Die Geschichte in die Eigenen Hände nehmen
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Das marxistisch-len<strong>in</strong>istische Verständnis von<br />
<strong>Geschichte</strong> basiert auf dem Widerspruch, der den<br />
Charakter des sozialen Antagonismus an<strong>nehmen</strong><br />
kann. So wie es im Manifest der Kommunistischen<br />
Partei gleich zu Beg<strong>in</strong>n heisst: « <strong>Die</strong> <strong>Geschichte</strong><br />
aller bisherigen Gesellschaft ist <strong>die</strong> <strong>Geschichte</strong><br />
von Klassenkämpfen. Freier und Sklave, Patrizier<br />
und Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger<br />
und Gesell, kurz, Unterdrücker und Unterdrückte<br />
standen <strong>in</strong> stetem Gegensatz zue<strong>in</strong>ander, führten<br />
e<strong>in</strong>en ununterbrochenen, bald versteckten, bald<br />
offenen Kampf, e<strong>in</strong>en Kampf, der jedesmal mit e<strong>in</strong>er<br />
revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft<br />
endete oder mit dem geme<strong>in</strong>samen Untergang der<br />
kämpfenden Klassen.» 12<br />
Ihr als Deutschsprachige kennt das Problem nicht,<br />
aber auf Französisch s<strong>in</strong>d wir seit Langem mit<br />
e<strong>in</strong>em sich wiederholenden Übersetzungsfehler<br />
konfrontiert, der <strong>die</strong> entsprechende Komplexität der<br />
Frage aufzeigt. <strong>Die</strong> französische Übersetzung setzt<br />
für Kampf das Wort guerre = Krieg e<strong>in</strong> statt „lutte“<br />
oder allenfalls „combat“. <strong>Die</strong>ser Irrtum verfälscht<br />
den S<strong>in</strong>n schwerwiegend, weil Antagonismus<br />
nicht e<strong>in</strong>fach „Kriegführung“ bedeutet, und <strong>die</strong>s<br />
umso mehr, als es sich um e<strong>in</strong>en «bald versteckten,<br />
bald offenen Kampf» handelt – e<strong>in</strong>e wesentliche<br />
Präzisierung, <strong>die</strong> nicht heisst, dass <strong>die</strong> historischen<br />
Akteure ihre Absichten verstecken, aber dass der<br />
Antagonismus manchmal auch vor ihren eigenen<br />
Augen versteckt ist.<br />
Für den Marxismus-Len<strong>in</strong>ismus ist ausserdem das<br />
Feld der Politik breiter als der Kampf zwischen<br />
antagonistischen Klassen. <strong>Die</strong> Gesellschaften s<strong>in</strong>d<br />
von Klassenwidersprüchen durchzogen, welche<br />
Bed<strong>in</strong>gungen für historischen Umwälzungen<br />
schaffen, aber auch von zahlreichen anderen<br />
Interessenskonflikten, solchen zwischen Völkern,<br />
Nationen, Klassen, e<strong>in</strong>zelnen sozialen Schichten,<br />
Teilen von Klassen, usw. Nicht alle <strong>die</strong>se<br />
Interessenskonflikte be<strong>in</strong>halten e<strong>in</strong>e Kriegslogik:<br />
Erstens, weil sie durch e<strong>in</strong>e höhergestellte<br />
Geme<strong>in</strong>samkeit der Interessen ausgeglichen<br />
werden können, und zweitens, weil der Krieg teuer<br />
und dessen Ausgang ungewiss ist. Es kann dann<br />
sche<strong>in</strong>en, als wäre das Kriegsspiel <strong>die</strong> Mühe nicht<br />
wert. Im Kampf zwischen der englischen Bourgeoisie<br />
und der Aristokratie war <strong>die</strong> kriegerische Zeit<br />
Cromwells viel kürzer als <strong>die</strong> ganze Zeitperiode<br />
der Bekehrung der Aristokratie zum Hochgenuss<br />
des Kapitalismus. Auch heute gibt es z.B. zwischen<br />
den USA und Ch<strong>in</strong>a viele Interessenskonflikte,<br />
<strong>die</strong> zu unfreundlichen Akten verschiedener Art<br />
führen (Spionage, Des<strong>in</strong>formation, Besteuerung<br />
und Limitierung von Importen, usw.). Und<br />
trotzdem herrscht zwischen den USA und Ch<strong>in</strong>a<br />
grundsätzlich Frieden. In der Politik ist der Friede<br />
nicht <strong>die</strong> Ausnahme. Friede bedeutet nicht <strong>die</strong><br />
Abwesenheit von Widersprüchen, sondern ist der<br />
Zustand, <strong>in</strong> welchem <strong>die</strong> bewaffnete Gewalt nicht<br />
als Lösung der Interessenskonflikte angesehen wird.<br />
Im Fall von Widersprüchen, bei denen<br />
antagonistische Klassen gegene<strong>in</strong>ander<br />
stehen, besteht e<strong>in</strong> gewisses, auch gespanntes<br />
Kriegsverhältnis <strong>in</strong> friedlichen Zeiten weiter.<br />
Erstens, weil <strong>die</strong> gewalttätigen Episoden der<br />
Vergangenheit <strong>in</strong> der Gegenwart auch <strong>in</strong> friedlichen<br />
Zeiten präsent bleiben (z.B. das grosse Gewicht<br />
des Gedenkens an <strong>die</strong> Pariser Kommune). Und<br />
zweitens, weil e<strong>in</strong>ige politische Kräfte mit hohem<br />
Klassenbewusstse<strong>in</strong>, <strong>die</strong> sich ke<strong>in</strong>e Illusionen<br />
über <strong>die</strong> Zusammenarbeit der Klassen mit<br />
antagonistischen Interessen machen und von der<br />
Unvermeidbarkeit der Konfrontation überzeugt<br />
s<strong>in</strong>d, <strong>die</strong> kriegerischen Akte <strong>in</strong> friedlichen Zeiten<br />
als Vorbereitung/Vorausnahme auf kriegerische<br />
Zeiten e<strong>in</strong>setzen 13 .<br />
Das Verständnis über <strong>die</strong> friedlichen Zeitperioden<br />
zwischen antagonistischen Klassen führt zurück<br />
zur Art, wie im Manifest der Kommunistischen<br />
Partei vom bald versteckten, bald offenen Kampf<br />
gesprochen wird. Sobald <strong>die</strong> Macht e<strong>in</strong>er Klasse<br />
gut gesichert ist, werden ihre Dispositive zur<br />
Zwangsausübung nur selten angewandt. Ihre<br />
ideologische Allmacht erreicht es ohne das,<br />
jede spezifische Äusserung von Interessen der<br />
beherrschten Klasse zu verh<strong>in</strong>dern oder zum<strong>in</strong>dest<br />
unter der Schwelle des Antagonismus zu halten.<br />
In <strong>die</strong>sem Stadium nimmt sich der grösste Teil<br />
der beherrschten Klasse nicht als solche wahr,<br />
sondern verdünnt und spaltet ihre Identität <strong>in</strong><br />
Funktion anderer sozialen Kluften (nationale,<br />
ethnische, religiöse). In <strong>die</strong>sen Zeiten mit fehlenden<br />
erklärten Fe<strong>in</strong>den und mit der Illusion der<br />
eigenen ideologischen Kategorien versteht sich <strong>die</strong><br />
herrschende Klasse selber als Teil e<strong>in</strong>er nationalen<br />
oder religiösen Geme<strong>in</strong>schaft. <strong>Die</strong>s ist nicht e<strong>in</strong><br />
verdeckter Kriegszustand, sondern e<strong>in</strong> Zustand des<br />
Klassenfriedens, der anhält, bis <strong>die</strong> historischen<br />
Kräfte (objektive: Krieg, Wirtschaftskrise;<br />
subjektive: politische Aktion) <strong>die</strong> Klasse an sich <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>e Klasse für sich verwandeln.<br />
Für Len<strong>in</strong> s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> friedlichen Strategien nur<br />
pazifistische Illusionen, und nur <strong>die</strong> Revolution<br />
vermag es, den Knoten der sozialen Widersprüche<br />
zu durchschlagen. Der Klassenkampf soll sich<br />
durch <strong>die</strong> Akkumulation von quantitativen<br />
Veränderungen (mehr Klassenbewusstse<strong>in</strong>, mehr<br />
Organisierung, mehr revolutionäre Theorie und<br />
Praxis) zu qualitativen Veränderungen (Übergang<br />
vom friedlichen zum bewaffneten Kampf) und<br />
damit zum Bürgerkrieg erweitern: « Der Marxist<br />
steht auf dem Boden des Klassenkampfes und nicht des<br />
sozialen Friedens. In bestimmten Perioden scharfer<br />
ökonomischer und politischer Krisen entwickelt sich<br />
der Klassenkampf zum unmittelbaren Bürgerkrieg,<br />
d.h. zum bewaffneten Kampf zwischen zwei Teilen<br />
des Volkes. » 14<br />
.<br />
Das Proletariat konstituiert sich als Klasse für<br />
sich über Teilkämpfe und das Bestreben, sich zu<br />
organisieren und das Bewusstse<strong>in</strong> anzuheben,<br />
aber das macht es noch nicht zur Kriegspartei.<br />
Das Bewusstse<strong>in</strong> e<strong>in</strong>es radikalen Widerspruchs<br />
zwischen Klassen<strong>in</strong>teressen führt nicht zw<strong>in</strong>gend<br />
zur Überzeugung über <strong>die</strong> Notwendigkeit des<br />
Krieges. <strong>Die</strong> Vorstellung, dass das Parlament oder<br />
der Staat über den Klassen steht oder dass sie<br />
zum<strong>in</strong>dest für <strong>die</strong> Veränderung der Gesellschaft<br />
nützlich seien, bewirkt e<strong>in</strong>e pazifistische Politik. Der<br />
Krieg ist kostspielig und riskant; dazu werden noch<br />
<strong>die</strong> alten moralischen Vorstellungen verletzt. Also<br />
ist es unvermeidbar, nicht gewaltsamen Strategien<br />
zu bevorzugen, wenn es sche<strong>in</strong>t, als ob sie zum Ziel<br />
führen können. Darüber h<strong>in</strong>aus ist der Prozess,<br />
der von der Klasse an sich zur Klasse für sich führt<br />
und vom Klassenkampf zum Klassenkrieg nicht<br />
l<strong>in</strong>ear. Der Prozess kennt plötzliche Fortschritte<br />
und auch plötzliche Rückschläge. Darum<br />
kritisierte Len<strong>in</strong> auch <strong>die</strong> bewaffnete Aktion der<br />
Narodniki, als <strong>die</strong> proletarische Politik sich eher<br />
auf Bewusstse<strong>in</strong>sarbeit und Organisation mit<br />
e<strong>in</strong>e antagonistische Dimension (Streiks usw.)<br />
konzentrieren sollte, <strong>die</strong> aber noch ke<strong>in</strong>e bewaffnete<br />
Gewalt benötigte.<br />
1.3. Der Krieg als historisches Objekt<br />
Im Kapitel 3 B des Achten Buchs schrieb Len<strong>in</strong><br />
<strong>die</strong> Passagen ab, welche <strong>die</strong> Transformationen<br />
des Krieges <strong>in</strong> Funktion der geschichtlichen<br />
Veränderungen behandeln, speziell denen, <strong>die</strong><br />
durch <strong>die</strong> Französische Revolution herbeigeführt<br />
worden waren. Nach Clausewitz muss man <strong>die</strong><br />
Gründe für <strong>die</strong> von ihren Armeen vollbrachten<br />
Wunder nicht <strong>in</strong> neuen Ideen und neuen Verfahren<br />
suchen, welche <strong>die</strong> Französische Revolution <strong>in</strong> <strong>die</strong><br />
Kriegskunst e<strong>in</strong>führte, sondern im neuen sozialen<br />
Status und se<strong>in</strong>em nationalen Charakter.<br />
Nur e<strong>in</strong>e Macht, <strong>die</strong> alle Sonderrechte, <strong>in</strong>neren<br />
Schranken, Monopole und Partikularismen los ist,<br />
welche das Ancien Régime kennzeichneten, konnte<br />
e<strong>in</strong>e veritable nationale Mobilisierung und e<strong>in</strong>e<br />
veritable Kriegsökonomie auf <strong>die</strong> Be<strong>in</strong>e stellen.<br />
Alle Ressourcen Frankreichs s<strong>in</strong>d im <strong>Die</strong>nst<br />
des Krieges mobilisiert worden, und <strong>die</strong> Macht,<br />
<strong>die</strong> daraus resultierte, übertraf bei weitem<br />
<strong>die</strong> kumulierte der gegnerischen Mächte der<br />
Adelsdynastien. Im Gegensatz zu den Armeen der<br />
Pr<strong>in</strong>zen – Söldnerarmeen, <strong>die</strong> aus Vagabunden im<br />
Bruch mit ihrer Schicht zusammengesetzt, durch<br />
Drill dressiert und mit dem Schlagstock geführt<br />
waren – war <strong>die</strong> französische Armee e<strong>in</strong>e nationale<br />
und e<strong>in</strong>e Bürgerarmee, bei denen nach Ver<strong>die</strong>nsten<br />
und nicht nach der Geburt rekrutiert und befördert<br />
wurde.<br />
Mit den Armeen der Revolution (von der<br />
Napoleon erbte) erfuhr der Krieg wichtige<br />
Formveränderungen, nicht weil <strong>die</strong> französische<br />
Regierung sich von den Zwängen der Politik<br />
emanzipiert hätte, sondern weil <strong>die</strong> Revolution <strong>die</strong><br />
Grundlagen der Politik verändert und <strong>die</strong> Kräfte<br />
geweckt und <strong>die</strong> Mittel entwickelt hatte, welche<br />
es erlaubten, <strong>die</strong> Kriegsenergie zu erhöhen und <strong>in</strong><br />
andere Bahnen zu lenken. <strong>Die</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong> Kriegskunst<br />
e<strong>in</strong>geführten Veränderungen waren <strong>die</strong> Konsequenz<br />
der Veränderungen, <strong>die</strong> <strong>in</strong> der Politik stattgefunden<br />
hatten.<br />
Im Kapitel mit dem Titel Von der Grösse des<br />
kriegerischen Zweckes und der Anstrengung, kommt<br />
Clausewitz auf <strong>die</strong> historischen Veränderungen<br />
im Charakter der Kriege zurück (er schreibt über<br />
Halbgebildete Tartaren, Republiken der alten Welt,<br />
Lehnsherren und Handelsstädte des Mittelalters;<br />
Ende des 17. Und 18. Jahrhunderts) :<br />
… « Das Volk also, welches bei den Tartarenzügen a l l e s<br />
im Kriege ist, bei den alten Republiken und im Mittelmeer,<br />
wenn man den Begriff desselben gehörig auf <strong>die</strong> eigentlichen<br />
Staatsbürger beschränkt, sehr vieles gewesen war, ward bei<br />
<strong>die</strong>sem Zustand des achtzehnten Jahrhunderts u n m i t t e l b a r<br />
n i c h t s, sondern hatte bloss durch se<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong>en Tugenden<br />
oder Fehler noch e<strong>in</strong>en mittelbaren E<strong>in</strong>fluss auf den Krieg 15 .(...)<br />
<strong>Die</strong> (französische) Revolution hat das alles umgestaltet. (…)<br />
Der Krieg war plötzlich wieder e<strong>in</strong>e Sache des Volkes geworden.<br />
(...) das ganze Volk trat mit se<strong>in</strong>em natürlichen Gewicht <strong>in</strong> <strong>die</strong><br />
Waagschale. Seit Bonaparte hat also der Krieg, <strong>in</strong>dem er zuerst<br />
auf der e<strong>in</strong>en Seite, dann auch auf der anderen, Sache des<br />
ganzen Volkes wurde, e<strong>in</strong>e ganz andere Natur angenommen,<br />
oder vielmehr er hat sich se<strong>in</strong>er wahren Natur, se<strong>in</strong>er absoluten<br />
Vollkommenheit, sehr genähert. <strong>Die</strong> Mittel, welche aufgeboten<br />
worden s<strong>in</strong>d, hatten ke<strong>in</strong>e sichtbare Grenze, sondern <strong>die</strong>se verlor<br />
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