Gǎidào Sonderausgabe: Solidarische Ökonomie
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Gai Dào<br />
<strong>Sonderausgabe</strong> N°8: <strong>Solidarische</strong> <strong>Ökonomie</strong> Sommer 2015<br />
besitzen und darüber hinaus eine kapitalistische Beziehung beschreiben<br />
(außer Kooperativen).<br />
Viele Widersprüche unserer autoritären, kapitalistischen Gesellschaft<br />
spielen sich zudem nicht nur in unseren Arbeitsumgebungen ab oder<br />
besitzen ihren Ursprung nicht dort. Ganz verschiedene Orte politischen<br />
Handelns sind notwendig um Veränderungen zu erwirken. Aus einer<br />
individuellen Perspektive bedeutet dies ganz greifbar ihre*seine Zeit<br />
einteilen zu müssen. Wer das berühmte wahre Leben im Falschen zu<br />
finden sucht, steuert dabei unweigerlich auf einen persönlichen<br />
Zusammenbruch zu. Das Ziel bleibt so unerreichbar, wie den<br />
Selbstanforderungen im spektakulären Kapitalismus genügen zu<br />
können. Stellen wir uns diese Suche einfach einmal vor. Viele mögen<br />
das Dilemma aus eigener Erfahrung kennen.<br />
Wir wollen ein schönes Zuhause ohne uns dafür von<br />
Immobilienkonzernen schröpfen zu lassen. Auch wollen wir hier einen<br />
Ort schaffen, der uns ein kreativer, sozialer Raum ist und Initiativen<br />
eine Plattform bietet. Das ganze wollen wir natürlich DIY ausbauen,<br />
weil wir uns auch selbst handwerklich empowern wollen und es sonst<br />
ja auch gar nicht richtig<br />
unser Ort würde. Wir sind<br />
in einer Lebensmittelkooperative<br />
oder gründen<br />
die erst einmal, wenn es<br />
sie nicht gibt - oder<br />
kaufen zumindest alles im<br />
Bioladen und fair und<br />
vegan. Wenn wir<br />
lohnarbeiten, sind wir<br />
aktiv in der<br />
selbstorganisierten Gewerkschaft.<br />
Oder wir<br />
gründen gleich noch einen<br />
Kollektivbetrieb. Wir<br />
hinterfragen natürlich<br />
gleichzeitig unsere Beziehungen<br />
und Geschlechtersozialisation.<br />
Wir sind in<br />
Fabrikbesetzung in Argentinien<br />
einer feministischen Gruppe aktiv und in einer Waldbesetzung gegen<br />
Kohlebergbau. Nachts beschützen wir das neue Asylbewerber*innenheim<br />
vor Faschos und tagsüber organisieren wir Rechtshilfe<br />
für und Demos mit den Refugees... Kurz es ist die Hölle. Wer kann das<br />
leisten?<br />
Wir, Menschen der anarchistischen Bewe-gung, sollten aufhören uns<br />
misstrauisch zu beäugen und uns die Inkonsistenz unserer<br />
Lebensentwürfe selbst oder gegenseitig vorzu-halten, da Konsistenz im<br />
bestehenden System per se nicht erreichbar ist. Akzeptieren wir doch<br />
beispielsweise, dass Person X versucht solidarisch zu wirtschaften und<br />
nachhaltig zu konsumieren, aber es nicht schafft sich gegen einen<br />
lokalen rassistischen Aufmarsch zu engagieren, während Person Y<br />
Aktionen für Rojava organisiert, aber sich das Hartz4-kompatible Essen<br />
aus dem Aldi holt. Dieser Ansatz bedeutet allerdings nicht, dass alles in<br />
Ordnung geht, solange wir uns irgendwie links fühlen. Dieser<br />
Pluralismus der Lebensweisen ist nur dann in progressiven Sinne<br />
möglich, wenn wir untereinander in solidarischen<br />
Austauschverhältnissen stehen – materiell wie ideell; wenn wir unsere<br />
Lebensentwürfe mit einer Analyse der Verhältnisse und einer Strategie<br />
gegen die Verhältnisse in Einklang bringen.<br />
Die in solidarisch-ökonomischen Strukturen mitunter anzutreffende<br />
„Inselstrategie“ ist nicht geeignet gesellschaftliche Veränderung zu<br />
erwirken. Obwohl sich die Vorstellung der Revolution als<br />
diskontinuierliches Moment historischen Wandels bekanntermaßen<br />
nicht bewahrheitet hat, verkennt ein harmonisches, evolutionäres<br />
Modell doch die begrenzenden, stabilisierenden Faktoren der<br />
kapitalistischen Ordnung. Die Unvereinbarkeit solidarischen<br />
Zusammenlebens mit dem absoluten staatlichen Machtanspruch<br />
(Zivilrecht, Sozialversicherung, Steuern) sowie die Profitorientierung<br />
aller Beziehungen muss zu einem Konflikt führen, deren Austragung<br />
nicht vermieden werden kann. Wird dieser Konflikt synchron<br />
ausgetragen mit den immer wieder aufkeimenden, nihili-stischen<br />
Revolten der enttäuschten, chronisch unbefriedigten Einzel-nen, so<br />
kann sich unter schrittweisem Zurück-drängen bestehender Autoritäten<br />
ein positiver, emanzipatorischer<br />
Diskurs<br />
verbreiten. Zu einer umfassenderen<br />
Analyse gesellschaftlicher<br />
Veränderung<br />
kann dieser Artikel<br />
leider nicht herhalten,<br />
denn es gibt noch mehr<br />
zu berichten. Also zurück<br />
zu den Interviews...<br />
Ausnahmslos legten alle<br />
interviewten Kollektive<br />
und Kooperativen einen<br />
hohen Stellenwert auf<br />
die Gestaltung sozialer<br />
Beziehungen. Einige<br />
Betriebe stehen in enger<br />
Verbindung zu Kommunen<br />
oder sind Teil solcher. Gerade diese Betriebe legen Wert darauf in<br />
ihren internen Strukturen ganzheitlich eine herrschaftsfreie,<br />
solidarische Gesellschaft abzubilden. Eigene Systeme von Alterssicherung,<br />
Kinderbetreu-ung und Konflikt-schlichtung wurden bzw.<br />
werden entwickelt. Entgegen herkömmlichen Betrieben, in denen<br />
antidiskriminierende Praktiken nur entwickelt werden, wenn entweder<br />
gesetzliche Vorgaben (in Folge politischer Kämpfe) es verlangen oder<br />
damit Produktivitätssteigerungen einhergehen, legen die interviewten<br />
solidarischen Betriebe stets hohen Wert darauf. Die Dekonstruktion von<br />
Herrschaft, sei es in sexistischer, rassistischer, klassistischer,<br />
ageistischer, ableistischer o. ä. Konzeption, steht über dem Profitinteresse<br />
der Kollektive.<br />
Damit erfüllen solidarisch-ökonomische Strukturen, sofern ihnen die<br />
Intersektionalität von Herrschaft bewusst ist, die Funktion eines<br />
Schutzraumes für Opfer von Diskriminierungen verschiedener Art.<br />
Der Raum des politischen Aktivismus ist dagegen ein Ort höchster