Schwäbische Nachrichten & AuLa Dezember 2015

REGIONALES
DiealteSchachtelauf dem Dachboden
Eine Weihnachtsgeschichte
Gustav Guisez
Autor
historischer
Geschichten
In den Wochen vor dem Fest gehört
eszuden schönsten Tätigkeiten,
das Kripple – welches
vielleicht schon von den Voreltern
vererbt –herzurichten, versuchsweise
die Szene neu zu gestalten,
da und dortetwas zu verbessern,
nachzusehen ob kein
Knöpfle wackelt und die Kleider
der Darsteller auf Vordermann zu
bringen.
Ebenfalls sind Weihnachtskugeln
und Christbaumständer, eben alles
was zum Christbaum gehört,
bereitzulegen. Und so tappst du
eines Tages hinauf zum Dachboden,
um alles zu holen und begegnest
dabei ganz unverhofft
einer„alten Schachtel“, die dich
mit Erinnerungen an vergangene
Zeiten überschüttet.
Nichts gegen graue Haare, Vergesslichkeit,
Gelenkschmerzen
und all das was das Alter so mit
sich bringt. Und so merkst du
dann beim Treppensteigen, dass
du nicht mehr der Jüngste bist.
Zuerst umgarnen dich die Spinnweben,
dann stolperst du über
ausrangierte Kleiderbügel und
zuletzt stößt du mit dem Schädel
gegen einen Dachbalken. Hierauf
fällt die Taschenlampe zu
Boden, etwas Schweres hindert
deinen Fuß am Weitergehen,
dann –etwas ermüdet –stellst
du fest, dass das der gesuchte
Christbaumständer ist und neben
ihm das Kripple mit dem
Christbaumschmuck steht.
DievergesseneSchachtel
Doch beim Aufheben der Lampe
fällt deren Lichtauf eine alte, vergessene
Schachtel, die fest umschnürt
dein Interesse weckt.
Herrgott,wie lange mag die ganz
übersehen da oben gelegen haben?
Vierzig Jahre, oder noch länger?
Neugierig geworden setzt du
dich nieder, schnürst die alte
Schachtel auf und gleich fällt
dein Blick auf eine Anzahl Bilder,
die in den Dreißiger Jahren in Salem-Zigarettenpackungen
enthalten
waren. In vergilbtes
Seidenpapier gehüllt,
kommtanschließend
eine gemalte
Glasscherbe, die in
Blei gefasst, zum Vorschein.
Es war das ein
Stück eines alten Kirchenfensters
der Kathedrale
vonBayeux in der
Normandie.Dafällt dir
die schwarzhaarige
Bäckerstochter ein,
deren Vater du1940
heimlicherweise mit
Wehrmachtsbenzin
versorgt hast.
Sie wieder beschenkte
dich mit heißer
Schokolade, Kuchen
und „anderen Süßigkeiten“.
Bei einem Bombenangriff
ging dieses schöne Kirchenfenster,
vor dem du oft inBewunderung
gestanden hast, zuBruch.
Beim Abschied gab dir die hübsche
Französin ein Päckchen und
sagte radebrechend: „Buntes
Glas!“. Dann fällt der Blick auf eine
brüchige Papierweihnachtskrippe,
die immer unter dem
Christbaum der Elterngestanden
hat.
©shariffc /123rf.de
Dieschlummernde Spieldose
Ganz unten neben den Kriegsauszeichnungen
siehst du endlich
die alte Spieldose schlummern,
die dir die Eltern anWeihnachten
1941 nach Russland –
wir lagen vor Worschilowgrad –
schickten. Zaghaft ziehst du sie
auf. Leise, fast unhörbar erklingt
die Melodie: „Stille Nacht, heilige
Nacht…“, die damalsamHeiligen
Abend Allen im Bunker der vordersten
Linie, Tränen der Verlassenheit
und des Heimwehs entlockte…
Etwas nachdenklich geworden,
legst du die alte Schachtel wieder
an ihren Platzzurück,nimmst
das Behältnis mit Krippe, Christbaumschmuck
und den Tannenbaumständer
und steigst vonder
Vergangenheit wieder zurück in
die Gegenwart hinunter.
„Wo warst du denn so lange, wie
siehst du denn aus,hast du einen
Geist da oben gesehen?“, begrüßt
dich deine Gattin. „Nein“,
erwiderst du etwas verlegen,
„nur eine alteSchachtel“ …
GustavGuisez ■
Beim Stöbern in der alten
Schachtel kamauch eine
wunderschöne Papierweihnachtskrippezum
Vorschein.
Repro: Guisez
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