Burschenschaftliche Blätter 2014 - 1 & 2
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Schwerpunkt<br />
wandler“(2) ist ein anschauliches wie facettenreiches<br />
Portrait unseres Kontinents am<br />
Vorabend des Ersten Weltkrieges. Die detaillierte<br />
Monographie offenbart das aka -<br />
demische Aufbrechen des geläufigen<br />
Standpunktes, einzig und allein die Weltmachtambitionen<br />
des Deutschen Kaiserreichs<br />
hätten Europa 1914 in den Abgrund<br />
getrieben. In dem Buch werden auf der<br />
Basis zahlreicher Quellen Thesen formuliert,<br />
welche wie folgt zusammengefaßt werden<br />
können:<br />
Erstens: „Deutschland war nicht alleine<br />
schuld!“(3) Clark stellt unter Bezugnahme<br />
auf die gegenwärtigen Forschungstendenzen<br />
dar, daß die Eskalation im August 1914<br />
keineswegs nur aus deutschem Fehlverhalten,<br />
sondern vielmehr aus der Melange der<br />
unheilvollen diplomatischen Fehltritte aller<br />
europäischen Akteure resultierte.<br />
Zweitens: „Der Krieg kam nicht zwangsläufig!“(4)<br />
Clark betont vordergründig die<br />
fundamentale Machtverschiebung auf dem<br />
europäischen Kontinent. Während bis zur<br />
Jahrhundertwende das unter der Ägide Bismarcks<br />
geschaffene fein austarierte Bündnisnetz<br />
den Frieden maßgeblich sicherte,<br />
war in den Folgejahren die Spaltung Europas<br />
in zwei Machtblöcke zu verzeichnen.<br />
Diese Tendenz hätte zu jedem früheren wie<br />
zu jedem späteren Zeitpunkt zu einem<br />
heißen Konflikt führen können.<br />
Drittens: „Die Krise wäre noch zu stoppen<br />
gewesen!“(5) Ausgehend vom Attentat<br />
in Sarajevo, wo am 28. Juni 1914 der<br />
österreichische Thronfolger Franz Ferdi -<br />
nand sowie dessen Gattin Sophie Chotek<br />
von Gavrilo Princip, einem Mitglied der radikalen<br />
Jugendorganisation „Mlada Bosna“,<br />
ermordet wurden, zeichnet Clark das serbische<br />
Pulverfaß nach, welches den europäischen<br />
Konflikt entzünden sollte. Die Vision<br />
der im Untergrund agierenden Fronde war<br />
es, die südslawischen Provinzen des Habsburger-Reiches<br />
mit Serbien zu alliieren. Als<br />
Reaktion auf das Attentat, hinter welchem<br />
man die serbische Regierung vermutete,<br />
stellten Anfang Juli Kaiser Wilhelm II. sowie<br />
Reichskanzler Theobald von Bethmann<br />
Hollweg den Habsburgern unisono jenen<br />
verhängnisvollen militärischen Blanko scheck<br />
aus, welcher der k.u.k Doppelmonarchie<br />
die bedingungslose deutsche Unterstützung<br />
garantierte. Daraufhin stellte die<br />
österreichische Regierung Serbien ein dreiwöchiges<br />
Ultimatum, getreu welchem die<br />
Verschwörer von Sarajevo vor Gericht zu<br />
stellen seien, anderenfalls würde der Casus<br />
Belli ausgerufen werden. Doch Serbien, seit<br />
dem Ende des Zweiten Balkankrieges letzter<br />
Verbündeter Rußlands auf dem Balkan<br />
und von dessen Schutzgarantie gestärkt,<br />
lehnte diese Forderung strikt ab, worauf<br />
Österreich-Ungarn dem Balkanland den<br />
Krieg deklarierte und der russische Zar<br />
folgerichtig die allgemeine Mobilmachung<br />
anordnete. Ob ihrer Bündnisverpflichtungen<br />
traten in kurzer Folge das Deutsche<br />
Kaiserreich an der Seite Österreichs sowie<br />
Frankreich und Großbritannien als Partner<br />
der Triple Entente in den Krieg ein.<br />
Viertens: „Der deutsche Flottenbau war<br />
keine Bedrohung.“(6) In der Historio gra -<br />
phie wird des Öfteren dargestellt, der deutsche<br />
Flottenausbau der Vorkriegsjahre sei<br />
eine staatliche Fehlinvestition, ein<br />
verschwen derisches Steckenpferd des Kaisers<br />
gewesen und darüber hinaus ursächlich<br />
dafür, daß die Briten Bündnisse mit<br />
Frankreich und Rußland eingingen. Clark<br />
kontrastiert diese Ansicht mit Quellen, die<br />
andeuten, daß die deutsche Flotte keine<br />
veritable Gefahr für die „Royal Navy“ darstellte.<br />
Die Briten wurden vielmehr in die<br />
Arme der Franzosen und Russen getrieben,<br />
da gegen diese Nationen der Erhalt des<br />
Empire illusorisch gewesen wäre.<br />
Fünftens: „Wilhelm II. hatte nur geringen<br />
Einfluß.“(7) Vielfach wurde versucht, Kaiser<br />
Wilhelm II. die persönliche Hauptschuld an<br />
der politischen Einkreisung Deutschlands<br />
anzutragen. Nicht zuletzt sein großspuriges<br />
Auftreten hätte das Reich auf dem internationalen<br />
Parkett bündnisunfähig und einsam<br />
gemacht. Clark stellt dar, daß die<br />
Macht des Kaisers im Rahmen der konsti -<br />
tutionellen Monarchie viel eingeschränkter<br />
reglementiert war, als diesem persönlich<br />
lieb gewesen sein dürfte.<br />
Die von Fischer aufgestellten Thesen werden<br />
gegenwärtig nicht zuletzt ob dieser<br />
grenzüberschreitenden Blicke Clarks in die<br />
Archive früherer Kriegsgegner in ein neues<br />
Licht gestellt. Christopher Clark arbeitet in<br />
seinem Buch den aus Dokumenten ableitbaren<br />
Anteil Deutschlands sowie der anderen<br />
Kriegsparteien am Ausbruch des Ersten<br />
Weltkrieges auf einer breiten Basis internationaler<br />
Quellen heraus, ohne dabei selbst<br />
den Leser beeinflussende Wertungen vorzunehmen.<br />
Der Autor zeichnet resümierend<br />
ein Gesamtbild, welches das Deutsche Kaiserreich<br />
als einen unglücklich agierenden<br />
Akteur im Konzert der internationalen Verstrickungen<br />
jenes epochalen Sommers<br />
1914 ablichtet. Eine Nation, deren reale<br />
politische Möglichkeiten in der seinerzeitigen<br />
Gemengelage weit ab von einer hegemonialen<br />
Stellung gewesen zu sein scheinen,<br />
die den Weltkriegsauftakt hätte allein<br />
charakterisieren oder gar verhindern können.<br />
Clark wird durch seine sachliche Methodik<br />
dem bereits zuvor erwähnten Ethos<br />
des Historikers in besonderer Weise gerecht;<br />
jenem zeitgenössisch leider nicht<br />
immer anzutreffenden Historiker-Ethos, das<br />
Objektivität anstrebt und von externen Erwartungen<br />
unbeeinflußt versucht, das darzustellen,<br />
was nach heutigem Wissensstand<br />
in einer früheren Zeit gewesen zu sein<br />
scheint. Sein Werk ist daher Geschichtsschreibung<br />
par excellence.<br />
<strong>Burschenschaftliche</strong><br />
<strong>Blätter</strong><br />
Neben anderen herausragenden Historikern<br />
ist der in Berlin lehrende Politikwissenschaftler<br />
Professor Herfried Münkler in meinen<br />
Augen ein beachtenswertes deutsches<br />
Äquivalent zu Christopher Clark. Sein vor<br />
kurzem erschienenes Werk „Der Große<br />
Krieg. Die Welt 1914 bis 1918“(8) deckt<br />
thematisch über Clark hinaus die gesamte<br />
europäische Fehde ab. Bei Münkler ist<br />
schon der Titel „Der Große Krieg“ etwas<br />
Interessantes für einen deutschen Autor.<br />
Denn während diese Titulierung noch heute<br />
im kollektiven Geschichtsbild unserer westlichen<br />
Nachbarn präsent ist und ein nationales<br />
Identifikationsmoment darstellt, trat<br />
der Erste Weltkrieg hierzulande verständ -<br />
licherweise in den Schatten des Zweiten.<br />
Münkler konstatiert sinngemäß, daß die<br />
politischen Folgen des Ersten Weltkriegs<br />
für den geschichtlichen Kompaß Europas in<br />
ihrer Komplexität noch heute eine gewisse<br />
Brisanz besitzen. Das vielschichtige Ursachengeflecht<br />
des Kriegsausbruches bündelte<br />
Münkler während einer erhellenden<br />
sowie eloquenten Vorlesung auf Basis seines<br />
Buches an der TU Dresden zum Thema<br />
„Politische Zwänge, Fehlentscheidungen<br />
und Irrtümer: die deutsche Politik im Sommer<br />
und Herbst 1914“ sinngemäß in drei<br />
zentrale Fragen, welche die politische<br />
Agenda Europas im Sommer 1914<br />
dominierten. Erste Frage: Welche Macht ist<br />
die ökonomische wie politische Hegemo -<br />
nialmacht in West- sowie Mitteleuropa?<br />
Zweite Frage: Wer wird Nachfolger des<br />
bisherigen Weltpolizisten Großbritannien?<br />
Dritte Frage: Wie schaut die Zukunft der<br />
multinationalen wie multireligiösen Imperien<br />
Kleinasiens, Südosteuropas sowie des<br />
Vorderen Orients aus?(9)<br />
Der Erste Weltkrieg ließe sich in diesem<br />
Sinne als ein äußerst tragischer Versuch<br />
aller europäischen Großmächte – und damit<br />
keineswegs als nur jener eines einzelnen<br />
Landes – deuten, auf diese tiefgreifenden<br />
Fragen politische Antworten zu for -<br />
mulieren.<br />
Werte Tagungsteilnehmer, wir haben einige<br />
schlagkräftige wie prominente Argumente<br />
international renommierter Wissenschaftler<br />
vernommen, die den gegenwärtigen Diskurs<br />
bestimmen und eine deutsche Hauptschuld<br />
am Ersten Weltkrieg wissenschaftlich<br />
kritisch hinterfragen. Die aufgeführten<br />
Argumente werden über die beiden dargestellten<br />
Werke hinaus in zahlreichen weiteren<br />
Publikationen thematisiert – exemplarisch<br />
sei Jörg Friedrich mit seiner interessant<br />
provokanten Neuerscheinung „14/18:<br />
Der Weg nach Versailles“ erwähnt. Doch<br />
warum findet dieser Diskurs ausgerechnet<br />
anläßlich der 100. Wiederkehr des Kriegsausbruches<br />
in dieser Form statt? Könnte<br />
der Grund etwa darin liegen, daß zahlreiche<br />
Historiker in den Entwicklungen der<br />
näheren Vergangenheit und Gegenwart<br />
einzelne systemische Parallelen zwischen