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kalbenser Fliegenklatsche

Bd.02 "das Untergrundmagazin für von innen Tätowierte"

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Notizen einer Flucht<br />

von Shakila und Ajmal Sahak<br />

Als ich eines Abends an einer Kreuzung nahe meines<br />

Hauses halten musste, hielt mir jemand eine Pistole<br />

an den Kopf, um mich davon überzeugen, ab jetzt<br />

doch lieber für die Taliban zu arbeiten. Da wusste<br />

ich, wir müssen jetzt weg. Einige Tage zuvor waren<br />

meine Reifen zerstochen worden, aber erst jetzt wurde<br />

mir klar: Sie hatten meine neue Adresse herausgefunden.<br />

Ich ahnte zwar, dass ich gewissen Leuten<br />

nicht unbekannt war, weil ich früher in Bagram, im<br />

Süden Afghanistans für das US-Militär als Dolmetscher<br />

gearbeitet hatte, trotzdem war es ein Schock,<br />

da wir aus diesem Grund umgezogen waren - in die<br />

Nähe der Hauptstadt Kabul - in ein vermeidlich sicheres<br />

Gebiet.<br />

„In drei Tagen seid ihr in Deutschland“ versprach<br />

mir ein „Agent“, so nennt man die Fluchthelfer in<br />

der Region. Der Preis war hoch, 78.500$ sollte die<br />

Flucht kosten. Wir hatten keine Alternative, also verkauften<br />

wir alles: Haus, Grundstück, Auto, Schmuck<br />

und sammelten noch Geld in der Familie. Auch sie<br />

war der Meinung wir sollten ausreisen, weil wir sie<br />

ebenfalls in Gefahr brachten. Als wir das Geld einem<br />

Mittelsmann gaben bekamen wir Flugtickets nach<br />

Dubai und diverse Telefonnummern von irgendwelchen<br />

Kontaktpersonen. Wir packten ein paar Sachen,<br />

holten unsere Kinder und brachen auf...<br />

Es war Oktober 2013.<br />

Später, während der Reise, in der Türkei, prägte sich<br />

für unsere Flucht ein Begriff: „The Game“, so nannten<br />

die Behörden zynisch unsere vielen erfolglosen Versuche<br />

über eine Grenze weiter in Richtung Europa zu gelangen:<br />

Manchmal kommt man weiter, manchmal halt<br />

nicht. Ein Spiel um Leben und Tod. Darum werden wir<br />

die einzelnen Etappen unserer Flucht nun im Folgenden<br />

als Level bezeichnen.<br />

Level 1: Dubai.<br />

Als wir dort am Flughafen ankamen, trafen wir einen<br />

Kontaktmann: Babu. Komischerweise mussten wir unsere<br />

afghanischen Pässe abgeben, und bekamen von<br />

ihm türkische Visa. Dann mussten wir das erste Mal<br />

warten. Eine Woche. Deutschland in drei Tagen?! - Das<br />

hatte sich damit schon mal erledigt. Dann bekamen wir<br />

neue Tickets nach Istanbul, und Instruktionen, wie wir<br />

uns dort den Behörden gegenüber verhalten sollten:<br />

So tun, als wären wir Touristen, weltgewandt und cool.<br />

Dass unsere lieben Eltern uns früher eine Ausbildung<br />

ermöglicht hatten und wir beide dadurch ganz gut Englisch<br />

sprachen, erwies sich als sehr vorteilhaft.<br />

Level 2: Istanbul.<br />

Gegen 5 Uhr morgens kamen wir an und versuchten,<br />

unseren neuen Kontaktmann zu erreichen. Er nahm<br />

nicht ab. Wir fuhren mit dem Taxi zur angegebenen<br />

Adresse. Die Hotelreservierung stellte sich ebenfalls als<br />

Fake heraus. Wir waren das erste Mal sehr ratlos - illegal<br />

in einem fremden Land, zwei keine Kinder dabei<br />

,keinen Plan und keine gültigen Pässe. Nach endlosen<br />

Versuchen hatten wir irgendwann doch noch unseren<br />

ominösen Helfer am Telefon: „Alles ok“, meinte er, wir<br />

sollten im Hotel bleiben und abwarten...<br />

Danach herrschte Funkstille. Wir wurden nur ab und<br />

an telefonisch beruhigt. Dann - nach fast einem Monat<br />

Aufenthalt und mit den Nerven am Ende, wurde uns<br />

von unserem Fluchthelfer ein Plan eröffnet: Wir sollten<br />

zum Flughafen, dort so tun als wollten wir zurück nach<br />

Afghanistan. Auf der Boarding Stage kurz vor dem Eingang<br />

in den Flieger sollte ein Mann auf uns warten und<br />

uns dort Tickets nach Europa in die Hand drücken. Wir<br />

müssten dann nur noch zu einem anderen Gate gehen,<br />

einsteigen und fertig. Doch kurz vor dem Termin war<br />

der Kontaktmann verschwunden. Level gescheitert.<br />

I<br />

attempt 1 to achieve Level 3<br />

Schiff in EU, mit Land unserer Wahl: Unsere falschen<br />

Visa waren abgelaufen und wir saßen weiter illegal in<br />

Istanbul fest. Ajmal durchstreifte die Stadt nach Leuten<br />

die uns helfen konnten. Er traf einen Mann<br />

der uns anbot, uns für 28.000$ per Schiff über<br />

Italien in ein Land unserer Wahl zu bringen. Da<br />

die Kosten der Flucht über einen sogenannten<br />

Moneychanger (ei- nen Mann mit einer Funktion,<br />

ähnlich wie PayPal, nur illegal und ohne Garantie)<br />

organisiert war, hatten wir noch Zugriff aus<br />

unser Geld. In unserer Not sagten wir zu.<br />

Uns wurden ein Treffpunkt und eine nächtliche Zeit<br />

genannt. Viele warteten dort. Transpor- ter, ähnlich<br />

den VW-Sprintern trafen ein. Wir beide und unsere<br />

Kinder zwängten sich mit weiteren 34 Perso- nen<br />

in einen dunklen geschlossenen Laderaum. Selbst die<br />

Fahrer hatten keine Ahnung wohin es ging und<br />

wurden telefonisch instruiert. Insgesamt dauerte die<br />

Fahrt dann 14 Stunden - zusammengedrängt und ohne<br />

Halt. Zum Urinieren wurde eine 5 Liter Flasche herumgereicht<br />

und an der Türkante ausgeleert.<br />

Ankunft in Mersin. Das versprochene Schiff ist nicht da.<br />

Man brachte uns mit weiteren 80 Leuten in ein kleines<br />

Haus am Rande eines Bergdorfes, und versicherte uns:<br />

„Morgen geht es weiter“. Doch scheinbar merkten die<br />

Nachbarn, das in dem Haus etwas nicht stimmte. Die<br />

Polizei kam und nahm uns alle fest. Vernehmungen,<br />

Fingerabdrücke anfertigen usw. Nach einer Woche<br />

Gefängnis bekamen wir einen Zettel, der uns zu 15 Tagen<br />

Aufenthalt in der Türkei berechtigte. Sie zeigten uns<br />

die Haltestelle und wir fuhren mit dem Bus zurück nach<br />

Istanbul. Level failed.<br />

attempt 2 to achieve Level 3<br />

Über den Fluss nach Griechenland: Der gleiche Mann<br />

in Istanbul, den Ajmal schon zuvor aufgesucht hatte,<br />

organisierte den nächsten Versuch: In einer kleinen<br />

Gruppe vom 11 Personen (4 Männer, 3 Frauen, 4 Kinder)<br />

ging es eines Nachts mit einem kleinen Transporter<br />

zur nahen griechischen Grenze. Wir mussten geduckt<br />

einen kleinen Pfad bis zu einem ca. 300 Meter breiten<br />

Flussabschnitt laufen, welcher die beiden Länder trennt.<br />

Die Männer machten das mitgebrachte Schlauchboot<br />

klar. Shakila verstaute derweil die wichtigsten<br />

Sachen in einem Plastiksack. Schwimmwesten gab<br />

es nicht. Es war stockdunkel, sonst wäre die Gefahr<br />

auch zu groß, von Grenzpatrouillen entdeckt zu<br />

werden. Ca. 50 Meter vor dem gegenüberliegenden<br />

Ufer blieb das Boot an einer Wurzel hängen.<br />

Durch die Strömung schaukelte es gefährlich<br />

und ließ sich nicht lösen. Ajmal und ein weite -<br />

rer Mann sprangen ins Wasser, kämpften es<br />

frei und schoben es schwimmend weiter in<br />

Richtung Ufer. Das war steil und unzugänglich,<br />

doch wir fanden einen<br />

Baum, der wie eine Brücke<br />

in das Wasser ragte.<br />

Dubai<br />

Kabul<br />

15

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