Gǎidào Sonderausgabe: Solidarische Ökonomie
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Gai Dào<br />
<strong>Sonderausgabe</strong> N°8: <strong>Solidarische</strong> <strong>Ökonomie</strong> Sommer 2015<br />
Fabrikübernahmen entstanden sind. Jüngere Generationen winden sich<br />
lieber ohne Sicherheiten und langfristige Projekte durch die<br />
Verhältnisse, anstatt gleichberechtigt Verantwortung in den Betrieben<br />
zu übernehmen. In der fordistischen Fabrikarbeit selbst sehen sie ihre<br />
Unterdrückung und nicht in deren Administration.<br />
Komme ich also zurück zu <strong>Solidarische</strong>r <strong>Ökonomie</strong> im engeren Sinne.<br />
Manche älteren Kollektivist*innen berichten von einer großen<br />
Gründerzeit von Kollektiven in den achtziger Jahren. Es habe größere<br />
Ziele und Vernetzungen gegeben, insbesondere in Berlin. Dann seien<br />
manche Kollektive verschwunden; andere haben aufgehört als Kollektiv<br />
zu funktionieren, aber würden zum Teil immer noch politischen<br />
Anspruch besitzen. Wieder andere seien bis heute erhalten geblieben.<br />
Seit einigen Jahren sei aber wieder ein gesteigertes Interesse an<br />
kollektivem Wirtschaften zu erkennen. Es haben sich neue Kollektive<br />
gegründet und es existieren Versuche diese zu vernetzen. So gibt es eine<br />
Vernetzungsplattform mit Website für Berliner Kollektivbetriebe und<br />
die FAU Bonn versucht ebenfalls mit einer öffentlichen Website<br />
Kollektivbetrieben eine gemeinsame Plattform zu bieten. Darüber<br />
hinaus arbeitet die FAU Berlin an einem weitergehenden Projekt der<br />
kollektivbetrieblichen Vernetzung über die Gewerkschaft. Beides steht<br />
allerdings noch eher in den Kinderschuhen und kein Kollektiv, mit dem<br />
wir sprachen, setzte solche Aspekte im Bereich der<br />
Zukunftsperspektiven oben auf die Agenda.<br />
Tatsächlich hat die Nachhaltigkeitsdebatte und neue eher liberale<br />
Bewegungen wie Transition Town oder Occupy die Idee des kollektiven,<br />
ökologischen Wirtschaftens wieder dem gesellschaftlichen Mainstream<br />
näher gebracht. Gleichzeitig stieg es auch in den radikalen<br />
antikapitalistischen Bewegungen wieder höher in der Agenda. Hatten<br />
diese sich in den neunziger Jahren noch ganz dem Kampf gegen den<br />
erstarkenden deutschen Nationalismus gewidmet, bildete sich mit der<br />
globalisierungskritischen Bewegung und den<br />
Unterstützungskampagnen für die Zapatistas in den Zweitausendern<br />
wieder ein Raum für antikapitalistische Mobilisierungen und eigene<br />
Konzepte. Auch die Wiederentdeckung und Weiterentwicklung des im<br />
deutschsprachigen Raum kaum mehr vorhandenen anarchistischen<br />
Gedankengutes weckte hier ein gesteigertes Interesse an kollektivem<br />
Wirtschaften innerhalb und gegen die kapitalistische Umgebung.<br />
Innerhalb der Betriebe scheint aber trotz des mehrheitlich politisch<br />
ideologischen Selbstverständnisses der Akteure wenig Denken oder<br />
Handeln in Richtung kommender gesellschaftlicher Veränderungen<br />
vorangetrieben. Dies gilt sowohl in Richtung einer Einwirkung auf<br />
externe politische Prozesse (wobei hier ganz besonders), als auch im<br />
Hinblick auf interne Richtungsentscheidungen mit politischem Gehalt.<br />
Dies zeigt sich beispielsweise in einer Frage nach den Visionen der<br />
Betriebe in den kommenden fünf Jahren. Zusätzlich zeigen sich hier<br />
auch zum Teil komplett divergierende Vorstellungen von Beteiligten ein<br />
und desselben Betriebes, so dass man meinen könnte, dass derartige<br />
Fragen nach der Zukunft kaum auf der Tagesordnung stehen. Manche<br />
wünschen sich ein Wachstum des Kollektivs, andere lehnen es ab. Viele<br />
Betriebe äußerten den Wunsch für mehr Beschäftigte ein vollständiges<br />
Gehalt zahlen und sie gut sozialversichern zu können. Außer bei einer<br />
Kommune standen eigene soziale Sicherungssysteme nirgendwo auf der<br />
Agenda. Manche äußerten den Wunsch nach mehr Vernetzung und<br />
einer neuen Kollektivbewegung, aber meistens schätzte man die eigene<br />
Priorisierung solch weitreichender Projekte als zu gering ein. Aber auch<br />
andere große Projekte im Rahmen eines unternehmerischen Denkens<br />
wurden nicht genannt. Zusammenfassend kann bei der überwiegenden<br />
Zahl der Betriebe von einer „Politik der kleinen Schritte“ gesprochen<br />
werden.<br />
Dies hängt sicherlich mit der oft prekären Lage der Betriebe zusammen.<br />
Wobei diese Lage kein Merkmal kollektiv geführter Unternehmen<br />
darstellt, sondern vielmehr ein Merkmal kleiner Unternehmen ohne<br />
größere Kapitalreserven für Investitionen wie etwa in<br />
Datenverarbeitung, Marketing oder Automatisierung. Alle größeren<br />
Geschäftsfelder werden von großen, weiter fusionierenden<br />
Unternehmensgruppen übernommen, so dass sich kleine Unternehmen<br />
weniger lukrative Nischen suchen müssen. Dies alles ist ein Produkt der<br />
Kapitalakkumulation im Kapitalismus.<br />
Charakteristisch kommen bei den untersuchten Kollektivbetrieben<br />
allerdings einige weitere erfolgshemmende Faktoren hinzu. Hohe<br />
ideelle, antikapitalistische Standards lenken die Betriebe gegen viele<br />
Untiefen im kapitalistischen Fahrwasser. Kollektive müssen Abstriche<br />
machen von ihrem umfassenden solidarischen Verständnis um in einer<br />
Marktwirtschaft zu bestehen. Qualitativer, sozialer Einkauf, eine soziale<br />
Preispolitik und eine faire Entlohnung sowie Arbeitsbedingungen<br />
mindestens im Branchenmittel sind zusammen nicht realisierbar. Das<br />
Fehlen einer Strategie bezüglich genannter Ambivalenz macht ein<br />
erfolgreiches Bestehen besonders schwierig.<br />
Hier schließt sich ein anderes Problem des Status quo an. Es fehlt an<br />
theoretisch fundierten und erprobten Konzepten des solidarischen<br />
Wirtschaftens. Für konventionelle Betriebe existieren zahlreiche<br />
Beratungsangebote und mit der Betriebswirtschaftslehre nicht zuletzt<br />
einen gesamten „Wissenschaftszweig“, der sich mit erfolgreichem<br />
kapitalistischem Wirtschaften befasst. Hinzu kommen<br />
Softwarelösungen für interne Kommunikations-,<br />
Dokumentenverwaltungs-, Abrechnungs- und Vertriebsstrukturen. All<br />
diese vorhandenen Lösungen sind für herrschaftsfreie Betriebe meist<br />
nur sehr begrenzt einsetzbar. In Argentinien hat sich im Zuge der aus<br />
Staatsbankrott und Wirtschaftskrise hervorgehenden kollektiven<br />
Betriebsübernahmen eine größere institutionelle Forschungstätigkeit an<br />
den Universitäten zu dieser Form des Wirtschaftens entfaltet.<br />
Wissenschaftler*innen begleiten Projektentwicklung und interne<br />
Prozesse unter häufig sehr interdisziplinären Ansätzen, die von<br />
Arbeitsorganisation über Soziologie und Finanzwesen bis zur<br />
Psychologie reichen. Entsprechende Forschungstätigkeiten konnten im<br />
deutschsprachigen Raum nicht gefunden werden. Es existiert lediglich<br />
eine Beratungsgruppe, die bereits viele Kollektive bei Gründung und<br />
Problemen begleitet hat und derart in der Lage ist ein Wissen über<br />
Erfolgskonzepte und Fehler zusammenzutragen und weiterzugeben. Es<br />
fehlen allerdings nicht nur pragmatische Kenntnisse zur Organisation<br />
herrschaftsfreier Kollektivbetriebe. Grundsätzlich existiert weder ein<br />
landläufiger Standard, was solidarische <strong>Ökonomie</strong> eigentlich genau ist<br />
und was eben nicht, noch fundierte Gegenentwürfe zur<br />
Marktwirtschaft, geschweige denn Strategien zur Überwindung<br />
selbiger. Insgesamt kursieren (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) viele<br />
fragmentarische Essays zu verschiedenen Aspekten, wie die Ideen zu