(vor) dem - Dinges und Frick GmbH
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Sybille Weiser ist Miß Sara Sampson Stefan Schießleder ist Mellefont Doreen Nixdorf ist Marwood<br />
Wenn die<br />
Liebe hinfällt<br />
Ricarda Beilharz inszeniert Lessings<br />
erstes Bürgerliches Trauerspiel<br />
6<br />
Ein junges Paar nimmt Quartier in einem<br />
schäbigen Hotel an der englischen<br />
Küste. Von dort aus soll es weitergehen<br />
Richtung Frankreich, wo die junge Frau<br />
sich die Erfüllung ihres größten Wunsches<br />
erhofft: geheiratet zu werden.<br />
Sara Sampson hat die Flucht aus behüteten<br />
Verhältnissen angetreten, sie ist<br />
ihres Vaters einziges <strong>und</strong> hochgeliebtes<br />
Kind, die Mutter starb bei der Geburt.<br />
Mellefont war häufiger Gast im Haus<br />
des Vaters, ein charmanter junger Adliger,<br />
der das Herz der bürgerlichen Sara<br />
im Sturm erobern konnte. Sara ahnt,<br />
dass ihr Vater diese Beziehung niemals<br />
gutheißen würde, nicht nur des Standesunterschiedes<br />
wegen. Mellefont gilt<br />
als flatterhaft, <strong>und</strong> welcher Vater gäbe<br />
schon gern seinen größten Schatz in die<br />
Hände eines notorischen Verführers?<br />
Also ging es auf <strong>und</strong> davon, in den<br />
Armen des Märchenprinzen Richtung<br />
Wolke sieben. Lange Zeit noch glaubte<br />
Sara Mellefonts Beteuerungen,<br />
erst eine Erbschaftsangelegenheit<br />
regeln zu müssen, be<strong>vor</strong> die Hochzeit<br />
vollzogen werden kann, lange Zeit<br />
half die Leidenschaft ihr, den tristen<br />
Aufenthaltsort zum kuscheligen<br />
Liebesnest zu verklären. Inzwischen<br />
aber ist die neunte Woche angebrochen,<br />
<strong>und</strong> langsam dämmert es der<br />
Miß, in welcher Klemme sie steckt.<br />
Mit <strong>dem</strong> Vater hat sie mutwillig<br />
gebrochen, der Geliebte verhält sich<br />
seltsam diffus, wenn das Thema auf<br />
die erwartete Eheschließung kommt.<br />
Schlaflosigkeit, Langeweile <strong>und</strong><br />
Gereiztheit machen sich breit in den<br />
Schlafzimmern der beiden, die im entscheidenden<br />
Punkt keinen Konsens<br />
finden können.<br />
Glücklicherweise naht Abwechslung<br />
in Gestalt einer gewissen Lady<br />
Solmes, angeblich eine Verwandte<br />
Mellefonts, die der jungen Verlobten<br />
ihre Aufwartung machen möchte.<br />
Was Sara nicht weiß: Diese Lady ist<br />
ein Vamp, ihr wirklicher Name ist<br />
Marwood, <strong>und</strong> sie hat etliche Jahre<br />
mit Mellefont zusammengelebt,<br />
sogar eine Tochter ging aus der Beziehung<br />
her<strong>vor</strong>. Mit Arabella als gefährlichster<br />
Waffe hat sich Marwood nun<br />
ebenfalls im Hotel eingemietet, fest<br />
entschlossen, einen Keil zwischen<br />
Sara <strong>und</strong> Mellefont zu treiben <strong>und</strong><br />
den Mann <strong>und</strong> Vater auf immer<br />
zurückzugewinnen. Angesichts der<br />
weinenden Tochter wird Mellefont<br />
tatsächlich einen Augenblick lang<br />
schwach, um sich gleich darauf vehement<br />
zur neuen Frau an seiner Seite<br />
zu bekennen. Marwood kapituliert<br />
scheinbar <strong>und</strong> erbittet sich, die junge<br />
Frau, die es schaffte, ihr den Rang<br />
streitig zu machen, wenigstens persönlich<br />
kennenlernen zu dürfen.<br />
Vor der ahnungslosen Sara gibt<br />
Marwood die joviale, teilnahmsvolle<br />
Frau von Welt, aber innerlich kocht<br />
sie <strong>und</strong> brütet Rachepläne aus. Ein<br />
erster ist ihr schon gelungen: Saras<br />
Vater Sir William den Aufenthaltsort<br />
der beiden zu verraten, damit er <strong>dem</strong><br />
Treiben ein rasches Ende bereite.<br />
Tatsächlich ist auch William Sampson<br />
schon im Hotel eingetroffen, aber er<br />
scheut sich, seiner Tochter zu begegnen.<br />
Statt dessen brütet er lange<br />
über einem Brief, in <strong>dem</strong> er ihr seine<br />
Liebe <strong>und</strong> sein Verzeihen ausspricht.<br />
Dieser Brief erreicht Sara, aber es ist<br />
zu spät. Die Dinge haben sich längst<br />
verselbständigt, Marwood rast <strong>vor</strong><br />
Eifersucht, am Ende steht Sir William<br />
fassungslos neben den Leichen seiner<br />
Tochter <strong>und</strong> ihres Geliebten.<br />
1755 schrieb Gotthold Ephraim Lessing<br />
sein Stück, das als das erste der<br />
bürgerlichen Trauerspiele gilt, in der<br />
Einsamkeit einer Potsdamer Dachkammer.<br />
Angeblich hatte eine Wette<br />
mit Moses Mendelssohn ihn dazu<br />
inspiriert: Nach <strong>dem</strong> Besuch eines<br />
französischen Trauerspiels, das vom<br />
Publikum mit großer Rührung aufgenommen<br />
wurde, fragte Mendelssohn<br />
Lessing nach seiner Meinung, <strong>und</strong><br />
der antwortete, es sei recht leicht,<br />
das Publikum auf diese Weise zum<br />
Weinen zu bringen. Innerhalb von<br />
sechs Wochen könne auch er ein<br />
Stück zu Papier bringen, das diese<br />
Wirkung habe. Gesagt, getan, nach<br />
sechs Wochen war Miß Sara Sampson<br />
fertig, komponiert aus einer Reihe<br />
von Zutaten, die heute Bestandteil<br />
vieler Hollywood-Drehbücher sind.<br />
Aber es wäre zu einfach, das Stück auf<br />
ein Liebesdrama mit fatalem Ausgang<br />
zu reduzieren, immerhin begründete<br />
es eine neuartige Gattung, die gegen<br />
einige strenge Regeln des Theaters<br />
<strong>und</strong> der gesellschaftlichen Sitten<br />
verstieß. Dass Angehörige des Bürgertums<br />
als Identifikationsfiguren<br />
eines tragischen Stoffes dienten, war<br />
ein geradezu revolutionärer Ausdruck<br />
neuen bürgerlichen Selbstbewusstseins,<br />
ihre Konflikte mit <strong>dem</strong> Adel<br />
aufklärerischer Ausdruck der Kritik an<br />
dessen Dekadenz.<br />
Das Aufeinanderprallen bürgerlicher<br />
Moral <strong>und</strong> adliger Amoral ist aber<br />
in Miß Sara Sampson noch deutlich<br />
weniger ausgeprägt als in späteren<br />
bürgerlichen Trauerspielen wie Emilia<br />
Galotti oder Schillers Kabale <strong>und</strong> Liebe.<br />
Tragisch ist in diesem Drama <strong>vor</strong><br />
allem die Blindheit seiner Figuren,<br />
Hessisches Staatsthea ter Wiesbaden / Theaterblatt • Oktober 2012