einigkeit 06/15
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6 / 2015
einigkeit
Informationen der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten
Jubiläumsausgabe zum 150. Geburtstag
einigkeit 6 /2015 1
ZUM GEBURTSTAG
150 Jahre NGG: erfolgreich und solidarisch
Foto: Marko Kubitz
Michaela Rosenberger
„Unsere Gewerkschaft NGG wird 150 Jahre
alt und ist damit die älteste Gewerkschaft
Deutschlands: Im Dezember 1865 gründeten
Zigarrenarbeiter aus mehreren Ländern des
Deutschen Bundes in Leipzig den Allgemeinen
Deutschen Cigarrenarbeiter-Verein (AD-
CAV). Der Gründungstag – der 26. Dezember
1865 – markiert den ersten überregionalen
Zusammenschluss der seit 1848 überall
regional gegründeten Arbeitervereine - und
den Beginn der nun 150-jährigen Geschichte
nicht nur der mehr als 60 Vorläuferverbände
der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten,
sondern auch der Geschichte der
deutschen Gewerkschaften insgesamt.
150 Jahre sind eine beeindruckende Zeitspanne,
und es ist kein gewöhnliches Jubiläum.
Deshalb haben wir unser 150-jähriges
Bestehen über das ganze Jahr mit vielen
Mitgliederfesten in den Regionen gefeiert.
Für Politik und Wirtschaft haben wir in Berlin
ein „Hoffest“ mit vielen Gästen ausgerichtet,
und im November am Ort unserer Gründung,
in Leipzig, im Rahmen eines Festakts zur
Beiratssitzung die feierliche Enthüllung
einer Gedenktafel für den allerersten Gewerkschaftsvorsitzenden
in Deutschland, für
Friedrich Wilhelm Fritzsche, erlebt.
150 Jahre NGG – das heißt 150 Jahre
unermüdlicher Einsatz für gute Arbeit, für
ein menschenwürdiges Leben und seine
Sicherung über Erwerbsarbeit, für angemessene
und gerechte Einkommen für Frauen
und Männer, und für Solidarität der erwerbstätigen
Kolleginnen und Kollegen untereinander
– und es heißt 150 Jahre viele kleine
und große Initiativen von gewerkschaftlich
engagierten Menschen, die der Übermacht
der Fabrikherrn und Unternehmensführungen
permanent kleine Fortschritte abgerungen
und unsere NGG zu dem gemacht haben,
was sie heute ist: ein Symbol für gute Politik
und große Erfolge und für den Einfluss einer
kleinen gewerkschaftlichen Organisation auf
die gesamte Gesellschaft.
Doch ist für uns Gewerkschaften die Arbeit
nie leicht gewesen. Es wurde uns nichts
geschenkt: 150 Jahre gewerkschaftliches
Handeln bedeutet immer, gemeinsam um
Verbesserungen zu kämpfen. Diese Kämpfe
haben wir oft gewonnen und manchmal auch
verloren. Dass wir aber 150 Jahre lang für
Verbesserungen von Arbeits- und Lebensbedingungen
der Mitglieder in Nahrungsmittelindustrie,
Bäcker-, Konditoren- und
Fleischerhandwerk und im Gastgewerbe
gekämpft haben, darf uns mit Stolz erfüllen.
Mit dieser Sonderausgabe der ‚einigkeit‘
über 150 Jahre NGG möchten wir zeigen,
dass auch heute noch Solidarität als „das
Stärkste, was die Schwachen haben“ die Basis
unseres Erfolgs ist: Nur, wo wir gemeinsam
für unsere Ziele eintreten, können wir
sie erreichen.“
Michaela Rosenberger, NGG-Vorsitzende
Am Anfang war der Vorleser
Mitte des 19. Jahrhunderts waren nach
der industriellen Revolution Produktivität
und Unternehmensgewinne vielerorts
gewachsen, die Lohnarbeiter litten hingegen
unbeschreibliche Not:
Arbeitszeiten von bis zu 20
Stunden pro Tag sind nichts
Ungewöhnliches, und zwar
tagtäglich, ohne einen freien
Tag; der Kost- und Logiszwang
macht die Lohnarbeiter
zu beliebig verfügbaren
Leibeigenen ihrer Meister
und die Bezahlung ist dabei
so schäbig, dass sich die
Arbeiterinnen und Arbeiter
noch nicht einmal das Allernötigste
leisten, geschweige
denn für Notfälle vorsorgen
können.
Sich zu wehren, ist damals
also buchstäblich not - wendig: um Not zu
wenden. Aber das ist alles andere als einfach.
Nach dem Scheitern der März-Revolution
(1848/49) ermöglichen das Koalitionsverbot
(1854 – 60) und danach das drastisch
beschnittene Vereinsrecht lediglich Unterstützungsvereine
für Krankheit und Arbeitslosigkeit
oder Bildungsvereine.
Es ist nicht verwunderlich,
dass die Zigarrenarbeiter die
ersten waren, denn sie waren
politisch interessiert und ideenreich:
Sie entschieden, dass
einer von ihnen den anderen
während der Arbeit vorlesen
sollte. Was gemütlich klingt,
hat einen knallharten Hintergrund:
Industrielle Fertigung
ist damals wenig verbreitet,
Heimarbeit oder Kleinbetriebe
herrschen vor. Die Herstellung
von Zigarren ist außerdem
eine leise und monotone Arbeit,
die zum Debattieren und
Erzählen einlädt.
In den Hochburgen der Zigarrenarbeit (z.B.
Leipzig, Westfalen und Altona) „glich fast
jede Zigarrenmacherbude einem Diskutier-
und Leseclub“ (Willy Buschak). Weil sich einzelne
Arbeiter besser auf das Vorlesen und
Erzählen als auf das Zigarrenmachen verstehen,
werden sie ausschließlich mit dem
Vorlesen beauftragt, und dafür übernehmen
die anderen Zigarrenarbeiter den Anteil der
Vorleser am Produktionssoll (s. S. 3). Die
Vorleser sind also gewissermaßen die erste
Bildungseinrichtung der jungen deutschen
Arbeiterbewegung. Und die Bedeutung von
Bildung für ArbeitnehmerInnen unterstreichen
wir bis heute mit dem Vorleser als
Symbol unserer Organisation.
Impressum
Die „einigkeit“ wird herausgegeben vom
Hauptvorstand der Gewerkschaft NGG,
Haubachstraße 76, 22765 Hamburg.
Redaktion: Silvia Tewes M.A. (V.i.S.d.P.)
Tel. (040) 380 13-0, Fax (040) 380 13-220
E-Mail: hv.redaktion@ngg.net
Internet: www.ngg.net
Redaktionsschluss: 7. Dezember 2015
Titelfoto: NGG, Satz: Malena Bartel
Gestaltung: www.blum-design.net
Druck: BWH GmbH (Der Verkaufspreis ist im
Mitgliedsbeitrag enthalten.)
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GESCHICHTE
Weihnachten 1865: die Geburtsstunde der deutschen Gewerkschaften
Foto:Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung
„Es geschah an Weihnachten“ – der Geburtstag
unserer NGG ist der 26. Dezember. Heutzutage
wäre es unvorstellbar, eine gewerkschaftliche
Versammlung an diesem Tage
Drei Tage dauert der Gründungskongress –
und alles, was es zu einer Vereinsgründung
braucht, wird erledigt: Eine Satzung wird
verabschiedet, zum Vereinssitz wird Frankfurt
am Main bestimmt, und neben einem
Ausschuss, der die Arbeit koordiniert, wird
Friedrich Wilhelm Fritzsche der allererste
Vorsitzende einer deutschen Gewerkschaft
( s. S. 23-24).
Bald tun es den Cigarrenarbeitern andere
Berufsgruppen gleich: schon ein Jahr später
die Buchdrucker und zwei Jahre später die
Bäcker – der gewerkschaftliche Gedanke
leitet bald die gesamte Arbeiterschaft.
Doch bleibt das historische Datum der 26.
Dezember 1865 – der Tag, an dem die erste
überregionale und dauerhaft bestehende
Gewerkschaft in Deutschland gegründet wurde:
der Allgemeine Deutsche Cigarrenarbeiter-Verein
(ADCAV) als direkter Vorläufer der
heutigen Gewerkschaft Nahrung-Genuss-
Gaststätten.
„Colosseum“ (später Pantheon) in Leipzig um 1900, Gründungsstätte des Allgemeinen Deutschen Cigarrenarbeiter-Vereins
abzuhalten, 1865 war es zumindest ungewöhnlich.
Doch Friedrich Wilhelm Fritzsche
hatte Tempo gemacht, zwei Monate zuvor
war die Gründung eines Cigarrenarbeiter-
Vereins nicht zustande gekommen, weil nur
Delegierte aus Norddeutschland anwesend
waren. Fritzsche wollte durch das weihnachtliche
Datum erreichen, dass die Delegierten
aus allen deutschen Ländern in Leipzig anreisen
konnten und versandte Ende November
Einladungen an alle lokalen Vereine zum
ersten deutschen Cigarrenarbeitertag.
Leipzig als Gründungsstadt war im Übrigen
kein Zufall, denn die alte Handelsstadt,
an der schon im Mittelalter zwei wichtige
Handelswege von Norwegen nach Rom,
beziehungsweise von Paris nach Russland
zusammentrafen, war damals eines der
industriellen Zentren in den deutschen Ländern.
Hier haben u.a. auch viele Arbeiter in
Cigarrenfabriken ihren kargen Lebensunterhalt
verdient – und sie waren damals eine
ganz besondere Zunft: politisch interessiert
und auch immer auffällig bunt gekleidet.
Einer von ihnen war Friedrich Wilhelm Fritzsche,
und er war ein Leipziger - schon 1858
hatte er erste Versuche unternommen, die
1848 nach der Märzrevolution gegründete
und 1850 unter der polizeilichen Repression
wieder aufgelöste „Association der Cigarrenarbeiter“
wiederzubeleben.
Illustration: Heinrich-Kaufmann-Stiftung
Die Zigarrenarbeiter waren die Ersten
Nachdem Fritzsche 1863 geholfen hatte,
den Allgemeinen Deutschen Arbeiter-Verein
(ADAV) zu gründen, die erste Vorläuferorganisation
der SPD, und binnen zwei Jahren
in Berlin als deren Vizepräsident zu einem
versierten Funktionär geworden war, kehrte
er 1865 nach Leipzig zurück und wurde die
treibende Kraft zur Gründung einer Zigarrenarbeiter-Gewerkschaft
– mit Erfolg: An
Weihnachten 1865 kommen insgesamt 17
Delegierte, die 51 lokale Vereine repräsentieren,
im Ausflugslokal „Colosseum“ an der
Straße nach Dresden zusammen.
Vorleser in der „Zigarrenmacherbude“
Was ist aus dem Colosseum geworden, der
historischen Stätte sowohl für die sozialdemokratischen
Parteien als auch für die
Gewerkschaften? Leider ist das Gebäude
nicht erhalten geblieben – 1869 wurde es in
„Pantheon“ umbenannt, und in den 1930er
Jahren wurde der hintere Teil mit dem Gartenlokal
abgerissen, in den 1970er Jahren
auch das Vorderhaus. An der Ecke der Dresdner
Straße zum Gerichtsweg steht heute
etwas versetzt zum alten Haus ein Plattenbau,
an die historische Stätte erinnert heute
ein kleiner Gedenkstein.
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GESCHICHTE
25 Jahre hartes Ringen um die Existenz: der Tabakarbeiter-Verband
1865 bis 1890
Die Bedingungen für die Gewerkschaftsarbeit
waren vor 150 Jahren noch anders. Das
heute im Grundgesetz verankerte Grundrecht
auf „Koalitionsfreiheit“, also das Recht, sich
zur Wahrung gemeinsamer Interessen zu
Verbänden zusammenzuschließen, galt damals
noch nicht, und alle Aktivitäten standen
unter polizeilicher Beobachtung und bestenfalls
staatlicher Duldung. Die Versammlungen
mussten oft getarnt werden als gesellige
Unterhaltungsveranstaltungen, und auch
als Vereinszweck musste offiziell die gegenseitige
Unterstützung bei Arbeitslosigkeit
und nicht die Abwehr von Angriffen der Fabrikherrn
oder die Wahrung der politischen
Interessen der Arbeiter herhalten.
Foto: DGB / Simone M. Neumann
150 Jahre Gewerkschaftsgeschichte bieten
bewegende Einblicke in große Herausforderungen
des steten gesellschaftlichen,
politischen und wirtschaftlichen Wandels
der Vergangenheit, die die Gewerkschaften
zu bewältigen hatten und eindrucksvoll
bewältigt haben. Die Geschichte lehrt uns:
Die Arbeits- und Lebensbedingungen der
Menschen können wir nur dann gemeinsam
nachhaltig verbessern und gestalten,
wenn wir Einigkeit, Solidarität und Demokratie
leben. Gemeinsam mit der NGG
stehen wir für diese Werte und gestalten
engagiert die Arbeit der Zukunft für die
Menschen in Deutschland, Europa und der Welt. Zum 150-jährigen Jubiläum gratulieren
wir allen haupt- und ehrenamtlichen Kolleginnen und Kollegen der NGG und danken
euch für euer unermüdliches Engagement.
Reiner Hoffmann,
Vositzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes
Foto: Heinrich-Kaufmann-Stiftung
Die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder war
zunächst recht klein. Waren in der Association,
dem Vorläuferverband von 1848-1850
nur 1.000 Mitglieder eingeschrieben, schaffte
der Allgemeine Deutsche Cigarrenarbeiter-
Verein (ADCAV) es innerhalb von zwei Jahren,
7.600 Mitglieder in 170 Orten zu organisieren.
Das war aber immer noch nur eine kleine
Basis, und die Mitglieder waren arm, sodass
der Verein ihnen nur wenig Unterstützung
zahlen konnte – so musste bei jedem lokalen
Streik die gesamte Mitgliedschaft in den
anderen Städten Geld für die Streikenden
sammeln, um sie zu unterstützen.
Anders als heute war Streik damals gleichbedeutend
mit Arbeitsplatzverlust – die
Entrippen von Tabakblättern in Heimarbeit
Arbeiter stellten ihre Arbeit ein und wurden
von den Unternehmern sofort entlassen. Der
Verein musste sofort mehrere Dinge sicherstellen:
Zum einen durfte auch niemand
anderes anstelle der Streikenden die Arbeit
aufnehmen: Das war nicht immer einfach.
Zum anderen mussten die Streikenden
materiell versorgt werden – sei es mit dem
Solidaritätsbeitrag der anderen Mitglieder,
sei es durch Gründung von genossenschaftlichen
Cigarrenfabriken durch den ADCAV. Oft
mussten die Streikenden aber auch mit ihren
Familien ihre Stadt verlassen und in einer
anderen neue Arbeit suchen – auch dabei
half der Verein.
Unter diesen Bedingungen war die Gewerkschaftsarbeit
alles andere als einfach – und
es herrschte auch Streit über die grundlegende
politische Ausrichtung des Vereins.
Während die einen mit den Fabrikherrn über
die Lohnverhältnisse verhandeln wollten (so
wie es heute alle Gewerkschaften tun), war
Fritzsche (s. S. 3) vom unüberbrückbaren
Gegensatz zwischen Arbeitern und Unternehmern
überzeugt. Dieser Streit eskalierte
schon vier Jahre nach der Gründung und
führte zur Spaltung des ADCAV und zur
Schwächung beider Teilverbände, in denen
jeweils nur noch 900 Mitglieder blieben. Erst
nach fünf Jahren konnte 1874 die Spaltung
überwunden werden – sofort gewann der
Deutsche Tabakarbeiter-Verband, wie die
Organisation nun bis 1947 heißen sollte,
wieder neue Mitglieder und war vier Jahre
später mit 10.000 Mitgliedern die größte
deutsche Gewerkschaft.
Genau diese wiedergewonnene Stärke war
dem seit 1871 vereinten deutschen Staat ein
Dorn im Auge, und 1878 erließ der Reichskanzler
Otto von Bismarck das berüchtigte
„Gesetz gegen die gemeingefährlichen
Bestrebungen der Sozialdemokratie“ (auch
„Sozialistengesetz“), das politische Versammlungen
und Druckschriften sowohl der
SAP (ab 1890 hieß sie erst SPD) wie auch
aller Gewerkschaften verbot, Betätigungen
unter Gefängnisstrafe stellte und die Möglichkeit
bot, Funktionäre aus bestimmten
Städten auszuweisen.
Sofort nach Erlass des Gesetzes wurden
etwa 900 Funktionäre aus Berlin, Hamburg,
Leipzig, Frankfurt am Main, Stettin und
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GESCHICHTE
Offenbach ausgewiesen – 138 von ihnen
waren Cigarrenarbeiter. Auch Friedrich Wilhelm
Fritzsche, der 1878 Reichstagsabgeordneter
der SAP geworden war, wurde aus
Berlin ausgewiesen und kehrte nach Leipzig
zurück, um in der Südstraße, der heutigen
Karl-Liebknecht-Straße, seinen letzten
Wohnsitz in Deutschland zu beziehen (s. S.
24). Nach dem Verlust seiner Immunität bei
der folgenden Reichstagswahl 1881, bei der
er nicht wieder antrat, wanderte Fritzsche in
die USA aus – wie viele andere, die aufgrund
ihrer Ächtung als politische Agitatoren keine
neue Existenz an einem anderen Ort aufbauen
konnten.
Um nicht vollständig verboten zu werden,
änderten die Gewerkschaften daraufhin ihre
Vereinszwecke und wurden „Reiseunterstützungsvereine“.
Auch die Tabakarbeiter
waren nun im „Unterstützungsverein deutscher
Tabakarbeiter“ organisiert und Bäcker,
Lebküchler und Böttcher hatten ebenfalls
solche Vereine.
Trotz des Sozialistengesetzes wurde die SAP
stärker, auch im Reichstag. Bismarcks Regierung
reagierte mit den „Sozialgesetzen“,
Foto: NGG
„Ich bin bei Bahlsen in die Gewerkschaft
gegangen, weil mein Vater pro-gewerkschaftlich
eingestellt war, immer schon.
Und da war es für mich eine Selbstverständlichkeit,
in diesem großen Betrieb in
die Gewerkschaft zu gehen, in die NGG. […]
Ich hab immer gesagt, als guter Betriebsrat
[…] muss man eigentlich eine gute Menschenkenntnis
haben. Aber man darf auch
nicht so vermessen sein, dass man sagt,
ich will nur immer fordern, sondern es
muss auch möglich sein. Ich habe immer
versucht, die ganze Zeit, beides zu verbinden.
Also das, was machbar ist, dann aber
auch auszureizen und dann auch zu holen. Das war so meine Prämisse.“
Joachim Böhm, Jg. 1944, Gesamtbetriebsratsvorsitzender Bahlsen. Das komplette
Interview: http://150.ngg.net/menschen-in-der-ngg/joachim-boehm/
die die Basis für die heutige gesetzliche
Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung
bildeten und neben der Verbesserung der
sozialen Situation für die Arbeiter auch ihre
Abkehr von SPD und Gewerkschaften bewirkten.
Aber auch die gewerkschaftlichen Betätigungen
konnten nicht zurückgedrängt werden,
und es gründeten sich sogar bei den Brauern
und den Zigarrensortierern neue Vereine.
1890 waren Sozialdemokratie (jetzt unter
dem neuen Parteinamen SPD) und Gewerkschaften
stärker als 1878, und es fand
sich nach den Wahlen zum Reichstag keine
Mehrheit zur Verlängerung des Gesetzes:
Die Gewerkschaften hatten ihre erste große
Belastungsprobe bestanden und überlebt.
Von der Berufs- zur Industrie- bis hin zur Einheitsgewerkschaft
In der Zeit nach 1890 gelang es den Gewerkschaften
immer besser, sich als Interessenvertretung
zu etablieren – und ihre
Entscheidung, Streikkassen aufzubauen, um
von vornherein für Arbeitskämpfe gerüstet
zu sein, erwies sich als richtig: Zunehmend
konnten Erfolge erzielt und erstmals
Tarifverträge abgeschlossen werden (s. S.
13). Dennoch gab es auch heftige Arbeitskämpfe
– Tabakarbeiter, Bäcker und Brauer
waren vor dem Ersten Weltkrieg mehrmals
im Streik. Um den wachsenden Einfluss der
Gewerkschaftsverbände zurückzudrängen,
gingen auch die Arbeitgeber aggressiv vor
und sperrten mehrmals die Arbeiter aus, um
die Streikkasse zu schwächen.
Aus dieser Entwicklung heraus begannen die
nach Berufssparten gegliederten Gewerkschaften
früh, über Fusionen nachzudenken.
Bereits 1892 zogen die Gewerkschaften
im Nahrungsmittelbereich eine gemeinsame
Organisation in Erwägung, doch erst
kurz vor dem Ersten Weltkrieg fanden die
ersten Zusammenschlüsse statt. Bis 1927,
als der Verband der Nahrungsmittel- und
Getränkearbeiter (VNG) gegründet werden
konnte, bedurfte es noch verschiedener
Zwischenschritte. Der Deutsche Tabakarbeiter-Verband
(DTAV) schloss sich früh mit
der Gewerkschaft der Zigarrensortierer und
Kistenbekleber zusammen, trat aber dem
VNG nicht bei. Im Gastgewerbe konnte sich
1920 der Zentralverband der Hotel-, Restaurant-
und Caféangestellten (ZVHRC) bilden,
aber einige Berufsverbände aus der Branche
blieben ihm weiterhin fern.
Außerdem waren die Gewerkschaften
politisch unterschiedlich ausgerichtet: Es
gab neben den freien Gewerkschaften auch
liberale und christliche Verbände. Dies
machte insbesondere in der zweiten Hälfte
der Weimarer Republik unter der politischen
Radikalisierung des Landes den Gewerkschaften
zunehmend Schwierigkeiten.
Während die Gewerkschaften im Ersten
Weltkrieg – obwohl sie bis kurz vor Ausbruch
noch vehement für Frieden aufgerufen und
demonstriert hatten – am „Burgfrieden“ teilnahmen
und einem Verbot entgingen, nützte
ihnen 1933 die gleiche Haltung gegenüber
den Nationalsozialisten nichts: Einen Tag
nach den Maidemonstrationen besetzten
die Nazis die Gewerkschaftshäuser und
verhafteten zahlreiche Funktionäre. Alle
Gewerkschaften wurden in die „Deutsche
Arbeitsfront“ überführt. In den schwärzesten
Jahren der deutschen Geschichte waren die
Gewerkschaften kaltgestellt – doch leisteten
einige Gewerkschafter auch in den zwölf
Jahren der Nazi-Diktatur Widerstand.
Getrennte Wege: Einheitsgewerkschaft in
Ost und West
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs
geht es für Millionen Menschen vor allem
darum zu überleben. Nahrungsmittel sind
knapp, und die Wohnungsnot wird durch fast
zwölf Millionen Flüchtlinge und Vertriebene
auf der Suche nach einer neuen Heimat
noch verschärft. In dieser Zeit beginnt die
Geschichte des Wiederaufbaus auch der
Gewerkschaften:
Am 1. August 1947 tritt in Hamburg der
Gründungsverbandstag der Industriegewerkschaft
Nahrung-Genuss-Gaststätten für die
Britische Zone zusammen. Im Mai 1949 kommen
in München die Landesgewerkschaften
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GESCHICHTE
Foto: CDU / Dominik Butzmann
NGG – eine stolze Gewerkschaft mit langem
Atem
150 Jahre NGG: Nur wenige Organisationen
in Deutschland können auf solch ein
würdiges Jubiläum blicken. Seit den Tagen
des Allgemeinen Deutschen Cigarrenarbeitervereins
ist Ihre Gewerkschaft eine
vernehmbare Stimme für Ihre Interessen.
Damals kämpfte sie gegen die Ausbeutung
der Arbeiter durch überlange Arbeitszeiten
und geringe Löhne. Pragmatisch und mit
dem nötigen Augenmaß für das Machbare
– so geht die NGG seit jeher ans Werk. In
den Gründungsjahren verkörperte der „Vorleser“ mit der gemeinschaftlich organisierten
Weiterbildung unter den Zigarrenmachern diesen Pragmatismus in besonderer
Weise.
Ihren ausgeprägten Willen für Zusammenhalt und Solidarität hat sich die NGG in ihrer
wechselvollen Geschichte immer bewahrt. Erinnert sei nur an ihren zügigen Zusammenschluss
zur gesamtdeutschen Gewerkschaft im Dezember vor 25 Jahren. Auch in
der globalisierten Arbeitswelt nimmt sie die Herausforderungen mit Beharrlichkeit und
langem Atem an: Heute geht es der NGG um faire Arbeit und gutes Leben. Rekordbeschäftigung,
steigende Einkommen und der gesetzliche Mindestlohn tragen dazu bei.
Bei aller Veränderung: Die gelebte Sozialpartnerschaft bleibt eine wesentliche
Grundlage des Zusammenhalts und Erfolgs unseres Landes. Dazu leistet die NGG ihren
bedeutenden Anteil. Ich gratuliere herzlich und wünsche Ihrer Gewerkschaft auch für
die Zukunft die nötige Ausdauer und Kraft, um unser Land mitzugestalten.
Angela Merkel,
Bundeskanzlerin
der amerikanischen und französischen
Zonen dazu. Für diesen Zusammenschluss
aus Tabakarbeiter-Verband, VNG und ZVHRC
war ganze Arbeit zu leisten – einen wesentlichen
Anteil daran hatte Gustav Pufal, der
erste Vorsitzende der neu gegründeten NGG.
Doch diese Fusion war nicht nur erfolgreich,
sondern auch nachhaltig: NGG ist eine von
nur drei Gewerkschaften im DGB, die seit
1949 nicht fusioniert haben.
In der Bundesrepublik wird der Wiederaufbau
zu einer zentralen Aufgabe, und die
Gewerkschaften und auch die gemeinwirtschaftlichen
Unternehmen spielen dabei
eine tragende Rolle. Für diese Rolle war auch
entscheidend, dass der Staat – anders als
in der Weimarer Republik – sich nicht über
Zwangsschlichtungen in die Tarifpolitik
einmischte. Das war nicht immer selbstverständlich
- Konrad Adenauer plante
eigentlich, die Tarifautonomie mit einem
automatischen sogenannten „Indexlohn“ zu
untergraben – es wäre einer Zementierung
der Einkommensverteilung gleichgekommen.
Das Wirtschaftswunder der 1950er und 60er
Jahre mit seinen immensen Wachstumsraten
erlaubt es den Gewerkschaften stattdessen,
deutliche Fortschritte bei der Entlohnung
und der Regelung von Arbeitszeiten und
Urlaub zu erzielen. Schon damals zählte
NGG zu den Vorreitern in der Tarifpolitik, und
wurde zum Trendsetter der Tarifpolitik in den
70er und 80er Jahren (s. Tariferfolge S. 13).
In der DDR waren die Beschäftigten der
NGG-Branchen in den Gewerkschaften Handel,
Nahrung und Genuss (HNG) und Land,
Nahrungsgüter und Forst (LNF) organisiert.
Sie waren Teil des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes
(FDGB) und des sozialistischen
Wirtschaftssystems. Anstelle von
Streiks organisierten die Gewerkschaften
den Feriendienst und das Eingabewesen,
eine Art Beschwerdemanagement. Nach der
Niederschlagung des aus Streiks entstandenen
Volksaufstands 1953 gab es in der DDR
– dem Arbeiter- und Bauernstaat – keine
kollektiven Bewegungen der Beschäftigten
mehr.
Durch die friedliche Revolution in der DDR
und die anschließende Wiedervereinigung
änderte sich auch die Welt der Gewerkschaften
(s. S. 7).
Die Chronik der NGG und ihrer Vorläuferverbände
Entstehung 1865 – 1895
In allen Berufszweigen bestanden bis 1933 mehrere
Verbände, denn neben den „freien“ Gewerkschaften
wurden auch „christliche“ und „liberale“
Verbände gegründet. Wir nennen hier die jeweils
erste Verbandsgründung.
1865 Allgemeiner Deutscher Cigarrenarbeiter-Verein
(später Deutscher Tabakarbeiter-Verband
- DTAV)
1868 Allgemeiner Deutscher Bäckerverein
1876 Bund der Deutschen Böttcher
1877 Genfer Verband der Hotel- und Gaststätten-Angestellten
1878 Erlass des Sozialistengesetzes und
Verbot politischer Betätigung für
die Gewerkschaften
1879 Verband der Lebküchler
1885 Verband der Zigarrensortierer und
Kistenbekleber
1889 Verband Deutscher Müllergesellen
(später Mühlenarbeiter)
1890 Aufhebung des Sozialistengesetzes
1891 Zentralverband Deutscher Brauer
1893 Zentralverband der Fleischer und Berufsgenossen
Zusammenschlüsse 1907 - 1927
1907 Verband der Bäcker und Konditoren,
später Denag (Deutscher Nahrungsund
Genussmittelarbeiterverband)
1910 Brauer und Mühlenarbeiter, später
VLG (Verband der Lebensmittel- und
Getränkearbeiter Deutschlands)
1912 Tabakarbeiter und Zigarrensortierer
1920 Zentralverband der Hotel-, Restaurantund
Caféangestellten (ZVHRC)
1927 VNG (Verband der Nahrungsmittelund
Getränkearbeiter): aus Denag,
VLG und Zentralverbänden der Fleischer
und der Böttcher hervorgegangen
1933 Zerschlagung der deutschen Gewerkschaften
durch die Nazis
Entwicklung der NGG nach dem Zweiten Weltkrieg
1945-46 Wiedergründung der Gewerkschaften
in den vier Besatzungszonen
1947 Zusammenschluss von VNG, DTAV und
ZVHRC zur IG Nahrung-Genuss- Gaststätten
in der britischen Zone
1949 Gründung der IG NGG (später NGG) in
der BRD und der IG NGG in der DDR
1958 Fusion von NGG DDR mit Gewerkschaft
Handel zur Gewerkschaft Handel-Nahrung-Genuss
(HNG)
1990 1. Juni: Auflösung der HNG und Gründung
der NGG (DDR)
1. Dezember: Fusion der NGG (BRD)
und NGG (DDR)
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GESCHICHTE
150 Jahre NGG – 25 Jahre wiedervereinigt
Im Dezember 2015 feiern wir ein doppeltes
Jubiläum – neben dem 150. Geburtstag am
26. Dezember blicken wir am 1. Dezember
auf 25 Jahre gemeinsame NGG in west- und
ostdeutschen Bundesländern zurück.
Nach der friedlichen Revolution in der DDR
im Oktober und November 1989 begann ein
aufregendes Jahr mit weitreichenden Veränderungen
– nach der Volkskammerwahl
im März 1990 zeichnete sich eine schnelle
Währungsunion und Wiedervereinigung der
beiden deutschen Staaten ab.
Nach dem Rücktritt von Günter Döding im
Frühjahr 1989 war Erich Herrmann (s. S. 10
ff.) in diesem Jahr als Geschäftsführender
NGG-Vorsitzender besonders gefordert:
„Plötzlich war sie da, die Wiedervereinigung,
obwohl niemand mehr richtig daran
geglaubt hatte - am wenigsten Bundeskanzler
Kohl. Aber er sprang noch rechtzeitig auf
den fahrenden Zug auf und ließ sich dafür
als „Vater der Wiedervereinigung“ feiern. 40
Jahre war darüber geredet worden, teure Institute
schrieben Memoranden, zeitweilig gab
es sogar ein Ministerium. Als es aber soweit
kam, war niemand richtig darauf vorbereitet
– auch die Gewerkschaften nicht.
Nach dem Umschwung zeigte sich, in
welchem beklagenswerten Zustand sich
die Industriebetriebe in der DDR befanden
- „Zusammengehalten von Rost und Ideologie“
wie ein Ostfunktionär sarkastisch sagte.
[...] Die Menschen waren des DDR-Regimes
überdrüssig, sie wollten die „soziale Marktwirtschaft“,
ohne genau zu wissen, was das
ist. Sie wollten die Reisefreiheit, die D-Mark
und Westprodukte. Auf einer Betriebsrätekonferenz
in Ost-Berlin mahnte ich: „Wenn
jeder nur noch Westprodukte kauft, geht
das zu Lasten eurer Arbeitsplätze“. Doch die
Antwort war deutlich: „Wir wollen auch die
guten Waren haben, die ihr im Westen habt“,
antwortete mir eine Teilnehmerin.
Eine seltsame Stimmung herrschte in diesen
Monaten: Als die D-Mark am 30. Juni 1990
kam, waren die Ostbetriebe beschäftigungslos
oder produzierten auf Lager. Wir
forderten einen Marshallplan für den Osten,
wurden bei den beiden Wirtschaftsministern
vorstellig und verlangten einen wenigstens
zeitweiligen Verzicht auf die Mehrwertsteuer.
Aber beide winkten ab: Die Marktwirtschaft
würde das von selbst regeln, und sie tat es
dann auch auf ihre Weise. Die „Volkseigenen
Betriebe“ (VEB) waren infolge fehlender
Rentabilität praktisch wertlos geworden. Die
Westprodukte überschwemmten den Markt,
und durch den Einigungsvertrag sollten die
VEB entweder an die alten Besitzer zurückgegeben
oder von der „Treuhandanstalt“
verwertet werden.
Einige wenige Filetstücke waren bald an
die Westkonkurrenz vergeben. Die übrigen
sicherten sich Konkurrenzbetriebe wegen der
Markenrechte und der Absatzgebiete. Die
Schrottbetriebe waren bald dicht. Bundeskanzler
Kohl hatte gehofft, aus dem Verkauf
der Volkseigenen Betriebe einen großen Teil
der Wiedervereinigungskosten zu decken. In
Wirklichkeit reichte der Erlös nicht einmal,
um die Kosten der Treuhandverwaltung zu
bezahlen.“
(aus den „Reminiszenzen“ von Erich Herrmann)
Für den ebenfalls anstehenden Zusammenschluss
der Gewerkschaften gab es
einige Hürden zu überwinden. Durch den
Zusammenschluss der NGG in der DDR mit
der Gewerkschaft Handel zur Gewerkschaft
Handel-Nahrung-Genuss (HNG) war der
Organisationsbereich nicht deckungsgleich
mit der NGG in der BRD – und die Beschäftigten
der Mühlen- und Zuckerindustrie
als „Nahrungsmittelfabrikation der ersten
Verarbeitungsstufe“ waren in der LNF, der
Gewerkschaft Land, Nahrungsgüter und
Forst“ organisiert.
In Absprache mit der Gewerkschaft Handel,
Banken und Versicherungen gründeten 177
Delegierte in der noch existierenden DDR
zum 1. Juni 1990 die NGG (DDR). Der Mitgliederbestand
der HNG wurde nicht automatisch
übernommen, sondern die Mitglieder
traten der NGG (DDR) einzeln bei. Die NGG
Foto: SPD
Foto: NGG
(DDR) baute ein Netz aus 14 Verwaltungsstellen
auf und schloss sehr schnell die
ersten Tarifverträge ab.
Das Beitrittsdatum der DDR zur Bundesrepublik
am 3. Oktober 1990 verhinderte formal
den Zusammenschluss beider NGG-Organisationen
bereits zum 11. Ordentlichen
Gewerkschaftstag der NGG im September.
So beschlossen der Gewerkschaftsrat der
NGG (DDR) und der Beirat der NGG (BRD) erst
einige Wochen später den Zusammenschluss
der beiden Organisationen zur NGG mit
Wirkung zum 1. Dezember 1990.
Mit diesem Datum ist das Ziel der Einheitsgewerkschaft
in der Nahrungsmittelidustrie,
im Lebensmittelhandwerk und im Gastgewerbe
für ganz Deutschland erreicht.
Liebe Mitglieder der Gewerkschaft NGG,
ich gratuliere zu 150 Jahren starker
Gewerkschaft. 150 Jahre Einsatz für
gute Arbeitsbedingungen, Emanzipation
und Mitbestimmung. Die Einigkeit von
Gewerkschaften und Sozialdemokratie
in zentralen Fragen der Arbeitsgestaltung
brachte immer gesellschaftlichen
Fortschritt. Das muss so bleiben; jeder
an seinem Platz, aber mit gleichem Ziel:
Es geht um die Würde des Menschen und
seiner Arbeit.
Sigmar Gabriel,
SPD-Parteivorsitzender
einigkeit 6 /2015
7
GESCHICHTE
Eigenständig und innovativ – unsere NGG seit 1990
Die 25 Jahre seit Dezember 1990 waren
für NGG nicht einfach. Die zurückgehende
Beschäftigung in Ost und West bedeutete
für NGG Mitgliederverluste; Tariferfolge
mussten immer häufiger durch Arbeitskämpfe
erzwungen werden (s. S. 25), die Arbeitgeber
verweigerten ohnehin immer häufiger
Tarifverträge und aus der Politik führten viele
Reformen zu Sozialabbau z.B. bei Rente und
Arbeitslosenunterstützung.
Foto: NGG
Aufgrund des Mitgliederrückgangs prüfte
NGG 1996, ob sie sich mit der Gewerkschaft
Textil und Bekleidung (GTB) vereinigen sollte,
mit der sie seit 1978 z.B. bei der Produktion
der „einigkeit“ kooperierte. Nachdem
die GTB sich – wie auch die Gewerkschaft
Holz und Kunststoff - an die IG Metall
anschloss, entschied sich NGG, eigenständig
zu bleiben und sich auch nicht an der
Großfusion zur Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft
(ver.di) zu beteiligen.
1999 beschloss die NGG als erste Gewerkschaft,
die Einführung eines gesetzlichen
Mindestlohns zu fordern. Hintergrund war
vor allem die schwindende Tarifbindung in
mehreren NGG-Branchen wie Fleischwirtschaft,
Gastgewerbe und Bäckerhandwerk.
Die beharrliche Arbeit in Diskussionen
und Kampagnen – wie die mit ver.di 2006
gestartete „Initiative Mindestlohn“ und die
späteren Aktionen des DGB – führte bereits
2008 zu einer gesellschaftlichen Mehrheit
für den Mindestlohn. Es dauerte noch
sechs weitere Jahre, bis 2014 der Deutsche
Bundestag die Einführung des Mindestlohns
beschloss – ein Erfolg, der auf eine NGG-
Initiative zurückgeht.
Mit 150 Jahren Geschichte „auf dem Buckel“
ist NGG nicht nur die älteste Gewerkschaft in
Deutschland, sondern innerhalb der Gewerkschaften
im Deutschen Gewerkschaftsbund
Im Juni 2014 tourten ver.di und NGG mit der Forderung „Mindestlohn; Ohne Ausnahmen. Ohne Schlupflöcher“ durch Deutschland.
V. l. n. r.: Ver.di-Vorsitznder Frank Bsirkse und Michaela Rosenberger, NGG-Vorsitzende
die einzige, die sowohl für einen Industrieals
auch einen Dienstleistungszweig zuständig
ist. Die Ernährungsindustrie ist mit einer
halben Million Beschäftigten der viertgrößte
Industriezweig. Historisch mittelständisch
organisiert, liegt der Anteil der Unternehmen
mit 5.900 bei 26 Prozent aller industriellen
Unternehmen. Ernährungsindustrie und
Nahrungsmittelhandwerk leisten durch die
Versorgung der Bevölkerung mit qualitativ
hochwertigen Produkten einen essenziellen
Beitrag zu unserer Volkswirtschaft und
tragen außerdem zu unserem Exportvolumen
bei. NGG hat mehr als die Hälfte ihrer Mitglieder
im industriellen Bereich organisiert.
Das Gastgewerbe beschäftigt in einer sehr
kleinteiligen Betriebsstruktur annähernd
zwei Millionen Menschen, davon weniger als
die Hälfte in sozialversicherungspflichtigen
Arbeitsverhältnissen. Insbesondere in der
Betriebs- und Sozialverpflegung, der Systemgastronomie
und der Kettenhotellerie hat
NGG gute Organisationsstrukturen aufgebaut.
Die jeweiligen Teilbranchen leisten neben
attraktiven gastronomischen Angeboten
auch bei der Verpflegung u.a. von Berufstätigen
und Pendlern, bei Tagungsmöglichkeiten
und Beherbergung von Geschäftsreisenden
sowie einem für inländische und internationale
Gäste attraktiven Tourismus wesentliche
Beiträge zum Bruttoinlandsprodukt.
NGG weist in der Mitgliederentwicklung seit
2006 anhaltend positive Zahlen im Bereich
der erwerbstätigen Mitglieder auf. NGG wird
deshalb ihren Weg der Eigenständigkeit als
kleine, aber effiziente und schlagkräftige
Gewerkschaft weitergehen.
Weitere Infos zur NGG-Geschichte:
www.ngg.net/150
Foto: Helge Krückeberg
8Foto: NGG
einigkeit 6 /2015
„1974 hat bei Philip Morris sich so eine Gruppe
zusammengetan und gesagt: Wir gründen jetzt
einen Betriebsrat im Außendienst. Keiner hat
gewusst, wie das eigentlich geht, aber dann haben
wir gesagt: Das machen wir jetzt. Und dann
haben wir einen Betriebsrat gegründet. War
alles verkehrt, aber die Company wusste es ja
auch nicht. Die Amerikaner hatten ja auch keine
Ahnung gehabt. Die haben nur gesagt: Gesetze
werden eingehalten und da haben wir gesagt,
das ist Gesetz.“
Heinz Burger, Jg. 1940, u. a. Gesamtbetriebsratsvorsitzender bei Philip Morris. Komplettes
Interview: http://150.ngg.net/menschen-in-der-ngg/heinz-burger/
Anderthalb Jahrhunderte Überzeugung
Ich wünsche Euch alles Gute für die
Zukunft. Die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer Eurer wachsenden
Branchen brauchen Euch. Eure stolze
Geschichte trifft auf eine Zukunft, für die
ich Euch Kraft und Stärke wünsche. So
unterschiedlich die Branchen der NGG
und der IG BCE in vielen Bereichen sind,
wissen wir gemeinsam aus einer langen
Tradition: Verlassen können wir uns nur
auf unsere eigene Kraft und Einheit.
Michael Vassiliadis,
Vorsitzender der IG BCE
GESCHICHTE
„Wenn der Hunger zur Tür hineintritt,
fliegt das Prinzip zum Fenster hinaus.“
Foto: Heinrich-Kaufmann-Stiftung
Adolph von Elm
Zwei Zigarrenarbeiter waren die Pioniere der
Arbeitslosenversicherung.
Über die Höhe der Arbeitslosenversicherung
kann man trefflich streiten. Stichwort
Hartz IV. Aber ganz ohne Arbeitslosenversicherung
– wer könnte sich das heute noch
vorstellen? Einen gesetzlichen Anspruch
auf Arbeitslosenunterstützung gibt es erst
seit 1927. Verschiedene Gewerkschaften
hatten aber bereits zuvor die Leistung von
Arbeitslosengeld in ihrer Satzung verankert,
so etwa der Verband der Zigarrensortierer
und Kistenbekleber unter ihrem Vorsitzenden
und späteren Reichstagsabgeordneten
Adolph von Elm. Die Gewerkschaften waren
in der Frage der Arbeitslosenversicherung
tief gespalten. Die einen hielten sie für nicht
finanzierbar, denn die erforderlichen hohen
Beiträge würden die Mitglieder verschrecken
und vertreiben. Es könne auch nicht Aufgabe
der Gewerkschaften sein, die Folgen der
Arbeitslosigkeit als „Krebsschaden des Kapitalismus“
erträglich zu machen. Auch in der
SPD wurde diese Auffassung lange geteilt.
Bei der Aufstellung des Erfurter Programms
1891 wurde noch nicht einmal die Forderung
nach einer Arbeitslosenversicherung erhoben,
denn sie sei undurchführbar.
Anders Adolph von Elm. Er hatte in den USA
Erfahrungen mit der gewerkschaftlichen
Arbeitslosenunterstützung gesammelt, hatte
die Sache durchgerechnet und nach seiner
Rückkehr nach Hamburg 1883 beim Verband
der Zigarrensortierer für eine deutliche
Beitragserhöhung und die Einführung der
Arbeitslosenunterstützung gesorgt. Noch
1892 leisteten ihren Mitgliedern von den
über 50 gewerkschaftlichen Zentralverbänden
nur zehn eine Hilfe bei Arbeitslosigkeit.
Von Elm: „Wenn der Hunger zur Tür hineintritt,
fliegt das Prinzip zum Fenster hinaus.“
Und: „Die Arbeitslosenversicherung hat sich
als das beste Mittel bewährt, die Arbeiter
fester an die Gewerkschaft zu ketten, ihnen
im täglichen Kampfe um die im Streik errungenen
Vorteile den Rücken zu stärken.“ Von
Elm sah durchaus die finanziellen Probleme
vieler Gewerkschaften, weshalb er das
„Genter Modell“ favorisierte, benannt nach
der belgischen Stadt Gent. Dort leisteten
die Gewerkschaften Arbeitslosenhilfe, aber
sie wurden dabei finanziell von der Stadt
unterstützt. Ähnliche Modelle gab es auch in
zahlreichen deutschen Städten, so in Mannheim,
Köln, Stuttgart und Ludwigshafen. Auf
verschiedenen Gewerkschaftskongressen
und in umfangreichen Zeitschriftenaufsätzen
hat von Elm für die Arbeitslosenversicherung
geworben, schon bei der Gründung der
Generalkommission der Gewerkschaften
Deutschlands, der Vorläuferorganisation des
Foto: Heinrich-Kaufmann-Stiftung
heutigen DGB, deren Mitglied er war.
Ein Gegenspieler von Elms war Hermann
Molkenbuhr, auch ein aus dem Hamburger
Gebiet stammender Tabakarbeiter, der seit
1890 für die SPD Mitglied des Reichstages
war und sich dort zu einem anerkannten
Sozialpolitiker entwickelt hatte. Er hielt eine
allgemeine Arbeitslosenversicherung nur in
Hermann Molkenbuhr
der Form einer staatlichen Pflichtversicherung
für machbar und setzte diese Position
in der Führung der SPD durch. Seine Konzeption
wurde schließlich 1927 mit dem „Gesetz
über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung
(AVAVG)“ realisiert. Für
die Arbeitnehmer war dies ein großer Erfolg,
allerdings mit dem Wermutstropfen für die
Gewerkschaften, dass sie mit der eigenen
Arbeitslosenunterstützung ein wesentliches
Werbeargument für neue Mitglieder verloren.
Autor: Burchard Bösche, ehemaliger NGG-
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NGG MV_8009_6/2015
einigkeit 6 /2015 9
Foto: NGG
Foto: SAPMO, Bundesarchiv,
Nachlass Anna Belger, NY 4475/4
VORSITZENDE
Mit Engagement, Mut und gegen viele Widerstände
Seit der Gründung unseres Vorläufers, des Allgemeinen Deutschen Cigarrenarbeiter-Vereins, im Jahr 1865 sind es die in der NGG zusammengeschlossenen
Menschen, die durch ihr großes Engagement, durch Mut und gegen viele Widerstände die NGG zu der schlagkräftigen und
erfolgreichen Gewerkschaft machen, die sie bis heute ist. Die hier vorgestellten NGG-Vorsitzenden stehen daher exemplarisch für unzählige
ihrer haupt- und ehrenamtlichen KollegInnen: von 1865 bis heute.
Karl Deichmann
(1863-1940) war
Vorsitzender des
Deutschen Tabakarbeiter-Verbands.
Als
gelernter Zigarrenmacher
wurde Deichmann
1883 Mitglied
des Unterstützungsvereins
deutscher
Karl Deichmann
Tabakarbeiter, der
aufgrund des Sozialistengesetzes die einzig
erlaubte Form der Vereinsbildung durch
die Arbeiter war. 1888 wurde Deichmann
Bevollmächtigter der Zahlstelle Bremen.
Nach seiner Maßregelung war er einige Jahre
in Altona tätig und ging nach der großen
Aussperrung der Zigarrenarbeiter zurück
nach Bremen. 1896 wurde Deichmann in den
Hauptvorstand des DTAV gewählt und war
von 1900 bis 1928 dessen Vorsitzender. Mit
28 Jahren war er der am längsten amtierende
Vorsitzende von NGG und ihren Vorläuferverbänden.
Deichmann war ebenfalls in der Politik tätig,
von 1912 Mitglied des Reichtags, 1919 Mitglied
der Nationalversammlung in Bremen,
1919 bis 1920 Bürgermeister von Bremen
und von 1928 bis 1931 stellv. Senatspräsident
von Bremen. Er starb 1940.
Fritz Saar 1889 in
Minden geboren, war
Fritz Saar gelernter
Koch und Kellner.
Er trat 1909 der
SPD bei und wurde
Mitglied im Verband
deutscher Gastwirtsgehilfen,
seit 1910
dort hauptamtlicher
Fritz Saar
Sekretär in der Ortsverwaltung
Berlin.
Von 1922 bis 1930 war Fritz Saar geschäftsführender
Vorsitzender der Zahlstelle Berlin
Foto: NGG
beim Zentralverband der Hotel-, Restaurant-
und Café-Angestellten, bis 1933 auch
dessen Vorsitzender. Parallel dazu war er
seit 1932 Vorsitzender der Internationalen
Union der Hotel-, Restaurant- und Café-Angestellten.
Er emigrierte 1933 nach Amsterdam
und gab dort von 1935 bis 1941 die illegale
Gastwirtsgehilfenzeitung heraus. 1941
von der Gestapo verhaftet, wurde Fritz Saar
vor dem sogenannten Volksgerichtshof zu
lebenslänglicher Zuchthausstrafe verurteilt.
Nach Kriegsende war er am Aufbau der Gewerkschaften
in Berlin beteiligt. Er verstarb
1948.
Eduard Backert
(1874-1960) war von
1927 – 1933 Vorsitzender
des Verbands
der Nahrungsmittelund
Getränkearbeiter
(VNG). Der gelernte
Brauer wurde 1892
Mitglied im Zentralverband
Deutscher
Eduard Backert
Brauer und 1904
hauptamtlich für den Verband in Ostpreußen
tätig. 1907 wurde er zum 2. Vorsitzenden
und 1914 zum Vorsitzenden des Brauerei-
und Mühlenarbeiterverbands gewählt.
Backert war Mitglied im Vorstand des ADGB
und Mitglied im Reichswirtschaftsrat der
Weimarer Republik. Nach der Machtübertragung
an die Nazis wurde Backert zunächst
in Schutzhaft genommen, wechselte seinen
Wohnsitz nach Zepernick und überstand die
Nazizeit daraufhin weitestgehend unbehelligt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg half
Backert beim Wiederaufbau der Gewerkschaften
durch beratende Tätigkeiten, sein
Handbuch für die Funktionäre der Industriegewerkschaft
Nahrung-Genuß-Gaststätten
von 1948 zeugt von seiner umfassenden
Unterstützung für die Wiederherstellung der
gewerkschaftlichen Strukturen.
Foto: NGG
Foto: NGG
Gustav Pufal, Jahrgang
1895, war der
Gründungsvorsitzende
der vereinigten IG
Nahrung-Genuß-Gaststätten
von 1949 bis
zu seinem überraschenden
Tod 1950.
Der gelernte Böttcher
arbeitete in der Norddeutschen
Reismühle
Gustav Pufal
und war ab 1912 Mitglied im Verband der
Brauerei- und Mühlenarbeiter. 1925 wurde
er ehrenamtliches Vorstandsmitglied im
Verband der Lebensmittel- und Getränkearbeiter
und 1927 Sektionsleiter der Mühlenarbeiter
im Bezirk Nordmark. Nach dem
Zweiten Weltkrieg war Pufal maßgeblich am
Wiederaufbau des VNG im Norden beteiligt,
ab 1947 war er Vorsitzender der NGG in der
britischen Zone und ab Mai 1949 1. Vorsitzender
der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-
Gaststätten. Pufal starb im Juni 1950.
Ferdinand Warnecke,
geboren 1898, war
von 1949 bis 1950
2. Vorsitzender und
nach dem Tod von
Gustav Pufal bis 1951
1. Vorsitzender der
NGG. Der gelernte
Böttcher war im
Ferdinand Warnecke
Zentralverband der
Böttcher und ab 1927 im VNG tätig. Warnecke
war in seiner kurzen Amtszeit mehrfach
in Konflikt mit dem Hauptausschuss der
NGG. Der Hauptvorstand schlug 1951 dem
1. Gewerkschaftstag daher sowohl ihn als
auch den Hauptausschussvorsitzenden Hans
Nätscher als 1. Vorsitzenden vor. Nach der
deutlichen Niederlage war Warnecke drei
Jahre Geschäftsführer in der Ortsverwaltung
Bremen und von 1954 bis zu seinem Tod
1958 Bezirksleiter der NGG in Lübeck.
Ferdinand Warnecke
1950
Alfred Schattanik
1962
Günter Döding
1978
1949
Gustav Pufal
1951
Hans Nätscher
1966
Herbert Stadelmaier
10
einigkeit 6 /2015
Foto: NGG
VORSITZENDE
Hans Nätscher wurde
am 13. November
1896 in Lohr am
Main geboren.
Zwischen 1910 und
1913 absolvierte er
eine Fleischerlehre in
Würzburg.
Nätscher begann
Hans Nätscher
1920 seine Karriere
als Gewerkschafter, beim Zentralverband der
Fleischer in Nürnberg. Nach der Machtübernahme
der Nationalsozialisten wurde Nätscher
bis 1936 die meiste Zeit in „Schutzhaft“
genommen. In den folgenden Jahren
schlug er sich u.a. als Totengräber durch.
Nach Kriegsende beteiligte er sich am
Wiederaufbau der Gewerkschaften und war
maßgeblich an der Gründung der NGG Bayern
beteiligt. Bei der 1949 neu gegründeten
westdeutschen NGG, war er als Hauptausschussvorsitzender
einer der schärfsten
Kritiker des 1. Vorsitzenden Ferdinand
Warnecke und wurde 1951 zu dessen Nachfolger
gewählt.
Neben seiner Tätigkeit für die NGG engagierte
sich Nätscher auch bei der Internationalen
Gewerkschaftsföderation IUL, in
deren Vorstand er ab 1951 saß. Er wurde
1958 zum ersten deutschen Präsidenten der
IUL gewählt. 1962 verzichtete Nätscher aus
Altersgründen auf eine weitere Kandidatur
als NGG-Vorsitzender. Er starb 1980.
Alfred Schattanik wurde 1901 in Gleiwitz
(heute Gliwice, Polen) geboren. In der
Weimarer Republik war er für den Deutschen
Metallarbeiterverband (ein Vorläufer der IG
Metall) und den Verband der Handels- und
Gewerbetreibenden tätig. Nach starker
Verfolgung durch die Nazis war Schattanik
nach dem Krieg am Aufbau der Gewerkschaften
in Leipzig beteiligt, ging nach Konflikten
mit der SED in den Westen und arbeitete ab
1950 in der NGG-Hauptverwaltung. 1958
wurde er 2. Vorsitzender und von 1962 bis
1966 als Nachfolger des aus Altersgründen
ausscheidenden Hans Nätscher 1. Vorsitzender
der NGG. Alfred Schattanik starb 1988 in
Hamburg.
Foto: NGG
Herbert Stadelmaier,
geboren 1916 in
Klein Flottbek (heute
Hamburg-Altona),
absolvierte nach der
Mittleren Reife eine
kaufmännische Lehre
in einer Maschinenfabrik
und Mühlenbauanstalt,
in der
Herbert Stadelmaier
er anschließend als
Expedient arbeitete. Nach dem zweiten Weltkrieg
wurde Stadelmaier Mitglied der SPD
sowie der NGG-Ortsgruppe Hamburg, in der
er sich als Jugendleiter und Kassierer engagierte.
Bei der Gründung der NGG in der Britischen
Zone Ende Juli/Anfang August 1947
wählte der Verbandstag ihn als Hauptkassierer
in den Geschäftsführenden Hauptvorstand
(GHV). In diese Position wurde er auch
bei der Gründung der westdeutschen NGG
im Mai 1949 auf dem ‚Verschmelzungsverbandstag‘
von München gewählt. 1962 wurde
Stadelmaier auf dem Gewerkschaftstag in
Essen 2. Vorsitzender und vier Jahre später,
1966, schließlich 1. Vorsitzender auf dem
Bremer Gewerkschaftstag. Sowohl 1970 als
auch 1974 wurde er wiedergewählt.
In Stadelmaiers Amtszeit wurden 1970 auf
dem Berliner Gewerkschaftstag neue Hauptziele
der ‚Qualitativen Tarifpolitik‘ formuliert
und in den folgenden Jahren in verschiedenen
Maßnahmen im Sinne einer ‚Humanisierung
der Arbeit‘ tarifvertraglich verankert.
Er setzte sich sowohl für die Regelung von
bezahlten (Fort-) Bildungsmaßnahmen als
auch für eine überbetriebliche Ertragsbeteiligung
für ArbeitnehmerInnen ein.
In seiner Zeit als NGG-Vorsitzender engagierte
sich Stadelmaier auch international bei
der Gewerkschaftsföderation IUL, zeitweilig
als deren Vizepräsident, vor allem aber bei
dem 1959 von ihm mitbegründeten Europäischen
Gewerkschaftsausschuss Nahrung-
Genuss-Gaststätten, dessen Präsident er ab
1975 war. 1978 verzichtete Herbert Stadelmaier
nach 31 Jahren Amtszeit im GHV (bis
heute Rekord) aus Altersgründen auf eine
erneute Kandidatur. Er starb 2009.
Foto: NGG
Günter Döding wurde
am 4. September
1930 in Isenstedt
(Westfalen) geboren.
Nach Abschluss der
Mittleren Reife arbeitete
er als Bergmann
und Zigarrensortierer.
Er studierte an
der Sozialakademie
Günter Döding
in Dortmund und
gelangte anschließend 1953 als Gewerkschaftssekretär
zur NGG in Wuppertal. Nach
Tätigkeit als Jugendsekretär im Landesbezirk
Nordrhein-Westfalen und als Referatsleiter
in der NGG-Hauptverwaltung wurde er 1966
zum 2. Vorsitzenden der NGG gewählt. Als
Herbert Stadelmaier 1978 altersbedingt
ausschied, folgte ihm Döding als 1. Vorsitzender.
Der als Pragmatiker geltende Sozialdemokrat
wurde vor allem im Bereich der Lebensarbeitszeitverkürzung
aktiv. Bereits 1978
konnte der „Vater der Tarifrente“ für die Zigarettenindustrie
eine Regelung zur freiwilligen
Frührente durchsetzen und in anderen NGG-
Branchen zusätzliche Freizeittage für ältere
ArbeitnehmerInnen sowie Kurzpausen und
Schichtfreizeiten für SchichtarbeiterInnen.
Im Dezember 1981 schlug Günter Döding
die Einführung einer freiwilligen Frührente
mit 58 bei Fortzahlung von 75 Prozent des
Bruttoarbeitslohnes vor, um Arbeitsplätze
für junge ArbeitnehmerInnen und Auszubildende
zu schaffen. Dieser „Döding-Plan“
legte den Grundstein für die Vorruhestandsregelung
von 1984.
Während seiner Amtszeit als NGG-Vorsitzender
war Döding Präsident der internationalen
Gewerkschaftsföderation IUL (1981-1989).
Ein privater Schicksalsschlag und die Diskussion
um seine Rolle als stellvertretender
Aufsichtsratsvorsitzender im Skandal um
den Handelskonzern co op AG im Oktober
1988 setzten ihm stark zu. Günter Döding
trat im Frühjahr 1989 aus gesundheitlichen
Gründen vom Amt des 1. Vorsitzenden zurück.
Er verstarb am 8. August 2005.
Heinz-Günter Niebrügge
1990
Michaela Rosenberger
2013
1989
Erich Herrmann
1992
Franz-Josef Möllenberg
einigkeit 6 /2015 11
Foto: NGG
VORSITZENDE
Erich Herrmann wurde
am 17. Juni 1928
in Steinheim am
Main geboren. Der
gelernte Industriekaufmann
kam 1948
als Ortssekretär für
Offenbach und als
Landesjugendvorsitzender
zur NGG. Ab
Erich Herrmann
1953 war er Leiter
des NGG-Bezirks Frankfurt am Main und ab
1966 Landesvorsitzender der NGG Hessen/
Rheinland-Pfalz/Saar. Er wirkte unter anderem
an der Vereinheitlichung der Tarifverträge
für Arbeiter und Angestellte mit und
erreichte die Übernahme jenes Geländes
vom DGB, auf dem 1977 das Bildungszentrum
Oberjosbach (BZO) eröffnet wurde. Im
Jahr 1978 wurde Herrmann 2. Vorsitzender
der NGG. In dieser Position war er u. a.
an der Entwicklung und Umsetzung der
„qualitativen Tarifpolitik“ und der Vorruhestandsregelung
beteiligt. Als Günter Döding
im Mai 1989 als 1. Vorsitzender zurücktrat,
übernahm Herrmann dessen Funktion bis zur
Wahl eines Nachfolgers im September 1990.
Im folgenden Jahr verabschiedete er sich in
den Ruhestand.
International engagierte sich Herrmann in
der Exekutive der Internationalen Gewerkschaftsföderation
IUL und in deren Europäischem
Ausschuss EAL (1978-1991).
Heinz-Günter Niebrügge wurde 1935 in
Herne/Westfalen geboren. 1957 kam er zur
NGG. Von 1973 bis 1990 war er Landesbezirksvorsitzender
für Niedersachsen/Bremen
und ab 1990 Nachfolger von Erich Herrmann
als 1. Vorsitzender der NGG. Er trat 1992 aus
gesundheitlichen Gründen zurück.
Foto: NGG
Franz-Josef Möllenberg
wurde am
18. Mai 1953 in
Hagen (Nordrhein-
Westfalen) geboren
und schloss eine
Ausbildung zum
Bankkaufmann 1972
ab. 1975 begann
seine hauptamtliche
Franz-Josef Möllenberg
Laufbahn bei NGG,
ab 1978 als Geschäftsführer der Verwaltungsstelle
Hagen/Westfalen. 1990 wurde
er zum Hauptkassierer in den Geschäftsführenden
Hauptvorstand gewählt. Auf dem
Außerordentlichen Gewerkschaftstag 1992
in Düsseldorf wählten ihn die Delegierten
zum Vorsitzenden der NGG, an deren Spitze
er bis 2013 blieb. Auf dem Gewerkschaftstag
2013 verzichtete Franz-Josef Möllenberg auf
eine erneute Kandidatur. Mit einer Amtszeit
von 21 Jahren ist er der am längsten
amtierende Vorsitzende der NGG nach dem
Zweiten Weltkrieg.
Im Fusionsprozess der DGB-Gewerkschaften
von 16 auf acht Einzelgewerkschaften Ende
der 1990er Jahre hat Möllenberg früh die
Eigenständigkeit der NGG propagiert und
erfolgreich umgesetzt. Ein weiterer wichtiger
Meilenstein in der Amtszeit Möllenbergs war
der Kampf für den gesetzlichen Mindestlohn.
Auch auf seine Initiative hin beschloss NGG
1999 als erste Gewerkschaft in Deutschland,
die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns
zu fordern.
Neben seiner Tätigkeit bei der NGG war
Franz-Josef Möllenberg Vizepräsident der
Internationalen Gewerkschaftsföderation IUL
und Vizepräsident der Europäischen Gewerkschaftsföderation
EFFAT.
Foto: Marko Kubitz
Michaela Rosenberger
Lübeck ausgebildet.
Michaela Rosenberger
geboren
1960, machte eine
Ausbildung zur
Hotelfachfrau und
anschließend zur
Berufsschulfachlehrerin.
Anfang der
1990er Jahre wurde
sie zur Gewerkschaftssekretärin
in
Von 1992 bis 1997 war sie für die berufliche
Bildung in der NGG-Hauptverwaltung
in Hamburg zuständig. Ab 1997 arbeitete
Michaela Rosenberger als Landesbezirkssekretärin
im NGG-Landesbezirk Nord und
betreute die Bereiche Bildung sowie Frauen
und diverse Flächen- und Haustarifverträge.
Von 2003 bis 2013 war sie stellvertretende
Vorsitzende der NGG und zuständig für Finanzen,
Sozialpolitik, Frauen und Jugend.
Auf dem Gewerkschaftstag im November
2013 wurde sie zur Vorsitzenden der NGG
gewählt. Damit ist sie die erste Frau in diesem
Amt.
Michaela Rosenberger ist Vizepräsidentin
der EFFAT und der IUL und wurde 2015 von
der Bundesregierung in die Mindestlohnkommission
berufen.
In ihrer Armtszeit wurde der Kampf der NGG
für einen flächendeckenden gesetzlichen
Mindestlohn von zunächst 8,50 Euro pro
Stunde durch dessen Einführung am 1. Januar
2015 von Erfolg gekrönt.
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12
einigkeit 6 /2015 6
ERFOLGE
Vom Reichstarifvertrag zum Mindestlohn
tenindustrie die 40-Stunden-Woche für alle
Beschäftigten eingeführt. Die durchschnittliche
Wochenarbeitszeit in der Bundesrepublik
betrug noch bis weit in die 1960er
Jahre 48 Stunden. In der DDR wurde 1967
die reguläre Arbeit am Samstag abgeschafft
und die Wochenarbeitszeit auf 43,75 Stunden
verkürzt. Allerdings wurden gleichzeitig
einige christliche Feiertage abgeschafft.
Backpulververpackung bei Dr. Oetker in Bielefeld vor 1914
Wer sich mit der Geschichte unserer Gewerkschaft
NGG befasst, kommt nicht umhin
festzustellen, dass es uns nicht nur schon
sehr lange gibt, sondern dass wir in mancherlei
Hinsicht Vorreiter waren und unsere
(Tarif-) Erfolge die deutsche Arbeitswelt und
Gewerkschaftslandschaft entscheidend
mitgeprägt haben.
Eine unserer „Pioniertaten“ war sicherlich
der erste Reichstarifvertrag. Er wurde 1904
für Backmeister und Bäcker in Konsum- und
Genossenschaftsbäckereien vereinbart. Er
sah einen Acht-Stunden-Tag für Schichtbetriebe
vor, eine Woche Urlaub mit Lohnfortzahlung
und u.a. Verbesserungen bei der
Ventilation, sowie den Einbau von Toiletten
und Sitzbänken in den Speiseräumen. Der
Tarifvertrag galt für alle Genossenschaften
im Deutschen Reich, die beim Zentralverband
Mitglied waren. (Info: http://150.ngg.
net/mitbestimmung-und-tarifvertraege/
reichstarifvertrag/).
„Die Feinde unseres Verbandes unter den
Berufskollegen:
[…] Fangen wir zunächst bei unsern offenen
und bewußten Feinden unter den Kollegen
an. Deren Zahl ist nicht allzugroß, aber
leider immer noch groß genug, um unsere
Wirksamkeit zur Erzielung besserer Lohnund
Arbeitsbedingungen mitunter sehr zu
hemmen. Da haben wir fast in jeder Stadt
miteinigen Speichelleckern und Liebedienern
bei den Innungen zu rechnen. Diese schmutzigen,
charakterlosen Elemente sind zu jeder
Zeit bereit, für einen herablassenden Blick
oder ein Schmeichelwort ihres Arbeitgebers
[…] ihre und ihrer Kollegen Interessen an die
Arbeitgeber zu verraten. […] Jedoch alle diese
bewußten und unbewußten Feinde unserer
Organisation, die wir leicht überwinden würden,
sie reichen alle nicht an den einen
heran, an unseren schlimmsten und größten
Feind! Den Feind, den wir am tiefsten hassen,
der uns umlagert schwarz und dicht – Das ist
der Unverstand der Massen! Unverstand und
Gleichgültigkeit, die noch tausende unserer
Kollegen in dumpfen Dahinbrüten gefangen
halten, die sie nicht denkende Menschen
werden lassen, sondern sie zu Sklaven
der Backstube erniedrigen, sind unsere
schlimmsten Feinde. Und das Mittel, durch
welches nur allein diese unsere schlimmsten
Feinde überwunden werden können, es
heißt: Aufklärung und Belehrung! Mitglieder,
laßt es daran nirgends fehlen!“
Bericht in der Deutschen Bäcker-Zeitung
über die Verhandlungen zum Tarifvertrag. Nr.
10, 25. Juni 1904.
40-Stunden-Woche eingeführt
Am 1. April 1957 vereinbarte NGG für die
Schichtarbeiter in der Zigarettenindustrie
die 40-Stunden-Woche. Das war das erste
Mal, dass in einem bundesrepublikanischen
Tarifvertrag diese wöchentliche Arbeitszeit
erreicht wurde. Am 1. Januar 1959 wurde –
NGG war wiederum Vorreiter – in der Zigaret-
Foto: Kay Herscehlmann
Herzlichen Glückwunsch zum 150.
Jubiläum! Es ist mir als Vorsitzende der
GEW eine Freude, in der „einigkeit“ zu
gratulieren, denn auf Einigkeit kommt
es an, wenn wir uns für die Verbesserungen
der Arbeitsbedingungen einsetzen.
Glückwunsch auch zur Einführung des
Mindestlohns. Euer Einsatz war maßgeblich!
Weiter so! Für mich persönlich ist
Emma Sorgenfrei, Mitglied im Allgemeinen
Deutschen Cigarrenarbeiter-Verein
in Kiel, als Gewerkschafterin ein Vorbild.
Nach ihr ist das Eingangsforum des Kieler
Gewerkschaftshauses benannt. Ihr Mut und ihre Kraft haben mich immer inspiriert.‘
Marlis Tepe, Vorsitzende der GEW
Einheitliche Regelung für gewerbliche ArbeitnehmerInnen
und Angestellte
Auch in den 1970er Jahren preschte NGG
voran: mit dem Ziel, die Einkommen von
gewerblichen ArbeitnehmerInnen und Angestellten
einheitlich per Tarifvertrag zu regeln.
Der am 1. Januar 1974 in Kraft getretene
Bundesrahmentarifvertrag Brauindustrie war
der erste Einheitliche Einkommenstarifvertrag
in der Geschichte der Bundesrepublik.
Arbeitszeit Älterer verkürzen/Vorruhestandsregelung
Während es in den 1960er und 1970er vorrangig
darum ging, die gesundheitlichen
Nachteile der Schichtarbeit in zahlreichen
Manteltarifverträgen abzumildern, trat NGG
in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre an,
die Arbeitszeit älterer ArbeitnehmerInnen
zu verkürzen. Am 1. Juni 1978 wurde der
erste spektakuläre Abschluss in der Zigarettenindustrie
getroffen: die so genannte
Sudermühlen-Regelung. ArbeitnehmerInnen,
die das 60. Lebensjahr vollendet hatten,
konnten wählen: entweder bei Fortzahlung
von 75 Prozent der Bruttobezüge freigestellt
oder aber bei einer verkürzten Wochenarbeitszeit
von nur 20 Stunden mit vollem
Arbeitsentgelt weiterbeschäftigt zu werden.
Vor dem Hintergrund der Beschäftigungskrise
brachte der NGG-Hauptvorstand 1981
einen neuen Vorschlag in die Diskussion:
einigkeit 6 /2015
13
Tariferfolge
Tariferfolge fallen nicht vom Himmel, sie
wurden und werden von der Gewerkschaft
NGG hart erkämpft; hier eine kleine Auswahl:
Der erste Tarifvertrag
In Deutschland waren es die Brauereiarbeiter,
die zu den Pionieren auf dem
Gebiet der Tarifverträge gehörten. Zu einem
formgerechten Tarifvertrag kam es zum ersten
Mal im Jahr 1892. Der Tarifvertrag der
Brauer vom 17. November 1892 in Stuttgart
regelte u.a.
• die Einführung der 10-stündigen Arbeitszeit,
• Beginn und Ende der Arbeitszeit sowie der
Pausen,
• die Bezahlung von Überstundenzuschlägen,
• die monatliche bzw. 14-tägige Lohnzahlung,
• eine anständige Behandlung der Arbeiter
durch die Vorgesetzten,
• das Kostwesen, die Freiheit des Koalitionsrechts.
1959 40-Stunden-Woche
1962 Zusätzliches Urlaubsgeld
1963 erhöhter Kündigungsschutz für
ältere ArbeitnehmerInnen
1969 Arbeitszeiten von unter 40
Wochenstunden in Wechselschichten
sowie zusätzliche bezahlte
Freizeiten
1974 Einheitlicher Einkommenstarifvertrag
mit gleichen Bewertungsund
Eingruppierungskriterien für
ArbeiterInnen und Angestellte
1978 Verkürzung der Lebensarbeitszeit
in der Cigarettenindustrie
1984 Tarifverträge zum Vorruhestand
für 58-jährige und ältere Beschäftigte
in allen Branchen
1986 Verträge über betriebliche Frauenförderung
1994 Angleichung von Entgelt und
Arbeitszeit in den neuen Bundesländern
1996 Streiks zur Sicherung der Entgeltfortzahlung
im Krankheitsfall
1997 Vereinbarung von Arbeitszeitkonten
1998 Tarifverträge zur Alterteilzeit
2001 Tarifverträge zur Altersvorsorge
2006 Tarifpaket zur Beschäftigungssicherung
bei Coca-Cola
2013 Regelungen zur Übernahme von
Auszubildenden
2014 Mindestlohntarifvertrag für die
bundesdeutsche Fleischindustrie
ERFOLGE
Foto: BMAS
„Dann könnte man sich doch überlegen, ob man nicht die Möglichkeit schafft für
diejenigen, die früher ausscheiden wollen, das zu tun. Und da entstand das Konzept
des Vorruhestandes. […] Das hatte noch einen anderen Hintergrund: […] Die Unternehmen
haben selten bei Arbeitszeitverkürzung Neueinstellungen vorgenommen, sondern
haben meistens gesagt: Dann müsst ihr eben sehen, dass ihr die Arbeit in der kürzeren
Zeit fertigbringt. Und da haben wir uns überlegt, gibt es da nicht eine Möglichkeit, wie
man das anders machen kann. Und das Konzept bestand darin, dass die Bundesanstalt
für Arbeit einen Teil des Arbeitslosengeldes dem Unternehmen zur Verfügung stellte,
wenn der Unternehmer für den vorzeitig Ausgeschiedenen einen Arbeitslosen einstellt.
Dazu braucht man aber ein Gesetz. Das konnte man nicht tariflich machen. Tariflich
konnte man zwar die Bereitschaft auf der anderen Seite erkunden. Das haben wir auch
gemacht. Wir haben mit den Arbeitgebern verhandelt und haben dann einen Kompromiss
geschlossen. Wir haben die Manteltarifverträge für zwei Jahre verlängert, und
die Arbeitgeber haben ihre Zustimmung gegeben, eine solche Tarifregelung zu treffen,
wenn wir die gesetzlichen Voraussetzungen schaffen. […] Wir haben es gemacht: Wir
haben dieses Gesetz bekommen.“
Erich Herrmann, NGG-Vorsitzender von 1989 -1990, komplettes Interview: http://150.
ngg.net/menschen-in-der-ngg/erich-herrmann/
ArbeitnehmerInnen über 58 Jahre sollten
die Möglichkeit haben, mit 75 Prozent ihres
bisherigen Bruttoentgelts freiwillig vorzeitig
aus dem Arbeitsleben auszuscheiden. Der
freiwerdende Arbeitsplatz sollte mit einer/
einem Jüngeren besetzt werden. Dank der
Vorruhestandsvereinbarungen konnten weit
über 100.000 Arbeitsplätze neu geschaffen
oder gesichert werden.
Tarifverträge zur betrieblichen
Altersvorsorge
Nachdem der Bundestag mit rot-grüner
Mehrheit zur Entlastung der staatlichen
Rentenkassen die Stärkung der privaten und
betrieblichen Altersvorsorge auf den Weg
gebracht hatte, verhandelte NGG erfolgreich
Tarifverträge zur betrieblichen Altersvorsorge.
Für alle Branchen der Ernährungswirtschaft
bot sie ihren Mitgliedern die „Pensionskasse
Ernährung und Genuss“ (PEG) an,
da hier aus den Beiträgen nur wenig Verwaltungskosten
bestritten werden mussten und
überdies Arbeitgeberbeteiligungen an den
Beiträgen vereinbart werden konnten.
Mit dem DEHOGA, dem Arbeitgeberverband
im Hotel- und Gaststättengewerbe, begann
NGG im April 2001 Tarifverhandlungen über
einen bundesweiten Tarifvertrag zur Altersvorsorge
zu verhandeln. Im Frühjahr 2002
wurde vereinbart, dass monatlich 132,50
Euro aus Urlaubsgeldern umgewandelt und
13 Prozent von den Arbeitgebern gezahlt
wurden. Für die „hogarente“ wurde ein Beirat
berufen, der die Umsetzung für die mehr
als 100.000 interessierten Beschäftigten
koordinierte.
Auch für das Bäckerhandwerk schloss NGG
mit dem Zentralverband des deutschen
Bäckerhandwerks einen Tarifvertrag für die
Altersvorsorge mit der ebenfalls vom Arbeitgeber
kofinanzierten „Bäckerrente“ ab. Er
gilt für 200.000 Beschäftigte.
Kein Lohn unter 8.50 Euro!
Auch der gesetzliche Mindestlohn von 8,50
Euro pro Stunde, der seit 1. Januar 2015 für
alle Branchen in Deutschland gilt, ist eine
NGG-Idee, die sich durchgesetzt hat. Seit
Als älteste Gewerkschaft Deutschlands
macht sich die NGG seit 150 Jahren
erfolgreich für die Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer stark - und darauf kann
sie stolz sein! Ich gratuliere der NGG und
allen ihren Mitgliedern ganz herzlich zu
diesem besonderen Jubiläum und wünsche
Euch viel Kraft für Euer zukünftiges
Engagement. Lasst uns weiter gemeinsam
für gute Arbeit in Deutschland, Europa
und überall in der Welt streiten!
Andrea Nahles,
Bundesministerin für Arbeit und Soziales
14
einigkeit 6 /2015
ERFOLGE
Foto: NGG
„Ich bin vom Saulus zum Paulus geworden:
Ich habe zunächst nicht an die Wirkung
eines gesetzlichen Mindestlohns geglaubt,
hab aber dann […] mich sehr intensiv mit
dem Thema beschäftigt, hab unsere europäischen
Kolleginnen und Kollegen gefragt:
Behindert euch das in euren Ländern oder
befördert das? Und nachdem das alles
klar war, hat sich NGG an die Spitze der
Bewegung gesetzt. […] Der gesetzliche Mindestlohn
darf nicht bei 8,50 Euro stehenbleiben.
Jeder weiß, 8,50 Euro reichen nicht
für die Sicherung des Lebensstandards im
Alter. Wenn man Altersarmut verhindern
will, dann muss das schnellstmöglich angehoben
werden.“
2009: Der damalige NGG-Vorsitzende Franz-Josef Möllenberg (re.) bei einer Mindestlohn-Aktion vor dem Reichstag in Berlin
Franz-Möllenberg, NGG-Vorsitzender von
1992 bis 2013, komplettes Interview
http://150.ngg.net/menschen-in-der-ngg/
franz-josef-moellenberg/
September 1999 hatte NGG unermüdlich
gegen Niedriglöhne und für einen allgemeinen
Mindestlohn per Gesetz gekämpft: erst
allein, seit 2006 zusammen mit ver.di in der
gemeinsamen „Initiative Mindestlohn“. In
zahlreichen öffentlichkeitswirksamen Aktionen
– u.a. mit riesigen Mindestlohnpuppen
in Koch- oder Bäckerkleidung und einem
Mindestlohn-Truck, der quer durch die Republik
fuhr – hat NGG die Bevölkerung und die
Politik informiert und überzeugt. Michaela
Rosenberger, NGG-Vorsitzende: „Für uns
ist das ein großer Erfolg, denn wir waren
die ersten, die den Mindestlohn gefordert
haben. Nicht etwa, weil wir keine Tarifverträge
abschließen wollten, sondern weil die
Arbeitgeber sich diesen vielerorts verweigert
haben. Zugleich haben sie die Löhne immer
weiter abgesenkt, teilweise über die Grenze
dessen hinaus, was Menschen, die in
Vollzeit arbeiten, noch zuzumuten ist. Hier
musste der Gesetzgeber einschreiten, um
die Würde und das Überleben von Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern zumindest
ansatzweise zu gewährleisten. Heute, nach
fast einem Jahr, können wir sagen: Der
Mindestlohn hat sich nicht negativ auf den
Arbeitsmarkt ausgewirkt – allen Unkenrufen
zum Trotz. Im Gastgewerbe hat die sozialversicherungspflichtige
Beschäftigung überproportional
zugenommen, Minijobs sind
zurückgegangen. Für mehr als die Hälfte der
im Gastgewerbe Beschäftigten sind die Löhne
auf mindestens 8,50 Euro gestiegen. Das
ist ein großartiger Erfolg!“
Foto: GdP
Foto: Kay Herschelmann
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
wir gratulieren herzlich zum 150. Geburtstag!
Uns verbindet eine lange Geschichte
wir sind Weggefährten seit 1866, als die
älteste Vorläufervereinigung von
ver.di, der Buchdruckerverband, gegründet
wurde – und aktuell ein großer Erfolg:
der Mindestlohn, den wir zusammen mit
dem DGB gegen massive Widerstände
zum Erfolg getragen haben.
Mit besten Wünschen für die gemeinsame
Zukunft!
Frank Bsirske,
Vorsitzender der Gewerkschaft ver.di
Ich gratuliere der NGG zum 150.
Gründungstag und zu allen Erfolgen,
die die älteste überregionale Gewerkschaft
Deutschlands in dieser Zeit für
ihre Mitglieder durchsetzen konnte.
Aus GdP-Sicht möchte ich dabei insbesondere
das jahrelange – durchaus
auch gemeinsame – Engagement
im Kampf gegen Schwarzarbeit und
für den Mindestlohn würdigen.
Oliver Malchow,
Bundesvorsitzender
der Gewerkschaft der Polizei
einigkeit 6 /2015
15
NGG FEIERT GEBURTSTAG
„Frische Rezepte für gute Arbeit“
Foto: Marko Kubitz
Foto: Marko Kubitz
Die Tatsache, dass viele von uns in der
Weihnachtszeit einige Tage bezahlten Urlaub
haben und vielleicht sogar gerade diese
Jubiläumsausgabe der „einigkeit“ in Händen
halten, ist nicht selbstverständlich. Sie ist
möglich geworden, weil sich Weihnachten
1865, also vor genau 150 Jahren, mutige
Zigarrenarbeiter an ihren damals wenigen
16. Juni 2015: Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (li.) und die NGG-Vorsitzende Michaela Rosenberger auf dem NGG-Hoffest
in Berlin
freien Tagen im Jahr zur ältesten Vorläuferorganisation
der NGG, dem Allgemeinen
Deutschen Cigarrenarbeiterverein (ADCAV),
zusammenschlossen, um gemeinsam für
bessere Lohn- und Arbeitsbedingungen zu
kämpfen: u.a. auch für das Recht auf Urlaub.
In unserem NGG-Jubiläumsjahr ging es uns
vor allem darum, gemeinsam mit unseren
Mitgliedern Geburtstag zu feiern. Mit den
zahlreichen Regionsfeiern überall im Land,
auf denen es sowohl feierlich als auch
fröhlich-genussvoll zuging, scheint uns dies
gelungen zu sein (s. Fotos S. 18/19). Auch
auf unserem Hoffest im Juni 2015 in Berlin
haben wir unseren 150. Geburtstag mit Gästen
aus Politik, Wirtschaft, Gewerkschaften
und Medien in lockerer Atmosphäre begangen.
Etwas formeller ging es am 18. und 19.
November auf der Beiratssitzung in Leipzig
zu, also dort wo der ADCAV 1865 gegründet
wurde (s. S. 20-23).
Auf ihrer Sommertour unter unserem Jubiläumsmotto
„Frische Rezepte für gute Arbeit“
hat unsere NGG-Vorsitzende Michaela
Rosenberger gemeinsam mit MinsterpräsidentInnen
oder anderen prominenten
LandespolitikerInnen Unternehmen der
Lebensmittelherstellung und des Gastgewerbes
besucht, um zu zeigen, dass es in
Deutschland hervorragende Unternehmen
gibt, die sichere Lebensmittel in herausragender
Qualität herstellen und einen fairen
Umgang mit ihren Beschäftigten und NGG
pflegen. (www.ngg.net/artikel/2015/07/
tour-de-genuss )
NGG-Wanderaustellung „Vom Vorleser zum Mindestlohn“
Foto: Anke Illing, www.photocultur.de
150 Jahre Kampf für ein genussvolles
Leben
Zum 150. Geburtstag der Gewerkschaft
NGG möchte ich meinen herzlichsten
Glückwunsch aussprechen. Und ich
möchte mich bedanken. Für 150 Jahre
Kampf für soziale Gerechtigkeit, faire
Arbeitsbedingungen und ein genussvolles
Leben. Vieles wurde erreicht, vieles steht
noch bevor. Für die anstehenden Herausforderungen
wünsche ich der NGG viel
Stärke und Hartnäckigkeit.
Katja Kipping,
Vorsitzende der Partei Die Linke
Die Mischung macht‘s
Wie bei einem guten Rezept gilt auch für
unser Jubiläumsjahr: Die Mischung macht’s!
Sprich: Neben dem Spaß und dem Genuss
beim Feiern war es uns genauso wichtig,
unsere Mitglieder und die Öffentlichkeit über
unsere aktuelle Arbeit und die der vergangenen
150 Jahre zu informieren. Das zeigen
nicht nur die – allesamt im neuen, frischen
Layout erschienenen - diesjährigen Ausgaben
unseres Newsletters „ngg.aktuell“, unserer
Mitgliederzeitschrift „einigkeit“ sowie
die vorliegende Jubiläumsausgabe. Auch
mit unserer Jubiläumswebsite www.ngg.
net/150, unserer Wanderausstellung „Vom
Vorleser zum Mindestlohn“, unserem auf der
Beiratssitzung vorgestellten Geschichtsbuch
„Vom Vorleser zum Mindestlohn“ sowie mit
unserem öffentlichkeitswirksamen Aufruf,
uns regionale Rezepte für unsere „Bundes-
Genuss-Karte“ (www.ngg.net/bundes-
16
einigkeit 6 /2015
NGG FEIERT GEBURTSTAG
genuss-karte) und unser Jubiläumskochbuch
zu schicken, haben wir gezeigt, dass wir
seit jeher und auch künftig „Frische Rezepte
für gute Arbeit“ haben. Oder, um es mit den
Worten unserer NGG-Vorsitzenden Michaela
Rosenberger zu sagen: „Wir können nicht
nur klein, wir können auch groß!“
Foto: NGG
Bücher von/über NGG:
NGG-Jubiläumskochbuch:
Das NGG-Jubiläumskochbuch „150 FRISCHE
REZEPTE FÜR GUTE ARBEIT“ kann ab 8.
Dezember 2015 für 14 Euro über den Buchhandel
bezogen oder beim Verlag bestellt
werden:
150 FRISCHE REZEPTE FÜR GUTE ARBEIT:
Persönliche Lieblingsrezepte von ‚Angeliter
Schnüsch“ bis Zucker-Benge‘“
BAUER-VERLAG Thalhofen 2015
info@verlag-bauer.de
www.verlag-bauer.de
ISBN 9-783-95551-055-8
Gemeinsam mit der niedersächsischen Ministerin für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung, Cornelia Rundt (re.), besuchte
die NGG-Vorsitzende Michaela Rosenberger am 5. August das DMK-Werk in Zeven.
NGG-Geschichtsbuch:
Das NGG-Geschichtsbuch „Vom Vorleser zum
Mindestlohn“ kann ab sofort im Buchhandel
oder beim Verlag zum Preis von 19,80 Euro
IEBLINGSREZEPTE
Nobis debis doluptas sitiur, autat eate nectota nis il
inim entur suntinv elignitem hari siti audaeptas alit
exped bezogen expe voluptam, werden: simus ad quos autatempos
comnis ipsunt fugit remperc hillorerspic tora conempe
riatum quiate Nempersp elitiunti vit ra parunto
optati volor reremol uptatiis aut odic tempor
sum quate pore mi, occaborem voluptatust, ipiet
quo que porestem que corro eum ipicae. Sundi dolorro
vitassi der NGG tenitatiis 1865 magnatur, bis 2015. veriatis volorae
pelestrum VSA: quod Verlag moluptatur Hamburg sapienimus, 2015 volupiciate
offic tectium ilicil et, to volum volut fugiatem
quat. 208 Seiten inkl. DVD
Beate Schreiber, Hans-Christian Bresgott,
Daniel König und Constanze Seifert: Vom
Vorleser zum Mindestlohn. Die Geschichte
Essit quas acepudam eici cum harci omni rest, ut
pratiis
Immer
quisi od
noch
que volesciis
lesenswert:
a deliquam, si ut lautas
ipsum ati deriae sequam.
Willy Buschak: Von Menschen, die wie Menschen
leben wollten. Die Geschichte der Gewerkschaft
Nahrung-Genuss-Gaststätten und
ihrer Vorläufer. 1985 Bund-Verlag (leider nur
noch antiquarisch erhältlich)
Foto: NGG
Foto: NGG
BAUER-VERLAG GmbH
www.verlag-bauer.de
Das NGG-Jubiläumskochbuch erscheint am 8. Dezember 2015.
Foto: EVG
Einigkeit macht stark
Die Zigarrenarbeiter, die sich Mitte des
19. Jahrhunderts gegen die Ausbeutung
auflehnten, hatten richtig erkannt: Nur
Einigkeit macht stark. Die NGG hat ihre
Wurzeln nie vergessen. Mit ihrem Kampf
für faire Arbeitsbedingungen auch in
Kleinstbetrieben ist sie ein starker Partner
in einem starken DGB und weiß die EVG
an ihrer Seite. Wir sagen: Danke, NGG,
und weiter alles Gute!
06.11.15 13:2
NGG-Geschichtsbuch, erschienen im November 2015
Alexander Kirchner,
Vorsitzender der EVG
einigkeit 6 /2015
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18
einigkeit 6 /2015
einigkeit 6 /2015 19
Foto: Marko Kubitz Foto: Marko Kubitz
NGG FEIERT GEBURTSTAG
„Wo wir zusammen auftreten, können wir etwas erreichen“
Festakt und Beiratssitzung in Leipzig
Michaela Rosenberger, Vorsitzende der NGG, eröffnete die Jubiläumssitzung.
Am 26. Dezember 2015 wird unsere
Gewerkschaft NGG 150 Jahre alt. Am 18. und
19. November ist der Beirat, das höchste
Entscheidungsgremium der NGG zwischen
den Gewerkschaftstagen, zu einer Jubiläumssitzung
in Leipzig zusammengekommen,
um den runden Geburtstag mit einem
Festakt im Beisein des Bundestagspräsidenten
Norbert Lammert zu begehen. Auf
Leipzig fiel die Wahl aus gutem Grund: Dort
wurde 1865 die älteste Vorläuferorganisation
der NGG, der Allgemeine Deutsche
Cigarrenarbeiter-Verein (ADCAV), geründet.
In ihrer Festrede anlässlich des 150-jährigen
Bestehens der NGG gedachte die NGG-Vorsitzende
Michaela Rosenberger zunächst der
Opfer der Terroranschläge vom 13. November
in Paris: Die Antwort auf Gewalt könne
nicht Krieg, sondern nur noch mehr Demokratie
und Humanität sein: „Wir werden auch
Reiner Hoffmann, DGB-Vorsitzender, überbrachte die Glückwünsche des DGB.
weiterhin für Freiheit
und das friedliche
Zusammenleben der
Religionen eintreten!“
In ihrem Rückblick auf
die wechselvolle
Geschichte der NGG
hob sie den Mut und
die Beharrlichkeit der
Menschen hervor, die
sich - teilweise unter
Lebensgefahr - für
bessere Arbeits- und
Lebensbedingungen
engagiert haben: stets
gemeinsam, gemäß der
Erkenntnis unseres Gründungsvaters
Friedrich Wilhelm Fritzsche, dass dort, „wo
die Arbeiter
einzeln aufgetreten
sind, sie nie
etwas erreicht
haben.“ Fritzsches
Initiativgeist, und
das entschlossene
Wirken all seiner
haupt- und
ehrenamtlichen
Nachfolger sei
getragen gewesen
von der Solidarität
und dem Mut der
Menschen, die
durch ihre
Mitgliedschaft und
aktives Handeln –
von der Beitragszahlung
bis zum langwierigen Arbeitskampf –
für den Erfolg der NGG
und ihrer Vorläufer
gesorgt haben. „Ihre
Verdienste sind groß,
ihr Handeln ist uns
Ansporn und Verpflichtung
für die Zukunft.
Um es mit Fritzsche zu
sagen: Wo wir zusammen
auftreten, können
wir etwas erreichen!
Dieser Satz wird uns
auch in den kommenden
Jahren leiten“, so
Rosenberger.
Die NGG-Vorsitzende
erinnerte außerdem
daran, dass NGG in diesem Jahr ein weiteres
Jubiläum feiert: „Seit dem 1. Dezember 1990
sind wir eine Gewerkschaft für die Nahrungsund
Genussmittelindustrie, für das Nahrungsmittelhandwerk
und für das Gastgewerbe
in allen 16 Bundesländern. Heute das
25-jährige Bestehen zeitgleich mit dem
150-Jahr-Jubiläum feiern zu können, ist eine
wunderbare Fügung.“
Bundestagspräsident Norbert Lammert gratulierte NGG „zum stolzen Jubiläum“.
„Das ist euer Erfolg!“
Der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann
gratulierte der NGG im Namen des Deutschen
Gewerkschaftsbundes (DGB) zum 150.
Geburtstag. Auch er erinnerte daran, dass im
19. Jahrhundert, als der Allgemeine Cigarrenarbeiter-Verein,
also die älteste NGG-
Vorläuferorganisation, gegründet wurde,
erbärmliche Arbeits- und Lebensbedingungen
herrschten: Unbeschreibliche Armut,
Hunger, Epidemien ließen die Menschen im
Schnitt nicht älter als 44 Jahre werden. Ein
wichtiger Schlüssel, um sich aus Armut und
Elend zu befreien, sei die Bildung gewesen.
Insofern sei der Vorleser bei den Zigarrenarbeitern
die erste Bildungsinstitution der
heranwachsenden Arbeiterbewegung und
zugleich Symbol für gelebte Solidarität
gewesen.
Hoffmann lobte die Eigenständigkeit der
NGG unter dem Dach des DGB. Sie ermögliche
den unmittelbaren Kontakt zu den
KollegInnen in den Betrieben: „Das macht
NGG aus und stark!“ Auch heute noch sei es
im Übrigen keineswegs selbstverständlich,
dass Menschen von ihrem Lohn leben
können. Daher sei es wichtig, dass der
Foto: Marko Kubitz
20
einigkeit 6 /2015
NGG FEIERT GEBURTSTAG
Foto: Marko Kubitz
gesetzliche Mindestlohn durchgesetzt
worden sei: „Ihr wart die Treiber. Es war
nicht einfach, aber ihr habt es geschafft. Das
ist euer Erfolg, das ist unser Erfolg! Darauf
können wir zurecht stolz sein!“ Die Tatsache,
dass die Wirtschaftsweisen nun Ausnahmen
vom Mindestlohn für Flüchtlinge forderten,
nannte Hoffmann „nicht weise, sondern eine
Unverschämtheit“.
Harsche Kritik übte der DGB-Vorsitzende
auch an der „Tarifflucht“ der Arbeitgeber: Mit
diesem „Unfug“, also der Mitgliedschaft in
einem Arbeitgeberverband, ohne an
Tarifverträge gebunden zu sein, müsse
Schluss sein. Hoffmann begrüßte hingegen
den aktuellen Gesetzesvorschlag von
Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles zu
Leiharbeit und Werkverträgen. Allerdings
bleibe er noch hinter den Vorstellungen des
DGB zurück: Es fehle eine klare Definition
NGG in bester Geburtstagsfeierlaune
von Werkvertragsarbeit, und die Maßgabe,
dass Leiharbeitsbeschäftigte nach 18
Monaten fest übernommen werden müssen,
Herzlichen Glückwunsch
Foto: Deutscher Bundestag
dürfe sich nicht auf die/den Beschäftigte/n,
sondern müsse sich auf den Arbeitsplatz
beziehen: „Sonst wird der dann doch gleich
durch den nächsten Leiharbeitnehmer
ersetzt!“
Genuss hat viele Gesichter – wie die reiche Tradition
der NGG zeigt: Vor 150 Jahren als Cigarrenarbeiter-
Verein gegründet, vertritt die heutige Gewerkschaft
auch die Interessen der Beschäftigten im Gastgewerbe
wie der Lebensmittel- und Getränkeindustrie
in Deutschland. Ich gratuliere herzlich zum stolzen
Jubiläum, freue mich über die Einladung zur Teilnahme
am Festakt der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-
Gaststätten am 18. November 2015 in Leipzig und
wünsche der NGG und ihren Mitgliedern für die
Zukunft alles Gute!
Norbert Lammert,
Präsident des Deutschen
Bundestages
Ein Beispiel für Schutz und Hilfe
Das Gemeinwohl
im Blick
Auch Bundestagspräsident
Prof. Dr.
Norbert Lammert
gratulierte NGG
„zum stolzen
Jubiläum“. Der
Sohn eines
Bäcker- und
Konditormeisters
und „Pfeifenraucher
des Jahres
2013“ fühlte sich
gut aufgehoben
bei der ältesten
Gewerkschaft
Deutschlands, die
ihre Wurzeln im „Allgemeinen Deutschen
Cigarrenarbeiter-Verein“ hat. Er fand
lobende Worte für die Arbeit von Gewerkschaften:
„Unser Land ist - selbst bei
kritischer Betrachtung – in erkennbar
besserer Verfassung als nahezu jedes
andere Land in Europa. Das hat auch mit der
Arbeit von Gewerkschaften zu tun, die die
Souveränität entwickelt haben, neben
eigenen Interessen auch das Gemeinwohl im
Blick zu haben. Darauf beruht die Stabilität
unserer Gesellschaft.“ Der zweite Mann im
Staate mahnte aber auch an, dass die
Ausgaben für die soziale Sicherung nach
vielen Jahrzehnten des Wachstums an ihre
Grenzen gestoßen seien: „Ich bin ein
Verfechter unseres Sozialsystems, aber wir
dürfen seine Leistungsfähigkeit nicht
überfordern. Wir brauchen nachwachsende
Generationen.“
„Frische Rezepte für gute Arbeit“
Getreu dem NGG-Jubiläumsmotto „Frische
Rezepte für gute Arbeit“ legte der Geschäftsführende
Hauptvorstand, also die NGG-Vorsitzende
Michaela Rosenberger und ihre
beiden Stellvertreter Burkhard Siebert und
Claus-Harald Güster, auf der Jubiläumssitzung
des NGG-Beirats in Leipzig in Form
eines Interviews Rechenschaft ab: über
Zum 150. Geburtstag gratulieren wir
der NGG herzlich.
Selber schon knapp über 100 Jahre alt,
bringen wir es so gemeinsam auf 250 Jahre
im Dienst der Menschen.
Darauf können wir stolz sein.
Bei einer Betriebsprüfung in der Kantine
stellte das Ordnungsamt Mängel fest.
Der verantwortliche Kollege erhielt einen
Bußgeldbescheid über 528,50 Euro.
Die GUV/FAKULTA unterstützte den
Kollegen mit einer Notfallunterstützung
von 378,50 Euro.
Eine starke Gemeinschaft
www.guv-fakulta.de Der ganz besondere Schutz
einigkeit 6 /2015
21
NGG FEIERT GEBURTSTAG
Foto: Marko Kubitz
Auch die NGG-Ausstellung „Vom Vorleser zum Mindestlohn“ bot dem Geschäftsführenden Hauptvorstand und seinen Gästen reichlich Gesprächsstoff. V.l.n.r.: Norbert Lammert, Michaela Rosenberger,
Reiner Hoffmann, Burkhard Siebert und Claus-Harald Güster.
Vergangenes und Zukünftiges.
Siebert sah im Arbeitsmarkt den Schlüssel
zur Integration von Schutzsuchenden. Auf
keinen Fall dürfe es dazu kommen, dass
Flüchtlinge durch abgesenkte arbeitsrechtliche
oder tarifliche Standards herabgestuft
würden. Auch Ausnahmen vom Mindestlohn
dürfe es nicht geben. Was die Rente betreffe,
so bedürfe es einer Abkehr von der Rente mit
67 Jahren, einer Erstarkung der gesetzlichen
Rente und weiterer flexibler Übergänge in
die Rente. Den Vorstoß der SPD, zur paritätischen
Finanzierung der Krankenkassen
zurückkehren zu wollen, begrüße NGG.
Güster verwies auf die NGG-Initiative „Faire
Arbeit. Gutes Leben.“, in deren Rahmen NGG
Demografie- und Humanisierungstarifverträge
abschließen wolle, um Ältere zu entlasten
und Jüngeren Perspektiven zu bieten. Er
appellierte an die Arbeitgeber, in Flüchtlinge
zu „investieren“: Sie seien eine Chance – gerade
angesichts des Fachkräftemangels. Die
zunehmende „Flucht“ vieler Arbeitgeber aus
Tarifverträgen verurteilte er aufs Schärfste:
„Kluge Arbeitgeber wissen, dass ihre
Unternehmen mit Tarifbindung besser
dastehen.“ Dennoch sei der gesetzliche
Mindestlohn als Untergrenze wichtig, um
weitere tarifliche Entwicklungen nach unten
zu verhindern: „Da drunter geht nix!“
Die NGG-Vorsitzende ergänzte, dass die
Einführung des gesetzlichen Mindestlohns
zwar ein historischer Erfolg, er aber mit 8,50
Euro pro Stunde noch zu niedrig sei. Um
Altersarmut zu verhindern, fordere NGG eine
Erhöhung auf zunächst zehn Euro.
Rosenberger kündigte überdies eine
Offensive zur Entgeltgleichheit an: Mittels
des Instruments „eg-check“ gelte es, die
NGG-Tarifverträge zu überprüfen, um
festzustellen, wo und wie groß die Entgeltlücken
zwischen Männern und Frauen im
Einzelnen seien. Ziel sei es, bis zum
Gewerkschaftstag 2018 entsprechende
Maßnahmen zu ergreifen. Eines der zahlreichen
weiteren Themen war neben Werkverträgen,
Leiharbeit, Lebensmittelsicherheit,
TTIP, Jugendarbeit, Mitgliederentwicklung
oder Industrie 4.0 auch die Frage, wie sich
Solidarität organisieren lasse. Am Beispiel
zahlreicher Streiks wurde deutlich: „Wer
einmal vor dem Werkstor stand, weiß, wie
sehr das die Belegschaften zusammenschweißt.
Dazu braucht es viel Mut, aber es
gibt auch viel Kraft!“, so die NGG-Vorsitzende.
Gründungsvater geehrt
Während Schauspielerinnen der Leipziger
Theatergruppe „Eumeniden“ am 18.
November mit einer „Szenischen Revue
eines abenteuerlichen Lebens“ aus der
Foto: Marko Kubitz
Foto: Marko Kubitz
Am Nachmittag des 18. November 2015 standen Michaela Rosenberger und die beiden stellvertretenden NGG-Vorsitzenden Burkhard Siebert und Claus-Harald Güster den Mitgliedern des Beirats
Rede und Antwort. Moderator Alexander Kähler (re.) befragte sie ausführlich zur Arbeit der NGG seit dem Gewerkschaftstag 2013.
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einigkeit 6 /2015
NGG FEIERT GEBURTSTAG
Foto: Marko Kubitz
Foto: Marko Kubitz
Spielszene aus dem Leben Friedrich Wilhelm Fritzsches, vorgetragen vom „Theater Eumeniden“,
verfasst von Willy Buschak.
NGG-Mitglied Annette Berger (re.) aus Berlin hatte mit dazu beigetragen, das passende Motto
für´s NGG-Jubiläumsjahr zu finden. Zum Dank gab´s eine Einladung nach Leipzig und ein iPad
Mini aus den Händen der NGG-Vorsitzenden Michaela Rosenberger.
Feder Willy Buschaks dem Revolutionär,
Gewerkschaftsgründer, Sozialdemokraten
und Arbeiterdichter Friedrich Wilhelm
Fritzsche ein „lebendiges Denkmal“ setzten,
wurde dieser am Vormittag des 19. November
im Rahmen einer Stadtrundfahrt durch
Leipzig erneut gewürdigt. In der Karl-Liebknecht-Str.
62 , in der Fritzsche von 1879 bis
1881 wohnte, enthüllte die NGG-Vorsitzende
Michaela Rosenberger eine Gedenktafel zu
Ehren des Zigarrenarbeiters, der 1865 in
Leipzig den „Allgemeinen Deutschen
Cigarrenarbeiter-Verein“, die älteste
Vorläuferorganisation unseren heutigen
Gewerkschaft NGG, gründete (s. S. 3, 24).
Foto: Marko Kubitz
Den Abschluss der „NGG-Jubiläumstour“
bildete am Mittag ein Empfang beim
Leipziger Oberbürgermeister Burkhard Jung:
mit der Erkenntnis, dass Leipzig von jeher
nicht nur viele berühmte kreativ-musische
Köpfe hervorgebracht oder beherbergt hat,
Empfang beim Leipziger Oberbürgermeister Burkhard Jung (2. v. r.)
sondern auch „Revoluzzer“: angefangen von
Friedrich Wilhelm Fritzsche, dem Gründungsvater
der NGG, bis hin zu den Frauen und
Männern, denen die „friedliche Revolution“
des Jahres 1989 zu danken ist.
Foto: Marko Kubitz
Im Anschluss an Festakt, Beiratssitzung und „Jubiläumstour“ feierten auch die NGG-Frauen ein Jubiläum: Am 19. und 20. November 2015 kamen sie in Leipzig zu ihrer 200. Sitzung des Bundesfrauenausschusses
(BFA) zusammen.
einigkeit 6 /2015
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Foto: NGG
Illustation: Entwurf von Carsten Eggers für einen noch anzufertigende Bronzeplastik
Friedrich Wilhelm Fritzsche
Ein Tabakarbeiter an der Spitze der Gewerkschaftsbewegung
Friedrich Wilhelm Fritzsche (1825-1905)
Friedrich Wilhelm Fritzsche aus Leipzig war
1865 der Gründer des Allgemeinen Deutschen
Cigarrenarbeiter-Vereins, der ältesten
Vorläuferorganisation der Gewerkschaft
NGG. Zwei Jahre zuvor war er maßgeblich an
der Entstehung des Allgemeinen Deutschen
Arbeitervereins beteiligt, dem Vorläufer der
SPD.
Fritzsche war ein uneheliches Kind aus
ärmsten Verhältnissen. Als Kind hat er
wegen seines Augenleidens lange Zeit in
Spitälern zugebracht. Sein Schulbesuch
beschränkte sich auf sieben Monate. Lehrgeld
konnte seine Mutter nicht zahlen, also
ließ er sich als Zigarrenarbeiter anlernen.
Er ging auf Wanderschaft in die Schweiz,
nach Frankreich und Italien. So kam er in
Verbindung mit revolutionären deutschen
Arbeitern, mit Leuten, die der Sozialist Wilhelm
Weitling beeinflusst hatte. Zurück in
Sachsen beteiligte er sich in der Revolution
2016 wird NGG eine Bronzeplastik unserers Gründungsvaters Friedrich Wilhelm Fritzsche in der
ehemaligen Zigarrenarbeiter-Hochburg Hamburg-Altona aufstellen.
von 1848/1849 an den Barrikadenkämpfen
in Dresden gegen die anrückenden preußischen
Truppen. Dafür kam er fast ein Jahr in
Untersuchungshaft, um dann ohne Prozess
wieder freigelassen zu werden.
Nachdem in Sachsen 1861 die Koalitionsfreiheit
eingeführt worden war, gab es
zahlreiche Initiativen zur Gründung von gewerkschaftlichen
Organisationen. Zu Weihnachten
1865 berief ein Leipziger Komitee
mit Fritzsche an der Spitze einen deutschen
Zigarrenarbeiterkongress ein, der zur Gründung
des Allgemeinen Deutschen Cigarrenarbeiter-Vereins
führte, dessen Präsident
Fritzsche wurde. Er gab eine Zeitschrift mit
dem Titel „Der Botschafter“ heraus, die zum
Dreh- und Angelpunkt der neuen Organisation
wurde. Bald zählte
sie an die 10.000
Mitglieder und war
damit die größte
und kampfkräftigste
deutsche Gewerkschaft.
Unermüdlich
reiste Fritzsche
durch Deutschland,
um die örtlichen
Funktionäre anzufeuern,
zu schulen
und um in oft nach
Tausenden zählenden
Versammlungen
die Zigarrenarbeiter
zum Kampf um ihre
Rechte aufzufordern.
Betriebliche Konflikte
weiteten sich aus zu großen Arbeitskämpfen,
beispielsweise wegen Herabsetzung der
Akkordsätze oder wegen einseitig erlassener
Fabrikordnungen.
Streikregeln
und Streikkassen
aber gab es
noch nicht. Für
den Unterhalt
der Streikenden
musste im ganzen
Reich Geld
gesammelt werden.
Die Spendenaufrufe
und
die Abrechnung
der Gelder erfolgten
im „Botschafter“.
Dabei
war Fritzsche
nicht zimperlich.
Gliederungen, die die Solidarität verweigerten
und kein Geld schickten, wurde kurzerhand
der Ausschluss angedroht. Da es noch
keine Arbeitslosenversicherung gab und
viele Arbeiter in den Kämpfen ihre Beschäftigung
verloren, gründete er Tabakarbeitergenossenschaften,
die nicht immer glücklich
endeten.
19. November 2015: Die NGG-Vorsitzende Michaela Rosenberger enthüllte gemeinsam mit
dem Künstler Gerd E. Nawroth eine Gedenktafel zu Ehren von Friedrich Wilhelm Fritzsche: in
der Karl-Liebknecht-Straße 62 in Leipzig (s. S. 23)
Fritzsche blieb trotz der übermenschlichen
Arbeit für seine Gewerkschaft auch weiterhin
aktiver Sozialdemokrat. Er war Abgeordneter
im Reichstag und kümmerte sich um
die Arbeiterschutzgesetzgebung. Er war
maßgeblich beteiligt an der Vereinigung der
beiden sich heftig befehdenden sozialdemokratischen
Fraktionen auf dem Gothaer
Parteitag von 1875. Und als die Partei während
des Sozialistengesetzes dringend Geld
brauchte, reiste er in die USA und sammelte
auf einer Vortragsreise Spenden ein, über
13.000 Mark.
Die Gewerkschaften hatten unter Bismarcks
Sozialistengesetz mehr zu leiden als die in
der Illegalität gut gedeihende SPD. Und so
musste Fritzsche befürchten, dass ihm von
der preußischen Justiz nach Wegfall seiner
Immunität als Reichstagsabgeordneter der
Prozess mit einer drohenden Zuchthausstrafe
gemacht würde. Er entzog sich dieser
Gefahr durch die Auswanderung in die USA,
hielt aber bis an sein Lebensende den Kontakt
mit der deutschen Arbeiterbewegung.
Autor: Burchard Bösche, ehemaliger
NGG-Vorstandssekretär
Foto: Marko Kubitz
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einigkeit 6 /2015
TARIFPOLITIK
Arbeitskämpfe im Wandel
Da die Arbeitgeber Verbesserungen von
Lohn- und Arbeitsbedingungen eher selten
sofort und freiwillig zugestimmt haben, ist
die Geschichte der Gewerkschaft NGG auch
eine Geschichte von Arbeitskämpfen.
Foto: NGG
Wer sich hierüber einen kleinen Überblick
verschaffen will, dem sei die Publikation
„Machen wir’s! Arbeitskämpfe der Gewerkschaft
Nahrung-Genuss-Gaststätten“
von Klaus Bröking (Klartext Verlag, Essen
2013, ISBN 978-3-8375-1010-2) und die
„einigkeit“ 3/2015 (S.6/7) empfohlen. Der
vorliegende Artikel erhebt keinen Anspruch
auf Vollständigkeit, sondern es gilt vielmehr,
anhand einiger Beispiele die verschiedenen
Formen und Ziele von Arbeitskämpfen bei
NGG nach 1949 zu beleuchten. Informationen
zu historischen Streiks gibt es unter:
www.ngg.net/150.
Erstmals Offizielle Warnstreiks
In den 1970er und 1980er Jahren wurden
Warnstreiks, also befristete Arbeitsniederlegungen,
auch für NGG das Mittel der
Wahl, um Forderungen Nachdruck zu verleihen.
Herbert Grimberg, Vorsitzender des
NGG-Landesbezirks Nord, Jurist und Autor
mehrerer Publikationen zum Thema „Warnstreik“:
„Warnstreiks hat es immer schon in
Deutschland gegeben, auch in den 1950er
und 1960er Jahren, und da besonders häufig
in der Metallindustrie. Allerdings haben die
Gewerkschaften nie offiziell dazu aufgerufen,
da Warnstreiks verboten waren. Erst mit
der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts
von 1976 wurden sie legal und damit auch
bei NGG hoffähig.“ Zunächst waren es die
Beschäftigten der Brauindustrie, die diese
Taktik der Nadelstiche nutzten. Im Juni 1977
zum Beispiel kam es zu kurzfristigen Arbeitsniederlegungen
in Baden- Württemberg. Es
folgten 1978 Warnstreiks in Nordrhein-Westfalen
und Westberlin. Und sie verfehlten ihre
Wirkung nicht: In allen Fällen kam es nach
Urabstimmungen und vor dem eigentlichen
Streikbeginn zum Abschluss von Tarifverträgen.
Unbefristete Streiks gegen „Tarifmauer“
Unbefristete Streiks im Hotel- und Gaststättengewerbe
in Berlin und Mecklenburg-
Vorpommern prägten das Jahr 1993. Ziel der
Berliner Arbeitgeber war eine Null-Runde für
die 28.000 Beschäftigten. Sebastian Riesner,
Gewerkschaftssekretär der NGG-Region
Berlin-Brandenburg: „Außerdem wollten die
Arbeitgeber sämtliche materiellen Leistungen
aus dem Manteltarifvertrag streichen.
1993: Warnstreik vor einem Berliner Hotel
Nachdem dann die Verhandlungen für einen
neuen Entgelt- und einen neuen Manteltarifvertrag
ein halbes Jahr lang ergebnislos
verlaufen waren, war die Stimmung so geladen,
dass wir neben Warnstreiks in verschiedenen
Hotels und Gaststätten – übrigens
den ersten seit den 1920er Jahren - eine
Demonstration durch die Berliner Innenstadt
gemacht haben, um unsere Forderungen und
die starre Haltung der Arbeitgeber öffentlich
zu machen. Die meisten liefen übrigens
in ihrer Berufskleidung mit, und auch aus
anderen Branchen haben wir viel Unterstützung
bekommen.“
Foto: NGG
Schließlich kam es bei der LSG-Airport-
Gastronomie auf den beiden Flughäfen Tegel
und Tempelhof zum unbefristeten Streik.
Der wurde nach elf Tagen beendet. Mit einer
überwältigenden Mehrheit wurden bei einer
Urabstimmung die Ergebnisse der wiederaufgenommenen
Verhandlungen angenommen.
Erreicht wurden ein Haustarifvertrag
und später die Angleichung der Löhne im
Gastgewerbe auf das Westberliner Niveau.
Riesner: „Wir waren damals die erste Branche,
in der die Tarifmauer zwischen Ost- und
West-Berlin endgültig fiel.“
„Es war schon zu der Zeit des Streiks eine
große Solidarität. Also man ist da ganz
nah gerückt und hat da Menschen neu
kennengelernt im Prinzip. Vor den Toren
waren dann wie so kleine Skihütten. Es war
ja kalt – Januar/Februar – in dem Winter.
Da ist man dann schon zusammengerückt:
bei Suppe und bei Wurst. Und dann kamen
immer andere, aus anderen Brauereien
und haben irgendwas, Bier, mitgebracht
oder ein großes Käserad; und kamen auch
von anderen Betrieben, auch aus der Region;
immer wieder Leute und Gewerkschafter,
die Solidarität verkündet haben. […]
Wir haben erreicht, dass hier die Idee des
Arbeitgebers, die Tariflandschaft komplett zu zerschlagen, dass das nicht aufgegangen
ist. Wir haben denen absolut einen Strich durch die Rechnung gemacht.“
Georg Dohr-Hutchison, Betriebsratsvorsitzender bei der Eichbaum-Brauerei in Mannheim
über den unbefristeten Streik im Jahr 2005. Das komplette Interview:
http://150.ngg.net/menschen-in-der-ngg/georg-dohr-hutchison/
einigkeit 6 /2015
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TARIFPOLITIK
Foto: NGG
Die Belegschaft von Brandt in Hagen kämpte im Jahr 2000 gegen die Verlagerung des Unternehmens
nach Thüringen und den Verlust von 632 Arbeitsplätzen.
Wellenstreik
Das Scheitern der Tarifverhandlungen hatten
die Arbeitgeber der Brauwirtschaft in
Nordrhein-Westfalen im Jahr 1994 einkalkuliert.
Bevor überhaupt über Entgelterhöhungen
gesprochen wurde, hatten sie den
Manteltarifvertrag gekündigt. NGG sollte
Verschlechterungen akzeptieren, sprich: Die
Beschäftigten sollten quasi die Erhöhungen
selbst bezahlen. Doch die Arbeitgeber hatten
nicht mit der großen Kampfbereitschaft
der Belegschaften und der Streiktaktik der
NGG gerechnet: In einer ersten Welle traten
3.800 Beschäftigte mehrerer Brauereien
in den Streik. Thomas Gauger, damals wie
heute Vorsitzender des NGG-Landesbezirks
Nordrhein-Westfalen: „Nach der ersten
Streikwelle am Dienstag und einer zweiten
am Donnerstag wollten wir am Montag drauf
mit einer dritten Streikwelle maximalen
Druck auf die Arbeitgeber erzeugen. Das hat
auch funktioniert: Die Arbeitgeber ruderten
zurück und akzeptierten Sonntagnacht einen
Schlichterspruch, der den Manteltarifvertrag
unverändert wieder in Kraft setzte und eine
Entgelterhöhung von 2,3 Prozent vorsah.
Die dritte Streikwelle am nächsten Morgen
mussten wir dann natürlich absagen, aber
das Problem war, dass damals noch nicht
jeder ein Handy hatte. Einige Kolleginnen
und Kollegen haben das dann leider erst aus
dem Radio erfahren.“
Unbefristeter Streik
für Lohnangleichung
Die Angleichung der
Löhne in den östlichen
Bundesländern
auf Westniveau war
die große tarifliche
Aufgabe des Jahres
1995. In der Süßwarenindustrie
ist dies
NGG für 4.000 Beschäftigte
gelungen.
Der entsprechende
Vertrag sah eine
Angleichung bis
zum 1. Dezember
1998 vor. Möglich
gemacht hat den
Erfolg ein 17 Tage
währender Streik, an
dem sich insgesamt
tausend Beschäftigte
beteiligten. Hätten
die Arbeitgeber am
12. Juni 1995 unter
dem Eindruck der
ungebrochenen
Streikbereitschaft
nicht eingelenkt,
hätte NGG den Arbeitskampf auf weitere
Betriebe ausgedehnt. Kordula Jockel, damals
Betriebsratsvorsitzende bei Stollwerck im
thüringischen Saalfeld und Tarifkommissionsmitglied:
„Nach mehreren Verhandlungen
und Warnstreiks war das der erste und
bis heute einzige unbefristete Arbeitskampf
Foto: BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
hen. Da hatte ich vor Wut Tränen in den Augen.
Bei der Verhandlung nach Ostern haben
wir unser Ziel dann aber verhältnismäßig
flott erreicht.“
Gegen Subventionen für Ostverlagerung
Der Arbeitskampf um den Erhalt der insgesamt
632 Arbeitsplatze bei dem Hagener
Zwieback-Hersteller Brandt ist wohl einzigartig
– nicht nur in der NGG-Geschichte. Als
der Unternehmer Carl-Jürgen Brandt im März
2000 ankündigte, sein Werk in Hagen zu
schließen und mit Hilfe von Subventionen
im thüringischen Ohrdruf eine neue Produktionsstätte
zu errichten, wurden schnell
20.000 Unterschriften für den Erhalt von
Brandt in Hagen gesammelt. Ein Demonstrationszug
quer durch die Stadt formierte sich
noch am Tag der Verlagerungsankündigung.
Es gab Non-Stop-Betriebsversammlungen,
die Kirchenglocken läuteten dazu. Die Belegschaft
legte einen Kranz am Grab des Vaters
von Carl-Jürgen Brandt nieder. Zwieback-Vorräte
wurden aufgekauft, eine CD mit Protestliedern
aufgenommen und verbreitet. Kreuze
wurden vor der Hagener Sparkasse aufgebaut,
die den Umzug mit Krediten finanzierte.
Der Versuch, die einzelnen Warnstreiks in
einen unbefristeten Ausstand umzuwandeln,
scheiterte allerdings an den Gerichten. Monika
Brandt, damals Geschäftsführerin der
NGG-Region Südwestfalen und Teil eines
Aktionsteams aus Betriebsräten und NGG:
„Was mich am meisten berührt hat, war der
unermüdliche Einsatz der Belegschaft. Die
standen hinter ihrem Kampf und auch voll
150 Jahre Gewerkschaft NGG - ein würdiger
Anlass, um für das große Engagement im
Kampf für gerechte Arbeitsbedingungen
seit stolzen anderthalb Jahrhunderten
„Danke“ zu sagen. Gerade heute, in Zeiten
prekärer Beschäftigungsverhältnisse, sind
Gewerkschaften wie die NGG wichtig wie
nie, um für wertgeschätzte und fair entlohnte
Arbeit zu kämpfen. Weiter so!
Simone Peter,
Bundesvorsitzende Bündnis 90/ Die Grünen
in der Süßwarenindustrie Ost. Die Arbeitgeber
habe ich damals als ausgesprochen
menschenverachtend empfunden. Bei der
Tarifverhandlung vor Ostern mussten wir im
Besprechungsraum der Arbeitgeber an der
Wand stehen, wie Schulkinder. Die Arbeitgeber
haben sich genüsslich in ihren Stühlen
zurückgelehnt und gesagt: Warten wir mal
ab, wie viele nach Ostern noch draußen stehinter
NGG. Sie haben wirklich alle Ideen
mitgetragen und gemacht, was machbar war,
um den Standort zu retten: nicht nur die Produktionsmitarbeiter,
sondern auch die aus
den oberen Etagen. Und auch wenn wir die
Verlagerung und auch das spätere Abgleiten
vieler leider Ungelernter in die Arbeitslosigkeit
nicht verhindern konnten, so war dieser
Arbeitskampf doch der beeindruckendste,
26
einigkeit 6 /2015
TARIFPOLITIK
den ich je erlebt habe. Er hat vielleicht nicht
zu völligem Umdenken geführt, aber wir haben
zumindest dafür gesorgt, dass die Politiker
bis hin zum Europäischen Parlament ihre
Subventionspolitik in Frage gestellt haben.“
Gegen Verschlechterung im Manteltarifvertrag
2007 wurde NGG mit einem Sachverhalt konfrontiert,
den es bis dato noch nicht gegeben
hatte: Die Arbeitgeber, genauer gesagt der
Bundesverband der Deutschen Süßwarenindustrie
(BDSI), hatte den Manteltarifvertrag
(MTV) Ende 2006 zum frühestmöglichen Zeitpunkt,
dem 31. Januar 2007, gekündigt. Die
Unternehmen wollten das Weihnachtsgeld
kürzen, das Urlaubsgeld streichen und die
Arbeitszeit ohne Lohnausgleich verlängern.
Genau das praktizierte der Chipshersteller
Intersnack ab dem 1. Februar 2007 bei Neueinstellungen
- ohne jede Verhandlung mit
NGG. Die Warnstreiks wurden daher auch bei
Intersnack gestartet: am 16. April. Zwei Tage
später wurde in Bayern die Arbeit niedergelegt,
dann in Nordrhein-Westfalen. Schließlich
beteiligten sich 3.000 Beschäftigte in
15 Betrieben an den Warnstreiks. Dank der
hohen Beteiligung ging NGG mit viel Rückendeckung
in die dritte Tarifverhandlung am 3.
Mai. Das Ergebnis nach einer zwölfstündigen
Marathonsitzung: Der alte Manteltarifvertrag
wurde ohne Veränderungen verlängert, und
auch einer Erhöhung der Entgelte stimmten
die Arbeitgeber zu. Im Laufe der Warnstreiks
hatte NGG rund 2.000 neue Mitglieder gewonnen
und den Angriff auf den Manteltarifvertrag
eindrucksvoll abgewehrt. Gunold
Fischer, damaliger stellvertretender NGG-
Foto: IG BAU / Alexander Paul Englert
150 Jahre Gewerkschaftsarbeit sind eine
stolze Leistung, zu der ich der NGG herzlich
gratuliere. Die NGG ist ein wichtiger
Partner der IG BAU im Kampf für soziale
Sicherheit und faire Arbeit. Gemeinsam
machen wir uns in der Mindestlohnkommission
stark für den weiteren Ausbau des
gesetzlichen Mindestlohns. Die solidarische
Zusammenarbeit zwischen NGG und
IG BAU hat zudem eine lange Tradition.
Bei der Lebensmittelherstellung arbeiten
wir für bessere Arbeitsbedingungen Hand
in Hand - die IG BAU in der Landwirtschaft
und die NGG in der Verarbeitung. Das ist
zum Vorteil für die Beschäftigten, aber auch für die Verbraucher. Denn gute Ernährung
gibt es nicht ohne gute Arbeit.
Robert Feiger,
Vorsitzender der IG BAU
Vorsitzender und Verhandlungsführer:
„Das Besondere, Neue und Wichtige in
dieser Tarifauseinandersetzung war, dass
der Arbeitgeberverband nicht mit konkreten
Forderungen in die Verhandlungen
ging, sondern einfach Verschlechterungen
der Arbeitsbedingungen in zweistelliger
Prozentzahl – sie nannten es Kostenentlastung
– verlangte, die unsere Tarifkommission
selbst aussuchen und vorschlagen
sollte. Die Arbeitgeber wollten dann sagen,
ob das für sie ausreicht. Damit stellte die
Süßwarenindustrie, mit ihren über 50.000
Beschäftigten der größte industrielle Bereich
in der NGG, die grundsätzliche Machtfrage,
ob die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
und ihre Gewerkschaft NGG Angriffe auf in
Jahrzehnten erkämpfte und erreichte wesentliche
Tarifstandards abwehren können. Das
hätte auch Signalwirkung für viele Branchen
gehabt. Die eindrucksvollen Warnstreiks, die
Solidarität unserer Mitglieder und Funktionäre
hat das verhindert und den Manteltarifvertrag
geschützt!“
Flexible Streiktaktik
2012 kam es beim Suppen- und Fertiggerichtehersteller
Zamek in Düsseldorf zu
einem erbitterten Arbeitskampf. Die Beschäftigten
hatten dort drei Jahre lang auf
ihr Weihnachtsgeld und zwei Urlaubstage
verzichtet, um dem Unternehmen die Gelegenheit
zu geben, die wirtschaftliche Basis
zu verbessern. Statt zu den in den Tarifvertragen
vereinbarten Leistungen zurückzukehren,
trat Zamek aus dem Tarifverband
der Arbeitgeber der Obst und Gemüse verarbeitenden
Industrie aus. Dieter Schormann,
Foto: NGG
2007: Auch die Beschäftigten des Aachener Printen - und Schokoladenherstellers Lambertz protestierten gegen Verschlechterungen im Manteltarifvertrag (MTV).
einigkeit 6 /2015
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TARIFPOLITIK
damals Geschäftsführer der NGG-
Region Düsseldorf-Wuppertal:
„Diese Tarifflucht des Arbeitgebers
war für uns der Anlass, einen Arbeitskampf
mit flexibler Streiktaktik
zu führen, also raus und wieder
rein in den Betrieb. Übrigens war
das das erste Mal bei NGG. Das
war die Lehre, die wir 2005 aus
dem mit sechs Monaten längsten
NGG-Streik beim Flughafencaterer
Gate Gourmet gezogen haben:
Mit einem unbefristeten Streik
ist es nicht getan, weil dann der
Arbeitgeber Streikende durch
Leiharbeitskräfte ersetzen kann.
Unser Ziel war es, die größtmögliche
Wirkung zu erzielen.“ Der
Arbeitskampf dauerte 14 Wochen,
und die Streiks versetzten dem
Unternehmen immer wieder Nadelstiche,
auf die es sich nicht einstellen
konnte. Die Medien wurden auf die
Auseinandersetzung aufmerksam, und die
bundesweite Solidarität war groß. Selbst der
Rat der Stadt Düsseldorf beschäftigte sich
mit dem Arbeitskampf. Unter dem ständig
steigenden Druck auf den Suppenhersteller
wurden schließlich die Gültigkeit des Manteltarifvertrages
ohne Abstriche und die
Anhebung der Löhne und Gehälter in zwei
Stufen vereinbart.
2012: 14 Wochen kämpften die Beschäftigten des Suppen- und Fertiggerichtherstellers Zamek gegen die Tarifflucht ihres Arbeitgebers.
Flashmob
Eine völlig neue Form des Arbeitskampfes
oder Widerstandes kam im Oktober 2013
im Bäckerhandwerk Ost zum Einsatz: ein
so genannter Flashmob oder wie der Duden
es formuliert: eine „kurze, überraschende
öffentliche Aktion einer größeren Menschenmenge,
die sich anonym, per moderner
Telekommunikation dazu verabredet hat“.
„Bewaffnet“ mit bunten Regenschirmen
forderten damals Beschäftigte aus Berliner
und Brandenburger Bäckereien kurz vor
der nächsten Tarifverhandlung „Gutes Brot
braucht gute Löhne“, also mindestens 8,50
Euro pro Stunde für VerkäuferInnen in den
Bäckereien und ein Lohnplus von sechs
Prozent für die BäckerInnen. Birgit Weiland,
Gewerkschaftssekretärin der NGG-Region
Berlin-Brandenburg, erinnert sich: „Wir haben
uns damals noch nicht über Facebook,
sondern per Telefonkette und Email verabredet.
Das war wirklich eine außergewöhnliche
Aktion mit großem Publikumseffekt. Die
Passanten konnten gar nicht glauben, dass
die Arbeitgeber so wenig zahlen. Sie gingen
davon aus, dass es bei Premiumware zu
Premiumpreisen auch Premiumlöhne gäbe.
Unsere Aktion war ein Erfolg: Eine Verkäuferin
verdient jetzt zwischen 8,50 Euro und
9,32 Euro die Stunde.“
Variable auf Standorte abgestimmte
Streiktaktik
Wenn es um besondere Streiks bei NGG
geht, ist sicherlich auch der fünfmonatige
Arbeitskampf beim Autobahnraststättenbetreiber
Autogrill in Bayern und Thüringen
im Jahr 2014 zu nennen. Guido Zeitler,
NGG-Referatsleiter Hotel- und Gaststättengewerbe:
„Besonders war zum einen, dass
die Auseinandersetzung bei einem bundesweit
agierenden Unternehmen lediglich
in zwei Bundesländern stattfand. Das hat
Foto: NGG
Foto: NGG
2013: Flashmob vor dem Brandenburger Tor in Berlin für gute Löhne im Bäckerhandwerk Ost.
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einigkeit 6 /2015
TARIFPOLITIK
unsere Ausgangssituation
erschwert. Ansonsten
war der Streikverlauf
besonders: zunächst Kurzstreiks,
stundenweise,
dann wieder rein; variable
Streiktaktik auf die konkreten
Situationen der
Standorte abgestellt, um
mit wenig Aufwand und Risiko
den Schaden beim Arbeitgeber
zu maximieren.
Die Streikphasen wurden
dann auch vor dem Hintergrund
des Drucks von den
Kollegen immer länger.
Gerade weil der Konflikt
im Niedriglohnsektor
stattfand, musste die Taktik
auf kurze Streikphasen
abgestellt werden, damit
sich die Kolleginnen und
Kollegen den Lohnausfall leisten konnten.
Besonders war sicherlich auch die Länge der
Auseinandersetzung: von Ostern bis in den
September.“
Am 9. September 2014, nach 2.500 Streikstunden,
war die zum italienischen Autogrill-
Konzern gehörende Autogrill Deutschland
GmbH endlich bereit, einen Tarifvertrag
zu akzeptieren. Unterstützt worden waren
23. August 2014: DGB-Jugend Hessen-Thüringen auf Soli-Besuch bei den Streikenden der Autogrill-Raststätte Eisenach
die Streikenden durch hunderte Solidaritätsbekundungen
per Email und Post und
durch zahllose Besuche von GewerkschafterInnen,
PolitikerInnen und BürgerInnen.
Nach Vermittlung durch das Thüringer
Wirtschaftsministerium und nachdem NGG
eine weitere Ausweitung der verschiedenen
Protestaktionen angekündigt hatte, verkündete
Autogrill schließlich seinen Beitritt zum
Bundesverband der Systemgastronomie
(BdS) und damit die tarifliche Absicherung
von bundesweit rund 1.300 Beschäftigten.
Für viele „Autogriller“ stieg dadurch der
Lohn erheblich. Andere profitierten etwa von
verbesserten, verbindlichen Regelungen bei
Zuschlägen und Arbeitszeiten.
Foto: NGG
JUGEND
„Her mit dem schönen Leben!“
Jugendarbeit ist seit jeher fester Bestandteil
der Arbeit der Gewerkschaft NGG. Viele von
denen, die sich als Ehrenamtliche in der
Jugendarbeit der NGG engagierten, wurden
später hauptamtlich Beschäftigte bei NGG,
auch in Führungspositionen.
Ziel der Jugendarbeit war und ist es, die Situation
junger Menschen zu verbessern: sei
es nun am Arbeitsplatz oder in der Gesellschaft.
Aber genauso wie sich die Lebenswelt
junger Menschen verändert hat – etwa
die Tatsache, dass das Volljährigkeitsalter
1974 von 21 auf 18 Jahre herabgesetzt
wurde, hat sich auch die gewerkschaftliche
Jugendarbeit gewandelt. 1982 wurde das
Betriebsverfassungsgesetz dahingehend
geändert, dass die Interessenvertretung
junger Menschen im Betrieb nicht mehr
„Jugendvertretung“ hieß, sondern „Jugendund
Auszubildendenvertretung“, kurz JAV.
Das war keine bloße Namensänderung. Es
bedeutete, dass nicht mehr nur Jugendliche
Foto: NGG
„Ich habe dann den ersten Gewerkschaftstag
1951 erlebt als Mitglied des Bundesjugendausschusses,
der sich inzwischen
im Westen gebildet hatte. […] Dort [in
Stuttgart] hatte der Bundesjugendausschuss
Gastmandate. […] Ich hab natürlich
neben der Jugendarbeit sehr viel Bildungsarbeit
gemacht für Jugendliche. Wir haben
in Berlin ein Gewerkschaftsjugendheim
in Wannsee bekommen. Und dort wurden
Lehrgänge für junge Menschen durchgeführt.
Wir hatten sehr aktive Jugendgruppen.
Wir hatten eine erste NGG-Jugendkonferenz
mit 42 Delegierten, die vier Jugendgruppen vertreten haben. Heute würde man
davon träumen, wenn man so viele Jugendaktivitäten in der Gewerkschaft hätte. Aber
damals gab es kein Fernsehen, damals gab es auch noch nicht so viele Ablenkungsmöglichkeiten.
Und die Gewerkschaft war eben eine Bildungseinrichtung für die jungen
Leute. Gleichzeitig haben wir natürlich auch Zeltlagerfreizeiten unternommen und Sport
mit den jungen Leuten getrieben. Es war einfach eine bunte Zeit, die sonst außerhalb
der Gewerkschaften gar nicht so einfach möglich war.“
Ruth Köhn, Jg. 1927, trat 1948 der NGG bei. Zwischen 1970 und 1988 war sie als Mitglied
des Geschäftsführenden Hauptvorstands der NGG u.a. für Jugend zuständig. Das
komplette Interview: http://150.ngg.net/menschen-in-der-ngg/ruth-koehn/
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JUGEND
Foto: NGG
„Wer nicht ausbildet , muss zahlen!“
Tarifpolitisch hat die jungeNGG sich ebenfalls
eingebracht: mit Seminaren, eigenständigen
Mandaten in Tarifkommissionen, tarifvertraglichen
Regelungen zur Übernahme
von Ausgebildeten oder z.B. dem bundesweiten,
allgemeinverbindlichen Tarifvertrag
über die Ausbildungsvergütung im Bäckerhandwerk.
Günter Döding, der spätere NGG-Vorsitzende (1.Reihe, 2. von links), beim NGG-Jugendleiterlehrgang in Hustedt, 1957.
Eine weitere wichtige Herausforderung für
die jungeNGG stellte Anfang 2000 die Lage
auf dem Ausbildungsstellenmarkt dar. Langecker:
„Die Situation für junge Menschen,
die einen Ausbildungsplatz suchten, war
alles andere als rosig. Wir haben da mit unserer
Kampagne „WAS IST DAS DENN?“, kurz
WIDD, gegengesteuert und die Arbeitgeber
aufgefordert, mehr auszubilden und die
Politik, endlich die Ausbildungsplatzumlage
einzuführen, nach der Devise ‚Wer nicht
ausbildet, muss zahlen!‘“
bis 18 Jahre, sondern auch über 18-Jährige
unter die Schutz- und Gestaltwirkung des
Gesetzes fielen.
Aus „NGG-Jugend“ wird „jungeNGG“
Doch nicht nur die Gesetzeslage änderte
sich im Laufe der Zeit, sondern auch die
Interessen „der“ Jugend. Joachim Langecker,
ehemaliger, langjähriger Bundesjugendsekretär
bei NGG: „Aus Skatabenden und gemeinsamem
Musizieren wurden irgendwann
‚Flashmob‘ und ‚Jobparade‘. Unsere Jobparade
hat sich 2002 sogar zur größten 1.-Mai-
Demo Deutschlands entwickelt. Aber bei
allen Unterschieden muss man doch sagen:
Das Verbindende war damals wie heute der
politische und gewerkschaftliche Austausch
für ein besseres und mitbestimmtes Leben,
frei nach dem Motto einer der größten Jugendaktionen
2002 in Köln: ‚Her mit dem
schönen Leben!‘ Übrigens: NGG ist nicht nur
die älteste Gewerkschaft, sondern auch die
erste, bei der sich der Wandel im Jugendbild
und in der Jugendarbeit auch in der Namensgebung
manifestierte: Aus der NGG-Jugend
wurde schon in den 1990er Jahren die jungeNGG.“
Foto: NGG
Projektstellen für die Jugend gestellt, eigenständige
Strukturen konnten jedoch erst auf
dem Gewerkschaftstag 2003 durchgesetzt
werden.
Je differenzierter die Interessen der jungen
NGGlerInnen wurden, desto projektorientierter
wurden auch die Aktivitäten der
jungenNGG: Jobparade, Bundesjugendklausurtagungen,
Aktionen gegen Rechts etc.
Überdies wurden auch Mitwirkungsmöglichkeiten
über Landesbezirksgrenzen hinaus
geschaffen, indem aus den Jugendausschüssen
z.B. die „Nordschiene“ und die „Südschiene“
wurden.
jungeNGG bildet
2003 erschien das erste bundesweite Bildungsprogramm
der jungenNGG. Neben der
allgemeinen politischen Bildung wurden
auch branchenspezifische Seminare angeboten
zur Prüfungsvorbereitung, zur Cocktailzubereitung,
Wein- oder Tabakkunde etc.
Auch auf den alle zwei Jahre stattfindenden
Sommercamps gingen Wissensvermittlung,
Sport und Spaß Hand in Hand.
Besondere Bedeutung in der Bildungsarbeit,
aber auch der Mitgliederwerbung kommt
den JAV-Seminaren im Bildungszentrum
Oberjosbach (BZO) zu. Hierfür entwickelte
Auch strategisch wurden neue Wege beschritten.
Während zu Anfang oftmals
GewerkschaftssekretärInnen neben ihren
zahlreichen anderen Aufgaben auch für die
Jugendarbeit zuständig waren, entwickelte
sich nicht zuletzt durch Projekte wie das
HoGa-Jugendprojekt die Erkenntnis, dass die
Arbeit der jungenNGG auf neue Füße gestellt
werden musste. Auf dem Gewerkschaftstag
1998 wurde erstmals ein Antrag auf eigene
Titelseite einer Veranstaltungsbroschüre der NGG-Jugend Hamburg für das 2. Quartal 1961
30
einigkeit 6 /2015
JUGEND
Foto: NGG
2002 in Schwerin: Jobparade der jungen NGG
die jungeNGG das Konzept „Junge NGGlerInnen
schulen junge NGGlerInnen“: ein Erfolg,
wie die sehr hohen Teilnehmerzahlen, die
rege Teilnahme und die Zunahme aktiver JAV-
Gremien belegte.
Bildungszentrum Oberjosbach
Angesichts der kleinteiligen Strukturen der
von NGG betreuten Betriebe war und ist eine
weitere wichtige Aufgabe der jungenNGG die
Berufsschularbeit. Anfang des Jahrtausends
gewann sie unter dem DGB-Motto „Demokratie
macht Schule“ immer mehr an Bedeutung.
Ziel war es, die BerufsschülerInnen
über ihre Rechte und Pflichten in der Ausbildung
aufzuklären und NGG als Interessenvertretung
bekanntzumachen. So war und ist
NGG sowohl in den Klassenräumen als auch
auf den Schulhöfen der Berufsschulen mit
Info-Ständen vertreten. „Die Berufsschularbeit“,
so Langecker, „wurde nach und nach
systematisiert und ausgebaut. Auch dank
dieser kontinuierlichen Arbeit haben wir ein
stetiges Mitgliederplus bei unseren jungen
Mitgliedern erzielt. Genauso wichtig war
natürlich auch die Arbeit in den Betrieben,
insbesondere was die Gewinnung von JAVis
und die Verbesserung der Ausbildungsqualität
betrifft.“
Was die künftigen Ziele der jungenNGG anbelangt,
hat Christoph Schink, seit 2015 für
die Jugendarbeit bei NGG zuständig, klare
Vorstellungen: „Wir haben im Vergleich zu
unseren Schwestergewerkschaften und dem
DGB insgesamt einen relativ hohen Anteil an
jungen Gewerkschaftsmitgliedern. Diesen
wollen wir weiter ausbauen. Wir haben uns
eine gute und hochwertige Ausbildung in
den Betrieben auf die Fahnen geschrieben
und wollen diese gemeinsam mit unseren
Mitgliedern erkämpfen. Ein weiteres
wichtiges Ziel ist die Perspektive nach der
Ausbildung: Fehlender Übernahme und der
Pest der Befristung treten wir entschlossen
entgegen!“
FRAUEN
Entgeltgleichheit für Frauen – Wir kämpfen dafür!
Frauen verdienen bei gleicher oder gleichwertiger
Arbeit weniger als Männer. Das ist
so, seit Frauen Erwerbsarbeit leisten. Der
Fortschritt ist eine Schnecke – nur so ist zu
erklären, dass Deutschland mit 22 Prozent
Entgeltdifferenz das Schlusslicht in der EU
ist.
Foto: NGG
Mit der Gründung des Allgemeinen Deutschen
Frauenvereins (ADF) begann 1865 die
organisierte Frauenbewegung in Deutschland.
Standen zunächst Forderungen wie das
Recht auf Bildung und Erwerbsarbeit auf der
Tagesordnung, rückten mit der Industrialisierung
die Arbeiterinnen und ihre Arbeitsbedingungen
in den Fokus. Ihre Belange
wurden von der proletarischen Frauenbewegung
mit ihrer Führerin Clara Zetkin vertreten.
Im Mittelpunkt der Forderungen standen
die Verbesserung der harten Arbeitsbedingungen
und die im Vergleich zu den Männern
weitaus schlechtere Bezahlung.
Bundesfrauenkongress der NGG in Heilbronn, im Mai 1960
Daran änderte sich im Laufe der Jahre wenig.
Anni Krause, Arbeiterin in der Fischindustrie
berichtete, dass sie in den 1930er Jahren
45 Pfennig in der Stunde verdiente, Männer
erhielten mehr als das Doppelte.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde bereits
im Grundgesetz geregelt, dass es keine
unterschiedliche Entlohnung der Geschlech-
einigkeit 6 /2015
31
FRAUEN
ter geben dürfe. Der Grundsatz wurde 1957
durch den EWG-Vertrag erhärtet und 1975
durch zwei EG-Richtlinien bekräftigt.
1955 urteilte das Bundesarbeitsgericht,
dass es gleichen Lohn für die gleiche Arbeit
für Männer und Frauen geben müsse. Elisabeth
Ostermeier, seit 1954 als erste Frau
Hauptvorstandsmitglied der NGG, überprüfte
sofort alle betrieblichen Tarifverträge und
stellte dabei u. a. Lohnungleichheit in der
Süßwarenindustrie fest. Insgesamt lag der
Verdienst der weiblichen NGG-Mitglieder damals
rund 37 Prozent unter dem der Männer.
Foto: NGG
Foto: NGG
1975 verfasste Ruth Köhn, damals Mitglied
des Geschäftsführenden Hauptvorstandes,
die Broschüre „Der Lohn der Frauen unter
die Lupe genommen“ und beschrieb darin,
dass Leichtlohngruppen automatisch als die
entsprechende Kategorie für Frauen interpretiert
wurden. Obwohl seit dem BAG-Urteil
von 1955 diese „Frauengruppen“ nicht mehr
zulässig waren, waren die Frauen zumeist in
der untersten Tarifgruppe eingruppiert. Erst
ab 1965 gelang es, Frauen besser einzugruppieren.
Trotz aller Bemühungen, die Lohnungleichheit
ist geblieben. Ein spektakulärer Fall war
der der „Heinze-Frauen“, die 1981 in dritter
Instanz vor das Bundesarbeitsgericht zogen
und die gleiche Bezahlung erstritten. Sie
wurden dabei von ihrem Betriebsratsvorsitzenden
unterstützt, über 45.000 Menschen
zeigten sich in einer Unterschriftenaktion
mit ihnen solidarisch, und der Erfolg ihrer
Klage löste eine weitere Klageflut gegen
ArbeitgeberInnen aus, die ungleiche Arbeitsentgelte
und Zuschläge zahlten.
Bundesfrauenkonferenz 2007 in Erkner
Dazu gehörten auch 16 Frauen aus dem Oetker-Werk
„Dibona“ in Bargteheide, die 1980
mit NGG vor das Lübecker Arbeitsgericht
zogen. Die Frauen waren in der untersten
Lohngruppe IV für leichtere Arbeiten eingruppiert
und bekamen 7,98 DM pro Stunde.
Die Männer erhielten 9,50 DM in der Stunde
(Lohngruppe II für angelernte Arbeitnehmer).
„ Es gab kein Urteil“, erinnert sich Elisabeth
Bothfeld, ehemalige Bundesfrauensekretärin
der NGG, „das Gericht machte die Auflage,
einen Tarifvertrag zu schließen, der die
ungerechte Bezahlung aufhebt. Das ist dann
in der Folge mit dem Tarifvertrag Nährmittelindustrie
Schleswig-Holstein geschehen.“
2003 erstritten sich acht teilzeitbeschäftigte
Frauen der Neukircher Zwieback GmbH vor
dem Bundesarbeitsgericht das volle Weihnachtsgeld.
Sie hatten de facto regelmäßig
acht Stunden und mehr gearbeitet und
mussten daher den Vollzeitbeschäftigten
gleichgestellt werden.
Durch alle Bundesfrauenkonferenzen zieht
sich der rote Faden: Die NGG-Frauen haben
nie lockergelassen mit ihrer Forderung nach
gleichem Entgelt für gleiche und gleichwertige
Arbeit. Diese Anträge wurden an den jeweils
folgenden Gewerkschaftstag weitergeleitet
und auch dort in der Regel einstimmig
beschlossen. Warum haben wir dann noch
Entgeltdifferenzen? Was sind die Ursachen?
Ist es wie im Fall Dibona der Tarifvertrag, der
bereits Entgeltdiskriminierung enthält?
Der 15. Ordentliche Gewerkschaftstag 2013
hat mit dem Antrag B 1 beschlossen, dass
NGG in „Tarifverträgen die Grundlage für
geschlechterneutrale Eingruppierungen und
Arbeitsbedingungen im Betrieb schaffen
wird. Es wird eine Offensive gestartet, um
diskriminierungsfreie Eingruppierungen
und Arbeitsbedingungen zu erreichen. Und
bestehende Tarifverträge werden auf eventuelle
unmittelbare bzw. mittelbare Diskriminierungssachverhalte
mittels des Prüfinstrumentes
‚eg-check.de‘ überprüft. Erstmals zu
verhandelnde Tarifverträge müssen in jeder
Hinsicht unmittelbar und mittelbar diskriminierungsfrei
sein“.
Aktion für Entgeltgleichheit auf dem Gewerkschaftstag 2008 in Berlin
Michaela Rosenberger, NGG-Vorsitzende:
„Wir werden 2016 einen Prozess starten
und in allen Landesbezirken Projekte zur
Überprüfung eines ausgewählten Tarifvertrages
initiieren. Das ist der Anfang,
der Prozess wird ein langwieriger werden,
denn wir haben sehr viele Tarifverträge
zu überprüfen. Unsere Frauen hatten und
haben einen langen Atem, sie haben in der
Forderung nach gleichem Entgelt für gleiche
und gleichwertige Arbeit nie aufgegeben.
Jetzt wird die gesamte Organisation diesen
Prozess mittragen.“
32
einigkeit 6 /2015
SENIOREN
„NGG war immer aktiv dabei“
Foto: Peter Bisping
Uwe Westphal
Wer über die Seniorenpolitik der NGG berichten
will, kommt an Uwe Westphal (77) nicht
vorbei. Der ehemalige, langjährige Revisor
der NGG-Hauptkasse und stellvertretende
Betriebsratsvorsitzende der Bavaria St. Pauli
Brauerei in Hamburg engagiert sich seit
vielen Jahren in der Seniorenarbeit.
Warum und seit wann gibt es Seniorenarbeit
bei NGG?
Man kann die Interessen von Menschen nur
berücksichtigen, wenn sie in der Organisation
auch vertreten werden. Bei NGG gab
es erstmals Mitte der 1960er Jahre Seniorenarbeit.
Anfangs kam man wegen der
Geselligkeit zusammen, aber zum Beispiel in
den NGG-Regionen in Aachen, Hamburg und
Mainz gab es schon sehr früh auch Diskussionen
über politische Themen wie Rentenoder
Gesundheitspolitik.
Wie wurde die Seniorenarbeit auf eigene
Beine gestellt?
NGG hat 2005 einen „Arbeitskreis Seniorenpolitik“
eingerichtet. Unsere damals noch
stellvertretende NGG-Vorsitzende Michaela
Rosenberger hat mich gefragt, ob ich da
nicht mitmachen wolle, so für ein Jahr. Das
ist jetzt zehn Jahre her. Und das Ganze ist
mittlerweile eine feste Institution, mit je
einer/m Kolleg/in pro Landesbezirk. Wir
haben Richtlinien erarbeitet und für die Kolleginnen
und Kollegen eine kleine Broschüre
erstellt, wie sich Seniorenarbeit vor Ort in
den NGG-Regionen konkret gestalten lässt.
Natürlich ist Seniorenarbeit in Ballungszentren
viel einfacher als auf dem platten Land.
Mittlerweile gibt es aber bundesweit schon
20 bis 25 solcher NGG-Seniorenarbeitskreise.
Die Fragen, die die Seniorinnen und
Senioren beschäftigen, sind teils organisatorischer
Natur: „Wo finden wir Referenten?
Was machen wir genau? Wie lässt sich eine
Kurzreise durchführen? Wo gibt es passende
Räumlichkeiten?“ und teils inhaltlichpolitisch
motiviert. Schließlich haben die
Arbeitskreismitglieder, die übrigens aus allen
NGG-Branchen kommen, durchweg eine
Betriebsratsvergangenheit.
Da wird nicht
geschwafelt,
sondern sachlich-fundiert
diskutiert.
Welche künftigen
Ziele haben
die NGG-Seniorinnen
und
-Senioren?
Wir wollen,
dass die
Seniorinnen
und Senioren
einem eigenen Wagen teil.
noch stärker in
den NGG-Strukturen berücksichtigt werden.
Am liebsten wollen wir Sitz und Stimme im
Hauptvorstand und in den NGG-Landesbezirken
vertreten sein. Bisher ist das nur in den
Regionsvorständen der Fall.
Ein weiteres wichtiges Anliegen von uns ist
es, zu verhindern, dass das Rentenniveau
noch weiter abgesenkt wird. Die heutigen
Jungrentner haben prozentual ja schon
weniger Geld als ältere Rentnerinnen und
Rentner. Wenn das so weitergeht, dann wird
2040 Altersarmut gang und gäbe sein.
Was mich freut, ist, dass wir mittlerweile
mehr Einfluss haben und auch als NGG
stärker wahrgenommen werden. Aber wir
müssen noch mehr tun für unser Image und
wir müssen uns um die Mobilisierung der
Jugend kümmern.
Uwe, Du bist selber Rentner. Welche Gründe
gibt es, auch nach dem Arbeitsleben noch
aktives NGG-Mitglied zu bleiben?
Manche sind so verrückt wie ich, denen
August 2015: Am Weinfest in Nierstein nahmen die SeniorInnen der NGG-Region Darmstadt & Mainz mit
macht das einfach Spaß. Manche sind auch
alleine und freuen sich, einmal im Monat
unter Menschen zu kommen und sich
auszutauschen. Und das Schöne ist: Bei uns
wird man immer über aktuelle politische
Themen informiert. Nächstes Jahr bin ich 50
Jahre NGG-Mitglied: Ich kann nicht aufhören,
sonst verrät man den ganzen Verein.
Foto: NGG
Liebe NGG,
wir gratulieren Euch
von ganzem Herzen
und wünschen ein
leckeres Jubiläum!
150 Jahre Arbeit vom Feinsten! www.ace-online.de
Der Autoclub der Gewerkschaften
einigkeit 6 /2015
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Foto: NGG / Cintula
INTERNATIONALES
Internationale Solidarität
April 2014: Auf einer Demonstartion des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB) in Brüssel demonstrierten rund 50.000
Menschen, darunter auch NGG-Mitglieder, gegen die rigide Sparpolitik der Europäischen Union.
Als 1865 der Vorläufer der Gewerkschaft
NGG, der Allgemeine Deutsche Cigarrenarbeiter-Verein
(ADCAV) gegründet wurde, war
dies Teil eines allgemeinen Aufbruchs der
Zigarrenarbeiter nicht nur in Deutschland.
Die industrielle Revolution hatte die
LohnarbeiterInnen Mitte des 19. Jahrhunderts
in ganz Europa in unbeschreibliche Not
getrieben. Bei den Zigarrenarbeitern, die
während ihrer lautlosen Arbeit gut nebenbei
diskutieren und einem Vorleser aus den
eigenen Reihen – noch heute das NGG-Symbol
für Solidarität in der Arbeitswelt – lauschen
konnten, zeigte sich als erstes ein
politischer Radikalismus. Es war ein
Radikalismus, der notwendig war, um sich
aus den schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen
und aus der Armut zu emanzipieren.
Überdies waren die Zigarrenarbeiter
schon früh mobil auf dem europäischen
Arbeitsmarkt, so dass sie auch außerhalb
Deutschlands Teil einer mehr oder minder
solidarischen Arbeiterbewegung wurden.
Viele gingen regelmäßig für mehrere Monate
nach Amsterdam, Antwerpen oder London,
manche trieb die Wanderlust gar nach New
York.
1889 war für die internationale Arbeiterbewegung
ein besonderes Jahr: Am 3. November
kamen Tabakarbeiter aus Belgien und
den Niederlanden in Den Haag zusammen,
um Möglichkeiten einer wirkungsvolleren
Zusammenarbeit auf internationaler Ebene
zu erörtern. Im darauffolgenden Jahr wurde
die Internationale Vereinigung von Zigarrenund
Tabakarbeitern gegründet, das erste
offizielle internationale Instrument für
gemeinsames Vorgehen der ArbeitnehmerInnen
der heute in der IUL vertretenen
Branchen. Ein weiterer Vorläufer der
heutigen IUL (engl. IUF), der Internationalen
Union der Lebensmittel, Landwirtschafts-,
Hotel-, Restaurant-, Café und Genussmittelarbeiter-Gewerkschaften,
der auch NGG
angehört, war das 1907 gegründete
„Internationale Sekretariat der Bäcker,
Konditoren und verwandter Berufsgenossen“.
Es folgten 1908 das Internationale
Sekretariat der Brauereiarbeiter und die
Internationale Union der Hotel-, Restaurantund
Caféangestellten und schließlich 1913
die Fleischer.
Der Gedanke einer internationalen Solidarität
erfuhr jedoch eine herbe Niederlage, als
1914 der Erste Weltkrieg begann und man
gegen andere Nationen ins Feld zog. Obwohl
die internationalen Organisationen während
des Krieges zerfielen, arbeiteten die
Foto: Knoth
deutschen Sekretariate weiter. Aber es war
nach 1918 nicht ganz einfach, auf internationaler
Ebene wieder zusammenzukommen. Es
herrschten starke Vorbehalte gegenüber den
deutschen Gewerkschaften. Letztlich
obsiegte jedoch die Einsicht in die praktischen
Notwendigkeiten einer internationalen
Zusammenarbeit.
Die IUL entsteht
Am 25. August 1920 trat in Zürich die
Gründungskonferenz der IUL, der Internationalen
Union der Organisationen der Arbeiter
und Arbeiterinnen der Lebens- und Genussmittelindustrie,
zusammen. Vertreten waren
die Internationalen der Bäcker, Brauer und
Fleischer aus Deutschland, Belgien,
Frankreich, Schweiz, Ungarn, Tschechoslowakei,
Italien, Niederlande, Österreich,
Dänemark, Norwegen und Schweden sowie
ein Gast aus den USA. Die Tabakarbeiter
schlossen sich erst 1958, die gastgewerblichen
Angestellten 1961 der IUL an.
Neben einem erfolgreichen Boykott gegen
die Schweizer Schokoladenfirma PCK, einer
Nestlé-Tochter, die die gewerkschaftliche
Organisation ihrer 800-köpfigen Belegschaft
behindern wollte, widmete sich die IUL
zunächst vor allem zwei Themen: dem Kampf
für das Nachtbackverbot und dem für eine
internationale Regelung zur Traglastbegrenzung.
Erreicht wurde eine internationale
Übereinkunft, die die Nachtarbeit in
Bäckereien zwischen 22 und 5 Uhr verbot.
Was die Traglast betraf, so schwankte das
Gewicht der Säcke – je nach Land und
Branche – zwischen 75 und 150 kg. Wirbelsäulenverkrümmungen,
Unterleibsbrüche,
Krampfadern und zahlreiche Unfälle waren
die Folge. Bis 1931 gelang es jedoch nicht,
das Internationale Arbeitsamt dazu zu
bewegen, das Thema überhaupt auf seinen
Konferenzen zu erörtern.
In bester Tradition präsentiert sich die
NGG seit 150 Jahren im Kampf um die
Verteidigung von Arbeiterrechten und
die Verbesserung der Leben von Arbeitnehmern.
Ihr habt bedeutende Vorteile
für Arbeitnehmer in Deutschland errungen
und als wichtiges und dynamisches
Mitglied der IUL auch global die Leben von
Arbeitnehmern verbessert. Ich wünsche
euch weiterhin viel Erfolg im Kampf für
eure Mitglieder in Deutschland aber auch
alle unsere Mitglieder weltweit.
Ron Oswald,
IUL-Generalsekretär
34
einigkeit 6 /2015
INTERNATIONALES
IUL - eine Stütze des Widerstands in
Nazi-Deutschland
1933, nach der Machtergreifung der
Nationalsozialisten, wurden die freien
Gewerkschaften in Deutschland zerschlagen.
Die Folgen machten sich auch international
sogleich bemerkbar. Ein Arbeitskampf
in den luxemburgischen Brauereien scheiterte
am Einsatz von deutschen Streikbrechern.
Die Exekutive der IUL beschloss das
Ausscheiden des deutschen Verbandes,
sicherte aber jenen Kollegen moralische und
finanzielle Unterstützung zu, die „dem
Gedanken der internationalen Gewerkschaftsbewegung
treu geblieben sind“.
Hierzu gehörte auch Alfred Fitz, bis 1933
2. Vorsitzender des Verbands der Nahrungsmittel-
und Getränkearbeiter. Mit Hilfe der
IUL baute er ein illegales Netz von Vertrauensleuten
auf, die illegale Schriften der
Exil-SPD verteilten und der IUL über die
Stimmung in Deutschland und in deutschen
Betrieben berichteten. 1936 wurde ein
Großteil des Netzes von der
Gestapo zerschlagen. Zum Teil
wurde die illegale Arbeit
danach vom Ausland aus
nach Deutschland hinein
betrieben. Mit Beginn des
Zweiten Weltkrieges 1939
gestaltete sich dies
zunehmend schwieriger,
dennoch „überlebte [die IUL] den
Krieg nicht etwa in einem Zustand der
Lethargie, sondern stets sprungbereit,
wollten. Die Geschichte der Gewerkschaft
Nahrung-Genuss-Gaststätten“, S. 496)
„Ich habe bei NGG 163 Streiks organisiert. Für mich war das Schönste, als ich im November
2005 bei Gate Gourmet beim Streik war und die Streikenden mitgenommen
habe zu Nestlé in Marseille. Da sollte das Werk geschlossen werden. Die Kolleginnen
und Kollegen waren seit einem Jahr im Widerstand gegen die Werksschließung. Die
haben sich riesig gefreut, dass wir 1.500 Kilometer gefahren sind, um sie zu unterstützen:
Das ist gelebte internationale Solidarität! Nachdem die Kollegen bei Nestlé
ihren Kampf erfolgreich beendet hatten, haben sie mir ein Dankesschreiben geschickt,
das mir die Tränen in die Augen getrieben hat. Für solche Momente habe ich Gewerkschaftsarbeit
gemacht!“
Jürgen Hinzer, ehemaliger Gewerkschaftssekretär und Bundesstreikbeauftragter
Foto: IG Metall
150 Jahre NGG – Einig, solidarisch, stark!
Im Namen der IG Metall gratuliere ich
unserer älteren Schwester NGG zu ihrem
150-jährigen Bestehen. Seit Eurer Gründung
tretet Ihr mit großem Engagement,
Mut und oft in einem schwierigen Umfeld
für faire Arbeit und ein gutes Leben der Beschäftigten
ein: ob als wichtige Vorreiterin
für den gesetzlichen Mindestlohn oder im
tagtäglichen Einsatz der vielen engagierten
Kolleginnen und Kollegen vor Ort. Ich
wünsche Euch, dass Ihr diese solidarische
und erfolgreiche Gewerkschaftsarbeit
fortsetzt – und freue mich auf die Zusammenarbeit im DGB!
Jörg Hofmann,
Vorsitzender der IG Metall
Was die Wiedereingliederung der NGG in die
internationale Gemeinschaft der Gewerkschaften
betrifft, so ist sicherlich das Jahr
1953 hervorzuheben. Auf Anregung Hans
Nätschers, des damaligen 1. Vorsitzendenden
der NGG (s. S. 10), beschloss die IUL,
eine eigene Fachgruppe Tabak einzurichten.
Nätscher wurde Präsident der Fachgruppe,
1958 dann auch der IUL.
Im Laufe der folgenden Jahrzehnte nahm die
NGG, zumeist vertreten durch ihren (1.)
Vorsitzenden oder dessen Vorstandssekretär,
ihren festen Platz in den Gremien der IUL
ein.
Da es immer mehr Auseinandersetzungen
mit multinationalen Konzernen gab, war die
IUL bemüht, auf den verschiedenen Kontinenten
Regionalbüros einzurichten: auch
finanziell eine nicht ganz leichte Aufgabe.
Mit der Drohung, die Produktion in Steueroasen
zu verlagern, versuchten die Konzerne,
die Arbeiterschaft und sogar Regierungen
gefügig zu machen. Nationale Gewerkschaften
vermochten und vermögen da oft
nur wenig auszurichten. Auch darum war
und ist es eine der Aufgaben der IUL, die
ArbeitnehmervertreterInnen vor Ort zu
unterstützen und zu internationalen
Solidaritätsaktionen aufzurufen.
helfend und stützend, wo immer im Rahmen
ihrer Zuständigkeit sich eine Möglichkeit bot
[…]. Mit Zuversicht können die organisierten
Lebens- und Genussmittelarbeiter den Tag
erwarten, an dem ihre Internationale Union,
in noch höherem Ausmaß wie [sic] vor dem
Krieg, die Berufsorganisationen aller Länder
vereinigen wird, um für den Aufstieg und die
Befreiung der Arbeiterklasse von aller
Bedrückung zu kämpfen.“ (s. Willy Buschak:
„Von Menschen, die wie Menschen leben
Internationale Arbeit seit 1945
Dieser scheinbar ungebrochenen internationalen
Arbeitersolidarität ist es wohl zu
danken, dass der IUL-Kongress - ungeachtet
der fürchterlichen Verbrechen, die
Deutschland während des Zweiten
Weltkrieges verübt hatte, - im Juli
1946 beschloss, den neuen deutschen
Gewerkschaften alle Hilfe zu
geben und sie wieder in die Internationale
aufzunehmen, sobald sie einen
entsprechenden Antrag stellen sollten. Wie
groß auch in Deutschland der Wunsch nach
dauerhaftem Frieden und der Wiederaufnahme
in die Völkergemeinschaft war, wurde
auch auf dem Gründungsverbandstag der
NGG 1949 in München deutlich. Günter
Pufal, 1. Vorsitzender der NGG: „[…] Als
Grundpfeiler, worauf wir dieses Haus
errichten, lassen Sie uns die Begriffe
Freundschaft, Vertrauen, Solidarität,
Humanität setzen […]. Lassen Sie uns frei
von jeder Parteipolitik für die Völkerverständigung
und für die Sicherung des Weltfriedens
werben.“
Die EFFAT in Europa
Die heutige Europäische Gewerkschaftsföderation
für den Landwirtschafts-, Nahrungsmittel-
und Tourismussektor EFFAT basiert
auf dem 1980 gegründeten IUL-Ausschuss
EAL und der europäischen Gewerkschaftsföderation
EFA. Beide fusionierten im Jahr
2000 zu einer europäischen Dachorganisation
nationaler Gewerkschaften, darunter
auch NGG. Eine der wichtigen Aufgaben der
EFFAT ist die Unterstützung bei der Gründung
einigkeit 6 /2015
35
Menschen
machen
sich stark!
INTERNATIONALES
Europäischer Betriebsräte. In den vergangenen
Jahren ist dies in mehr als 100 Konzernen
gelungen.
Die in Brüssel ansässige EFFAT vertritt
derzeit die Interessen der Mitglieder von 120
nationalen Gewerkschaften in 35 europäischen
Ländern (www.effat.org). Die IUL,
angesiedelt in Genf, macht sich mit ihren
409 Mitgliedsverbänden für deren Mitglieder
in 126 Ländern stark (www.iuf.org).
Die immer stärkere Internationalisierung der
Ernährungsindustrie und des Gastgewerbes
ist Anlass für NGG, auch personell zu
reagieren. Mit Peter Schmidt, dem langjährigen
Vorsitzenden des Europäischen Betriebsrats
bei Nestlé, hat NGG einen
international versierten Kollegen für die
internationale Arbeit gewonnen. Peter
Schmidt: „Die internationale Arbeit muss in
Zukunft eine größere Bedeutung und Rolle
haben. Zum einen werden politische
Entscheidungen immer seltener von den
nationalen Regierungen getroffen, vielmehr
finden Entscheidungen in Brüssel statt. Zum
anderen entstehen immer mehr multinationale
und europäische Konzerne. Nationale
und regionale Unternehmensführungen
können keine Entscheidungen mehr treffen,
diese finden in den Konzernzentralen statt.
Foto: Knoth
Es muss uns gelingen, gewerkschaftliche
Strukturen auf diesen Ebenen aufzubauen,
um Einfluss auf die Unternehmenspolitik
beziehungsweise Europäische Politik zu
nehmen. Hierzu müssen sich die Gewerkschaften
besser untereinander koordinieren
und vor allem grenzübergreifend kooperieren.
Ebenso werden mehr Europa- und
weltweite Kampagnen gegen Konzerne
geführt werden müssen und schließlich
müssen die europäischen Betriebsräte von
den Gewerkschaften stärker unterstützt
werden.“
Ein herzliches Glückauf!
Wenn die Geschichte der Arbeiterbewegung
eines lehrt, dann vor allem dies:
Den Arbeitnehmern ist nie etwas geschenkt
worden. Soziale Wohltaten sind
nie vom Himmel gefallen. Es gab sie, weil
die Arbeitnehmer sich in Gewerkschaften
zusammengeschlossen haben und gemeinsam
für ihre Rechte gekämpft haben.
Die Zukunft kommt von alleine, sozialer
Fortschritt nur mit uns - mit NGG und
EFFAT.
Harald Wiedenhofer,
EFFAT-Generalsekretär
Foto: NGG / Cintula
EFFAT-Kongress 2009 in Berlin
36
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