30 Zoom Am Anfang war das Schweigen
Zoom Immer wieder hört man von Ehepaaren und anderen Schicksalsgenossen, die sich beharrlich schweigend in Cafés, in Restaurants und Parks gegenüber sitzen sollen. Viele werten diese Art der Wortlosigkeit als Ausdruck der Entfremdung und Langeweile. Unsere Redakteure Marcus Ertle und Fabian Schreyer wollten es genau wissen und haben den Selbstversuch gewagt. Eine Stunde saßen sie sich in einem Café schweigend gegenüber. Ein Erfahrungsbericht von Marus Ertle. 31 P Puh, man sollte meinen, Schweigen sei das einfachste der Welt. Gut, für einen Journalisten vielleicht nicht unbedingt, aber wenn wir mal von psychisch normalen Menschen ausgehen, dürfte es eigentlich keine Schwierigkeit sein, einfach mal den Mund zu halten, das Umfeld zu betrachten und brav seinen Kuchen zu essen. Von wegen. Schweigen ist eine Kunst, oder auch eine Qual, je nachdem, wie man es sehen will. Es wundert mich kein bisschen, dass die meisten Ehepaare viele Jahrzehnte brauchen, diese Kunst zu vervollkommnen. Als jungem Menschen fehlt einem wohl einfach die innere Ruhe und Genügsamkeit der Altvorderen. Anders kann ich mir nicht erklären, wieso diese Stunde des Schweigens zusammen mit meinem äußerst geschätzten Kollegen Fabian Schreyer ein solches inneres, na, sagen wir mal, Martyrium wurde. Wahrscheinlich liegt es auch einfach daran, dass wir beide äußerst versierte Konversationspartner sind. Da ist Schweigen im Grunde ein Akt wider die Natur. So fühlt es sich jedenfalls an, als wir im ehrwürdigen Café Euringer sitzen, in dem schon unzählige Paare erfolgreich geschwiegen haben. Es beginnt ganz harmlos. Wir setzen uns, bestellen bei der reizenden Bedienung einen Kuchen und Kaffee und das sind auch schon unsere letzten Worte. Jetzt sitzen wir einander gegenüber, schauen verlegen, kichern ab und an und sagen kein Wort zueinander. Das Martyrium beginnt Erstaunlich, was das mit einem macht. Weil der andere kein Gesprächspartner ist, schaut man sich automatisch nach Alternativen um. Hinter Fabians Rücken sitzen zwei alte Damen, die immer wieder kichern. Doch wohl nicht über uns? Nur weil wir nicht miteinander reden? Ich schaue missmutig weg, während Fabian fasziniert die Dame in der Anzugreinigung auf der anderen Straßenseite beobachtet. Man greift wirklich nach jedem Strohhalm. Schräg hinter mir sitzt ein alter Mann, dessen Tisch mit Kreuzworträtselheften übersät ist. Ich wende mich immer wieder halb um und schaue zu ihm hin. Vielleicht braucht er ja meine Hilfe. Aber er ist völlig in die Kreuzworträtsel versunken. “Mol-uuuu-s-keee!” Murmelt er vor sich hin. Hätte ich ihm auch sagen können. Eine Molluske ist ein Weichtier, eine Schnecke, das Ekligste, was es gibt. Aber das kann ich ja niemandem sagen. Nicht dem alten Mann, der mich ignoriert und auch nicht Fabian, der sich inzwischen von der Wäschereifrau ab- und seinem sehr großen Stück Kuchen zugewandt hat und ihn mit, wie ich meine, provokativer Freude, isst. Kuchengabelstecher Ich werde ein wenig missmutig. Dieses Schweigen hat etwas Rivalenhaftes, was ich nicht erwartet habe. Ich dachte zuerst, wir werden uns wie verlegene Leidensgenossen fühlen, die miteinander und nicht aneinander leiden. Stattdessen habe ich nach rund zehn Minuten das Gefühl, dass hier eine Art Wettstreit stattfindet, bei dem derjenige der Sieger ist, der weniger unter dem Schweigen leidet. Die Kellnerin schaut uns schon ganz neugierig an. Sie denkt sicher, dass wir ein schwules Pärchen sind, das sich gestritten hat und jetzt störrisch bei Kaffee und Kuchen sitzt. Ich wette, der alte Kreuzworträtselmann in meinem Rücken lacht uns auch aus. Ich drehe mich um und schaue streng in seine Richtung, aber er hat seinen Blick gesenkt und sinnt über irgendwas nach. Ich bin jetzt wirklich sehr unruhig. So, als würde es nicht zu mir passen, wenn ich schweige. So, als wäre ich nicht der meditative Typ, der in sich ruht, der nicht den Lärm der Welt und den der eigenen Worte braucht, um sich seiner Existenz bewusst zu sein. Fabian scheint mit der Stille viel besser zurecht zu kommen, er hat freilich auch noch sein großes Kuchenstück, das allerdings nicht mehr lange da sein wird, wenn er weiter so riesige Bissen in sich hinein schaufelt. Sicher lächelt er innerlich und triumphiert über mich. Aber äußerlich wirkt er ganz manierlich und zufrieden, sehr beherrscht. Er schaut sich auch gar nicht mehr um, auch nicht aus dem Fenster, er ist regelrecht in seinem idiotischen Kuchen versunken. Ich lockere das jetzt ein wenig auf, denke ich mir und versetze ihm unter dem Tisch einen ordentlichen Tritt gegen das Schienbein. Er zuckt nur. Schreit nicht, stöhnt nicht mal vor Schmerz. Na, wenigstens haben die beiden alten Damen überrascht zu ihm hingeschaut, auch die Kellnerin. Erst schweigen und dann rumzucken, das gibt kein gutes Bild ab. Ich lächle zufrieden. Aber gleich darauf folgt sein Gegenschlag. Er hebt tatsächlich seine Kuchengabel und sticht mir damit in den Bauch. Ein wenig, nicht lebensbedrohend, aber doch irritierend. So was macht kein altes Ehepaar. Ich sage aber nichts dazu. Ich ignoriere den Angriff. Ich ignoriere jetzt Fabian insgesamt. 35 Minuten sind um (gut, dass ich eine Uhr habe!) und ich merke, wie eine Metamorphose stattfindet. War Fabian anfänglich mein netter Leidensgenosse und später mein Konkurrent, wird er jetzt immer mehr zum bloßen Objekt. Die Metamorphose Ich weiß natürlich, dass er ein Mensch ist, noch, aber die Person ist schon sehr verschwommen. Da sitzt einfach ein Etwas. Er stört mich nicht, solange er nichts macht. Mir gegenüber könnte auch ein ausgestopftes Äffchen sitzen. Das soll kein Vergleich sein, er sieht einem Äffchen keineswegs ähnlich, weder einem lebenden noch einem ausgestopften. Was ich damit meine: Durch sein Schweigen und auch durch mein Schweigen ihm gegenüber verliert er immer mehr an Persönlichkeit, zumindest in meinen Augen. Ihm wird es mit mir vielleicht ähnlich gehen. Ich suche seinen Blick gar nicht mehr, mich interessiert gar nicht mehr, wo er hinschaut, er könnte sonst was machen, mir egal. Ist das vielleicht das Geheimnis vieler uralter Paare? Dass der andere irgendwann nur noch ein ... Objekt ist? Nein, das wäre ja furchtbar, das wäre herzlos und die Theorie ist sicher idiotisch. So was fällt einem eben ein, wenn man niemanden hat, mit dem man reden kann. Ich komme mir richtiggehend schuldig vor bei solchen herzlosen Gedanken. Mich lenkt aber auch niemand ab, das ist also nicht allein meine Schuld. Es fehlt halt auch an Attraktionen. Ich sehne mich nach irgendwem, der jetzt das Café betreten könnte, völlig egal wer, es sollte nur jemand sein, der ein wenig unterhaltsam ist. Aber noch während ich meinem griesgrämigen Wunschtraum nachhänge, scheint Fabian einen neuen Zeitvertreib entdeckt zu haben. Wie soll man das nennen? Hütchenspiel, nur mit Tasse, Teller und Tablett? Nachdem er immerhin 45 Minuten gebraucht hat, um seinen Kuchen zu essen und seinen Kaffee zu trinken, scheint er jetzt sein ganzes feinmotorisches Geschick in die Aufgabe zu investieren, das vor ihm stehende Geschirr aufeinander, nebeneinander und untereinander zu positionieren. Hütchenspiel bei Tisch Der Kuchenteller wird auf das Tablett gestellt, dann überlegt er sich anders und stellt den Kuchenteller wieder auf den Tisch, dafür wandert die Tasse aufs Tablett, gleich darauf wird sie auf den Teller gestellt, sodann Teller mit Tasse aufs Tablett, dann das Tablett mit Teller und Tasse an den äußersten Rand des Tisches, dann dasselbe quer über den Tisch ans andere Ende des Tisches und dann wieder Teller und Tasse in die Mitte des Tisches und das Tablett, nach kurzem Überlegen, wieder in die Mitte des Tisches. Die Kellnerin, die ihn die ganze Zeit beobachtet hat, muss ihn für wahnsinnig halten, was mir sehr gefällt, was mich regelrecht mit ihm versöhnt. Nichts freut einen Sonderling so sehr, wie ein Sonderling, der ihn, was die Sonderlichkeit betrifft, in den Schatten stellt. Und wir sind ja Sonderlinge, für diese eine Stunde des Schweigens, da müssen wir uns gar keinen Illusionen hingeben. Tun wir auch nicht, denn unsere Wahrnehmung, unsere Selbstbeobachtung ist jetzt nach einer Stunde aufs Äußerste geschärft. Wir könnten eine Nadel fallen hören, es spricht ja auch keiner. Die alten Damen sind inzwischen gegangen, der Kreuzworträtselmann lebt sowieso in einer anderen Welt und die Kellnerin, ach, hat sich längst gelangweilt von uns abgewandt. Da sitzen wir jetzt. Still, einsam, nicht einmal eine Uhr tickt. Ach, doch, der Perlachturm schlägt 18 Uhr. Die Stunde ist voll. Das Schweigen ist zu Ende. Erlösung, Freude, Halleluja! Mein erstes Wort nach einer Stunde: „Puh.“