Die Geschichte in die Eigenen Hände nehmen
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verschwunden, obwohl gerade <strong>die</strong>se so geartete „Politik»<br />
vor dem Krieg ganze Jahrzehnte h<strong>in</strong>durch von ihnen selber<br />
immer geschildert worden war. » 24<br />
Es gab tatsächlich <strong>in</strong> der Zweiten Internationale<br />
Debatten darüber, ob <strong>die</strong> zu<strong>nehmen</strong>den Kriege<br />
(Burenkriege, der spanisch-amerikanische und<br />
der russisch-japanische Krieg) e<strong>in</strong> Ausdruck der<br />
aktuellen Umstände waren oder e<strong>in</strong>er historischen<br />
Tendenz. <strong>Die</strong> Charakterisierung des Weltkrieges<br />
als imperialistischer Krieg war Teil se<strong>in</strong>er Arbeiten<br />
über den Imperialismus 25 . <strong>Die</strong> Bezeichnung als<br />
imperialistischer Krieg denunziert nicht nur <strong>die</strong><br />
annektionistischen Ziele der Kriegsführenden.<br />
Sie erklärt den historischen Gehalt des Krieges,<br />
nachdem <strong>die</strong> kapitalistische Produktionsweise<br />
sich auf <strong>die</strong> ganze Welt ausgedehnt hat, es ke<strong>in</strong>e<br />
«jungfräulichen» Territorien zum Kolonisieren und<br />
ke<strong>in</strong>e Expansionsmöglichkeiten für e<strong>in</strong>e Macht<br />
gibt, <strong>die</strong> nicht auf Kosten e<strong>in</strong>er anderen Macht geht.<br />
<strong>Die</strong> E<strong>in</strong>sicht Len<strong>in</strong>s über den Klassencharakter des<br />
Krieges erweitert den Horizont der Theorie von<br />
Clausewitz. Len<strong>in</strong> geht davon aus, dass <strong>die</strong> Politik<br />
(und der Krieg, der davon ausgeht) den Interessen<br />
der e<strong>in</strong>en Klasse <strong>die</strong>nt und den Interessen e<strong>in</strong>er<br />
anderen entgegensteht. <strong>Die</strong>se Ansicht steht im<br />
Gegensatz zu jener der Bonzen der Zweiten<br />
Internationalen, <strong>die</strong> schnell den nationalen<br />
Charakter des Krieges <strong>in</strong> den Vordergrund stellten.<br />
Auch wenn der Krieg e<strong>in</strong>en nationalen Charakter<br />
anzu<strong>nehmen</strong> sche<strong>in</strong>t, weil e<strong>in</strong> Teil der Massen sich<br />
für den Krieg begeistert, ist der wahre Charakter<br />
des Krieges <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er politischen Ursache zu suchen,<br />
d.h. <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Fall <strong>in</strong> den imperialistischen Zielen<br />
der kriegsführenden Mächte. <strong>Die</strong> imperialistische<br />
Politik ist <strong>die</strong> Ursache des Krieges; sie gibt dem<br />
Krieg Bedeutung und bestimmt se<strong>in</strong>en Charakter,<br />
aber auch se<strong>in</strong>e revolutionären Möglichkeiten.<br />
Oder wie Lukács schrieb: « Der Krieg ist, nach der<br />
Def<strong>in</strong>ition von Clausewitz, nur <strong>die</strong> Fortsetzung der<br />
Politik; er ist es aber <strong>in</strong> jeder Beziehung. Das heißt,<br />
nicht nur für <strong>die</strong> äußere Politik e<strong>in</strong>es Staates bedeutet<br />
der Krieg bloß das äußerste und aktivste Zu-Ende-<br />
Führen jener L<strong>in</strong>ie, <strong>die</strong> das Land bis dah<strong>in</strong>, im<br />
‚Frieden›, verfolgt hat, sondern auch für <strong>die</strong> <strong>in</strong>nere<br />
Klassenschichtung e<strong>in</strong>es Landes (und der ganzen<br />
Welt) steigert der Krieg bloß aufs Höchste und spitzt<br />
bis <strong>in</strong>s Letzte jene Tendenzen zu, <strong>die</strong> <strong>in</strong>nerhalb der<br />
Gesellschaft bereits im ‚Frieden‘ wirksam gewesen<br />
s<strong>in</strong>d» 26<br />
<strong>Die</strong> Frage der Begeisterung von Teilen der Masse für<br />
den Krieg, <strong>die</strong> Frage des «Kriegsverantwortlichen»<br />
(zu wissen, welche Macht den <strong>in</strong>terimperialistischen<br />
Krieg ausgelöst hat) oder <strong>die</strong> Frage der Gründe, <strong>die</strong><br />
<strong>die</strong> Mächte angeben (Kampf für <strong>die</strong> Freiheit, für <strong>die</strong><br />
Zivilisation, usw.) verschleiern den tatsächlichen<br />
Charakter des Krieges, statt ihn zu erhellen.<br />
2.2. Das politische Subjekt des Krieges<br />
Für Clausewitz ist das politische Subjekt der Staat,<br />
und der Krieg ist der Krieg zwischen den Nationen.<br />
Er berücksichtigt <strong>die</strong> <strong>in</strong>dividuellen oder kollektiven<br />
Partikular<strong>in</strong>teressen, aber für ihn ist <strong>die</strong> Politik<br />
der entscheidende Faktor, «denn <strong>die</strong> Politik ist ja<br />
nichts an sich, sondern e<strong>in</strong> blosser Sachwalter all<br />
<strong>die</strong>ser Interessen [der rationalen Interessen des<br />
Staates und der Bürger] gegen andere Staaten.<br />
Dass sie e<strong>in</strong>e falsche Richtung haben, dem Ehrgeiz,<br />
dem Privat<strong>in</strong>teresse, der Eitelkeit der Regierenden<br />
vorzugsweise <strong>die</strong>nen kann, gehört nicht hierher;<br />
denn <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>em Fall ist es <strong>die</strong> Kriegskunst, welche<br />
als ihr Präzeptor betrachtet werden kann, und wir<br />
können hier <strong>die</strong> Politik nur als Repräsentanten aller<br />
Interessen der ganzen Gesellschaft betrachten.» 27 .<br />
Kurz gesagt «repräsentiert» der Staat auf <strong>die</strong><br />
e<strong>in</strong>e oder andere Art <strong>die</strong> Nation, <strong>die</strong> er regiert.<br />
Der Staat kann <strong>die</strong>se Nation <strong>in</strong> den Krieg führen<br />
und ist so e<strong>in</strong> politischer Akteur schlechth<strong>in</strong>.<br />
In Clausewitz‘ Inventar der Konflikte von der<br />
Antike bis zum Napoleonischen Reich zählt er<br />
weder den Bauernkrieg <strong>in</strong> Deutschland, noch <strong>die</strong><br />
Religionskriege <strong>in</strong> Frankreich und England, noch<br />
irgende<strong>in</strong>en Bürgerkrieg auf. Es gibt also <strong>in</strong> Vom<br />
Kriege e<strong>in</strong>e offensichtliche Befangenheit, was <strong>die</strong>se<br />
Konflikte betrifft.<br />
Nach Len<strong>in</strong> gibt es im obigen Abschnitt, den<br />
er sorgfältig <strong>in</strong> se<strong>in</strong> Notizbuch kopiert hat, e<strong>in</strong>e<br />
„Annäherung an den Marxismus“. Aber nur e<strong>in</strong>e<br />
Annäherung. <strong>Die</strong> Politik ist für den Marxismus das<br />
komplexe Ganze der verschiedenen Manifestationen<br />
der Klassen<strong>in</strong>teressen. Sie ist <strong>die</strong> mehr oder weniger<br />
kohärente und organisierte Aktion der Klassen<br />
(und der Klassenfraktionen) für <strong>die</strong> Realisierung<br />
der Interessen und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em höheren Stadium <strong>die</strong><br />
Aktion der Institutionen der Klassen (Partei, Staat,<br />
Sowjet, Gewerkschaft, Armee, usw.). Len<strong>in</strong> selber<br />
stellt sich auf den Standpunkt e<strong>in</strong>er nichtstaatlichen<br />
politisch-militärischen Kraft: der russischen<br />
Arbeiterbewegung, <strong>die</strong> von den Bolschewiki<br />
organisiert wird. In <strong>die</strong>se neue, breitere und tiefere<br />
Konzeption des politischen Subjekts baut Len<strong>in</strong><br />
Punkt für Punkt <strong>die</strong> Clausewitz’sche Analyse e<strong>in</strong>.<br />
Der Krieg hat (wie <strong>die</strong> Verhandlung) <strong>die</strong> Logik<br />
der Politik, aber e<strong>in</strong>e eigene „Grammatik“ (wie<br />
<strong>die</strong> Diplomatie e<strong>in</strong>e eigene hat). <strong>Die</strong> Analyse des<br />
Krieges stellt spezifische Gesetze heraus, darunter<br />
<strong>die</strong> Tendenz zum Äussersten (und <strong>die</strong> Dämpfung<br />
<strong>die</strong>ser Extreme durch den politischen E<strong>in</strong>satz) und<br />
den dreie<strong>in</strong>igen Charakter (politische Rationalität,<br />
Kriegskunst und fe<strong>in</strong>dselige E<strong>in</strong>stellung).<br />
<strong>Die</strong> Zweckmässigkeit, <strong>die</strong> Frage, ob es angebracht<br />
ist, <strong>die</strong> Thesen von Clausewitz auf nichtstaatliche<br />
Akteure anzuwenden, wird nach wie vor kontrovers<br />
beantwortet. Nach Mart<strong>in</strong> Van Creveld, dem<br />
israelischen Militäressayisten, der e<strong>in</strong> Referenzwerk<br />
über <strong>die</strong> Substituierung der klassischen Kriege<br />
durch asymmetrische Kriege veröffentlicht hat,<br />
schreibt…<br />
« Somit besagt der Satz, der Krieg sei <strong>die</strong> Fortsetzung<br />
der Politik, nicht mehr und nicht weniger, als dass<br />
der Krieg e<strong>in</strong> Instrument <strong>in</strong> den <strong>Hände</strong>n des Staates<br />
bilde, soweit der Staat zu politischen Zwecken Gewalt<br />
e<strong>in</strong>setzt. Der Satz besagt nicht, dass der Krieg jeder<br />
beliebigen Geme<strong>in</strong>schaftsform <strong>die</strong>ne. Falls aber genau<br />
das geme<strong>in</strong>t war, dann ist er nicht viel mehr als e<strong>in</strong>e<br />
abgedroschene Phrase. » 28 Für Van Creveld ersche<strong>in</strong>t<br />
<strong>die</strong>ser Typ von Krieg nicht nur sehr spät <strong>in</strong> der<br />
<strong>Geschichte</strong>, sondern ist wieder am Verschw<strong>in</strong>den<br />
und damit auch <strong>die</strong> Lektionen von Clausewitz.<br />
E<strong>in</strong>e Strömung der US-Militärdenker hat auf <strong>die</strong>se<br />
angebliche „Entdeckung“ des asymmetrischen<br />
Krieges reagiert. Für <strong>die</strong>se Strömung ist das<br />
Wesentliche der Strategie, <strong>die</strong> Vorteile und<br />
Schwächen des Gegners herauszuf<strong>in</strong>den 29 . <strong>Die</strong>s führt<br />
Conrad Crane dazu, zwei Arten der Kriegsführung<br />
zu unterscheiden: „<strong>die</strong> asymmetrische und <strong>die</strong><br />
stumpfs<strong>in</strong>nige“ 30 . Wenn man hier berücksichtigt,<br />
dass man beim asymmetrische Krieg nicht vom<br />
Krieg des Schwachen gegen den Starken spricht<br />
(das wäre der unsymmetrische Krieg), sondern<br />
von der Strategie (<strong>die</strong> Bevölkerung und <strong>die</strong> zivile<br />
Verwaltung als Ziel <strong>nehmen</strong> und nicht bewaffnete<br />
Kräfte oder <strong>die</strong> Bevölkerung als das Kampf- und<br />
Streitfeld zu verstehen), so sieht man auch hier, dass<br />
der „asymmetrische Krieg“ nichts grossartig Neues<br />
ist.<br />
Zudem haben <strong>die</strong> nichtstaatlichen Akteure <strong>in</strong><br />
sogenannten « asymmetrischen » Kriegen (<strong>die</strong><br />
maoistische Guerilla auf den Philipp<strong>in</strong>en, <strong>die</strong> PKK<br />
<strong>in</strong> Kurdistan, <strong>die</strong> Hizbollah im Libanon, usw.) e<strong>in</strong>e<br />
gleiche und manchmal sogar höhere politische<br />
Vernunft als <strong>die</strong> Staaten, <strong>die</strong> sie bekämpfen. <strong>Die</strong><br />
zwischenstaatlichen Kriege, <strong>die</strong> revolutionären<br />
Kriege, <strong>die</strong> nationalen Befreiungskriege lassen<br />
<strong>die</strong>selbe politische Vernunft erkennen. Van<br />
Creveld irrt sich, wenn er nur den Staaten <strong>die</strong><br />
politische Vernunft zuschreibt, den Krieg als<br />
Mittel zu benutzen 31 . Es gibt bewaffnete Gruppen<br />
ohne politische Vernunft (Mafia, religiöse Sekten,<br />
rassistische Banden, Strassengangs), aber <strong>die</strong> treten<br />
nur sehr selten als Kriegsparteien auf, was allerd<strong>in</strong>gs<br />
vom Ausmass der dschihadistischen Phänomene<br />
kaschiert wird 32 .<br />
2.3. Gerechter Krieg, ungerechter Krieg<br />
Von Clausewitz‘ Idee, den Krieg mit der Politik <strong>in</strong><br />
Verb<strong>in</strong>dung zu setzen, haben wir bisher nur das<br />
Primat der Politik über das Militärische <strong>in</strong> Betracht<br />
gezogen. Indem Len<strong>in</strong> bei der Untersuchung<br />
des politischen Charakters des Krieges den<br />
Klassencharakter analysiert, kann er se<strong>in</strong>en<br />
historischen und moralischen Charakter freilegen.<br />
Dadurch kann er gerechte von ungerechten<br />
Kriegen unterscheiden: «<strong>Die</strong> Verteidigung des<br />
Vaterlandes anerkennen heißt <strong>die</strong> Legitimität und<br />
Gerechtigkeit e<strong>in</strong>es Krieges anerkennen. Legitimität<br />
und Gerechtigkeit von welchem Standpunkt? Nur<br />
vom Standpunkt des sozialistischen Proletariats und<br />
se<strong>in</strong>es Kampfes für se<strong>in</strong>e Befreiung: e<strong>in</strong>en anderen<br />
Standpunkt erkennen wir nicht an. Wenn <strong>die</strong> Klasse<br />
der Ausbeuter e<strong>in</strong>en Krieg führt, um ihre Herrschaft<br />
als Klasse zu stärken, so ist das e<strong>in</strong> verbrecherischer<br />
Krieg, und <strong>die</strong> „Vaterlandsverteidigung“ <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />
solchen Krieg ist e<strong>in</strong>e Niedertracht und e<strong>in</strong> Verrat<br />
am Sozialismus. Wenn das Proletariat, das bei sich<br />
<strong>die</strong> Bourgeoisie besiegt hat, e<strong>in</strong>en Krieg führt zur<br />
Festigung und Entwicklung des Sozialismus, dann ist<br />
der Krieg berechtigt und „heilig“» 33 .<br />
<strong>Die</strong>s ist e<strong>in</strong>e beträchtliche Bereicherung der Theorie<br />
von Clausewitz‘, denn der letztere sieht ausser dem<br />
moralischen Vorteil der angegriffenen Nation nur<br />
<strong>die</strong> moralischen Faktoren, <strong>die</strong> nicht im Charakter<br />
des Krieges liegen (wie <strong>die</strong> militärische Tugend der<br />
Truppen, <strong>die</strong> beide Kriegsparteien gleichermassen<br />
besitzen können). <strong>Die</strong> militärische Bedeutung der<br />
marxistisch-len<strong>in</strong>istischen Unterscheidung besteht<br />
dar<strong>in</strong>, dass <strong>die</strong> Volksmassen im gerechten Krieg<br />
grundlegend beteiligt s<strong>in</strong>d, woraus e<strong>in</strong> höherer<br />
Mobilisierungsgrad, e<strong>in</strong>e grössere Ausdauer und<br />
Kampfkraft resultieren.<br />
Mehr<strong>in</strong>g ebnete den Weg dah<strong>in</strong>, <strong>in</strong>dem er das<br />
Konzept des „defensiven Krieges“ zugunsten des<br />
„gerechten Krieges“ verworfen hat. Das Konzept<br />
des „defensiven Krieges“ kann nämlich den<br />
imperialistischen Charakter e<strong>in</strong>es Krieges verbergen.<br />
Es war im Namen der legitimen Verteidigung, dass<br />
1914 Deutschland gegen Russland und Frankreich<br />
gegen Deutschland mobilisierte. Auf <strong>die</strong>ser Basis<br />
haben sich <strong>die</strong> deutschen und <strong>die</strong> französischen<br />
Sozialchauv<strong>in</strong>isten ihrer Bourgeoisie angeschlossen.<br />
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