kalbenser Fliegenklatsche
Bd.02 "das Untergrundmagazin für von innen Tätowierte"
Bd.02 "das Untergrundmagazin für von innen Tätowierte"
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fliegenklatsche<br />
Ausgabe 02<br />
Winter 2015/16<br />
das Untergrundmagazin für von innen Tätowierte<br />
Auf<br />
in die<br />
Abgründe!<br />
ein seltsamer gast Der Balkon Notizen einer Flucht<br />
First sight amy Generalverdacht Das Begeisterhaus<br />
Das Berlin ABC Eiskristallnacht Kaffee se pätschwörk<br />
storri Artübergreifende Tierpartnerschaft Collage<br />
Zeichnungen Fotografie Papierflieger und allerhand<br />
Abgründiges Darauf können sie Gift nehmen
Liebe Leserinnen und Leser,<br />
ist ganz schön ungemütlich geworden, vor der Tür.<br />
Da zieht man sich doch lieber zurück ins Kämmerlein<br />
und geht seinen Hobbys nach. Das müssen die anderen<br />
auch nicht immer wissen, womit man sich so<br />
beschäftigt, oder?!<br />
Als mir neulich in meinem geheimen Keller die Forschungsobjekte<br />
ausgingen, dachte ich so bei mir:<br />
„Schreib doch ein paar Freunden und gib ihnen eine<br />
sinnvolle Aufgabe. Dann haben wenigstens DIE keine<br />
Langeweile mehr.“<br />
Einige Zeit danach erreichten mich diverse merkwürdige<br />
Beiträge, die mir zum Teil erschreckende Einblicke<br />
in das Seelenleben meiner Bekanntschaft gewährten.<br />
Da diese intimen Bekenntnisse mich ja nun<br />
eigentlich gar nichts angehen, habe ich beschlossen,<br />
die gesammelten Werke in einem Heft der Öffentlichkeit<br />
zugänglich zu machen. Weiß ich doch selbst am<br />
besten, wie spannend es ist, in der schmutzigen Wäsche<br />
anderer Leute herumzuwühlen. Und da bin ich<br />
auch gleich auf Sie gekommen. Denn durch einige<br />
kleinen Recherchen im Netz, wusste ich bereits ziemlich<br />
genau, wie Sie so ticken. Es ist ja höchst erstaunlich,<br />
wie leicht man ihre Adresse, ihr Kaufverhalten<br />
und ihre anderen kleinen Geheimnisse heraus bekommen<br />
kann. Alter Schwede, bin ja fast rot geworden<br />
und ganz sicher, dass Sie die vorliegende Lektüre<br />
auch interessieren wird. Denn obwohl meine Freunde<br />
natürlich keinen Cent für ihre Arbeit kriegen, haben<br />
sie sich wie besessen in das Projekt gekniet und ganz<br />
wunderbare Beiträge abgeliefert.<br />
Es macht schon Spaß, Sie hier so ein bisschen vollzutexten,<br />
hat doch meine Geltungssucht schon wieder<br />
die Tastatur übernommen. Sie wünscht sich dass<br />
Sie dann später sagen, wie toll das Heft gelungen ist.<br />
Ich würden dann nur milde abwinken: „Ach, ist doch<br />
nichts besonders.“ Und Sie so: „Und bescheiden sind<br />
Sie auch noch!“ Und ich wieder: „Ja wissen Sie, ich<br />
war schon immer so bescheiden. Und das, obwohl<br />
ich so gut aussehe. Ich weiß auch nicht woher das<br />
kommt.“<br />
Natürlich könnte ich noch ganz viele Weisheiten in<br />
diesem Text hier niederschreiben, das wäre gar kein<br />
Problem für mich, aber langsam hab ich keine Lust<br />
mehr. Vielleicht tu ich stattdessen so, als würde ich am<br />
Rechner was ganz wichtiges nachschlagen und schau<br />
mir derweil ein noch paar Schmuddelbildchen an.<br />
Sie können ja dann auch langsam weiter blättern,<br />
hier gibt es nämlich nichts mehr zu sehen.<br />
Neue Erkenntnisse wünscht<br />
Marko Kühnel
Alisa Tretau<br />
first sight Amy<br />
4<br />
4
Ich war nie sonderlich an Popmusik interessiert,<br />
ich hatte immer Besseres zu tun, und zu hören.<br />
Wahrscheinlich war die erste Begegnung deshalb<br />
so intensiv. Als wäre etwas vom Himmel gefallen,<br />
direkt auf meinen Kopf, und die Zeit blieb stehen.<br />
Vielleicht nicht so first sight, aber immerhin first<br />
night. War das wirklich die einzige Nacht, die wir<br />
zusammen verbrachten?<br />
Wir haben die ganze Zeit geredet, und in den Lücken<br />
zwischen den Wörtern stand noch viel mehr,<br />
unsagbares, unheimliches. Kennst Du das auch?<br />
Hast du das schon mal gehört? Unglaublich.<br />
Ich konnte es danach nie verstehen, dieses Bild,<br />
das sie von sich gezeichnet hat in der Öffentlichkeit.<br />
Können Äußeres und Inneres wirklich so weit<br />
auseinander klaffen? Was ist dazwischen? Wie weit<br />
müssen die Organe sich strecken, damit Schale<br />
und Kern noch zusammenhalten?<br />
Vielleicht hat sie doch überlegt bei mir zu bleiben.<br />
Aber nein, es wussten immer schon andere, die<br />
Typen im Hintergrund, was besser für sie wäre.<br />
Besser als was? Als Saft an der Nordsee, ein ruhiges<br />
Leben, vielleicht ab und zu ein Konzert auf<br />
einem Butterschiff?<br />
So ein Leben wollte sie nicht, aber ich bin mir bis<br />
heute nicht klar darüber, warum sie nicht einfach<br />
mal nein! gesagt hat, aufgestanden ist, die Show<br />
unterbrochen hat, ab ins Rehab.<br />
So einfach ist das nicht, hat sie gesagt, und dass<br />
sie auch gerne darüber lachen würde.<br />
Aber die unsichtbaren Fesseln tun auch weh, und<br />
die Ordnung am Tisch ist fixer, als Du glaubst.<br />
Ich bin aufgestanden, habe den Strandkorb<br />
verlassen: „Guck, so einfach ist das!“.<br />
Auch darüber hat sie nicht gelacht, nein, sie hat<br />
geschrien. Richtig beschimpft hat sie mich:<br />
„Du gefühllose Zwiebel, verstehst Du nicht, dass<br />
ich mich nicht einfach so schälen kann wie du? Das<br />
ist kein Faschingskostüm, das ich ablegen kann,<br />
und mich dann unter die glücklichen Partycocktails<br />
mischen! Natürlich geht es allen anderen mieser<br />
als mir, und meine Songs machen auch keine Hoffnung,<br />
aber das Schlimme daran ist, dass die Zeit<br />
so schnell vergeht!<br />
Und ich habe kein Land in Sicht, keinen Rückzugsraum.<br />
Safe Space, was soll das sein? Hast Du die<br />
letzte Folge gesehen?“<br />
Und als sie dann über den Strand wegrannte,<br />
musste ich trotzdem darüber lachen, dass sie ihre<br />
Stöckelschuhe nicht ausgezogen hatte, die ganze<br />
Zeit nicht, und jetzt im graunassen Sand versank.<br />
„So fix kann deine Rolle doch gar nicht sein!, rief<br />
ich ihr hinterher, Arnold Schwarzenegger hat sein<br />
Image auch geändert bekommen!“<br />
„Ich bin aber kein weißer reicher Österreicher, der<br />
alle für dumm verkauft, du Arschloch!“, brüllte sie<br />
aus der nebeligen Ferne. „Mein Image ist keine<br />
CD-Hülle zum Wegschmeißen!, ich hab das in mir<br />
Drinnen.“<br />
Und dann war sie verschwunden,<br />
in der Nacht oder im Meer.<br />
Ich habe mir ihre CD gekauft, und wäre gerne zu<br />
ihrer Beerdigung gegangen, um irgend jemandem<br />
eine runterzuhauen. Stattdessen habe ich einen<br />
Song geschrieben:<br />
Beate Körner<br />
Medienkünstlerin, *1987 in Weimar<br />
lebt und arbeitet in Reykjavík<br />
www.beatekoerner.de<br />
you. me. we. us. they. them. no.<br />
du ich wir uns, die euch? nein.<br />
Wenn ich nach Bindelücken suche<br />
finde ich nur Grenzen<br />
Ich versteh es nicht, dass schon ein Blick genügt,<br />
ein Verweis, das ist nicht mein Gebiet.<br />
Da sitzt schon du, und du bist euch, nicht ich und wir und uns.<br />
Lieber mal die Klappe halten, nicht wissen, was das soll.<br />
Der Weg zusammen endet hier, auch wenn er weiter rollt.<br />
5<br />
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6
Der Balkon<br />
von Lisa Wiedemuth<br />
„miner earthquake“ von Adrian Kenyon<br />
Als Kind taumelte ich nicht, als Kind war Tollen angesagt.<br />
Es gab kein zu hoch, kein zu tief, keine Dimension des<br />
Fallens, nur die Neugier. Wenn ich früher in der Neubauwohnung<br />
meiner Oma am niedrigen Balkongeländer<br />
stand und aus dem 10. Stock in das Unten schaute, dann<br />
war das Unten ziemlich interessant, aber weniger angsteinflößend.<br />
Wenn ich heute, jetzt an diesem Geländer<br />
stehe, dann schaue ich lieber geradeaus. Ich glaube, so<br />
funktioniert das Erwachsenwerden. Ja, bloß nicht nach<br />
unten schauen, lieber geradeaus, in kühnen Momenten<br />
vielleicht sogar nach oben. Aber bloß nicht nach unten<br />
schauen und wenn doch, dann beginnt das Taumeln. Die<br />
Dimensionen haben sich verschoben, ich bin vielleicht<br />
größer geworden, aber vielmehr hat sich die Wahrnehmung<br />
des Fallens verändert. Ich stehe am Geländer und<br />
habe das Gefühl, ich ziehe mich selbst in die Tiefe, doch<br />
mein Oberkörper stemmt sich dagegen. Diese Mischung<br />
aus ungewollter Versunkenheit und kaltem Schweiß verursacht<br />
meistens Schwindel. Spätestens dann trete ich einen<br />
Schritt zurück oder schaue wieder geradeaus. Man kann<br />
das sicherlich Höhenangst nennen. Aber ich nenne es das<br />
Erwachsenwerden. Das Fallen wird real, weil man es kennengelernt<br />
hat. Während ich am Geländer im 10. Stock in<br />
der Neubauwohnung meiner Oma stehe und geradeaus<br />
schaue, beginnt diese hinter mir vom Absturz der Welt zu<br />
sprechen. Die fortdauernde Geschichte ist einen Schritt zu<br />
weit in die falsche Richtung gegangen und nun beginnen<br />
wir zu taumeln, derzeit noch schwer merklich, aber bald<br />
beginnt der Fall. Meiner Meinung nach haben wir zu viel<br />
geradeaus geschaut. Aber das behalte ich für mich. Ich<br />
wage vieles noch nicht auszusprechen, weil es noch nicht<br />
zu Ende gedacht ist. Also lieber von Anfang denken...<br />
Das Kindsein, das Erwachsenwerden. Laut Allgemeinplätzen<br />
besteht der Übergang aus dem Anstieg täglich wachsender<br />
Verantwortung. Aber wer berücksichtigt den Anstieg<br />
der Summe von Denkzetteln, die dich so richtig vom<br />
Geländer geschubst haben? Sie haben geschubst, während<br />
du geglotzt hast. Du lernst das Fallen kennen und sie<br />
springen mit einem Lachen hinterher. Unten angekommen<br />
versuchst du dich aufzurappeln und kurioserweise schaffst<br />
du es. Wenn du dann aber beim nächsten Mal im 10.<br />
Stock am Geländer stehst, dann schaust du lieber nicht<br />
nach unten. Denn da unten liegen die Denkzettel wie Laub<br />
auf dem Asphalt verstreut und sobald du sie siehst, beginnst<br />
du zu taumeln. Also lieber geradeaus schauen. Wir<br />
schützen uns und lösen uns damit auf. Die Geschichte ist<br />
ganz besonders schnell erwachsen geworden, ein Denkzettel<br />
nach dem anderen, aber sie wagt es nicht hinab zu<br />
schauen. Während der Mensch sich - seit er sein erstes<br />
Werkzeug in die Hand genommen hat - exponentiell weiterentwickelt,<br />
indem er nämlich ein Werkzeug auf dem anderen<br />
aufbaut, findet ein entscheidender Faktor nicht die<br />
gleichen Ausmaße in der Entwicklung: Der Humanismus.<br />
Aber genau den findet man nicht am Horizont. Er liegt in<br />
dem Laub herabgefallener Denkzettel. Und deswegen sind<br />
wir mit unserem eigenem Geradeaussichtschutz für ziemlich<br />
viel verantwortlich. Das fängt bei uns an und hört in<br />
der Geschichte auf. Wenn wir tagsüber nach unten schauen,<br />
dann ist das maximal ein Blick auf unser Smartphone,<br />
nachts wagen wir ungewollt in unseren Träumen einen<br />
Blick in die Tiefe. Wir machen uns selbst Angst, denn wir<br />
wollen funktionieren, besser werden, sicher sein, aber keinesfalls<br />
einen Schritt zu viel wagen. Und bloß nicht fallen.<br />
Meine Oma spricht vom Absturz der Welt. Sie hätte den<br />
Kommunismus erlebt. Bringt nichts. Der Kapitalismus?<br />
Bringt uns maximal unser Grab. Eine Alternative? Gibt es<br />
nicht! Ich stehe im 10. Stock der Neubauwohnung meiner<br />
Oma am Geländer und zwinge mich herabzuschauen,<br />
das Taumeln zu genießen. Und falls mich ein Denkzettel<br />
aus dem 10. Stock schubst, dann steh ich halt wieder auf.<br />
Damit denke ich zu Ende.<br />
7
8
Tja, hmmm... der Abgrund also, wie? Puh! Ähm. Naja, so ein Abgrund... naja, der ist... der hat schon etwas recht Abgründiges, so ein Abgrund.<br />
Womit ich ihm natürlich keineswegs zu nahe treten möchte. Oh man! Puh! Ääh... Ääh-hähähä... Tatsache ist jedenfalls, dass so ein Abgrund einen<br />
‚Ab‘ und einen ‚Grund‘ hat. Das wäre ja schon mal was... was man dann hat! Was gibt es darüber hinaus noch zu sagen? Ähm, naja vielleicht<br />
noch... Vielleicht könnte man noch sagen, dass es was mit Oben und... und mit ziemlich weit Unten zu tun hat. Und vielleicht noch, dass man davor<br />
besser Warnschilder aufstellen sollte, da ja ziemlich weit Unten eher schlecht für die Gesundheit ist, wenn man von Oben kommt, also sozusagen<br />
in Fallgeschwindigkeit... Wenn man zu Fuß gehen kann ist das natürlich umgekehrt. Ich habe nämlich gehört, müssen Sie wissen, Klettern und<br />
Treppensteigen soll ja sehr gesund sein. Ähm... Sagt auch mein Arzt. Tja, das wäre dann schon so ziemlich Alles, was es darüber zu sagen gibt,<br />
beziehungsweise, was ich darüber zu sagen wüsste...<br />
Naja... Hmmm... Ähm...<br />
Hübsch hier!<br />
Ähm... äh!<br />
Oh mein Gott! Was zur Hölle ist denn das für ein riesen Ding, da hinter Ihnen...<br />
Ein interaktiver Text<br />
zum Thema ‚Abgrund‘<br />
Einleitung: Ungeachtet des Umstandes,<br />
dass der Trick wirklich uralt<br />
ist, ist es doch immer wieder erstaunlich,<br />
wie oft er trotzdem funktioniert.<br />
Fangen wir also noch mal ganz von<br />
Vorn an. Dieses mal hübsch geordnet.<br />
Zunächst einmal die Definition. Sie<br />
lautet wie folgt: was in die Tiefe hinab<br />
führt / was ohne Grund ist.<br />
Soweit zur Definition. Sie haben es<br />
sicher alle bemerkt. Da hat der Definator<br />
aber mal einen schwungvollen<br />
Tritt in den schönsten Haufen Hundeexkremente<br />
getan. Denn, wie mein<br />
Vorredner so eloquent zu verdeutlichen<br />
wusste, das Wort selbst enthält<br />
den Terminus ‚Grund‘, und es dann<br />
als Etwas zu definieren, das ohne<br />
Grund ist, lässt einen doch sehr am<br />
Erkenntnisvermögen der betreffenden<br />
Person zweifeln. Es sei denn, er oder<br />
sie meinte Etwas, das ohne einen triftigen<br />
Grund existiert.<br />
Aber das wäre doch wohl sehr weit<br />
hergeholt und zu abstrakt, für eine<br />
so popelige Definition. Oder ich irre<br />
mich total und der Grund wird im<br />
Wort verwendet, um ausdrücklich auf<br />
sein Fehlen hinzudeuten. Ich gehe jedoch<br />
nicht... ähm, sehr davon aus*.<br />
Lassen Sie mich dem oben genannten<br />
missglückten Versuch einer Definition,<br />
meine Eigene entgegenstellen.<br />
Sie ist etwas umfänglicher, aber dafür<br />
ist das Thema danach erschöpfend<br />
behandelt oder verfehlt. Das bleibt<br />
ganz Ihrem wohlmeinenden Urteil<br />
überlassen, werter Leser. Sie sehen<br />
heute übrigens hinreißend gut aus.<br />
Haben sie abgenommen? Oh ja, das<br />
sieht man. Wussten Sie eigentlich,<br />
dass ich Sie schon immer für sehr intelligent<br />
gehalten habe?<br />
*Andererseits muss man die Möglichkeit, dass man sich irren<br />
könnte, selbstverständlich jederzeit und unbedingt in Erwägung<br />
ziehen. Sonst braucht man sein Gehirn gar nicht erst zu bemü<br />
hen. Dann reicht es, es einfach auf BIOS laufen zu lassen.<br />
Es gibt sogar Leute, die kommen wunderbar ganz ohne aus.<br />
Der ‚Abgrund‘ ist im eigentlichen<br />
Sinne eine philosophische Metapher.<br />
Etwas, auf dessen vertikalen Verlauf<br />
eine horizontale Endgültigkeit folgt,<br />
die in jedem Fall negativ besetzt ist.<br />
Er wird im Allgemeinen, nach einem<br />
entsprechend langen Fall aus unbestimmter<br />
Höhe, mit der Aussicht auf<br />
einen sehr harten bis sehr tödlichen<br />
Aufschlag assoziiert.<br />
Soll heißen: Wenn sich vor einem ein<br />
Abgrund auftut, ob im Leben oder<br />
der mentalen Verarbeitung eines lebensbezogenen<br />
Themas, ist man nur<br />
selten geneigt „Jippie!“ oder „Juchu!“<br />
zu rufen. Es sei denn, die Überlegung<br />
oder das Leben halten den Abgrund<br />
für Jemanden bereit, den man gar<br />
nicht oder sehr gut kennt... und der es<br />
echt verdient hat. Dann wäre „Jippie!“<br />
und „Juchu!“ natürlich durchaus eine<br />
Option.<br />
Ich glaube, ein Bergsteiger wird sich<br />
höchstwahrscheinlich nie in folgender<br />
Weise äußern „Dort vorn, an des<br />
klaffenden Abgrunds Schlund, nehmwa<br />
die überhängende Steigung zum<br />
Basislager zwee und kieken ma, ob<br />
uns die Andan wat zu futtern übrich<br />
jelassen ham!“ Und ganz sicher würde<br />
er auch darauf verzichten, dabei<br />
eine theatralische Geste zu machen<br />
– ungefähr so – und den Abgrund unheilschwanger<br />
zu betonen. Und auch<br />
das Wetter unterließe es, an diesem<br />
Punkt einen grollenden Donner rumoren<br />
zu lassen. (Schade!) Ich glaube<br />
Bergsteiger unterscheiden in erster Linie<br />
Schluchten, Felsgrate, Steigungen,<br />
Spalten, abfallendes Gelände, Steilhänge,<br />
Berge und Täler voneinander.<br />
Zum Abgrund werden diese erst,<br />
wenn man über der Tiefe hängt und<br />
derjenige, der die Sicherungsleine<br />
hält, Aussagen formuliert wie „Was<br />
passiert wohl, wenn ich diesen Splint<br />
hier entferne!“ oder „Was ist das eigentlich,<br />
wenn ich so ein heftiges<br />
Stechen in der Brust habe, das so<br />
ein bisschen in den linken Arm ausstrahlt?“<br />
Nur so wird ein kleiner Kletterausflug<br />
an der frischen Luft, zum<br />
dramatischen Überlebenskampf über<br />
dem Abgrund. Kurz gesagt: der Abgrund<br />
findet in unser Psyche statt.<br />
Denn Dinge sind nur Dinge. Aber<br />
unser Denken kann sie zu etwas anderem<br />
machen, zu unserer ganz persönlichen<br />
Hölle der Angst. Dennoch<br />
ist es der einzige Abgrund mit einem<br />
tatsächlich physikalischen Bezug.<br />
Das ist nämlich der Knackpunkt.<br />
Komplizierter werden die Sachen erst,<br />
wenn es um die inneren Abgründe<br />
eines Jeden von uns geht.<br />
9
Welche Abgründe so ein Zombie hat, das weiß ich nicht.<br />
Aber vielleicht ist er selbst Einer, für die, die ihm in einer<br />
dunklen Seitenstraße begegnen<br />
Denn genau genommen gibt es gar<br />
keine Anderen. Aber immer mit der<br />
Ruhe! In solchen Fällen helfen die<br />
ordnenden Eigenschaften von Kategorien.<br />
Jetzt mag der Eine oder Andere<br />
einwenden, das sei eine vornehme<br />
Umschreibung für ganz banales<br />
Schubladendenken. Darauf kann ich<br />
nur folgendes erwidern: Das mag tatsächlich<br />
so sein. Ich mag Schubladen<br />
eben. Es gibt nichts auszusetzen an<br />
Schubladen. Man kann seine Socken<br />
und Unterhosen darin aufbewahren.<br />
Wie dem auch sei... Meine Lieblingskategorie<br />
in dieser Hinsicht ist<br />
natürlich die künstlerische Gestaltungsform.<br />
In der Literatur, im Film<br />
und im Theater ist der Abgrund allgegenwärtig.<br />
Das hängt vor allem mit<br />
der Notwendigkeit zusammen, die<br />
Geschichten, die dort erzählt werden,<br />
dramaturgisch aufzuwerten. Denn<br />
was macht einen Roman, eine Komödie<br />
oder ein Drama überhaupt erst<br />
interessant? Eigentlich immer nur ein<br />
simples Prinzip – Der Konflikt. Ohne<br />
Konflikt ist alles nur eine zufällige Abfolge<br />
von Ereignissen, ein endloser<br />
Strom gleichförmig eintöniger Vorkommnisse.<br />
Der Abgrund in uns, macht unsere<br />
Geschichten erzählenswert. Ohne<br />
unsere Abgründe sind wir einfach<br />
nur langweilige Personen, die langweilige<br />
Tatsachenberichte abliefern.<br />
Nicht umsonst lügen die meisten Leute<br />
nicht, um Schwierigkeiten aus dem<br />
Weg zu gehen, sondern sie erfinden<br />
Geschichten, um als interessant zu<br />
gelten.<br />
Friedrich Nietzsche hat zum Abgrund<br />
wohl den denkwürdigsten Satz verfasst<br />
und ihm damit sozusagen ein<br />
Denkmal geschaffen. „Wenn du lange<br />
genug in den Abgrund blickst, blickt<br />
der Abgrund auch in dich hinein.“<br />
Jeder, der mal deprimiert war, kann<br />
etwas mit diesem Satz anfangen.<br />
Und, mal ehrlich, wer von uns war<br />
noch nie deprimiert?<br />
Dieser Satz allein kann eine seichte<br />
Melancholie in eine ausgewachsene<br />
depressive Phase ausarten lassen.<br />
Womit wir schon wieder beim Seelenleben<br />
des Menschen wären. Denn<br />
dessen psychische Entsprechung eines<br />
Abgrundes, ist natürlich die Depression.<br />
Jeder der schon mal eine<br />
hatte, wird sich wünschen, das nicht<br />
noch mal durchmachen zu müssen.<br />
Nicht alle haben das Glück, dass<br />
dieser Wunsch in Erfüllung geht. Aber<br />
abgesehen von all ihren unangenehmen<br />
Eigenschaften fand ich doch einen<br />
Effekt, den sie mit sich brachte,<br />
sehr interessant. So eine Depression<br />
nimmt dir sehr Viel. Zum Beispiel die<br />
Lust zu leben, Freude, den Hunger,<br />
den Antrieb für Dich selbst zu sorgen,<br />
oder auch nur das Bett zu verlassen-<br />
Aber sie gibt dir auch Etwas. Eine<br />
einzige Sache -<br />
und zwar Erkenntnis.<br />
Die Erkenntnis von der Sinnlosigkeit<br />
aller Dinge. Das mag sich für Sie<br />
extrem deprimierend anhören. Ist es<br />
aber eigentlich nicht. Es ist so befreiend,<br />
wie eine letzte Gewissheit. Wie<br />
eine Ahnung von ultimativer Freiheit.<br />
Selbst der eigene Tod wäre sinnlos.<br />
Warum sich also umbringen? Hat ja<br />
doch keinen Sinn... Und dann, wenn<br />
man sich aus dem Sumpf der Depression<br />
und Selbstzerfleischung wieder<br />
heraus gearbeitet hat, ist es diese<br />
Erkenntnis, die bleibt. Sie war mir im<br />
Leben immer ein nützlicher Begleiter.<br />
Sie rückt die Dinge in ein geordnetes,<br />
emotionsloses Licht, so das man,<br />
ohne von Chaoshormonen gesteuert<br />
zu werden, Entscheidungen treffen<br />
kann, die getroffen werden müssen.<br />
Außerdem hilft sie in Unterhaltungen<br />
mit lästigen Klugscheißern, den besten<br />
aller Gesichtsausdrücke aufzusetzen,<br />
den man in einer Unterhaltung<br />
mit Klugscheißern aufsetzen kann.<br />
Ein Gesichtsausdruck, der jede dieser<br />
selbstgefälligen, kleinen Pappnasen<br />
aus der Haut fahren lässt<br />
Queen. Eine der schrecklichsten Rockgruppen der Welt.<br />
In der Weite des Alls liegt der Abgrund egal in welche Richtung. Die gute Nachricht ist, egal welche<br />
Richtung, führt auch von ihm weg.<br />
10<br />
Von unten betrachtet kann ein Abgrund auch sehr hübsch sein, um nicht zu sagen pittoresk.
oder sie zumindest sehr nervt, was ja<br />
auch seinen Reiz hat. Glauben Sie<br />
mir, ich weiß wovon ich rede; ich bin<br />
selber so Einer. Dieser mimische Zaubertrick<br />
ist einer meiner persönlichen<br />
Favoriten und rangiert gleich hinter<br />
„Ach! Ist das so?!“ (mit einem herablassenden<br />
Halblächeln vorgetragen)<br />
und heißt: Ich weiß mal was, was du<br />
nicht weißt! (Nur nonverbal anwendbar.)<br />
Das ist die ins Gesicht gestanzte<br />
Versinnbildlichung dieser Erkenntnis.<br />
Wenn Sie wissen wollen, wie Sie diesen<br />
Gesichtsausdruck hinkriegen können,<br />
erkläre ich es Ihnen kurz: Stellen<br />
Sie sich vor einen Spiegel! Und jetzt<br />
denken Sie ganz fest an folgenden<br />
Satz: Haltet alle mal die Klappe –<br />
Ich habe recht!!! ... Nun ziehen Sie<br />
eine Augenbraue leicht nach oben,<br />
lassen Ihren Mund ein schmales, sarkastisches<br />
Lächeln umschmeicheln,<br />
kneifen die Augenbrauen zusammen<br />
und ziehen die Lider spöttisch nach<br />
oben. Und dann nicken Sie langsam<br />
und ein wenig zu melodramatisch mit<br />
dem Kopf, wie es nur ein echter Besserwisser<br />
kann. Est voila! Sehen Sie?<br />
So einfach geht`s. In Verbindung mit<br />
„Ach, ist das so?!“ ist er sogar noch<br />
viel wirkungsvoller.<br />
Städtischer Abgrund aus der Perspektive eines Selbstmordkandidaten.<br />
Kapitel 1<br />
Da wir jetzt gemeinsam und in groben<br />
Zügen geklärt haben, was es mit so<br />
einem Abgrund auf sich hat, können<br />
wir nun haarklein auseinanderklamüsern,<br />
was denn nun die Unterkategorien<br />
der Abgründe unserer Psyche für<br />
Variablen haben.<br />
Da hätten wir z.B. die abgrundtiefe<br />
Enttäuschung gegenüber allem was<br />
existiert, den abgründigen Humor; die<br />
Abgründe menschlicher Dummheit;<br />
grottenschlechte Musik; Angst vor<br />
Abgründen; abgründiges Schweigen;<br />
nah am Abgrund gebaute Häuser;<br />
immer nah am Abgrund balancieren;<br />
ein abgründiger Mensch sein; vor einem<br />
finanziellen Abgrund stehen usw.<br />
Sie merken: Bei genauerer Betrachtung,<br />
sind das alles nur Metaphern.<br />
Und noch genauer betrachtet ist mit<br />
der Einleitung schon alles gesagt, was<br />
es darüber zu sagen gibt.<br />
Kommen wir deshalb nun zum<br />
interaktiven Teil des Textes:<br />
Ihre Aufgabe ist es jetzt, sich hinzusetzen<br />
und einhundert Seiten darüber<br />
zu schreiben, warum man mit Metaphern<br />
sparsam umgehen sollte.<br />
Dieses Bild spricht wohl für sich selbst.<br />
Die Abgründe mangelnder Empathie in Verbindung mit der total bescheuerten menschlichen Eigenschaft,<br />
absolut dämliche Dinge weiter zu tun, nur weil vor ihnen schon sehr viele Andere dieselben<br />
dämlichen Dinge getan haben. Deswegen ist es auch ein Bild abgrundtiefer Dummheit, da sie für<br />
sich so, die Sache mit der Sache selbst rechtfertigen.<br />
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.<br />
P.S.: Sie sehen übrigens blendend aus!<br />
Michael Körner<br />
Der Autor hängt in den Seilen, über einem Abgrund von mindestens 2,50 m Höhe, um sich auf die<br />
Thematik vorzubereiten. Sehen Sie die Panik, die langsam von ihm Besitz ergreift?<br />
11
Se Pätschwörk-Storri<br />
Zwei kranke Federn teilen sich ein Tintenfass<br />
An einem Freitagabend verließ der Kanalreiniger-Geselle Ortwin S. die<br />
Videothek. Er hatte sich den Heimatfilm „Im Tal der nickenden Fichten“<br />
für das eingeläutete Wochenende ausgeliehen und freute sich schon mal<br />
vor. Ortwin S. bestieg seinem „SsangYong – Shoguna“, rödelte noch kurz<br />
beim örtlichen Bier-Anästhesisten vorbei und machte sich anschließend<br />
auf den Heimweg. Als er zu Hause ankam bemerkte er zunächst nichts,<br />
machte dann aber eine ziemlich unschöne Entdeckung…<br />
Als durch fortwährendes Herannahen die Dioptrinaten Ortwins ausgeglichen<br />
wurden und die Konturen des Anti-Rainers immer deutlicher erkennbar<br />
waren, hielt er plötzlich inne. Nun war der Fall klar! Es konnte<br />
sich hierbei nur um ein riesiges, nusskastensüchtiges OBI-Hörnchen handeln!<br />
Welches offenbar gerade voller Inbrunst seinen zusammengeramschten<br />
Billigkram aus dem Hagebau vertilgte. Diese Unterart des gemeinen<br />
Hornbach-Gophers war mit Vorsicht zu genießen! Dennoch durfte diese<br />
Missetat nicht ungesühnt bleiben! Der Hausherr nahm allen Mut zusammen<br />
und wog sekundenschnell ab, wie dem ungebetenen Werkzeugfresser<br />
mit dem 18er Maul am besten beizukommen wäre. Sollte er ihn martialisch<br />
mit dem Helden-Schwerte enthaupten oder ihm doch lieber tarantinomäßig<br />
langsam ein 8 Zoll-Rohr von hinten in die Muffe schrauben?!<br />
Starr vor Ehrfurcht blickten sich beide Antagonisten ins Auge. Plötzlich<br />
betrat die längst überfällige Dagmar die halb leer gefressene Werkelbude<br />
und sprach mit erhobener Stimme…<br />
Eigentlich hätte Dagmar S. schon längst Zuhause sein müssen. Eigentlich.<br />
Doch es war Freitagabend, der letzte in diesem Monat. Sicherlich befand<br />
sich die 53 jährige Lederhosenträgerin wieder in der extra angemieteten<br />
Sporthalle, um für die große Skateboard-Meisterschaft in Bielefeld zu trainieren.<br />
Es wurmte sie immer noch, dass sie von der Russin Ivanka T. in<br />
Ihrer Königinnendisziplin, dem 500m Blind-Rückwärts-Bergauf-Rollen<br />
auf einer Achse, eiskalt besiegt wurde.<br />
Das hatte sie nie verkraftet...<br />
„Verf*ckte H*renscheiße! Wo bleibt die Tante schon wieder?!“ dachte sich<br />
der Strohwitwer wider Willen unterdessen. Er schien zu ahnen, dass er sich<br />
wegen des zerfressenen Ehrgeizes seines Skater-Weibs, selbst die Bärchenwurst<br />
aufs Graubrot wummern musste. Mit einer Flasche „Södner-Pils“ in<br />
der Hand begab sich der angesäuerte Gatte auf den Weg in die Hobby-Garage,<br />
um etwas Trost beim Akkuschrauber-Streicheln zu erlangen. Doch<br />
es kam Alles ganz anders. Denn statt sich den surrenden Liebkosungen<br />
seines grünen „Bosch AK-74“ hinzugeben, sollte er Bekanntschaft mit einer<br />
fremdartigen Spezies machen, die sich unbemerkt in seinem Chrom-<br />
Vanadium-Habitat eingenistet hatte…<br />
„Rainer? Rainer, bist du es?“ fragte Ortwin mit angesäuselter Stimme.<br />
„Lang nich gesehn! Wie geht’s so?“ Keine Antwort. Das unidentifizierte<br />
Wesen mampfte scheinbar halbzollangetriebene Nüsse in sich hinein.<br />
Ortwin S. schaute nochmals genauer hin, denn er hatte seine Lesebrille,<br />
welche er bei einem Preisausschreiben des Magazins „Schau-Schau“ als<br />
Trostpreis erhielt, wiedermal auf dem Küchentisch liegen gelassen. Es war<br />
nicht Rainer!<br />
Erschrocken sprang er zurück auf den ausrangierten Autospielteppich seiner<br />
Frau Dagmar.<br />
Er schnappte sich das Erstbeste was er greifen konnte um sich damit zu<br />
verteidigen, sollte es doch zu Handgreiflichkeiten kommen. Ortwin S.<br />
hielt nun das Schwert von „He-Man“ in der Hand.<br />
Es war ein Original, welches er auf einer Comic-Convention 1994 in Tansania<br />
für schlappe 18,- Westmark erworben hatte. Dagmar hielt es für herausgeworfenes<br />
Geld und meinte stets, dass es niemals ein Original sein<br />
könne, da das echte Schwert im Besitz von Volkswagen wäre. Das hätte<br />
sie mal in „Rasant!“ gelesen, das Magazin für die extreme Dame der 90er.<br />
Ortwin S. glaubte an sein Original und lies seine Finger den glänzenden<br />
Kunststoffgriff fest umgreifen.<br />
Er wandelte nun sanft auf das Geschöpf zu...<br />
„Drück sofort auf PLAY!“ Ortwin drehte sich um und versuchte die Stimme<br />
zu orten. Er kalibrierte seinen Blick in Richtung geöffnetes Garagentor,<br />
welches komplett im Nebel stand. Schritte.<br />
Die Silhouette, die sich im Dunst ergab, wirkte stark, riesig und furchtlos.<br />
Das konnte nur Dagmar sein, das erkannte er ganz klar an ihrer Wrestler-<br />
Figur. „Du sollst SOFORT auf PLAY drücken!“ Brüllte ihn Dagmar an<br />
und deutete mit ihrem rechten Zeigefinger, welcher durch einen Surfunfall<br />
im Toten Meer leicht nach hinten gekrümmt war, auf den alten „Stern“-<br />
Kassettenrekorder. Ortwin trat einen Schritt beiseite und folgte Ihrer Anweisung.<br />
Es ertönte SANTA MARIA von Roland Kaiser. Dagmar S. war<br />
12
leidenschaftliche Leserin von Lifestyle-Magazinen, aber auch Roland Kaiser-Fan.<br />
Daher wusste sie auch, dass man ein gefräßiges OBI-Hörnchen<br />
mit Chrom-Vanadium-Sucht und einer leichten Nuss-Intoleranz nur mit<br />
Roland Kaiser für einen kurzen Moment kampfunfähig stellen kann. Der<br />
nimmersatte Hartstahl-Nager erstarrte, als hätte er Uschi Glas am FKK<br />
Strand getroffen. Doch was war das? Bandsalat! Das Lied stoppte. Aber<br />
der Allround-Sammler Ortwin hatte wie immer einen IKEA Bleistift dabei.<br />
Denn auch er litt an der weitverbreiteten IKEA-Duftkerzen-Sucht und<br />
verbrachte täglich seinen Vormittag im Einrichtungshaus. Außerdem waren<br />
jene Stifte gratis...<br />
Gelang es wohl Ortwin blitzartig die rettende Kassette aus dem ollen Sterni<br />
zu befreien und schnellstmöglich, mittels Bleistift, wieder auf Spur zu<br />
bringen? Nein, unmöglich! Das könnte in der gebotenen Eile nicht mal<br />
der Eine von Marvel schaffen! Der sichtlich unter Zugzwang geratene<br />
Ortwin brauchte einen Plan B. Seine Augen blieben aufmerksam auf den<br />
mittlerweile schwer atmenden und übelnehmenden Schädling gerichtet.<br />
Da schoss ihm ein mit Dagmar einstudiertes Ablenkungsmanöver in den<br />
Sinn. Natürlich, dass war die Lösung! Die Nummer hatten sie doch damals<br />
in Vietnam, bei der großen Eisbärenplage, bis zu Perfektion drauf gehabt!<br />
Bei diesen kleinen Kommando-Unternehmungen waren die Beiden damals<br />
stets sehr erfolgreich. Ortwin musste es versuchen. Er gab Dagmar<br />
Zeichen und routiniert verstand sie sofort. Er zählte von 3 an rückwärts,<br />
um dann den entscheidenden Angriffsbefehl zu geben. Flintenweib Dagmar<br />
war gefechtsbereit.<br />
Die Aktion lief an. „3-2-1…DAGGI, SCHLÜBBAA RUNTAA!!!“<br />
In Sekundenbruchteilen schoss das gesamte, voluminöse Beinkleid Dagmars<br />
an ihren rustikalen Sauerkraut-Stampfern herab. Als Ortwin darauf,<br />
den Überraschungsmoment nutzend, zu Holzpflock und Hammer<br />
greifen wollte, passierte etwas unerwartet Seltsames mit dem buschigen<br />
Werkbankkiller. Vollkommen Schach Matt gesetzt von Dagmars Anblick,<br />
machte das OBI-Hörnchen auf einmal Schnute, bekam starkes Bauchweh<br />
und vibrierte zusehends heftig. In der nächsten Phase blähte sich der Nager<br />
wahnsinnig stark und rasch auf. Zusätzlich fing er an furchtbar zu stinken<br />
und zu pfeifen und jede Menge Qualm stieg aus seinem Fell auf. In<br />
einer finalen Mutations-Ausbaustufe sprühten dann Funken aus seinem<br />
Hintern und die haselnussbraunen Knopfaugen wandelten sich in zwei<br />
gleißende Xenon-Klüsen, heller als die olle Brutzelfunzel.<br />
Das sah nun wirklich nicht mehr nach normalem Durchfall aus! Verhaltensbiologische<br />
Interessen hin oder her, die Lage war ernst! Ortwin und<br />
Dagmar brachten sich in Sicherheit indem sie zeitgleich und in Slow Motion<br />
hinter die „Privileg“-Gefrierkombination sprangen. GERONIMO! In<br />
derselben Sekunde folgte dann dem ganzen Getöse ein schallender, dumpfer<br />
Soundeffekt. PFOOFFF! Dann kehrte Stille ein. Hustend und wedelnd<br />
kamen Dagmar und Ortwin, im total verqualmten Hobbyraume, aus ihrer<br />
Deckung. Was war nur geschehen? Ha, der blöde Pummel-Biber war<br />
umweltfreundlich implodiert! Der Feind war besiegt! „Da haben wir aber<br />
nochmal Glück gehabt, was?!“ schnaufte Ortwin durch. „Das hätte auch<br />
einen ganz hässlichen Brandfleck in der Dachpappe geben können.“<br />
Als sich der Qualm langsam legte, sahen sie vollends was passiert war. An<br />
der Stelle wo der doofe Werkzeugmampfer devitalisiert wurde, stationierte<br />
sich nun eine wunderschöne, tschechische Standbohrmaschine aus den<br />
50‘ern. „Ja geil!“ staunte Fachmann Ortwin. Von der „Czèchloch T35“ gab<br />
es doch eigentlich nur noch zwei Exemplare auf der Welt! Eine verrichtete<br />
noch ihren Dienst in der Paco-Paco-Hinterhofschmiede „Töff “ in Peru<br />
und die andere befand sich, gut eingefettet, im Buntmetall-Mausoleum<br />
Omsk. Welch überraschende und glückliche Wendung dieser Abend doch<br />
genommen hatte. Erleichtert schloss Ortwin die immer noch stark entkleidete<br />
Dagmar in den Arm.<br />
Nachdem sich die Aufregung aller Beteiligten komplett verzogen hatte,<br />
war es Familie S. ein Bedürfnis die mehrgängige, außerordentlich sympathische<br />
„35’er“ zum gemeinsamen Bohrfuttern einzuladen.<br />
Kurze Zeit später saßen sie zusammen am Küchentisch und Ortwin korkte<br />
drei wohlverdiente „Södner“ auf. Im Anschluss kauten sie dann genüsslich<br />
ihre, von Dagmar geschmierten, Bärchen-Kniften, bohrten lachend<br />
Löcher in den Käse und fragten sich gegenseitig aus, wie denn ihr Tag so<br />
gewesen war…<br />
GESCHICHTE VERENDET<br />
Ergänzende Schlussworte, die nachdenklich stimmen:<br />
„Auch ohne unterstützende Produktplatzierung findet<br />
man in der Dunkelheit einen Lichtschalter!“<br />
oder: „Destruktive Hektik ersetzt geistige Windstille.“<br />
Eine Gemeinschaftsproduktion der Gebrüder Grins<br />
Buch, Schnitt und Regie:<br />
Feldherr von Tutaania & Blubberio de Janeiro<br />
Großspurige Vorankündigung: „Se Pätschwörk-Storri - Tuh“<br />
(Zwei Nasen schreiben Super)*nur in diesem Printmedium erhältlich<br />
13
Kalbe<br />
Halberstadt<br />
Gießen<br />
Frankfurt<br />
Tanwir Ajmal Maazullah<br />
Shakila<br />
Belgrad<br />
Sofia<br />
Burgas<br />
Edirne<br />
Istanbul<br />
Izmir<br />
Mersin<br />
14
Notizen einer Flucht<br />
von Shakila und Ajmal Sahak<br />
Als ich eines Abends an einer Kreuzung nahe meines<br />
Hauses halten musste, hielt mir jemand eine Pistole<br />
an den Kopf, um mich davon überzeugen, ab jetzt<br />
doch lieber für die Taliban zu arbeiten. Da wusste<br />
ich, wir müssen jetzt weg. Einige Tage zuvor waren<br />
meine Reifen zerstochen worden, aber erst jetzt wurde<br />
mir klar: Sie hatten meine neue Adresse herausgefunden.<br />
Ich ahnte zwar, dass ich gewissen Leuten<br />
nicht unbekannt war, weil ich früher in Bagram, im<br />
Süden Afghanistans für das US-Militär als Dolmetscher<br />
gearbeitet hatte, trotzdem war es ein Schock,<br />
da wir aus diesem Grund umgezogen waren - in die<br />
Nähe der Hauptstadt Kabul - in ein vermeidlich sicheres<br />
Gebiet.<br />
„In drei Tagen seid ihr in Deutschland“ versprach<br />
mir ein „Agent“, so nennt man die Fluchthelfer in<br />
der Region. Der Preis war hoch, 78.500$ sollte die<br />
Flucht kosten. Wir hatten keine Alternative, also verkauften<br />
wir alles: Haus, Grundstück, Auto, Schmuck<br />
und sammelten noch Geld in der Familie. Auch sie<br />
war der Meinung wir sollten ausreisen, weil wir sie<br />
ebenfalls in Gefahr brachten. Als wir das Geld einem<br />
Mittelsmann gaben bekamen wir Flugtickets nach<br />
Dubai und diverse Telefonnummern von irgendwelchen<br />
Kontaktpersonen. Wir packten ein paar Sachen,<br />
holten unsere Kinder und brachen auf...<br />
Es war Oktober 2013.<br />
Später, während der Reise, in der Türkei, prägte sich<br />
für unsere Flucht ein Begriff: „The Game“, so nannten<br />
die Behörden zynisch unsere vielen erfolglosen Versuche<br />
über eine Grenze weiter in Richtung Europa zu gelangen:<br />
Manchmal kommt man weiter, manchmal halt<br />
nicht. Ein Spiel um Leben und Tod. Darum werden wir<br />
die einzelnen Etappen unserer Flucht nun im Folgenden<br />
als Level bezeichnen.<br />
Level 1: Dubai.<br />
Als wir dort am Flughafen ankamen, trafen wir einen<br />
Kontaktmann: Babu. Komischerweise mussten wir unsere<br />
afghanischen Pässe abgeben, und bekamen von<br />
ihm türkische Visa. Dann mussten wir das erste Mal<br />
warten. Eine Woche. Deutschland in drei Tagen?! - Das<br />
hatte sich damit schon mal erledigt. Dann bekamen wir<br />
neue Tickets nach Istanbul, und Instruktionen, wie wir<br />
uns dort den Behörden gegenüber verhalten sollten:<br />
So tun, als wären wir Touristen, weltgewandt und cool.<br />
Dass unsere lieben Eltern uns früher eine Ausbildung<br />
ermöglicht hatten und wir beide dadurch ganz gut Englisch<br />
sprachen, erwies sich als sehr vorteilhaft.<br />
Level 2: Istanbul.<br />
Gegen 5 Uhr morgens kamen wir an und versuchten,<br />
unseren neuen Kontaktmann zu erreichen. Er nahm<br />
nicht ab. Wir fuhren mit dem Taxi zur angegebenen<br />
Adresse. Die Hotelreservierung stellte sich ebenfalls als<br />
Fake heraus. Wir waren das erste Mal sehr ratlos - illegal<br />
in einem fremden Land, zwei keine Kinder dabei<br />
,keinen Plan und keine gültigen Pässe. Nach endlosen<br />
Versuchen hatten wir irgendwann doch noch unseren<br />
ominösen Helfer am Telefon: „Alles ok“, meinte er, wir<br />
sollten im Hotel bleiben und abwarten...<br />
Danach herrschte Funkstille. Wir wurden nur ab und<br />
an telefonisch beruhigt. Dann - nach fast einem Monat<br />
Aufenthalt und mit den Nerven am Ende, wurde uns<br />
von unserem Fluchthelfer ein Plan eröffnet: Wir sollten<br />
zum Flughafen, dort so tun als wollten wir zurück nach<br />
Afghanistan. Auf der Boarding Stage kurz vor dem Eingang<br />
in den Flieger sollte ein Mann auf uns warten und<br />
uns dort Tickets nach Europa in die Hand drücken. Wir<br />
müssten dann nur noch zu einem anderen Gate gehen,<br />
einsteigen und fertig. Doch kurz vor dem Termin war<br />
der Kontaktmann verschwunden. Level gescheitert.<br />
I<br />
attempt 1 to achieve Level 3<br />
Schiff in EU, mit Land unserer Wahl: Unsere falschen<br />
Visa waren abgelaufen und wir saßen weiter illegal in<br />
Istanbul fest. Ajmal durchstreifte die Stadt nach Leuten<br />
die uns helfen konnten. Er traf einen Mann<br />
der uns anbot, uns für 28.000$ per Schiff über<br />
Italien in ein Land unserer Wahl zu bringen. Da<br />
die Kosten der Flucht über einen sogenannten<br />
Moneychanger (ei- nen Mann mit einer Funktion,<br />
ähnlich wie PayPal, nur illegal und ohne Garantie)<br />
organisiert war, hatten wir noch Zugriff aus<br />
unser Geld. In unserer Not sagten wir zu.<br />
Uns wurden ein Treffpunkt und eine nächtliche Zeit<br />
genannt. Viele warteten dort. Transpor- ter, ähnlich<br />
den VW-Sprintern trafen ein. Wir beide und unsere<br />
Kinder zwängten sich mit weiteren 34 Perso- nen<br />
in einen dunklen geschlossenen Laderaum. Selbst die<br />
Fahrer hatten keine Ahnung wohin es ging und<br />
wurden telefonisch instruiert. Insgesamt dauerte die<br />
Fahrt dann 14 Stunden - zusammengedrängt und ohne<br />
Halt. Zum Urinieren wurde eine 5 Liter Flasche herumgereicht<br />
und an der Türkante ausgeleert.<br />
Ankunft in Mersin. Das versprochene Schiff ist nicht da.<br />
Man brachte uns mit weiteren 80 Leuten in ein kleines<br />
Haus am Rande eines Bergdorfes, und versicherte uns:<br />
„Morgen geht es weiter“. Doch scheinbar merkten die<br />
Nachbarn, das in dem Haus etwas nicht stimmte. Die<br />
Polizei kam und nahm uns alle fest. Vernehmungen,<br />
Fingerabdrücke anfertigen usw. Nach einer Woche<br />
Gefängnis bekamen wir einen Zettel, der uns zu 15 Tagen<br />
Aufenthalt in der Türkei berechtigte. Sie zeigten uns<br />
die Haltestelle und wir fuhren mit dem Bus zurück nach<br />
Istanbul. Level failed.<br />
attempt 2 to achieve Level 3<br />
Über den Fluss nach Griechenland: Der gleiche Mann<br />
in Istanbul, den Ajmal schon zuvor aufgesucht hatte,<br />
organisierte den nächsten Versuch: In einer kleinen<br />
Gruppe vom 11 Personen (4 Männer, 3 Frauen, 4 Kinder)<br />
ging es eines Nachts mit einem kleinen Transporter<br />
zur nahen griechischen Grenze. Wir mussten geduckt<br />
einen kleinen Pfad bis zu einem ca. 300 Meter breiten<br />
Flussabschnitt laufen, welcher die beiden Länder trennt.<br />
Die Männer machten das mitgebrachte Schlauchboot<br />
klar. Shakila verstaute derweil die wichtigsten<br />
Sachen in einem Plastiksack. Schwimmwesten gab<br />
es nicht. Es war stockdunkel, sonst wäre die Gefahr<br />
auch zu groß, von Grenzpatrouillen entdeckt zu<br />
werden. Ca. 50 Meter vor dem gegenüberliegenden<br />
Ufer blieb das Boot an einer Wurzel hängen.<br />
Durch die Strömung schaukelte es gefährlich<br />
und ließ sich nicht lösen. Ajmal und ein weite -<br />
rer Mann sprangen ins Wasser, kämpften es<br />
frei und schoben es schwimmend weiter in<br />
Richtung Ufer. Das war steil und unzugänglich,<br />
doch wir fanden einen<br />
Baum, der wie eine Brücke<br />
in das Wasser ragte.<br />
Dubai<br />
Kabul<br />
15
16<br />
Der Stamm war glatt. Die Männer bildeten eine Kette<br />
und hoben die Kinder an Land. Bevor die Frauen das<br />
Boot verlassen konnten, kenterte es. Sie konnten sich<br />
jedoch daran festklammern und wurden von den Männern<br />
an Land gezogen. Es war Dezember, mitten in der<br />
Nacht, ein paar Grad über Null. Alle waren nass und<br />
völlig am Ende. Dank Shakilas Idee mit dem Plastiksack,<br />
gab es zumindest noch einige trockene Sachen.<br />
Wir gingen noch ca. 3 Km landeinwärts, suchten und<br />
fanden die Autobahnbrücke, von der der Mann aus<br />
Istanbul gesprochen hatte. Dort sollten wir auf einen<br />
Transporter warten, der uns abholen würde. Wir hielten<br />
uns in der Nähe versteckt, machten uns ein keines<br />
Feuer.<br />
Wir verharrten zwei Tage dort ohne Essen. Niemand<br />
kam zum Treffpunkt. Dann gingen Ajmal und Tanwir<br />
auf die Autobahn um irgendein Auto anzuhalten. Dort<br />
trafen die beiden direkt auf Polizei und wurden auch<br />
sofort und ohne Anhörung mitgenommen. Erst nach ca.<br />
3 Stunden konnten sie den Beamten klar machen, dass<br />
ihre Familie noch in dem Versteck auf sie wartete. Der<br />
Rest der Gruppe wurde daraufhin ebenfalls geholt und<br />
zu ihnen in die Zelle gesperrt.<br />
Die darauf folgende Begebenheit kam unserer kleinen<br />
Fluchtgemeinschaft sehr ominös vor:<br />
Als es wieder dunkel wurde, brachten uns die Beamten<br />
mit ihren Wagen zu einer Stelle des Flusses, den wir<br />
überquert hatten. Es gab dort ein Boot. Sie beobachteten<br />
eine Weile mit Ferngläsern das gegenüberliegende<br />
Ufer. Als sie dort niemanden sahen, wurden wir von ihnen<br />
in zwei Gruppen wieder zurück auf die türkische<br />
Seite gebracht. Die Griechen hatten ihr kleines Problem<br />
ganz unbürokratisch gelöst.<br />
Übrigens bekamen wir während unseres Aufenthaltes in<br />
der Zelle sogar eine Kleinigkeit zu essen, natürlich nur<br />
gegen Bezahlung.<br />
Dort abgesetzt, gingen wir ohne Plan, in der Hoffnung<br />
ein Dorf zu erreichen, eine kleine Straße entlang - und<br />
wurden von der türkischen Polizei aufgegriffen.<br />
Man brachte uns ins Gefängnis im nahen Edirna.<br />
Shakila und die Kinder kamen in eine große Sammelzelle<br />
für Frauen, ich in eine für Männer. Es waren viele<br />
Menschen dort. Wir erfuhren, dass der Fluss Teil einer<br />
bekannten Fluchtroute war. Ich durfte meine Familie<br />
nur morgens 5 Minuten sehen. Wir bekamen kaum Informationen<br />
und erst nach ca. einem Monat wurden<br />
wir freigelassen, weil viele neue Flüchtlinge eintrafen.<br />
Wieder bekamen wir ein Dokument - 2 Monate Aufenthaltsrecht.<br />
Besten Dank.<br />
attempt 3 to achieve Level 3<br />
Es sollte noch einmal über den Fluss versucht werden.<br />
Dieses mal würde ein LKW an einem Sammelpunkt<br />
eintreffen und viele Leute zu einem Schiff Richtung EU<br />
bringen. Wir sagten zu, da wir zuvor schon einige noch<br />
abenteuerlichere Vorschläge abgelehnt hatten, z.B. von<br />
Izmir aus, mit einem kleinen Boot über eine große Distanz<br />
nach Griechenland zu gelangen. Hier überwog<br />
ein schlechtes Gefühl und die Sorge um die Kinder.<br />
Auch Bulgarien kam in dieser Zeit für uns nicht in Frage,<br />
da wir gehört hatten, dass man dort besonders brutal<br />
gegenüber Flüchtlingen sein sollte. Nun mussten wir<br />
einfach wieder etwas wagen.<br />
Es war bereits Februar 2014, da setzten wir ein zweites<br />
mal nachts mit Schlauchbooten über den Fluss.<br />
Diesmal waren wir mehr Leute und es kamen später<br />
noch mehr dazu, sodass wir letztendlich eine Gruppe<br />
von ca. 80 Personen wurden. Die Überfahrt klappte<br />
ohne ernste Probleme. Einer unserer Begleiter hatte Instruktionen<br />
über die Route bekommen. Es ging schmale,<br />
unbefestigte Pfade entlang - über Stunden, von ca. 5<br />
Uhr abends bis 7 Uhr am nächsten Morgen. Einmal<br />
fiel Shakila in ein tiefes Loch am Rand des Weges und<br />
musste wieder heraus gezogen werden. Als wir endlich<br />
am Treffpunkt ankamen, war natürlich kein LKW zu<br />
sehen. Der Mann mit den Instruktionen, sagte: “Alles<br />
ok, wir müssen in den Bergen warten - bis morgen.“<br />
Dort gab es eine Art Betonverschlag, wohl um landwirtschaftliches<br />
Gerät zu lagern. Es war sehr kalt und zugig.<br />
Wir wickelten uns in Plastiktüten ein. Am nächsten Tag<br />
war wieder kein LKW da. Der Typ wurde kleinlaut.<br />
Wir harrten tagelang an dem Ort aus. So gut wie niemand<br />
hatte Essen, und wer noch etwas in der Tasche<br />
hatte, gab es den Kids. Wir schöpften Wasser aus dreckigen<br />
Pfützen um zu trinken. In ihrer Sorge um die Kinder,<br />
mischte Shakila etwas „Ibuprofen“ in das Pfützenwasser,<br />
um es zu desinfizieren.<br />
Tanwir war zu der Zeit 4, Maazullah gerade 1,5 Jahre<br />
alt. Er sagte: „ Mami, der Saft schmeckt gut.“<br />
Am 5. Tag gaben wir auf und gingen auf die Straße.<br />
Wieder wurden wir von der Polizei aufgegriffen. Wieder<br />
schaffte man uns über den Fluss zurück in die Türkei.<br />
Wieder kamen wir ins Gefängnis nach Edirna. Einer<br />
der Wärter begrüßte uns mit den Worten: „Na, wieder<br />
da?!“ Es fühlte sich an wie ein Stich ins Herz.<br />
Aus der Erfahrung vom letzten Aufenthalt, schmuggelten<br />
wir das Handy in zwei Teilen ins Gefängnis : Ajmal<br />
nahm das Handy und Maazullah hatte den Akku in der<br />
Windel. Aufladen konnte Ajmal es nachts an den Kabeln<br />
der Deckenlampe. Das Handy war sehr wichtig für<br />
uns. Es war die einzige Möglichkeit, heimlich Kontakt<br />
mit unseren Angehörigen aufzunehmen, sie zu beruhigen<br />
und an Informationen zu gelangen.<br />
attempt 4 to achieve Level 3<br />
Wir kamen schon nach einer Woche wieder frei. Dieses<br />
Mal waren wir soweit, es doch mit einem kleinen Boot<br />
übers Meer nach Griechenland zu versuchen. Doch<br />
schon auf der Fahrt dorthin wurden wir von der Polizei<br />
aufgegriffen. Der Fahrer floh und wir wurden mit weiteren<br />
10 Leuten festgenommen.<br />
Wieder Edirna. Wir hatten keine Hoffnung mehr.<br />
Nach einem Monat wurden wir in ein anderes Gefängnis<br />
nach Izmir verlegt. Die Zeiten hatten sich geändert.<br />
In Afhanistan bahnte sich ein Machtwechsel an. Angeblich<br />
würde sich die Lage dort durch Ashraf Ghani bald<br />
stabilisieren. Es hieß, dass man die Menschen nun wieder<br />
nach Afghanistan zurück schicken könne.<br />
attempt 5 to achieve Level 3<br />
Wir wurden aber nicht ausgewiesen, sondern wieder<br />
mit einer kurzen Aufenthaltsgenehmigung entlassen.<br />
Wir fuhren erneut mit dem Bus nach Istanbul. Es gab<br />
einem Plan, mit einem Schiff nach Italien zu gelangen.<br />
Verschiedene kleine Gruppen trafen sich an einem Ort<br />
an der Küste, wir wussten selbst nicht genau, wo das<br />
war. Mit ca. 90 Leuten gingen wir an Bord eines kleinen,<br />
vielleicht 11 Meter langen Schiffes. Es gab drei Kajüten,<br />
keine Toilette. Und wenn doch, hätten wir sie eh nicht<br />
erreichen können, weil alles voller Leute war. Es ging los<br />
aufs Meer mit dem Ziel, Griechenland zu umschiffen<br />
und direkt nach Italien zu gelangen. Der Seegang war<br />
beachtlich und das Boot schaukelte. Im Bootsinneren<br />
stank es wegen der vielen Menschen. Maazullah wurde<br />
seekrank und übergab sich. Es wurde immer schlimmer<br />
und wir waren sicher, einen großen Fehler gemacht zu<br />
haben. Nach ca. einer Stunde Fahrt, wurde unser Schiff<br />
jedoch von der türkischen Wasserpolizei aufgebracht<br />
und zurück an Land eskortiert. Vielleicht war es diesmal<br />
unser Glück.<br />
Es war Mai 2014. Dieses Mal kamen wir in ein Gefängnis<br />
nach Balakesir. Als wir den Beamten dort nach<br />
5 Tagen Haft eher zufällig unser Dokument mit der Aufenthaltsgenehmigung<br />
aus Izmir zeigten, ließen sie uns<br />
spontan frei. Wir fuhren wieder nach Istanbul.<br />
attempt 6 to achieve Level 3<br />
Der nächste Plan lautete, erst in Richtung Griechenland<br />
aber dann doch nach Norden über die bulgarische<br />
Grenze zu gelangen.
Wir waren 12 Leute und gerade beim Aufpumpen der<br />
Schlauchboote, als die Polizei kam. Sie hatten Hunde<br />
dabei. Die Kinder hatten Angst und weinten. Wieder<br />
Edirna - 5 Tage Gefängnis.<br />
attempt 7 to achieve Level 3<br />
Shakila hatte die Idee: „Warum versucht niemand über<br />
das Schwarze Meer nach Bulgarien zu gelangen?!“ Zu<br />
gefährlich. Wegen Wellen und Wetter taten wir die Sache<br />
mit einigen Gefährten zuerst ab.<br />
Kurz darauf haben wir uns dann doch dazu entschlossen.<br />
Wir waren eine Gruppe von 34 Leuten und bestachen<br />
einen Skipper in der Nähe von Istanbul uns zu<br />
fahren. Nach außen hin gaben wir uns wie Touristen,<br />
keine Ahnung, ob man uns das abnahm.<br />
Gleich nach dem Auslaufen begann der Skipper sich<br />
zu betrinken und zu kiffen. Er meinte, es wäre seine<br />
Ausrede, falls die Polizei käme. Wir nahmen erst einmal<br />
Kurs aufs offene Meer um in internationale Gewässer<br />
zu gelangen. Der Skipper war mittlerweile kaum noch<br />
ansprechbar und wollte auch nicht mehr nach Bulgarien,<br />
da er plötzlich Angst hatte, dort als Schlepper festgenommen<br />
zu werden. Er wurde immer panischer und<br />
drohte uns. Irgendwann haben Ajmal und ein weiterer<br />
Begleiter mit Gewalt das Steuer und damit die Führung<br />
des Schiffes übernommen. Wir wollten eigentlich nach<br />
Varna, erreichten aber nach ca. 17 Stunden den Hafen<br />
von Burgas. Als wir nicht mehr weit entfernt waren<br />
kamen 6 Motorboote der Küstenwache auf uns zu. Die<br />
Besatzungen hatten Maschinengewehre. Man bedrohte<br />
uns und schrie uns über ein Megafon zu: „Dreht um, in<br />
internationale Gewässer, das ist bulgarisches Gebiet.“<br />
Wir haben daraufhin unsere Kinder hochgehalten und<br />
gerufen „Wir sind nur Flüchtlinge, wir können nicht<br />
mehr umkehren. Macht was ihr wollt, aber wir werden<br />
nicht mehr umkehren!“ Also wurden wir dann doch an<br />
Land gebracht.<br />
(Es war der erste Versuch dieser Fluchtroute. Später<br />
erfuhren wir, dass ein paar Monate später der zweite<br />
Versuch scheiterte: Das Boot sank und alle 65 Leute,<br />
größtenteils Afghanen, sind dabei ertrunken)<br />
Der betrunkene Skipper behauptete sofort, Ajmal sei<br />
der Captain des Schiffes gewesen. Mein Mann wurde<br />
daraufhin erst einmal ausgiebig vernommen, konnte<br />
dann aber doch durch diverse Dokumente glaubhaft<br />
machen, dass er zu uns gehört und nur ein Flüchtling<br />
war. Wir wurden in eine Art Gefängnis gebracht und<br />
mussten alle unsere Fingerabdrücke abgeben. (Bis heute<br />
ein Problem für uns, da wir noch kein Bleiberecht in<br />
Deutschland haben und laut Dublin-Verfahren in das<br />
Land abgeschoben werden können, über dessen Grenze<br />
wir Europa zuerst betreten haben)<br />
Trotzdem waren wir überglücklich, das Level geschafft<br />
zu haben. Wir hatten nicht mehr damit gerechnet.<br />
Level 3: Bulgarien.<br />
Nach drei Tagen kamen wir dann in eine große Flüchtlingsunterkunft.<br />
Dort bekamen unsere Kinder erst einmal<br />
die Windpocken und unsere ganze Familie kam ein<br />
paar Tage in Quarantäne.<br />
Irgendwann kam ein Mann auf uns zu und bot an, uns<br />
mit seinem Auto nach Sofia zu bringen, gegen Geld<br />
natürlich. Wir willigten ein. Von dort aus ging es in einer<br />
kleinen Gruppe von 13 Leuten zu Fuss weiter. Nach ca.<br />
ca. 5 Stunden erreichten wir gegen 23 Uhr die serbische<br />
Grenze.<br />
Level 4: Serbien.<br />
Im Laderaum eines kleinen Transporters ging es weiter.<br />
Gegen 4 Uhr Ankunft in Belgrad Der Fahrer erklärte,<br />
dass er nun umkehren müsse. Er gab uns ein Handy<br />
mit SIM-Card und die Auskunft, dass wir uns von einem<br />
Taxi an den nördlichen Stadtrand, bringen lassen sollten.<br />
Dort gab es ein verwildertes Brachland, dass man<br />
„Dschungel“ nannte. Dem Müll nach zu urteilen, diente<br />
er schon vielen Flüchtlingen als geheime Zwischenstation.<br />
Wir warteten dort wie geheißen. Dort wurde es<br />
nicht langweilig: Im Laufe des Tages kam ein Radfahrer<br />
und brachte uns Essen: 2 Hähnchen, Brot und Milch.<br />
Die Freude war groß. Er verschwand wie er gekommen<br />
war. Später kamen zwei Typen und bedrohten uns, wollten<br />
unser Geld. Als sie aber merkten dass sie mit Gegenwehr<br />
rechnen müssten, zogen sie wieder ab. Nun<br />
hatten wir Angst, dass sie wieder kommen würden. Am<br />
Abend kam dann noch ein Polizist mit einem Rad. Nach<br />
Zahlung von Schmiergeld verschwand auch er wieder.<br />
Es gab noch einen Versuch, mit einem PKW weiter<br />
zu kommen. Wir wurden festgenommen: Eine Nacht<br />
Gefängnis, Verhöre, Fingerabdrücke... Wieder in den<br />
„Dschungel“. In der folgenden Nacht brachen wir zu<br />
Fuß in Richtung Ungarische Grenze auf. Nach einem<br />
endlosen Marsch kamen wir zu einem leeren Haus, wo<br />
wir den Rest der Nacht verbrachten und den nächsten<br />
Tag über abwarteten Mit Einbruch der Dunkelheit ging<br />
es weiter. In dieser Nacht quälten uns unzählige Mosquitos,<br />
wir alle hatten leichte Kleidung an, es gab kein<br />
Spray. Ohne es zu merken, überquerten wir irgendwann<br />
die ungarische Grenze und kamen gegen Morgen in<br />
ein Dorf.<br />
Level 5: Ungarn.<br />
In einem geschlossenen Van ging es für unsere 9 köpfige<br />
Gruppe weiter. Wir wurden aufgefordert, uns während<br />
der Fahrt umzuziehen und uns mit Feuchttüchern<br />
notdürftig zu waschen. Man kann sich vorstellen wie wir<br />
nach all den Strapazen mittlerweile aussahen.<br />
Einige Stunden später, an einer verlassenen Tankstelle,<br />
wurden die Fahrzeuge getauscht. Wir stiegen um in einen<br />
normalen offenen PKW. Aus dem Grund also die<br />
verordnete Katzenwäsche: Wir waren ab jetzt wieder<br />
sichtbar.<br />
In diesem Fahrzeug war unsere Familie vereint und es<br />
ging über Stunden durch verschiedene Landschaften.<br />
Wir wussten einen größten Teil der Strecke über nicht,<br />
wo wir waren. Wahrscheinlich sind wir über Österreich<br />
nach Deutschland gekommen.<br />
Am 24. Juni 2014 gegen 18.00 Uhr<br />
erreichten wir Frankfurt.<br />
Level 6: Deutschland.<br />
Die Kinder waren krank und brauchten einen Arzt. Wir<br />
alle waren total kaputt, aber als wir dort ausstiegen,<br />
war das alles egal und wir die glücklichsten Menschen<br />
der Welt. Unsere Flucht hatte anstatt 3 Tage rund 9 Monate<br />
gedauert und uns so oft fast das Leben gekostet.<br />
Ein ein indischer Taxifahrer, den wir um Rat fragten,<br />
brachte uns in ein Flüchtlingscamp in Gießen, nördlich<br />
von Frankfurt. Am nächsten Tag wurden wir mit einem<br />
Taxi von Gießen nach Halberstadt in die Zentrale Anlaufstelle<br />
für Asylbewerber gebracht. Dort verbrachten<br />
wir 17 Tage. Dann entschied man, dass wir im Zuge der<br />
weiteren Verteilung nach Gardelegen gebracht werden.<br />
Nach ein Paar Tagen dort im Heim, wies man uns eine<br />
Wohnung in Kalbe/Milde zu. Es hätte uns genau so gut<br />
nach Schweden oder Frankreich oder ein anderes europäisches<br />
Land treiben können, wir mussten nur weg.<br />
Nun sind wir Kalbenser und es ist gut so.<br />
Die Geschichte ist stark gekürzt und hat beim<br />
Erzählen schmerzhafte Wunden aufgerissen.<br />
Vieles davon wollten wir einfach nur vergessen.<br />
Nun, in Kalbe angekommen, haben wir für uns<br />
und unsere Kinder erstmals so etwas wie Frieden<br />
und wieder eine neue Heimat gefunden.<br />
17
Jens Eichenberg<br />
Schnecke und Esel<br />
Da hatte sich der Esel halt<br />
Hals über Kopf und Ecke<br />
In eine süße, Zuckerschnecke<br />
Ganz fürchterlich verknallt.<br />
Die andern Tiere meinten bloß,<br />
Das geht doch nicht, nun bitte!<br />
Das passt nicht in der Mitte,<br />
Die Schnecke klein, der Esel groß!<br />
Muss nicht ein Esel Esel lieben,<br />
Die störrisch sind und grau?<br />
Die Schnecke, schön und schlau,<br />
Wie kann die sich mit dem begnügen?<br />
Die Schnecke hörte gar nicht hin,<br />
Gab nichts auf das Gekicher.<br />
Die Liebe, das ist sicher,<br />
Ist‘s Beste und mein Eselchen!<br />
18
CATs<br />
BERLIN-ABC<br />
Berlin ist eine DER angesagtesten Städte der Welt. Tausende von Touristen<br />
strömen jeden Tag in die Stadt und rennen orientierungslos mit einer Karte<br />
in der Hand umher, lassen sich von komischen Touristen-Fallen in ominöse<br />
Etablissements locken und verschenken kostbare Urlaubszeit.<br />
Mit dem Berlin-ABC möchte ich ein paar Insider-Tipps an alle zukünftigen<br />
Berlin-Besucher weitergeben. Die Stadt ist so groß, dass man leicht meinen<br />
könnte, es würde eigentlich für 5 oder 6 Städte reichen. Da die Übersicht<br />
zu behalten ist schwer. Ich wohne seit 2008 in Berlin, momentan im spießigen<br />
Prenzlauer Berg, (mit Kind macht man solche Dummheiten…) und<br />
finde Berlin echt dufte! Meine Auswahl hier ist eine rein Subjektive, eine<br />
Selektion meiner schönsten Momente in und um Berlin und garantiert keine<br />
Touristen-Fallen.<br />
(Teil 1/3)<br />
Achtundvierzig Stunden Neukölln:<br />
Ein kunterbuntes Kunstfestival das sich über zwei Tage<br />
zieht und Seinesgleichen sucht. Dieses Jahr findet es vom<br />
24. bis 26. Juni 2016 statt. Es erstreckt sich über ganz<br />
Neukölln und man hat das Gefühl mitten in einer kulturellen<br />
Schnitzeljagd zu sein, weil man nie weiß, was sich<br />
im nächsten Hinterhof verbirgt.<br />
Berliner Dom: Wer hier abends um 18 Uhr hingeht<br />
und sagt er möchte zur Abendandacht gehen, spart<br />
sich den Eintritt und kann während der Abendmesse die<br />
einmalige Atmosphäre des Doms auf sich wirken lassen.<br />
Wer noch Geld übrig hat sollte für wenige Euro auf die<br />
Domkuppel gehen, da sind kaum Touristen und die Aussicht<br />
ist phänomenal!<br />
Crêperie Suzette: Hier gibt es die aller, allerbesten<br />
Crêpe in der Stadt. Mittags haben Sie ein kostengünstiges<br />
Menü und es wird immer eine Crêpe des<br />
Tages angeboten. Bewirtschaftet wird der Laden von Damien<br />
und Olivier zwei Pariser Jungs die super nett sind.<br />
Ihr findet die Crêperie Suzette in der Pappelallee 15 und<br />
kommt dort am besten mit der U2 (Station Eberswalder Straße) oder der<br />
Tramlinie 12 (Station Raumerstraße) hin.<br />
Dong Xuan Center: Vietnam in Berlin, einfach<br />
der krasse Wahnsinn, das muss man gesehen haben!<br />
Man steigt aus der Tram (Linie M8 oder 21) an der<br />
Herzbergstraße aus, durchschreitet das Tor zum Dong<br />
Xuan Center und sieht mehrere große Hallen und viele,<br />
viele Vietnamesen. In jeder Halle findet man eine kleine<br />
vietnamesische Welt vor, mit Krimskrams-Geschäften, asiatischem Supermarkt,<br />
Friseur, Spa- und sogar Tattoo-Studios. Es macht Spaß durch die<br />
Hallen zu schlendern und die Kuriositäten zu bestaunen. Abschließen sollte<br />
man seinen Besuch im Dong Xuan Center unbedingt in einem der Restaurants,<br />
da gibt es neben den europäisierten Gerichten auch für Mutige<br />
Hahnhoden, Hühnerfüße oder Frosch. Ich bin Vegetarier und kann leider<br />
nur die Tofu-Gerichte beurteilen. Die waren bisher alle lecker!<br />
Einhundert: Wenn Du Lust auf eine Stadtrundfahrt<br />
hast, aber nicht die Wucherpreise der Sightseeing-Busse<br />
bezahlen möchtest, dann ist die Buslinie 100 genau richtig!<br />
Du steigst am Alexanderplatz ein und fährst von dort<br />
alle Highlights bis zum Zoo ab: Unter den Linden, Brandenburger<br />
Tor, Reichstag, Tiergarten und den Berliner<br />
Zoo. Für 2,70 EUR hat man zwar keinen Audio-Kommentar, aber mit einem<br />
Reiseführer in der Hand eine kostengünstige Alternative.<br />
Falafel: Falafel gehören zu Berlin, wie die Berliner<br />
Weiße! Aber wo gibt es die besten? Ganz klar beim King<br />
of Falafel in Kreuzberg. Am besten zu erreichen mit der<br />
U7 (Station Hermannplatz) und dann findet ihr den King<br />
of Falafel in der Urbanstraße 68. Leider hat sich dieses<br />
kulinarische Highlight schon herumgesprochen und man<br />
muss mit längeren Wartezeiten rechnen.<br />
Gärten der Welt: Hier findet man Gartenkunst<br />
aus aller Welt und das im krassen Kontrast zu den Marzahner<br />
Plattenbauten. Besonders empfehlenswert ist der<br />
chinesische Garten mit seinem Teehaus. Dort gibt es 30<br />
verschiedene Sorten Grünen Tee und man wird in die<br />
chinesische Teekunst eingewiesen. Zu erreichen sind die<br />
Gärten der Welt am besten von der S-Bahnstation Marzahn mit der Buslinie<br />
195 (Station: Eisenacher Straße).<br />
Heimathafen Neukölln: Eine kulturelles<br />
Highlight mitten in Neukölln. Der Heimathafen lockt mit<br />
einem vielfältigen Programm aus Theater, Konzerten,<br />
Lesungen und anderen Formaten. Er ist verkehrsgünstig<br />
direkt an der U7 (Station Karl Marx Straße) gelegen. Aber<br />
auch das angegliederte Café Rix ist tagsüber einen Besuch<br />
wert, ein echter Hingucker ist die goldene Decke mit Stuck. Kulinarisch<br />
ist das Rix auch ein Leckerbissen.<br />
Il Due Forni, Il Casolare & Il Ritrovo:<br />
Diese drei Pizzerien sind „Schwestern“ und haben sich in<br />
Berlin breit gemacht. Das Il Due Forni findest Du in Prenzlauer<br />
Berg direkt an der U2 (Station Senefelder Straße),<br />
das il Casolare ist in Kreuzberg. Es ist am besten mit der<br />
U8 (Station Schönleinstraße) zu erreichen und dann gehst<br />
Du noch etwa 5 Minuten zu Fuß. Das il Ritrovo erreichst Du mit der Tram<br />
M13 (Station Simplonstraße). Die Pizzen dort sind wirklich Spitzenklasse.<br />
Leider sind Service und Wartezeiten genau das Gegenteil...<br />
Jugendherberge/Hostel:<br />
Jugendherbergen<br />
bzw. Hostels sind kostengünstige Alternativen zum Hotel.<br />
Aber auch hier hat Berlin etwas Besonderes zu bieten,<br />
das Eastern Comfort & Western Comfort. Diese beiden<br />
Hostel Schiffe (!) liegen direkt an der Oberbaumbrücke,<br />
der wohl schönsten Brücke Berlins. Durch die unschlagbare<br />
Lage im Herzen Kreuzbergs und nur 10 Minuten vom Ostbahnhof sind<br />
die Schiffshostels perfekt für einen Berlin- Kurztrip. Die Übernachtung kostet<br />
zwischen 15 Euro (Mehrbett-Kabine) und 78 Euro (1. Klasse Doppelbettkabine<br />
mit eigenem Bad). Da es sich um ein Hostel handelt kann es nachts<br />
etwas lauter werden und ist daher für Familien ungeeignet.<br />
Kiessee: Der See ist ein Natursee und liegt am Rande<br />
von Berlin/Pankow,. Der See ist mit der S8 (Mühlenbeck-Mönchmühle)<br />
zu erreichen. Der Eintritt kostet drei<br />
Euro. Hier werden Kindheitserinnerungen wach, der See,<br />
die Pommes-Bude, das Flair vergangener Tage.... Das<br />
Gelände ist sehr weitläufig und man kann sich ein ruhiges<br />
Plätzchen suchen. Der Kiessee ist perfekt für Kinder, da das Ufer flach abfallend<br />
ist und das Wasser sehr sauber.<br />
Leckermäulchen: So heißen die Fische beim<br />
Fußfetifisch die einem die Füße anknabbern und so eine<br />
Pediküre der besonderen Art durchführen. Den Fußfetifisch<br />
findest Du in der Danziger Straße 26 und Du erreichst<br />
ihn am besten mit der Tram M10 (Station Husemannstraße).<br />
Einen Termin sollte man unbedingt vorher<br />
vereinbaren, da es dort immer recht voll ist. 20 Minuten kosten 12 Euro, 30<br />
Minuten kosten 15 Euro.<br />
Na, habt ihr Lust auf einen Berlin-Besuch bekommen? Dann Sachen packen<br />
und ab in die Hauptstadt! Von Stendal fahren fast stündlich Züge dorthin.<br />
Das Auto würde ich mir sparen Stau, chronisch rote Ampeln und akuter<br />
Parkplatzmangel vermiesen einem das Autofahren und drücken schnell auf<br />
die gute Laune. Wir sehen uns - in Berlin!<br />
19
GENERALVERDACHT<br />
20<br />
Lena Teresa Flohrschütz
21
22<br />
Lena Teresa Flohrschütz
23
LTF<br />
Patrick Amelie Becker<br />
Das Begeisterhaus<br />
“Wo sind meine Spaghetti-Bolognese!?”<br />
Ich mein das ganz im Ernst: Wo sind meine verfickten<br />
Spaghetti-Bolognese!? Die Geschichte beginnt<br />
ein paar Stunden vorher.<br />
Ich habe mir vor zwei Monaten dieses Haus im Wald<br />
gekauft. Es ist ein sehr großes Haus, viel zu groß<br />
für einen einsamen Banker. Ohne Frau, ohne Kids.<br />
Nicht mal ein verficktes Haustier.<br />
Nur quietschende Dielen. Trotzdem, für den Preis,<br />
geiles Haus. Noch geiler, wenn man nach einer<br />
durchzechten Nacht im Club irgendsone Olle mit<br />
herschleppen kann. Nach schlappen 74 Euros Taxikosten.<br />
So, denk ich mir, wirds Zeit, mal endlich<br />
irgendsone Olle herzukriegen...<br />
Die Jungs in der Etage lachen mich schon aus, ey...<br />
Egal, heute ist Sonntag, ich mach nichts mehr. Die<br />
halbe Welt hasst mich, warum also rausgehen?<br />
Wobei mich eh keiner sehen würde. Wie gesagt, 74<br />
Eus. Ich rede nur mit Eichhörnchen und meinem<br />
Haus. Die Eichhörnchen haben Wahnsinnsargumente.<br />
Mir fällt nie was ein, wenn wir streiten.<br />
Das Haus hat mit dem Keller drei Stockwerke, mein<br />
Ego liegt irgendwo im Grundwasser. Manchmal,<br />
wenn ich ganz fest zur Musik hüpfe, hab ich das Gefühl,<br />
als könnte ich so etwas wie ein Ego spüren.<br />
Und manchmal sehe ich in einen der 15 Spiegel in<br />
diesem riesigen Haus und erkenne einen Typen, der<br />
stolz ist auf seinen Rekord. Ich habe mir mal aus Langeweile<br />
sechsmal in einer Stunde einen runtergeholt.<br />
Und das trotz beschissenem WLAN. Ich hoffe, dass<br />
das ein Rekord ist. Wenn nicht, sehe ich einen Typen,<br />
der die Taschen voller Geld hat. Aber der sieht aus<br />
wie Alfred E. Neumann. In Boss halt.<br />
24
Diese Scheiß Eichhörnchen. Ich kann nicht kochen,<br />
stehe aber gerade in der Küche. Mit meinem Hitzeblick<br />
koche ich Wasser. Ich brauche sone gute Stunde.<br />
Um erniedrigt festzustellen, dass mein Hitzeblick kacke<br />
ist. Dann drehe ich immer vorsichtig den Herd auf. Genauso,<br />
wie ich vorsichtig den Wasserhahn aufdrehe, um<br />
meinen Topf zu füllen. Heute gibt es Spaghetti-Bolognese!<br />
Ich zähle: Nummer sechzehn (Miracoli) ist damit<br />
weg. Noch 84, und bald ist schon wieder Wochenende.<br />
Ich sollte einkaufen.<br />
Ich salze das kalte Wasser und schmeiße die Spaghetti<br />
hinterher. Der Kochtopf wird auf Stufe 3 von meinem<br />
Herd erhitzt. Gott sei dank, dass ich Zeit habe. Nach<br />
dem Aufstehen war ich duschen, hab mir einen runtergeholt,<br />
die Hitzeblick Aktion... Jetzt ist es achtzehn<br />
Uhr. Verdammt, ich muss auch noch Oma anrufen.<br />
Aber nicht, während das Wasser kocht. Und später läuft<br />
auch noch “Das Supertalent”. Die Wiederholung von<br />
Samstag, die ich mit meinem Gigabytespeicher DVD-<br />
Recorder aufgenommen habe. Die läuft aber um 20:15<br />
Uhr. So hab ich mir das gestern Abend, als ich “Das Supertalent”<br />
geschaut habe, vorgenommen. Und ich bin<br />
als einer bekannt, der keine Sprüche reißt.<br />
Ich stehe also nackt mit nichts als Fanschal um den Hals<br />
vor meinem Herd und feuere ihn an. Die Kakerlaken<br />
machen mit. Neues Haus und so, die sind aber erst hier,<br />
seitdem ich hier wohne. Ich hab extra den Makler gefragt.<br />
Sind wohl Waldkakerlaken, zirka doppelt so groß<br />
wie die NewYorker. Ich schmiere einen Popel in meine<br />
Unterhose. Die neben den Gewürzen liegt.<br />
Kakerlaken: Der linken wird immer langweilig und<br />
stellt dann den Herd auf neun. NEUN!? Die linke hat<br />
wohl den Arsch offen, viel zu gefährlich und so. Ich hol<br />
dann immer den Flammenwerfer und kill sie.<br />
Die Kakerlaken werden trotzdem nicht weniger.<br />
Nach ner Dreiviertelstunde ist dann der Topf so leicht<br />
am dampfen, die Nudeln weich und so richtig fertig.<br />
Also fertig. Mit den Fingern hol ich mir eine raus und<br />
probiere. Die nächste Viertelstunde bin ich am Wasserhahn,<br />
Wasser saufen. Das mit dem Salz ist ne Kunst,<br />
glaub ich.<br />
Immer zu dieser Zeit bin ich enttäuscht von meinen<br />
Kakerlaken, die von alleine wieder nicht erkennen, wo<br />
es Arbeit gibt. Ich stelle den Herd also auf neun und<br />
kümmere mich um die Miracoli Sauce. Nach jahrelangem<br />
Spaghetti-Bolognese kochen bin ich mittlerweile<br />
soweit, dass ich den Saucenbeutel mit Wasser fülle,<br />
wenn die Sauce noch drin ist. Spart Zeit, Zeit ist Geld.<br />
Die Gewürze schmeiße ich in den Mülleimer, den ich<br />
gerade erst geputzt habe, was ein eindeutiges Zeichen<br />
für mich ist, den Mülleimer mal wieder zu putzen.<br />
Nach zehn Minuten sind die Kakerlaken und ich eingeschlafen,<br />
ich erwache durch einen Spritzer heißer<br />
Bolognese-Sauce, der mein Gesicht trifft.<br />
Die Sauce ist also fertig, ich gieße sie vorsichtig auf<br />
meinen Teller, den ich vorher mit den kalten, weichen,<br />
versalzenen Spaghetti gefüllt habe. Köstlich.<br />
Der Teller bringt mich und sich zum Esszimmertisch,<br />
ich löffle die Sauce von den Nudeln. Meine Zunge tut<br />
weh.<br />
Das Telefon klingelt, man, es ist schon schon halb acht!<br />
Ich renne Richtung Telefon, rutsche auf einer Kakerlake<br />
aus und schlage mir die Schläfe am Telefontisch auf.<br />
Als ich mich aufrichte, ist das Telefon wieder still. Ich<br />
checke nach, unterdrückte Nummer. Leicht schwindlig<br />
torkele ich zu meinem Essen zurück und beuge den<br />
Kopf darüber, um zu essen. Die Spaghetti werden rot,<br />
obwohl ich die Scheiß-Sauce schon gegessen habe.<br />
Deswegen wohl Miracoli, mich wunderts halt. Mir wird<br />
langsam schwindeliger, mein Kopf kracht auf den Teller.<br />
Die Nudeln trocknen meine Stirn aus.<br />
Als ich aufwache, frage ich mich, wer die scheiß Bolgnese-Sauce<br />
durch das ganze Esszimmer verteilt hat.<br />
Dann frage ich mich, wo die linke Kakerlake von vorhin<br />
hin ist, beim Stirnrunzeln fallen Hautbrocken von<br />
meiner Stirn. Aber sie fallen nicht auf meinen Teller!<br />
Ich schreie meine Katze an: “Wo zum Fick sind meine<br />
Spaghetti-Bolognese!?” Die Katze sagt: “Ich bin ein<br />
Stuhl.”<br />
Der Stuhl wird sich sein Essen in Zukunft wohl selber<br />
fangen müssen, grinse ich in mich hinein.<br />
Leise hoffe ich, dass er sich nicht mit den Eichhörnchen<br />
anlegt.<br />
Aber wo sind jetzt meine Spaghetti-Bolognese? Es ist<br />
auch schon halb neun. Gott sei dank habe ich die Wiederholung<br />
vorsichtshalber aufgenommen, ich kann<br />
mich also in aller Ruhe um mein Spaghetti-Bolognese-Problem<br />
kümmern, und die Wiederholung meiner<br />
Wiederholung um halb zehn sehen.<br />
Ich hole also meine Taschentaschenlampe aus meiner<br />
Bauchtasche und stehe auf. Ich rutsche auf einer Kakerlake<br />
aus und verletze mich am Daumen. Zur Strafe<br />
schreie ich die Kakerlake an: “Du Mistkörper!”<br />
Je weiter ich laufe und meinen Teller suche, desto länger<br />
wird die Bolognese-Spur, die ich hinter mir herziehe.<br />
Was ein Faktor in dieser Geschichte wäre, den ich<br />
nicht verstehe. Meine Suche ist mühsam, ich öffne also<br />
eine Kakerlake wie eine Dose und trinke mich satt.<br />
Mein Haus ist groß, ich war noch nie im ersten Stock.<br />
Heute trau ich mich auch nicht, viel zu gruselig.<br />
Die Spaghetti-Bolognese müssen also im Erdgeschoss<br />
sein. Ich bücke mich nach einer Kakerlake und benutze<br />
sie als Navi. Mit meinem Kuli tippe ich meinen Zielort<br />
ein. Noch ziemlich weit....<br />
Ich baue mir aus 10 000 Kakerlaken einen VW Golf<br />
GTI und fahre zum Zielort. Das Navi hat eine Frauenstimme.<br />
Ich hole mir einen runter.<br />
Als ich am Wohnzimmer vorbeifahre, sage ich dem<br />
Busfahrer, dass er kurz halten soll. Ich mache meinen<br />
Gigabyte DVD-Recorder an und höre Bruce Darnell,<br />
wie er Mario Barth, der auf der Bühne steht, sagt: “Das<br />
die schlechteste, wo ich gesehen mochte. Mir ist Kotze<br />
hochgekommen. Ulala.” (alle klatschen).<br />
Ich sage dem Busfahrer, dass er weiterfahren kann und<br />
flätsche mich auf meine Matratze. Ich habe wieder<br />
Durst, pfeife meine Kuh herbei und trinke sie aus. Sie<br />
stirbt.<br />
Ein kleines Mädchen singt “Angel” von Robbie Williams<br />
und ich fange an zu weinen. Ich hole mir einen<br />
runter.<br />
Ich rufe den Makler an: “Wo sind meine verfickten<br />
Spaghetti-Bolognese!?”, er lacht und legt auf.<br />
Ich hole mir einen runter, decke mich mit Kakerlaken<br />
zu und gehe schlafen.<br />
Ich mag mein Haus. Vielleicht gehe ich morgen Abend<br />
in den Club und reiß mir eine auf.<br />
Aus „Das Buch Wasteland - Band 1.5 - Proxyserver“<br />
Foto: Lena Teresa Flohrschütz<br />
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RATGEBER SCHÖNES LEBEN:<br />
Sie haben das Heft nun also bis zur Seite 27 durchgeblättert. Falls Sie sich immer noch fragen, was<br />
das alles soll, oder wo der praktische Nutzen versteckt ist, reißen sie doch einfach ein Paar Blätter<br />
heraus und basteln Sie sich tolle Papierflieger:<br />
Funktioniert auch ganz wunderbar mit<br />
Rechnungen, Mahnungen, Einberufungsbescheiden,<br />
Lottoscheinen, Flyern, Bastelanleitungen,<br />
Bausparverträgen, Klimaabkommen,<br />
Gehwegplatten, AfD-Plakaten,<br />
Spickzetteln, Drohbriefen, Mieterhöhungsschreiben,<br />
Antragsformularen, Spinatrezepten<br />
und Berliner Flughafenbauplänen.<br />
Sie sehen: Möglichkeiten gibt es viele!<br />
Aber Vorsicht!<br />
27
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29
Mein liebes Kalbe!<br />
30<br />
Mit 6 Wochen kam ich damals mit meiner Mutter zu Dir, wo<br />
schon mein Vater auf uns beide wartete. Glückliche Kindheit,<br />
keineswegs langweilige Jugend... so bin ich aufgewachsen,<br />
mir fehlte es wirklich an nichts. Doch dann, irgendwann, wurdest<br />
Du mir zu einem Käfig, in dem ich mich gefangen fühlte.<br />
Deine Enge, Dein vertrauter Schutz und die Sicherheit, die Du<br />
mir gabst, Deine „Piefigkeit“ schienen mich erdrücken zu wollen.<br />
So entschied ich mich, Dich sehr bald gen Norden des<br />
Landes zu verlassen, um mein Studium in Rostock an der Ostsee<br />
zu beginnen und Dir zu entfliehen. Du tatest Dich inzwischen<br />
wie ein Abgrund vor mir auf. Ich wollte mich ausleben<br />
können (Ich dachte damals jedenfalls, dass es mir hier nicht<br />
möglich wäre). Inzwischen sind Jahre vergangen und ich verbrachte<br />
weit mehr meiner Lebensjahre außerhalb und konnte<br />
mich wirklich in Vielem ausleben. Mein mir inzwischen sehr<br />
lieb gewordenes Hamburg, in dem ich nun schon seit 23 Jahren<br />
sehr gern lebe, wurde nach und nach zu „meiner“ Stadt.<br />
Ich war mir sicher, hier alt zu werden. Aber erstens kommt<br />
es anders und zweitens als man denkt. Eines schönen Tages<br />
weilte ich mal wieder zu Besuch in Dir (Inzwischen nahm ich<br />
Dich als malerisch ruhiges und etwas verschlafenes Städtchen<br />
wahr, das ich sehr gern besuchte). Dieses mal „rief“ mich ein<br />
wunderschönes, kleines und niedliches Häuschen in Deiner<br />
allerschönsten Straße und ich brauchte nicht lange, um es zu<br />
erhören.<br />
Doch nun hab ich den „Salat“. So wie das mit der Liebe auf<br />
den ersten Blick nun mal ist, setzt der Verstand schlichtweg aus<br />
und man macht einfach. So auch ich. Jetzt hab ich ein Haus<br />
in der besten Nachbarschaft, die ich mir vorstellen kann und<br />
lebe und arbeite doch in Hamburg! ...<br />
So werde ich wohl zur Meisterin des Lebens in zwei Welten<br />
werden müssen. Denn, bin ich in Dir, genieße ich die Ruhe,<br />
die Beschaulichkeit, die zwischenmenschliche Nähe und Herzlichkeit<br />
der hier lebenden Menschen, die Einsamkeit in der<br />
Weite der Natur, die Dich umgibt und in die ich mit wenigen<br />
Schritten eintauchen kann, in der ich dann so gern versinken<br />
mag. Ich bin angetan von dem Treiben in der Künstlerstadt,<br />
von der Begegnung mit interessanten Menschen (u.a. aus Afghanistan),<br />
all dem, was die Menschen hier alles auf die Beine<br />
stellen. Und dann möchte ich gar nicht mehr weg von Dir.<br />
Doch wieder in Hamburg, wird mir sehr schnell bewusst, auf<br />
was ich alles verzichten müsste und was ich sehr vermissen<br />
würde. Dinge, die hier bereits selbstverständlich sind und fest<br />
zu meinem Leben gehören: Meine sehr gut bezahlte 3-Tage-<br />
Arbeitswoche, mein BioSupermarkt um die Ecke, mein homöopathischer<br />
Arzt aus der HafenbesetzerSzene der 80er,<br />
die mit dem Rad erreichbaren lauschigen Programmkinos, in<br />
denen auch Filme gezeigt werden, die man sonst nicht zu sehen<br />
bekäme, meine Osteopathin und Freundin, die gekonnt<br />
jedes meiner kleinen Leiden wegzaubert, all meine mir liebgewordenen<br />
Freunde, die Konzerte auf der „Hedi“, auf der wir<br />
zusammen feiernd durch den Hamburger Hafen schippern,<br />
die Industrieromantik des Hafens, der immer Fernweh in mir<br />
auslöst, weil es dort schon nach Nordsee riecht, in die die Elbe<br />
fließen wird, die Konzerte und Partys auf der Stubnitz, die vielen<br />
Hausprojekte, Wagenplätze, Volxküchen, das KubbSpielen<br />
und Biertrinken an der Elbe und das Grillen im Park mit Freunden,<br />
das Kickern im „Onkel Otto“, das Millerntor, kurz das<br />
ganze Großstadttreiben, all das, was Du mir nicht bieten<br />
konntest...<br />
Und doch werden dann genauso schnell all die unangenehmen<br />
Seiten einer Großstadt in mir laut, die mich seit längerem<br />
wirklich mehr und mehr nerven: Der ständige Straßenlärm<br />
(nicht nur durch den Verkehr, sondern auch der Sirenen der<br />
Rettungswagen und<br />
den Bullenwannen),<br />
die täglich grölenden<br />
und feiernden Menschen,<br />
der Lärm der<br />
U-und S-Bahnen und<br />
der ihnen eigene Geruch<br />
nach allem, was Menschen<br />
in einer Großstadt ausmacht, der Lärm der startenden und<br />
landenden Flugzeuge und Airbusse, der Lärm der überall<br />
mehr und mehr auftauchenden Baustellen, den stinkenden<br />
und lauten Laubpustern, Motorsägen, Rasenmähern und<br />
Presslufthämmern, das Tuten der unglaublich vielen und riesigen<br />
Containerschiffe auf der Elbe und die Kreuzfahrtschiffe,<br />
die sich wie riesige Häuserblöcke auf der Elbe vorwärts schieben<br />
und von denen Menschen herunter winken, die vergeblich<br />
auf ein Winken von mir warten, die verstopften Straßen, die<br />
unglaublich hohe Feinstaubbelastung, die aggressiven Bulleneinsätze<br />
bei Demos, all die „Druffis“, Verrückten, Obdachlosen<br />
und zahllosen Flüchtlinge, die verzweifelt am Hauptbahnhof<br />
warten, die vielen traurigen und einsamen Menschen, die<br />
überfüllten öffentlichen Verkehrsmittel, die fürchterliche Dichte<br />
von Menschen auf engstem Raum bei größter Anonymität...<br />
...so anonym, dass die Menschen, die gemeinsam in einem<br />
Haus wohnen, nicht miteinander reden, sondern sich Luft machen,<br />
in dem sie ihre Anliegen mit an Computern geschriebenen<br />
Zetteln an der Eingangstür, ohne ihren Namen zu nennen,<br />
anbringen:<br />
Wo tun sich denn nun eigentlich die wirklichen Abgründe vor<br />
mir auf? Wo ist es enger und piefiger?<br />
„Es ist kein Anzeichen von seelischer Gesundheit,<br />
sich an eine zutiefst gestörte Gesellschaft<br />
anpassen zu können.“ Jiddu Krishnamurti<br />
Und deshalb werde ich täglich demütiger Dir gegenüber und<br />
hoffe, Du verzeihst mir, dass ich erst meine eigenen Erfahrungen<br />
sammeln musste, um zu verstehen. Die Heimat, wenn<br />
man solch ein Gefühl überhaupt einmal kennenlernen durfte,<br />
verlässt einen ohnehin nie im Leben. Manche unter uns sehnen<br />
sich nach ihr, ohne dass sie jemals (wieder) erreichbar zu<br />
sein scheint.<br />
Ich kann mir immer besser vorstellen, meinen Lebensmittelpunkt<br />
nach und nach wieder zurück zu verlegen. Hier sind<br />
meine Wurzeln, hier ist meine Familie, zu Dir kann ich zurück<br />
kehren, um „ARTgerecht“ als Mensch leben zu können. Ich<br />
bekomme mehr und mehr das Gefühl, hier in Dir, vor allem<br />
endlich auch ANKOMMEN zu können.<br />
Und die kleine weise Pippi Langstrumpf sagte bereits: „Wer<br />
nicht weggeht, der kann auch nicht wiederkommen.“ ICH<br />
KANN wiederkommen und danke Dir, mein kleines, ruhiges<br />
und „zartes“ Kalbe dafür, dass es Dich für mich mal gab und<br />
jetzt auch wieder gibt, dafür dass Du mir nicht böse bist, sondern<br />
mich wieder mit offenen Armen empfängst!<br />
Ich danke aber auch allen, die mich hier in diesem traumhaft<br />
schönen Städtchen, in dem es mir so gut gefällt, so herzlich<br />
willkommen heißen. Das weiß ich sehr zu schätzen und freue<br />
mich auf ein beidseitig bereicherndes Zusammenleben und<br />
einige schöne und spannende neue Projekte mit Euch allen,<br />
vorerst wohl eher noch an den Wochenenden, aber sicher<br />
schon ganz bald auch in meinem Alltag.<br />
Deine, Dir wieder (oder immer noch?)<br />
sehr verbundene,<br />
Ilka
Ein seltsamer Gast<br />
„Bis nachher“ wisperte SIE noch, bevor einen Augenblick später<br />
die Tür hinter ihr ins Schloss fiel. Fröstelnd zog ER sich die Decke<br />
über den nackten Oberkörper und schloss noch einmal für einen<br />
kurzen Moment die Augen. Dann streckte er sich und drehte den<br />
Temperatur-Regler der Heizung voll auf . Es knackte und blubberte<br />
ohrenbetäubend. Wie erwartet nahmen die uralten Heizkörper<br />
ihren Dienst nur sehr langsam und widerwillig auf, und das kleine<br />
Dachgeschoss-Zimmer blieb wie immer kalt. „Wohl die Rache<br />
dafür, dass wir die Scheiß-Heizung seit Tagen nicht entlüftet haben...“<br />
murmelte er verstimmt und schwang sich dann ziemlich<br />
ungraziös aus dem zerwühlten Bett, das noch immer aufregend<br />
nach IHR roch. Die Erinnerung an die vergangene Nacht jagte ihm<br />
trotz der Kälte einen wohlig-warmen Schauer durch den Körper<br />
und zauberte ihm ein verträumtes Lächeln ins Gesicht. Seufzend<br />
durchwühlte ER den Stapel Wäsche auf dem Stuhl in der Ecke des<br />
Zimmers und zog sein zerknittertes rotes Shirt und die zerschlissene<br />
Jeans daraus hervor. Obwohl es bereits fast 10 Uhr war, lag<br />
die Stadt noch immer seltsam verschlafen unter ihm, als ER kurz<br />
darauf aus dem Fenster schaute. Nahezu das gesamte herbstliche<br />
Göttingen war vom obersten Stockwerk des alten Fachwerkhauses<br />
zu überblicken. In der Ferne verloren sich die letzten Nebelfetzen<br />
langsam im Licht der aufgehenden Sonne.<br />
Als ER den mit allerhand Kram vollgestellten Flur betrat und das<br />
Badezimmer ansteuerte, fiel ihm ein schwarzer, ziemlich teuer aussehender<br />
Aktenkoffer auf, der so gar nicht ins symphatisch-unaufgeräumte<br />
Chaos der 4-Zimmer-Studenten-WG passen wollte, in<br />
der SIE lebte. Im Bad wusch ER sich das Gesicht und ärgerte sich<br />
dabei über das immer wieder heiß und kalt werdende Wasser. Als<br />
ER sich anzog, hatte ER den Koffer schon fast vergessen. Nach den<br />
Ereignissen der vergangenen 2 Wochen, genauer: seit dem Tag,<br />
an dem er SIE auf diesem kleinen Festival mitten im Nirgendwo<br />
der sachsen-anhaltinischen Provinz kennengelernt hatte, brachte<br />
ihn so leicht nichts mehr aus der Fassung. Auch nicht das Bild,<br />
welches sich ihm bot, als ER kurz darauf nur mit einem Handtuch<br />
um die Hüften die Küche betrat. Am Tisch saß, eine komplett weiße<br />
und übermäßig lange und dünne Zigarette rauchend, ein fast<br />
mannsgroßer Frosch. Er trug einen - allem Anschein nach - maßgeschneiderten<br />
dunkelgrauen Anzug und hatte sich in Siegerpose<br />
mit verschränkten Armen und übereinandergeschlagenen Beinen<br />
auf einem Stuhl am Küchentisch niedergelassen. Lässig schnippte<br />
er seine Asche auf den ausgetretenen und vergilbten Linoleumbelag<br />
des Fußbodens.<br />
Nach einer kurzen Schrecksekunde hatte ER sich wieder im Griff.<br />
„Kaffee?“ fragte ER den Frosch unbeeindruckt und gespielt freundlich,<br />
aber doch mit genug Ironie in der Stimme, dass die braungrüne,<br />
ölig glänzende Amphibie es unmöglich überhört haben<br />
konnte.<br />
Abfällig nickend nahm der Frosch das Angebot an. ER griff sich<br />
die abgenutzte alte Metalldose mit dem schwarzen Wachmacher<br />
aus dem Regal, schaufelte 6 gehäufte Löffel davon in die Filtertüte<br />
und füllte danach den Wassertank mit der geblümten Kanne vom<br />
Fensterbrett.<br />
„Worum geht’s?“ fragte ER den Frosch ruhig, als die Kaffeemaschine<br />
fauchend ihre Arbeit begann.<br />
„Hinterrücks mein Name, von der Hausverwaltung.“schnarrte der<br />
Frosch verächtlich.<br />
ER blickte den Frosch fragend an.<br />
„Es geht um die bevorstehende Sanierung und die damit verbundene<br />
Mieterhöhung.“<br />
„Soso. Und da schickt die Hausverwaltung mal eben unangekündigt<br />
einen – Pardon –, einen Frosch, um mit den Mietern über<br />
dieses Thema zu sprechen?!“ fragte ER mehr belustigt als beeindruckt.<br />
“Ist das nicht ein etwas seltsamer Beruf für Ihre Gattung?<br />
Ich dachte immer, es wären eher Haie, die derartige Tätigkeiten<br />
versehen? Und überhaupt, wie kommen Sie hier eigentlich rein?<br />
Schon mal was von Privatsphäre gehört?“<br />
Immer mit der Ruhe, junger Mann,“ antwortete der Frosch mit<br />
plötzlich sehr leiser Stimme, die einen bedrohlichen Unterton angenommen<br />
hatte “ auf unsere Briefe haben Sie nicht reagiert, außerdem<br />
liegen uns Beschwerden wegen Ruhestörung, Vernachlässigens<br />
der Putzwoche und diversen anderen Verstößen gegen die<br />
Hausordnung vor. Genug für eine fristlose Kündigung unsererseits.<br />
An Ihrer Stelle wäre ich vorsichtig mit dem, was ich sage.“<br />
31
Jetzt kam ihm die Situation dann doch etwas zu grotesk vor und ihm fehlten<br />
kurz die Worte. Die Gedanken in seinem Kopf schossen kreuz und quer.<br />
Was für ein Film lief hier eigentlich gerade ab? Noch bevor ER sich ordnen<br />
und etwas entgegnen konnte, meldete die Kaffeemaschine piepend, dass<br />
sie ihre Aufgabe erfolgreich erledigt hatte. ER goss dem Frosch schweigend<br />
eine Tasse der schwarzen Flüssigkeit ein, passenderweise in die grüne Tasse<br />
mit dem aufgedruckten Frosch. Dieser sah in diesem Moment wesentlich<br />
freundlicher und unschuldiger aus als sein unsympathischer Artverwandter,<br />
der mittlerweile ziemlich unelegant am Küchentisch flegelte und sich bereits<br />
die dritte Zigarette angezündet hatte.<br />
„Außerdem“ fuhr der Frosch grinsend fort „haben wir Schlüssel zu jeder<br />
unserer Wohnungen und behalten uns vor, diese auch unangemeldet zu<br />
inspizieren. Hier könnte übrigens mal wieder sauber gemacht werden.“<br />
„Ein Frosch als Miet-Hai, ich fass es nicht...“ murmelte ER ungläubig halblaut<br />
vor sich hin.<br />
„Und wenn schon!“ unterbrach ihn der Frosch brüsk. „Der Immobilienmarkt<br />
boomt, ein Job in dieser Branche ist so gut wie jeder andere, außerdem äußerst<br />
gut bezahlt, und irgendwer muss ihn schließlich machen. Davon ganz<br />
abgesehen ist meine Gattung prädestiniert für dieses Business. Glatt, schleimig,<br />
und ein großes Maul, was braucht’s denn mehr um in diesem Bereich<br />
erfolgreich zu sein?“ grinste der Frosch jovial. „Jahrelang dämmerte ich<br />
tagein-tagaus irgendwo am Arsch der Welt vor mich hin, und irgendwann<br />
wollte ich einfach raus aus meinem kleinen, verdreckten Dorfteich, in dem<br />
mein alter Herr immer noch sitzt und den ganzen Tag drauf wartet, dass ihm<br />
eine Fliege vor die Nase summt. Zum Jagen längst zu fett und müde, der<br />
alte Sack. Oder sollte ich enden wie meine Mutter? Hat ihre Beine an ein<br />
französisches Feinschmecker-Restaurant verkauft, um mit dem Geld abzuhauen<br />
und irgendwo neu anzufangen, weit weg vom Tümpel, dem Schilf<br />
und dem Schlamm. Drei Tage später hat sie der Storch geschnappt, war<br />
einfach nicht mehr schnell genug, ohne Beine,“ kicherte der Frosch abfällig.<br />
„Aber nun zur Sache, mein Lieber. Die Sanierung der alten Hütte hier fällt<br />
flach, keine Kohle grade, haben uns verspekuliert. Hat ein ganz schön großes<br />
Loch in unsere Finanzen gerissen. Miete erhöhen müssen wir trotzdem.<br />
Irgendwie muss das Loch ja schließlich gestopft werden, das verstehen Sie<br />
doch sicher?“<br />
„Ähm, also...“ sagt ER, kam jedoch nicht weiter, da ihm der Frosch erneut<br />
ins Wort fiel.<br />
„Wir dachten da so an 170% Mieterhöhung, und selbst damit sind Sie hier<br />
in Göttingen noch ganz gut dran! Ist immer noch erschwinglich, wenn Sie<br />
das mal mit den Mieten in Hamburg vergleichen. Da haben wir neulich<br />
erst die Esso-Häuser abgerissen, mussten zwar vorher das ganze asoziale<br />
Pack, was dort gehaust hat, mit der Staatsgewalt vertreiben, aber es hat sich<br />
gelohnt! Top-Lage, dicke Gewinne!“ schwärmte der Frosch und leckte sich<br />
gierig über die Lippen.<br />
„Scheiß-Kaffee übrigens, schmeckt zum Kotzen, wohl vom Discounter?!“<br />
unterbrach er krächzend seinen Monolog , stellte die leere Tasse auf den<br />
Tisch und lockerte seine Krawatte. Schweißperlen glitzerten auf seiner Stirn,<br />
während der letzten Minuten schien ihm deutlich unwohler geworden zu<br />
sein.<br />
Der schleimige Grünling wirkte plötzlich unsicher und fahrig. ER musterte<br />
den Frosch irritiert. Dann fiel sein Blick auf die geblümte Wasserkanne neben<br />
der Kaffeemaschine... Schlagartig wurde ihm klar, was die Ursache für<br />
das plötzliche Unwohlsein des Miet-Frosches war. In der schönen Kanne mit<br />
dem filigranen Schnörkelmuster,mit deren Inhalt er den Kaffee bereitet hatte,<br />
befand sich entgegen seiner Annahme keineswegs reines Leitungswasser,<br />
sondern das - mit einer ordentlichen Portion Dünger versetzte - Blumenwasser,<br />
welches SIE immer zum Gießen der kleinen Avocado-Bäumchen nahm,<br />
die überall in der Dachwohnung verstreut wuchsen.<br />
Der Nebel, der sich aufgrund der Ereignisse der vergangenen halben Stunde<br />
über seinen Verstand gelegt hatte, verzog sich binnen Sekunden. Bevor<br />
ihm gänzlich klar werden konnte, was das bedeutet, überschlugen sich die<br />
Ereignisse.<br />
„Luft!“ krächzte der Frosch heiser „ ich brauche frische Luft!“ und rüttelte<br />
am Küchenfenster, das völlig verzogen war und sich schon seit einer halben<br />
Ewigkeit nicht mehr öffnen ließ, und stürzte dann würgend und hustend in<br />
Richtung Balkon davon. Der erste Strahl Erbrochenes ergoß sich grünlichbraun<br />
schimmernd über den Stubenteppich, bevor der Frosch es geschafft<br />
hatte, die Balkon-Tür zu öffnen. Dann ging alles ganz schnell. Er torkelte einen<br />
Schritt vorwärts, übersah dabei die Armada der leeren Bier- und Weinflaschen,<br />
die überall kreuz und quer auf dem Boden verteilt lagen und glitt<br />
einen kurzen Moment später wie auf Rollschuhen in Richtung des Balkongeländers.<br />
Dumpf prallte sein Becken gegen die Metallstange des Handlaufs,<br />
sein fetter Oberkörper kippte nach vorn über, und nur Sekundenbruchteile<br />
später hing er in der Luft, sich mit einer glitschigen Froschfingernhand<br />
an die Querstreben der Ballustrade klammernd. „Hilfe !“ fiepte der Frosch<br />
kleinlaut, und während ER noch überlegte, ob es auch nur den geringsten<br />
Grund gäbe, den grünen Unsymphaten wieder nach oben zu hieven, hatte<br />
32<br />
sich dessen Schicksal bereits erfüllt und er fiel mit aufgerissenem Maul und<br />
ungläubig starrenden gelben Augen dem Pflaster entgegen. Gleich darauf<br />
hörte man ein unangenehmes Platschen, fast so als wenn man mit der<br />
flachen Hand auf Wasser schlägt. ER schloss für einen Moment die Augen<br />
und atmete langsam aus. Als ER den Flur betrat fiel sein Blick erneut auf<br />
den ledernen Aktenkoffer, der noch immer dort stand. Zwei Zahlenschlösser<br />
müsste ER knacken, um an den Inhalt zu gelangen. ER setzt sich an den<br />
Küchentisch und startete den ersten Versuch. Sein Kopf fühlte sich leer an.<br />
Alles, was ihm einfiel, war: dreimal die 6. ER musste unwillkürlich schmunzeln,<br />
als ER die Zahlen an den Schlössern einstellte. Linke Seite: 6 – 6 – 6<br />
. Welche Ironie wäre es, wenn ER tatsächlich beim ersten Versuch Glück<br />
hätte, und dann noch mit dieser Nummer. Die Zahlen waren eingestellt, und<br />
ER betätigte den Knopf....nichts. Rechte Seite: 6 – 6 – 6 . Vorsichtig betätigte<br />
er auch den rechten Knopf,. Wieder nichts. ‚Genug herumgespielt’ sagte<br />
ER zu sich selbst, stand auf und ging in Richtung Wohnzimmer, wo sich der<br />
WG-Gemeinschaftsschrank mit Bastelutensilien und Werkzeug befand. Die<br />
Kofferschlösser hatten dem großen Schraubendreher, mit dem eher wenig<br />
später in die Küche zurückkehrte, kaum Widerstand entgegen zu setzen.<br />
ER öffnete den Deckel und erstarrte. Der Inhalt bestand aus einigen Seiten<br />
Papier, aber vor allem aus einem: Geld. Sicher keine Millionen, aber doch<br />
mehr, als ER je zuvor in bar gesehen hatte. Nach dem ersten groben Zählen<br />
der Scheine stand fest: um sich damit nach Mexiko abzusetzen und den Rest<br />
des Lebens in Saus und Braus zu verbringen, hatte der Frosch definitiv nicht<br />
genug Kohle dabei. Für die große Reise mit IHR, von der beide schon vom<br />
Tag ihrer Begegnung an träumten, reichte es aber allemal. Dann blitzte<br />
ein Gedanke in ihm auf, und er ging zielstrebig in ihr Zimmer, griff in die<br />
Schreibtisch-Schublade und hielt gleich darauf den Antrag für den Studien-<br />
Kredit in den Händen, den sie tags zuvor ausgefüllt hatte, und der nötig<br />
war, um für die nächsten 2 Jahre ihr Studium zu finanzieren. Lächelnd zerriss<br />
ER das mehrere Seiten starke Schriftstück. ‚Auch dafür reicht’s noch, selbst<br />
wenn wir das nächste halbe Jahr um die Welt reisen...’ dachte ER, bevor ER<br />
die restlichen Papiere aus dem Koffer in den uralten und seit Ewigkeiten ungenutzten<br />
Kachelofen stopfte und sie mit Hilfe eines Streichholzes zu Asche<br />
und Rauch verwandelte.<br />
Dann ließ ER sich ein heißes Bad ein und lag eine gute halbe Stunde darin,<br />
bis seine Fingerkuppen ganz schrumpelig und das Wasser fast kalt war. Als<br />
ER aus der Wanne stieg, hatte ein Plan in seinem Kopf Form angenommen.<br />
ER trocknete sich ab, steckte den leeren Koffer in eine der blauen Mülltüten,<br />
die ER im Küchenschrank gefunden hatte, trat auf den Flur und zog die<br />
Wohnungstür hinter sich zu.<br />
Als ER wenig später das Haus verließ, um den letzten Beweis der Anwesenheit<br />
des Frosches zu beseitigen, lief ER fast Hauptkommissar Hund und<br />
seinen 2 Helfern Kommissar Wicht und Polizeianwärter Unnütz in die Arme,<br />
die gerade vor dem Haus die überaus unansehnlichen Überreste von dem,<br />
was einst ein äußerst großer und fetter Frosch gewesen war, inspizierten.<br />
„Sollen wir die Ermittlungen aufnehmen und Zeugen befragen, Chef?“ hörte<br />
ER Kommissar Wicht gerade fragen. Belustigt bemerkt ER das ‚A.C.A.B’-<br />
Graffito, das genau auf Kopfhöhe des Hilfs-Sherriffs an der Wand hinter<br />
ihm prangte.<br />
„Zeugen befragen!? Ermittlungen aufnehmen!?“ blaffte Oberkommissar<br />
Hund ungehalten.<br />
„Soweit ich sehen kann, liegt hier ein Frosch. Zwar ein ziemlich großes<br />
und fettes Exemplar, noch dazu im Anzug, was zugegebenmaßen reichlich<br />
seltsam erscheint, aber sei’s drum! Ermittlungen aufnehmen?! Am Freitag<br />
mittag?! Und wegen was, Wicht? Wegen Mordes vielleicht?“ Hund lachte<br />
abfällig in Richtung seiner beiden Untergebenen.<br />
„Na los, Wicht, husch husch, fangen Sie den Froschmörder! Und Sie, Unnütz,<br />
fahren Sie sofort los und nehmen Sie den Besitzer der Schweinemastanlage<br />
und den Hühnerzüchter wegen Massenmordes fest!“ meckerte Hund<br />
sarkastisch. Er gab sich keine Mühe, seine Verachtung für die beiden Helfer<br />
zu verbergen.<br />
„Los, wegräumen!“ fuhr er die 2 Männer von der Stadtreinigung an, die<br />
seit einer Weile gelangweilt in einigen Metern Entfernung gestanden und<br />
gewartet hatten. Schweigend warfen sie den verrenkten Kadaver auf die<br />
Ladefläche des alten VW-Transporters und kratzten die Reste des Frosches<br />
mit Schaufel und Besen vom Bürgersteig.<br />
Kopfschüttelnd ging ER auf den Hinterhof, entsorgte den Plastiksack mit<br />
dem Koffer in einem der großen Müllkübel und schlenderte dann gemächlich<br />
zurück in Richtung Straße. ER winkte den 2 Punks, die gerade mit Eimer,<br />
Pinsel und Plakaten bewaffnet aus dem besetzten Haus gegenüber kamen<br />
und fischte den Schlüsselbund aus seiner Hosentasche.<br />
Gerade als ER den Schlüssel ins Schloss steckte und die Haustür öffnete,<br />
bog SIE um die Ecke, und ließ mit einem einzigen Lächeln alle Ereignisse<br />
der letzten Stunden verblassen...„<br />
Herr Dr. Pirat verfasst sonst eher Reiseberichte, die im piratentagebuch.tumblr.com zu lesen sind, hier<br />
aber ausnahmsweise mal einen Ausflug ins Fantastische: „Gewidmet ist die Story meiner wunderbaren Jule,<br />
in deren Göttinger Dachgeschoss-WG die Geschichte entstanden ist,und die mich dazu inspiriert hat.“
33
Auch in der Altmark sind sie ständig im Einsatz, riesige Düngemaschinen,<br />
die ihre Arme weit über die Felder ausbreiten, flächendeckend „Pflanzenschutzmittel“<br />
ausbringen und dabei alles vernichten, was als lästig und<br />
schädlich angesehen wird. Mehrmals im Jahr werden diese Mittel auf Äcker<br />
und Plantagen versprüht, um die angebauten Pflanzen vor Krankheit, „Unkraut“<br />
und „Schädlingen“ zu schützen. Der Pestizideinsatz ermöglicht dabei<br />
Anbauweisen, die ohne ihn kaum möglich wären: Monokulturen, enge<br />
Fruchtfolgen, Anbau standortfremder Feldfrüchte, um nur einige zu nennen.<br />
Rund zwei Drittel des Ackerlandes werden heute von Weizen, Gerste, Mais<br />
und Raps belegt. Der Einsatz von Pestiziden macht es den Landwirten möglich,<br />
diese Hauptfrüchte mit steigenden Erträgen in monotonen Fruchtfolgen<br />
anzubauen.<br />
Über Jahrhunderte hat die Landwirtschaft zur Landschafts- und Artenvielfalt<br />
beigetragen. Durch die zunehmende Intensivierung seit den 1950er- Jahren<br />
hat sich diese positive Entwicklung allerdings umgekehrt.<br />
Darauf können wir Gift nehmen<br />
Folgen der Industrialisierung der Landwirtschaft<br />
Wenn man es genau betrachtet, ist es so als würden wir<br />
mit unserer tollen Zivilisation in ein einem D-Zug sitzen,<br />
der mit immer mehr Tempo auf einen Abgrund zu rast.<br />
Man kann ihn schon deutlich sehen, doch anstatt zu<br />
bremsen, geben wir noch mehr Gas. „Nee, wenn wir die<br />
Bremse ziehen, verschütten wir womöglich noch unseren<br />
Kaffee! Das wäre doch unschön. Da fahren wir lieber<br />
weiter.“ Schließlich sind wir doch die Krone der Schöpfung<br />
und können mit der Erde anstellen was wir wollen.<br />
Doch wenn man sich vor Augen führt, dass wir uns seit<br />
Ewigkeiten aufführen wie größenwahnsinnige Besatzer,<br />
dabei aber so dumm sind, den Ast absägen auf dem wir<br />
sitzen, zeugt es nicht gerade von ungeheurer Weisheit<br />
und Überlegenheit.<br />
„Lehrer sucht Schüler mit ernsthaftem Verlangen, die<br />
Welt zu retten.“ diese Anzeige ist der Beginn einer ungewöhnlichen<br />
Diskussion: Der Leser wird mit auf eine philosophische<br />
Reise genommen, auf der er immer mehr begreift,<br />
wie unsere Kultur funktioniert, wie sich der Mensch<br />
von der Natur entfremdet hat und wie betriebsblind wir<br />
geworden sind. Und wer kann einen Blick von außen auf<br />
unsere menschliche Gesellschaft werfen?<br />
Jemand, der nicht dazu gehört. Jemand, der der menschlichen<br />
Gesellschaft nicht angehört. Wer den verblüffenden<br />
Wechsel der Perspektive verkraften kann und das<br />
Buch trotzdem ernst nimmt, dem werden seine Ansichten<br />
über unser Dasein gehörig durchgeschüttelt.<br />
Ein Buch für alle, die keine Angst haben den Kaffee zu<br />
verschütten und sich noch ein wirklich gutes Leben vorstellen<br />
können:<br />
Die Natur unseres Planeten ist in großer Gefahr: Nicht nur in den „fernen“<br />
Regenwäldern Südamerikas oder den uns fremden Lebensbedingungen des<br />
ewigen Eises. Auch bei uns „zu Hause“ ist ein drastischer Rückgang der<br />
Biodiversität festzustellen. Tiere und Pflanzen, ganze Lebensräume sind vom<br />
Aussterben bedroht oder bereits unwiederbringlich verloren gegangen.<br />
Weltweit geht die Artenvielfalt zurück, die natürliche Aussterberate ist um das<br />
100- bis 1000-fache angestiegen, alleine zwischen 1970 und 2000 ist die<br />
Artenvielfalt um rund 40 Prozent zurückgegangen. In Mitteleuropa ist die<br />
Ackerlandschaft vom Artensterben besonders betroffen, der Mensch zerstört<br />
die natürlichen Lebensgrundlagen in einem unbeschreiblichen Tempo: Zwei<br />
Drittel aller Arten sind in Europa bestandsgefährdet. In Deutschland sind<br />
70 Prozent der natürlichen Lebensräume bestandsgefährdet, zwei Drittel der<br />
Amphibien- und Reptilienarten als gefährdet eingestuft oder vom Aussterben<br />
bedroht, 30 Prozent der Farne und Blütenpflanzen sind bestandsgefährdet.<br />
Ebenso stehen zwei Drittel der Tier- und Pflanzenarten des Offenlandes auf<br />
den Roten Listen der bedrohten Arten.<br />
Besonders betroffen sind Bäuerinnen und Bauern, die regelmäßig mit den<br />
giftigen Stoffen hantieren und so in direkten Kontakt mit ihnen kommen.<br />
Auch wer in unmittelbarer Nachbarschaft von pestizidbehandelten Feldern<br />
lebt, bekommt nicht selten eine gehörige Portion von dem Gift ab, etwa<br />
durch windbedingte Abdrift.<br />
Nachhaltige Landwirtschaft zum Schutz der biologischen Vielfalt<br />
In Deutschland ist für die Erhaltung der biologischen Vielfalt insbesondere<br />
die Art und Weise der praktizierten Landwirtschaft ausschlaggebend, fast die<br />
Hälfte der Landesfläche ist Agrarfläche (Europäische Union: 43 Prozent). Die<br />
nationale Biodiversitätsstrategie trägt dieser Bedeutung Rechnung, Ziele zur<br />
Erhöhung des Anteils an Grünland oder Streuobstwiesen wurden vereinbart.<br />
Die Zusagen aber werden nicht eingehalten.<br />
34<br />
Die Landwirtschaft in der Bundesrepublik muss, um einen signifikanten Beitrag<br />
zur Sicherung der Biodiversität zu leisten, im Rahmen einer Agrarwende<br />
weg von der intensiven Landwirtschaft hin zu einer nachhaltigen extensiven<br />
Landwirtschaft transformiert werden. Dies beinhaltet eine umfassende Veränderung<br />
der Art zu wirtschaften, speziell aber den Stopp des Einsatzes von<br />
chemisch-synthetischen Pestiziden.
„Pflanzenschutzmittel“ mit Nebenwirkungen<br />
Pestizide wirken sich in vielfacher Hinsicht auf Lebensräume, Pflanzen und<br />
Tiere aus. Direkte Folgen sind tödliche Auswirkungen auf vermeintliche<br />
Schädlinge – aber auch „Kollateralschäden“ an anderen Tieren und Pflanzen.<br />
Die Reduktion des Vorkommens einzelner Arten wirkt sich indirekt über<br />
die Nahrungskette auf andere Lebewesen aus und nimmt ihnen die Lebensgrundlage.<br />
Gleichzeitig schaffen Pestizide Formen der Landwirtschaft, die<br />
natürliche Lebensräume zerstören: Monokulturen, enge Fruchtfolgen oder<br />
nicht heimische Früchte zerstören das eingespielte Gleichgewicht.<br />
Es ist nicht einfach, den Einfluss von Pestiziden auf die biologische Vielfalt<br />
aus dem Bündel an Einflussfaktoren herauszufiltern. Dass dieser Einfluss<br />
groß ist, wurde in einer 2010 veröffentlichten, europaweiten Studie deutlich:<br />
Von dreizehn untersuchten Faktoren der landwirtschaftlichen Intensivierung<br />
hatte der Gebrauch von Insektiziden und Fungiziden die schädlichsten Auswirkungen<br />
auf die Biodiversität. Die Artenvielfalt in Europa kann also nur<br />
erhalten werden, wenn die Verwendung von Spritzmitteln in großen Teilen<br />
der Landwirtschaft auf ein Minimum beschränkt wird. (Geiger F. u.a. 2010:<br />
„Persistent negative effects of pesticides on biodiversity and biological control<br />
potential on European farmland“)<br />
Pestizide gefährden die Gesundheit<br />
Pestizide sind giftig – das ist schließlich ihr Zweck. Das ist problematisch für<br />
Umwelt und Natur, aber auch für uns Menschen. Es gibt eine Reihe von Wegen,<br />
auf denen Pestizide zu uns gelangen und unsere Gesundheit gefährden.<br />
Besonders betroffen sind Bäuerinnen und Bauern, die regelmäßig mit den<br />
giftigen Stoffen hantieren und so in direkten Kontakt mit ihnen kommen.<br />
Auch wer in unmittelbarer Nachbarschaft von pestizidbehandelten Feldern<br />
lebt, bekommt nicht selten eine gehörige Portion von dem Gift ab, etwa<br />
durch windbedingte Abdrift.<br />
Aber auch alle anderen, die weit entfernt von den direkten Pestizid-Einsatzorten<br />
leben, sind gefährdet. Immer wieder werden erhöhte Pestizid-Rückstände<br />
und Grenzwertüberschreitungen vor allem in Obst und und Gemüse festgestellt.<br />
Auch über den Umweg des Tierfutters können Pestizide in unsere<br />
Nahrung gelangen.<br />
Pestizide sind fast ohne Ausnahme auch für Menschen gesundheitsschädlich.<br />
Das bestreitet heute niemand mehr. Schon lange ist es etwa üblich, Obst<br />
und Gemüse vor dem Verzehr gründlich abzuwaschen, da es ja „gespritzt“<br />
sein könnte. Da „Pestizid“ nur ein funktionsbezogener Oberbegriff für eine<br />
Vielzahl von Stoffen ist, können die Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit<br />
ganz unterschiedlich sein. Die Liste der möglichen Gefährdungen<br />
ist lang: von akuten und chronischen Hauterkrankungen über Vergiftungserscheinungen<br />
bei direktem Kontakt, Krebs, Fruchtbarkeits- und Erbgutschäden<br />
bis hin zu Missbildungen bei Neugeborenen. Pestizide werden insgesamt<br />
zu den gefährlichsten Umweltgiften der Welt gezählt.<br />
Dass Pestizide keine harmlosen Substanzen sind, wird auch daran deutlich,<br />
dass sie immer wieder in suizidaler Absicht vor allem von verzweifelten BäuerInnen<br />
in ärmeren Ländern eingenommen werden. Über 300.000 Menschen<br />
nehmen sich einer Studie zufolge jährlich mit Pestiziden das Leben.<br />
Quelle: Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e.V. (BUND)
36
Kaffee<br />
eine Kurzgeschichte von<br />
Gesa Kolb<br />
„Jetzt ist es also soweit. Ich bin allein. Was ein Wort. Mein Herz fühlt sich<br />
an, als würde es in meiner Brust - explodieren? Nein, nein, wenn dann<br />
implodieren, nach innen, hinein. All der unnötige Stauraum ist weg. Jetzt<br />
ist da nur noch Platz für mich. Alles andere wäre bloße Energieverschwendung.<br />
Kein Platz, kein Platz mehr, verdammt. Dafür bin ich einfach nicht<br />
mehr gebaut. Es würde meine Kapazitäten sprengen, wenn ich neue Dinge,<br />
wenn ich – sind Gefühle Dinge? Okay, falscher Ausdruck. Wenn ich all den<br />
Ballast- ah, gute Metapher- eines anderen in mir zulassen würde. Nein.<br />
Nein, es wäre außerdem viel zu gefährlich, am Ende ist das Ganze doch<br />
nur eine tickende Zeitbombe oder ein Blindgänger, der mir meine ganze<br />
Seele zerfetzt und ich muss sie bloß antippen und sie fällt auseinander. Dann<br />
können die mich einweisen. Wegen - gibt es so was wie Seelenbluten? Ich<br />
meine, wenn die Seele Teil des Körpers wäre? Oh verdammt. Sie fühlt sich<br />
jedenfalls verflucht körperlich an.“<br />
Beth wachte wieder mit verquollenen Augen auf. Das Gewicht ihrer Haare<br />
auf dem Kopfkissen fühlte sich noch immer ungewöhnlich leicht an und sie<br />
befühlte ihre kurzen Haarspitzen während ihr Verstand noch dabei war, aus<br />
dem Dämmerzustand des Traumes zu erwachen. Ach ja, sie hatte ja jetzt<br />
kurze Haare. Mit einer schwankenden Bewegung stand sie auf und torkelte<br />
mit halb wiedergewonnenem Gleichgewicht zur Badezimmertür. Das Licht,<br />
dass durch ihre provisorisch aufgehängten Vorhänge drängte, war noch<br />
ganz grau, nur ganz weit hinten schimmerte es schon leicht rosa.<br />
Beth starrte in die roten Augen ihres Spiegelbildes und hätte sich bei dessen<br />
Anblick am liebsten wieder in den Schlaf geheult. Ihre Haare waren gestern<br />
Abend noch nass gewesen, nun standen sie zu einer Seite ab, ihre Haut<br />
hatte dieselbe Farbe wie das Morgenlicht. Ihre Sommersprossen sahen aus<br />
wie blasse Überbleibsel aus einer Zeit in der die Tage noch Sommersprossen<br />
verdient hatten. Sie stöhnte in ihre Handflächen und rupfte sich mit der<br />
gewissen Aggression durch die Haare, die ihr schon aus schlechteren Tagen<br />
bekannt war.<br />
„Kaffee... Kaffee“, murmelte sie. Stolperte den Flur entlang in ihre Küche<br />
und realisierte erst als sie das Hallen ihrer Füße auf den Fließen hörte, dass<br />
sie ihre Küche ja noch gar nicht eingeräumt hatte.<br />
„Fuck“, entfuhr es ihr. Am liebsten hätte sie die Kartons zu ihren Füßen<br />
zertreten oder sich einfach wieder unter ihre Decke verkrochen. Sie war zu<br />
müde und zu deprimiert um das Haus in angemessener Art zu verlassen,<br />
also griff sie nach dem zerlöcherten Havard-Sweater, den ihr Merle aus<br />
Amerika mit geschmuggelt hatte und wand sich in ihre schmutzige Malerhose.<br />
Sie verließ die Wohnung, immer noch nicht ganz bei sich.<br />
An der nächsten Ecke gab es einen etwas angestaubten Kiosk, den Beth<br />
anpeilte, weil sie sich nicht im Stande fühlte, mehr als 200 Meter zu gehen.<br />
„Was darf´s denn sein?“, der Kiosk-Verkäufer sah aus, wie sie sich fühlte.<br />
„Kaffee.“<br />
„Ist aus. Darf´s auch was anderes sein?<br />
Wir haben jetzt diesen Tschai Latte.“<br />
„Kaffee“, sie schluchzte es fast.<br />
Sie wusste, wo sie immer welchen bekommen könnte. 8 Stunden entfernt<br />
von hier - seine ganze Wohnung hatte danach gerochen, selbst seine Haut<br />
sonderte diesen Duft aus. Er hatte wahrscheinlich nicht aus 80 Prozent<br />
Wasser bestanden, sondern vielleicht eher aus seinem geliebten schwarzen<br />
Gebräu.<br />
Vielleicht sollte sie sich langsam daran gewöhnen, diesem Duft aus dem<br />
Weg zu gehen.<br />
Sie schluckte hörbar und versuchte den Geschmack aus ihrem Mund zu<br />
bekommen, der sich anfühlte wie ein verschimmelter Waschlappen.<br />
Vorsichtig flüsterte sie: „Okay, egal. Der tut‘s auch. Was kriegen sie?“<br />
„5 Euro“<br />
„Wie bitte?“<br />
„5 Euro“<br />
„Okay, ich glaube Sie haben sich im Viertel geirrt, wir sind hier doch nicht<br />
bei den Hackeschen Höfen, verdammt noch mal, oder seh ick aus als wär‘<br />
ick einer von diesen verfluchten...“<br />
„Bezzy, das tust du allerdings, vor allem wenn du versuchst, Berliner Slang<br />
zu reden.“<br />
„Was..?“ Vor ihr stand, in einen roten Fellmantel gehüllt, mit farblich abgestimmtem<br />
Anzug, weinroten Leder-Galloschen und streng gegeltem Seitenscheitel:<br />
„MacKenzie!“, seufzte Beth, das Offensichtliche benennend. Hätte sie den<br />
Becher Chai schon in ihrer Hand gehabt, sie hätte ihn jetzt fallen gelassen.<br />
„Beth!“, er äffte ihre Stimme nach, die bei seinem Anblick gleich zwei Oktaven<br />
höher gestiegen war.<br />
„Oh mein Gott, was zum Teufel machst du hier?“<br />
„Sind das nicht zwei zu krasse Flüche in einem Satz? Mann, scheint, deine<br />
Manieren haben sich seit Cardiff nicht gebessert.“<br />
„Was machst du hier?“<br />
„Ach, ich war nur mal grad eben in der Gegend und...Bullshit! Merle hat<br />
mir erzählt, was passiert ist, und das du gleich ein halbes Land weggezogen<br />
bist, du verzweifelte Heulsuse.“<br />
„Merle? Shit, natürlich. Merle! Hast du was von ihr gehört? Sie ist vorgestern<br />
abgereist.“<br />
„Jap, sie ist natürlich sicher zuhause angekommen. Die WG hat sie wider<br />
Erwarten freudestrahlend aufgenommen. Und ich darf jetzt in ihrer gammligen<br />
Wohnung in Kreuzberg pennen.“ Nach kurzem Überlegen meinte Beth:<br />
„Du, wie wärs, wenn du einfach zu mir kommst?“<br />
„Um auf Pappkartons zu pennen?“<br />
„Och komm schon!“, Beth schaute ihn mit, wie sie hoffte, rührseligen<br />
Hundeaugen an, „Bitte, Bitte, Bitte!“<br />
„Also gut. Aber nur, wenn wir erst mal was zu futtern finden. Was hältst du<br />
davon, ich lad dich ein, auf ein Frühstück im Einstein oder so…“<br />
„Hast du irgendwo ‚nen Geldesel geparkt oder was?“<br />
„Nein. Ob du‘s glaubst oder nicht. Ich hab‘ geerbt.<br />
Morgen geh‘ ich zum Notar und lass‘ mir den Rest übertragen.“<br />
„Von wem, wenn man fragen darf?“<br />
„Meinem Großonkel Dicky, stockschwul und halb adelig.<br />
Hat ein hübsches kleines Vermögen mit Mixed Pickles gemacht.“<br />
„Mixed Pickles?“<br />
„Ja, diese sauer eingelegten Bohnen- und Gemüse-Teile.<br />
Gibt‘s die hier nicht?“<br />
„Nie von gehört. Aber wer weiß, die importieren ja heutzutage alles.“<br />
Mit dem dampfenden Tee in der Hand schlenderten Beth und MacKenzie<br />
vor sich her redend die Straße weiter, in Richtung der nächsten Haltestelle<br />
zum Café Einstein, und Beth hätte ein weiteres Mal beinahe den Becher<br />
fallengelassen, als sie über ein Plakat am Boden stolperte.<br />
„Ziggy Stardust Tribute Party“, las MacKenzie<br />
„Oh mein Gott, ich lieebe Ziggy Stardust!“<br />
„Du meinst, die tuntige Persona von Bowie, als die du dich jedes Jahr an<br />
Halloween verkleidest und immer nur die selben Typen mit aufreißt?“<br />
„Ja, genau die! Oh mein Gott, Beth, das ist heute Abend! Komm, lass uns<br />
da hingehen!“<br />
Beth sah MacKenzie mit verdrehten Augen an, als wolle sie sagen „Nicht<br />
dein Ernst“<br />
„Och bitte, bitte!“, mit ironischem Ausdruck warf er sich vor Beth auf den<br />
Boden.<br />
„Okay okay, steh wieder auf, die schauen schon alle!“<br />
„Tun die eh‘ schon, und das, obwohl wir hier in Berlin sind“, er zwinkerte ihr<br />
zu und drückte sie an sich. „Gott, hab ich deine Verklemmtheit vermisst!“<br />
„Gott, wie lange kenne ich Beth jetzt schon? Vielleicht sechs Jahre ist das<br />
jetzt her. Damals hab ich ein Praktikum bei einer Modefirma bei uns drüben<br />
in Cardiff gemacht. Mann, waren die da spießig. Keine meiner Ideen<br />
wurden angenommen. Und mein Alter hat mich natürlich auch bald rausgeschmissen,<br />
weil ich anfing, mich für Jungs zu interessieren und mich wie<br />
Oskar Wilde zu kleiden. Ich suchte dementsprechend dringend eine Bleibe.<br />
Irgendwann war ich abends auf so einer Vernissage von so einem Möchtegern-Warhol,<br />
da saß sie dann. Den Sekt in der Hand, schüchtern und ein<br />
bisschen gelangweilt, kam frisch aus irgend so einem Kaff in Deutschland,<br />
die Haare ungekämmt und die Hände noch voll mit Farbe. Das mit der<br />
Maniküre werde ich ihr wohl nie beibringen. Auf jeden Fall kamen wir bald<br />
ins Gespräch und sie erzählte, dass sie mit einer Freundin, Merle, hier her<br />
gekommen war, um mal rauszukommen. Sie seien eigentlich nur auf der<br />
Durchreise, aber diese Merle habe sich auf der Fahrt so dermaßen in einen<br />
Waliser verknallt, dass sie beschlossen hatten, erst mal bei dem zu bleiben.<br />
Dann stellte sich raus, dass der noch Platz hatte für eine weitere Person, und<br />
ruck zuck hatte ich den Platz in der nun geschaffenen WG. Die ist mittlerweile<br />
schon sehr viel größer und auch internationaler geworden, manchmal bin<br />
ich noch da. Auf jeden Fall war das unser erstes Treffen, und danach sind<br />
wir zwar immer wieder weit weg von einander gewesen, aber den Kontakt<br />
zu einem MacKenzie verliert man nicht so einfach.“<br />
37
„Das ganze Heft durchgeblättert -<br />
hat eigentlich gar nicht weh getan?!“<br />
Als Beth und MacKenzie verschwitzt und schon halb betrunken in ihren<br />
frisch gekauften silbern glänzenden Morphsuits in dem Club ankommen,<br />
ist es schon kurz vor eins. Sie haben ewig gebraucht, sich den roten Blitz<br />
auf die Gesichter zu zeichnen, über Beths Ex zu lästern, ein paar Tränen<br />
zu verdrücken und dabei eine halbe Flasche Eierlikör geleert. Eierlikör ist<br />
laut MacKenzie der letzte Schrei, weil ja alle gerade wieder so auf Retro<br />
machen würden.<br />
Das Dekor des Clubs ist in dunkelrotem Samt gehalten und wirkt wie das<br />
Moulin Rouge in Zeiten von Degas und Toulouse-Lautrec. Die Stimmung<br />
ist schon gut angeheizt. Einige Menschen sehen Beth und Mackenzie sehr<br />
ähnlich, viele haben sich Blitze über die Gesichter gemalt, andere tragen<br />
sogar die so markanten roten Fisselhaare, die damals Bowies Markenzeichen<br />
gewesen sind.<br />
Die ganze Menge tanzt gerade zu Suffragette City und der Schweiß scheint<br />
in Tröpfchen um sie zu fliegen. Es ist so unbeschreiblich warm. Und doch<br />
drängen sich MacKenzie und Beth eilig durch die Menge.<br />
Beth fühlt sich leicht nackt, aber den Zustand der Verklemmtheit und der<br />
Unsicherheit hat sie mit dem letzten Glass Eierlikör irgendwo in den Untiefen<br />
ihres Hinterkopfes verschwinden lassen. Sie grölt schon halb mit, als<br />
sie in der Mitte ankommen. Um sie herum sich schwenkende Leiber im<br />
roten und blauen Licht. MacKenzie und sie grinsen sich dümmlich an und<br />
beginnen den Tanz, den sie schon seit Jahren bei solchen Anlässen tanzen.<br />
Es ist eine Mischung aus allen möglichen Kultfilmen. Der Twist aus Pulp<br />
Fiction, der Zeigefinger aus Saturday Night Fever, das gruselig einstimmige<br />
Händeklatschen von RiffRaff und Magenta aus der Rocky Horror Picture<br />
Show. Beth fühlt sich unglaublich gelöst. Das alles hier hat nichts mehr<br />
zu tun mit dem Trauerzug von heute Morgen. MacKenzie ist nun mal eine<br />
Naturgewalt, deren Ausmaß jegliche Art der Misere in eine riesige Glitzerwolke<br />
aufzulösen vermag. Die Menschen und ihre Bewegungen ziehen<br />
schon lange Schlieren vor Beths Augen und MacKenzie dreht sie und dreht<br />
sie, er brüllt: „Schwing deinen Hintern, Darling!“<br />
Vielleicht liegt es an all dem, dem leichten Schwindelgefühl in ihrem Magen<br />
und der Wärme in ihrer Brust, dass sie diesem Augenblick so viel Bedeutung<br />
beimisst, vielleicht liegt es aber auch an dem einen Gesicht, das so<br />
plötzlich und so erstaunlich scharf aus der Menge heraussticht. Ist es ein<br />
Junge oder ein Mädchen? Das Wesen mit seinen fast außerirdischen Zügen<br />
ist nicht einzuordnen. Genau wie sie trägt es einen Blitz über dem Gesicht<br />
und seine Wimpern umrahmen lang und blau die merkwürdig leuchtenden<br />
Augen. Beth fühlt sich für einen kurzen Moment, als wäre sie einer Katze<br />
im Dunkeln begegnet, so sehr irritieren sie diese Augen. Eine Sekunde<br />
später ist die Erscheinung verschwunden in den Schlieren ihres trunkenen<br />
Verstandes.<br />
„Okay, lass uns raus, ich muuss eine rauchen!“, brüllt Mackenzie ihr überdreht<br />
ins Ohr und sie quetschen sich durch die Menge. Beth atmet kurz<br />
auf, währenddessen Mackenzie Papers, Filter und Tabak aus seiner kleinen<br />
Clutch kramt und sich die erste von vielen Zigaretten in dieser Nacht zu<br />
drehen beginnt. Beths Kopf schwirrt immer noch vom Alkohol und vom<br />
Tanzen. Sie dreht sich kurz von Mackenzie weg, um den Rauch nicht einzuatmen,<br />
der ihr entgegen weht.<br />
Und da steht diese Gestalt. Jetzt erkennt Beth, dass es offensichtlich ein<br />
Mann sein muss, denn auch er trägt einen eng anliegenden Anzug, wenn<br />
auch einen aus rotem Samt mit Chiffon-Einsätzen. Sein Gesicht hat dennoch<br />
sehr weibliche Züge, hohe Wangenknochen, die großen grünen Augen<br />
mit den langen Yves-Klein-blauen Wimpern und weich geschwungene,<br />
feminine Lippen, in Schwarz-blau geschminkt, mit einer Zigarette im Mundwinkel.<br />
Seine Haare sind ungefähr doppelt so lang wie ihre und wehen<br />
leicht um ihn herum wie eine Art rötlicher Heiligenschein. „Mackenzie...“,<br />
sie tippt ihm geistesabwesend auf die Schulter. „Mackenzie, dreh‘ mir bitte<br />
sofort eine Zigarette, ich glaube ich sehe Gespenster. Siehst du den Typen<br />
da vorne?!“. Mackenzie, der seine Zigarette fast fertig geraucht hat, schaut<br />
sie schmunzelnd von der Seite an und meint nur: „Aber nur dieses eine Mal<br />
und auch nur, weil mein Feuer grade leer geworden ist, ansonsten würde<br />
ich dich keinen Meter näher an diesen Typen lassen.“<br />
„Gut, wir verstehen uns. Gott, ich brauche so dringend jemanden, damit<br />
ich mir Ihn aus dem Kopf vögeln kann.“<br />
„You go girl!“, Mackenzie drückt ihr die verkrüppelte Selbstgedrehte in die<br />
ausgestreckte Hand.<br />
Beth atmet noch einmal tief durch, schiebt sich die Zigarette in den rechten<br />
Mundwinkel und schlendert dann betont lässig zu dem Typ am anderen<br />
Ende des Innenhofes.<br />
„Hey, hast du zufällig Feuer?“, raunt sie ihm zu. Sie kann kaum aus seinem<br />
Gesicht schauen, und er lächelt nur und sagt: „Du bist doch diejenige mit<br />
der geilen Rocky Horror Nummer grad eben! Klar hab ich Feuer.“<br />
Und mit dem Glimmen des Papiers am anderen Ende ihrer Zigarette weiß<br />
Beth, dass dieser Tag vielleicht doch noch ein gutes Ende nehmen könnte.<br />
38
In langen Zügen atmet sie den Rauch ein. „Beth“, sagt sie, und streckt die<br />
Hand aus. „Anji.“ Seine Augen scheinen sich in ihren zu verhaken und die<br />
Pupillen weiten sich.<br />
Als Beth am nächsten Morgen aufwacht, klebt ihr Morphsuit wie eine zweite<br />
Haut an ihren Beinen. Der Körper neben ihr strahlt angenehme Wärme<br />
aus und sie hört nur das sanfte Geräusch schlafender Atemzüge. Ihr Hals<br />
ist kratzig vom Rauch und sie spürt, dass der viele Eierlikör sie nicht unbeschadet<br />
gelassen hat. Auf Zehenspitzen steht sie auf und macht sich auf die<br />
Suche nach einem Bad. Die Dielen knarren gefährlich unter ihren Füßen,<br />
doch die Atemzüge vom Bett bleiben im selben gleichmäßigen Rhythmus<br />
wie zuvor. Sie schaut sich unsicher im Raum um. Zu ihrer Linken steht ein<br />
Bücherregal, auf dessen oberen Leiste alte Schallplatten und ein Plattenspieler<br />
platziert wurden. Dahinter ein einfacher Kleiderständer mit einer<br />
bunten Mischung an Klamotten, eine alte Biker-Jacke nachlässig über die<br />
Bügel geworfen, darunter eine Sammlung verschiedenster Herrenschnürschuhe<br />
und ein einziges paar Glitzer-Plateau-Stiefel, die hatte er gestern<br />
Abend an. Auf der anderen Zimmerseite steht links neben der Tür eine<br />
weiße Fender plus Verstärker und Equipment. Daneben auf der anderen<br />
Seite der Tür ein kleiner, wohl selbstgebauter Schreibtisch, auf dem ein mit<br />
Band-Stickern und Sprüchen beklebter Mac Pro, ziemlich verkratzt und aus<br />
irgendeinem Grund angestaubt, summt. Über dem Schreibtisch hängt ein<br />
Plakat von den Doors und eine kleine veraltete Weltkarte auf denen Stecknadeln<br />
Telefonnummern befestigen.<br />
Sie öffnet die Tür und tritt auf einen engen, chaotischen WG-Flur, an den<br />
sie sich von gestern Nacht noch nicht erinnern konnte. Die Wände sind<br />
vollgestellt mit alten Büchern, verdreckten Schuhen und Jacken, die einfach<br />
in irgendeine Ecke geworfen wurden. Zu beiden Seiten flüchten sich Türen,<br />
eine davon müsste das ersehnte Bad sein. Vorsichtig manövriert sich Beth<br />
an den Bücherstapeln (Sie entdeckt Titel wie „Die Pest“ in Originalausgabe<br />
oder „Staatsphilosophie nach Hegel“ und andere Schinken) vorbei. Das<br />
Bad findet sie nach vorsichtigem Lauschen hinter der letzten Tür, es ist nur<br />
ein ganz schmaler ungemütlicher Gang, wie es bei Altbauten manchmal so<br />
üblich ist. Auch hier ist wieder alles sehr chaotisch. Auf dem Waschbeckenrand<br />
stehen noch die Farbtöpfchen und Lippenstifte von vermutlich gestern<br />
Abend. Im Spiegelschrank diverse Männerdüfte und erstaunlicherweise anklebbare<br />
Wimpern und Make-Up, neben einem Nassrasierer, Schaum und<br />
Zahnbürste. Dabei wohnt hier doch gar keine Frau. Beth zuckt die Schultern<br />
und schließt den Schrank wieder.<br />
Ihr entfährt ein Seufzer als sie ihr Gesicht sieht. Die Haare stehen mal wieder<br />
zu allen Seiten ab und zur verschmierten Schminke kommen unzählige<br />
Knutschflecken und Schlafnarben, die sie hilflos versucht, wegzuwaschen.<br />
Sie sieht aus, als ob sie drei Tage nicht geschlafen oder bei illegalen Straßenkämpfen<br />
mitgemacht hätte.<br />
Als sie die letzten Schminkreste entfernt und die Haare mit Wasser zurückgegelt<br />
hat, greift sie zu Anjis Schminkutensilien.<br />
Sie deckt gerade die blau-grünen Knutschflecken an ihrem Hals ab, als<br />
hinter ihr die Tür aufgeht und eine verschlafene Gestalt mit grauser Post-<br />
Koital-Frisur ins Bad tritt. „Guten Morgen, Lady Stardust“, grummelt er, umarmt<br />
sie von hinten und beginnt von neuem blau-grüne Flecken an ihrem<br />
Hals zu erzeugen. „Guten Morgen, Iggy Pop“, erwidert sie und ist für einen<br />
Moment verwundert, wie grauenvoll ihre Stimme doch klingt, so dass sie<br />
ihn nicht daran hindert, weiter zu machen.<br />
Sie verlässt seine Wohnung um 15 Uhr mit einem unbestimmten Schmerz<br />
im Kopf und wunden Füßen. Seine Nummer klebt in verschmiertem rotem<br />
Lippenstift unter der zweiten Haut des Morphsuits auf der Innenseite<br />
ihres linken Beines. Er hat ihr seine Lederjacke geliehen. Das muss wohl<br />
bedeuten, dass sie sich wieder sehen werden. Mit einem Lächeln auf dem<br />
geschwollenen Mund stöpselt sie ihre Kopfhörer in ihren Mp3-Player und<br />
zieht die dicken schwarzen Muscheln über ihre Ohren. Sie spürt den leichten<br />
Muskelkater in der Hüfte, als sie im Takt der Musik nach Hause läuft.<br />
IMPRESSUM<br />
Kalbenser <strong>Fliegenklatsche</strong><br />
Herausgeber:<br />
Marko Kühnel<br />
Gardelegener Straße 28<br />
39624 Kalbe Milde<br />
Mail: fliegenklatsche-kalbe@online.de<br />
Web: <strong>Fliegenklatsche</strong>-Magazin.de<br />
Tel: 039080 40946<br />
Ausgabe 02, Dezember 2015 mit Beiträgen von:<br />
Karola Pfandt - Zeichnungen auf Seite 08, Seite 28, Seite 29, Seite 33 und Seite 36<br />
Adrian Kenyon - Seite 06 - adriankenyon.com (Merci beaucoup!)<br />
Lena Teresa Flohrschütz - cargovalley.com - lenateresaflohrschuetz.com<br />
Ilka Erl - Seite 30 - inklusive einem schönem Regenbogenfoto von Anna Ebeling<br />
Ajmal und Shakila Sahak - ihre Geschichte wurde notiert von M.K.<br />
Herr Doktor Pirat - piratentagebuch.tumblr.com<br />
Jens Eichenberg - eichenberg-naturstein.de<br />
Etzekiel van Blubberich & Herr Tutan<br />
Patrick Amelie Becker - thewasteland.de<br />
Michael Körner - koerner-foto.de<br />
Cathleen Hoffmann - Seite 19<br />
Gesa Kolb - feegesa.tumblr.com<br />
Alisa Tretau - alisatretau.net<br />
Lisa Wiedemuth<br />
Vielen Dank für eure tiefgründigen, scharfsinnigen und mutigen<br />
Beiträge. Ich war echt überwältigt, dass dieses kleine Magazin euch<br />
so viel Zeit und Hirnschmalz wert war. Ja, ihr seid echt großartig und<br />
nein, Gage gibt‘s natürlich wieder nicht. Aber seid nicht traurig. Ihr<br />
wisst doch, wo jederzeit ein schales Bier, eine Magnumflasche Wein<br />
und ein paar tröstende Worte am Feuerchen auf euch warten.<br />
Ebenfalls möchte ich mich bei meiner guten Mutter fürs Korrekturlesen<br />
bedanken. Damit übernimmt sie freiwillig die Schuld an allen<br />
übersehenen Vehlern in diesem Heft. Und natürlich geht noch ein<br />
Dank raus an meine kleine Friseurin, die so viel Geduld mit mir hat.<br />
Hat sie in diesem Heft etwas besonders gefreut oder geärgert. Oder<br />
sie möchten auch gern einen, wie auch immer gearteten Beitrag in<br />
der <strong>Fliegenklatsche</strong> veröffentlichen - dann schreiben sie bitte einen<br />
Brief oder eine Mail an die oben genannte Adresse.<br />
Ich freue mich auf Post von Ihnen!<br />
39<br />
39
Ich würde gern in einer Solidarität wohnen. In einem<br />
Schrebergarten ohne Hecken, mit eurer großen Liebe.<br />
Und dann will ich nichts mehr kaufen müssen. Ich will<br />
dem Kapital die Zunge in den Hals stecken und es so<br />
tief drinnen kitzeln, bis es schwach wird. Ich würde<br />
gerne den großen Zaun im Meer abreißen und die Zwischensprache<br />
lernen. Ich wäre gerne wirklich farbenblind.<br />
Ich brauche ein Leben, das fließt wie ein Bach<br />
in Schleswig-Holstein. Ich möchte mit Finanzhaien um<br />
die Wette tauchen und ihnen das richtige Maß um die<br />
Ohren hauen. Ich will uns nicht verbrauchen. Ich hätte<br />
wirklich gerne DREAMS ARE MY REALITY selbst komponiert.<br />
Das Wort Identität möchte ich nie wieder hören.<br />
Ich brauche ein Leben, das nur mit euch funktioniert –<br />
könnt ihr mich umarmen, dass es unter die Haut geht?<br />
Alisa Tretau