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WeiterWohnen

ISBN 978-3-86859-384-6

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<strong>WeiterWohnen</strong>.<br />

Zukunftsfähige Architektur in enger werdenden Städten<br />

Herausgegeben von der Akademie<br />

der Architekten- und Stadtplanerkammer Hessen, Martin Sommer<br />

Mit Texten von<br />

Alexandra Busch und Thomas Geuder<br />

sowie Essays von<br />

Robert Kaltenbrunner, Bettina Rudhof, Petra Hagen Hodgson


Inhaltsverzeichnis<br />

<strong>WeiterWohnen</strong>.<br />

Zukunftsfähige Architektur<br />

in enger werdenden Städten<br />

4


6<br />

8<br />

Vorwort<br />

Thomas Schäfer, Brigitte Holz<br />

Einleitung<br />

Martin Sommer<br />

Essays<br />

14<br />

26<br />

36<br />

Weiter wie gewohnt? Der Städtebau, die Zukunft – und das Hergebrachte<br />

Robert Kaltenbrunner<br />

Inklusives Bauen: Wohnen inklusive<br />

Bettina Rudhof<br />

Vom guten Leben im Dazwischen<br />

Plädoyer für eine Stadt mit verdichteten Grünräumen und wohnlichen Gartenzimmern<br />

Petra Hagen Hodgson<br />

Die vorbildlichen Bauten Alexandra Busch / Thomas Geuder<br />

50<br />

58<br />

64<br />

68<br />

76<br />

82<br />

88<br />

94<br />

100<br />

108<br />

116<br />

122<br />

128<br />

134<br />

140<br />

146<br />

Gemeindezentrum mit Wohnungen, Frankfurt am Main<br />

Hansahöfe, Frankfurt am Main<br />

Wohnquartier Wörsbachaue, Idstein<br />

Quartierszentrum Heinrich-Lübke-Siedlung, Frankfurt am Main<br />

Haus Silberdisteln – Wohnen im Alter, Kronberg<br />

Sanierung und Erweiterung Evangelische Studentengemeinde, Gießen<br />

Sanierung Internationales Gästehaus der Hochschule Darmstadt<br />

Umbau und Modernisierung des Bardelebenplatzes, Kassel<br />

Quartiersplatz Am Hirtsrain, Fulda<br />

Mehrfamilienwohnhaus Paradiesgasse 13, Frankfurt am Main<br />

Sanierung und Revitalisierung eines Wohn- und Geschäftshauses, Hanau<br />

St. Antoniusheim, Wohngemeinschaft Vinzenz, Fulda<br />

Haus J., Darmstadt<br />

Haus S., Wiesbaden<br />

Haus H., Bad Homburg<br />

Haus W., Frankfurt am Main<br />

Anhang<br />

156<br />

158<br />

159<br />

Verzeichnis der Architekten der prämierten Bauten<br />

Der Architekturpreis – Auslober und Jury<br />

Fotonachweis<br />

5


Vorwort<br />

Das Hessische Ministerium der Finanzen und<br />

die Architekten- und Stadtplanerkammer<br />

Hessen haben erneut einen der ältesten Architekturpreise<br />

in Deutschland verliehen: Die<br />

„Auszeichnung vorbildlicher Bauten im Land<br />

Hessen“. Im Jahr 2014 feierte die Auszeichnung<br />

zugleich ihr 60-jähriges Jubiläum. Ziel ist es,<br />

der Öffentlichkeit vorbildliche Lösungen in den<br />

Bereichen Architektur, Innenarchitektur, Landschaftsarchitektur<br />

und Stadtplanung näherzubringen.<br />

Dem Wettbewerb, der traditionell alle drei Jahre<br />

stattfindet, liegt jeweils ein Thema zugrunde.<br />

Nichts lag aktuell näher, als das Thema „Wohnen<br />

und Wohnumfeld“ in den Mittelpunkt zu<br />

stellen. Wohnen gehört zu den elementaren Bedürfnissen<br />

des Menschen. Gleichzeitig ist das<br />

Wohnen einem ständigen Wandel unterworfen.<br />

Es weist regional, sozial und gesellschaftlich<br />

sehr unterschiedliche Facetten auf. Die Wohnung<br />

beeinflusst den Alltag eines jeden Einzelnen<br />

und seine individuellen Entfaltungsmöglichkeiten.<br />

Wohnen bedeutet daher mehr als nur<br />

Unterkunft. Es ist auch ein Ort der Selbstdarstellung.<br />

An vielen Orten wächst der Druck auf den Wohnungsmarkt.<br />

Als Folge des demografischen<br />

Wandels und eines anhaltenden Zuzugs in die<br />

Städte übersteigt die Nachfrage nach preisgünstigem<br />

Wohnraum und Baugrund insbesondere<br />

in den Ballungsgebieten das Angebot.<br />

Zeitgleich verlieren ländliche Regionen an Bevölkerung.<br />

Diese Asymmetrie wird durch die anhaltende<br />

internationale Zuwanderung nach<br />

Deutschland zusätzlich verstärkt.<br />

Bei allen Anstrengungen, die Wohnungsbautätigkeit<br />

zu intensivieren, dürfen Fehler der Vergangenheit<br />

nicht wiederholt werden. Im Rahmen<br />

aller Investitionen und Planungen ist dafür<br />

Sorge zu tragen, dass nicht nur gute Gebäude,<br />

sondern nachhaltige und gemischt genutzte<br />

Quartiere entstehen, zu denen ein zukunftsfähiger<br />

Wohnungsmix, aber auch ein übergreifendes<br />

Energiekonzept und identitätsstiftende<br />

öffentliche Räume gehören. Es gibt nach wie<br />

vor vielfältige Möglichkeiten, gute neue Wohnungen<br />

zu realisieren und den Altbaubestand<br />

zukunftsgerecht weiterzuentwickeln.<br />

Wir freuen uns über herausragende Projekte,<br />

die das Thema „Wohnen und Wohnumfeld“ –<br />

vom städtebaulichen und landschaftsplanerischen<br />

Konzept über den Hochbau bis zur Innenraumgestaltung<br />

– kreativ aufgreifen und viele<br />

interessante Anregungen geben.<br />

6


Die eingereichten Arbeiten beschäftigen sich mit<br />

Ein- und Mehrfamilienhäusern, aber auch mit<br />

Geschosswohnungsbauten und gemeinschaftlichen<br />

Wohnprojekten. Sie berühren den Neubau,<br />

die Sanierung, die Erweiterung und den Umbau.<br />

Die Herausforderungen wachsen, je stärker<br />

diese Bauaufgaben durch ökonomische Zwänge<br />

eingeschränkt sind. Daher ist es ausgesprochen<br />

erfreulich, dass unter den prämierten Objekten<br />

auch solche sind, bei denen mit geringen Kosten<br />

beeindruckende Ergebnisse erzielt wurden.<br />

Aus nahezu 100 eingegangenen Bewerbungen<br />

wurden durch eine renommiert besetzte Jury,<br />

unter Vorsitz von Professor Thomas Jocher aus<br />

München, sieben Objekte für eine Auszeichnung<br />

ausgewählt. Das hohe Qualitätsniveau der eingereichten<br />

Arbeiten hat die Jury dazu bewogen,<br />

zusätzlich zu diesen Auszeichnungen zehn<br />

weitere Arbeiten mit einer „Besonderen Anerkennung“<br />

zu würdigen.<br />

Das vorliegende Buch stellt die ausgezeichneten<br />

Projekte vor. Es würdigt herausragende<br />

Leistungen und beleuchtet mit begleitenden<br />

Texten den aktuellen Diskurs zum Thema Wohnungsbau<br />

aus verschiedenen Perspektiven.<br />

Wir gratulieren den Preisträgern zu ihrem Erfolg!<br />

Dr. Thomas Schäfer<br />

Hessischer Minister der Finanzen<br />

Brigitte Holz<br />

Präsidentin der Architekten- und Stadtplanerkammer<br />

Hessen<br />

Allen prämierten Arbeiten ist eines gemeinsam:<br />

Sie konnten besonders überzeugen, weil<br />

engagierte Bauherrinnen und Bauherren mit<br />

ambitionierten Architektinnen und Architekten<br />

zusammengearbeitet haben. Ihnen allen gelten<br />

unsere Anerkennung und unser Dank.<br />

7


Einleitung<br />

Martin Sommer<br />

Weiter Wohnen<br />

Am gesamten Baugeschehen hat der Wohnungsbau,<br />

sowohl bezogen auf den Neubau als<br />

auch auf die Gebäudesanierung, einen hohen<br />

Anteil. Das an sich ist nicht neu, die Anforderungen<br />

an den Neubau wie den Umbau von<br />

Wohngebäuden, aber auch an ihr Umfeld sind<br />

zurzeit jedoch quantitativ wie qualitativ vielschichtiger<br />

denn je.<br />

Eine besondere Herausforderung stellt der<br />

demografische Wandel dar. Er ist nicht nur<br />

geprägt von einer zunehmend alternden und<br />

multikulturelleren Gesellschaft, sondern auch<br />

von wachsender Individualisierung und veränderten<br />

sozialen Strukturen, in denen das<br />

tradierte Familienbild nur noch eine von verschiedenen<br />

Varianten des Zusammenlebens<br />

ist.<br />

Unverkennbar ist auch der Trend zu Lebensabschnittsimmobilien.<br />

Es ist nicht mehr wie<br />

früher, wo das bis ins hohe Alter genutzte<br />

Einfamilienhaus das Traumhaus fürs Leben war.<br />

Heute ist oft mit dem Auszug der Kinder der<br />

Umzug in eine innerstädtische Wohnung verbunden.<br />

Um im hohen Alter lange so selbstbestimmt<br />

wie möglich leben zu können, werden<br />

danach Angebote des Betreuten Wohnens<br />

gesucht.<br />

Insgesamt ist das „Zurück in die Stadt“ mehr<br />

als ein Trend. Hiervon profitiert nicht nur die<br />

klassische Wohnungswirtschaft, auch Baugruppen<br />

und Genossenschaften beanspruchen<br />

mit zunehmendem Zulauf berechtigt Platz.<br />

Man darf dabei jedoch nicht aus dem Blick<br />

verlieren, dass die Situationen in ländlichen<br />

Räumen und Ballungsräumen – Leerstand auf<br />

der einen Seite, ein eklatanter Mangel an bezahlbarem<br />

Wohnraum und preisgünstigen<br />

Neubaugrundstücken auf der anderen Seite –<br />

völlig unterschiedlich sind.<br />

Auf dem Land liegt eine große Herausforderung<br />

darin, seine Infrastruktur so attraktiv zu halten,<br />

dass es ein beliebter Wohnstandort mit eigenen,<br />

besonderen Qualitäten bleibt. In den<br />

Städten sind verborgene Ressourcen durch<br />

Arrondierung, Nachverdichtung, Umnutzung<br />

oder andere, unkonventionelle Modelle der<br />

Bauland- und Wohnraumschaffung zu entwikkeln.<br />

Im Rahmen aller Investitionen und Planungen ist<br />

jedoch Sorge dafür zu tragen, dass nicht nur<br />

gute Gebäude, sondern nachhaltig gemischt<br />

genutzte Quartiere entstehen, zu denen ein zukunftsfähiger<br />

Wohnungsmix, aber auch ein<br />

übergreifendes Energiekonzept und ein gutes<br />

Zusammenwirken von privaten und öffentlichen<br />

Räumen gehören.<br />

Ein attraktiver öffentlicher Raum ist das bestimmende<br />

Merkmal der europäischen Stadt, die<br />

Beziehung der privaten zur öffentlichen Sphäre<br />

ein grundlegendes Thema. Wir wissen, dass die<br />

differenzierte Gestaltung der Übergänge und<br />

der Übergangsräume von Gebäuden zu Freiräumen<br />

entscheidend sowohl für die Qualität<br />

des Wohnungsbauprojektes wie des un mittelbar<br />

anschließenden öffentlichen Raumes sind. Qualitätsvolle<br />

Wohngebäude weisen daher nicht nur<br />

gute Grundrisse und Fassaden auf, sie vermitteln<br />

auch zwischen Innen und Außen.<br />

Schon der städtebauliche Entwurf legt auf<br />

grundlegende Weise das jeweilige Maß an Nähe<br />

und Distanz fest. Aktuell spannend ist, dass<br />

sich einerseits die private Sphäre ausweitet,<br />

dass andererseits ein zunehmender Wunsch<br />

nach Urbanität und Kollektivität besteht. Dies<br />

verlangt unsere sehr sorgfältige Auseinanderset-<br />

8


zung mit baulich-räumlichen wie sozialkommunikativen<br />

Schnittstellen.<br />

Wesentliche Parameter hierfür werden durch architektonische,<br />

städtebauliche und landschaftsplanerische<br />

Typologien festgelegt, die im<br />

Zusammenwirken das richtige Maß an Durchlässigkeit<br />

und Abschirmung, an Einblick und<br />

Ausblick bestimmen, die aufzeigen, wo die sogenannten<br />

Verhandlungsräume zwischen Individuum,<br />

Familie, Gruppe, Nachbarschaft, Quartier<br />

und Stadt liegen.<br />

Zukunftsfähige Architektur in enger werdenden<br />

Städten<br />

Dieses Buch thematisiert Bauaufgaben aus dem<br />

Bereich „Wohnen“ und „Wohnumfeld“. Typologisch<br />

wird ein breites Feld abgebildet: Ein- und<br />

Mehrfamilienhäuser, Geschosswohnungsbauten,<br />

Bauten für gemeinschaftliches Wohnen,<br />

reine Wohngebäude wie auch gemischt genutzte<br />

Häuser, private, halböffentliche und öffentliche<br />

Freiräume. Der Fokus liegt dabei auf<br />

dem städtischen Raum.<br />

Neubau und Bestandssanierung sind unter den<br />

gezeigten Beispielen gleichermaßen vertreten.<br />

Unter den Neubauten wiederum findet sich eine<br />

Reihe von Ersatzneubauten, während das<br />

Bauen „auf der grünen Wiese“ in den Hintergrund<br />

tritt. Dies spiegelt gut auch grundsätzliche<br />

Tendenzen im aktuellen Baugeschehen<br />

wider, nach denen das Bauen im Bestand mittlerweile<br />

dominiert.<br />

Zur Erreichung von Klimaschutzzielen ist das<br />

Prinzip „Innen vor Außen“ bei der Siedlungsentwicklung<br />

ein sehr wichtiger Baustein. So werden<br />

der weitere Flächenverbrauch von<br />

Landschaft und die damit verbundene Bodenversiegelung<br />

zumindest reduziert. Heute werden<br />

in Deutschland pro Tag circa 69 Hektar als<br />

Siedlungs- und Verkehrsflächen neu ausgewiesen;<br />

Ziel der Bundesregierung ist es, diesen<br />

Wert bis zum Jahr 2020 auf maximal 30 Hektar<br />

täglich zu begrenzen. Eine verstärkte Innenentwicklung<br />

hilft nicht nur, die Naturlandschaft<br />

zu schonen, sondern auch, den motorisierten<br />

Individualverkehr mit seinen klimaschädlichen<br />

Auswirkungen nicht weiter anwachsen zu<br />

lassen: Indem Wohnstandorte näher an die<br />

Arbeitsstätten herangeführt werden, lässt sich<br />

grundsätzlich auch der Mobilitätsaufwand<br />

verringern.<br />

Nicht nur in der Stadtentwicklung, sondern im<br />

gesamten Baugeschehen gehören Klimaschutz<br />

und Energieeffizienz zu den beherrschenden<br />

Themen. Da der Gebäudebereich mit nahezu<br />

40 Prozent einen ganz wesentlichen Anteil am<br />

Gesamtenergieverbrauch in Deutschland und<br />

den damit verbundenen CO2-Emissionen ausmacht,<br />

wurden die gesetzlichen Anforderungen<br />

an die Gebäudeenergieeffizienz immer wieder<br />

nachjustiert und in zunehmend engerer Taktung<br />

verschärft. Dies betrifft gleichermaßen Wohnund<br />

Nichtwohngebäude, Neubauten und Sanierungen.<br />

Dabei steht nach den geltenden rechtlichen<br />

Bestimmungen der maximal zulässige Energiebedarf<br />

zur Nutzung des Gebäudes im Fokus:<br />

Bei Wohngebäuden geht es vorrangig um<br />

Beheizung und Warmwasserbereitung, bei<br />

Nichtwohngebäuden darüber hinaus auch um<br />

Kühlung, Lüftung und Beleuchtung. Neben<br />

maximal zulässigen Energiebedarfswerten sind<br />

auch Anforderungen zur anteiligen Nutzung<br />

erneuerbarer Energien definiert.<br />

Zu einer belastbaren Energiebilanz eines Gebäudes<br />

gehört indes mehr als die Ermittlung<br />

9


12


Essays<br />

Robert Kaltenbrunner<br />

Bettina Rudhof<br />

Petra Hagen Hodgson<br />

13


Weiter wie gewohnt? Der Städtebau, die Zukunft – und das Hergebrachte<br />

Robert Kaltenbrunner<br />

Der englische Philosoph und Humanist Thomas<br />

Morus brachte es schon vor einem halben<br />

Jahrtausend auf den Punkt: „Tradition ist nicht<br />

das Halten der Asche, sondern das Weitergeben<br />

der Flamme“, belehrte er seine Zeitgenossen.<br />

Und der Dramatiker George Bernhard Shaw,<br />

englischsprachiger Literaturnobelpreisträger von<br />

1925, urteilte knapp 400 Jahre später: „Tradition<br />

ist eine Laterne, der Dumme hält sich an ihr<br />

fest, dem Klugen leuchtet sie den Weg.“<br />

Recht dynamisch scheinen sich Traditionen<br />

wie auch ihre Rezeption zu verhalten. Das<br />

gilt im Bereich von Architektur und Städtebau<br />

nicht minder als etwa in Bezug auf Literatur<br />

oder Philosophie. Alles grundstürzend neu<br />

machen zu wollen: Das stellt heute wohl kaum<br />

(mehr) das Paradigma des Planens und Bauens<br />

dar. Freilich zeigt ein Blick auf die Entwicklung<br />

architektonischer und städtebaulicher Grundgedanken<br />

im letzten Jahrhundert, dass wir es<br />

mit einer ständigen Veränderung von Schwerpunkten<br />

und Wertmaßstäben zu tun haben.<br />

Ein großer Teil der Wandlungen stammt dabei<br />

aus der Unlust am vorher Gängigen. Meinungsbildung<br />

vollzieht sich offenbar in Pendelschwüngen.<br />

Neue Gedanken, im Ansatz durchaus<br />

fruchtbar, werden modisch aufgemacht und<br />

theoretisch angefüttert, mit überhöhten Erwartungen<br />

befrachtet – und schnell verworfen,<br />

wenn sich diese Annahmen nicht erfüllen oder<br />

wenn man der entsprechenden Images überdrüssig<br />

wird. i Und es besteht kein Anlass zu<br />

der Vermutung, dass solche „Wechselmoden“<br />

sich nicht fortsetzen.<br />

Im Sinne der Dialektik wäre es angebracht, das<br />

Sowohl-als-auch zu denken und zu akzeptieren;<br />

vor allem im beharrlichen Metier von<br />

Architektur und Stadt: Denn man kann Gegner<br />

mancher Rekonstruktionen sein – aber andere<br />

durchaus für angemessen halten. Man kann<br />

begeisterter Anhänger dezidiert moderner<br />

Baukunst sein – und währenddessen für ein<br />

historisches Relikt mit Herzblut kämpfen. Man<br />

kann im Altbau leben – und zugleich von den<br />

schlanken Profilen der 1950er Jahre hingerissen<br />

oder Freund des beton brut sein. Eingedenk<br />

dieser inneren Widersprüchlichkeit soll das<br />

Thema „Zukunftsfähige Wohnarchitektur in enger<br />

werdenden Städten“ anhand von vier Stichworten<br />

beziehungsweise Kategorien nachrespektive<br />

vorgezeichnet werden.<br />

Wohnen: Heimisch werden im Gebauten<br />

„Die Urform allen Wohnens ist das Dasein nicht<br />

im Haus, sondern im Gehäuse“, meinte Walter<br />

Benjamin. Damit spielte er auf die Wohnung des<br />

19. Jahrhunderts an, das „Futteral“ des<br />

Menschen. Die moderne Architektur brachte<br />

dann Licht und Luft in die Wohnung, ein<br />

Wechselspiel zwischen Abdruck und Ausdruck<br />

seiner Bewohner. Gemessen daran kann man<br />

sich nur wundern, wie starr die entsprechenden<br />

Grundrisse meist sind, wie sehr sie gleichsam<br />

top-down gestaltet werden. Zwar hatten die<br />

Architekten seit den 1920er Jahren das Wohnen<br />

als „ihre“ Aufgabe entdeckt: Sie wollten Haus<br />

und Wohnung nach rationell-funktionalen, ihnen<br />

als vernünftig erscheinenden Gesichtspunkten<br />

gestaltet wissen. Aber ganz selbstverständlich<br />

nahmen sie an, dass sich die Menschen ebenfalls<br />

nach diesen Maßstäben erziehen lassen<br />

würden. Was als „befreites Wohnen“ proklamiert<br />

wurde, ähnelte alsbald einer Zwangsjacke.<br />

Minimalmaße wurden oft genug als notwendige<br />

Maße missverstanden und mussten als Ausgangspunkt<br />

für den Entwurf herhalten. Die<br />

„Wohnung für das Existenzminimum“, so hieß<br />

es schon in den frühen 1930er Jahren, ist zur<br />

Richtschnur, ja zum Ausgangspunkt für den<br />

Gestaltungswillen geworden. Das mag über-<br />

14


zeichnet erscheinen. Andererseits jedoch muss<br />

man fragen: Warum ist die Binnendifferenzierung<br />

unserer heutigen Sozialbau- oder<br />

Mietwohnungen oder auch des Eigenheims in<br />

der Regel kaum weiter fortgeschritten als im<br />

Nürnberger Stadthaus der Dürerzeit oder ein<br />

Jahrhundert später in den Niederlanden?<br />

Aller Intensität und Kreativität zum Trotz, die<br />

namhafte Architekten seit einem Jahrhundert im<br />

Entwurf von Wohnungen und Wohnhäusern an<br />

den Tag gelegt haben, sind deren Grundkonstanten<br />

nicht aus den Angeln gehoben worden.<br />

Bei allen kulturellen Differenzierungsleistungen<br />

im Erscheinungsbild und im Gebrauch ist das<br />

Wohnen eine anthropologische Konstante, ein<br />

Teil des Bedürfnishaushalts geblieben. Mit<br />

Sicherheit hat Ikea das zeitgenössische Wohnen<br />

stärker beeinflusst als die Werke und Konzepte<br />

irgendeines Baumeisters.<br />

Wobei das mit den Wohnbedürfnissen so eine<br />

Sache ist. Nicht nur ausreichend groß, bezahlbar<br />

und kommod, auch flexibel soll es sein, das<br />

eigene Heim. Sich in stärkerem Maße an sich<br />

verändernde Lebenssituationen anzupassen, ist<br />

als Desiderat seit Langem erkannt und<br />

benannt. 2 Die nicht determinierten Räume von<br />

Gründer- zeitwohnungen mit ihren mehrfachen<br />

Erschlie- ßungen bieten hier fraglos mehr<br />

als die – auf die vermeintlichen Gebrauchsmuster<br />

der Kleinfamilie abzielenden –<br />

Grundrisse des modernen Wohnungsbaus.<br />

Auch die Popularität, derer sich Lofts bei einem<br />

bestimmten, meist frei- beruflichen Klientel<br />

erfreuen, spricht diesbezüg- lich Bände.<br />

Trotzdem muss man konstatieren, dass sich im<br />

Wohnungsbau fast nur im „gehobenen“<br />

Marktsegment etwas bewegt – und dann eher<br />

im Servicebereich mit Doorman oder in<br />

Boardinghouse-Konzepten als bei der Realisierung<br />

flexibler Wohnformen.<br />

Freilich muss der Wohnungsbau auch dem –<br />

zutiefst menschlichen – Aspekt Rechnung<br />

tragen, dass man sich „verbessern“, dass man<br />

es sukzessive „schöner haben“ möchte. Doch<br />

wie sollen Umzugsbiografien und Aufstiegswünsche<br />

beim Wohnen funktionieren, wenn<br />

(fast) alles schon gebaut ist? Darf man sich der<br />

Hoffnung hingeben, dass heute mehr Aufmerksamkeit<br />

für Qualität einkehrt, dass das Schlagwort<br />

von „Masse statt Klasse“ sich umkehrt?<br />

Oder muss man damit rechnen, dass die<br />

Nachfrage bloß durch billigere Bauproduktion<br />

angeschoben wird? Es wäre auszuloten, ob der<br />

Wohn- und Baubedarf sich nach den Regeln<br />

der Produktinnovation gestalten lässt, wo über<br />

Produktdesign ziemlich zuverlässig neue<br />

Nachfrage in Gang gesetzt wird. Wobei jede<br />

Innovation das weitverbreitete Unbehagen<br />

gegenüber dem Neuen berücksichtigen muss.<br />

Augenscheinlich setzt die „Wohnungsproduktion“<br />

in sich – programmatisch und entwerferisch<br />

– eine Auseinandersetzung mit Widersprüchen<br />

voraus: Individualisierung versus Massenproduktion,<br />

kulturelle Heterogenität versus regionale<br />

Identitäten, gemeinsamer Raum versus funktionale<br />

Flächennutzung. Insofern kann der<br />

Wohnungsbau weniger Lösungen in Aussicht<br />

stellen als mit widersprüchlichen Besonderheiten<br />

experimentieren. Will man darin eine<br />

Standortbestimmung vornehmen, dann wäre<br />

das Machbare irgendwo zwischen Traumhaus<br />

und Fertighaus anzusiedeln. Nachdem bis in die<br />

1970er Jahre hinein der Wohnungsbau einem<br />

fordistischen Konzept folgte und Produzenten<br />

wie Architekten sich an der Durchschnittsfamilie<br />

und -wohnung leitbildhaft orientierten, müssen<br />

sich heutige Vorstellungen auf dem schmalen<br />

Grat zwischen Norm und Wunsch bewegen.<br />

Der Wandel gesellschaftlicher Rahmenbedingungen<br />

3 erzwingt ein Umdenken. Neben dem<br />

wachsenden Stellenwert, den die energie- und<br />

15


Inklusives Bauen: Wohnen inklusive<br />

Bettina Rudhof<br />

Die bürgerliche Öffentlichkeit steht und fällt<br />

mit dem Prinzip des allgemeinen Zugangs.<br />

Eine Öffentlichkeit, von der angebbare<br />

Gruppen eo ipso ausgeschlossen wären, ist<br />

nicht etwa nur unvollständig, sie ist vielmehr<br />

gar keine Öffentlichkeit.<br />

Jürgen Habermas, Strukturwandel der<br />

Öffentlichkeit, 1962<br />

Den Belangen einer alternden Gesellschaft wie<br />

der zunehmenden Individualisierung der Lebensweisen<br />

sollen künftig auch die öffentlichen<br />

Anlagen, Siedlungsbauten und Wohnhäuser<br />

unserer Städte und Gemeinden Rechnung<br />

tragen. 2030, also in nur 16 Jahren, werden<br />

30 Prozent der hessischen Bürger 65 Jahre und<br />

älter sein: so viele wie nie zuvor. Zugleich ist der<br />

Anteil der Alleinlebenden seit 1991 um 40<br />

Prozent gestiegen, seit 2014 sind 38 Prozent<br />

der Haushalte in Hessen Einpersonenhaushalte<br />

– auch das ein Höchststand. Wir werden<br />

weniger, bunter und älter. Doch obwohl schon<br />

heute jeder fünfte hessische Haushalt ein reiner<br />

Seniorenhaushalt ist, sind nur 5 Prozent der<br />

Wohnungen und Wohnhäuser barrierearm. In<br />

der Behebung dieses Rückstands geht es<br />

allerdings nicht nur um die Reduktion baulicher<br />

Hindernisse. Es geht auch und vor allem um<br />

den Abbau von Barrieren in den Köpfen, um<br />

eine gewandelte Alltagspraxis, die dem<br />

Zusammenleben von Menschen mit und ohne<br />

Behinderungen gerecht zu werden vermag. Weil<br />

der Arbeit von Architekten und ihrem beruflichen<br />

Selbstverständnis dabei eine besondere<br />

Bedeutung zukommt, sollen die prämierten<br />

Wohnanlagen und Bauten im Folgenden auf ihre<br />

inklusiven Qualitäten untersucht werden.<br />

Wörtlich übersetzt bedeutet Inklusion Zugehörigkeit,<br />

also das Gegenteil von Ausgrenzung.<br />

Gelungene Inklusion wird möglich, wenn jeder<br />

Mensch – mit oder ohne Behinderung – überall<br />

dabei sein kann, in der Schule, am Arbeitsplatz,<br />

im Wohnviertel, in der Freizeit. Sie zeigt sich<br />

deshalb zunächst im öffentlichen Raum, und<br />

dort hat sich in den letzten Jahrzehnten<br />

tatsächlich einiges verbessert. Immer mehr<br />

Städte und Gemeinden arbeiten konsequent am<br />

barrierefreien Umbau ihrer Verkehrsanlagen und<br />

der öffentlich zugänglichen Bauten. Davon<br />

profitieren die Benutzer von Kinderwagen,<br />

Rollatoren und Rollstühlen gleichermaßen. Wo<br />

noch vor wenigen Jahren große Treppenanlagen<br />

zu schweren Eingangsportalen führten, wo<br />

Rollstuhlfahrer in Begleitung des herbeigerufenen<br />

Pförtners den Nebeneingang nutzen<br />

mussten, erleichtern heute Automatiktüren und<br />

Fahrstühle den freien Zugang. Bei der vertikalen<br />

Erschließung kommt, neben dem Aufzug, der<br />

Rampe eine entscheidende Bedeutung zu.<br />

Dabei öffnen Rampen nicht nur barrierefreien<br />

Zugang, sondern rücken die Bewegung, das<br />

Durchwandern des gebauten Raums in den<br />

Vordergrund und vermitteln so elegant zwischen<br />

den Ebenen. Das Quartierszentrum Heinrich-<br />

Lübke-Siedlung mit seiner innovativen<br />

26


Rampentreppe bietet dafür ein brauchbares<br />

Modell.<br />

Der Beitrag guter Architektur zur Entfaltung der<br />

sozialräumlichen Qualitäten eines Wohnquartiers<br />

lässt sich auch am Evangelischen Gemeindezentrum<br />

in der Frankfurter Hafenstraße<br />

zeigen. Hier wird sichtbar, dass und wie<br />

gelungene architektonische Neuerungen ganz<br />

unterschiedlichen Bewohnergruppen die<br />

gemeinsame Teilhabe am öffentlichen Leben<br />

einer in dynamischer Entfaltung begriffenen<br />

Stadt ermöglichen können.<br />

Inklusion wird aber auch dort gefördert, wo<br />

öffentliches Bauen auf die möglichst freie<br />

Entfaltung der besonderen Fähigkeiten von<br />

Menschen mit und ohne Behinderungen setzt.<br />

Geradezu beispielhaft lässt sich am Antoniusheim<br />

in Fulda erfahren, wie eine auf Inklusion<br />

ausgerichtete Bauweise nicht nur ein gelebtes<br />

Miteinander fördert, sondern ihm auch einen<br />

angemessenen sozialräumlichen und baulichen<br />

Ausdruck verleihen kann.<br />

werden. So lassen sich Wohnungen zusammenlegen,<br />

aber auch trennen, wenn die bislang<br />

hinter einer Schrankwand verborgenen Installationsanschlüsse<br />

den Einbau einer Küchenzeile<br />

ermöglichen, wenn Badewannen umstandslos<br />

bodengleichen Duschen weichen.<br />

Mit offenen Grundrissen, fließenden Raumfolgen<br />

und Schiebetüren sorgen das Mehrfamilienhaus<br />

in der Frankfurter Paradiesgasse und das<br />

Kronberger Stadthaus Silberdisteln für eine<br />

flexible und barrierefreie Nutzung ihrer Wohneinheiten.<br />

Sie stellen eindrucksvolle Beispiele<br />

altersgerechter Siedlungsbauten dar, die<br />

ebenso mit architektonischem wie mit sozialem<br />

Ethos errichtet wurden.<br />

Von Inklusion kann auch gesprochen werden,<br />

wenn Siedlungsbauten lebenszyklusorientiert,<br />

das heißt mit Weitblick, errichtet sind, sodass<br />

dort Menschen jeden Alters ein selbstbestimmtes<br />

und damit weitgehend unabhängiges Leben<br />

führen können. Im Mittelpunkt eines solchen<br />

Wohnungsbaus steht seine Wandlungsfähigkeit,<br />

spätere Anpassungen können in<br />

kurzer Bauzeit kostengünstig vorgenommen<br />

27


Vom guten Leben im Dazwischen<br />

Plädoyer für eine Stadt mit verdichteten Grünräumen und wohnlichen Gartenzimmern<br />

Petra Hagen Hodgson<br />

Wir kennen das Phänomen nunmehr seit etlicher<br />

Zeit: Die Städte in den prosperierenden<br />

Gebieten Europas wachsen stetig an. Sie sind<br />

auch in Deutschland besonders bei der jüngeren<br />

Generation wieder attraktiv geworden. Ganze<br />

Innenstadtgebiete sind gentrifiziert, die Cafélatte-Kultur<br />

wächst, die Festivalisierung floriert.<br />

Zugleich frisst sich die Agglomeration unaufhaltsam<br />

weiter in die Landschaft, kostengünstiger<br />

Wohnraum und weniger Lukratives wird an den<br />

Rand gedrängt, während sich ländliche<br />

Regionen entleeren. Zahlreiche Kleinstädte und<br />

Dörfer schrumpfen und entvölkern sich, weil die<br />

Infrastruktur durch Privatisierungswellen,<br />

Fusionen und Konzentrationen mehr und mehr<br />

zusammenbricht: Krankenhäuser, Kindergärten<br />

und Geschäfte schließen, Bahn- und Busstrecken<br />

werden abgebaut, das kulturelle Leben<br />

versandet. In Deutschland finden wir dieses<br />

Phänomen vor allem im Osten des Landes, aber<br />

längst nicht nur. Immer mehr möchten nicht,<br />

andere können nicht auf die Angebote der Stadt<br />

verzichten.<br />

Wenn heute die Mehrheit der Menschen in urbanen<br />

Räumen wohnt, tut sie dies, auch wenn<br />

die Verlärmung der Umwelt unaufhörlich steigt<br />

und das Stadtklima gesundheitlich belastender<br />

wird. Im Zuge gesteigerter Mobilität, moderner<br />

digitaler Kommunikationsmittel und des sich<br />

weltweit vollziehenden Wandels in der Arbeitswelt<br />

haben wir es mit immer neuen Beschleunigungen<br />

zu tun. Heute wird am Arbeitsplatz<br />

nicht mehr Beständigkeit belohnt, sondern<br />

kurzfristiges, ökonomistisches Denken, womit<br />

permanente Flexibilität und ständige strukturelle<br />

Veränderungen zur Tagesordnung gehören.<br />

Arbeitsplätze sind nicht gesichert, Umziehen ist<br />

angesagt. Richard Sennett hat uns eindrücklich<br />

beschrieben, dass dem flexiblen, als isoliertes<br />

Individuum lebenden Menschen von heute die<br />

menschliche Verankerung fehlt 1 – in der Arbeitswelt,<br />

in der Gemeinschaft, in der traditionellen<br />

Nachbarschaft. Nach Walter Siebel basierte sie<br />

auf einer Produktionsgemeinschaft Gleichgesinnter.<br />

2 „Ich bin ein Städter, ich bin ein<br />

Mieter und kein Bauer, der auf eigner Erde lebt,<br />

und also ein Nomade; der Mieter-Nachbar ist<br />

eine zufällig-erzwungene Nachbarschaft, oft<br />

eine sehr flüchtige Nachbarschaft, und meistens<br />

wäre es kein Verlust, wenn ich diesem Nachbarn<br />

nicht in die Küche oder die Loggia sähe“ 3 ,<br />

schrieb Max Frisch 1953. Frisch setzte auf<br />

moderne Transportmittel und fand seine<br />

Nachbarn aus „Wahlverwandtschaft“ etliche<br />

Stationen weiter am Strang der Schnellbahn.<br />

Damit zeigte er schon früh eine Entwicklung zur<br />

Individualisierung der Gesellschaft auf, bei der<br />

moderne Nachbarschaft enträumlicht und als<br />

informelles Netz komplexer zu betrachten ist. 4<br />

Doch viele, nicht alle Menschen sehnen sich<br />

heute wieder nach mehr Bodenhaftung, nach<br />

mehr Identifikation im häuslichen Umfeld, nach<br />

mehr Miteinander und mehr Bezug im Realen.<br />

Der ungebrochene Wunsch nach einem Einfamilienhaus<br />

im Grünen und dem Aufenthalt in<br />

der Natur und mit der Natur reiht sich hier<br />

ebenso ein wie die neuen Formen des gemein-<br />

36


schaftlichen urbanen Gärtnerns, die bei<br />

genauerer Betrachtung ganz so neu ja eigentlich<br />

gar nicht sind. Sie zeigen vor allem eines:<br />

die Freude am gemeinsamen, sinnstiftenden,<br />

handwerklichen Tun.<br />

Bauliche Verdichtung und Verdichtung nach<br />

innen heißt die Zauberformel in der zeitgenössischen<br />

städtebaulichen Theoriediskussion<br />

sowie in der praktischen Umsetzung, um einer<br />

weiteren Verstädterung und Zersiedelung<br />

entgegenzuwirken. Diese Vorstellungen finden<br />

große Akzeptanz angesichts wachsenden<br />

Wohnraumbedarfs bei steigenden Bodenpreisen<br />

und damit lukrativer Verwertbarkeit von Landreserven,<br />

aber auch aus ökologisch-energetischen<br />

Überlegungen. So werden Industriebrachen<br />

umgenutzt, kleinteilige Häuser durch<br />

zunehmend großmaßstäblichere Einzelbauten<br />

ersetzt, Büro- und Geschäftskomplexe sowie<br />

dichte Wohnüberbauungen in bestehende<br />

Strukturen gestellt und ganze Quartiere mit<br />

neuen öffentlichen Räumen entworfen – mit mal<br />

weniger und mal mehr urbanen Qualitäten.<br />

Beim steten Umbau unserer Lebensräume wird<br />

gerade den dazugehörigen Außenräumen meist<br />

zu wenig Beachtung geschenkt – zumal sie vor<br />

allem quantitativ als bebaubare, verwertbare<br />

Fläche betrachtet werden und ihr Unterhalt<br />

nicht nur angesichts leerer kommunaler Kassen<br />

pflegeleicht sein soll und eigentlich nichts<br />

kosten darf. Ihr potenziell hoher ökologischer<br />

Wert, der den sich aufheizenden Städten und<br />

dem Verlust an Biodiversität zumindest teilweise<br />

entgegenwirken könnte, wird noch zu wenig<br />

geschätzt. Zugleich weisen viele Freiräume<br />

wenig Aufenthaltsqualität auf, bleiben anonymes,<br />

„optimiertes“ Abstandsgrün mit minimaler<br />

Einheitsbepflanzung oder werden im Zuge von<br />

Verdichtungsmaßnahmen zu reinen Durchgangsorten<br />

degradiert. Hier lohnt ein multiperspektivischer<br />

Blick verschiedener Disziplinen.<br />

Landschaftsarchitekten, Soziologen, Biologen<br />

und Stadtökologen könnten etwa bei Architekturwettbewerben<br />

hinzugezogen werden;<br />

schließlich muss sich die Gesellschaft die Frage<br />

stellen, welche Art von Grünräumen sie sich<br />

leisten will, vielleicht muss.<br />

Um zu einem lebensdienlichen Ansatz zu<br />

gelangen, braucht es neben den baulichen<br />

Verdichtungskonzepten tragende freiräumliche<br />

Konzepte, damit Lebensqualität und Wohlbefinden<br />

in unseren Städten erhalten bleiben.<br />

Vor allem der Diskussion um Grünräume des<br />

direkten Wohnumfeldes kommt dabei eine<br />

besondere Bedeutung zu. 5 Denn sie machen<br />

einen Großteil der Stadt aus und immer mehr<br />

Menschen in einer alternden Gesellschaft sind<br />

gerade auf sie angewiesen. Ältere Menschen<br />

verbringen den Großteil ihrer Zeit in den eigenen<br />

vier Wänden und der näheren Wohnumgebung<br />

– zuerst, weil die Berufstätigkeit das Verlassen<br />

des Wohnquartiers nicht mehr erfordert, später,<br />

weil Einschränkungen in der Mobilität dies nicht<br />

mehr zulassen. 6<br />

37


Auszeichnung Gemeindezentrum mit Wohnungen Frankfurt am Main<br />

Verfasser Stefan Forster Architekten GmbH, Frankfurt am Main Bauherr Evangelischer Regionalverband, Frankfurt am Main<br />

Fotos Lisa Farkas, Frankfurt am Main<br />

Wohnen in der Gemeinde<br />

Im Frankfurter Gutleutviertel südlich des Hauptbahnhofs haben Stefan<br />

Forster Architekten ein Haus errichtet, das der Evangelischen<br />

Hoffnungsgemeinde einen neuen Ort gibt und in dem außerdem gewohnt<br />

werden kann.<br />

Nicht nur Hamburg hat eine Hafencity, auch<br />

Frankfurt am Main kann mit der städtebaulichen<br />

Umnutzung einer ehemaligen Hafenanlage<br />

glänzen, die hier am Main – bedingt freilich durch<br />

die Binnenlage – nicht ganz so groß ausfällt wie<br />

in der Stadt an der Elbe. Der Westhafen befindet<br />

sich am südwestlichen Rand der Innenstadt,<br />

genauer gesagt des Gutleutviertels, das bisher<br />

nicht gerade als vornehme Wohngegend galt.<br />

Hier, nur wenige Gehminuten vom Hauptbahnhof<br />

entfernt, wurde 1886 im Zuge der Mainkanalisierung<br />

die erste hochwasserfreie Hafenanlage<br />

der Stadt eröffnet, die ihre Bedeutung im Laufe<br />

der Jahrzehnte allerdings immer mehr an die<br />

Schiene und die Straße verlor. So wurde bereits<br />

Mitte der 1970er Jahre über eine Umnutzung<br />

der alten, architektonisch eher belanglosen<br />

Speicherbauten und des lärmenden und rußenden<br />

Betonmischwerks auf der Hafenmole<br />

nachgedacht. Doch erst mehr als ein Jahrzehnt<br />

später rückte das immerhin 124.000 Quadratmeter<br />

große Hafenareal wieder ins öffentliche<br />

Bewusstsein, diesmal mit dem neuen Leitbild<br />

„Wohnen und Arbeiten am Fluss“. So sollte der<br />

Westhafen zu einem nutzungsgemischten<br />

Wohn- und Bürogebiet mit insgesamt 220.000<br />

Quadratmetern Nutzfläche werden und Wohnraum<br />

für 1600 Menschen bieten. Heute reihen<br />

sich rund um das 560 Meter lange und 75 Meter<br />

breite Hafenbecken zahlreiche Gebäude, an der<br />

Stirnseite des Beckens bildet der von schneider<br />

+ schumacher entworfene Westhafen Tower –<br />

von den Frankfurtern liebevoll „das Gerippte“<br />

genannt, in Anlehnung an die Form des für die<br />

Region typischen Apfelweinglases – einen markanten<br />

Endpunkt der Anlage.<br />

Am Übergang vom alten Gutleutviertel zum<br />

neuen Westhafenareal befindet sich in der<br />

Hafenstraße 5 das Haus der Evangelischen<br />

Hoffnungsgemeinde Frankfurt am Main, die hier<br />

ein neues Zuhause gefunden hat. Das Gebäude<br />

aus der Feder des ebenfalls in Frankfurt am<br />

Main ansässigen Architekten Stefan Forster fällt<br />

zunächst vor allem wegen seiner prägnanten<br />

Fassade aus dunklem Ziegelstein ins Auge,<br />

dessen Qualität „Wasserstrich“ mit den typischen<br />

Schlieren, teilweise aufgerauten Bereichen sowie<br />

Farbnuancen dem Fassadenbild ein lebendiges<br />

Spiel aus Farbe, Oberfläche, Licht und Schatten<br />

verleiht. Stefan Forster spielt bei seinen Bauten<br />

gerne mit der Wirkung dieses Materials, das<br />

zudem extrem haltbar ist. Obwohl in dem Haus<br />

alle Aktivitäten einer Kirchengemeinde möglich<br />

sind, erinnert der Baukörper nur wenig an die<br />

klassische Form eines Kirchenbaus. So hält sich<br />

der scharfkantig geschnittene siebengeschossige<br />

Kubus in seiner Höhenentwicklung zurück,<br />

allenfalls die Ecküberhöhung im obersten<br />

Geschoss lässt einen Rückbezug auf das Motiv<br />

der Kirche zu. Aus Rücksicht auf die Bewohner<br />

und das Umfeld wurde in dieser wie ein<br />

Glockenturm anmutenden Erhöhung allerdings<br />

auf eine Glocke verzichtet.<br />

Eine adäquate Antwort auf die jeweiligen Situationen<br />

finden die Architekten an den drei<br />

Fassaden: Die Straßenseite gibt sich wie ein<br />

50


Das Gebäude markiert mit seiner<br />

turmartigen Ecküberhöhung den<br />

Abschluss der Blockbebauung.<br />

Zugleich wird damit die kirchliche<br />

Nutzung symbolisch angedeutet.<br />

Lageplan<br />

51


Zur Hansaallee wird das Areal durch den<br />

riegelartigen Baukörper des Lofthauses<br />

mit fein gegliederter Backsteinfassade<br />

begrenzt.<br />

In den Fassaden der verschiedenen<br />

Baukörper variieren kontrastreich<br />

Putz- und Backsteinflächen.<br />

60


Dahinter – quasi entlang dem die Hansaallee<br />

und die Eschersheimer Landstraße verbindenden<br />

Pfadfinderweg – gruppieren sich vier<br />

Solitäre, deren Fassaden zum Teil das Thema<br />

des Backsteins aufnehmen, mit weißen<br />

Putzfassaden, hochwertigen Fenstern und<br />

Haustüren aus Holz jedoch einen eleganten<br />

Kontrapunkt setzen. Sie orientieren sich<br />

typologisch am italienischen Palazzo, was etwa<br />

durch dicht an die Hausecke gerückte, diagonal<br />

gegenüberliegende Fenster oder die eindeutig<br />

formulierte geometrische Mittelbetonung jeder<br />

Fassade ihren Ausdruck findet. Auch in den von<br />

greenAnnina Landscape Design geplanten<br />

Außenanlagen bildet sich die Materialität und<br />

Haptik ab: Durch die leicht versetzte Stellung<br />

der Gebäude entstehen geschützte Höfe, die für<br />

die Gemeinschaft der Bewohner und Mitarbeiter<br />

Raum zur Erholung bieten. In Korrespondenz mit<br />

den Gebäuden wird hier der gleiche Backstein<br />

für die Muster im Bodenbelag, für die Treppenstufen<br />

und bei sämtlichen Umfassungsmauern<br />

verwendet.<br />

Im Inneren des Lofthauses befinden sich flexibel<br />

aufteilbare Gewerbeeinheiten in den unteren<br />

Geschossen. Die beiden obersten Geschosse<br />

beherbergen Wohnungen im gleichen Loftstil.<br />

Eine reine Wohnnutzung ist für die vier Solitäre<br />

vorgesehen: Sie sind als Einspänner organisiert<br />

und bieten geschossweise große Wohnungen<br />

mit einer Fläche von 150 bis 230 Quadratmetern.<br />

Die Wohnungen im Erdgeschoss sowie<br />

im ersten Obergeschoss sind hier als Maisonette<br />

organisiert und verfügen außerdem über einen<br />

Zugang zu eigenen Gärten. Gestaltprägend sind<br />

hier die großen Balkone beziehungsweise<br />

Terrassen mit den bodentiefen französischen<br />

Fenstern im Haussmann'schen Stil, die viel Licht<br />

und Luft in das Innere lassen und eine gewisse<br />

Kommunikation zwischen Innen und Außen<br />

fördern.<br />

Mit viel Liebe zum Detail nimmt der Architekt<br />

Michael A. Landes (Landes & Partner) bei den<br />

Hansahöfen bekannte Strukturen und Elemente<br />

der Baukunst auf und transferiert sie in eine<br />

zeitgemäße Sprache, ohne aber modisch zu<br />

sein. Der subjektive Gebrauch unter sich<br />

verändernden Verhältnissen ist vom Architekten<br />

ausdrücklich vorgesehen, der dadurch auf einer<br />

allen gemeinsamen und verständlichen Basis die<br />

Kommunikation und Verständigung unter den<br />

Bewohnern fördern will. Eine besondere<br />

Reverenz indessen erweisen die Häuser an der<br />

Hansaallee bekannten Hansestädten, von denen<br />

einige als Namenspaten für die fünf Gebäude<br />

gewählt wurden: Königsberg, Bremen, Hamburg,<br />

Lübeck und Kiel.<br />

61


Auszeichnung Quartierszentrum Heinrich-Lübke-Siedlung Frankfurt am Main<br />

Verfasser Jo. Franzke Architekten, Frankfurt am Main Bauherr ABG Frankfurt Holding Wohnungsbau- und Beteiligungs-GmbH,<br />

Frankfurt am Main Fotos Olaf Reuffurth, Frankfurt am Main<br />

Aus Alt wird Neu<br />

Dass Gebäudestrukturen aus den 1970er Jahren nicht unbedingt<br />

abgerissen werden müssen, um sie auch in Zukunft gut bewohnbar zu<br />

halten, zeigen Jo. Franzke Architekten bei der Heinrich-Lübke-Siedlung in<br />

Frankfurt am Main.<br />

Die Heinrich-Lübke-Siedlung liegt in Praunheim,<br />

einem Stadtteil im Nordwesten von Frankfurt am<br />

Main. Hier schlängelt sich das Flüsschen Nidda<br />

auf seinen letzten Kilometern durch Stadt und<br />

Landschaft, ehe es in Frankfurts Westen bei<br />

Höchst in den Main fließt. Und hier verlaufen die<br />

Autobahnen 5 und 66. Trotz dieses Verkehrs<br />

überwiegt vor allem in der Heinrich-Lübke-Siedlung<br />

die Nähe zur Natur, ihr Charakter ist geprägt<br />

von der benachbarten Nidda-Auenlandschaft.<br />

Entstanden ist die Siedlung, die knapp<br />

600 Wohnungen für rund 2000 Bewohner bereithält,<br />

in den 1970er Jahren; ihre architektonische<br />

Qualität ist noch heute zu spüren. Hier wird der<br />

städtische Raum als offene Stadtlandschaft<br />

begriffen, in die das Grün des angrenzenden<br />

Niddaparks hineinströmen soll. Die organische<br />

Struktur des Parks und des Flussverlaufs sollten<br />

hier architektonisch aufgenommen werden.<br />

Damit bildet die Siedlung jedoch auch einen<br />

Kontrast zu der ursprünglichen Stadterweiterungsplanung<br />

von Ernst May für das gesamte<br />

Siedlungsgebiet aus den 1920er Jahren, bei der<br />

zumindest die Trennung zwischen Stadt und<br />

Natur spürbar sein sollte. Doch gerade die<br />

Bebauung der Heinrich-Lübke-Siedlung bietet<br />

das Potenzial und die Entwicklungsmöglichkeiten<br />

für ein qualitativ hochwertiges, stadtnahes<br />

Wohnen im Grünen, unter menschlichem<br />

Maßstabsempfinden und dem Wunsch nach<br />

Orientierung und Übersichtlichkeit Rechnung<br />

tragend. So bedurfte es bei der dringend nötigen<br />

Sanierung der Siedlung nicht eines Abrisses<br />

und Neubaus, da die baulichen sowie städtebaulichen<br />

Qualitäten durchaus noch vorhanden<br />

und erlebbar waren. Im Vordergrund standen<br />

eher die Regulierung beziehungsweise Neuordnung<br />

der Siedlung unter modernen und zukunftsgerichteten<br />

Gesichtspunkten.<br />

Vor dem Umbau: Der Zugang zur Siedlung<br />

von der Ludwig-Landmann-Straße<br />

68


Der neue Kopfbau am nördlichen Rand der<br />

Siedlung. Sämtliche Wohnungen verfügen über<br />

großzügige Balkone. Die Erdgeschosszone ist<br />

gewerblicher Nutzung zur Nahversorgung vorbehalten.<br />

Lageplan<br />

69


Besondere Anerkennung Haus Silberdisteln – Wohnen im Alter Kronberg<br />

Verfasser Wolfgang Ott – Architekt BDA, Kronberg Bauherr Gemeinnütziges Siedlungswerk GmbH, Frankfurt am Main<br />

Fotos Dietmar Strauß, Besigheim<br />

Gemeinsam statt einsam<br />

Das Stadthaus Silberdisteln in Kronberg zeigt, wie selbstbestimmtes<br />

Wohnen im Alter gelingen kann: mit attraktiven Zonen für den privaten<br />

Rückzug und viel Platz für gemeinschaftliche Aktivitäten.<br />

„Alte Leute sind gefährlich, denn sie haben keine<br />

Angst vor der Zukunft“, stellte einst George<br />

Bernard Shaw fest. Und nicht nur das: Sie<br />

nehmen die eigene Zukunft auch gerne selbst in<br />

die Hand. Die Gewissheit, älter zu werden, und<br />

die Gefahr, dabei zu vereinsamen, sind für viele<br />

ein Antrieb, nach innovativen Lösungen für<br />

das Wohnen im Alter zu suchen, abseits vom<br />

herkömmlichen Altersheim oder Seniorenstift.<br />

Die Idee einer „Hausgemeinschaft im Alter“ wird<br />

dabei zur attraktiven Alternative. So auch für<br />

die Mitglieder des Vereins Wohnprojekt<br />

Silberdisteln Kronberg, den Initiatoren des<br />

gleichnamigen Stadthauses. Der ortsansässige<br />

Architekt Wolfgang Ott gestaltete das moderne<br />

Seniorendomizil weitgehend nach den<br />

Vorstellungen der künftigen Bewohner und<br />

setzte deren Wunsch, selbstständig und selbstbestimmt<br />

im eigenen Zuhause alt zu werden, in<br />

eine dafür passende Wohnform um. Die eigenen<br />

Ressourcen der „Menschen im Rentenalter“ zu<br />

mobilisieren und ihnen Möglichkeiten zu bieten,<br />

soziale Netzwerke zu knüpfen, war dabei die<br />

Kernaufgabe, der sich der Planer erfolgreich<br />

stellte.<br />

Neben einer zentrumsnahen Lage mit guter<br />

Infrastruktur musste zunächst auch ein Investor<br />

für das Projekt gefunden werden. Eigentümer<br />

des Hauses ist heute das Gemeinnützige Siedlungswerk,<br />

das die Räume an die Bewohner<br />

vermietet.<br />

76


In den klaren Umriss des Gebäudes ist ein differenziertes Gefüge privater Freiräume eingeschnitten.<br />

Lageplan<br />

77


86<br />

Das neue Treppenhaus schiebt sich in markanter Form aus der Fassade heraus.


Auszug aus der Begründung der<br />

Preisgerichtsjury<br />

Die Aufgabe, ein Bestandsgebäude zu sanieren<br />

und aufzustocken, erlaubt es durchaus, die<br />

vorgefundene Bausubstanz vollständig zu<br />

überformen, insbesondere dann, wenn sie wie in<br />

diesem Fall ohne eigene gestalterische Qualität<br />

zu sein scheint. Die vorgestellte Konzeption<br />

integriert sich dadurch baukörperlich und im<br />

Detail der Fassadengestaltung in das<br />

umgebende Gründerzeitquartier, ohne sich<br />

dabei historisierend oder übermäßig modern zu<br />

verbiegen<br />

Das Haus tritt mit seiner hellblauen Fassade<br />

freundlich in Erscheinung und thematisiert das<br />

Verhältnis von Türen und Fenstern zu ihren<br />

Laibungen. Diese Elemente werden gesetzt,<br />

wo sie notwendig sind, und dann in ihrer weißen<br />

Laibung verrückt, wie es die Proportionslehre<br />

verlangt. Wenn sie dabei Spuren hinterlassen,<br />

wirken diese als Geste der Öffnung. So jedenfalls<br />

könnte der Betrachter die aufgedoppelten<br />

Faschen verstehen. Zusammen mit dem vorgesetzten<br />

abgerundeten Treppenhaus entsteht<br />

ein retrospektiver Gesamteindruck, der dennoch<br />

bei näherem Hinsehen durchaus zeitgemäß<br />

bleibt, etwas verspielt vielleicht, aber im Wesen<br />

zurückhaltend und der Aufgabe angemessen.<br />

Der zurückgesetzte eingeschossige Anbau<br />

nimmt die öffentlich zugänglichen Bereiche auf<br />

und bietet ihnen einen gut nutzbaren Vorbereich,<br />

der zum Eintreten und Verweilen einlädt. So<br />

gelingt es, auch diesen Bauteil städtebaulich zu<br />

integrieren und gleichzeitig in einen angemessenen<br />

Rahmen zu setzen. Insgesamt hebt diese<br />

Konzeption das Gebäude um genau das rechte<br />

Maß aus der Umgebung heraus. Durch die neue<br />

Interpretation der eigentlich eher unspektakulären<br />

Gestaltungselemente wird auch das<br />

Umfeld positiv aufgewertet.<br />

Als schon fast selbstverständlich bleibt schließlich<br />

noch zu erwähnen, dass auch die energetischen<br />

Aspekte durch Passivhausanforderungen<br />

und eine Holzpelletheizung mit Speicher<br />

mehr als erfüllt sind. Sicherlich kann das<br />

Gebäude auch viele Aspekte der Nachhaltigkeit<br />

bedienen; zu nennen wären etwa die Weiterverwendung<br />

des Altbestandes oder die sozial<br />

relevanten Angebote wie der für eine studentische<br />

Einrichtung so wichtige überdachte Fahrradstellplatz.<br />

Elemente der Nachbarbebauung wurden in eine moderne Architektursprache übersetzt.<br />

87


Ansicht<br />

Schnitt<br />

Grundrisse<br />

2. Obergeschoss / 1. Obergeschoss<br />

Erdgeschoss<br />

98


Die sanierte Häuserzeile an der Ostseite des Platzes<br />

Die Außenzone im Nahbereich vor den Hauseingängen<br />

Sand, Klinker und natürlich der Rasen und die<br />

Bäume prägen den Charakter der Fläche, die so<br />

zum belebten Herz des Quartiers umgestaltet<br />

wurde.<br />

Auszug aus der Begründung der<br />

Preisgerichtsjury<br />

[…] Die Aufwertung des Quartiers beschränkt<br />

sich nicht nur auf die Gebäudesanierung oder<br />

das Wohnumfeld oder die öffentlichen Räume,<br />

sondern alle genannten Bereiche wurden<br />

gleichzeitig und aufeinander abgestimmt unter<br />

Mitwirkung der Bewohner entwickelt. Die<br />

Aufwertung der Gebäude durch Sanierung und<br />

Veränderung der Wohngrundrisse, Anbau von<br />

Balkonen und die damit gewünschte soziale<br />

Durchmischung des Quartiers mit jüngeren und<br />

auch einkommensstärkeren Bevölkerungsgruppen<br />

findet ihre Entsprechung auch in der<br />

Gestaltung der öffentlichen Flächen und<br />

Freiräume. Der Bardelebenplatz weist nach<br />

seiner Umgestaltung deutlich bessere Aufenthalts-,<br />

Nutzungs- und Gestaltqualitäten auf.<br />

Spiel- und Erholungsflächen sowie Gemeinschaftsanlagen<br />

machen den Platz zur gemein-<br />

schaftlichen Mitte des Quartiers. Die Neuordnung<br />

und Neuzonierung der Verkehrsflächen auf dem<br />

Platz schafft Raum für soziales Miteinander und<br />

den nachbarschaftlichen Austausch. Anforderungen<br />

an den öffentlichen Raum wie Sicherheit<br />

und Barrierefreiheit wurden im Rahmen der<br />

Neugestaltung qualitätvoll umgesetzt und<br />

zurückhaltend in die Neugestaltung integriert.<br />

Materialwahl und Ausstattung der Freiflächen<br />

sind stimmig und angemessen. Die Freiflächen<br />

der Geschosswohnungsbauten können durch<br />

die Umgestaltung erstmals durch die Bewohner<br />

in vielfältiger Weise genutzt und angeeignet<br />

werden. Die Zonierung und Erschließung dieser<br />

Flächen mit Zuordnung von Gartenterrassen zu<br />

den Erdgeschosswohnungen sowie Rasen-,<br />

Spiel- und kleinen Pflanz- und Platzflächen<br />

sowie deren Ausstattung mit einfachen Elementen<br />

und einheitlich gestalteten Nebenanlagen<br />

schafft dabei eine sinnfällige Abstufung der<br />

Nutzungen von privat über gemeinschaftlich zu<br />

halb öffentlich. Damit werden die Voraussetzungen<br />

für eine nachhaltige Belebung und<br />

Nutzung der Freiflächen durch die Bewohner der<br />

Gebäude geschaffen […]<br />

99


Grundriss<br />

Vor der Neugestaltung: Der Platz war durch wuchernde Vegetation unübersichtlich und durch ruhenden Verkehr<br />

beeinträchtigt.<br />

106


Profilschnitte längs/quer<br />

Auszug aus der Begründung der<br />

Preisgerichtsjury<br />

Mit dem neu gestalteten Quartiersplatz wird<br />

ein Stück Stadtraum für die Bewohner zurückgewonnen.<br />

Der zuvor wohl zugepflanzte<br />

gründerzeitliche Platz wird als grüner Stadtraum<br />

wieder Teil des städtischen Lebensraumes [...]<br />

Die Gliederung in unterschiedlich nutzbare<br />

Bereiche schafft gut gestaltete Teilräume für<br />

unterschiedliche Aktivitäten. Der Spielplatz fügt<br />

sich wie selbstverständlich in den grünen Platz<br />

ein, mit sowohl bewegungsfördernden und<br />

anregenden wie auch gestalterisch ansprechenden<br />

Spielangeboten.<br />

Die Ergänzung des vorhandenen Baumbestandes<br />

stellt den grünen Rahmen für den Platz<br />

wieder her [...] Die hainartige Ergänzung mit<br />

Kirschen und Feldahornen in der Platzmitte<br />

schafft ein eigenes Raumerlebnis und vermittelt<br />

zwischen dem aktiveren, belebteren Platzbereich<br />

mit dem Spielplatz zu dem ruhigeren, beschaulicheren<br />

Platz mit der drei Stufen tiefer liegenden<br />

Rasenfläche.<br />

Die Materialität ist der städtebaulichen Umgebung<br />

angemessen und schafft für vielfältige<br />

Nutzungen die passenden Flächenangebote. Die<br />

Muschelkalkmauer entlang der Von-Schildeck-<br />

Straße soll den Platzraum von dem Verkehrslärm<br />

der viel befahrenen Straße abschirmen, gleichwohl<br />

wird dieser beruhigende und raumbildende<br />

Effekt durch eine Unterbrechung der Achse der<br />

Brauhausstraße in die Fuldaer Altstadt „erkauft“.<br />

Die Mauer wird in ihrer städtebaulichen Setzung<br />

hinterfragt, da sie auch eine wichtige Sichtbeziehung<br />

in die Innenstadt unterbricht [...]<br />

107


Auszeichnung St. Antoniusheim, Wohngemeinschaft Vinzenz Fulda<br />

Verfasser Sichau & Walter Architekten GmbH, Fulda Bauherr St. Antonius gGmbH, Fulda<br />

Fotos Sichau & Walter Architekten GmbH, Fulda<br />

Wohnen im Sommerhaus<br />

Auf dem Campus des St. Antoniusheims in Fulda ist für Menschen mit geistigen<br />

Einschränkungen ein neues Zuhause entstanden, das jedem Bewohner größtmögliche<br />

Freiheit zur Selbstbestimmung und Individualität lässt.<br />

Im Jahre 1904 gründete die Fuldaer Bürgerin<br />

Maria Rang das St. Antoniusheim als eine von<br />

Staat und Kirche unabhängige Bürgerstiftung.<br />

Seitdem hat sich die in der christlich-vizentinischen<br />

Tradition verwurzelte Einrichtung zu<br />

einem heilpädagogischen Zentrum entwickelt,<br />

das seine Aufgabe im Beraten, Fördern und<br />

Begleiten von Menschen sieht, die besondere<br />

Unterstützung brauchen. Es geht um die<br />

Förderung und Bildung in jeder Lebensphase,<br />

unabhängig vom Alter, mit dem Ziel, ein<br />

eigenständiges und eigenverantwortliches Leben<br />

führen zu können oder zumindest in einer<br />

Gemeinschaft ein Zuhause zu finden, in der ein<br />

weitgehend „normales“ Leben möglich ist. Hier<br />

auf dem Campus des St. Antoniusheims haben<br />

Sichau & Walter Architekten – ebenfalls aus<br />

Fulda – ein Haus errichtet, das für einige der<br />

knapp 300 Bewohner des Heims einen neuen<br />

Lebensmittelpunkt bietet. Ihr Entwurf folgt der<br />

Idee eines Sommerhauses: Menschen mit<br />

Autismus besitzen die Gabe, ihre Umwelt sehr<br />

differenziert und detailliert wahrzunehmen. Licht,<br />

Wasser, Blätter, Tiere haben eine besondere<br />

Wirkung, weshalb zwischen Haus und Natur auf<br />

mehreren Ebenen ein starker Bezug hergestellt<br />

wird. So befindet sich der Bau inmitten eines<br />

Kastanienhains nahe dem Haupthaus, wodurch<br />

er von den kräftigen Bäumen stets umschlossen<br />

wird. Das Gebäude selbst ist in Holzbauweise<br />

erstellt, was das Thema des Waldes und der<br />

Natur auch in der Außenwirkung aufnimmt. Die<br />

kompakte, nur ein Stockwerk hohe Gebäudeform<br />

mit flach geneigtem Dach erhebt sich nicht<br />

über die menschliche Dimension und lässt der<br />

umgebenden Natur genügend Raum zur Entfaltung<br />

und Wirkung.<br />

Auch im Inneren ist das Thema Natur deutlich<br />

spürbar: Nachdem man vom weichen Rasen<br />

kommend über die leicht knarrenden Holzdielen<br />

der Terrasse das Haus betreten hat, gelangt<br />

man in einen erstaunlich offenen und freundlichen<br />

Innenraum mit den einzelnen Zimmern der<br />

Bewohner und gemeinschaftlichen Bereichen.<br />

Großzügige Fensteröffnungen lassen viel Licht<br />

und – vor allem – die Natur hinein. Von überall<br />

hat man einen Blick nach draußen. Dieser Bezug<br />

zur Natur wird in den Zimmern noch betont<br />

durch die Rahmung der Fenster mit tiefen<br />

Zargen, wodurch die Landschaft mit ihrem<br />

Wechsel der Tages- und Jahreszeiten zu einem<br />

Bild wird und betrachtet werden kann. Mehr<br />

noch: Die Bewohner können sich in diesen<br />

122


Flach duckt sich das Holzhaus unter den alten Kastanienbäumen.<br />

Lageplan<br />

123


Besondere Anerkennung Haus H. Bad Homburg<br />

Verfasser o5 Architekten BDA Raab Hafke Lang, Frankfurt am Main Bauherr Roland und Carina Holschuh, Bad Homburg<br />

Fotos Eibe Sönnecken, Darmstadt<br />

Fit für die Zukunft<br />

In Bad Homburg wurde ein kompaktes Einfamilienhaus aus den 1950er<br />

Jahren dem Raumbedarf einer fünfköpfigen Familie gemäß umstrukturiert<br />

und durch einen Anbau zum Garten hin erweitert. Die energetische<br />

Sanierung vervollständigt das Gesamtkonzept.<br />

Mit sehr konkreten Anforderungen wandten sich<br />

die Bewohner eines kleinen kompakten Satteldachhauses<br />

aus dem Jahre 1954 an die Planer<br />

des Frankfurter Büros o5 architekten: Mehr<br />

Licht, mehr Großzügigkeit, vor allem aber mehr<br />

Platz benötigte die fünfköpfige Bauherrenfamilie.<br />

Außerdem wünschte sie sich einen weitläufigen<br />

Wohnraum, der als zentraler Treffpunkt für<br />

unterschiedlichste Familienaktivitäten dient.<br />

Der Hanglage entsprechend fehlte der bisherigen<br />

Wohnetage ein direkter Gartenzugang, und<br />

auch hier sahen die Bauherren dringenden<br />

Verbesserungsbedarf. Trotz grundlegender<br />

Umstrukturierung sollten Hauscharakter und<br />

gestalterisch prägende Merkmale, beispielsweise<br />

der Parkettboden und die alte Holztreppe,<br />

erhalten bleiben.<br />

o5 architekten lösten das Platzproblem, indem<br />

sie vor die Nordseite zum Garten hin einen<br />

Flachdachanbau setzten. Dieser zweigeschossige<br />

„Einraum“ vermittelt als luftiger Hallenraum<br />

zwischen dem Eingangsbereich im Bestand, der<br />

neu gestalteten Mittelzone mit offener Küche<br />

und Essbereich und dem Garten. Im Anbau<br />

brachten die Architekten neben dem neuen<br />

Wohnraum auf der Gartenebene zudem ein<br />

„Kaminzimmer“ und darüber eine Arbeitsgalerie<br />

mit Loggia unter. Beide Ebenen verbindet eine<br />

offene, einläufige Treppe. Das Flachdach des<br />

Erweiterungsbaus kann bei Bedarf zur Dachterrasse<br />

ausgebaut werden. Über ein Oberlichtband<br />

fällt Südsonne in den nach Norden<br />

orientierten Raum. Gezielt gesetzte Öffnungen<br />

stellen optische Bezüge zwischen Alt- und<br />

Neubau, zwischen Innen- und Außenraum her<br />

und verweben die Bereiche jeweils zu Einheiten.<br />

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Das Siedlungshaus aus den 1950er Jahren wurde in zeitgemäße Architektur transformiert.<br />

Lageplan<br />

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Verzeichnis der Architekten der prämierten Bauten<br />

03 Architekten GmbH<br />

Hermann-Lingg-Straße 10<br />

80336 München<br />

www.03arch.de<br />

Christ.Christ.associated architects<br />

Parkstraße 75<br />

65191 Wiesbaden<br />

www.christ-christ.cc<br />

CNK Architekten Rainer Krebs<br />

Philippsruher Allee 40-44<br />

63454 Hanau<br />

www.c-n-k.de<br />

Marie-Theres Deutsch Architekten BDA<br />

Paradiesgasse 13<br />

60594 Frankfurt am Main<br />

www.deutsch-architekten.de<br />

Stefan Forster Architekten GmbH<br />

Hedderichstraße 108-110<br />

60596 Frankfurt am Main<br />

www.sfa.de<br />

Foundation 5+ Landschaftsarchitekten + Planer<br />

BDLA<br />

Karthäuserstraße 7-9<br />

34117 Kassel<br />

www.foundation-kassel.de<br />

Clemens Kober Architekt BDA<br />

Friedrich-Ebert-Straße 48<br />

34117 Kassel<br />

www.kober-architekt.de<br />

bbzl Böhm Benfer Zahiri<br />

Warschauer Straße 57<br />

10243 Berlin<br />

www.bbzl.de<br />

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Jo.Franzke Architekten GmbH<br />

Ludwigstraße 2-4<br />

60327 Frankfurt am Main<br />

www.jofranzke.de<br />

Thomas Grüninger Architekten BDA<br />

Herderstraße 17<br />

64285 Darmstadt<br />

www.grueningerarchitekten.de<br />

Landes & Partner Architekten<br />

Hanauer Landstraße 52<br />

60314 Frankfurt am Main<br />

www.landes-partner.de<br />

Liquid + Fay Architekten<br />

Freiheitsstraße 23<br />

64385 Reichelsheim-Laudenau<br />

www.clickliquid.de<br />

Mann Landschaftsarchitektur<br />

Marktstraße 14<br />

36037 Fulda<br />

www.mann-la.de<br />

o5 architekten bda raab hafke lang<br />

Schleusenstraße 9<br />

60327 Frankfurt am Main<br />

www.05-architekten.de<br />

Pätzold Kremer Architekten GbR<br />

Christian-Pleß-Straße 11-13 / Haus 3<br />

63069 Offenbach am Main<br />

www.paetzold-kremer.de<br />

Wolfgang Ott – Architekt BDA<br />

Katharinenstraße 14<br />

61476 Kronberg<br />

www.ott-line.de<br />

Schauer + Volhard Architekten BDA<br />

Moserstraße 25<br />

64285 Darmstadt<br />

www.schauer-volhard.de<br />

Sichau & Walter Architekten BDA<br />

Leipziger Straße 10<br />

36037 Fulda<br />

www.sichau-walter<br />

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