. 2010 gründete

er das erste OTELO (Offenes Technologie

Labor) als „inspirierende Gemeinschafts-

(T)Räume, die einladen, Ideen miteinander zu

teilen und zu verwirklichen“ (Mission Statement).

Heute gibt es OTELOs an zehn Standorten.

Die Inhalte der OTELO-Projekte sind

unterschiedlich. Bei „Otelo-S“ ging es etwa

um die Entwicklung und Erprobung neuer

Vermittlungsformate für naturwissenschaftlich-technische

Themen, die abseits von

Frontalunterricht, grauer Theorie und strengen

Prüfungen junge Menschen für technische

Berufszweige begeistern sollen. In der

„Fabrikatoren-Schule“ wiederum bauten

AHS-Oberstufen schüler(innen) unter Anleitung

3D-Drucker.

querspur: Wie würden Sie Freiraum

im Sinne von OTELO definieren?

Hollinetz: Als inspirierendes Umfeld,

wo neue Ideen ausgesprochen, diskutiert,

entwickelt und vertieft werden

können. Das Charakteristikum eines

OTELO ist, dass man schon beim

Überschreiten der Schwelle das Gefühl

hat, mit dem Potenzial, das man selbst

mitbringt, eingeladen und willkommen

zu sein. Uns geht es darum, eine auf

gegenseitiger Wertschätzung basieren de

Atmosphäre zu schaffen, die offen und

stimmig ist, um gemeinsame Entwicklungen

für regionale Prozesse und individuelle

Potenzialentfaltungen zu

ermöglichen. Dazu braucht es eine

wirklich offene Haltung und gleichzeitig

auch eine klare Organisation. Das

klingt paradox, aber genau darum

haben wir ein paar, sehr wenige, aber

klare Grundstrukturen, wie so etwas

funktioniert.

OFFEN IN DER

COMMUNITY:

IDEEN FINDEN,

EXPERIMENTIEREN,

ERGEBNISSE TEILEN

querspur: Wie funktioniert das genau?

Gib es eine Toolbox für Innovation?

Welche Impulse braucht es im Anfangsstadium?

Hollinetz: Man muss hineinhören

können und Ideen Raum geben. Wenn

also jemand eine neue Idee hat, dann

kann er das über das OTELO-Netzwerk

ausrufen oder ausschreiben. Dann

bekommt man Antwort auf die Frage:

„Interessiert das außer mich noch irgendwen?“

Wir haben ein Grundprinzip:

Ein Labor oder einen Raum im

OTELO für längerfristige Vertiefung

bekommt man dann, wenn sich zumindest

fünf Personen zusammentun

und gemeinsam dieses Labor beginnen.

Damit wollen wir auch erreichen, dass

die Gruppe grundsätzlich als Gruppe

agiert; dass Wissen geteilt wird und

nicht einzelkämpferische, geheime

Dinge da drinnen passieren. Es darf

beim Experiment bleiben, es darf

aber auch mehr daraus werden!

Sobald man aber ein Node, also ein

Kleinlabor gründet, erwarten wir

uns als Gegenleistung, dass sich die

Gruppe überlegt, wie auch andere an

dem Prozess teilhaben und mitpartizipieren

können. Alles, was im OTELO

FREIRÄUME

11


entwickelt wird, ist Open Source

und muss damit für das gesamte

OTELO-Netzwerk zugänglich sein.

Das ist unser Grundprinzip. Sollte

sich aus einer Idee etwas ergeben, was

wirtschaftlich verwertet wird, dann

wandert es aus dem OTELO-Kontext

heraus. Wenn es weiterhin Open

Source in der Entwicklung bleiben

möchte, dann kann es auch in der

OTELO-Genossenschaft (kooperatives

Selbstanstellungsmodell bei dem man

gleichzeitig Mitinhaber und Mitarbeiter

der Genossenschaft sein kann.

Anm. d. Red.) entwickelt werden.

Dann ist es auch möglich, dass man

damit seinen Lebensunterhalt verdient.

querspur: Gute Ideen gibt es viele.

Ihre Umsetzung erfordert Kraft. Wann

hatten Sie erstmals die Idee, OTELO zu

gründen, und warum ist es Ihnen gerade

2010 gelungen, OTELO umzusetzen?

Hollinetz: Im Zuge meiner Arbeit

als Regionalmanager für Kommunales

und Wirtschaft im Salzkammergut

hatte ich erstmals die Idee zu OTELO.

Dass ich diese auch tatsächlich verwirklichen

konnte, hängt einerseits

mit einem langsamen Bewusstseinswandel

in der Politik zusammen.

Aufgrund der wirtschaftlichen Lage,

speziell seit 2008, ist zunehmend auch

in der Politik das Verständnis gewachsen,

dass man nicht Topdown zu

neuen Lösungen kommt. Topdown-

Lösungen führen immer nur zu mehr

vom Gleichen. Ohne diese Wechselbeziehung

von Zivilgesellschaft – oder,

anders formuliert, „den aktiven Menschen

in der Region“ – verbunden

mit fördernden oder ermöglichenden

Strukturen kann Neuschöpfung nicht

stattfinden.

JUNGE WOLLEN IHRE

IDEEN NICHT IM

HERKÖMMLICHEN

SYSTEM UMSETZEN

Andererseits beginnen Menschen verstärkt

danach zu suchen, wie man gesellschaftliches

Leben neu gestalten

kann. Das betrifft vor allem junge

Menschen, die sich in dieser Verwaltungskultur

einfach nicht wiederfinden.

Für sie gibt es die Möglichkeit,

entweder die Region zu verlassen oder

nach einem Raum zu suchen, in dem sie

auch zu Mitgestaltern werden können.

Auch größere Strukturen, wie öffentliche

Bildungsreinrichtungen oder

Landesregierungen, haben anfangen,

mehr in Richtung Wirkungsbeschreibung

zu denken. Für uns steht

fest: Nicht das, was an Outputs in den

OTELOs passiert, ist spannend, sondern

was sich an Wirkungen entfaltet.

OTELO STÄRKT DIE

EIGENE IDENTITÄT UND

HÄLT SCHLAUE KÖPFE

IN DER REGION

querspur: Auch wenn wir uns in einem

Bereich des nicht messbaren Social

Return on Investment (SROI) befinden,

welche Indikatoren dokumentieren die

positive Wirkung der OTELOs?

Hollinetz: Wir arbeiten gerade an einem

Bericht, der uns nach dem Social

Reporting Standard (SRS) messbare

Daten über die vergangen fünf Jahre

OTELO liefert. Die Menschen aus der

Region erleben mit den regionalen

OTELO-Standorten einen Anknüpfungspunkt

zu ihrer Heimat, einen

kulturellen Bezugspunkt – einen Ort,

an dem ihre eigene Entfaltung Platz

hat. Das stärkt ihre eigene Identität

und die der Region.

Aus meiner Sicht wirkt das gleichzeitig

gegen Braindrain und für Braingain.

Das heißt, wenn Menschen sich überlegen,

wieder zurückzukommen, gibt

es gleich einen Anknüpfungspunkt

neben den familiären Banden zur

Herkunftsfamilie. Eine weitere Wirkung

ist, dass ältere Menschen, die

schon in Pension sind, für sich im

OTELO Vertiefungs- und Ent faltungsmöglichkeiten

ohne Druck finden. Sie

würden sonst vielleicht in ein tiefes

Loch fallen, haben durch OTELO aber

eine Möglichkeit, dass sie das, was sie

an Kompetenzen und Erfahrungen

im Laufe ihres Lebens gesammelt

haben, lustvoll einbringen und weitergeben

können.

querspur: OTELO ist, wenn man so

will, gelebte Demokratie …

Hollinetz: Ja. OTELOs leben Demokratie.

Es ist ein doppelter Prozess:

Wir versuchen ein demokratisches

Umfeld zu schaffen, in dem Entwicklungsprozesse

unter Einbindung aller

Beteiligten stattfinden, und starten

gleichzeitig das Projekt „Demokratie

Repair Café“, das sich mit aktiv mit

Demokratie und gesellschaftlicher

Mitbestimmung und Gestaltung in

Gruppen auseinandersetzt. Darin

stellen wir uns die Frage: Wie können

wir wieder mehr in partizipative

Entwicklungsprozesse kommen und

nicht nur in reinen Erhaltungsmechanismen

hängen bleiben?

LEBENDIGE

INNOVATIONSKULTUR

HEISST GESTALTEN

UND ERMÖGLICHEN,

ABER MANCHMAL

AUCH SEIN LASSEN

querspur: Partizipative Entwicklungsprozesse

fördern einerseits das Ich und

die Bindung zur Region und schaffen

Zufriedenheit bei den Akteuren/Bürgern?

Hollinetz: Sie bieten die Möglichkeit,

sich zu identifizieren. Es geht auch um

Identität. Wir vergleichen das oft mit

dem Wandel vom Innovationsmanagement

zur Innovationskultur. Management

heißt ja „an der Hand führen

oder nehmen“ und Kultur heißt „gestaltend

hervorbringen“. Innovationskultur

ist, wie wir sie regional definieren,

ein gemeinsamer Entwicklungsprozess,

der in einem Wechselspiel zwischen

Gestalten und Ermöglichen

entsteht, aber auch wieder die schöpferische

Fähigkeit beinhaltet, etwas

bleibenzulassen. Demokratie ist aber

kein System, das man beschließt, sondern

ein lebendiger Prozess, der immer

wieder zu neuen Gestaltungsund

Entwicklungsszenarien führen

kann.

12


MIT ABSTAND AM BESTEN

WOHER WISSEN AUTONOME AUTOS, WIE DICHT SIE AUFFAHREN DÜRFEN, UND

WAS KÖNNEN SIE GEGEN MENSCHLICHE DRÄNGLER TUN? WARUM MUSS EIN

AIRBUS-PILOT BEIM START EIN WENIG MEHR GEDULD HABEN ALS DER KOLLEGE

IM LEARJET? UND KÖNNTEN DIE WIENER U-BAHNEN EIGENTLICH IN KÜRZEREN

INTERVALLEN HINTEREINANDER FAHREN? Von Thomas Berg

////// AUF DER STRASSE ////////////////////////////////////

Sie wissen, wann man bremsen muss, haben keinen Fahrer mehr, sondern einen Passagier und halten

immer den richtigen Abstand zum Vordermann ein: Autonome Autos befi nden sich mittlerweile

nicht mehr nur auf Wüstenstrecken im Testbetrieb, sondern auch im deutschen Berufsverkehr.

Mit Sensoren, beispielsweise mit einem auf dem Dach rotierenden Laserscanner, Radarstrahlen

oder Kameras messen diese Autos ähnlich wie Abstands-Assistenzprogramme, die es teils schon

im Serienbetrieb gibt, wie weit ein Fahrzeug vor ihnen entfernt ist. Entsprechend der jeweiligen

Verkehrsvorschriften – wie der guten alten „Halber Tacho“-Regel, laut der man aus Sicherheitsgründen

die Hälfte dessen, was der Tacho anzeigt, in Metern an Abstand halten sollte – wird diese

Distanz kontinuierlich gehalten.

Was zum Vordermann und ausschließlich unter autonomen Autos kein Problem ist. Spannend wird

es allerdings, wenn menschliche Chauffeure im gemischten Verkehr dazukommen und schlicht zu

dicht auffahren. „Das passiert häufi g, weil die Leute ja auch neugierig sind und unsere Autos

sehen wollen“, weiß Prof. Dr. Daniel Göhring, Teamleiter des Innovationslabors AutoNOMOS

der Freien Uni Berlin, „und da haben wir auch noch keine Patentlösung.“ Die Flucht nach vorn sei

defi nitiv keine, im Zweifelsfall gelte auch hier: „Wer auffährt, hat Schuld“.

http://autonomos-labs.com

KOMPLEXES EINFACH ERKLÄRT

////// IN DER LUFT /////////////////////////////////////////////

In der Luftfahrt sind die Regeln, wer mit welchem Abstand wann wo fl iegen, starten und

landen darf, komplexer und strikter als auf der Straße. Grundsätzlich haben Flugzeuge, die auf

gleicher Höhe über dem österreichischen Luftraum unterwegs sind, nach der so genannten

Radarstaffelung einen Abstand von drei nautischen Seemeilen (NM) (5,5 Kilometer) auf der

Strecke und fünf NM (9,2 Kilometer) in der Nähe von Flughäfen einzuhalten; der Höhenunterschied

zueinander hat mindestens 1000 Fuß (rund 300 Meter) zu betragen und kann auf bis

zu 2000 Fuß (600 Meter) erhöht werden. Allerdings spielen bei den festgelegten Sicherheitsabständen

wie auch bei den Längen der Intervalle zwischen den einzelnen Starts und Landungen

das Gewicht und die so genannte Wirbelschleppenkategorie des Fliegers eine Rolle.

Vereinfacht gesagt, können zwei Learjets in kürzeren Intervallen hintereinander aufsteigen als

zwei Airbusse. Und auch welchen Weg die Flieger in der Luft nehmen dürfen, ist ihnen von jeweiligen

Behörden wie der Obersten Zivilluftfahrtbehörde in Österreich exakt vorgeschrieben – die

grenzenlose Freiheit über den Wolken gibt es eben doch nur bei Reinhard Mey.

Bilder: © autonomos-labs; shutterstock; wikipedia

////// UNTER DER ERDE //////////////////////////////////////

… war Freiheit eh nie ein großes Thema, auch hier sind nicht nur die Strecken, sondern auch die

Abstände zwischen den einzelnen U-Bahn-Zügen exakt vorgegeben. In Wien betragen diese derzeit

bei den Linien U1 bis U4 – die U6 hat ein paar Besonderheiten – mindestens 2,5 Minuten.

Was weder den technischen Möglichkeiten geschuldet ist, da könnten die Wiener U-Bahnen

auch in 90 Sekunden-Intervallen fahren, noch dem sicheren Ein- und Aussteigen. Das lässt sich

nämlich, abhängig von der Größe der Station, in einer knappen halben Minute erledigen. Vielmehr

liegt den Intervallen von U-Bahnen eine wirtschaftliche Kalkulation zu Grunde: Derzeit reichen

diese Abstände zwischen den einzelnen Garnituren einfach aus, um das Passagiervolumen auch

in der Hauptverkehrszeit zu bewältigen. Und nach unten ist ja technisch bei Bedarf noch viel Luft.

www.wienerlinien.at

FREIRÄUME

13


Raum auf Zeit

Foto: © wikipedia: Pagalino Gemeinschaftsgarten Panorama“ von Nifoto - Eigenes Werk.

LEERSTEHENDE GEBÄUDE UND AREALE, BAULÜCKEN UND BRACHEN IN DER

STADT LASSEN SICH ÜBERGANGSWEISE NÜTZEN: KREATIVE, VEREINE,

GASTRONOMEN, ABER AUCH UNTERNEHMEN MIETEN SIE TEMPORÄR,

IMPROVISIEREN MIT EINRICHTUNG UND BETRIEB UND TEILEN SIE GERN

MIT ANDEREN. DAHINTER STEHEN DER WILLE ZUR SELBSTBESTIMMUNG,

GEMEINSCHAFTSSINN ODER MITUNTER KOMMERZIELLES INTERESSE.

Von Thomas Berg

14


Ein Telegrafenamt aus der Gründerzeit

im sechsten Wiener Gemeindebezirk,

das seit einigen Jahren darauf wartet,

in ein modernes Bürogebäude transformiert

zu werden: Bis vor einem Jahr

wurden oben, in einer feudalen Halle,

Platten aufgelegt, gefeiert und in den

hohen Geschoßen in Künstlerateliers

gearbeitet. Bald soll aus dem Gebäude

ein Bürohaus werden – aber bis die

Pläne stehen und die Behördenwege

abgewickelt sind, ist es zwischengenutzt

worden.

Kreative und Kulturveranstalter schätzen

das Ambiente leer stehender Gebäude

für ihre Events, und sie haben

auch kein Problem damit, schnell

weiterzuziehen und sich an anderer

Stelle wieder aufzubauen, sobald die

Flächen für ihre eigentlichen Zwecke

gebraucht werden. Das war schon immer

so als Teil einer Sub-Kultur, die in

alten Fabriken, in havarierter Industriearchitektur

oder ungenutzten Eisenbahnarealen

oft geheime, später gehypte

Events steigen ließ. Und die,

die Immobilienentwickler schon erwarteten,

um die Zeit zu nutzen, bis

die jeweiligen Areale für einzelne Immobilienprojekte

umgewidmet wurden.

LEERSTAND BRINGT

NEUE OPTIONEN

Leerstand von Gebäuden ist in vielen

Städten ein viel diskutiertes Thema –

weil generell leistbarer Wohnraum,

Arbeitsraum und öffentlich nutzbarer

Raum fehlt. So steht Leerstand immer

wieder im Wechselspiel von gesellschaftlich

relevanter Nutzung und

profi torientierter Projektentwicklung.

Die Motive für Zwischennutzungen,

die einen Leerstand zumindest temporär

füllen sollen, sind daher sehr

unterschiedlich. Meist entstehen sie

aus dem Bedürfnis der potenziellen

Nutzer heraus: Das sind oft Krea tive,

die nach günstigen freien Flächen für

ein Atelier, ein Studio oder eine Bühne

für Aufführungen suchen, Urban Gardener

und Urban Farmer, die brachen

Grünraum kultivieren beziehungsweise

beweiden wollen, Gastronomen

und Shopbetreiber, die Platz für Popup-Locations

– also Räumlichkeiten,

die als Geschäftslokal genutzt werden,

aber nur für ein paar Tage oder Wochen

geöffnet haben – suchen oder

auch Vereine und private Nachbarschaften,

die eine ungenutzte Fläche

etwa zum Sport und zur Freizeitgestaltung

verwenden wollen. Zumal ja

laufend große Flächen frei werden,

weil sich die Industrie aus der Stadt

zurückzieht, sich die Bahninfrastruktur

stark verschlankt oder die B- und

C-Lagen von Büro- und Geschäftshäusern

keine Nachfrage mehr haben.

Dadurch steigt der politische Wille in

vielen Städten, diese Flächen für die

Allgemeinheit oder für einzelne Gruppen

bereitzustellen. Solche Initiativen

sind durchaus als ein Beitrag zur

Identitätsstiftung und zur Steigerung

des Freizeit-, Gastro- und auch

Dienstleistungs-Angebots in einem

Stadtviertel zu werten. Oft gehen die

Akteure auch in die Offensive: Wie

stark der Bürgerwille den politischen

beugt, zeigen prominente Beispiele

wie etwa Berlin Tempelhof, dem seit

2008 aufgelassenen Flughafen, der

als Erholungsraum für die Allgemeinheit

erstritten wurde – mit Erfolg.

Zwischenzeitlich dient das Gelände

immer wieder als Ort für Events wie

etwa Sportveranstaltungen oder

Modemessen. In den bestehenden,

denkmalgeschützten Gebäuden

sollen Unternehmen aus der Kreativwirtschaft

ihr Quartier fi nden.

EINE VORHUT DER

GENTRIFIZIERUNG?

Konzepte der Zwischennutzung werden

von anderer Seite – von Investoren

und Stadtentwicklern – allerdings

auch als Vorhut gesehen, ein städtisches

Quartier vorzubereiten, sprich

es mit neuen Bedeutungen aufzuladen

und es aufzuwerten. So gerät die

Idee auch in Gefahr, für rein kommerzielle

Zwecke instrumentalisiert zu

werden. Denn eine kreative, einkommensschwache

Klasse wird temporär

mit Flächen versorgt, damit sie letztlich

dafür sorgt, dass sich ein Stadtviertel

für eine Zielgruppe an neuen

Bewohnern entwickelt, die weit mehr

für den Quadratmeter bezahlen kann

als die angestammte Klientel. Vor

diesem Hintergrund wird Zwischennutzung

durch eine Bohème zum Mittel

der Gentrifi zierzung, die sich letztlich

genau gegen jene stellt, die den

Boden eigentlich aufbereiten.

Dennoch: Zwischennutzung macht

aus der Not auch eine Tugend. Denn

Leerstand rentiert sich für kaum einen

der Betroffenen, sei es für den Eigentümer,

sei es für die Kommune oder

für die Nachbarschaft, weil nicht benützter

Raum ein Viertel leblos erscheinen

lässt, heruntergekommen

wirken lässt und mitunter Ziel von

Vandalismus ist. Leerstand rechnet

sich höchstens für Spekulanten, die

sich durch temporäre Mieter nicht die

schnelle Verwertbarkeit zu einem

späteren Zeitpunkt mit gestiegenen

Quadratmeterpreisen verstellen wollen.

DER WILLE ZUR

SELBSTBESTIMMUNG

SOLLTE VORHANDEN

SEIN

In einzelnen Fällen werden aus Zwischennutzungen

langfristige Projekte

oder sogar dauerhafte Lösungen,

die dazu führen, dass sich an einem

Ort bestimmte Branchen zusammentun.

Wie erfolgreich die Akteure sind,

hängt auch davon ab, wie sehr sie die

Konfl ikte mit Behörden, Eigen tümern

und Planern aussitzen. Entscheidend

ist die Initiative des städtischen

Bewohners, der selbstbewusst sein

Recht auf Mitbestimmung als Bürger

einfordert. So sehr wie kommunale

Stadtplanung oder investorengetriebenes

Development von oben herab

über den Stadtraum entscheiden,

entsteht und organisiert sich städtischer

Raum auch von unten herauf.

In Wien werden leer stehende Flächen

von einer Agentur für Zwischennutzung

erfasst. Schon seit einiger Zeit

gibt nach Hamburger Vorbild auch in

Wien ein „Leerstandsmelder“ über

freie Flächen Auskunft. Und vonseiten

der Stadt Wien kümmert man

sich in der Vernetzungs-Rolle auch

um Mehrfachnutzungen (Projekt

„einfach – mehrfach“ www.wien.gv.at/

stadtentwicklung/projekte/mehrfachnutzung),

beispielweise von

Sportplätzen und Schulhöfen für

außerschulische Zwecke –

FREIRÄUME

15


Foto: © Bikini Berlin Boxes

Zwischennutzung liegt ganz im Trend

einer sich immer schneller drehenden

Immobilienentwicklung: Pop-up-Stores

im Container gelten als der letzte Schrei

und werden auch im kommerziellen Umfeld

aufgegriffen.

„Bikini Berlin Boxes“ (im Bild)

funktionieren beispielsweise nach diesem

Muster. Auf dem großen Areal mehrerer

Fünfziger-Jahre-Gebäude bilden hier

Container mit verschiedenen Designern

als Mieter eine Art Kaufhaus.

Auch Ketten wie H&M lassen es sich nicht

nehmen, auf diesen Zug aufzuspringen

und einen Container an die holländische

Küste zu stellen.

die Sportplätze stünden ja außerhalb

der Schulzeit frei und könnten genutzt

werden. In einigen Wiener Gemeindebezirken

konnten sich so rund

um die Schulen Treffpunkte für Kinder

und Jugendliche entwickeln, die

den Austausch – auch den interkulturellen

– fördern. So formell und langwierig

die Abwicklung bei „normalen“

Bauprojekten abläuft, so schnell und

niederschwellig können Nutzer die

Flächen in Beschlag nehmen. Knackpunkt

ist die zeitliche Begrenztheit,

durch die der Eigentürmer oder der

Entwickler keine großen Verbindlichkeiten

eingehen muss.

ERSTREITEN UND

ERSITZEN FÜR

LANGFRISTIGE

NUTZUNG

In anderen Metropolen muss die Inanspruchnahme

von Leerstand und

Brache, von zu wenig genutzten und

bewusst zurückgehaltenen Flächen

erst erstritten oder ersessen werden.

In einigen Städten hat sie längere

Tradition – wie etwa in Hamburg oder

Berlin mit ihrer Hausbesetzerszene.

In Städten wie Kopenhagen oder

Rotterdam wiederum hat das Kollektiv

das Sagen und es bilden sich so

unorthodoxe wie nachhaltige Infrastrukturen

in einzelnen Stadtvierteln

heraus. Manchmal wird das Improvisierte

eines vorläufi gen Ortes selbst

zum Kunstkonzept, wie dies die Architekturprojekte

des niederländischen

Ateliers Van Lieshout zeigen –

ganze Dorfgemeinschaften baute das

Kollektiv mit simplen Materialen und

Fundstücken.

In der Schweiz gibt es von offi zieller

Seite sogar Leitlinien und Unterstützung,

wie sich Zwischennutzung organisatorisch

umsetzen lässt. Ein eigenes

Regelwerk wurde dazu erstellt,

wie Akteure und Behörden dabei vorgehen

können. Und es erweist sich in

der Umsetzung als praktikabel.

HOTELS IN

GESCHÄFTSLOKALEN

Die Erdgeschoßzone, die nicht nur in

den früheren Einkaufsstraßen, sondern

auch in Kleinstädten, ja selbst

in Landgemeinden leer steht und verödet,

wird zum Ziel-1-Gebiet für originellere

kommerzielle Konzepte: In

den meist primitiv ausgestatteten

beziehungsweise vernachlässigten

Räumlichkeiten ziehen Off Spaces

(unabhängige Ausstellungsräume) ein

oder Pop-up-Boutiquen auf Zeit, in

denen Designer ihre Kreationen verkaufen.

Ungewöhnlich, aber auch

mancherorts gefragt ist die Nutzung

als Hotel. In Linz etwa realisierte

man im Kulturhauptstadtjahr das

„Pixelhotel“ mit über die Stadt verstreuten

Niederlassungen in leerstehenden

Räumlichkeiten im Erdgeschoß.

Ein französisches Kollektiv

namens Exyzt errichtete mit dem

Farwest Hotel auch eine Bleibe auf

Zeit. Rund um solche Ideen entstehen

Hybride wie etwa Urban Camping

in Berlin. Im „Hüttenpalast“

bewohnt man einen Campingbus,

der in einem Geschäftslokal steht.

Zwischennutzung ist auch eine

Option für viele städtische Lücken,

Brachen und zukünftige Baustellen:

Bis eine Umwidmung durch ist und

die Bagger anrücken, werden Container

aufgestellt und mit Café, Shop

und Werkstätte besiedelt. Dazwischen

werden Hochbeete und Sitzbänke

aufgestellt und man trifft sich

an diesem temporären Ort.

LEERSTAND UND DESSEN

NUTZUNG IST TEIL EINES

ARCHITEKTURDISKURSES

Die Idee Bauten temporär zu nutzen

ist im Zusammenhang des allgemeinen

Architekturdiskurses zu sehen:

Die Stilisierung der Architektur als

hohe Baukunst schürte seit jeher

auch das Interesse an ihrer Gegenseite.

Bereits zu Beginn des vergangenen

Jahrhunderts begann der

Diskurs über das Informelle, das Anonyme,

das Improvisierte und das

Selbst-Organisisieren beim Bauen.

Das Augenmerk auf eine selbstorganisierte

Architektur und Gemeinschaft

könnte heute nicht größer sein.

Denn diese unkonventionelle, partizipatorische

Nutzung von Raum ist

auch ein Gegenentwurf zu einer neoliberalen

Profi tgesellschaft, die sich

städtischen Raum untereinander aufteilt.


16


Foto: © Mirjana Rukavina

Selbstbestimmt als Ideal

FREIRÄUME IN DER KUNST SIND ORTE, AN DENEN DER DRUCK WEGFÄLLT,

ETWAS PRODUZIEREN ZU MÜSSEN. DIE PERFORMANCES DER

DJANE SUSANNE ROGENHOFER SIND INTEGRATIVE UND PARTIZIPATIVE

PROZESSE, DIE MENSCHEN ZU NEUEN FREIHEITEN FÜHREN.

Das Gespräch führte Catherine Gottwald

querspur: Sie sind als Kind zweier

bildender Künstler in einem Haushalt

aufgewachsen, in dem Wert auf Autonomie,

Toleranz und Solidarität gelegt

wurde. Ihr Alltag war von Kunst

geprägt. Bis heute ist Ihr Zugang zu

Kunst und Kulturarbeit experimentell,

vielschichtig und spielerisch.

Haben Ihnen Ihre Eltern großzügige

Freiräume eingeräumt?

Rogenhofer: Total. Meine Eltern

waren Freidenker. Sie haben mich

auch in meinem Tun sehr belassen

und mir wirklich sehr viele Freiräume

gegeben. Das habe ich sehr genossen.

Natürlich wurde bei uns auf moralisches

Verhalten Wert gelegt, aber

dort, wo es für meine Entwicklung

und Erziehung wichtig war, wurde

mir – auch retrospektiv betrachtet –

eine „gesun de Form von Freiheit“

gewährt. Ich durfte als Heranwachsende

beispielsweise völlig frei entscheiden,

was ich in Zukunft beruflich

machen wollte.

FREIRÄUME SIND

AUCH VON

FINANZIELLEN

MÖGLICHKEITEN

BESTIMMT

querspur: Sind Freiräume für Sie

also Bewegungs-, Handlungs- und

Entscheidungsräume? Wie würden Sie

Freiraum definieren?

Rogenhofer: Als Freiheit, sich nicht

irgendwelchen gesellschaftlichen

Normen unterwerfen zu müssen,

die ich als überkonstruiert empfinde

oder an die ich nicht glauben kann.

Aber es gibt tatsächlich verschiedene

Arten von Freiräumen. Ich bin

schon als Kind irrsinnig früh alleine

U-Bahn gefahren. Bewegungs- und

Handlungsfreiräume sind wichtig.

Mit Materiellem versorgt zu sein,

ist auch ein Freiraum.

FREIRÄUME

17


MMag.a art. Susanne Rogenhofer, besser

bekannt unter ihrem DJane-Namen „Sweet

Susie“, ist Mitbegründerin des 1995 ins Leben

gerufenen, legendären „Dub Clubs“ im Wiener

Flex. 2010 gründete die 1971 geborene Wienerin

das künstlerische Frauennetzwerk femous und

arbeitet u. a. als Kuratorin für die Wiener Festwochen,

als Bilden de Künstlerin, Elektronikmusikerin,

Kulturarbeiterin und Lektorin für DJing

(u. a. beim DJn Kollektiv Brunnhilde) sowie als

Lehrerin für Bildnerische Erziehung an einer

Wiener Schule. Rogenhofer studierte Kunst

und Fotografi e an der Akademie der Bildenden

Künste Wien und Kommunikative Praxis an der

Universität für angewandte Kunst.

querspur: Bestimmen denn materielle

Möglich keiten den Raum, der zur Entfaltung

genutzt werden kann?

Rogenhofer: Für mich ist Freiheit

schon auch sehr an materielle Gegebenheiten

gebunden. Ein Mensch, der

kein Geld hat und an allen Ecken und

Enden sparen muss, ist nicht frei.

Er ist völlig eingeschränkt.

querspur: Sie benutzen Freiraum und

Freiheit als Synonyme. Sind Freiraum

und Freiheit für Sie dasselbe?

Rogenhofer: Freiraum ist eine

räumliche Metapher für Freiheit.

querspur: Sie gelten als Pionierin der

elektronischen Musik in Österreich

und werden als eine der wenigen

weiblichen Akteure an den Turntables

als DJ-Heldin gefeiert. Ist ein DJ

prinzipiell frei oder muss er das

spielen, was den Party-People gefällt?

Rogenhofer: Das kommt natürlich

auf den DJ an. Es gibt klassische Pop-,

oder Event-DJs, die im Mainstream

verhaftet sind und wie Dienstleister

fungieren. Andererseits gibt es noch

die DJs der Subkultur, wo ich herkomme,

die Musik spielen, die nicht

massenkompatibel ist. DJing ist eine

faszinierende Kunstform, auf die das

Publikum sofort reagiert. Ob das,

was du machst, ankommt, zeigt

sich körperlich: Entweder die Leute

fangen an, wild zu tanzen oder sie

gehen weg oder sie beginnen zu

schmusen. Natürlich kann man

als DJ auch kein Ego-Programm

fahren und überhaupt nicht auf sein

Publikum eingehen. Sonst würde

jeder davonlaufen.

querspur: Grundsätzlich gefragt:

Welches kulturelle Potenzial steckt in

Freiräumen?

Rogenhofer: Frei zu sein, ausprobieren

und experimentieren zu können,

was eben noch nicht so erprobt und

gängig ist. Gezielte Förderprogramme

können beispielsweise solche Freiräume

schaffen, indem bewusst neue

Kunstformate gefördert werden,

die nicht den üblichen Kriterien

von Kunst- und Kulturarbeit entsprechen.

Wenn Kunst also nicht mehr

ausschließlich in etablierten Kulturspielstätten

wie Oper, Theater oder

Museum oder dem dazugehörigen

Kontext stattfindet, sondern frei im

öffentlichen Raum inszeniert wird,

kann man damit neue Zielgruppen

direkt erreichen. Jeder zufällige

Besucher kann, wenn er möchte,

Teil der Inszenierung sein. Oft werden

dabei auch soziale Fragen thematisiert.

Das ist toll und hat vielleicht

auch etwas Utopisches.

IN DER KUNST

SOLLTEN SICH UTOPIEN

REALISIEREN LASSEN

querspur: Kunst, die aus und im freien

Raum entsteht, ist also eine Utopie?

Rogenhofer: In gewisser Weise schon,

aber eben Utopie, die realisiert gehört.

querspur: Im Rahmen eines Förderprogramms

werden Sie 2016 Ihr „Gemeindebau-Chorprojekt“

umsetzen.

Bewohner des August-Fürst-Hofs in

Wien Meidling singen gemeinsam mit

Kulturschaffenden von den Balkonen

und Fenstern des Gemeindebaus. Hier

stehen Aspekte der Aufklärung, des

Aktivismus, der Partizipation und der

Begegnung mit den „anderen“ im Vordergrund.

Kann man hier einen Aspekt

von Freiraum finden?

Rogenhofer: Ja. Denn der Freiraum,

der hier entsteht, ist ein Raum,

in dem zwischenmenschliche

Barrieren aufgehoben werden.

Der Unterschied zu anderen oder

bisherigen Performances, die in

Gemeindebauten stattgefunden haben,

ist, dass nicht im Gemeindebau eine

Bühne aufgebaut wird, sondern dass

der Gemeindebau selbst die Bühne ist.

Die Gemeindebaubewohner, die noch

nie auf einer Bühne gestanden sind,

werden plötzlich zu gemeinsam mit

Musikern und Künstlern Agierenden.

Ein wesentliches Ziel meiner Kulturarbeit

ist es, Bürger aus verschiedenen

Gesellschaftsschichten zu erreichen,

sie zusammenzubringen und einzubinden.

Kunst soll keiner Elite vorbehalten

sein. Mit solchen Experimenten

wie dem Gemeindebau-Chorprojekt

möchte ich ein Exempel statuieren

und langfristig ein neues Bewusstsein

schaffen. Kunst ist für alle da. Das

Zusammenkommen von sozialen

Schichten hat schon im 1995 „Dub

Club“ (im Wiener Lokal Flex, Anm.

d. Red.) begonnen. Das Publikum

montag nachts war eine Mischung aus

Studenten, Künstlern, Arbeitslosen,

Desperados und jungen, reichen

Privatiers.

INDIVIDUELLE

FREIRÄUME UND

GESELLSCHAFTLICHE

VERPFLICHTUNGEN

GEHÖREN ZUSAMMEN

querspur: Gibt es Ihrer Meinung

nach auch ein politisches Recht auf

Freiräume?

Rogenhofer: Natürlich. Jeder Mensch

soll möglichst das machen können,

was er will, wozu er sich hingezogen

fühlt. Es gibt natürlich auch gesellschaftliche

Verpflichtungen oder auch

Verpflichtungen der Umwelt gegenüber.

Prinzipiell sollte aber jeder – solange

er nicht dem Wohl des anderen oder

der Gesellschaft schadet – so frei sein,

wie er denkt.

querspur: Und wieviel Freiraum gibt

es tatsächlich in der Gesellschaft?

Rogenhofer: Was das Denken anbelangt

oder die Lebenspraxis, werden

in Österreich viele unterschiedliche

Lebensmodelle zugelassen. Manche

werden sich hier trotzdem einge-

18


Foto: © Gugerell, wikipedia

Der August-Fürst-Hof, ein Gemeindebau in Wien Meidling, ist bald große Bühne. 2016 wird dort das

„Gemeindebau-Chorprojekt“ der Künstlerin Susanne Rogenhofer umgesetzt. Gemeindebaubewohner und professionelle Sänger

singen zusammen. Partizipation und Begegnung sind das ZIel.

schränkt fühlen wie die Transgender-

Community oder Migranten. Was die

Verteilungsgerechtigkeit angeht, gibt

es definitiv zu wenig Freiraum. Wenn

es mehr Gerechtigkeit gäbe, hätten

mehr Menschen mehr Freiräume.

querspur: Zurück zur Kunst. Kann

man sich in der Subkultur, aus der Sie

ja kommen, mehr Freiräume nehmen,

als sie in der Hochkultur möglich sind?

Rogenhofer: Hier möchte ich nicht

zwischen Sub- und Hochkultur unterscheiden.

Freiräume in der Kultur

bedeuten, dass der ökonomische

Druck wegfällt oder nicht vorhanden

ist. Ökonomische Prämissen bestimmen

aber leider viel zu über oft den

Kunstbetrieb. Nicht selten verliert

die Kunst oder die Kulturarbeit dabei

ihren Stachel. Das ist ein Erfahrungswert

mit leicht bitterem Nachgeschmack

nach 20 Jahren Kulturarbeit.

Wenn man ständig darüber nachdenken

muss, welche Budgets zur Verfügung

stehen oder wie viele Gäste bei

einem Event auftauchen werden, verändert

das komplett die Form und

den Inhalt von Kunst oder Kulturarbeit.

Was sich für mich innerhalb der

letzten 20 Jahre positiv verändert hat,

ist die Wahrnehmung von Kunst und

Kultur aus der außereuropäischenamerikanischen

Zone. Dass 2015

beispielsweise mit Okwui Enwezor

ein Nigerianer die 56. Biennale in

Venedig kuratiert, werte ich als

deutliches Zeichen dafür.

FREIRÄUME

19


Der Heuhaufen

sucht mit

20

Foto: © Karin Feitzinger


ZUKUNFTSPROGNOSEN FASZINIEREN DIE MENSCHHEIT SEIT JEHER. MITTELS

PREDICTIVE ANALYTICS WERDEN KOMPLEXE ZUSAMMENHÄNGE BEWERTET

UND IN DIE ZUKUNFT PROJIZIERT. DIESE MÄCHTIGE METHODE KANN VIELE

PROBLEME LÖSEN UND GLEICHZEITIG NEUE SCHAFFEN. Von Ruth Reitmeier

Eine fi ktive Szene in naher Zukunft:

„Was hast Du denn da schon wieder

bestellt?“, fragt sie ihren Home-

Management-Roboter und deutet

auf das Paket auf dem Küchentisch.

„Das kam heute mit der Post. Und

ich habe es nicht bestellt“, antwortet

der Roboter. „Der Händler hat dir das

Paket wohl in der Annahme geschickt,

dass du diese Dinge brauchst. Die

Soda-Patronen gehen zur Neige

und das Reinigungsmittel für meine

Sensoren ist fast leer.“ Sie wirft einen

achtlosen Blick auf die Sendung. „Ich

brauche dieses Zeug nicht! Und ich

will es nicht. Schick das sofort zurück“,

befi ehlt sie dem Roboter.

Der aber antwortet: „Du brauchst

es vielleicht heute nicht, doch das

System weiß besser als du selbst,

dass du es schon morgen brauchen

wirst.“ Sie grinst. „Ach so? Nun, das

System hat keine Ahnung, denn ich

werde morgen nur Leitungswasser

trinken und dich, mein Lieber, schalte

ich ab. Dann brauchst du auch kein

Reinigungsmittel.“

DER ONLINEHÄNDLER

KENNT DIE BESTELLUNG

VON MORGEN SCHON

HEUTE

Vielleicht werden wir uns schon bald

durch derart bockige Verweigerung

Handlungsfreiraum in Konsumentscheidungen

erkämpfen müssen. Der

Online-Händler Amazon hat sich nach

einem Bericht des Wall Street Journal

bereits 2012 ein System des antizipatorischen

Paketversands als Patent

gesichert. Das Prinzip dahinter:

Waren werden verschickt, noch bevor

der Kunde sie bestellt hat. Kundendaten

zu früheren Bestellungen, das

Screening von Wunschzetteln und

Warenkörben sowie die Verweildauer

des Cursers auf Produkten im Shop

liefern die Rohdaten. Diese werden

nach Mustern abgesucht und mittels

Algorithmen schließlich zu Bestellprognosen

zusammengeführt. Dieses

System wendet Predictive Analytics

(PA) an. Während Datamining Muster

in Datenbeständen erkennt, liefert

PA zukunftsbezogene Auswertungen.

Die Trennung zwischen den Begriffen

ist unscharf. PA ist jedenfalls so etwas

wie das Orakel unserer Zeit. Am

Anfang steht klassisch eine Fragestellung.

In der Glaskugel spielt sich

dann vereinfacht Folgendes ab: Eine

Hypothese wird mittels Datamining

überprüft und daraus schließlich eine

Vorhersage über die Zukunft getroffen.

Es wird also nicht nur der Ist-Zustand

erhoben, um den Menschen entscheiden

zu lassen, sondern weitergerechnet

– und erst danach ist der Mensch

mit seiner Entscheidungskompetenz

an der Reihe. Das Versprechen, das

den mächtigen Formeln innewohnt, ist

es, komplexe Zusammenhänge effi zienter

sowie zukunftsbezogen zu überblicken

und fundierte, da evidenzbasierte

Entscheidungen treffen zu

können. Die andere Seite der Medaille

ist die Horrorvision eines Datengaus

gen Mitte des 21. Jahrhunderts in einer

Welt, in der sämtliche Informatio nen

gesammelt und Lebens bereiche

durchleuchtet werden, in der es keine

Anonymität, keine Privatsphäre und

keinerlei Freiräume mehr gibt. PA ist

keine Zukunftsmusik, sondern fi ndet

bereits in zahlreichen Gebieten Anwendung.

EIN SUPERCOMPUTER

SCHLÄGT MEDIZINISCHE

DIAGNOSEN UND

THERAPIEN VOR

Die sprichwörtliche Suche nach der

Nadel im Heuhaufen hat im digitalen

Zeitalter eine neue Dimension erreicht.

„Der Heuhafen sucht mit“, sagt Datenschutz-Experte

Christof Tschohl. Und

das kann Leben retten. Der IBM-

Super computer Watson etwa durchforstet

Fachliteratur und klinische

Daten, um etwa optimale, personalisierte

Behandlungsstrate gien für

Krebspatien ten zu fi nden.

Medizinische Suchmaschinen helfen

beim Wissensmanagement, doch

dies ist erst der Anfang. Mittels PA

macht die Maschine auf der Basis

der durchforsteten Literatur samt

Arztbriefen und klinischen Daten konkrete

Diagnose- und Behandlungsvorschläge.

„Mittlerweile erscheinen

rund eine Million medizinische Fachartikel

pro Jahr“, betont Allan Hanbury

vom Institute of Software Technology

and Interactive Systems an der Technischen

Universität Wien. Dass hier

kein Mensch den Überblick behalten

kann, versteht sich von selbst. Ein von

Hanbury geleitetes Projektteam hat

solch ein Suchsystem für die Radiologie

entwickelt. Der Prototyp ist fertig

und funktioniert – und zwar so: Zeigt

die Röntgenaufnahme etwas, das

der Radiologe noch nie gesehen hat,

speist er das Bild in die Suchmaschine

ein. Über Bilderkennung werden ähnliche

Röntgenaufnahmen blitzschnell

aus dem Archiv gehoben, mittels Textanalyse

werden zusätzlich relevante

Informationen aus Arzt-Berichten

sowie klinischen Daten gefi ltert und

sodann die wichtigen Textstellen und

Werte bereits markiert präsentiert.

„Das System ist ein Tool für den Arzt,

es kann den Arzt aber nicht ersetzen“,

betont Hanbury, „Nur ein ausgebilde ter

Mediziner verfügt über genug Fachwissen,

das Ergebnis zu interpretieren

und gegebenenfalls zu verwerfen.“

GEN-SCREENING

BEDEUTET ZU

WISSEN, WAS EINMAL

IN DER EIGENEN

KRANKENGESCHICHTE

STEHEN WIRD

Nicht nur in der Krebsforschung gewinnt

das Genetic Sequencing – ein

Screening der Gene – an Bedeutung.

Nachdem allein ein einziges Gen enorme

Datenmengen enthält, war dies

FREIRÄUME

21


isher sehr aufwendig und teuer.

Mittlerweile liefern Hochleistungsrechner

Ergebnisse deutlich schneller

und billiger ab. Dies ist zweifellos ein

wichtiger Fortschritt in der Behandlung

von Krankheiten wie Krebs, die

einen Lauf gegen die Zeit bedeuten.

Die Methode eröffnet aber auch ganz

andere Möglichkeiten: Etwa jene, bereits

ab der Geburt zu wissen, welche

Krankheiten einem Menschen bevorstehen

könnten. In den USA wird aktuell

in einem Modellversuch mit ins ge samt

480 Babys Genetic Sequencing eingesetzt

und dabei dessen Folgen erforscht.

Das Projekt soll zeigen, welche

Chancen, aber vor allem auch

welche Risiken dieses Wissen birgt.

In Boston entschlüsseln Ärzte dabei

erstmals auch das Genom gesunder

Neugeborener. Ihr Motiv: schneller zu

sein als der Markt. Denn die Medizintechnik

ist seit einiger Zeit in der Lage,

solcherart Prognosen zu erstellen,

man nutzte diese aber bisher nicht,

weil ihr Einsatz naturgemäß höchst

umstritten ist. Es stellen sich jede

Menge Probleme, allen voran jenes,

dass ja die Babys selbst nicht darüber

entscheiden können, ob sie eine Analyse

ihres medizinischen Schicksals

wünschen oder nicht. Und man weiß

freilich auch noch nicht, wie die Eltern

mit dem Wissen über mögliche

künftige Krankheiten ihrer Kinder

umgehen werden.

ES GILT: WAS MÖGLICH

IST, WIRD AUCH GEMACHT

Beim Baby-Seq-Projekt geht es um

Technologiefolgenabschätzung, um

die Frage also, was das Einsetzen

dieser Technologie mit den Menschen

macht. Allfällige verheerende Folgeschäden

sollen verhindert werden,

bevor es zu spät ist und diese Untersuchung

im Kreissaal zur Routine

wird. Experten sind im Übrigen der

Ansicht, dass die Genom-Sequenzierung

von Kindern nicht aufzuhalten ist.

Aber nicht nur die Ergebnisse, sondern

der bloße Einsatz von Datamining

und PA müssen auf ihre Folgewirkungen

hin überprüft werden. Wird in

Österreich etwa Predictive Policing –

das heißt Vorhersagen im Bereich der

Kriminalistik zu treffen – erstmals im

Hinblick auf das Einbruchsrisiko getestet,

wird es in den USA bereits viel

weitreichender angewandt: In Florida

hat nun das Department of Juvenile

Justice beschlossen, künftig PA einzusetzen,

um das Rückfallrisiko jugendlicher

Straftäter zu ermitteln und gegebenenfalls

gegenzulenken. Das

Programm nennt sich „The Positive

Achievement Change Tool“. Die

Risiko-Bewertungs-Software screent

Daten zur Vorgeschichte der jugendlichen

Straftäter aus Polizeiberichten,

Gerichts- und Gefängnisakten,

durch stöbert die Herkunft der Jugendlichen

und ihr soziales Umfeld

sowie Risikofaktoren wie etwaige

Traumatisierungen oder Abhängigkeiten.

VORHERSAGEN IN

DER KRIMINALISTIK

SIND EIGENTLICH EIN

SCHUTZMECHANISMUS

Das Ziel ist ein hehres: Gefährdete

Jugendliche sollen vor erneuter Straffälligkeit

und Inhaftierung geschützt

werden – vor sich selbst also. Fast

refl exartig stellt sich hier die Frage,

was das wohl mit einem jungen

Menschen macht, wenn er von vornherein

als Wiederholungstäter abgestempelt

wird. Ergibt sich daraus

nicht zwangsläufi g eine selbsterfüllende

Prophezeiung, die noch dazu

nicht auf bloßen Annahmen beruht,

sondern Schlussfolgerungen auf Basis

harter Daten darstellen? Nach Defi

nition des österreichischen Psychotherapeuten

Paul Watzlawick handelt

es sich bei der selbsterfüllenden Prophezeiung

um eine Voraussage, die

rein aus der Tatsache heraus, dass

sie gemacht wurde, zur Wirklichkeit

wird und damit ihre eigene Richtigkeit

bestätigt. Wer also den Teufel an

die Wand malt, verstärkt demnach die

Wahrscheinlichkeit, dass es tatsächlich

so kommt.

VORHERSAGEN SIND

NUR SO GUT WIE DIE

DATEN, AUS DENEN SIE

STAMMEN

Themenwechsel zu einem der Praxisprobleme

des Datamining: die Datenqualität.

Grundsätzlich gilt der

Leitsatz: „Garbage in, garbage out“

(kommt Müll hinein, kommt Müll heraus),

wie es Mobilitätsforscher Martin

Köhler vom Austrian Institute of Technology

auf den Punkt bringt. Ist also die

Datenbasis schlecht, kann bei deren

Analyse nicht viel herauskommen. Im

hektischen Spitalsalltag kommt es immer

wieder zu schlampigen Aufzeichnungen,

bei Verkehrsprognosen ist

das Problem der ungenauen Verortung

noch nicht gelöst. Ist etwa gerade

keine Satellit in der Nähe, können

GPS-Daten um bis zu 100 Meter unscharf

sein. Mobilität ist jedenfalls bereits

heute eines der großen Anwendungsbereiche

von PA. Reisezeiten

können immer genauer berechnet,

Staubildungen vorausgesagt werden.

Mussten bisher Autos gezählt und

Umfragen durchgeführt werden, bieten

heute Sensoren deutlich effi zienter

Möglichkeiten der Datenerfassung.

„Smart Survey“ (schlaue Umfrage)

heißt diese neue Art der Verkehrsdatenerhebung.

Freiwillige Probanden,

die eine entsprechende App auf ihren

Handys installiert haben, liefern

aktuelle Verkehrsinformationen. Die

Systeme können sogar unterschiedliche

Verkehrsmittel erkennen. Es geht

längst nicht nur um den Autoverkehr,

sondern genauso um Zugverbindungen,

um den Umstieg von einem auf

ein anderes Verkehrsmittel, der Nachfrage

nach Car-Sharing an Verkehrsknotenpunkten.

Neben den Handy-

Probanden sind zudem mit Sensoren

ausgestattete Taxis unterwegs und

WAHRSCHEINLICHKEIT,

NICHT SICHERHEIT

liefern Daten direkt von der Straße.

Diese Methoden weisen zugleich in

die Zukunft der Verkehrsforschung,

22


Foto: © shutterstock; Illustrationen: © Barbara Wais

Auf Basis der Vergangenheit wird die Zukunft vorausgesagt: Durch gesammelte Daten, etwa über das Einkaufsverhalten einer Person,

berechnet ein Algorithmus, welche Produkte bald in den Einkaufswagen wandern werden. Hier geht es nicht nur um den täglichen Einkauf,

sondern auch um neue Artikel wie zum Beispiel ein Buch oder ein Fahrrad. Aber auch im Bereich der Mobilität liefert das Verhalten von

gestern Material für Prognosen aus der Glaskugel. So können zum Beispiel Staus genau vorausgesagt oder Reisezeiten sehr genau

berechnet werden.

zumal die Daten dichter und präziser

werden, und die Systeme immer

genauer arbeiten und laufend

dazulernen. Dennoch, betont Köhler,

bilden selbst die ausgereiftesten

Analysemethoden immer nur eine

Wahrscheinlichkeit ab. Selbst bei

einer Trefferquote von 97 Prozent

bleibt ein Restrisiko, dass die Vorhersage

dennoch nicht eintrifft. Die Ziele

von Datamining und PA in der Verkehrsforschung

sind der optimale

Verkehrsdurchfl uss, exakte Verkehrsplanung

sowie das Vermeiden von

Unfällen. „Den Verkehr ohne Risiko

wird es in naher Zukunft noch nicht

geben“, betont Köhler.

DATENSICHERHEIT ALS

UNVERZICHTBARER

BESTANDTEIL DES

DATAMININGS

Ein zentrales Thema im engen Zusammenhang

mit Datamining, das immer

stärker ins Bewusstsein rückt, ist die

Datensicherheit. Denn wurden personenbezogene

Daten erst einmal erhoben,

lassen sich Ergebnisse mit hoher

Treffersicherheit exakt rückverfolgen.

„Dann ist es mit der Anonymität vorbei“,

betont Tschohl. Er leitet das Research

Institute in Wien – ein Forschungszentrum

an der Schnittstelle

von Technik, Recht und Gesellschaft –,

ist Nachrichtentechniker und Jurist

und war als Mitglied der Initiative AK

Vorrat mitverantwortlich dafür, dass

die Vorratsdatenspeicherung aufgehoben

wurde. Denn Sicherheit bedeutet

angesichts der zunehmenden

Durchdringung vieler Lebensbereiche

mit Informations- und Kommunikationstechnologie

nicht nur Schutz

vor Viren, Trojanern und Hackerangriffen,

sondern es geht um rechtliche

Sicherheit beim Erheben von und im

Umgang mit Daten. Konkret: Datenanalysen

müssen im Einklang mit Bürger-

und Menschenrechten gestaltet

werden. Zahlreiche Beispiele zeigen,

dass dies möglich ist. Die Weichen

müssen rechtzeitig gestellt werden.

Tschohl arbeitete zuletzt an einer noch

nicht veröffentlichten Roadmap für

IKT-Sicherheit in Österreich mit. Eine

wichtige Erkenntnis der Studie: Gutes

Privacy Design in der Datenverarbeitung

gewinnt zunehmend an Bedeutung

und ist folglich keine Bremse für

den Wirtschaftsstandort, sondern ein

Innovationsmotor.

PERSONENBEZOGENE

DATEN SIND OFT GAR

NICHT NÖTIG

Die Technologie hat dem Menschen

zu dienen und nicht umgekehrt. Deshalb

muss vor jeder Umsetzung, vor

jeder Datenerhebung, die Frage nach

dem konkreten Nutzen gestellt und

beantwortet werden. Aus Sicht des

Datenschutzes gilt: Je weniger in die

Grundrechte eingegriffen wird, desto

besser. Der legitime Zweck einer

Erhebung und Verarbeitung von Daten

muss dabei jedesmal genau defi -

niert werden. „Abstrakte Formulierungen

wie ‚im Interesse der öffentlichen

Sicherheit‘ sind viel zu schwammig“,

betont Tschohl. Zudem heilige der

Zweck eben nicht die Mittel. Die Maßnahmen

müssen tauglich sein, dürfen

aber nicht übers Ziel hinausschießen.

In den meisten Fällen ist die Erhebung

personenbezogener Daten nicht

notwendig, zumal auch aggregierte,

also zusammengefasste Daten zu soliden

Ergebnissen führen.

FREIRÄUME

23


Foto: © shutterstock

Freiraum auf der Straße

SIND SPASSFAHRTEN MIT DEM CABRIO GENAUSO NOSTALGIE WIE FREIHEITS-

LIEBENDE TRUCKER, DIE IN DEN SONNENUNTERGANG FAHREN?

FREIHEITEN UND FREIRÄUME AUF STRASSEN WERDEN SPÜRBAR KLEINER.

DOCH SIE KÖNNTEN IN ANDERER ART WIEDER AUFLEBEN. Von Daniela Müller

In den Achtziger Jahren, als die beiden

Schauspieler Manfred Krug und

Rüdiger Kirschstein als verwegene

Trucker in der TV-Serie „Auf Achse“

auf der ganzen Welt herumfuhren

und den daheimgebliebenen Zusehern

ein Gefühl von Freiheit und

Grenzenlosigkeit vermittelten, als ein

Liter Benzin rund acht Schilling kostete

und das erste Gehalt klägliche

4.200 Schilling betrug, fuhr man mit

den Autos herum, in die es hineinregnen

durfte, weil sie unten einen Stöpsel

hatten, aus dem es wieder herausfl

oss. Selbst rumpelte man mit

dem Suzuki-Jeep, steif und ungefedert

wie eine Badewanne, dafür ohne

Dach, mit 80 km/h nach Griechenland,

die Spurrillen auf der Autoput

waren so tief, dass die überladenen

Autos der Gastarbeiter ständig aufsaßen

und Funken davonstoben. 20

Stunden dauert die Fahrt ans Meer.

DAS NAVI ALS

HANDSCHELLE DES

FREIHEITSGEFÜHLS

Doch das Freiheitsgefühl der Straße

ist heute nicht mehr das, was es einmal

war.

Die Fahrt ins Blaue lässt man sich

heute vom Navigationsgerät diktieren,

die ganze Motorleistung auszutesten

verbieten Geschwindigkeitsbeschränkungen,

die auf der Autobahn streckenweise

auch unter 100 km/h bedeuten.

Heute bestehe der Freiraum, den die

Straße bietet, lediglich darin, sich

das Reiseziel selbst aussuchen zu

können, sagt Eva-Maria Skottke,

Psychologin an der Hochschule für

Medien, Kommunikation und Wirtschaft

in Köln. Ein hartes Urteil. Freiräume

auf der Straße sind auch deshalb

weniger geworden, weil es mehr

Ver- und Gebote im Straßenverkehr

gibt. Für den freiheitsliebenden Surfer

bedeutet das Parkverbotsschild am

Strand jedenfalls eine große Einschränkung

seines Freiraumes. Und

die Trucker von heute schieben sich

in langen Schlangen auf der Autobahn

vorwärts, weil sektorale Fahrverbote

alternative Routen verbieten.

4,8 Millionen Fahrzeuge statt 1,2 Millionen

im Jahr 1970 bedeuten mehr

24


Staus sowie eine höhere, bisweilen

nervende Verkehrsdichte. Es bedeutet

zudem höhere Sicherheitsanforderungen.

Für die Kommunen bringt die

Missachtung von Verbotsschildern vor

allem eines: Geld in die Säckel.

NOSTALGISCHE

ERINNERUNGEN

SIND TRÜGERISCH

Doch stellt man die Freiräume von

einst und jetzt auf den Prüfstand,

lässt sich erkennen: Die Nostalgie

taucht Erinnerungen an vergangene

Cabriozeiten gern in Schwarz-Weiß

und man hat in der Regel vergessen,

dass die Freiheit von früher nicht immer

angenehm schmeckte. Beispielsweise

machten fehlende Klimaanla gen

Sommerausfl üge mit der Limousine oft

zur Qual.

In der Werbung jedoch wird die Natur

dennoch inszeniert, um Autofahren

als grenzenloses Freiheitsgefühl zu

präsentieren. Nostalgie sowie Erinnerungen

seien dabei bestens geeignet,

um positive Emotionen zu wecken,

betont die Psychologin Skottke. „Gerade

die Zielgruppe der Werbekunden

kann im ,echten Leben‘ Freiheiten

durch Beruf, Familien oder Finanzen

eher eingeschränkt ausleben.“

FREIRÄUME

FÖRDERN SELBST-

VERANTWORTUNG

Aus Sicherheitsgründen wurde die

Straße mit Verbots- und Hinweisschildern

bestückt, den Straßenverkehr

machen sie jedoch nicht in jedem

Fall sicherer. Untersuchungen

haben bewiesen, dass es in Shared

Space-Bereichen weniger Unfälle

gibt als an reizüberfl uteten Beschilderungskreuzungen,

sagt Skottke. In

einer Stadt im deutschen Westfalen

wurden vor wenigen Jahren 600 der

1.100 Verkehrsschilder als vermeintlich

überfl üssig verhüllt. Nach ein paar

Tagen stellte sich heraus: 471 brauchte

es wirklich nicht. Im Straßenverkehr

verhält es sich wie überall im Leben:

Zu selbstverantwortlichem Handeln

lässt sich besser durch positives Feedback

motivieren denn durch Verbote.

Auch ist das Auto dabei, sich zu verändern.

Aus dem schicken Cabrio der

1980-er wurde der bullige SUV (Sport

Utility Vehicle), hinter dessen Lenkrad

immer mehr Frauen sitzen, um den

Nachwuchs sicher ans Ziel zu bringen.

Die nächste Autofahrergeneration wiederum

wird Lenkrad und Pedale nur

noch als Feature im Auto haben, wenn

man das Gefühl hat, selbst fahren zu

wollen. Platooning heißt es bereits jetzt

versuchsweise im Güterverkehr auf Autobahnen,

wo in einem Fahrzeugkonvoi

lediglich der anführende Lkw selbst gesteuert

wird, alle nachfahrenden sind

per WLAN verbunden und folgen im

Windschatten, Geschwindigkeit und

Richtung orientiert sich am vorausfahrenden

Lkw. Die Fahrer müssen sich

nicht auf den Verkehr konzentrieren und

können sich anderen Dingen widmen.

Für die Verkehrssituation bedeutet dies

mehr Sicherheit und weniger Treibstoffverbrauch

durch eine optimierte

Fahrweise.

DAS AUTONOM

FAHRENDE AUTO

ALS EIER LEGENDE

WOLLMILCHSAU

Für LKW-Fahrer gilt Platooning als die

neue Freiheit – diese wird es für Autofahrer

vielleicht in zehn, zwanzig

Jahren erreicht sein, wenn das Auto

überhaupt autonom fährt, wie Experten

schätzen. Der Fahrer sitzt darin

wie in einem Wohnzimmer, Fahrzeug

und Internet planen möglicherweise

die Freizeit und bringen den sportlichen

Besitzer dorthin, wo der beste

Schnee zum Skifahren ist. Das Auto

wird zum Partner, sagt Johannes

Kraus, Abteilung Human Factors am

Institut für Psychologie und Pädagogik

der Universität Ulm. Mit seinem

Prototypen vom selbstfahrenden Auto,

dem Conceptcar F015 zeigt Daimler

schon heute, wie das Autofahren

von morgen aussehen könnte. Fensterfl

ächen werden zu Touchscreens,

die das Auto zum Büro oder Entertainmentbereich

umwandeln. Die

loungeartigen Fahrer- und Beifahrersessel

lassen sich umdrehen, man

wendet sich vom Verkehr vorne ab

und unterhält sich mit den hinten sitzenden

Fahrgästen. Bei einem Radstand

von 3,60 Meter bleibt genug

Beinfreiheit.

Das autonome Fahrzeug erkennt Gefahrenquellen

wahrscheinlich besser

als der Mensch am Steuer, das Autofahren

wird dadurch sicherer, betont

der Psychologe Kraus. Gemessen an

den aktuellen technischen Entwicklungen

sieht er enormes Potenzial für

den Individualverkehr oder für autonome

Taxifahrten: ob im Conceptcar

F015, im Google-Auto, das ganz ohne

Lenkrad auskommen wird, oder in autonomen

Taxis, die man dorthin bestellt,

wo man sie braucht und wegschickt,

wenn die Fahrt beendet ist.

Die Verkehrssituation könnte mit der

Übernahme des Lenkrads durch den

Fahrroboter entspannter werden, vermutet

Kraus. Auch die Zahl der Autos

könnte wieder sinken, weil Sharing-

Konzepte immer beliebter werden und

viele Menschen selbst kein Auto mehr

besitzen, sondern sich den Fahrroboter

rund um die Uhr teilen. Technisch

gesehen wäre autonomes Fahren

schon heute möglich. Geklärt werden

müssen noch die rechtlichen und infrastrukturellen

Seiten: Wer haftet im

Falle eines Unfalls? Auf welcher Spur

darf der Kolonnenverkehr fahren?

NACHMITTAGSSCHLAF

IM AUTO ALS OPTION

Die Zukunft der Mobilität wird sich

weiter im Individualverkehr abspielen,

glauben Verkehrsexperten. Rad, Bus

oder Bahn entlasten zwar den Verkehr

in Städten, das Auto bleibt im

Überland-Verkehr wichtig, wo öffentliche

Verkehrsmittel möglicherweise

sogar weniger werden könnten. Welche

Freiräume die Straße künftig bietet,

entscheiden die Mobilitätsformen

von morgen: Ökologisches Fahren mit

gutem Gewissen, weil die Sonne das

Auto aufl ädt, autonomes Fahren, das

dem Lenker einen Nachmittagsschlaf

ermöglicht, oder der Trucker, der seine

Kollegen ins Schlepptau nimmt,

damit diese gemütlich Zeitung lesen

können. Sehr viel ist möglich.

FREIRÄUME

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INNOVATIVES ONLINE & OFFLINE

START-UPS

SPANNENDE IDEEN ZUM THEMA FREIRÄUME

Von Ancuta Barbu

////// MIT DEM HELIUMBALLON IN DEN WELTRAUM ///

Das spanische Unternehmen zero2infnity verfolgt den Traum, Weltraumtourismus

massentauglich zu machen. Es lädt Privatpersonen ein, in den erdnahen Weltraum

zu fl iegen und die Erde von oben zu betrachten: Im bloon, einem geschlossenen

Ballon-System mit 360-Grad Ausblick, nimmt der Reisende in einer Art Kinosessel

Platz und fl iegt, gesteuert von zwei Piloten, mittels Heliumantrieb langsam in Richtung

Weltraum. Die maximale Entfernung von der Erde beträgt 40 Kilometer. Die Tour

dauert ca. sechs Stunden und kostet EUR 110.000. Wer heute bucht, kann frühestens

2016 abheben.

www.inbloon.com

////// IMMOBILIENBESICHTIGUNG 2.0 ///////////////////

Eine passende Immobilie zu fi nden, das ist für den Suchenden meist ein langwieriger

Prozess und kostet viel Zeit. Auch wenn Grundriss und Fotos für den Interessenten

attraktiv wirken, die Besichtigung vor Ort kann das Bild schnell ändern. Matterpoint,

ein US-amerikanisches Technologie-Startup, entwickelte daher virtuell begehbare

3D-Modelle von Immobilien. Detaillierte Videoaufnahmen der Wohnung, des Hauses,

des Büros oder der Lagerhalle werden über die Matterport-App verfügbar gemacht.

Die online-Besichtigung wird so real simuliert, dass der Interessent das Gefühl hat,

sich tatsächlich am jeweiligen Ort zu befi nden.

http://matterport.com/you

////// MIT DEM ROLLSTUHL AM LENKRAD ////////////////

Viele Menschen mit Behinderung können kein gewöhnliches Auto lenken. Die US-

Amerikanerin Stacy Zoern, selbst seit ihrer Kindheit Rollstuhlfahrerin, entwickelte

ein Elektroauto, in das man mitsamt dem Rollstuhl hineinfahren kann. Mittels Knopfdruck

wird die Heckklappe geöffnet, der Rollstuhl wird im Auto eingerastet und los

geht die Fahrt. Das Auto namens Kenguru kostet ca. USD 25.000. Mit der Produktion

der ersten Autos wurde 2015 begonnen.

www.kenguru.com

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WALK [YOUR CITY] ///////////////////////////////////

Um Menschen dazu zu bewegen, in ihrer Umgebung mehr Wege zu Fuß zurückzulegen

als mit dem Auto, wurde das Projekt Walk [your city] gegründet. Bürger

können selbst Straßenschilder per Mausklick kreieren, die anzeigen, was ihnen

wichtig erscheint – mit dem Hintergrund, andere zu motivieren, auch zu Fuß zu

gehen; beispielsweise die Entfernung in Gehminuten bis zu einer Sehenswürdigkeit,

zu einem Geschäft oder einem Café. Durch die Schilder der Bürger entstehen

„Guerilla-Straßenkarten“, die Grätzel lebenswerter machen können.

Das Projekt ist nicht nur in den USA sehr beliebt, sondern fi ndet bereits auch

international mehr und mehr Beachtung. Bevor Bürger derartige Initiativen umsetzen,

sollten sie allerdings die jeweilige Rechtslage und die Bestimmungen

darüber, wer Straßenschilder anbringen darf, prüfen.

https://walkyourcity.org/

////// DER SCHUH, DER WÄCHST /////////////////////////

In den ärmsten Ländern der Welt haben viele Kinder gar keine oder nur schlecht passende

Schuhe. Gerade in der Wachstumsphase der Knochen können so schwere

Deformationen an den Füßen entstehen. Angestoßen von seinen Erlebnissen in

Nairobi, Kenia, entwickelte der US-Amerikaner Kenton Lee daher einen Schuh, der

mit dem Fuß des Kindes mitwächst: eine Art Sandale, die längenverstellbare Laschen

an Zehenspitzen, den Seiten und der Ferse hat. Sie kann fünf Schuhgrößen

wachsen und passt daher im Schnitt fünf Jahre. Der Schuh ist in zwei Größen erhältlich:

in Small für Kinder zwischen fünf und neun Jahren sowie Large für Kinder zwischen

zehn und vierzehn Jahren.

https://www.theshoethatgrows.org

////// FLUGZEUG UND AUTO IN EINEM //////////////////

Schon mal daran gedacht, nach dem Landen das Flugzeug nicht zu verlassen, sondern

direkt damit nach Hause zu fahren? Räder hätte es ja. AeroMobil ist zumindest

ein guter Anfang. Es handelt sich dabei um den Prototypen eines Flugzeuges, das

zum Auto umfunktioniert werden kann, um es auf der Straße zu fahren. Es wurde vom

Slowaken Štefan Klein designt und 2013 erstmals in Betrieb genommen. Als Auto

passt das AeroMobil in eine Parklücke normaler Größe, es wird mit gewöhnlichem

Treibstoff getankt und fährt wie ein herkömmliches Auto. Als Flugzeug braucht es

nicht unbedingt einen Flughafen zum Starten und Landen, sondern kann auch auf einem

(ein paar hundert Meter langem) Grasstreifen ab- und aufsetzen. Seit Oktober

2014 befi ndet sich das aktuelle Modell AeroMobil 3.0 in einem regulären Flugtest-

Programm. www.aeromobil.com

////// CAMPINGWAGEN FÜRS FAHRRAD ////////////////

Um Ferien mit einem Campingwagen zu machen, braucht man jetzt kein Auto mehr. Es

geht auch mit dem Fahrrad: Der Däne Mads Johansen konzipierte den Wide Path Camper,

ein Leichtgewicht-Wohnmobil, das vom Fahrrad gezogen werden kann. Auf den

zweieinhalb Quadratmetern Innenraum befi ndet sich eine Sitzecke mit einem Tisch,

der in ein Doppelbett umgewandelt werden kann. Darunter ist der permanente 300-

Liter-Stauraum, der etwa der Größe einer Badewanne entspricht. An der Außenseite

des Wohnmobils kann ein Esstisch ausgeklappt werden. Ein weiterer Vorteil: Für einen

längeren (Auto-)Transport lässt sich der Wide Path Camper bei einer konstanten

Breite von 99 cm auf die halbe Länge (von 2,6 Meter auf 1,3 Meter) zusammenklappen.

www.widepathcamper.com

FREIRÄUME

27


Der Streber ist

der neue Rebell

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Foto: © shutterstock


JUGENDLICHEN STEHEN VIELE WEGE OFFEN, IHNEN WIRD MEHR ZUGETRAUT

ALS NOCH VOR WENIGEN JAHRZEHNTEN. DOCH IHRE FREIRÄUME WERDEN

ZUNEHMEND ENGER. Von Daniela Müller

Martina hat maturiert. Mit Auszeichnung.

Gefeiert wurde das beim Segeln

in Kroatien. Im Moment steht der Führerschein

an und als nächstes

wartet ein Sozialjahr auf sie, in Ecuador.

Dort wird sie Englisch unterrichten.

In zwei Stunden muss sie

am Flugfeld Thalerhof sein, es geht

hoch in die Lüfte und mittels Tandemsprung

wieder herunter. Am Abend

zuvor war sie in der Oper und im

Sommer geht’s zu Festivals. Dazwischen

in die Urlaube, mindestens

zwei Mal, da die Eltern getrennt sind.

Martina lässt sich auf das Leben ein.

Freiräume sind für sie das, wo sie

selbst entscheiden kann, was sie tun

will. Theoretisch hat sie sehr viele davon.

Praktisch sieht das etwas anders

aus.

DAS VORHANDENSEIN

VIELER CHANCEN

ERFORDERT EINEN

PLAN, UM DIE BESTEN

HERAUSZUFINDEN

Martina philosophiert gern über das

Leben. Die Basis dafür gaben und

geben ihr die Mutter, Ökonomin an

der Universität Graz, und der Vater,

Vorstand in einem großen steirischen

Unternehmen. Sie weiß, warum

es Diskussionen über Gender

Mainstreaming braucht, oder dass ein

Soziologiestudium in der Regel keine

allzu guten Karrierechancen bedeutet.

Martina weiß auch, dass Freiräume

Chancen bieten, man sie aber

gut planen muss. Das Um und Auf

sei dabei die Selbstoptimierung, betont

der Jugendforscher Philip Ikrath.

„Die Jugendlichen werden da hineingedrängt“

sagt er. Schon bevor es in

Richtung Karriere geht, heißt es, die

Biografi e zu optimieren: Zusatzqualifi

kationen, Auslandssemester, Pfl ichtpraktikum,

Fremdsprachen und Persönlichkeitstrainings.

Was früher im

Laufe eines langen Berufslebens gesammelt

wurde, ist für viele junge

Menschen von heute die Ausgangs-

situation. Die Zeiten sind vorbei, dass

Jugendliche tun können, was ihnen

Spaß macht, betont Ikrath. Dazu fehlt

oftmals auch das Umfeld: immer weniger

Parks und Naturbelassenheit,

dafür die gestiegene Belastung durch

Schule und Beruf. Zudem bleiben Jugendliche

heute länger in der Familie,

was den individuellen Freiraum ebenfalls

einschränkt, weil man sich unter

der elterlichen Kontrolle weniger frei

bewegen kann. Sogar Sport sei nicht

mehr frei, sagt er, sondern werde im

Fitnessstudios oder in Sportcamps

reglementiert.

DICK SOLLTE NUR

DIE GELDBÖRSE SEIN

Sie schmerzen auch, die neuen Freiräume:

Wer in sein will, lässt sich

täto wieren und die Silikonbrust zur

Matura ist längst kein amerikanisches

Phänomen mehr. Hohe Anforderungen

an Aussehen, Können oder Finanzkraft,

beobachtet jedenfalls der Jugendpsychiater

Christian Popow. Eine

Zunahme an Freiräumen sieht er lediglich

an der Vielfalt, was die Wahl

des Outfi ts angeht, in toleranteren

Regeln für die Ausgeh-Zeiten oder für

das „Erproben“ sozialer Beziehungen

– Stichwort Teenager-Beziehungen.

Bei Martina rangiert das Thema Familie

weit hinten. Erst einmal das Leben,

sprich das berufl iche Fundament

festigen. Arbeit muss Freude machen,

das ist sich die Generation Y selbst

schuldig.

So gesehen hatte Jörg Zeyringer weniger

Auswahl. In den 1970ern, als

er Kind war, gab es den Park, in dem

er Fußball spielte, und den Wald. Die

Berufsentscheidung hatte der Vater

getroffen, der seinen Sohn als Förster

sah. Der Sohn musste in die Bundeslehranstalt

für Forstwirtschaft in Bad

Vöslau; wohin er nicht musste: ins Internat.

Als einziger seiner Klassenkollegen

wohnte er extern und hatte damit

mehr unkontrollierten Spielraum.

Er hatte keine rechte Idee, wie er ihn

nutzen sollte. Statt zur Schule zu gehen,

fuhr er zum Bahnhof, gab seinen

Schulranzen in ein Schließfach und

nahm den Zug nach Wien, wo er tagelang

herumspazierte. Die Schule

brach er schließlich ab. Rückblickend

betrachtet habe ihm die Struktur gefehlt,

sagt er. Die kam erst mit dem

Bundesheer. Dort holte er die Matura

nach und beschloss, „irgendetwas

mit Sprache“ zu machen. Zeyringer

studierte Publizistik und Pädagogik,

hängte Motivationspsychologie dran

und arbeitet heute als Trainer in der

Wirtschaft und im Gesundheitsbereich.

Seine Jobs – Bademeister, DJ,

Hilfsarbeiter am Bau, Versicherungsvertreter

und später Personalentwickler

in einer Regionalbank – gaben ihm

Gelegenheit zum Ausprobieren, doch

letztlich musste er aus fi nanziellen

Gründen „nehmen, was daherkommt“.

VIELE FREIRÄUME:

EIN PRIVILEG DER

VERGANGENHEIT

Zwei völlig verschiedene Jugend-Welten

in nicht einmal 30 Jahren Abstand.

Der 54-jährige Jörg Zeyringer und die

18-jährige Martina sind sich über das

Paradox einig: Auch wenn es heute

mehr Vielfalt gibt, so hatten junge

Menschen in den 1970ern, 1980ern

mehr Freiräume als heute, zumindest

qualitativ gesehen. Zeyringer weiß

aus der Motivforschung, dass zu viel

Auswahl frustriert, fünf oder sechs

Optionen seien noch überschaubar

und erlaubten eine Entscheidung. Ein

Studium in den 1980er-Jahren bedeutete

noch eine fi xe Jobgarantie,

Lehrabschlüsse waren angesehener,

als sie es heute sind, vor allem im

städtischen Bereich, wo die Lehre

noch immer als zweite Wahl gilt. Dafür

sind Hochschulabschlüsse heute

entwertet und generell zu stark administriert,

fi ndet Jörg Zeyringer. Strenge

Stundenpläne und der bei zu langer

Studiendauer drohende Wegfall der

Familienbeihilfe ließen keine Freigänge

FREIRÄUME

29


zu: „Junge Menschen haben keine

Zeit, sich zu entdecken oder zu irren.“

Für den Jugendpsychiater Popow bedeuten

Freiräume auch Grenzen, die

es braucht, um Halt zu bekommen.

Gegenwärtig seien die Grenzsetzungen

der Eltern ihren Kindern gegenüber

schwammiger und inkonsequenter,

einerseits weil Eltern im

Gegensatz zu früher weniger Sicherheit

in Erziehungsfragen hätten oder

autoritäres Verhalten überhaupt abgelehnt

würde, nicht selten aufgrund

einer Angst, sich falsch festzulegen.

In die Ambulanzen der Kinderund

Jugendpsychatrie kommen immer

mehr ängstliche und depressive junge

Menschen, die mit den realen Alltagsbedingungen

nicht zurechtkommen,

die den gestiegenen Anforderungen

der Berufswelt nicht gewachsen sind.

Oder die sich hilfl os gegenüber den

laufend steigenden fi nanziellen und

gesellschaftlichen Ansprüchen fühlen.

Laut Jugendpsychiater Popow geben

Jugendliche in der realen Welt vermehrt

auf und fl üchten in die virtuelle

Welt des Internets. Weil Österreich

EU-weit am wenigsten für Kinderund

Jugendgesundheit ausgebe, fehlten

die Mittel, um Rahmenbedingungen

ändern zu können, sagt Popow.

Doch nur so könne den am schwersten

Betroffenen, die in Drogenabhängigkeit

und Kriminalität abgewandert

sind, geholfen werden.

ELTERN HABEN ANGST

VOR DEM SOZIALEN

ABSTIEG IHRER KINDER

Der Jugendforscher Ikrath sieht besorgt

auf die wachsende Kluft zwischen

jenen, die sich mit Studium und

Ehrgeiz die Startbedingungen für ein

gutes Leben erarbeiten und jenen, die

als Bildungsverlierer auf der anderen

Seite stehen. Doch die Kluft wachse

auch zwischen jungen Menschen, die

dem Druck standhalten könnten und

ihren Weg gingen, und anderen, die

sich eine „stille, ruhige Existenz wünschen,

wo sie sich nicht die ganze

Zeit beweisen müssen“. Große Freiräume

stünden keiner dieser Gruppen

Unkonventionell: Die US-amerikanische Popsängerin Lady Gaga (Jahrgang 1986)

fällt nicht nur optisch durch knappe Kostüme oder überspitzte Inszenierungen auf, sondern

nimmt sich auch in ihren Liedtexten kein Blatt vor den Mund. Etwa besingt sie in „Born this

way“ mitunter jene, die sich in ihrer sexuellen Orientierung „anders“ fühlen als der Großteil

der Bevölkerung. Sich diese Freiheiten herauszunehmen, gelingt jedoch nur, wenn man ein

starkes Backup hat – in Lady Gagas Fall Millionen an Fans und die Musikindustrie.

offen, betont Ikrath. Aus dem elterlichen

Spruch „unser Kind soll es einmal

besser haben als wir“ wurde

längst ein „es soll zumindest nicht

schlechter werden“ einer Elterngeneration,

die sich vor dem sozialen Abstieg

fürchtet. Die wohl wichtigste und

auch einzige Sinnquelle der Jugend

sei der Freizeitkonsum, sagt Ikrath.

Hier vor allem: das Handy und das

Internet.

VIA INTERNET UND

SOCIAL MEDIA STÄNDIG

MIT DER CLIQUE

VERBUNDEN

Martina schildert wortreich, wofür

Jörg Zeyringer nur eine kurze Erklärung

hat: „Ich ging damals Fußballspielen

und hatte keinen Zwang, erreichbar

zu sein.“ Für 18-Jährige im

Hier und Jetzt ist ein Leben ohne Social

Media wie der Ausschluss aus

der Fußballmannschaft. „Ohne Facebook

bekommt man nichts mit“, sagt

Martina, der Zwang zum sofortigen

Reagieren bestimmt die Freizeit.

Kinder wie Jörg Zeyringer knallten

in den Siebzigern die Schultasche

in die Ecke und zogen in den Wald,

bis es fi nster wurde. Keine Eltern,

die das Kind per GPS trackten, keine

Videoüberwachung, die das Treiben

beobachtete. Die Jugendlichen der

Gegenwart halten sich in genormten

Räumen auf, im Einkaufscenter, im

Café, auf öffentlichen Plätzen mit

Lärm- und Spielverboten. „Und sie

protestieren nicht“, ergänzt der Jugendforscher

Ikrath.

Foto: © shutterstock

EINST DAS FEINDBILD

DER COOLENESS, HEUTE

DAS VORBILD: STREBER

WISSEN, WIE ES GEHT

Wenn Jörg Zeyringer zurückblickt, so

glichen seine verbotenen Spaziergänge

in Wien einer Suche nach sich

selbst. Martina hat ihr Lebenskonzept

in vielen rationalen, klugen Gesprächen

und Diskussionen gefeilt. Eines

ist gewiss, sagt der Jugendforscher

Ikrath: die Generation von heute bringt

keine Bohemiens hervor, Menschen,

die Freiräume einfordern und sich mit

einer großen Portion Selbstsicherheit

zu Außenseitern hochstilisieren. Wie

Lady Gaga, die US-amerikanische

Sängerin, die sich als frei stilisiert,

aber von einer Milliardenindustrie abhängig

ist. „Der Rebell von heute ist

der Streber“, konstatiert Ikrath. Wie

letztens, als er eine Gruppe Jugendlicher

nach ihrem Bild über Streber

befragt hatte. Sie waren sich einig:

Ein Streber ist einer, an dem man

sich orientiert, weil er weiß, wie man

es macht.

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DIE SEELE

BAUMELN LASSEN

Genug Platz zum Sitzen, Grünanlagen in einer Stadt oder getrennte Bankkonten – Freiräume sind Definitionssache und in

allen Lebensbereichen begehrt. Auch die Uhr zeigt sie uns an. Von Silvia Wasserbacher-Schwarzer

DATEN & FAKTEN

Quellen: 1 Zeitverwendungserhebung Statistik Austria, Personen ab 19 Jahren, Freizeitaktivitäten und soziale Kontakte. 2 Zeitverwendungserhebung Statistik Austria, Personen ab zehn Jahren;

Soziale Kontakte, Kinderbetreuung, Freiwilligenarbeit und Freizeit kumuliert. 3 Bureau of Labor Statistics. 4 Stiftung für Zukunftsfragen. 5 elitepartner.de, Befragung von 4.500 eingetragenen Singles.

6 wien.gv.at. 7 www.salzburg.info. 8 www.nycgovparks.org. 9 www.greaterlondonnationalpark.org.uk

Freizeit

1981 hatten die Österreicher

5h 45 min Freizeit pro Tag 1 ,

2009 (aktuell ste Zahlen)

vier Minuten mehr: 5h 49 min 2 .

Zum Vergleich: Die US-Amerikaner

haben etwas weniger Freizeit zur

Verfügung: 2009 5h 15 min (Freizeit

und Sport) 3 , die Deutschen

(2010) deutlich weniger: 4h 3 min 4 .

Unter freiem Himmel

Wien ist weltweit die Stadt mit

der höchsten Lebensqualität.

Mit ein Grund sind 1.350 Parks

und Spielplätze. Auf jede

Grünfl äche* kommen damit

1.333 Einwohner. 6

*Parks und Spielplätze

Getrennte Kassen

sind mehr wert

85 % der Frauen

und 74 % der Männer

wollen in einer Beziehung

getrennte Konten

beibehalten. 5

Auch die Stadt Salzburg hat –

gemessen an der Einwohnerzahl –

viele Parks und Spielplätze: (99)

1.494 EW pro Grünfläche. 7

1981

Über den Wolken ist die Sitz-Freiheit nicht grenzenlos

Genormte oder international gültige Mindestbreiten der Sitze im Flugzeug

gibt es nicht. In Langstreckenfl ugzeugen rangieren die Sitzfl ächen von 40,6 cm

(japanische ANA) bis 48,2 cm (China Southern). In den Maschinen der

Austrian Airline sitzt man je nach Flugzeugtyp auf 47 – 50 cm.

Der Sitzplatz hat jedenfalls merkliche Auswirkungen auf den Schlaf, wie eine

Studie des London Sleep Centers im Auftrag von Airbus herausfand:

Wird die Sitzfl äche um 2,5 cm vergrößert (von 43,2 cm auf 45,7 cm), verbessert

sich die Schlafqualität der Flugpassagiere um 53 % (schnelleres Einschlafen,

tieferer Nachtschlaf, weniger Gliederzucken). Eine neue Geschäftsstrategie ist

es somit, für Sitzfläche extra Geld zu verlangen: In den Airbus Langstreckenjets

vom Typ A-330 wird es demnächst neun anstatt wie bisher acht Sitze in einer

Reihe geben (sog. Budget Economy): Jeder Sitz bietet dann 42,42 cm Sitzfl äche –

um 3,55 cm weniger als in der Comfort Economy.

5h 45 min.

2009

09

5h 49 min.

2009 09

5h 15 min.

2010

4h 3 min.

In fi nanzieller Hinsicht

wird persönlicher Freiraum

als wichtig erachtet:

FREIRÄUME

New York City: 1.700 Parks und Spielplätze

und somit 4.823 EW pro Anlage.

Der größte Park New York Citys ist übrigens

der Pelham Bay Park Bronx. Er umfasst

1.122 ha und ist so groß ist wie 2.770 Fußballfelder

(à 0,4 ha). Der Central Park in

Manhattan fi ndet sich erst auf Platz 6 und

misst 341 ha, ca. 84 Fußballfelder. 8

London besteht zu 47 % aus Grünfl ächen.

Der Geograf Dan Raven-Ellison verfolgt

schon seit mehreren Jahren die Idee,

aus dem Großraum London einen Nationalpark

zu machen. Er begründet dies mit

dem großen Anteil an Grün- und Wasserfl

ächen sowie den vielen Spezies, die dort

beheimatet sind. 9

31


Querspur Das Zukunftsmagazin des ÖAMTC

Marie Curie

Die Physikerin und

Chemikern (1867–1934) erhielt

gemeinsam mit ihrem Mann

Pierre 1903 den Nobelpreis für

Physik, 1911 wurden sie mit dem

Nobelpreis für Chemie ausgezeichnet.

Abseits ihrer Profession war

Marie Curie leidenschaftliche

Weitstrecken radfahrerin, die

sogar ihre Flitterwochen

radelnd verbrachte.

Erwin

Schrödinger

(1887–1961) gilt als der

Begründer der Quantenmechanik,

ist bekannt für sein Gedanken -

experi ment mit der Katze und erhielt

1933 gemeinsam mit dem britischen

Physiker Paul Dirac den Nobelpreis

für Physik.

In seiner Freizeit beschäftigte

er sich mit dem Bauen und

Einrichten von

Puppenhäusern.

Albert Einstein

(1879–1955) stellte die

Relativitätstheorie auf und

erhielt 1922 den Nobelpreis für

Physik. Er brachte sich selber

das Geigenspiel bei und ließ sich

dabei gerne von seinem

Kollegen Max Planck am

Klavier begleiten.

Max Planck

(1858–1947) begründete die

Quantenphysik. 1918 erhielt

er den Nobelpreis für Physik.

Neben seinem Interesse an der

theoretischen Physik begeisterte

er sich für das Klavierspielen.

Er soll nicht nur für sich

selbst, sondern auch für

Kollegen und Freunde

musiziert

haben.

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