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Leonie Kascher und das Erbe von Zimmerwald<br />
Im revolutionären Sturm nach 1915 treffen wir auf<br />
Leonie Kascher, <strong>die</strong> polnische Student<strong>in</strong>, <strong>die</strong> bei<br />
der Organisierung der revolutionären Kräfte <strong>in</strong> der<br />
Schweiz e<strong>in</strong>e wichtige Rolle spielen wird. Von hier<br />
aus haben wir ihre Spur aufgenommen, <strong>die</strong> uns<br />
auch zur Zimmerwalder L<strong>in</strong>ken führte.<br />
Leonie Kascher reiste 1913 <strong>in</strong> <strong>die</strong> Schweiz, um e<strong>in</strong><br />
Studium <strong>in</strong> Philosophie und Psychologie an der<br />
Universität Zürich aufzu<strong>nehmen</strong>. Als Frau, als<br />
Pol<strong>in</strong> und als Jüd<strong>in</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Zeit alles andere als<br />
e<strong>in</strong>e Selbstverständlichkeit: Der zaristische Staat<br />
– Polen war damals Teil des Russischen Reichs<br />
– schränkte den Universitätszugang für Frauen<br />
stark e<strong>in</strong> und limitierte <strong>die</strong> Anzahl jüdischer<br />
Student<strong>in</strong>nen und Studenten. <strong>Die</strong>s waren wohl<br />
entscheidende Gründe, weshalb Leonie Kascher<br />
nach Zürich kam. Ihre Bildung <strong>in</strong> Polen musste<br />
sie sich erkämpfen: Im Jahr 1905, <strong>in</strong> welchem es<br />
im Russischen Zarenreich und <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong><br />
Warschau zu heftigen Aufständen kam, verliess sie<br />
<strong>die</strong> Familie: „Der despotische Charakter des Vaters<br />
und <strong>die</strong> religiöse Atmosphäre haben mich bedrückt,<br />
was mich derart bee<strong>in</strong>flusst hatte, dass ich sehr<br />
früh – mit 15 Jahren – das Elternhaus verliess und<br />
e<strong>in</strong> selbständiges Leben begann.“ Nur durch <strong>die</strong><br />
Unterstützung der vier Tanten Leonie Kaschers –<br />
sie nahmen alle an der revolutionären Bewegung<br />
von 1905 teil und waren Mitglieder der Polnischen<br />
Sozialdemokratischen Arbeiterpartei – konnte sie<br />
e<strong>in</strong>e Mittelschulbildung und e<strong>in</strong> Hochschulstudium<br />
<strong>in</strong> Pädagogik absolvieren: „In <strong>die</strong>ser Frühperiode des<br />
Lebens war es für mich sehr schwer vom Standpunkt<br />
der materiellen Lebensumstände aus. Ich hatte ke<strong>in</strong>en<br />
Platz zum Wohnen“, er<strong>in</strong>nert sich Leonie Kascher.<br />
In <strong>die</strong>ser Periode – der „schweren Jahre der Not“,<br />
wie sie <strong>die</strong>se selbst bezeichnet – unterstützte sie <strong>die</strong><br />
revolutionäre Tätigkeit ihrer Tanten mit illegaler<br />
Arbeit, durchlief aber auch zahlreiche Krankheiten.<br />
Ihre Tanten konnten den Vater Leonie Kaschers<br />
schliesslich überzeugen, dass sie <strong>in</strong> <strong>die</strong> Schweiz<br />
zum Studium fahren könne.<br />
In Zürich kam Leonie Kascher <strong>in</strong> Kontakt mit<br />
polnischen SozialistInnen; <strong>die</strong>s führte aber mit<br />
Beg<strong>in</strong>n des Ersten Weltkrieg – nur e<strong>in</strong> Jahr<br />
später – zu e<strong>in</strong>em Unterbruch des Studiums <strong>in</strong><br />
Zürich: „Nach dem Anfang des Ersten Weltkriegs<br />
haben <strong>die</strong> polnischen Sozialisten <strong>in</strong> Zürich lebhaft<br />
für den E<strong>in</strong>tritt <strong>in</strong> <strong>die</strong> polnischen Legionen für<br />
den Kampf um <strong>die</strong> Unabhängigkeit Polens vom<br />
Zarismus agitiert. Mit dem Willen, um jeden Preis<br />
am Befreiungskampf teilzu<strong>nehmen</strong>, b<strong>in</strong> ich mit<br />
anderen Studenten nach Polen gefahren, wo ich im<br />
Hospital und bei den Sanitätstruppen arbeitete.“<br />
Bald gelang sie aber zur Überzeugung, dass <strong>die</strong>ser<br />
nationale Befreiungskampf auf der Seite Polens<br />
„nicht für <strong>die</strong> Befreiung der Arbeiterklasse und für<br />
den Sozialismus“ geführt werde, wie sie selbst sagte,<br />
weshalb sie anfangs 1916 enttäuscht wieder nach<br />
Zürich zurückkehrte. Der Krieg traumatisierte<br />
sie: „Fräule<strong>in</strong> Kascher ist e<strong>in</strong> <strong>in</strong>telligentes, aber<br />
sehr exaltiertes Mädchen, dessen gemuẗliches<br />
Gleichgewicht durch <strong>die</strong> Erlebnisse, <strong>die</strong> sie als<br />
Teilnehmer<strong>in</strong> <strong>in</strong> der polnischen Legion mitmachte,<br />
auch noch <strong>in</strong> Zürich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em labilen Gleichgewicht<br />
gewesen se<strong>in</strong> dürfte. Hier hat sie nach ihren eigenen<br />
und nach den Aussagen ihres Landsmannes Span<strong>in</strong>,<br />
der bei mir war, <strong>in</strong> den letzten Semestern aüsserst<br />
ärmlich gelebt und war wohl unterernaḧrt, was<br />
ebenfalls <strong>die</strong> nervöse Widerstandskraft schwächen<br />
kann“, steht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er psychiatrischen Notiz des<br />
Professors Hans Wolfgang Maier.<br />
Da sie ke<strong>in</strong>e Mittel zum Leben hatte, arbeitete<br />
Leonie Kascher neben dem Studium als Arbeiter<strong>in</strong><br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Fabrik. <strong>Die</strong> Erfahrungen als Arbeiter<strong>in</strong><br />
und <strong>die</strong> Erfahrungen des Kriegs, führten sie dazu,<br />
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