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einigkeit 06/15

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6 / 2015

einigkeit

Informationen der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten

Jubiläumsausgabe zum 150. Geburtstag

einigkeit 6 /2015 1


ZUM GEBURTSTAG

150 Jahre NGG: erfolgreich und solidarisch

Foto: Marko Kubitz

Michaela Rosenberger

„Unsere Gewerkschaft NGG wird 150 Jahre

alt und ist damit die älteste Gewerkschaft

Deutschlands: Im Dezember 1865 gründeten

Zigarrenarbeiter aus mehreren Ländern des

Deutschen Bundes in Leipzig den Allgemeinen

Deutschen Cigarrenarbeiter-Verein (AD-

CAV). Der Gründungstag – der 26. Dezember

1865 – markiert den ersten überregionalen

Zusammenschluss der seit 1848 überall

regional gegründeten Arbeitervereine - und

den Beginn der nun 150-jährigen Geschichte

nicht nur der mehr als 60 Vorläuferverbände

der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten,

sondern auch der Geschichte der

deutschen Gewerkschaften insgesamt.

150 Jahre sind eine beeindruckende Zeitspanne,

und es ist kein gewöhnliches Jubiläum.

Deshalb haben wir unser 150-jähriges

Bestehen über das ganze Jahr mit vielen

Mitgliederfesten in den Regionen gefeiert.

Für Politik und Wirtschaft haben wir in Berlin

ein „Hoffest“ mit vielen Gästen ausgerichtet,

und im November am Ort unserer Gründung,

in Leipzig, im Rahmen eines Festakts zur

Beiratssitzung die feierliche Enthüllung

einer Gedenktafel für den allerersten Gewerkschaftsvorsitzenden

in Deutschland, für

Friedrich Wilhelm Fritzsche, erlebt.

150 Jahre NGG – das heißt 150 Jahre

unermüdlicher Einsatz für gute Arbeit, für

ein menschenwürdiges Leben und seine

Sicherung über Erwerbsarbeit, für angemessene

und gerechte Einkommen für Frauen

und Männer, und für Solidarität der erwerbstätigen

Kolleginnen und Kollegen untereinander

– und es heißt 150 Jahre viele kleine

und große Initiativen von gewerkschaftlich

engagierten Menschen, die der Übermacht

der Fabrikherrn und Unternehmensführungen

permanent kleine Fortschritte abgerungen

und unsere NGG zu dem gemacht haben,

was sie heute ist: ein Symbol für gute Politik

und große Erfolge und für den Einfluss einer

kleinen gewerkschaftlichen Organisation auf

die gesamte Gesellschaft.

Doch ist für uns Gewerkschaften die Arbeit

nie leicht gewesen. Es wurde uns nichts

geschenkt: 150 Jahre gewerkschaftliches

Handeln bedeutet immer, gemeinsam um

Verbesserungen zu kämpfen. Diese Kämpfe

haben wir oft gewonnen und manchmal auch

verloren. Dass wir aber 150 Jahre lang für

Verbesserungen von Arbeits- und Lebensbedingungen

der Mitglieder in Nahrungsmittelindustrie,

Bäcker-, Konditoren- und

Fleischerhandwerk und im Gastgewerbe

gekämpft haben, darf uns mit Stolz erfüllen.

Mit dieser Sonderausgabe der ‚einigkeit

über 150 Jahre NGG möchten wir zeigen,

dass auch heute noch Solidarität als „das

Stärkste, was die Schwachen haben“ die Basis

unseres Erfolgs ist: Nur, wo wir gemeinsam

für unsere Ziele eintreten, können wir

sie erreichen.“

Michaela Rosenberger, NGG-Vorsitzende

Am Anfang war der Vorleser

Mitte des 19. Jahrhunderts waren nach

der industriellen Revolution Produktivität

und Unternehmensgewinne vielerorts

gewachsen, die Lohnarbeiter litten hingegen

unbeschreibliche Not:

Arbeitszeiten von bis zu 20

Stunden pro Tag sind nichts

Ungewöhnliches, und zwar

tagtäglich, ohne einen freien

Tag; der Kost- und Logiszwang

macht die Lohnarbeiter

zu beliebig verfügbaren

Leibeigenen ihrer Meister

und die Bezahlung ist dabei

so schäbig, dass sich die

Arbeiterinnen und Arbeiter

noch nicht einmal das Allernötigste

leisten, geschweige

denn für Notfälle vorsorgen

können.

Sich zu wehren, ist damals

also buchstäblich not - wendig: um Not zu

wenden. Aber das ist alles andere als einfach.

Nach dem Scheitern der März-Revolution

(1848/49) ermöglichen das Koalitionsverbot

(1854 – 60) und danach das drastisch

beschnittene Vereinsrecht lediglich Unterstützungsvereine

für Krankheit und Arbeitslosigkeit

oder Bildungsvereine.

Es ist nicht verwunderlich,

dass die Zigarrenarbeiter die

ersten waren, denn sie waren

politisch interessiert und ideenreich:

Sie entschieden, dass

einer von ihnen den anderen

während der Arbeit vorlesen

sollte. Was gemütlich klingt,

hat einen knallharten Hintergrund:

Industrielle Fertigung

ist damals wenig verbreitet,

Heimarbeit oder Kleinbetriebe

herrschen vor. Die Herstellung

von Zigarren ist außerdem

eine leise und monotone Arbeit,

die zum Debattieren und

Erzählen einlädt.

In den Hochburgen der Zigarrenarbeit (z.B.

Leipzig, Westfalen und Altona) „glich fast

jede Zigarrenmacherbude einem Diskutier-

und Leseclub“ (Willy Buschak). Weil sich einzelne

Arbeiter besser auf das Vorlesen und

Erzählen als auf das Zigarrenmachen verstehen,

werden sie ausschließlich mit dem

Vorlesen beauftragt, und dafür übernehmen

die anderen Zigarrenarbeiter den Anteil der

Vorleser am Produktionssoll (s. S. 3). Die

Vorleser sind also gewissermaßen die erste

Bildungseinrichtung der jungen deutschen

Arbeiterbewegung. Und die Bedeutung von

Bildung für ArbeitnehmerInnen unterstreichen

wir bis heute mit dem Vorleser als

Symbol unserer Organisation.

Impressum

Die „einigkeit“ wird herausgegeben vom

Hauptvorstand der Gewerkschaft NGG,

Haubachstraße 76, 22765 Hamburg.

Redaktion: Silvia Tewes M.A. (V.i.S.d.P.)

Tel. (040) 380 13-0, Fax (040) 380 13-220

E-Mail: hv.redaktion@ngg.net

Internet: www.ngg.net

Redaktionsschluss: 7. Dezember 2015

Titelfoto: NGG, Satz: Malena Bartel

Gestaltung: www.blum-design.net

Druck: BWH GmbH (Der Verkaufspreis ist im

Mitgliedsbeitrag enthalten.)

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GESCHICHTE

Weihnachten 1865: die Geburtsstunde der deutschen Gewerkschaften

Foto:Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung

„Es geschah an Weihnachten“ – der Geburtstag

unserer NGG ist der 26. Dezember. Heutzutage

wäre es unvorstellbar, eine gewerkschaftliche

Versammlung an diesem Tage

Drei Tage dauert der Gründungskongress –

und alles, was es zu einer Vereinsgründung

braucht, wird erledigt: Eine Satzung wird

verabschiedet, zum Vereinssitz wird Frankfurt

am Main bestimmt, und neben einem

Ausschuss, der die Arbeit koordiniert, wird

Friedrich Wilhelm Fritzsche der allererste

Vorsitzende einer deutschen Gewerkschaft

( s. S. 23-24).

Bald tun es den Cigarrenarbeitern andere

Berufsgruppen gleich: schon ein Jahr später

die Buchdrucker und zwei Jahre später die

Bäcker – der gewerkschaftliche Gedanke

leitet bald die gesamte Arbeiterschaft.

Doch bleibt das historische Datum der 26.

Dezember 1865 – der Tag, an dem die erste

überregionale und dauerhaft bestehende

Gewerkschaft in Deutschland gegründet wurde:

der Allgemeine Deutsche Cigarrenarbeiter-Verein

(ADCAV) als direkter Vorläufer der

heutigen Gewerkschaft Nahrung-Genuss-

Gaststätten.

„Colosseum“ (später Pantheon) in Leipzig um 1900, Gründungsstätte des Allgemeinen Deutschen Cigarrenarbeiter-Vereins

abzuhalten, 1865 war es zumindest ungewöhnlich.

Doch Friedrich Wilhelm Fritzsche

hatte Tempo gemacht, zwei Monate zuvor

war die Gründung eines Cigarrenarbeiter-

Vereins nicht zustande gekommen, weil nur

Delegierte aus Norddeutschland anwesend

waren. Fritzsche wollte durch das weihnachtliche

Datum erreichen, dass die Delegierten

aus allen deutschen Ländern in Leipzig anreisen

konnten und versandte Ende November

Einladungen an alle lokalen Vereine zum

ersten deutschen Cigarrenarbeitertag.

Leipzig als Gründungsstadt war im Übrigen

kein Zufall, denn die alte Handelsstadt,

an der schon im Mittelalter zwei wichtige

Handelswege von Norwegen nach Rom,

beziehungsweise von Paris nach Russland

zusammentrafen, war damals eines der

industriellen Zentren in den deutschen Ländern.

Hier haben u.a. auch viele Arbeiter in

Cigarrenfabriken ihren kargen Lebensunterhalt

verdient – und sie waren damals eine

ganz besondere Zunft: politisch interessiert

und auch immer auffällig bunt gekleidet.

Einer von ihnen war Friedrich Wilhelm Fritzsche,

und er war ein Leipziger - schon 1858

hatte er erste Versuche unternommen, die

1848 nach der Märzrevolution gegründete

und 1850 unter der polizeilichen Repression

wieder aufgelöste „Association der Cigarrenarbeiter“

wiederzubeleben.

Illustration: Heinrich-Kaufmann-Stiftung

Die Zigarrenarbeiter waren die Ersten

Nachdem Fritzsche 1863 geholfen hatte,

den Allgemeinen Deutschen Arbeiter-Verein

(ADAV) zu gründen, die erste Vorläuferorganisation

der SPD, und binnen zwei Jahren

in Berlin als deren Vizepräsident zu einem

versierten Funktionär geworden war, kehrte

er 1865 nach Leipzig zurück und wurde die

treibende Kraft zur Gründung einer Zigarrenarbeiter-Gewerkschaft

– mit Erfolg: An

Weihnachten 1865 kommen insgesamt 17

Delegierte, die 51 lokale Vereine repräsentieren,

im Ausflugslokal „Colosseum“ an der

Straße nach Dresden zusammen.

Vorleser in der „Zigarrenmacherbude“

Was ist aus dem Colosseum geworden, der

historischen Stätte sowohl für die sozialdemokratischen

Parteien als auch für die

Gewerkschaften? Leider ist das Gebäude

nicht erhalten geblieben – 1869 wurde es in

„Pantheon“ umbenannt, und in den 1930er

Jahren wurde der hintere Teil mit dem Gartenlokal

abgerissen, in den 1970er Jahren

auch das Vorderhaus. An der Ecke der Dresdner

Straße zum Gerichtsweg steht heute

etwas versetzt zum alten Haus ein Plattenbau,

an die historische Stätte erinnert heute

ein kleiner Gedenkstein.

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GESCHICHTE

25 Jahre hartes Ringen um die Existenz: der Tabakarbeiter-Verband

1865 bis 1890

Die Bedingungen für die Gewerkschaftsarbeit

waren vor 150 Jahren noch anders. Das

heute im Grundgesetz verankerte Grundrecht

auf „Koalitionsfreiheit“, also das Recht, sich

zur Wahrung gemeinsamer Interessen zu

Verbänden zusammenzuschließen, galt damals

noch nicht, und alle Aktivitäten standen

unter polizeilicher Beobachtung und bestenfalls

staatlicher Duldung. Die Versammlungen

mussten oft getarnt werden als gesellige

Unterhaltungsveranstaltungen, und auch

als Vereinszweck musste offiziell die gegenseitige

Unterstützung bei Arbeitslosigkeit

und nicht die Abwehr von Angriffen der Fabrikherrn

oder die Wahrung der politischen

Interessen der Arbeiter herhalten.

Foto: DGB / Simone M. Neumann

150 Jahre Gewerkschaftsgeschichte bieten

bewegende Einblicke in große Herausforderungen

des steten gesellschaftlichen,

politischen und wirtschaftlichen Wandels

der Vergangenheit, die die Gewerkschaften

zu bewältigen hatten und eindrucksvoll

bewältigt haben. Die Geschichte lehrt uns:

Die Arbeits- und Lebensbedingungen der

Menschen können wir nur dann gemeinsam

nachhaltig verbessern und gestalten,

wenn wir Einigkeit, Solidarität und Demokratie

leben. Gemeinsam mit der NGG

stehen wir für diese Werte und gestalten

engagiert die Arbeit der Zukunft für die

Menschen in Deutschland, Europa und der Welt. Zum 150-jährigen Jubiläum gratulieren

wir allen haupt- und ehrenamtlichen Kolleginnen und Kollegen der NGG und danken

euch für euer unermüdliches Engagement.

Reiner Hoffmann,

Vositzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes

Foto: Heinrich-Kaufmann-Stiftung

Die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder war

zunächst recht klein. Waren in der Association,

dem Vorläuferverband von 1848-1850

nur 1.000 Mitglieder eingeschrieben, schaffte

der Allgemeine Deutsche Cigarrenarbeiter-

Verein (ADCAV) es innerhalb von zwei Jahren,

7.600 Mitglieder in 170 Orten zu organisieren.

Das war aber immer noch nur eine kleine

Basis, und die Mitglieder waren arm, sodass

der Verein ihnen nur wenig Unterstützung

zahlen konnte – so musste bei jedem lokalen

Streik die gesamte Mitgliedschaft in den

anderen Städten Geld für die Streikenden

sammeln, um sie zu unterstützen.

Anders als heute war Streik damals gleichbedeutend

mit Arbeitsplatzverlust – die

Entrippen von Tabakblättern in Heimarbeit

Arbeiter stellten ihre Arbeit ein und wurden

von den Unternehmern sofort entlassen. Der

Verein musste sofort mehrere Dinge sicherstellen:

Zum einen durfte auch niemand

anderes anstelle der Streikenden die Arbeit

aufnehmen: Das war nicht immer einfach.

Zum anderen mussten die Streikenden

materiell versorgt werden – sei es mit dem

Solidaritätsbeitrag der anderen Mitglieder,

sei es durch Gründung von genossenschaftlichen

Cigarrenfabriken durch den ADCAV. Oft

mussten die Streikenden aber auch mit ihren

Familien ihre Stadt verlassen und in einer

anderen neue Arbeit suchen – auch dabei

half der Verein.

Unter diesen Bedingungen war die Gewerkschaftsarbeit

alles andere als einfach – und

es herrschte auch Streit über die grundlegende

politische Ausrichtung des Vereins.

Während die einen mit den Fabrikherrn über

die Lohnverhältnisse verhandeln wollten (so

wie es heute alle Gewerkschaften tun), war

Fritzsche (s. S. 3) vom unüberbrückbaren

Gegensatz zwischen Arbeitern und Unternehmern

überzeugt. Dieser Streit eskalierte

schon vier Jahre nach der Gründung und

führte zur Spaltung des ADCAV und zur

Schwächung beider Teilverbände, in denen

jeweils nur noch 900 Mitglieder blieben. Erst

nach fünf Jahren konnte 1874 die Spaltung

überwunden werden – sofort gewann der

Deutsche Tabakarbeiter-Verband, wie die

Organisation nun bis 1947 heißen sollte,

wieder neue Mitglieder und war vier Jahre

später mit 10.000 Mitgliedern die größte

deutsche Gewerkschaft.

Genau diese wiedergewonnene Stärke war

dem seit 1871 vereinten deutschen Staat ein

Dorn im Auge, und 1878 erließ der Reichskanzler

Otto von Bismarck das berüchtigte

„Gesetz gegen die gemeingefährlichen

Bestrebungen der Sozialdemokratie“ (auch

„Sozialistengesetz“), das politische Versammlungen

und Druckschriften sowohl der

SAP (ab 1890 hieß sie erst SPD) wie auch

aller Gewerkschaften verbot, Betätigungen

unter Gefängnisstrafe stellte und die Möglichkeit

bot, Funktionäre aus bestimmten

Städten auszuweisen.

Sofort nach Erlass des Gesetzes wurden

etwa 900 Funktionäre aus Berlin, Hamburg,

Leipzig, Frankfurt am Main, Stettin und

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GESCHICHTE

Offenbach ausgewiesen – 138 von ihnen

waren Cigarrenarbeiter. Auch Friedrich Wilhelm

Fritzsche, der 1878 Reichstagsabgeordneter

der SAP geworden war, wurde aus

Berlin ausgewiesen und kehrte nach Leipzig

zurück, um in der Südstraße, der heutigen

Karl-Liebknecht-Straße, seinen letzten

Wohnsitz in Deutschland zu beziehen (s. S.

24). Nach dem Verlust seiner Immunität bei

der folgenden Reichstagswahl 1881, bei der

er nicht wieder antrat, wanderte Fritzsche in

die USA aus – wie viele andere, die aufgrund

ihrer Ächtung als politische Agitatoren keine

neue Existenz an einem anderen Ort aufbauen

konnten.

Um nicht vollständig verboten zu werden,

änderten die Gewerkschaften daraufhin ihre

Vereinszwecke und wurden „Reiseunterstützungsvereine“.

Auch die Tabakarbeiter

waren nun im „Unterstützungsverein deutscher

Tabakarbeiter“ organisiert und Bäcker,

Lebküchler und Böttcher hatten ebenfalls

solche Vereine.

Trotz des Sozialistengesetzes wurde die SAP

stärker, auch im Reichstag. Bismarcks Regierung

reagierte mit den „Sozialgesetzen“,

Foto: NGG

„Ich bin bei Bahlsen in die Gewerkschaft

gegangen, weil mein Vater pro-gewerkschaftlich

eingestellt war, immer schon.

Und da war es für mich eine Selbstverständlichkeit,

in diesem großen Betrieb in

die Gewerkschaft zu gehen, in die NGG. […]

Ich hab immer gesagt, als guter Betriebsrat

[…] muss man eigentlich eine gute Menschenkenntnis

haben. Aber man darf auch

nicht so vermessen sein, dass man sagt,

ich will nur immer fordern, sondern es

muss auch möglich sein. Ich habe immer

versucht, die ganze Zeit, beides zu verbinden.

Also das, was machbar ist, dann aber

auch auszureizen und dann auch zu holen. Das war so meine Prämisse.“

Joachim Böhm, Jg. 1944, Gesamtbetriebsratsvorsitzender Bahlsen. Das komplette

Interview: http://150.ngg.net/menschen-in-der-ngg/joachim-boehm/

die die Basis für die heutige gesetzliche

Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung

bildeten und neben der Verbesserung der

sozialen Situation für die Arbeiter auch ihre

Abkehr von SPD und Gewerkschaften bewirkten.

Aber auch die gewerkschaftlichen Betätigungen

konnten nicht zurückgedrängt werden,

und es gründeten sich sogar bei den Brauern

und den Zigarrensortierern neue Vereine.

1890 waren Sozialdemokratie (jetzt unter

dem neuen Parteinamen SPD) und Gewerkschaften

stärker als 1878, und es fand

sich nach den Wahlen zum Reichstag keine

Mehrheit zur Verlängerung des Gesetzes:

Die Gewerkschaften hatten ihre erste große

Belastungsprobe bestanden und überlebt.

Von der Berufs- zur Industrie- bis hin zur Einheitsgewerkschaft

In der Zeit nach 1890 gelang es den Gewerkschaften

immer besser, sich als Interessenvertretung

zu etablieren – und ihre

Entscheidung, Streikkassen aufzubauen, um

von vornherein für Arbeitskämpfe gerüstet

zu sein, erwies sich als richtig: Zunehmend

konnten Erfolge erzielt und erstmals

Tarifverträge abgeschlossen werden (s. S.

13). Dennoch gab es auch heftige Arbeitskämpfe

– Tabakarbeiter, Bäcker und Brauer

waren vor dem Ersten Weltkrieg mehrmals

im Streik. Um den wachsenden Einfluss der

Gewerkschaftsverbände zurückzudrängen,

gingen auch die Arbeitgeber aggressiv vor

und sperrten mehrmals die Arbeiter aus, um

die Streikkasse zu schwächen.

Aus dieser Entwicklung heraus begannen die

nach Berufssparten gegliederten Gewerkschaften

früh, über Fusionen nachzudenken.

Bereits 1892 zogen die Gewerkschaften

im Nahrungsmittelbereich eine gemeinsame

Organisation in Erwägung, doch erst

kurz vor dem Ersten Weltkrieg fanden die

ersten Zusammenschlüsse statt. Bis 1927,

als der Verband der Nahrungsmittel- und

Getränkearbeiter (VNG) gegründet werden

konnte, bedurfte es noch verschiedener

Zwischenschritte. Der Deutsche Tabakarbeiter-Verband

(DTAV) schloss sich früh mit

der Gewerkschaft der Zigarrensortierer und

Kistenbekleber zusammen, trat aber dem

VNG nicht bei. Im Gastgewerbe konnte sich

1920 der Zentralverband der Hotel-, Restaurant-

und Caféangestellten (ZVHRC) bilden,

aber einige Berufsverbände aus der Branche

blieben ihm weiterhin fern.

Außerdem waren die Gewerkschaften

politisch unterschiedlich ausgerichtet: Es

gab neben den freien Gewerkschaften auch

liberale und christliche Verbände. Dies

machte insbesondere in der zweiten Hälfte

der Weimarer Republik unter der politischen

Radikalisierung des Landes den Gewerkschaften

zunehmend Schwierigkeiten.

Während die Gewerkschaften im Ersten

Weltkrieg – obwohl sie bis kurz vor Ausbruch

noch vehement für Frieden aufgerufen und

demonstriert hatten – am „Burgfrieden“ teilnahmen

und einem Verbot entgingen, nützte

ihnen 1933 die gleiche Haltung gegenüber

den Nationalsozialisten nichts: Einen Tag

nach den Maidemonstrationen besetzten

die Nazis die Gewerkschaftshäuser und

verhafteten zahlreiche Funktionäre. Alle

Gewerkschaften wurden in die „Deutsche

Arbeitsfront“ überführt. In den schwärzesten

Jahren der deutschen Geschichte waren die

Gewerkschaften kaltgestellt – doch leisteten

einige Gewerkschafter auch in den zwölf

Jahren der Nazi-Diktatur Widerstand.

Getrennte Wege: Einheitsgewerkschaft in

Ost und West

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs

geht es für Millionen Menschen vor allem

darum zu überleben. Nahrungsmittel sind

knapp, und die Wohnungsnot wird durch fast

zwölf Millionen Flüchtlinge und Vertriebene

auf der Suche nach einer neuen Heimat

noch verschärft. In dieser Zeit beginnt die

Geschichte des Wiederaufbaus auch der

Gewerkschaften:

Am 1. August 1947 tritt in Hamburg der

Gründungsverbandstag der Industriegewerkschaft

Nahrung-Genuss-Gaststätten für die

Britische Zone zusammen. Im Mai 1949 kommen

in München die Landesgewerkschaften

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GESCHICHTE

Foto: CDU / Dominik Butzmann

NGG – eine stolze Gewerkschaft mit langem

Atem

150 Jahre NGG: Nur wenige Organisationen

in Deutschland können auf solch ein

würdiges Jubiläum blicken. Seit den Tagen

des Allgemeinen Deutschen Cigarrenarbeitervereins

ist Ihre Gewerkschaft eine

vernehmbare Stimme für Ihre Interessen.

Damals kämpfte sie gegen die Ausbeutung

der Arbeiter durch überlange Arbeitszeiten

und geringe Löhne. Pragmatisch und mit

dem nötigen Augenmaß für das Machbare

– so geht die NGG seit jeher ans Werk. In

den Gründungsjahren verkörperte der „Vorleser“ mit der gemeinschaftlich organisierten

Weiterbildung unter den Zigarrenmachern diesen Pragmatismus in besonderer

Weise.

Ihren ausgeprägten Willen für Zusammenhalt und Solidarität hat sich die NGG in ihrer

wechselvollen Geschichte immer bewahrt. Erinnert sei nur an ihren zügigen Zusammenschluss

zur gesamtdeutschen Gewerkschaft im Dezember vor 25 Jahren. Auch in

der globalisierten Arbeitswelt nimmt sie die Herausforderungen mit Beharrlichkeit und

langem Atem an: Heute geht es der NGG um faire Arbeit und gutes Leben. Rekordbeschäftigung,

steigende Einkommen und der gesetzliche Mindestlohn tragen dazu bei.

Bei aller Veränderung: Die gelebte Sozialpartnerschaft bleibt eine wesentliche

Grundlage des Zusammenhalts und Erfolgs unseres Landes. Dazu leistet die NGG ihren

bedeutenden Anteil. Ich gratuliere herzlich und wünsche Ihrer Gewerkschaft auch für

die Zukunft die nötige Ausdauer und Kraft, um unser Land mitzugestalten.

Angela Merkel,

Bundeskanzlerin

der amerikanischen und französischen

Zonen dazu. Für diesen Zusammenschluss

aus Tabakarbeiter-Verband, VNG und ZVHRC

war ganze Arbeit zu leisten – einen wesentlichen

Anteil daran hatte Gustav Pufal, der

erste Vorsitzende der neu gegründeten NGG.

Doch diese Fusion war nicht nur erfolgreich,

sondern auch nachhaltig: NGG ist eine von

nur drei Gewerkschaften im DGB, die seit

1949 nicht fusioniert haben.

In der Bundesrepublik wird der Wiederaufbau

zu einer zentralen Aufgabe, und die

Gewerkschaften und auch die gemeinwirtschaftlichen

Unternehmen spielen dabei

eine tragende Rolle. Für diese Rolle war auch

entscheidend, dass der Staat – anders als

in der Weimarer Republik – sich nicht über

Zwangsschlichtungen in die Tarifpolitik

einmischte. Das war nicht immer selbstverständlich

- Konrad Adenauer plante

eigentlich, die Tarifautonomie mit einem

automatischen sogenannten „Indexlohn“ zu

untergraben – es wäre einer Zementierung

der Einkommensverteilung gleichgekommen.

Das Wirtschaftswunder der 1950er und 60er

Jahre mit seinen immensen Wachstumsraten

erlaubt es den Gewerkschaften stattdessen,

deutliche Fortschritte bei der Entlohnung

und der Regelung von Arbeitszeiten und

Urlaub zu erzielen. Schon damals zählte

NGG zu den Vorreitern in der Tarifpolitik, und

wurde zum Trendsetter der Tarifpolitik in den

70er und 80er Jahren (s. Tariferfolge S. 13).

In der DDR waren die Beschäftigten der

NGG-Branchen in den Gewerkschaften Handel,

Nahrung und Genuss (HNG) und Land,

Nahrungsgüter und Forst (LNF) organisiert.

Sie waren Teil des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes

(FDGB) und des sozialistischen

Wirtschaftssystems. Anstelle von

Streiks organisierten die Gewerkschaften

den Feriendienst und das Eingabewesen,

eine Art Beschwerdemanagement. Nach der

Niederschlagung des aus Streiks entstandenen

Volksaufstands 1953 gab es in der DDR

– dem Arbeiter- und Bauernstaat – keine

kollektiven Bewegungen der Beschäftigten

mehr.

Durch die friedliche Revolution in der DDR

und die anschließende Wiedervereinigung

änderte sich auch die Welt der Gewerkschaften

(s. S. 7).

Die Chronik der NGG und ihrer Vorläuferverbände

Entstehung 1865 – 1895

In allen Berufszweigen bestanden bis 1933 mehrere

Verbände, denn neben den „freien“ Gewerkschaften

wurden auch „christliche“ und „liberale“

Verbände gegründet. Wir nennen hier die jeweils

erste Verbandsgründung.

1865 Allgemeiner Deutscher Cigarrenarbeiter-Verein

(später Deutscher Tabakarbeiter-Verband

- DTAV)

1868 Allgemeiner Deutscher Bäckerverein

1876 Bund der Deutschen Böttcher

1877 Genfer Verband der Hotel- und Gaststätten-Angestellten

1878 Erlass des Sozialistengesetzes und

Verbot politischer Betätigung für

die Gewerkschaften

1879 Verband der Lebküchler

1885 Verband der Zigarrensortierer und

Kistenbekleber

1889 Verband Deutscher Müllergesellen

(später Mühlenarbeiter)

1890 Aufhebung des Sozialistengesetzes

1891 Zentralverband Deutscher Brauer

1893 Zentralverband der Fleischer und Berufsgenossen

Zusammenschlüsse 1907 - 1927

1907 Verband der Bäcker und Konditoren,

später Denag (Deutscher Nahrungsund

Genussmittelarbeiterverband)

1910 Brauer und Mühlenarbeiter, später

VLG (Verband der Lebensmittel- und

Getränkearbeiter Deutschlands)

1912 Tabakarbeiter und Zigarrensortierer

1920 Zentralverband der Hotel-, Restaurantund

Caféangestellten (ZVHRC)

1927 VNG (Verband der Nahrungsmittelund

Getränkearbeiter): aus Denag,

VLG und Zentralverbänden der Fleischer

und der Böttcher hervorgegangen

1933 Zerschlagung der deutschen Gewerkschaften

durch die Nazis

Entwicklung der NGG nach dem Zweiten Weltkrieg

1945-46 Wiedergründung der Gewerkschaften

in den vier Besatzungszonen

1947 Zusammenschluss von VNG, DTAV und

ZVHRC zur IG Nahrung-Genuss- Gaststätten

in der britischen Zone

1949 Gründung der IG NGG (später NGG) in

der BRD und der IG NGG in der DDR

1958 Fusion von NGG DDR mit Gewerkschaft

Handel zur Gewerkschaft Handel-Nahrung-Genuss

(HNG)

1990 1. Juni: Auflösung der HNG und Gründung

der NGG (DDR)

1. Dezember: Fusion der NGG (BRD)

und NGG (DDR)

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GESCHICHTE

150 Jahre NGG – 25 Jahre wiedervereinigt

Im Dezember 2015 feiern wir ein doppeltes

Jubiläum – neben dem 150. Geburtstag am

26. Dezember blicken wir am 1. Dezember

auf 25 Jahre gemeinsame NGG in west- und

ostdeutschen Bundesländern zurück.

Nach der friedlichen Revolution in der DDR

im Oktober und November 1989 begann ein

aufregendes Jahr mit weitreichenden Veränderungen

– nach der Volkskammerwahl

im März 1990 zeichnete sich eine schnelle

Währungsunion und Wiedervereinigung der

beiden deutschen Staaten ab.

Nach dem Rücktritt von Günter Döding im

Frühjahr 1989 war Erich Herrmann (s. S. 10

ff.) in diesem Jahr als Geschäftsführender

NGG-Vorsitzender besonders gefordert:

„Plötzlich war sie da, die Wiedervereinigung,

obwohl niemand mehr richtig daran

geglaubt hatte - am wenigsten Bundeskanzler

Kohl. Aber er sprang noch rechtzeitig auf

den fahrenden Zug auf und ließ sich dafür

als „Vater der Wiedervereinigung“ feiern. 40

Jahre war darüber geredet worden, teure Institute

schrieben Memoranden, zeitweilig gab

es sogar ein Ministerium. Als es aber soweit

kam, war niemand richtig darauf vorbereitet

– auch die Gewerkschaften nicht.

Nach dem Umschwung zeigte sich, in

welchem beklagenswerten Zustand sich

die Industriebetriebe in der DDR befanden

- „Zusammengehalten von Rost und Ideologie“

wie ein Ostfunktionär sarkastisch sagte.

[...] Die Menschen waren des DDR-Regimes

überdrüssig, sie wollten die „soziale Marktwirtschaft“,

ohne genau zu wissen, was das

ist. Sie wollten die Reisefreiheit, die D-Mark

und Westprodukte. Auf einer Betriebsrätekonferenz

in Ost-Berlin mahnte ich: „Wenn

jeder nur noch Westprodukte kauft, geht

das zu Lasten eurer Arbeitsplätze“. Doch die

Antwort war deutlich: „Wir wollen auch die

guten Waren haben, die ihr im Westen habt“,

antwortete mir eine Teilnehmerin.

Eine seltsame Stimmung herrschte in diesen

Monaten: Als die D-Mark am 30. Juni 1990

kam, waren die Ostbetriebe beschäftigungslos

oder produzierten auf Lager. Wir

forderten einen Marshallplan für den Osten,

wurden bei den beiden Wirtschaftsministern

vorstellig und verlangten einen wenigstens

zeitweiligen Verzicht auf die Mehrwertsteuer.

Aber beide winkten ab: Die Marktwirtschaft

würde das von selbst regeln, und sie tat es

dann auch auf ihre Weise. Die „Volkseigenen

Betriebe“ (VEB) waren infolge fehlender

Rentabilität praktisch wertlos geworden. Die

Westprodukte überschwemmten den Markt,

und durch den Einigungsvertrag sollten die

VEB entweder an die alten Besitzer zurückgegeben

oder von der „Treuhandanstalt“

verwertet werden.

Einige wenige Filetstücke waren bald an

die Westkonkurrenz vergeben. Die übrigen

sicherten sich Konkurrenzbetriebe wegen der

Markenrechte und der Absatzgebiete. Die

Schrottbetriebe waren bald dicht. Bundeskanzler

Kohl hatte gehofft, aus dem Verkauf

der Volkseigenen Betriebe einen großen Teil

der Wiedervereinigungskosten zu decken. In

Wirklichkeit reichte der Erlös nicht einmal,

um die Kosten der Treuhandverwaltung zu

bezahlen.“

(aus den „Reminiszenzen“ von Erich Herrmann)

Für den ebenfalls anstehenden Zusammenschluss

der Gewerkschaften gab es

einige Hürden zu überwinden. Durch den

Zusammenschluss der NGG in der DDR mit

der Gewerkschaft Handel zur Gewerkschaft

Handel-Nahrung-Genuss (HNG) war der

Organisationsbereich nicht deckungsgleich

mit der NGG in der BRD – und die Beschäftigten

der Mühlen- und Zuckerindustrie

als „Nahrungsmittelfabrikation der ersten

Verarbeitungsstufe“ waren in der LNF, der

Gewerkschaft Land, Nahrungsgüter und

Forst“ organisiert.

In Absprache mit der Gewerkschaft Handel,

Banken und Versicherungen gründeten 177

Delegierte in der noch existierenden DDR

zum 1. Juni 1990 die NGG (DDR). Der Mitgliederbestand

der HNG wurde nicht automatisch

übernommen, sondern die Mitglieder

traten der NGG (DDR) einzeln bei. Die NGG

Foto: SPD

Foto: NGG

(DDR) baute ein Netz aus 14 Verwaltungsstellen

auf und schloss sehr schnell die

ersten Tarifverträge ab.

Das Beitrittsdatum der DDR zur Bundesrepublik

am 3. Oktober 1990 verhinderte formal

den Zusammenschluss beider NGG-Organisationen

bereits zum 11. Ordentlichen

Gewerkschaftstag der NGG im September.

So beschlossen der Gewerkschaftsrat der

NGG (DDR) und der Beirat der NGG (BRD) erst

einige Wochen später den Zusammenschluss

der beiden Organisationen zur NGG mit

Wirkung zum 1. Dezember 1990.

Mit diesem Datum ist das Ziel der Einheitsgewerkschaft

in der Nahrungsmittelidustrie,

im Lebensmittelhandwerk und im Gastgewerbe

für ganz Deutschland erreicht.

Liebe Mitglieder der Gewerkschaft NGG,

ich gratuliere zu 150 Jahren starker

Gewerkschaft. 150 Jahre Einsatz für

gute Arbeitsbedingungen, Emanzipation

und Mitbestimmung. Die Einigkeit von

Gewerkschaften und Sozialdemokratie

in zentralen Fragen der Arbeitsgestaltung

brachte immer gesellschaftlichen

Fortschritt. Das muss so bleiben; jeder

an seinem Platz, aber mit gleichem Ziel:

Es geht um die Würde des Menschen und

seiner Arbeit.

Sigmar Gabriel,

SPD-Parteivorsitzender

einigkeit 6 /2015

7


GESCHICHTE

Eigenständig und innovativ – unsere NGG seit 1990

Die 25 Jahre seit Dezember 1990 waren

für NGG nicht einfach. Die zurückgehende

Beschäftigung in Ost und West bedeutete

für NGG Mitgliederverluste; Tariferfolge

mussten immer häufiger durch Arbeitskämpfe

erzwungen werden (s. S. 25), die Arbeitgeber

verweigerten ohnehin immer häufiger

Tarifverträge und aus der Politik führten viele

Reformen zu Sozialabbau z.B. bei Rente und

Arbeitslosenunterstützung.

Foto: NGG

Aufgrund des Mitgliederrückgangs prüfte

NGG 1996, ob sie sich mit der Gewerkschaft

Textil und Bekleidung (GTB) vereinigen sollte,

mit der sie seit 1978 z.B. bei der Produktion

der „einigkeit“ kooperierte. Nachdem

die GTB sich – wie auch die Gewerkschaft

Holz und Kunststoff - an die IG Metall

anschloss, entschied sich NGG, eigenständig

zu bleiben und sich auch nicht an der

Großfusion zur Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft

(ver.di) zu beteiligen.

1999 beschloss die NGG als erste Gewerkschaft,

die Einführung eines gesetzlichen

Mindestlohns zu fordern. Hintergrund war

vor allem die schwindende Tarifbindung in

mehreren NGG-Branchen wie Fleischwirtschaft,

Gastgewerbe und Bäckerhandwerk.

Die beharrliche Arbeit in Diskussionen

und Kampagnen – wie die mit ver.di 2006

gestartete „Initiative Mindestlohn“ und die

späteren Aktionen des DGB – führte bereits

2008 zu einer gesellschaftlichen Mehrheit

für den Mindestlohn. Es dauerte noch

sechs weitere Jahre, bis 2014 der Deutsche

Bundestag die Einführung des Mindestlohns

beschloss – ein Erfolg, der auf eine NGG-

Initiative zurückgeht.

Mit 150 Jahren Geschichte „auf dem Buckel“

ist NGG nicht nur die älteste Gewerkschaft in

Deutschland, sondern innerhalb der Gewerkschaften

im Deutschen Gewerkschaftsbund

Im Juni 2014 tourten ver.di und NGG mit der Forderung „Mindestlohn; Ohne Ausnahmen. Ohne Schlupflöcher“ durch Deutschland.

V. l. n. r.: Ver.di-Vorsitznder Frank Bsirkse und Michaela Rosenberger, NGG-Vorsitzende

die einzige, die sowohl für einen Industrieals

auch einen Dienstleistungszweig zuständig

ist. Die Ernährungsindustrie ist mit einer

halben Million Beschäftigten der viertgrößte

Industriezweig. Historisch mittelständisch

organisiert, liegt der Anteil der Unternehmen

mit 5.900 bei 26 Prozent aller industriellen

Unternehmen. Ernährungsindustrie und

Nahrungsmittelhandwerk leisten durch die

Versorgung der Bevölkerung mit qualitativ

hochwertigen Produkten einen essenziellen

Beitrag zu unserer Volkswirtschaft und

tragen außerdem zu unserem Exportvolumen

bei. NGG hat mehr als die Hälfte ihrer Mitglieder

im industriellen Bereich organisiert.

Das Gastgewerbe beschäftigt in einer sehr

kleinteiligen Betriebsstruktur annähernd

zwei Millionen Menschen, davon weniger als

die Hälfte in sozialversicherungspflichtigen

Arbeitsverhältnissen. Insbesondere in der

Betriebs- und Sozialverpflegung, der Systemgastronomie

und der Kettenhotellerie hat

NGG gute Organisationsstrukturen aufgebaut.

Die jeweiligen Teilbranchen leisten neben

attraktiven gastronomischen Angeboten

auch bei der Verpflegung u.a. von Berufstätigen

und Pendlern, bei Tagungsmöglichkeiten

und Beherbergung von Geschäftsreisenden

sowie einem für inländische und internationale

Gäste attraktiven Tourismus wesentliche

Beiträge zum Bruttoinlandsprodukt.

NGG weist in der Mitgliederentwicklung seit

2006 anhaltend positive Zahlen im Bereich

der erwerbstätigen Mitglieder auf. NGG wird

deshalb ihren Weg der Eigenständigkeit als

kleine, aber effiziente und schlagkräftige

Gewerkschaft weitergehen.

Weitere Infos zur NGG-Geschichte:

www.ngg.net/150

Foto: Helge Krückeberg

8Foto: NGG

einigkeit 6 /2015

„1974 hat bei Philip Morris sich so eine Gruppe

zusammengetan und gesagt: Wir gründen jetzt

einen Betriebsrat im Außendienst. Keiner hat

gewusst, wie das eigentlich geht, aber dann haben

wir gesagt: Das machen wir jetzt. Und dann

haben wir einen Betriebsrat gegründet. War

alles verkehrt, aber die Company wusste es ja

auch nicht. Die Amerikaner hatten ja auch keine

Ahnung gehabt. Die haben nur gesagt: Gesetze

werden eingehalten und da haben wir gesagt,

das ist Gesetz.“

Heinz Burger, Jg. 1940, u. a. Gesamtbetriebsratsvorsitzender bei Philip Morris. Komplettes

Interview: http://150.ngg.net/menschen-in-der-ngg/heinz-burger/

Anderthalb Jahrhunderte Überzeugung

Ich wünsche Euch alles Gute für die

Zukunft. Die Arbeitnehmerinnen und

Arbeitnehmer Eurer wachsenden

Branchen brauchen Euch. Eure stolze

Geschichte trifft auf eine Zukunft, für die

ich Euch Kraft und Stärke wünsche. So

unterschiedlich die Branchen der NGG

und der IG BCE in vielen Bereichen sind,

wissen wir gemeinsam aus einer langen

Tradition: Verlassen können wir uns nur

auf unsere eigene Kraft und Einheit.

Michael Vassiliadis,

Vorsitzender der IG BCE


GESCHICHTE

„Wenn der Hunger zur Tür hineintritt,

fliegt das Prinzip zum Fenster hinaus.“

Foto: Heinrich-Kaufmann-Stiftung

Adolph von Elm

Zwei Zigarrenarbeiter waren die Pioniere der

Arbeitslosenversicherung.

Über die Höhe der Arbeitslosenversicherung

kann man trefflich streiten. Stichwort

Hartz IV. Aber ganz ohne Arbeitslosenversicherung

– wer könnte sich das heute noch

vorstellen? Einen gesetzlichen Anspruch

auf Arbeitslosenunterstützung gibt es erst

seit 1927. Verschiedene Gewerkschaften

hatten aber bereits zuvor die Leistung von

Arbeitslosengeld in ihrer Satzung verankert,

so etwa der Verband der Zigarrensortierer

und Kistenbekleber unter ihrem Vorsitzenden

und späteren Reichstagsabgeordneten

Adolph von Elm. Die Gewerkschaften waren

in der Frage der Arbeitslosenversicherung

tief gespalten. Die einen hielten sie für nicht

finanzierbar, denn die erforderlichen hohen

Beiträge würden die Mitglieder verschrecken

und vertreiben. Es könne auch nicht Aufgabe

der Gewerkschaften sein, die Folgen der

Arbeitslosigkeit als „Krebsschaden des Kapitalismus“

erträglich zu machen. Auch in der

SPD wurde diese Auffassung lange geteilt.

Bei der Aufstellung des Erfurter Programms

1891 wurde noch nicht einmal die Forderung

nach einer Arbeitslosenversicherung erhoben,

denn sie sei undurchführbar.

Anders Adolph von Elm. Er hatte in den USA

Erfahrungen mit der gewerkschaftlichen

Arbeitslosenunterstützung gesammelt, hatte

die Sache durchgerechnet und nach seiner

Rückkehr nach Hamburg 1883 beim Verband

der Zigarrensortierer für eine deutliche

Beitragserhöhung und die Einführung der

Arbeitslosenunterstützung gesorgt. Noch

1892 leisteten ihren Mitgliedern von den

über 50 gewerkschaftlichen Zentralverbänden

nur zehn eine Hilfe bei Arbeitslosigkeit.

Von Elm: „Wenn der Hunger zur Tür hineintritt,

fliegt das Prinzip zum Fenster hinaus.“

Und: „Die Arbeitslosenversicherung hat sich

als das beste Mittel bewährt, die Arbeiter

fester an die Gewerkschaft zu ketten, ihnen

im täglichen Kampfe um die im Streik errungenen

Vorteile den Rücken zu stärken.“ Von

Elm sah durchaus die finanziellen Probleme

vieler Gewerkschaften, weshalb er das

„Genter Modell“ favorisierte, benannt nach

der belgischen Stadt Gent. Dort leisteten

die Gewerkschaften Arbeitslosenhilfe, aber

sie wurden dabei finanziell von der Stadt

unterstützt. Ähnliche Modelle gab es auch in

zahlreichen deutschen Städten, so in Mannheim,

Köln, Stuttgart und Ludwigshafen. Auf

verschiedenen Gewerkschaftskongressen

und in umfangreichen Zeitschriftenaufsätzen

hat von Elm für die Arbeitslosenversicherung

geworben, schon bei der Gründung der

Generalkommission der Gewerkschaften

Deutschlands, der Vorläuferorganisation des

Foto: Heinrich-Kaufmann-Stiftung

heutigen DGB, deren Mitglied er war.

Ein Gegenspieler von Elms war Hermann

Molkenbuhr, auch ein aus dem Hamburger

Gebiet stammender Tabakarbeiter, der seit

1890 für die SPD Mitglied des Reichstages

war und sich dort zu einem anerkannten

Sozialpolitiker entwickelt hatte. Er hielt eine

allgemeine Arbeitslosenversicherung nur in

Hermann Molkenbuhr

der Form einer staatlichen Pflichtversicherung

für machbar und setzte diese Position

in der Führung der SPD durch. Seine Konzeption

wurde schließlich 1927 mit dem „Gesetz

über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung

(AVAVG)“ realisiert. Für

die Arbeitnehmer war dies ein großer Erfolg,

allerdings mit dem Wermutstropfen für die

Gewerkschaften, dass sie mit der eigenen

Arbeitslosenunterstützung ein wesentliches

Werbeargument für neue Mitglieder verloren.

Autor: Burchard Bösche, ehemaliger NGG-

Vorstandssekretär

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NGG MV_8009_6/2015

einigkeit 6 /2015 9


Foto: NGG

Foto: SAPMO, Bundesarchiv,

Nachlass Anna Belger, NY 4475/4

VORSITZENDE

Mit Engagement, Mut und gegen viele Widerstände

Seit der Gründung unseres Vorläufers, des Allgemeinen Deutschen Cigarrenarbeiter-Vereins, im Jahr 1865 sind es die in der NGG zusammengeschlossenen

Menschen, die durch ihr großes Engagement, durch Mut und gegen viele Widerstände die NGG zu der schlagkräftigen und

erfolgreichen Gewerkschaft machen, die sie bis heute ist. Die hier vorgestellten NGG-Vorsitzenden stehen daher exemplarisch für unzählige

ihrer haupt- und ehrenamtlichen KollegInnen: von 1865 bis heute.

Karl Deichmann

(1863-1940) war

Vorsitzender des

Deutschen Tabakarbeiter-Verbands.

Als

gelernter Zigarrenmacher

wurde Deichmann

1883 Mitglied

des Unterstützungsvereins

deutscher

Karl Deichmann

Tabakarbeiter, der

aufgrund des Sozialistengesetzes die einzig

erlaubte Form der Vereinsbildung durch

die Arbeiter war. 1888 wurde Deichmann

Bevollmächtigter der Zahlstelle Bremen.

Nach seiner Maßregelung war er einige Jahre

in Altona tätig und ging nach der großen

Aussperrung der Zigarrenarbeiter zurück

nach Bremen. 1896 wurde Deichmann in den

Hauptvorstand des DTAV gewählt und war

von 1900 bis 1928 dessen Vorsitzender. Mit

28 Jahren war er der am längsten amtierende

Vorsitzende von NGG und ihren Vorläuferverbänden.

Deichmann war ebenfalls in der Politik tätig,

von 1912 Mitglied des Reichtags, 1919 Mitglied

der Nationalversammlung in Bremen,

1919 bis 1920 Bürgermeister von Bremen

und von 1928 bis 1931 stellv. Senatspräsident

von Bremen. Er starb 1940.

Fritz Saar 1889 in

Minden geboren, war

Fritz Saar gelernter

Koch und Kellner.

Er trat 1909 der

SPD bei und wurde

Mitglied im Verband

deutscher Gastwirtsgehilfen,

seit 1910

dort hauptamtlicher

Fritz Saar

Sekretär in der Ortsverwaltung

Berlin.

Von 1922 bis 1930 war Fritz Saar geschäftsführender

Vorsitzender der Zahlstelle Berlin

Foto: NGG

beim Zentralverband der Hotel-, Restaurant-

und Café-Angestellten, bis 1933 auch

dessen Vorsitzender. Parallel dazu war er

seit 1932 Vorsitzender der Internationalen

Union der Hotel-, Restaurant- und Café-Angestellten.

Er emigrierte 1933 nach Amsterdam

und gab dort von 1935 bis 1941 die illegale

Gastwirtsgehilfenzeitung heraus. 1941

von der Gestapo verhaftet, wurde Fritz Saar

vor dem sogenannten Volksgerichtshof zu

lebenslänglicher Zuchthausstrafe verurteilt.

Nach Kriegsende war er am Aufbau der Gewerkschaften

in Berlin beteiligt. Er verstarb

1948.

Eduard Backert

(1874-1960) war von

1927 – 1933 Vorsitzender

des Verbands

der Nahrungsmittelund

Getränkearbeiter

(VNG). Der gelernte

Brauer wurde 1892

Mitglied im Zentralverband

Deutscher

Eduard Backert

Brauer und 1904

hauptamtlich für den Verband in Ostpreußen

tätig. 1907 wurde er zum 2. Vorsitzenden

und 1914 zum Vorsitzenden des Brauerei-

und Mühlenarbeiterverbands gewählt.

Backert war Mitglied im Vorstand des ADGB

und Mitglied im Reichswirtschaftsrat der

Weimarer Republik. Nach der Machtübertragung

an die Nazis wurde Backert zunächst

in Schutzhaft genommen, wechselte seinen

Wohnsitz nach Zepernick und überstand die

Nazizeit daraufhin weitestgehend unbehelligt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg half

Backert beim Wiederaufbau der Gewerkschaften

durch beratende Tätigkeiten, sein

Handbuch für die Funktionäre der Industriegewerkschaft

Nahrung-Genuß-Gaststätten

von 1948 zeugt von seiner umfassenden

Unterstützung für die Wiederherstellung der

gewerkschaftlichen Strukturen.

Foto: NGG

Foto: NGG

Gustav Pufal, Jahrgang

1895, war der

Gründungsvorsitzende

der vereinigten IG

Nahrung-Genuß-Gaststätten

von 1949 bis

zu seinem überraschenden

Tod 1950.

Der gelernte Böttcher

arbeitete in der Norddeutschen

Reismühle

Gustav Pufal

und war ab 1912 Mitglied im Verband der

Brauerei- und Mühlenarbeiter. 1925 wurde

er ehrenamtliches Vorstandsmitglied im

Verband der Lebensmittel- und Getränkearbeiter

und 1927 Sektionsleiter der Mühlenarbeiter

im Bezirk Nordmark. Nach dem

Zweiten Weltkrieg war Pufal maßgeblich am

Wiederaufbau des VNG im Norden beteiligt,

ab 1947 war er Vorsitzender der NGG in der

britischen Zone und ab Mai 1949 1. Vorsitzender

der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-

Gaststätten. Pufal starb im Juni 1950.

Ferdinand Warnecke,

geboren 1898, war

von 1949 bis 1950

2. Vorsitzender und

nach dem Tod von

Gustav Pufal bis 1951

1. Vorsitzender der

NGG. Der gelernte

Böttcher war im

Ferdinand Warnecke

Zentralverband der

Böttcher und ab 1927 im VNG tätig. Warnecke

war in seiner kurzen Amtszeit mehrfach

in Konflikt mit dem Hauptausschuss der

NGG. Der Hauptvorstand schlug 1951 dem

1. Gewerkschaftstag daher sowohl ihn als

auch den Hauptausschussvorsitzenden Hans

Nätscher als 1. Vorsitzenden vor. Nach der

deutlichen Niederlage war Warnecke drei

Jahre Geschäftsführer in der Ortsverwaltung

Bremen und von 1954 bis zu seinem Tod

1958 Bezirksleiter der NGG in Lübeck.

Ferdinand Warnecke

1950

Alfred Schattanik

1962

Günter Döding

1978

1949

Gustav Pufal

1951

Hans Nätscher

1966

Herbert Stadelmaier

10

einigkeit 6 /2015


Foto: NGG

VORSITZENDE

Hans Nätscher wurde

am 13. November

1896 in Lohr am

Main geboren.

Zwischen 1910 und

1913 absolvierte er

eine Fleischerlehre in

Würzburg.

Nätscher begann

Hans Nätscher

1920 seine Karriere

als Gewerkschafter, beim Zentralverband der

Fleischer in Nürnberg. Nach der Machtübernahme

der Nationalsozialisten wurde Nätscher

bis 1936 die meiste Zeit in „Schutzhaft“

genommen. In den folgenden Jahren

schlug er sich u.a. als Totengräber durch.

Nach Kriegsende beteiligte er sich am

Wiederaufbau der Gewerkschaften und war

maßgeblich an der Gründung der NGG Bayern

beteiligt. Bei der 1949 neu gegründeten

westdeutschen NGG, war er als Hauptausschussvorsitzender

einer der schärfsten

Kritiker des 1. Vorsitzenden Ferdinand

Warnecke und wurde 1951 zu dessen Nachfolger

gewählt.

Neben seiner Tätigkeit für die NGG engagierte

sich Nätscher auch bei der Internationalen

Gewerkschaftsföderation IUL, in

deren Vorstand er ab 1951 saß. Er wurde

1958 zum ersten deutschen Präsidenten der

IUL gewählt. 1962 verzichtete Nätscher aus

Altersgründen auf eine weitere Kandidatur

als NGG-Vorsitzender. Er starb 1980.

Alfred Schattanik wurde 1901 in Gleiwitz

(heute Gliwice, Polen) geboren. In der

Weimarer Republik war er für den Deutschen

Metallarbeiterverband (ein Vorläufer der IG

Metall) und den Verband der Handels- und

Gewerbetreibenden tätig. Nach starker

Verfolgung durch die Nazis war Schattanik

nach dem Krieg am Aufbau der Gewerkschaften

in Leipzig beteiligt, ging nach Konflikten

mit der SED in den Westen und arbeitete ab

1950 in der NGG-Hauptverwaltung. 1958

wurde er 2. Vorsitzender und von 1962 bis

1966 als Nachfolger des aus Altersgründen

ausscheidenden Hans Nätscher 1. Vorsitzender

der NGG. Alfred Schattanik starb 1988 in

Hamburg.

Foto: NGG

Herbert Stadelmaier,

geboren 1916 in

Klein Flottbek (heute

Hamburg-Altona),

absolvierte nach der

Mittleren Reife eine

kaufmännische Lehre

in einer Maschinenfabrik

und Mühlenbauanstalt,

in der

Herbert Stadelmaier

er anschließend als

Expedient arbeitete. Nach dem zweiten Weltkrieg

wurde Stadelmaier Mitglied der SPD

sowie der NGG-Ortsgruppe Hamburg, in der

er sich als Jugendleiter und Kassierer engagierte.

Bei der Gründung der NGG in der Britischen

Zone Ende Juli/Anfang August 1947

wählte der Verbandstag ihn als Hauptkassierer

in den Geschäftsführenden Hauptvorstand

(GHV). In diese Position wurde er auch

bei der Gründung der westdeutschen NGG

im Mai 1949 auf dem ‚Verschmelzungsverbandstag‘

von München gewählt. 1962 wurde

Stadelmaier auf dem Gewerkschaftstag in

Essen 2. Vorsitzender und vier Jahre später,

1966, schließlich 1. Vorsitzender auf dem

Bremer Gewerkschaftstag. Sowohl 1970 als

auch 1974 wurde er wiedergewählt.

In Stadelmaiers Amtszeit wurden 1970 auf

dem Berliner Gewerkschaftstag neue Hauptziele

der ‚Qualitativen Tarifpolitik‘ formuliert

und in den folgenden Jahren in verschiedenen

Maßnahmen im Sinne einer ‚Humanisierung

der Arbeit‘ tarifvertraglich verankert.

Er setzte sich sowohl für die Regelung von

bezahlten (Fort-) Bildungsmaßnahmen als

auch für eine überbetriebliche Ertragsbeteiligung

für ArbeitnehmerInnen ein.

In seiner Zeit als NGG-Vorsitzender engagierte

sich Stadelmaier auch international bei

der Gewerkschaftsföderation IUL, zeitweilig

als deren Vizepräsident, vor allem aber bei

dem 1959 von ihm mitbegründeten Europäischen

Gewerkschaftsausschuss Nahrung-

Genuss-Gaststätten, dessen Präsident er ab

1975 war. 1978 verzichtete Herbert Stadelmaier

nach 31 Jahren Amtszeit im GHV (bis

heute Rekord) aus Altersgründen auf eine

erneute Kandidatur. Er starb 2009.

Foto: NGG

Günter Döding wurde

am 4. September

1930 in Isenstedt

(Westfalen) geboren.

Nach Abschluss der

Mittleren Reife arbeitete

er als Bergmann

und Zigarrensortierer.

Er studierte an

der Sozialakademie

Günter Döding

in Dortmund und

gelangte anschließend 1953 als Gewerkschaftssekretär

zur NGG in Wuppertal. Nach

Tätigkeit als Jugendsekretär im Landesbezirk

Nordrhein-Westfalen und als Referatsleiter

in der NGG-Hauptverwaltung wurde er 1966

zum 2. Vorsitzenden der NGG gewählt. Als

Herbert Stadelmaier 1978 altersbedingt

ausschied, folgte ihm Döding als 1. Vorsitzender.

Der als Pragmatiker geltende Sozialdemokrat

wurde vor allem im Bereich der Lebensarbeitszeitverkürzung

aktiv. Bereits 1978

konnte der „Vater der Tarifrente“ für die Zigarettenindustrie

eine Regelung zur freiwilligen

Frührente durchsetzen und in anderen NGG-

Branchen zusätzliche Freizeittage für ältere

ArbeitnehmerInnen sowie Kurzpausen und

Schichtfreizeiten für SchichtarbeiterInnen.

Im Dezember 1981 schlug Günter Döding

die Einführung einer freiwilligen Frührente

mit 58 bei Fortzahlung von 75 Prozent des

Bruttoarbeitslohnes vor, um Arbeitsplätze

für junge ArbeitnehmerInnen und Auszubildende

zu schaffen. Dieser „Döding-Plan“

legte den Grundstein für die Vorruhestandsregelung

von 1984.

Während seiner Amtszeit als NGG-Vorsitzender

war Döding Präsident der internationalen

Gewerkschaftsföderation IUL (1981-1989).

Ein privater Schicksalsschlag und die Diskussion

um seine Rolle als stellvertretender

Aufsichtsratsvorsitzender im Skandal um

den Handelskonzern co op AG im Oktober

1988 setzten ihm stark zu. Günter Döding

trat im Frühjahr 1989 aus gesundheitlichen

Gründen vom Amt des 1. Vorsitzenden zurück.

Er verstarb am 8. August 2005.

Heinz-Günter Niebrügge

1990

Michaela Rosenberger

2013

1989

Erich Herrmann

1992

Franz-Josef Möllenberg

einigkeit 6 /2015 11


Foto: NGG

VORSITZENDE

Erich Herrmann wurde

am 17. Juni 1928

in Steinheim am

Main geboren. Der

gelernte Industriekaufmann

kam 1948

als Ortssekretär für

Offenbach und als

Landesjugendvorsitzender

zur NGG. Ab

Erich Herrmann

1953 war er Leiter

des NGG-Bezirks Frankfurt am Main und ab

1966 Landesvorsitzender der NGG Hessen/

Rheinland-Pfalz/Saar. Er wirkte unter anderem

an der Vereinheitlichung der Tarifverträge

für Arbeiter und Angestellte mit und

erreichte die Übernahme jenes Geländes

vom DGB, auf dem 1977 das Bildungszentrum

Oberjosbach (BZO) eröffnet wurde. Im

Jahr 1978 wurde Herrmann 2. Vorsitzender

der NGG. In dieser Position war er u. a.

an der Entwicklung und Umsetzung der

„qualitativen Tarifpolitik“ und der Vorruhestandsregelung

beteiligt. Als Günter Döding

im Mai 1989 als 1. Vorsitzender zurücktrat,

übernahm Herrmann dessen Funktion bis zur

Wahl eines Nachfolgers im September 1990.

Im folgenden Jahr verabschiedete er sich in

den Ruhestand.

International engagierte sich Herrmann in

der Exekutive der Internationalen Gewerkschaftsföderation

IUL und in deren Europäischem

Ausschuss EAL (1978-1991).

Heinz-Günter Niebrügge wurde 1935 in

Herne/Westfalen geboren. 1957 kam er zur

NGG. Von 1973 bis 1990 war er Landesbezirksvorsitzender

für Niedersachsen/Bremen

und ab 1990 Nachfolger von Erich Herrmann

als 1. Vorsitzender der NGG. Er trat 1992 aus

gesundheitlichen Gründen zurück.

Foto: NGG

Franz-Josef Möllenberg

wurde am

18. Mai 1953 in

Hagen (Nordrhein-

Westfalen) geboren

und schloss eine

Ausbildung zum

Bankkaufmann 1972

ab. 1975 begann

seine hauptamtliche

Franz-Josef Möllenberg

Laufbahn bei NGG,

ab 1978 als Geschäftsführer der Verwaltungsstelle

Hagen/Westfalen. 1990 wurde

er zum Hauptkassierer in den Geschäftsführenden

Hauptvorstand gewählt. Auf dem

Außerordentlichen Gewerkschaftstag 1992

in Düsseldorf wählten ihn die Delegierten

zum Vorsitzenden der NGG, an deren Spitze

er bis 2013 blieb. Auf dem Gewerkschaftstag

2013 verzichtete Franz-Josef Möllenberg auf

eine erneute Kandidatur. Mit einer Amtszeit

von 21 Jahren ist er der am längsten

amtierende Vorsitzende der NGG nach dem

Zweiten Weltkrieg.

Im Fusionsprozess der DGB-Gewerkschaften

von 16 auf acht Einzelgewerkschaften Ende

der 1990er Jahre hat Möllenberg früh die

Eigenständigkeit der NGG propagiert und

erfolgreich umgesetzt. Ein weiterer wichtiger

Meilenstein in der Amtszeit Möllenbergs war

der Kampf für den gesetzlichen Mindestlohn.

Auch auf seine Initiative hin beschloss NGG

1999 als erste Gewerkschaft in Deutschland,

die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns

zu fordern.

Neben seiner Tätigkeit bei der NGG war

Franz-Josef Möllenberg Vizepräsident der

Internationalen Gewerkschaftsföderation IUL

und Vizepräsident der Europäischen Gewerkschaftsföderation

EFFAT.

Foto: Marko Kubitz

Michaela Rosenberger

Lübeck ausgebildet.

Michaela Rosenberger

geboren

1960, machte eine

Ausbildung zur

Hotelfachfrau und

anschließend zur

Berufsschulfachlehrerin.

Anfang der

1990er Jahre wurde

sie zur Gewerkschaftssekretärin

in

Von 1992 bis 1997 war sie für die berufliche

Bildung in der NGG-Hauptverwaltung

in Hamburg zuständig. Ab 1997 arbeitete

Michaela Rosenberger als Landesbezirkssekretärin

im NGG-Landesbezirk Nord und

betreute die Bereiche Bildung sowie Frauen

und diverse Flächen- und Haustarifverträge.

Von 2003 bis 2013 war sie stellvertretende

Vorsitzende der NGG und zuständig für Finanzen,

Sozialpolitik, Frauen und Jugend.

Auf dem Gewerkschaftstag im November

2013 wurde sie zur Vorsitzenden der NGG

gewählt. Damit ist sie die erste Frau in diesem

Amt.

Michaela Rosenberger ist Vizepräsidentin

der EFFAT und der IUL und wurde 2015 von

der Bundesregierung in die Mindestlohnkommission

berufen.

In ihrer Armtszeit wurde der Kampf der NGG

für einen flächendeckenden gesetzlichen

Mindestlohn von zunächst 8,50 Euro pro

Stunde durch dessen Einführung am 1. Januar

2015 von Erfolg gekrönt.

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12

einigkeit 6 /2015 6


ERFOLGE

Vom Reichstarifvertrag zum Mindestlohn

tenindustrie die 40-Stunden-Woche für alle

Beschäftigten eingeführt. Die durchschnittliche

Wochenarbeitszeit in der Bundesrepublik

betrug noch bis weit in die 1960er

Jahre 48 Stunden. In der DDR wurde 1967

die reguläre Arbeit am Samstag abgeschafft

und die Wochenarbeitszeit auf 43,75 Stunden

verkürzt. Allerdings wurden gleichzeitig

einige christliche Feiertage abgeschafft.

Backpulververpackung bei Dr. Oetker in Bielefeld vor 1914

Wer sich mit der Geschichte unserer Gewerkschaft

NGG befasst, kommt nicht umhin

festzustellen, dass es uns nicht nur schon

sehr lange gibt, sondern dass wir in mancherlei

Hinsicht Vorreiter waren und unsere

(Tarif-) Erfolge die deutsche Arbeitswelt und

Gewerkschaftslandschaft entscheidend

mitgeprägt haben.

Eine unserer „Pioniertaten“ war sicherlich

der erste Reichstarifvertrag. Er wurde 1904

für Backmeister und Bäcker in Konsum- und

Genossenschaftsbäckereien vereinbart. Er

sah einen Acht-Stunden-Tag für Schichtbetriebe

vor, eine Woche Urlaub mit Lohnfortzahlung

und u.a. Verbesserungen bei der

Ventilation, sowie den Einbau von Toiletten

und Sitzbänken in den Speiseräumen. Der

Tarifvertrag galt für alle Genossenschaften

im Deutschen Reich, die beim Zentralverband

Mitglied waren. (Info: http://150.ngg.

net/mitbestimmung-und-tarifvertraege/

reichstarifvertrag/).

„Die Feinde unseres Verbandes unter den

Berufskollegen:

[…] Fangen wir zunächst bei unsern offenen

und bewußten Feinden unter den Kollegen

an. Deren Zahl ist nicht allzugroß, aber

leider immer noch groß genug, um unsere

Wirksamkeit zur Erzielung besserer Lohnund

Arbeitsbedingungen mitunter sehr zu

hemmen. Da haben wir fast in jeder Stadt

miteinigen Speichelleckern und Liebedienern

bei den Innungen zu rechnen. Diese schmutzigen,

charakterlosen Elemente sind zu jeder

Zeit bereit, für einen herablassenden Blick

oder ein Schmeichelwort ihres Arbeitgebers

[…] ihre und ihrer Kollegen Interessen an die

Arbeitgeber zu verraten. […] Jedoch alle diese

bewußten und unbewußten Feinde unserer

Organisation, die wir leicht überwinden würden,

sie reichen alle nicht an den einen

heran, an unseren schlimmsten und größten

Feind! Den Feind, den wir am tiefsten hassen,

der uns umlagert schwarz und dicht – Das ist

der Unverstand der Massen! Unverstand und

Gleichgültigkeit, die noch tausende unserer

Kollegen in dumpfen Dahinbrüten gefangen

halten, die sie nicht denkende Menschen

werden lassen, sondern sie zu Sklaven

der Backstube erniedrigen, sind unsere

schlimmsten Feinde. Und das Mittel, durch

welches nur allein diese unsere schlimmsten

Feinde überwunden werden können, es

heißt: Aufklärung und Belehrung! Mitglieder,

laßt es daran nirgends fehlen!“

Bericht in der Deutschen Bäcker-Zeitung

über die Verhandlungen zum Tarifvertrag. Nr.

10, 25. Juni 1904.

40-Stunden-Woche eingeführt

Am 1. April 1957 vereinbarte NGG für die

Schichtarbeiter in der Zigarettenindustrie

die 40-Stunden-Woche. Das war das erste

Mal, dass in einem bundesrepublikanischen

Tarifvertrag diese wöchentliche Arbeitszeit

erreicht wurde. Am 1. Januar 1959 wurde –

NGG war wiederum Vorreiter – in der Zigaret-

Foto: Kay Herscehlmann

Herzlichen Glückwunsch zum 150.

Jubiläum! Es ist mir als Vorsitzende der

GEW eine Freude, in der „einigkeit“ zu

gratulieren, denn auf Einigkeit kommt

es an, wenn wir uns für die Verbesserungen

der Arbeitsbedingungen einsetzen.

Glückwunsch auch zur Einführung des

Mindestlohns. Euer Einsatz war maßgeblich!

Weiter so! Für mich persönlich ist

Emma Sorgenfrei, Mitglied im Allgemeinen

Deutschen Cigarrenarbeiter-Verein

in Kiel, als Gewerkschafterin ein Vorbild.

Nach ihr ist das Eingangsforum des Kieler

Gewerkschaftshauses benannt. Ihr Mut und ihre Kraft haben mich immer inspiriert.‘

Marlis Tepe, Vorsitzende der GEW

Einheitliche Regelung für gewerbliche ArbeitnehmerInnen

und Angestellte

Auch in den 1970er Jahren preschte NGG

voran: mit dem Ziel, die Einkommen von

gewerblichen ArbeitnehmerInnen und Angestellten

einheitlich per Tarifvertrag zu regeln.

Der am 1. Januar 1974 in Kraft getretene

Bundesrahmentarifvertrag Brauindustrie war

der erste Einheitliche Einkommenstarifvertrag

in der Geschichte der Bundesrepublik.

Arbeitszeit Älterer verkürzen/Vorruhestandsregelung

Während es in den 1960er und 1970er vorrangig

darum ging, die gesundheitlichen

Nachteile der Schichtarbeit in zahlreichen

Manteltarifverträgen abzumildern, trat NGG

in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre an,

die Arbeitszeit älterer ArbeitnehmerInnen

zu verkürzen. Am 1. Juni 1978 wurde der

erste spektakuläre Abschluss in der Zigarettenindustrie

getroffen: die so genannte

Sudermühlen-Regelung. ArbeitnehmerInnen,

die das 60. Lebensjahr vollendet hatten,

konnten wählen: entweder bei Fortzahlung

von 75 Prozent der Bruttobezüge freigestellt

oder aber bei einer verkürzten Wochenarbeitszeit

von nur 20 Stunden mit vollem

Arbeitsentgelt weiterbeschäftigt zu werden.

Vor dem Hintergrund der Beschäftigungskrise

brachte der NGG-Hauptvorstand 1981

einen neuen Vorschlag in die Diskussion:

einigkeit 6 /2015

13


Tariferfolge

Tariferfolge fallen nicht vom Himmel, sie

wurden und werden von der Gewerkschaft

NGG hart erkämpft; hier eine kleine Auswahl:

Der erste Tarifvertrag

In Deutschland waren es die Brauereiarbeiter,

die zu den Pionieren auf dem

Gebiet der Tarifverträge gehörten. Zu einem

formgerechten Tarifvertrag kam es zum ersten

Mal im Jahr 1892. Der Tarifvertrag der

Brauer vom 17. November 1892 in Stuttgart

regelte u.a.

• die Einführung der 10-stündigen Arbeitszeit,

• Beginn und Ende der Arbeitszeit sowie der

Pausen,

• die Bezahlung von Überstundenzuschlägen,

• die monatliche bzw. 14-tägige Lohnzahlung,

• eine anständige Behandlung der Arbeiter

durch die Vorgesetzten,

• das Kostwesen, die Freiheit des Koalitionsrechts.

1959 40-Stunden-Woche

1962 Zusätzliches Urlaubsgeld

1963 erhöhter Kündigungsschutz für

ältere ArbeitnehmerInnen

1969 Arbeitszeiten von unter 40

Wochenstunden in Wechselschichten

sowie zusätzliche bezahlte

Freizeiten

1974 Einheitlicher Einkommenstarifvertrag

mit gleichen Bewertungsund

Eingruppierungskriterien für

ArbeiterInnen und Angestellte

1978 Verkürzung der Lebensarbeitszeit

in der Cigarettenindustrie

1984 Tarifverträge zum Vorruhestand

für 58-jährige und ältere Beschäftigte

in allen Branchen

1986 Verträge über betriebliche Frauenförderung

1994 Angleichung von Entgelt und

Arbeitszeit in den neuen Bundesländern

1996 Streiks zur Sicherung der Entgeltfortzahlung

im Krankheitsfall

1997 Vereinbarung von Arbeitszeitkonten

1998 Tarifverträge zur Alterteilzeit

2001 Tarifverträge zur Altersvorsorge

2006 Tarifpaket zur Beschäftigungssicherung

bei Coca-Cola

2013 Regelungen zur Übernahme von

Auszubildenden

2014 Mindestlohntarifvertrag für die

bundesdeutsche Fleischindustrie

ERFOLGE

Foto: BMAS

„Dann könnte man sich doch überlegen, ob man nicht die Möglichkeit schafft für

diejenigen, die früher ausscheiden wollen, das zu tun. Und da entstand das Konzept

des Vorruhestandes. […] Das hatte noch einen anderen Hintergrund: […] Die Unternehmen

haben selten bei Arbeitszeitverkürzung Neueinstellungen vorgenommen, sondern

haben meistens gesagt: Dann müsst ihr eben sehen, dass ihr die Arbeit in der kürzeren

Zeit fertigbringt. Und da haben wir uns überlegt, gibt es da nicht eine Möglichkeit, wie

man das anders machen kann. Und das Konzept bestand darin, dass die Bundesanstalt

für Arbeit einen Teil des Arbeitslosengeldes dem Unternehmen zur Verfügung stellte,

wenn der Unternehmer für den vorzeitig Ausgeschiedenen einen Arbeitslosen einstellt.

Dazu braucht man aber ein Gesetz. Das konnte man nicht tariflich machen. Tariflich

konnte man zwar die Bereitschaft auf der anderen Seite erkunden. Das haben wir auch

gemacht. Wir haben mit den Arbeitgebern verhandelt und haben dann einen Kompromiss

geschlossen. Wir haben die Manteltarifverträge für zwei Jahre verlängert, und

die Arbeitgeber haben ihre Zustimmung gegeben, eine solche Tarifregelung zu treffen,

wenn wir die gesetzlichen Voraussetzungen schaffen. […] Wir haben es gemacht: Wir

haben dieses Gesetz bekommen.“

Erich Herrmann, NGG-Vorsitzender von 1989 -1990, komplettes Interview: http://150.

ngg.net/menschen-in-der-ngg/erich-herrmann/

ArbeitnehmerInnen über 58 Jahre sollten

die Möglichkeit haben, mit 75 Prozent ihres

bisherigen Bruttoentgelts freiwillig vorzeitig

aus dem Arbeitsleben auszuscheiden. Der

freiwerdende Arbeitsplatz sollte mit einer/

einem Jüngeren besetzt werden. Dank der

Vorruhestandsvereinbarungen konnten weit

über 100.000 Arbeitsplätze neu geschaffen

oder gesichert werden.

Tarifverträge zur betrieblichen

Altersvorsorge

Nachdem der Bundestag mit rot-grüner

Mehrheit zur Entlastung der staatlichen

Rentenkassen die Stärkung der privaten und

betrieblichen Altersvorsorge auf den Weg

gebracht hatte, verhandelte NGG erfolgreich

Tarifverträge zur betrieblichen Altersvorsorge.

Für alle Branchen der Ernährungswirtschaft

bot sie ihren Mitgliedern die „Pensionskasse

Ernährung und Genuss“ (PEG) an,

da hier aus den Beiträgen nur wenig Verwaltungskosten

bestritten werden mussten und

überdies Arbeitgeberbeteiligungen an den

Beiträgen vereinbart werden konnten.

Mit dem DEHOGA, dem Arbeitgeberverband

im Hotel- und Gaststättengewerbe, begann

NGG im April 2001 Tarifverhandlungen über

einen bundesweiten Tarifvertrag zur Altersvorsorge

zu verhandeln. Im Frühjahr 2002

wurde vereinbart, dass monatlich 132,50

Euro aus Urlaubsgeldern umgewandelt und

13 Prozent von den Arbeitgebern gezahlt

wurden. Für die „hogarente“ wurde ein Beirat

berufen, der die Umsetzung für die mehr

als 100.000 interessierten Beschäftigten

koordinierte.

Auch für das Bäckerhandwerk schloss NGG

mit dem Zentralverband des deutschen

Bäckerhandwerks einen Tarifvertrag für die

Altersvorsorge mit der ebenfalls vom Arbeitgeber

kofinanzierten „Bäckerrente“ ab. Er

gilt für 200.000 Beschäftigte.

Kein Lohn unter 8.50 Euro!

Auch der gesetzliche Mindestlohn von 8,50

Euro pro Stunde, der seit 1. Januar 2015 für

alle Branchen in Deutschland gilt, ist eine

NGG-Idee, die sich durchgesetzt hat. Seit

Als älteste Gewerkschaft Deutschlands

macht sich die NGG seit 150 Jahren

erfolgreich für die Arbeitnehmerinnen

und Arbeitnehmer stark - und darauf kann

sie stolz sein! Ich gratuliere der NGG und

allen ihren Mitgliedern ganz herzlich zu

diesem besonderen Jubiläum und wünsche

Euch viel Kraft für Euer zukünftiges

Engagement. Lasst uns weiter gemeinsam

für gute Arbeit in Deutschland, Europa

und überall in der Welt streiten!

Andrea Nahles,

Bundesministerin für Arbeit und Soziales

14

einigkeit 6 /2015


ERFOLGE

Foto: NGG

„Ich bin vom Saulus zum Paulus geworden:

Ich habe zunächst nicht an die Wirkung

eines gesetzlichen Mindestlohns geglaubt,

hab aber dann […] mich sehr intensiv mit

dem Thema beschäftigt, hab unsere europäischen

Kolleginnen und Kollegen gefragt:

Behindert euch das in euren Ländern oder

befördert das? Und nachdem das alles

klar war, hat sich NGG an die Spitze der

Bewegung gesetzt. […] Der gesetzliche Mindestlohn

darf nicht bei 8,50 Euro stehenbleiben.

Jeder weiß, 8,50 Euro reichen nicht

für die Sicherung des Lebensstandards im

Alter. Wenn man Altersarmut verhindern

will, dann muss das schnellstmöglich angehoben

werden.“

2009: Der damalige NGG-Vorsitzende Franz-Josef Möllenberg (re.) bei einer Mindestlohn-Aktion vor dem Reichstag in Berlin

Franz-Möllenberg, NGG-Vorsitzender von

1992 bis 2013, komplettes Interview

http://150.ngg.net/menschen-in-der-ngg/

franz-josef-moellenberg/

September 1999 hatte NGG unermüdlich

gegen Niedriglöhne und für einen allgemeinen

Mindestlohn per Gesetz gekämpft: erst

allein, seit 2006 zusammen mit ver.di in der

gemeinsamen „Initiative Mindestlohn“. In

zahlreichen öffentlichkeitswirksamen Aktionen

– u.a. mit riesigen Mindestlohnpuppen

in Koch- oder Bäckerkleidung und einem

Mindestlohn-Truck, der quer durch die Republik

fuhr – hat NGG die Bevölkerung und die

Politik informiert und überzeugt. Michaela

Rosenberger, NGG-Vorsitzende: „Für uns

ist das ein großer Erfolg, denn wir waren

die ersten, die den Mindestlohn gefordert

haben. Nicht etwa, weil wir keine Tarifverträge

abschließen wollten, sondern weil die

Arbeitgeber sich diesen vielerorts verweigert

haben. Zugleich haben sie die Löhne immer

weiter abgesenkt, teilweise über die Grenze

dessen hinaus, was Menschen, die in

Vollzeit arbeiten, noch zuzumuten ist. Hier

musste der Gesetzgeber einschreiten, um

die Würde und das Überleben von Arbeitnehmerinnen

und Arbeitnehmern zumindest

ansatzweise zu gewährleisten. Heute, nach

fast einem Jahr, können wir sagen: Der

Mindestlohn hat sich nicht negativ auf den

Arbeitsmarkt ausgewirkt – allen Unkenrufen

zum Trotz. Im Gastgewerbe hat die sozialversicherungspflichtige

Beschäftigung überproportional

zugenommen, Minijobs sind

zurückgegangen. Für mehr als die Hälfte der

im Gastgewerbe Beschäftigten sind die Löhne

auf mindestens 8,50 Euro gestiegen. Das

ist ein großartiger Erfolg!“

Foto: GdP

Foto: Kay Herschelmann

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

wir gratulieren herzlich zum 150. Geburtstag!

Uns verbindet eine lange Geschichte

wir sind Weggefährten seit 1866, als die

älteste Vorläufervereinigung von

ver.di, der Buchdruckerverband, gegründet

wurde – und aktuell ein großer Erfolg:

der Mindestlohn, den wir zusammen mit

dem DGB gegen massive Widerstände

zum Erfolg getragen haben.

Mit besten Wünschen für die gemeinsame

Zukunft!

Frank Bsirske,

Vorsitzender der Gewerkschaft ver.di

Ich gratuliere der NGG zum 150.

Gründungstag und zu allen Erfolgen,

die die älteste überregionale Gewerkschaft

Deutschlands in dieser Zeit für

ihre Mitglieder durchsetzen konnte.

Aus GdP-Sicht möchte ich dabei insbesondere

das jahrelange – durchaus

auch gemeinsame – Engagement

im Kampf gegen Schwarzarbeit und

für den Mindestlohn würdigen.

Oliver Malchow,

Bundesvorsitzender

der Gewerkschaft der Polizei

einigkeit 6 /2015

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NGG FEIERT GEBURTSTAG

„Frische Rezepte für gute Arbeit“

Foto: Marko Kubitz

Foto: Marko Kubitz

Die Tatsache, dass viele von uns in der

Weihnachtszeit einige Tage bezahlten Urlaub

haben und vielleicht sogar gerade diese

Jubiläumsausgabe der „einigkeit“ in Händen

halten, ist nicht selbstverständlich. Sie ist

möglich geworden, weil sich Weihnachten

1865, also vor genau 150 Jahren, mutige

Zigarrenarbeiter an ihren damals wenigen

16. Juni 2015: Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (li.) und die NGG-Vorsitzende Michaela Rosenberger auf dem NGG-Hoffest

in Berlin

freien Tagen im Jahr zur ältesten Vorläuferorganisation

der NGG, dem Allgemeinen

Deutschen Cigarrenarbeiterverein (ADCAV),

zusammenschlossen, um gemeinsam für

bessere Lohn- und Arbeitsbedingungen zu

kämpfen: u.a. auch für das Recht auf Urlaub.

In unserem NGG-Jubiläumsjahr ging es uns

vor allem darum, gemeinsam mit unseren

Mitgliedern Geburtstag zu feiern. Mit den

zahlreichen Regionsfeiern überall im Land,

auf denen es sowohl feierlich als auch

fröhlich-genussvoll zuging, scheint uns dies

gelungen zu sein (s. Fotos S. 18/19). Auch

auf unserem Hoffest im Juni 2015 in Berlin

haben wir unseren 150. Geburtstag mit Gästen

aus Politik, Wirtschaft, Gewerkschaften

und Medien in lockerer Atmosphäre begangen.

Etwas formeller ging es am 18. und 19.

November auf der Beiratssitzung in Leipzig

zu, also dort wo der ADCAV 1865 gegründet

wurde (s. S. 20-23).

Auf ihrer Sommertour unter unserem Jubiläumsmotto

„Frische Rezepte für gute Arbeit“

hat unsere NGG-Vorsitzende Michaela

Rosenberger gemeinsam mit MinsterpräsidentInnen

oder anderen prominenten

LandespolitikerInnen Unternehmen der

Lebensmittelherstellung und des Gastgewerbes

besucht, um zu zeigen, dass es in

Deutschland hervorragende Unternehmen

gibt, die sichere Lebensmittel in herausragender

Qualität herstellen und einen fairen

Umgang mit ihren Beschäftigten und NGG

pflegen. (www.ngg.net/artikel/2015/07/

tour-de-genuss )

NGG-Wanderaustellung „Vom Vorleser zum Mindestlohn“

Foto: Anke Illing, www.photocultur.de

150 Jahre Kampf für ein genussvolles

Leben

Zum 150. Geburtstag der Gewerkschaft

NGG möchte ich meinen herzlichsten

Glückwunsch aussprechen. Und ich

möchte mich bedanken. Für 150 Jahre

Kampf für soziale Gerechtigkeit, faire

Arbeitsbedingungen und ein genussvolles

Leben. Vieles wurde erreicht, vieles steht

noch bevor. Für die anstehenden Herausforderungen

wünsche ich der NGG viel

Stärke und Hartnäckigkeit.

Katja Kipping,

Vorsitzende der Partei Die Linke

Die Mischung macht‘s

Wie bei einem guten Rezept gilt auch für

unser Jubiläumsjahr: Die Mischung macht’s!

Sprich: Neben dem Spaß und dem Genuss

beim Feiern war es uns genauso wichtig,

unsere Mitglieder und die Öffentlichkeit über

unsere aktuelle Arbeit und die der vergangenen

150 Jahre zu informieren. Das zeigen

nicht nur die – allesamt im neuen, frischen

Layout erschienenen - diesjährigen Ausgaben

unseres Newsletters „ngg.aktuell“, unserer

Mitgliederzeitschrift „einigkeit“ sowie

die vorliegende Jubiläumsausgabe. Auch

mit unserer Jubiläumswebsite www.ngg.

net/150, unserer Wanderausstellung „Vom

Vorleser zum Mindestlohn“, unserem auf der

Beiratssitzung vorgestellten Geschichtsbuch

„Vom Vorleser zum Mindestlohn“ sowie mit

unserem öffentlichkeitswirksamen Aufruf,

uns regionale Rezepte für unsere „Bundes-

Genuss-Karte“ (www.ngg.net/bundes-

16

einigkeit 6 /2015


NGG FEIERT GEBURTSTAG

genuss-karte) und unser Jubiläumskochbuch

zu schicken, haben wir gezeigt, dass wir

seit jeher und auch künftig „Frische Rezepte

für gute Arbeit“ haben. Oder, um es mit den

Worten unserer NGG-Vorsitzenden Michaela

Rosenberger zu sagen: „Wir können nicht

nur klein, wir können auch groß!“

Foto: NGG

Bücher von/über NGG:

NGG-Jubiläumskochbuch:

Das NGG-Jubiläumskochbuch „150 FRISCHE

REZEPTE FÜR GUTE ARBEIT“ kann ab 8.

Dezember 2015 für 14 Euro über den Buchhandel

bezogen oder beim Verlag bestellt

werden:

150 FRISCHE REZEPTE FÜR GUTE ARBEIT:

Persönliche Lieblingsrezepte von ‚Angeliter

Schnüsch“ bis Zucker-Benge‘“

BAUER-VERLAG Thalhofen 2015

info@verlag-bauer.de

www.verlag-bauer.de

ISBN 9-783-95551-055-8

Gemeinsam mit der niedersächsischen Ministerin für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung, Cornelia Rundt (re.), besuchte

die NGG-Vorsitzende Michaela Rosenberger am 5. August das DMK-Werk in Zeven.

NGG-Geschichtsbuch:

Das NGG-Geschichtsbuch „Vom Vorleser zum

Mindestlohn“ kann ab sofort im Buchhandel

oder beim Verlag zum Preis von 19,80 Euro

IEBLINGSREZEPTE

Nobis debis doluptas sitiur, autat eate nectota nis il

inim entur suntinv elignitem hari siti audaeptas alit

exped bezogen expe voluptam, werden: simus ad quos autatempos

comnis ipsunt fugit remperc hillorerspic tora conempe

riatum quiate Nempersp elitiunti vit ra parunto

optati volor reremol uptatiis aut odic tempor

sum quate pore mi, occaborem voluptatust, ipiet

quo que porestem que corro eum ipicae. Sundi dolorro

vitassi der NGG tenitatiis 1865 magnatur, bis 2015. veriatis volorae

pelestrum VSA: quod Verlag moluptatur Hamburg sapienimus, 2015 volupiciate

offic tectium ilicil et, to volum volut fugiatem

quat. 208 Seiten inkl. DVD

Beate Schreiber, Hans-Christian Bresgott,

Daniel König und Constanze Seifert: Vom

Vorleser zum Mindestlohn. Die Geschichte

Essit quas acepudam eici cum harci omni rest, ut

pratiis

Immer

quisi od

noch

que volesciis

lesenswert:

a deliquam, si ut lautas

ipsum ati deriae sequam.

Willy Buschak: Von Menschen, die wie Menschen

leben wollten. Die Geschichte der Gewerkschaft

Nahrung-Genuss-Gaststätten und

ihrer Vorläufer. 1985 Bund-Verlag (leider nur

noch antiquarisch erhältlich)

Foto: NGG

Foto: NGG

BAUER-VERLAG GmbH

www.verlag-bauer.de

Das NGG-Jubiläumskochbuch erscheint am 8. Dezember 2015.

Foto: EVG

Einigkeit macht stark

Die Zigarrenarbeiter, die sich Mitte des

19. Jahrhunderts gegen die Ausbeutung

auflehnten, hatten richtig erkannt: Nur

Einigkeit macht stark. Die NGG hat ihre

Wurzeln nie vergessen. Mit ihrem Kampf

für faire Arbeitsbedingungen auch in

Kleinstbetrieben ist sie ein starker Partner

in einem starken DGB und weiß die EVG

an ihrer Seite. Wir sagen: Danke, NGG,

und weiter alles Gute!

06.11.15 13:2

NGG-Geschichtsbuch, erschienen im November 2015

Alexander Kirchner,

Vorsitzender der EVG

einigkeit 6 /2015

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einigkeit 6 /2015


einigkeit 6 /2015 19


Foto: Marko Kubitz Foto: Marko Kubitz

NGG FEIERT GEBURTSTAG

„Wo wir zusammen auftreten, können wir etwas erreichen“

Festakt und Beiratssitzung in Leipzig

Michaela Rosenberger, Vorsitzende der NGG, eröffnete die Jubiläumssitzung.

Am 26. Dezember 2015 wird unsere

Gewerkschaft NGG 150 Jahre alt. Am 18. und

19. November ist der Beirat, das höchste

Entscheidungsgremium der NGG zwischen

den Gewerkschaftstagen, zu einer Jubiläumssitzung

in Leipzig zusammengekommen,

um den runden Geburtstag mit einem

Festakt im Beisein des Bundestagspräsidenten

Norbert Lammert zu begehen. Auf

Leipzig fiel die Wahl aus gutem Grund: Dort

wurde 1865 die älteste Vorläuferorganisation

der NGG, der Allgemeine Deutsche

Cigarrenarbeiter-Verein (ADCAV), geründet.

In ihrer Festrede anlässlich des 150-jährigen

Bestehens der NGG gedachte die NGG-Vorsitzende

Michaela Rosenberger zunächst der

Opfer der Terroranschläge vom 13. November

in Paris: Die Antwort auf Gewalt könne

nicht Krieg, sondern nur noch mehr Demokratie

und Humanität sein: „Wir werden auch

Reiner Hoffmann, DGB-Vorsitzender, überbrachte die Glückwünsche des DGB.

weiterhin für Freiheit

und das friedliche

Zusammenleben der

Religionen eintreten!“

In ihrem Rückblick auf

die wechselvolle

Geschichte der NGG

hob sie den Mut und

die Beharrlichkeit der

Menschen hervor, die

sich - teilweise unter

Lebensgefahr - für

bessere Arbeits- und

Lebensbedingungen

engagiert haben: stets

gemeinsam, gemäß der

Erkenntnis unseres Gründungsvaters

Friedrich Wilhelm Fritzsche, dass dort, „wo

die Arbeiter

einzeln aufgetreten

sind, sie nie

etwas erreicht

haben.“ Fritzsches

Initiativgeist, und

das entschlossene

Wirken all seiner

haupt- und

ehrenamtlichen

Nachfolger sei

getragen gewesen

von der Solidarität

und dem Mut der

Menschen, die

durch ihre

Mitgliedschaft und

aktives Handeln –

von der Beitragszahlung

bis zum langwierigen Arbeitskampf –

für den Erfolg der NGG

und ihrer Vorläufer

gesorgt haben. „Ihre

Verdienste sind groß,

ihr Handeln ist uns

Ansporn und Verpflichtung

für die Zukunft.

Um es mit Fritzsche zu

sagen: Wo wir zusammen

auftreten, können

wir etwas erreichen!

Dieser Satz wird uns

auch in den kommenden

Jahren leiten“, so

Rosenberger.

Die NGG-Vorsitzende

erinnerte außerdem

daran, dass NGG in diesem Jahr ein weiteres

Jubiläum feiert: „Seit dem 1. Dezember 1990

sind wir eine Gewerkschaft für die Nahrungsund

Genussmittelindustrie, für das Nahrungsmittelhandwerk

und für das Gastgewerbe

in allen 16 Bundesländern. Heute das

25-jährige Bestehen zeitgleich mit dem

150-Jahr-Jubiläum feiern zu können, ist eine

wunderbare Fügung.“

Bundestagspräsident Norbert Lammert gratulierte NGG „zum stolzen Jubiläum“.

„Das ist euer Erfolg!“

Der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann

gratulierte der NGG im Namen des Deutschen

Gewerkschaftsbundes (DGB) zum 150.

Geburtstag. Auch er erinnerte daran, dass im

19. Jahrhundert, als der Allgemeine Cigarrenarbeiter-Verein,

also die älteste NGG-

Vorläuferorganisation, gegründet wurde,

erbärmliche Arbeits- und Lebensbedingungen

herrschten: Unbeschreibliche Armut,

Hunger, Epidemien ließen die Menschen im

Schnitt nicht älter als 44 Jahre werden. Ein

wichtiger Schlüssel, um sich aus Armut und

Elend zu befreien, sei die Bildung gewesen.

Insofern sei der Vorleser bei den Zigarrenarbeitern

die erste Bildungsinstitution der

heranwachsenden Arbeiterbewegung und

zugleich Symbol für gelebte Solidarität

gewesen.

Hoffmann lobte die Eigenständigkeit der

NGG unter dem Dach des DGB. Sie ermögliche

den unmittelbaren Kontakt zu den

KollegInnen in den Betrieben: „Das macht

NGG aus und stark!“ Auch heute noch sei es

im Übrigen keineswegs selbstverständlich,

dass Menschen von ihrem Lohn leben

können. Daher sei es wichtig, dass der

Foto: Marko Kubitz

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einigkeit 6 /2015


NGG FEIERT GEBURTSTAG

Foto: Marko Kubitz

gesetzliche Mindestlohn durchgesetzt

worden sei: „Ihr wart die Treiber. Es war

nicht einfach, aber ihr habt es geschafft. Das

ist euer Erfolg, das ist unser Erfolg! Darauf

können wir zurecht stolz sein!“ Die Tatsache,

dass die Wirtschaftsweisen nun Ausnahmen

vom Mindestlohn für Flüchtlinge forderten,

nannte Hoffmann „nicht weise, sondern eine

Unverschämtheit“.

Harsche Kritik übte der DGB-Vorsitzende

auch an der „Tarifflucht“ der Arbeitgeber: Mit

diesem „Unfug“, also der Mitgliedschaft in

einem Arbeitgeberverband, ohne an

Tarifverträge gebunden zu sein, müsse

Schluss sein. Hoffmann begrüßte hingegen

den aktuellen Gesetzesvorschlag von

Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles zu

Leiharbeit und Werkverträgen. Allerdings

bleibe er noch hinter den Vorstellungen des

DGB zurück: Es fehle eine klare Definition

NGG in bester Geburtstagsfeierlaune

von Werkvertragsarbeit, und die Maßgabe,

dass Leiharbeitsbeschäftigte nach 18

Monaten fest übernommen werden müssen,

Herzlichen Glückwunsch

Foto: Deutscher Bundestag

dürfe sich nicht auf die/den Beschäftigte/n,

sondern müsse sich auf den Arbeitsplatz

beziehen: „Sonst wird der dann doch gleich

durch den nächsten Leiharbeitnehmer

ersetzt!“

Genuss hat viele Gesichter – wie die reiche Tradition

der NGG zeigt: Vor 150 Jahren als Cigarrenarbeiter-

Verein gegründet, vertritt die heutige Gewerkschaft

auch die Interessen der Beschäftigten im Gastgewerbe

wie der Lebensmittel- und Getränkeindustrie

in Deutschland. Ich gratuliere herzlich zum stolzen

Jubiläum, freue mich über die Einladung zur Teilnahme

am Festakt der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-

Gaststätten am 18. November 2015 in Leipzig und

wünsche der NGG und ihren Mitgliedern für die

Zukunft alles Gute!

Norbert Lammert,

Präsident des Deutschen

Bundestages

Ein Beispiel für Schutz und Hilfe

Das Gemeinwohl

im Blick

Auch Bundestagspräsident

Prof. Dr.

Norbert Lammert

gratulierte NGG

„zum stolzen

Jubiläum“. Der

Sohn eines

Bäcker- und

Konditormeisters

und „Pfeifenraucher

des Jahres

2013“ fühlte sich

gut aufgehoben

bei der ältesten

Gewerkschaft

Deutschlands, die

ihre Wurzeln im „Allgemeinen Deutschen

Cigarrenarbeiter-Verein“ hat. Er fand

lobende Worte für die Arbeit von Gewerkschaften:

„Unser Land ist - selbst bei

kritischer Betrachtung – in erkennbar

besserer Verfassung als nahezu jedes

andere Land in Europa. Das hat auch mit der

Arbeit von Gewerkschaften zu tun, die die

Souveränität entwickelt haben, neben

eigenen Interessen auch das Gemeinwohl im

Blick zu haben. Darauf beruht die Stabilität

unserer Gesellschaft.“ Der zweite Mann im

Staate mahnte aber auch an, dass die

Ausgaben für die soziale Sicherung nach

vielen Jahrzehnten des Wachstums an ihre

Grenzen gestoßen seien: „Ich bin ein

Verfechter unseres Sozialsystems, aber wir

dürfen seine Leistungsfähigkeit nicht

überfordern. Wir brauchen nachwachsende

Generationen.“

„Frische Rezepte für gute Arbeit“

Getreu dem NGG-Jubiläumsmotto „Frische

Rezepte für gute Arbeit“ legte der Geschäftsführende

Hauptvorstand, also die NGG-Vorsitzende

Michaela Rosenberger und ihre

beiden Stellvertreter Burkhard Siebert und

Claus-Harald Güster, auf der Jubiläumssitzung

des NGG-Beirats in Leipzig in Form

eines Interviews Rechenschaft ab: über

Zum 150. Geburtstag gratulieren wir

der NGG herzlich.

Selber schon knapp über 100 Jahre alt,

bringen wir es so gemeinsam auf 250 Jahre

im Dienst der Menschen.

Darauf können wir stolz sein.

Bei einer Betriebsprüfung in der Kantine

stellte das Ordnungsamt Mängel fest.

Der verantwortliche Kollege erhielt einen

Bußgeldbescheid über 528,50 Euro.

Die GUV/FAKULTA unterstützte den

Kollegen mit einer Notfallunterstützung

von 378,50 Euro.

Eine starke Gemeinschaft

www.guv-fakulta.de Der ganz besondere Schutz

einigkeit 6 /2015

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NGG FEIERT GEBURTSTAG

Foto: Marko Kubitz

Auch die NGG-Ausstellung „Vom Vorleser zum Mindestlohn“ bot dem Geschäftsführenden Hauptvorstand und seinen Gästen reichlich Gesprächsstoff. V.l.n.r.: Norbert Lammert, Michaela Rosenberger,

Reiner Hoffmann, Burkhard Siebert und Claus-Harald Güster.

Vergangenes und Zukünftiges.

Siebert sah im Arbeitsmarkt den Schlüssel

zur Integration von Schutzsuchenden. Auf

keinen Fall dürfe es dazu kommen, dass

Flüchtlinge durch abgesenkte arbeitsrechtliche

oder tarifliche Standards herabgestuft

würden. Auch Ausnahmen vom Mindestlohn

dürfe es nicht geben. Was die Rente betreffe,

so bedürfe es einer Abkehr von der Rente mit

67 Jahren, einer Erstarkung der gesetzlichen

Rente und weiterer flexibler Übergänge in

die Rente. Den Vorstoß der SPD, zur paritätischen

Finanzierung der Krankenkassen

zurückkehren zu wollen, begrüße NGG.

Güster verwies auf die NGG-Initiative „Faire

Arbeit. Gutes Leben.“, in deren Rahmen NGG

Demografie- und Humanisierungstarifverträge

abschließen wolle, um Ältere zu entlasten

und Jüngeren Perspektiven zu bieten. Er

appellierte an die Arbeitgeber, in Flüchtlinge

zu „investieren“: Sie seien eine Chance – gerade

angesichts des Fachkräftemangels. Die

zunehmende „Flucht“ vieler Arbeitgeber aus

Tarifverträgen verurteilte er aufs Schärfste:

„Kluge Arbeitgeber wissen, dass ihre

Unternehmen mit Tarifbindung besser

dastehen.“ Dennoch sei der gesetzliche

Mindestlohn als Untergrenze wichtig, um

weitere tarifliche Entwicklungen nach unten

zu verhindern: „Da drunter geht nix!“

Die NGG-Vorsitzende ergänzte, dass die

Einführung des gesetzlichen Mindestlohns

zwar ein historischer Erfolg, er aber mit 8,50

Euro pro Stunde noch zu niedrig sei. Um

Altersarmut zu verhindern, fordere NGG eine

Erhöhung auf zunächst zehn Euro.

Rosenberger kündigte überdies eine

Offensive zur Entgeltgleichheit an: Mittels

des Instruments „eg-check“ gelte es, die

NGG-Tarifverträge zu überprüfen, um

festzustellen, wo und wie groß die Entgeltlücken

zwischen Männern und Frauen im

Einzelnen seien. Ziel sei es, bis zum

Gewerkschaftstag 2018 entsprechende

Maßnahmen zu ergreifen. Eines der zahlreichen

weiteren Themen war neben Werkverträgen,

Leiharbeit, Lebensmittelsicherheit,

TTIP, Jugendarbeit, Mitgliederentwicklung

oder Industrie 4.0 auch die Frage, wie sich

Solidarität organisieren lasse. Am Beispiel

zahlreicher Streiks wurde deutlich: „Wer

einmal vor dem Werkstor stand, weiß, wie

sehr das die Belegschaften zusammenschweißt.

Dazu braucht es viel Mut, aber es

gibt auch viel Kraft!“, so die NGG-Vorsitzende.

Gründungsvater geehrt

Während Schauspielerinnen der Leipziger

Theatergruppe „Eumeniden“ am 18.

November mit einer „Szenischen Revue

eines abenteuerlichen Lebens“ aus der

Foto: Marko Kubitz

Foto: Marko Kubitz

Am Nachmittag des 18. November 2015 standen Michaela Rosenberger und die beiden stellvertretenden NGG-Vorsitzenden Burkhard Siebert und Claus-Harald Güster den Mitgliedern des Beirats

Rede und Antwort. Moderator Alexander Kähler (re.) befragte sie ausführlich zur Arbeit der NGG seit dem Gewerkschaftstag 2013.

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einigkeit 6 /2015


NGG FEIERT GEBURTSTAG

Foto: Marko Kubitz

Foto: Marko Kubitz

Spielszene aus dem Leben Friedrich Wilhelm Fritzsches, vorgetragen vom „Theater Eumeniden“,

verfasst von Willy Buschak.

NGG-Mitglied Annette Berger (re.) aus Berlin hatte mit dazu beigetragen, das passende Motto

für´s NGG-Jubiläumsjahr zu finden. Zum Dank gab´s eine Einladung nach Leipzig und ein iPad

Mini aus den Händen der NGG-Vorsitzenden Michaela Rosenberger.

Feder Willy Buschaks dem Revolutionär,

Gewerkschaftsgründer, Sozialdemokraten

und Arbeiterdichter Friedrich Wilhelm

Fritzsche ein „lebendiges Denkmal“ setzten,

wurde dieser am Vormittag des 19. November

im Rahmen einer Stadtrundfahrt durch

Leipzig erneut gewürdigt. In der Karl-Liebknecht-Str.

62 , in der Fritzsche von 1879 bis

1881 wohnte, enthüllte die NGG-Vorsitzende

Michaela Rosenberger eine Gedenktafel zu

Ehren des Zigarrenarbeiters, der 1865 in

Leipzig den „Allgemeinen Deutschen

Cigarrenarbeiter-Verein“, die älteste

Vorläuferorganisation unseren heutigen

Gewerkschaft NGG, gründete (s. S. 3, 24).

Foto: Marko Kubitz

Den Abschluss der „NGG-Jubiläumstour“

bildete am Mittag ein Empfang beim

Leipziger Oberbürgermeister Burkhard Jung:

mit der Erkenntnis, dass Leipzig von jeher

nicht nur viele berühmte kreativ-musische

Köpfe hervorgebracht oder beherbergt hat,

Empfang beim Leipziger Oberbürgermeister Burkhard Jung (2. v. r.)

sondern auch „Revoluzzer“: angefangen von

Friedrich Wilhelm Fritzsche, dem Gründungsvater

der NGG, bis hin zu den Frauen und

Männern, denen die „friedliche Revolution“

des Jahres 1989 zu danken ist.

Foto: Marko Kubitz

Im Anschluss an Festakt, Beiratssitzung und „Jubiläumstour“ feierten auch die NGG-Frauen ein Jubiläum: Am 19. und 20. November 2015 kamen sie in Leipzig zu ihrer 200. Sitzung des Bundesfrauenausschusses

(BFA) zusammen.

einigkeit 6 /2015

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Foto: NGG

Illustation: Entwurf von Carsten Eggers für einen noch anzufertigende Bronzeplastik

Friedrich Wilhelm Fritzsche

Ein Tabakarbeiter an der Spitze der Gewerkschaftsbewegung

Friedrich Wilhelm Fritzsche (1825-1905)

Friedrich Wilhelm Fritzsche aus Leipzig war

1865 der Gründer des Allgemeinen Deutschen

Cigarrenarbeiter-Vereins, der ältesten

Vorläuferorganisation der Gewerkschaft

NGG. Zwei Jahre zuvor war er maßgeblich an

der Entstehung des Allgemeinen Deutschen

Arbeitervereins beteiligt, dem Vorläufer der

SPD.

Fritzsche war ein uneheliches Kind aus

ärmsten Verhältnissen. Als Kind hat er

wegen seines Augenleidens lange Zeit in

Spitälern zugebracht. Sein Schulbesuch

beschränkte sich auf sieben Monate. Lehrgeld

konnte seine Mutter nicht zahlen, also

ließ er sich als Zigarrenarbeiter anlernen.

Er ging auf Wanderschaft in die Schweiz,

nach Frankreich und Italien. So kam er in

Verbindung mit revolutionären deutschen

Arbeitern, mit Leuten, die der Sozialist Wilhelm

Weitling beeinflusst hatte. Zurück in

Sachsen beteiligte er sich in der Revolution

2016 wird NGG eine Bronzeplastik unserers Gründungsvaters Friedrich Wilhelm Fritzsche in der

ehemaligen Zigarrenarbeiter-Hochburg Hamburg-Altona aufstellen.

von 1848/1849 an den Barrikadenkämpfen

in Dresden gegen die anrückenden preußischen

Truppen. Dafür kam er fast ein Jahr in

Untersuchungshaft, um dann ohne Prozess

wieder freigelassen zu werden.

Nachdem in Sachsen 1861 die Koalitionsfreiheit

eingeführt worden war, gab es

zahlreiche Initiativen zur Gründung von gewerkschaftlichen

Organisationen. Zu Weihnachten

1865 berief ein Leipziger Komitee

mit Fritzsche an der Spitze einen deutschen

Zigarrenarbeiterkongress ein, der zur Gründung

des Allgemeinen Deutschen Cigarrenarbeiter-Vereins

führte, dessen Präsident

Fritzsche wurde. Er gab eine Zeitschrift mit

dem Titel „Der Botschafter“ heraus, die zum

Dreh- und Angelpunkt der neuen Organisation

wurde. Bald zählte

sie an die 10.000

Mitglieder und war

damit die größte

und kampfkräftigste

deutsche Gewerkschaft.

Unermüdlich

reiste Fritzsche

durch Deutschland,

um die örtlichen

Funktionäre anzufeuern,

zu schulen

und um in oft nach

Tausenden zählenden

Versammlungen

die Zigarrenarbeiter

zum Kampf um ihre

Rechte aufzufordern.

Betriebliche Konflikte

weiteten sich aus zu großen Arbeitskämpfen,

beispielsweise wegen Herabsetzung der

Akkordsätze oder wegen einseitig erlassener

Fabrikordnungen.

Streikregeln

und Streikkassen

aber gab es

noch nicht. Für

den Unterhalt

der Streikenden

musste im ganzen

Reich Geld

gesammelt werden.

Die Spendenaufrufe

und

die Abrechnung

der Gelder erfolgten

im „Botschafter“.

Dabei

war Fritzsche

nicht zimperlich.

Gliederungen, die die Solidarität verweigerten

und kein Geld schickten, wurde kurzerhand

der Ausschluss angedroht. Da es noch

keine Arbeitslosenversicherung gab und

viele Arbeiter in den Kämpfen ihre Beschäftigung

verloren, gründete er Tabakarbeitergenossenschaften,

die nicht immer glücklich

endeten.

19. November 2015: Die NGG-Vorsitzende Michaela Rosenberger enthüllte gemeinsam mit

dem Künstler Gerd E. Nawroth eine Gedenktafel zu Ehren von Friedrich Wilhelm Fritzsche: in

der Karl-Liebknecht-Straße 62 in Leipzig (s. S. 23)

Fritzsche blieb trotz der übermenschlichen

Arbeit für seine Gewerkschaft auch weiterhin

aktiver Sozialdemokrat. Er war Abgeordneter

im Reichstag und kümmerte sich um

die Arbeiterschutzgesetzgebung. Er war

maßgeblich beteiligt an der Vereinigung der

beiden sich heftig befehdenden sozialdemokratischen

Fraktionen auf dem Gothaer

Parteitag von 1875. Und als die Partei während

des Sozialistengesetzes dringend Geld

brauchte, reiste er in die USA und sammelte

auf einer Vortragsreise Spenden ein, über

13.000 Mark.

Die Gewerkschaften hatten unter Bismarcks

Sozialistengesetz mehr zu leiden als die in

der Illegalität gut gedeihende SPD. Und so

musste Fritzsche befürchten, dass ihm von

der preußischen Justiz nach Wegfall seiner

Immunität als Reichstagsabgeordneter der

Prozess mit einer drohenden Zuchthausstrafe

gemacht würde. Er entzog sich dieser

Gefahr durch die Auswanderung in die USA,

hielt aber bis an sein Lebensende den Kontakt

mit der deutschen Arbeiterbewegung.

Autor: Burchard Bösche, ehemaliger

NGG-Vorstandssekretär

Foto: Marko Kubitz

24

einigkeit 6 /2015


TARIFPOLITIK

Arbeitskämpfe im Wandel

Da die Arbeitgeber Verbesserungen von

Lohn- und Arbeitsbedingungen eher selten

sofort und freiwillig zugestimmt haben, ist

die Geschichte der Gewerkschaft NGG auch

eine Geschichte von Arbeitskämpfen.

Foto: NGG

Wer sich hierüber einen kleinen Überblick

verschaffen will, dem sei die Publikation

„Machen wir’s! Arbeitskämpfe der Gewerkschaft

Nahrung-Genuss-Gaststätten“

von Klaus Bröking (Klartext Verlag, Essen

2013, ISBN 978-3-8375-1010-2) und die

einigkeit“ 3/2015 (S.6/7) empfohlen. Der

vorliegende Artikel erhebt keinen Anspruch

auf Vollständigkeit, sondern es gilt vielmehr,

anhand einiger Beispiele die verschiedenen

Formen und Ziele von Arbeitskämpfen bei

NGG nach 1949 zu beleuchten. Informationen

zu historischen Streiks gibt es unter:

www.ngg.net/150.

Erstmals Offizielle Warnstreiks

In den 1970er und 1980er Jahren wurden

Warnstreiks, also befristete Arbeitsniederlegungen,

auch für NGG das Mittel der

Wahl, um Forderungen Nachdruck zu verleihen.

Herbert Grimberg, Vorsitzender des

NGG-Landesbezirks Nord, Jurist und Autor

mehrerer Publikationen zum Thema „Warnstreik“:

„Warnstreiks hat es immer schon in

Deutschland gegeben, auch in den 1950er

und 1960er Jahren, und da besonders häufig

in der Metallindustrie. Allerdings haben die

Gewerkschaften nie offiziell dazu aufgerufen,

da Warnstreiks verboten waren. Erst mit

der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts

von 1976 wurden sie legal und damit auch

bei NGG hoffähig.“ Zunächst waren es die

Beschäftigten der Brauindustrie, die diese

Taktik der Nadelstiche nutzten. Im Juni 1977

zum Beispiel kam es zu kurzfristigen Arbeitsniederlegungen

in Baden- Württemberg. Es

folgten 1978 Warnstreiks in Nordrhein-Westfalen

und Westberlin. Und sie verfehlten ihre

Wirkung nicht: In allen Fällen kam es nach

Urabstimmungen und vor dem eigentlichen

Streikbeginn zum Abschluss von Tarifverträgen.

Unbefristete Streiks gegen „Tarifmauer“

Unbefristete Streiks im Hotel- und Gaststättengewerbe

in Berlin und Mecklenburg-

Vorpommern prägten das Jahr 1993. Ziel der

Berliner Arbeitgeber war eine Null-Runde für

die 28.000 Beschäftigten. Sebastian Riesner,

Gewerkschaftssekretär der NGG-Region

Berlin-Brandenburg: „Außerdem wollten die

Arbeitgeber sämtliche materiellen Leistungen

aus dem Manteltarifvertrag streichen.

1993: Warnstreik vor einem Berliner Hotel

Nachdem dann die Verhandlungen für einen

neuen Entgelt- und einen neuen Manteltarifvertrag

ein halbes Jahr lang ergebnislos

verlaufen waren, war die Stimmung so geladen,

dass wir neben Warnstreiks in verschiedenen

Hotels und Gaststätten – übrigens

den ersten seit den 1920er Jahren - eine

Demonstration durch die Berliner Innenstadt

gemacht haben, um unsere Forderungen und

die starre Haltung der Arbeitgeber öffentlich

zu machen. Die meisten liefen übrigens

in ihrer Berufskleidung mit, und auch aus

anderen Branchen haben wir viel Unterstützung

bekommen.“

Foto: NGG

Schließlich kam es bei der LSG-Airport-

Gastronomie auf den beiden Flughäfen Tegel

und Tempelhof zum unbefristeten Streik.

Der wurde nach elf Tagen beendet. Mit einer

überwältigenden Mehrheit wurden bei einer

Urabstimmung die Ergebnisse der wiederaufgenommenen

Verhandlungen angenommen.

Erreicht wurden ein Haustarifvertrag

und später die Angleichung der Löhne im

Gastgewerbe auf das Westberliner Niveau.

Riesner: „Wir waren damals die erste Branche,

in der die Tarifmauer zwischen Ost- und

West-Berlin endgültig fiel.“

„Es war schon zu der Zeit des Streiks eine

große Solidarität. Also man ist da ganz

nah gerückt und hat da Menschen neu

kennengelernt im Prinzip. Vor den Toren

waren dann wie so kleine Skihütten. Es war

ja kalt – Januar/Februar – in dem Winter.

Da ist man dann schon zusammengerückt:

bei Suppe und bei Wurst. Und dann kamen

immer andere, aus anderen Brauereien

und haben irgendwas, Bier, mitgebracht

oder ein großes Käserad; und kamen auch

von anderen Betrieben, auch aus der Region;

immer wieder Leute und Gewerkschafter,

die Solidarität verkündet haben. […]

Wir haben erreicht, dass hier die Idee des

Arbeitgebers, die Tariflandschaft komplett zu zerschlagen, dass das nicht aufgegangen

ist. Wir haben denen absolut einen Strich durch die Rechnung gemacht.“

Georg Dohr-Hutchison, Betriebsratsvorsitzender bei der Eichbaum-Brauerei in Mannheim

über den unbefristeten Streik im Jahr 2005. Das komplette Interview:

http://150.ngg.net/menschen-in-der-ngg/georg-dohr-hutchison/

einigkeit 6 /2015

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TARIFPOLITIK

Foto: NGG

Die Belegschaft von Brandt in Hagen kämpte im Jahr 2000 gegen die Verlagerung des Unternehmens

nach Thüringen und den Verlust von 632 Arbeitsplätzen.

Wellenstreik

Das Scheitern der Tarifverhandlungen hatten

die Arbeitgeber der Brauwirtschaft in

Nordrhein-Westfalen im Jahr 1994 einkalkuliert.

Bevor überhaupt über Entgelterhöhungen

gesprochen wurde, hatten sie den

Manteltarifvertrag gekündigt. NGG sollte

Verschlechterungen akzeptieren, sprich: Die

Beschäftigten sollten quasi die Erhöhungen

selbst bezahlen. Doch die Arbeitgeber hatten

nicht mit der großen Kampfbereitschaft

der Belegschaften und der Streiktaktik der

NGG gerechnet: In einer ersten Welle traten

3.800 Beschäftigte mehrerer Brauereien

in den Streik. Thomas Gauger, damals wie

heute Vorsitzender des NGG-Landesbezirks

Nordrhein-Westfalen: „Nach der ersten

Streikwelle am Dienstag und einer zweiten

am Donnerstag wollten wir am Montag drauf

mit einer dritten Streikwelle maximalen

Druck auf die Arbeitgeber erzeugen. Das hat

auch funktioniert: Die Arbeitgeber ruderten

zurück und akzeptierten Sonntagnacht einen

Schlichterspruch, der den Manteltarifvertrag

unverändert wieder in Kraft setzte und eine

Entgelterhöhung von 2,3 Prozent vorsah.

Die dritte Streikwelle am nächsten Morgen

mussten wir dann natürlich absagen, aber

das Problem war, dass damals noch nicht

jeder ein Handy hatte. Einige Kolleginnen

und Kollegen haben das dann leider erst aus

dem Radio erfahren.“

Unbefristeter Streik

für Lohnangleichung

Die Angleichung der

Löhne in den östlichen

Bundesländern

auf Westniveau war

die große tarifliche

Aufgabe des Jahres

1995. In der Süßwarenindustrie

ist dies

NGG für 4.000 Beschäftigte

gelungen.

Der entsprechende

Vertrag sah eine

Angleichung bis

zum 1. Dezember

1998 vor. Möglich

gemacht hat den

Erfolg ein 17 Tage

währender Streik, an

dem sich insgesamt

tausend Beschäftigte

beteiligten. Hätten

die Arbeitgeber am

12. Juni 1995 unter

dem Eindruck der

ungebrochenen

Streikbereitschaft

nicht eingelenkt,

hätte NGG den Arbeitskampf auf weitere

Betriebe ausgedehnt. Kordula Jockel, damals

Betriebsratsvorsitzende bei Stollwerck im

thüringischen Saalfeld und Tarifkommissionsmitglied:

„Nach mehreren Verhandlungen

und Warnstreiks war das der erste und

bis heute einzige unbefristete Arbeitskampf

Foto: BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

hen. Da hatte ich vor Wut Tränen in den Augen.

Bei der Verhandlung nach Ostern haben

wir unser Ziel dann aber verhältnismäßig

flott erreicht.“

Gegen Subventionen für Ostverlagerung

Der Arbeitskampf um den Erhalt der insgesamt

632 Arbeitsplatze bei dem Hagener

Zwieback-Hersteller Brandt ist wohl einzigartig

– nicht nur in der NGG-Geschichte. Als

der Unternehmer Carl-Jürgen Brandt im März

2000 ankündigte, sein Werk in Hagen zu

schließen und mit Hilfe von Subventionen

im thüringischen Ohrdruf eine neue Produktionsstätte

zu errichten, wurden schnell

20.000 Unterschriften für den Erhalt von

Brandt in Hagen gesammelt. Ein Demonstrationszug

quer durch die Stadt formierte sich

noch am Tag der Verlagerungsankündigung.

Es gab Non-Stop-Betriebsversammlungen,

die Kirchenglocken läuteten dazu. Die Belegschaft

legte einen Kranz am Grab des Vaters

von Carl-Jürgen Brandt nieder. Zwieback-Vorräte

wurden aufgekauft, eine CD mit Protestliedern

aufgenommen und verbreitet. Kreuze

wurden vor der Hagener Sparkasse aufgebaut,

die den Umzug mit Krediten finanzierte.

Der Versuch, die einzelnen Warnstreiks in

einen unbefristeten Ausstand umzuwandeln,

scheiterte allerdings an den Gerichten. Monika

Brandt, damals Geschäftsführerin der

NGG-Region Südwestfalen und Teil eines

Aktionsteams aus Betriebsräten und NGG:

„Was mich am meisten berührt hat, war der

unermüdliche Einsatz der Belegschaft. Die

standen hinter ihrem Kampf und auch voll

150 Jahre Gewerkschaft NGG - ein würdiger

Anlass, um für das große Engagement im

Kampf für gerechte Arbeitsbedingungen

seit stolzen anderthalb Jahrhunderten

„Danke“ zu sagen. Gerade heute, in Zeiten

prekärer Beschäftigungsverhältnisse, sind

Gewerkschaften wie die NGG wichtig wie

nie, um für wertgeschätzte und fair entlohnte

Arbeit zu kämpfen. Weiter so!

Simone Peter,

Bundesvorsitzende Bündnis 90/ Die Grünen

in der Süßwarenindustrie Ost. Die Arbeitgeber

habe ich damals als ausgesprochen

menschenverachtend empfunden. Bei der

Tarifverhandlung vor Ostern mussten wir im

Besprechungsraum der Arbeitgeber an der

Wand stehen, wie Schulkinder. Die Arbeitgeber

haben sich genüsslich in ihren Stühlen

zurückgelehnt und gesagt: Warten wir mal

ab, wie viele nach Ostern noch draußen stehinter

NGG. Sie haben wirklich alle Ideen

mitgetragen und gemacht, was machbar war,

um den Standort zu retten: nicht nur die Produktionsmitarbeiter,

sondern auch die aus

den oberen Etagen. Und auch wenn wir die

Verlagerung und auch das spätere Abgleiten

vieler leider Ungelernter in die Arbeitslosigkeit

nicht verhindern konnten, so war dieser

Arbeitskampf doch der beeindruckendste,

26

einigkeit 6 /2015


TARIFPOLITIK

den ich je erlebt habe. Er hat vielleicht nicht

zu völligem Umdenken geführt, aber wir haben

zumindest dafür gesorgt, dass die Politiker

bis hin zum Europäischen Parlament ihre

Subventionspolitik in Frage gestellt haben.“

Gegen Verschlechterung im Manteltarifvertrag

2007 wurde NGG mit einem Sachverhalt konfrontiert,

den es bis dato noch nicht gegeben

hatte: Die Arbeitgeber, genauer gesagt der

Bundesverband der Deutschen Süßwarenindustrie

(BDSI), hatte den Manteltarifvertrag

(MTV) Ende 2006 zum frühestmöglichen Zeitpunkt,

dem 31. Januar 2007, gekündigt. Die

Unternehmen wollten das Weihnachtsgeld

kürzen, das Urlaubsgeld streichen und die

Arbeitszeit ohne Lohnausgleich verlängern.

Genau das praktizierte der Chipshersteller

Intersnack ab dem 1. Februar 2007 bei Neueinstellungen

- ohne jede Verhandlung mit

NGG. Die Warnstreiks wurden daher auch bei

Intersnack gestartet: am 16. April. Zwei Tage

später wurde in Bayern die Arbeit niedergelegt,

dann in Nordrhein-Westfalen. Schließlich

beteiligten sich 3.000 Beschäftigte in

15 Betrieben an den Warnstreiks. Dank der

hohen Beteiligung ging NGG mit viel Rückendeckung

in die dritte Tarifverhandlung am 3.

Mai. Das Ergebnis nach einer zwölfstündigen

Marathonsitzung: Der alte Manteltarifvertrag

wurde ohne Veränderungen verlängert, und

auch einer Erhöhung der Entgelte stimmten

die Arbeitgeber zu. Im Laufe der Warnstreiks

hatte NGG rund 2.000 neue Mitglieder gewonnen

und den Angriff auf den Manteltarifvertrag

eindrucksvoll abgewehrt. Gunold

Fischer, damaliger stellvertretender NGG-

Foto: IG BAU / Alexander Paul Englert

150 Jahre Gewerkschaftsarbeit sind eine

stolze Leistung, zu der ich der NGG herzlich

gratuliere. Die NGG ist ein wichtiger

Partner der IG BAU im Kampf für soziale

Sicherheit und faire Arbeit. Gemeinsam

machen wir uns in der Mindestlohnkommission

stark für den weiteren Ausbau des

gesetzlichen Mindestlohns. Die solidarische

Zusammenarbeit zwischen NGG und

IG BAU hat zudem eine lange Tradition.

Bei der Lebensmittelherstellung arbeiten

wir für bessere Arbeitsbedingungen Hand

in Hand - die IG BAU in der Landwirtschaft

und die NGG in der Verarbeitung. Das ist

zum Vorteil für die Beschäftigten, aber auch für die Verbraucher. Denn gute Ernährung

gibt es nicht ohne gute Arbeit.

Robert Feiger,

Vorsitzender der IG BAU

Vorsitzender und Verhandlungsführer:

„Das Besondere, Neue und Wichtige in

dieser Tarifauseinandersetzung war, dass

der Arbeitgeberverband nicht mit konkreten

Forderungen in die Verhandlungen

ging, sondern einfach Verschlechterungen

der Arbeitsbedingungen in zweistelliger

Prozentzahl – sie nannten es Kostenentlastung

– verlangte, die unsere Tarifkommission

selbst aussuchen und vorschlagen

sollte. Die Arbeitgeber wollten dann sagen,

ob das für sie ausreicht. Damit stellte die

Süßwarenindustrie, mit ihren über 50.000

Beschäftigten der größte industrielle Bereich

in der NGG, die grundsätzliche Machtfrage,

ob die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer

und ihre Gewerkschaft NGG Angriffe auf in

Jahrzehnten erkämpfte und erreichte wesentliche

Tarifstandards abwehren können. Das

hätte auch Signalwirkung für viele Branchen

gehabt. Die eindrucksvollen Warnstreiks, die

Solidarität unserer Mitglieder und Funktionäre

hat das verhindert und den Manteltarifvertrag

geschützt!“

Flexible Streiktaktik

2012 kam es beim Suppen- und Fertiggerichtehersteller

Zamek in Düsseldorf zu

einem erbitterten Arbeitskampf. Die Beschäftigten

hatten dort drei Jahre lang auf

ihr Weihnachtsgeld und zwei Urlaubstage

verzichtet, um dem Unternehmen die Gelegenheit

zu geben, die wirtschaftliche Basis

zu verbessern. Statt zu den in den Tarifvertragen

vereinbarten Leistungen zurückzukehren,

trat Zamek aus dem Tarifverband

der Arbeitgeber der Obst und Gemüse verarbeitenden

Industrie aus. Dieter Schormann,

Foto: NGG

2007: Auch die Beschäftigten des Aachener Printen - und Schokoladenherstellers Lambertz protestierten gegen Verschlechterungen im Manteltarifvertrag (MTV).

einigkeit 6 /2015

27


TARIFPOLITIK

damals Geschäftsführer der NGG-

Region Düsseldorf-Wuppertal:

„Diese Tarifflucht des Arbeitgebers

war für uns der Anlass, einen Arbeitskampf

mit flexibler Streiktaktik

zu führen, also raus und wieder

rein in den Betrieb. Übrigens war

das das erste Mal bei NGG. Das

war die Lehre, die wir 2005 aus

dem mit sechs Monaten längsten

NGG-Streik beim Flughafencaterer

Gate Gourmet gezogen haben:

Mit einem unbefristeten Streik

ist es nicht getan, weil dann der

Arbeitgeber Streikende durch

Leiharbeitskräfte ersetzen kann.

Unser Ziel war es, die größtmögliche

Wirkung zu erzielen.“ Der

Arbeitskampf dauerte 14 Wochen,

und die Streiks versetzten dem

Unternehmen immer wieder Nadelstiche,

auf die es sich nicht einstellen

konnte. Die Medien wurden auf die

Auseinandersetzung aufmerksam, und die

bundesweite Solidarität war groß. Selbst der

Rat der Stadt Düsseldorf beschäftigte sich

mit dem Arbeitskampf. Unter dem ständig

steigenden Druck auf den Suppenhersteller

wurden schließlich die Gültigkeit des Manteltarifvertrages

ohne Abstriche und die

Anhebung der Löhne und Gehälter in zwei

Stufen vereinbart.

2012: 14 Wochen kämpften die Beschäftigten des Suppen- und Fertiggerichtherstellers Zamek gegen die Tarifflucht ihres Arbeitgebers.

Flashmob

Eine völlig neue Form des Arbeitskampfes

oder Widerstandes kam im Oktober 2013

im Bäckerhandwerk Ost zum Einsatz: ein

so genannter Flashmob oder wie der Duden

es formuliert: eine „kurze, überraschende

öffentliche Aktion einer größeren Menschenmenge,

die sich anonym, per moderner

Telekommunikation dazu verabredet hat“.

„Bewaffnet“ mit bunten Regenschirmen

forderten damals Beschäftigte aus Berliner

und Brandenburger Bäckereien kurz vor

der nächsten Tarifverhandlung „Gutes Brot

braucht gute Löhne“, also mindestens 8,50

Euro pro Stunde für VerkäuferInnen in den

Bäckereien und ein Lohnplus von sechs

Prozent für die BäckerInnen. Birgit Weiland,

Gewerkschaftssekretärin der NGG-Region

Berlin-Brandenburg, erinnert sich: „Wir haben

uns damals noch nicht über Facebook,

sondern per Telefonkette und Email verabredet.

Das war wirklich eine außergewöhnliche

Aktion mit großem Publikumseffekt. Die

Passanten konnten gar nicht glauben, dass

die Arbeitgeber so wenig zahlen. Sie gingen

davon aus, dass es bei Premiumware zu

Premiumpreisen auch Premiumlöhne gäbe.

Unsere Aktion war ein Erfolg: Eine Verkäuferin

verdient jetzt zwischen 8,50 Euro und

9,32 Euro die Stunde.“

Variable auf Standorte abgestimmte

Streiktaktik

Wenn es um besondere Streiks bei NGG

geht, ist sicherlich auch der fünfmonatige

Arbeitskampf beim Autobahnraststättenbetreiber

Autogrill in Bayern und Thüringen

im Jahr 2014 zu nennen. Guido Zeitler,

NGG-Referatsleiter Hotel- und Gaststättengewerbe:

„Besonders war zum einen, dass

die Auseinandersetzung bei einem bundesweit

agierenden Unternehmen lediglich

in zwei Bundesländern stattfand. Das hat

Foto: NGG

Foto: NGG

2013: Flashmob vor dem Brandenburger Tor in Berlin für gute Löhne im Bäckerhandwerk Ost.

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einigkeit 6 /2015


TARIFPOLITIK

unsere Ausgangssituation

erschwert. Ansonsten

war der Streikverlauf

besonders: zunächst Kurzstreiks,

stundenweise,

dann wieder rein; variable

Streiktaktik auf die konkreten

Situationen der

Standorte abgestellt, um

mit wenig Aufwand und Risiko

den Schaden beim Arbeitgeber

zu maximieren.

Die Streikphasen wurden

dann auch vor dem Hintergrund

des Drucks von den

Kollegen immer länger.

Gerade weil der Konflikt

im Niedriglohnsektor

stattfand, musste die Taktik

auf kurze Streikphasen

abgestellt werden, damit

sich die Kolleginnen und

Kollegen den Lohnausfall leisten konnten.

Besonders war sicherlich auch die Länge der

Auseinandersetzung: von Ostern bis in den

September.“

Am 9. September 2014, nach 2.500 Streikstunden,

war die zum italienischen Autogrill-

Konzern gehörende Autogrill Deutschland

GmbH endlich bereit, einen Tarifvertrag

zu akzeptieren. Unterstützt worden waren

23. August 2014: DGB-Jugend Hessen-Thüringen auf Soli-Besuch bei den Streikenden der Autogrill-Raststätte Eisenach

die Streikenden durch hunderte Solidaritätsbekundungen

per Email und Post und

durch zahllose Besuche von GewerkschafterInnen,

PolitikerInnen und BürgerInnen.

Nach Vermittlung durch das Thüringer

Wirtschaftsministerium und nachdem NGG

eine weitere Ausweitung der verschiedenen

Protestaktionen angekündigt hatte, verkündete

Autogrill schließlich seinen Beitritt zum

Bundesverband der Systemgastronomie

(BdS) und damit die tarifliche Absicherung

von bundesweit rund 1.300 Beschäftigten.

Für viele „Autogriller“ stieg dadurch der

Lohn erheblich. Andere profitierten etwa von

verbesserten, verbindlichen Regelungen bei

Zuschlägen und Arbeitszeiten.

Foto: NGG

JUGEND

„Her mit dem schönen Leben!“

Jugendarbeit ist seit jeher fester Bestandteil

der Arbeit der Gewerkschaft NGG. Viele von

denen, die sich als Ehrenamtliche in der

Jugendarbeit der NGG engagierten, wurden

später hauptamtlich Beschäftigte bei NGG,

auch in Führungspositionen.

Ziel der Jugendarbeit war und ist es, die Situation

junger Menschen zu verbessern: sei

es nun am Arbeitsplatz oder in der Gesellschaft.

Aber genauso wie sich die Lebenswelt

junger Menschen verändert hat – etwa

die Tatsache, dass das Volljährigkeitsalter

1974 von 21 auf 18 Jahre herabgesetzt

wurde, hat sich auch die gewerkschaftliche

Jugendarbeit gewandelt. 1982 wurde das

Betriebsverfassungsgesetz dahingehend

geändert, dass die Interessenvertretung

junger Menschen im Betrieb nicht mehr

„Jugendvertretung“ hieß, sondern „Jugendund

Auszubildendenvertretung“, kurz JAV.

Das war keine bloße Namensänderung. Es

bedeutete, dass nicht mehr nur Jugendliche

Foto: NGG

„Ich habe dann den ersten Gewerkschaftstag

1951 erlebt als Mitglied des Bundesjugendausschusses,

der sich inzwischen

im Westen gebildet hatte. […] Dort [in

Stuttgart] hatte der Bundesjugendausschuss

Gastmandate. […] Ich hab natürlich

neben der Jugendarbeit sehr viel Bildungsarbeit

gemacht für Jugendliche. Wir haben

in Berlin ein Gewerkschaftsjugendheim

in Wannsee bekommen. Und dort wurden

Lehrgänge für junge Menschen durchgeführt.

Wir hatten sehr aktive Jugendgruppen.

Wir hatten eine erste NGG-Jugendkonferenz

mit 42 Delegierten, die vier Jugendgruppen vertreten haben. Heute würde man

davon träumen, wenn man so viele Jugendaktivitäten in der Gewerkschaft hätte. Aber

damals gab es kein Fernsehen, damals gab es auch noch nicht so viele Ablenkungsmöglichkeiten.

Und die Gewerkschaft war eben eine Bildungseinrichtung für die jungen

Leute. Gleichzeitig haben wir natürlich auch Zeltlagerfreizeiten unternommen und Sport

mit den jungen Leuten getrieben. Es war einfach eine bunte Zeit, die sonst außerhalb

der Gewerkschaften gar nicht so einfach möglich war.“

Ruth Köhn, Jg. 1927, trat 1948 der NGG bei. Zwischen 1970 und 1988 war sie als Mitglied

des Geschäftsführenden Hauptvorstands der NGG u.a. für Jugend zuständig. Das

komplette Interview: http://150.ngg.net/menschen-in-der-ngg/ruth-koehn/

einigkeit 6 /2015

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JUGEND

Foto: NGG

„Wer nicht ausbildet , muss zahlen!“

Tarifpolitisch hat die jungeNGG sich ebenfalls

eingebracht: mit Seminaren, eigenständigen

Mandaten in Tarifkommissionen, tarifvertraglichen

Regelungen zur Übernahme

von Ausgebildeten oder z.B. dem bundesweiten,

allgemeinverbindlichen Tarifvertrag

über die Ausbildungsvergütung im Bäckerhandwerk.

Günter Döding, der spätere NGG-Vorsitzende (1.Reihe, 2. von links), beim NGG-Jugendleiterlehrgang in Hustedt, 1957.

Eine weitere wichtige Herausforderung für

die jungeNGG stellte Anfang 2000 die Lage

auf dem Ausbildungsstellenmarkt dar. Langecker:

„Die Situation für junge Menschen,

die einen Ausbildungsplatz suchten, war

alles andere als rosig. Wir haben da mit unserer

Kampagne „WAS IST DAS DENN?“, kurz

WIDD, gegengesteuert und die Arbeitgeber

aufgefordert, mehr auszubilden und die

Politik, endlich die Ausbildungsplatzumlage

einzuführen, nach der Devise ‚Wer nicht

ausbildet, muss zahlen!‘“

bis 18 Jahre, sondern auch über 18-Jährige

unter die Schutz- und Gestaltwirkung des

Gesetzes fielen.

Aus „NGG-Jugend“ wird „jungeNGG“

Doch nicht nur die Gesetzeslage änderte

sich im Laufe der Zeit, sondern auch die

Interessen „der“ Jugend. Joachim Langecker,

ehemaliger, langjähriger Bundesjugendsekretär

bei NGG: „Aus Skatabenden und gemeinsamem

Musizieren wurden irgendwann

‚Flashmob‘ und ‚Jobparade‘. Unsere Jobparade

hat sich 2002 sogar zur größten 1.-Mai-

Demo Deutschlands entwickelt. Aber bei

allen Unterschieden muss man doch sagen:

Das Verbindende war damals wie heute der

politische und gewerkschaftliche Austausch

für ein besseres und mitbestimmtes Leben,

frei nach dem Motto einer der größten Jugendaktionen

2002 in Köln: ‚Her mit dem

schönen Leben!‘ Übrigens: NGG ist nicht nur

die älteste Gewerkschaft, sondern auch die

erste, bei der sich der Wandel im Jugendbild

und in der Jugendarbeit auch in der Namensgebung

manifestierte: Aus der NGG-Jugend

wurde schon in den 1990er Jahren die jungeNGG.“

Foto: NGG

Projektstellen für die Jugend gestellt, eigenständige

Strukturen konnten jedoch erst auf

dem Gewerkschaftstag 2003 durchgesetzt

werden.

Je differenzierter die Interessen der jungen

NGGlerInnen wurden, desto projektorientierter

wurden auch die Aktivitäten der

jungenNGG: Jobparade, Bundesjugendklausurtagungen,

Aktionen gegen Rechts etc.

Überdies wurden auch Mitwirkungsmöglichkeiten

über Landesbezirksgrenzen hinaus

geschaffen, indem aus den Jugendausschüssen

z.B. die „Nordschiene“ und die „Südschiene“

wurden.

jungeNGG bildet

2003 erschien das erste bundesweite Bildungsprogramm

der jungenNGG. Neben der

allgemeinen politischen Bildung wurden

auch branchenspezifische Seminare angeboten

zur Prüfungsvorbereitung, zur Cocktailzubereitung,

Wein- oder Tabakkunde etc.

Auch auf den alle zwei Jahre stattfindenden

Sommercamps gingen Wissensvermittlung,

Sport und Spaß Hand in Hand.

Besondere Bedeutung in der Bildungsarbeit,

aber auch der Mitgliederwerbung kommt

den JAV-Seminaren im Bildungszentrum

Oberjosbach (BZO) zu. Hierfür entwickelte

Auch strategisch wurden neue Wege beschritten.

Während zu Anfang oftmals

GewerkschaftssekretärInnen neben ihren

zahlreichen anderen Aufgaben auch für die

Jugendarbeit zuständig waren, entwickelte

sich nicht zuletzt durch Projekte wie das

HoGa-Jugendprojekt die Erkenntnis, dass die

Arbeit der jungenNGG auf neue Füße gestellt

werden musste. Auf dem Gewerkschaftstag

1998 wurde erstmals ein Antrag auf eigene

Titelseite einer Veranstaltungsbroschüre der NGG-Jugend Hamburg für das 2. Quartal 1961

30

einigkeit 6 /2015


JUGEND

Foto: NGG

2002 in Schwerin: Jobparade der jungen NGG

die jungeNGG das Konzept „Junge NGGlerInnen

schulen junge NGGlerInnen“: ein Erfolg,

wie die sehr hohen Teilnehmerzahlen, die

rege Teilnahme und die Zunahme aktiver JAV-

Gremien belegte.

Bildungszentrum Oberjosbach

Angesichts der kleinteiligen Strukturen der

von NGG betreuten Betriebe war und ist eine

weitere wichtige Aufgabe der jungenNGG die

Berufsschularbeit. Anfang des Jahrtausends

gewann sie unter dem DGB-Motto „Demokratie

macht Schule“ immer mehr an Bedeutung.

Ziel war es, die BerufsschülerInnen

über ihre Rechte und Pflichten in der Ausbildung

aufzuklären und NGG als Interessenvertretung

bekanntzumachen. So war und ist

NGG sowohl in den Klassenräumen als auch

auf den Schulhöfen der Berufsschulen mit

Info-Ständen vertreten. „Die Berufsschularbeit“,

so Langecker, „wurde nach und nach

systematisiert und ausgebaut. Auch dank

dieser kontinuierlichen Arbeit haben wir ein

stetiges Mitgliederplus bei unseren jungen

Mitgliedern erzielt. Genauso wichtig war

natürlich auch die Arbeit in den Betrieben,

insbesondere was die Gewinnung von JAVis

und die Verbesserung der Ausbildungsqualität

betrifft.“

Was die künftigen Ziele der jungenNGG anbelangt,

hat Christoph Schink, seit 2015 für

die Jugendarbeit bei NGG zuständig, klare

Vorstellungen: „Wir haben im Vergleich zu

unseren Schwestergewerkschaften und dem

DGB insgesamt einen relativ hohen Anteil an

jungen Gewerkschaftsmitgliedern. Diesen

wollen wir weiter ausbauen. Wir haben uns

eine gute und hochwertige Ausbildung in

den Betrieben auf die Fahnen geschrieben

und wollen diese gemeinsam mit unseren

Mitgliedern erkämpfen. Ein weiteres

wichtiges Ziel ist die Perspektive nach der

Ausbildung: Fehlender Übernahme und der

Pest der Befristung treten wir entschlossen

entgegen!“

FRAUEN

Entgeltgleichheit für Frauen – Wir kämpfen dafür!

Frauen verdienen bei gleicher oder gleichwertiger

Arbeit weniger als Männer. Das ist

so, seit Frauen Erwerbsarbeit leisten. Der

Fortschritt ist eine Schnecke – nur so ist zu

erklären, dass Deutschland mit 22 Prozent

Entgeltdifferenz das Schlusslicht in der EU

ist.

Foto: NGG

Mit der Gründung des Allgemeinen Deutschen

Frauenvereins (ADF) begann 1865 die

organisierte Frauenbewegung in Deutschland.

Standen zunächst Forderungen wie das

Recht auf Bildung und Erwerbsarbeit auf der

Tagesordnung, rückten mit der Industrialisierung

die Arbeiterinnen und ihre Arbeitsbedingungen

in den Fokus. Ihre Belange

wurden von der proletarischen Frauenbewegung

mit ihrer Führerin Clara Zetkin vertreten.

Im Mittelpunkt der Forderungen standen

die Verbesserung der harten Arbeitsbedingungen

und die im Vergleich zu den Männern

weitaus schlechtere Bezahlung.

Bundesfrauenkongress der NGG in Heilbronn, im Mai 1960

Daran änderte sich im Laufe der Jahre wenig.

Anni Krause, Arbeiterin in der Fischindustrie

berichtete, dass sie in den 1930er Jahren

45 Pfennig in der Stunde verdiente, Männer

erhielten mehr als das Doppelte.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde bereits

im Grundgesetz geregelt, dass es keine

unterschiedliche Entlohnung der Geschlech-

einigkeit 6 /2015

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FRAUEN

ter geben dürfe. Der Grundsatz wurde 1957

durch den EWG-Vertrag erhärtet und 1975

durch zwei EG-Richtlinien bekräftigt.

1955 urteilte das Bundesarbeitsgericht,

dass es gleichen Lohn für die gleiche Arbeit

für Männer und Frauen geben müsse. Elisabeth

Ostermeier, seit 1954 als erste Frau

Hauptvorstandsmitglied der NGG, überprüfte

sofort alle betrieblichen Tarifverträge und

stellte dabei u. a. Lohnungleichheit in der

Süßwarenindustrie fest. Insgesamt lag der

Verdienst der weiblichen NGG-Mitglieder damals

rund 37 Prozent unter dem der Männer.

Foto: NGG

Foto: NGG

1975 verfasste Ruth Köhn, damals Mitglied

des Geschäftsführenden Hauptvorstandes,

die Broschüre „Der Lohn der Frauen unter

die Lupe genommen“ und beschrieb darin,

dass Leichtlohngruppen automatisch als die

entsprechende Kategorie für Frauen interpretiert

wurden. Obwohl seit dem BAG-Urteil

von 1955 diese „Frauengruppen“ nicht mehr

zulässig waren, waren die Frauen zumeist in

der untersten Tarifgruppe eingruppiert. Erst

ab 1965 gelang es, Frauen besser einzugruppieren.

Trotz aller Bemühungen, die Lohnungleichheit

ist geblieben. Ein spektakulärer Fall war

der der „Heinze-Frauen“, die 1981 in dritter

Instanz vor das Bundesarbeitsgericht zogen

und die gleiche Bezahlung erstritten. Sie

wurden dabei von ihrem Betriebsratsvorsitzenden

unterstützt, über 45.000 Menschen

zeigten sich in einer Unterschriftenaktion

mit ihnen solidarisch, und der Erfolg ihrer

Klage löste eine weitere Klageflut gegen

ArbeitgeberInnen aus, die ungleiche Arbeitsentgelte

und Zuschläge zahlten.

Bundesfrauenkonferenz 2007 in Erkner

Dazu gehörten auch 16 Frauen aus dem Oetker-Werk

„Dibona“ in Bargteheide, die 1980

mit NGG vor das Lübecker Arbeitsgericht

zogen. Die Frauen waren in der untersten

Lohngruppe IV für leichtere Arbeiten eingruppiert

und bekamen 7,98 DM pro Stunde.

Die Männer erhielten 9,50 DM in der Stunde

(Lohngruppe II für angelernte Arbeitnehmer).

„ Es gab kein Urteil“, erinnert sich Elisabeth

Bothfeld, ehemalige Bundesfrauensekretärin

der NGG, „das Gericht machte die Auflage,

einen Tarifvertrag zu schließen, der die

ungerechte Bezahlung aufhebt. Das ist dann

in der Folge mit dem Tarifvertrag Nährmittelindustrie

Schleswig-Holstein geschehen.“

2003 erstritten sich acht teilzeitbeschäftigte

Frauen der Neukircher Zwieback GmbH vor

dem Bundesarbeitsgericht das volle Weihnachtsgeld.

Sie hatten de facto regelmäßig

acht Stunden und mehr gearbeitet und

mussten daher den Vollzeitbeschäftigten

gleichgestellt werden.

Durch alle Bundesfrauenkonferenzen zieht

sich der rote Faden: Die NGG-Frauen haben

nie lockergelassen mit ihrer Forderung nach

gleichem Entgelt für gleiche und gleichwertige

Arbeit. Diese Anträge wurden an den jeweils

folgenden Gewerkschaftstag weitergeleitet

und auch dort in der Regel einstimmig

beschlossen. Warum haben wir dann noch

Entgeltdifferenzen? Was sind die Ursachen?

Ist es wie im Fall Dibona der Tarifvertrag, der

bereits Entgeltdiskriminierung enthält?

Der 15. Ordentliche Gewerkschaftstag 2013

hat mit dem Antrag B 1 beschlossen, dass

NGG in „Tarifverträgen die Grundlage für

geschlechterneutrale Eingruppierungen und

Arbeitsbedingungen im Betrieb schaffen

wird. Es wird eine Offensive gestartet, um

diskriminierungsfreie Eingruppierungen

und Arbeitsbedingungen zu erreichen. Und

bestehende Tarifverträge werden auf eventuelle

unmittelbare bzw. mittelbare Diskriminierungssachverhalte

mittels des Prüfinstrumentes

‚eg-check.de‘ überprüft. Erstmals zu

verhandelnde Tarifverträge müssen in jeder

Hinsicht unmittelbar und mittelbar diskriminierungsfrei

sein“.

Aktion für Entgeltgleichheit auf dem Gewerkschaftstag 2008 in Berlin

Michaela Rosenberger, NGG-Vorsitzende:

„Wir werden 2016 einen Prozess starten

und in allen Landesbezirken Projekte zur

Überprüfung eines ausgewählten Tarifvertrages

initiieren. Das ist der Anfang,

der Prozess wird ein langwieriger werden,

denn wir haben sehr viele Tarifverträge

zu überprüfen. Unsere Frauen hatten und

haben einen langen Atem, sie haben in der

Forderung nach gleichem Entgelt für gleiche

und gleichwertige Arbeit nie aufgegeben.

Jetzt wird die gesamte Organisation diesen

Prozess mittragen.“

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SENIOREN

„NGG war immer aktiv dabei“

Foto: Peter Bisping

Uwe Westphal

Wer über die Seniorenpolitik der NGG berichten

will, kommt an Uwe Westphal (77) nicht

vorbei. Der ehemalige, langjährige Revisor

der NGG-Hauptkasse und stellvertretende

Betriebsratsvorsitzende der Bavaria St. Pauli

Brauerei in Hamburg engagiert sich seit

vielen Jahren in der Seniorenarbeit.

Warum und seit wann gibt es Seniorenarbeit

bei NGG?

Man kann die Interessen von Menschen nur

berücksichtigen, wenn sie in der Organisation

auch vertreten werden. Bei NGG gab

es erstmals Mitte der 1960er Jahre Seniorenarbeit.

Anfangs kam man wegen der

Geselligkeit zusammen, aber zum Beispiel in

den NGG-Regionen in Aachen, Hamburg und

Mainz gab es schon sehr früh auch Diskussionen

über politische Themen wie Rentenoder

Gesundheitspolitik.

Wie wurde die Seniorenarbeit auf eigene

Beine gestellt?

NGG hat 2005 einen „Arbeitskreis Seniorenpolitik“

eingerichtet. Unsere damals noch

stellvertretende NGG-Vorsitzende Michaela

Rosenberger hat mich gefragt, ob ich da

nicht mitmachen wolle, so für ein Jahr. Das

ist jetzt zehn Jahre her. Und das Ganze ist

mittlerweile eine feste Institution, mit je

einer/m Kolleg/in pro Landesbezirk. Wir

haben Richtlinien erarbeitet und für die Kolleginnen

und Kollegen eine kleine Broschüre

erstellt, wie sich Seniorenarbeit vor Ort in

den NGG-Regionen konkret gestalten lässt.

Natürlich ist Seniorenarbeit in Ballungszentren

viel einfacher als auf dem platten Land.

Mittlerweile gibt es aber bundesweit schon

20 bis 25 solcher NGG-Seniorenarbeitskreise.

Die Fragen, die die Seniorinnen und

Senioren beschäftigen, sind teils organisatorischer

Natur: „Wo finden wir Referenten?

Was machen wir genau? Wie lässt sich eine

Kurzreise durchführen? Wo gibt es passende

Räumlichkeiten?“ und teils inhaltlichpolitisch

motiviert. Schließlich haben die

Arbeitskreismitglieder, die übrigens aus allen

NGG-Branchen kommen, durchweg eine

Betriebsratsvergangenheit.

Da wird nicht

geschwafelt,

sondern sachlich-fundiert

diskutiert.

Welche künftigen

Ziele haben

die NGG-Seniorinnen

und

-Senioren?

Wir wollen,

dass die

Seniorinnen

und Senioren

einem eigenen Wagen teil.

noch stärker in

den NGG-Strukturen berücksichtigt werden.

Am liebsten wollen wir Sitz und Stimme im

Hauptvorstand und in den NGG-Landesbezirken

vertreten sein. Bisher ist das nur in den

Regionsvorständen der Fall.

Ein weiteres wichtiges Anliegen von uns ist

es, zu verhindern, dass das Rentenniveau

noch weiter abgesenkt wird. Die heutigen

Jungrentner haben prozentual ja schon

weniger Geld als ältere Rentnerinnen und

Rentner. Wenn das so weitergeht, dann wird

2040 Altersarmut gang und gäbe sein.

Was mich freut, ist, dass wir mittlerweile

mehr Einfluss haben und auch als NGG

stärker wahrgenommen werden. Aber wir

müssen noch mehr tun für unser Image und

wir müssen uns um die Mobilisierung der

Jugend kümmern.

Uwe, Du bist selber Rentner. Welche Gründe

gibt es, auch nach dem Arbeitsleben noch

aktives NGG-Mitglied zu bleiben?

Manche sind so verrückt wie ich, denen

August 2015: Am Weinfest in Nierstein nahmen die SeniorInnen der NGG-Region Darmstadt & Mainz mit

macht das einfach Spaß. Manche sind auch

alleine und freuen sich, einmal im Monat

unter Menschen zu kommen und sich

auszutauschen. Und das Schöne ist: Bei uns

wird man immer über aktuelle politische

Themen informiert. Nächstes Jahr bin ich 50

Jahre NGG-Mitglied: Ich kann nicht aufhören,

sonst verrät man den ganzen Verein.

Foto: NGG

Liebe NGG,

wir gratulieren Euch

von ganzem Herzen

und wünschen ein

leckeres Jubiläum!

150 Jahre Arbeit vom Feinsten! www.ace-online.de

Der Autoclub der Gewerkschaften

einigkeit 6 /2015

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Foto: NGG / Cintula

INTERNATIONALES

Internationale Solidarität

April 2014: Auf einer Demonstartion des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB) in Brüssel demonstrierten rund 50.000

Menschen, darunter auch NGG-Mitglieder, gegen die rigide Sparpolitik der Europäischen Union.

Als 1865 der Vorläufer der Gewerkschaft

NGG, der Allgemeine Deutsche Cigarrenarbeiter-Verein

(ADCAV) gegründet wurde, war

dies Teil eines allgemeinen Aufbruchs der

Zigarrenarbeiter nicht nur in Deutschland.

Die industrielle Revolution hatte die

LohnarbeiterInnen Mitte des 19. Jahrhunderts

in ganz Europa in unbeschreibliche Not

getrieben. Bei den Zigarrenarbeitern, die

während ihrer lautlosen Arbeit gut nebenbei

diskutieren und einem Vorleser aus den

eigenen Reihen – noch heute das NGG-Symbol

für Solidarität in der Arbeitswelt – lauschen

konnten, zeigte sich als erstes ein

politischer Radikalismus. Es war ein

Radikalismus, der notwendig war, um sich

aus den schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen

und aus der Armut zu emanzipieren.

Überdies waren die Zigarrenarbeiter

schon früh mobil auf dem europäischen

Arbeitsmarkt, so dass sie auch außerhalb

Deutschlands Teil einer mehr oder minder

solidarischen Arbeiterbewegung wurden.

Viele gingen regelmäßig für mehrere Monate

nach Amsterdam, Antwerpen oder London,

manche trieb die Wanderlust gar nach New

York.

1889 war für die internationale Arbeiterbewegung

ein besonderes Jahr: Am 3. November

kamen Tabakarbeiter aus Belgien und

den Niederlanden in Den Haag zusammen,

um Möglichkeiten einer wirkungsvolleren

Zusammenarbeit auf internationaler Ebene

zu erörtern. Im darauffolgenden Jahr wurde

die Internationale Vereinigung von Zigarrenund

Tabakarbeitern gegründet, das erste

offizielle internationale Instrument für

gemeinsames Vorgehen der ArbeitnehmerInnen

der heute in der IUL vertretenen

Branchen. Ein weiterer Vorläufer der

heutigen IUL (engl. IUF), der Internationalen

Union der Lebensmittel, Landwirtschafts-,

Hotel-, Restaurant-, Café und Genussmittelarbeiter-Gewerkschaften,

der auch NGG

angehört, war das 1907 gegründete

„Internationale Sekretariat der Bäcker,

Konditoren und verwandter Berufsgenossen“.

Es folgten 1908 das Internationale

Sekretariat der Brauereiarbeiter und die

Internationale Union der Hotel-, Restaurantund

Caféangestellten und schließlich 1913

die Fleischer.

Der Gedanke einer internationalen Solidarität

erfuhr jedoch eine herbe Niederlage, als

1914 der Erste Weltkrieg begann und man

gegen andere Nationen ins Feld zog. Obwohl

die internationalen Organisationen während

des Krieges zerfielen, arbeiteten die

Foto: Knoth

deutschen Sekretariate weiter. Aber es war

nach 1918 nicht ganz einfach, auf internationaler

Ebene wieder zusammenzukommen. Es

herrschten starke Vorbehalte gegenüber den

deutschen Gewerkschaften. Letztlich

obsiegte jedoch die Einsicht in die praktischen

Notwendigkeiten einer internationalen

Zusammenarbeit.

Die IUL entsteht

Am 25. August 1920 trat in Zürich die

Gründungskonferenz der IUL, der Internationalen

Union der Organisationen der Arbeiter

und Arbeiterinnen der Lebens- und Genussmittelindustrie,

zusammen. Vertreten waren

die Internationalen der Bäcker, Brauer und

Fleischer aus Deutschland, Belgien,

Frankreich, Schweiz, Ungarn, Tschechoslowakei,

Italien, Niederlande, Österreich,

Dänemark, Norwegen und Schweden sowie

ein Gast aus den USA. Die Tabakarbeiter

schlossen sich erst 1958, die gastgewerblichen

Angestellten 1961 der IUL an.

Neben einem erfolgreichen Boykott gegen

die Schweizer Schokoladenfirma PCK, einer

Nestlé-Tochter, die die gewerkschaftliche

Organisation ihrer 800-köpfigen Belegschaft

behindern wollte, widmete sich die IUL

zunächst vor allem zwei Themen: dem Kampf

für das Nachtbackverbot und dem für eine

internationale Regelung zur Traglastbegrenzung.

Erreicht wurde eine internationale

Übereinkunft, die die Nachtarbeit in

Bäckereien zwischen 22 und 5 Uhr verbot.

Was die Traglast betraf, so schwankte das

Gewicht der Säcke – je nach Land und

Branche – zwischen 75 und 150 kg. Wirbelsäulenverkrümmungen,

Unterleibsbrüche,

Krampfadern und zahlreiche Unfälle waren

die Folge. Bis 1931 gelang es jedoch nicht,

das Internationale Arbeitsamt dazu zu

bewegen, das Thema überhaupt auf seinen

Konferenzen zu erörtern.

In bester Tradition präsentiert sich die

NGG seit 150 Jahren im Kampf um die

Verteidigung von Arbeiterrechten und

die Verbesserung der Leben von Arbeitnehmern.

Ihr habt bedeutende Vorteile

für Arbeitnehmer in Deutschland errungen

und als wichtiges und dynamisches

Mitglied der IUL auch global die Leben von

Arbeitnehmern verbessert. Ich wünsche

euch weiterhin viel Erfolg im Kampf für

eure Mitglieder in Deutschland aber auch

alle unsere Mitglieder weltweit.

Ron Oswald,

IUL-Generalsekretär

34

einigkeit 6 /2015


INTERNATIONALES

IUL - eine Stütze des Widerstands in

Nazi-Deutschland

1933, nach der Machtergreifung der

Nationalsozialisten, wurden die freien

Gewerkschaften in Deutschland zerschlagen.

Die Folgen machten sich auch international

sogleich bemerkbar. Ein Arbeitskampf

in den luxemburgischen Brauereien scheiterte

am Einsatz von deutschen Streikbrechern.

Die Exekutive der IUL beschloss das

Ausscheiden des deutschen Verbandes,

sicherte aber jenen Kollegen moralische und

finanzielle Unterstützung zu, die „dem

Gedanken der internationalen Gewerkschaftsbewegung

treu geblieben sind“.

Hierzu gehörte auch Alfred Fitz, bis 1933

2. Vorsitzender des Verbands der Nahrungsmittel-

und Getränkearbeiter. Mit Hilfe der

IUL baute er ein illegales Netz von Vertrauensleuten

auf, die illegale Schriften der

Exil-SPD verteilten und der IUL über die

Stimmung in Deutschland und in deutschen

Betrieben berichteten. 1936 wurde ein

Großteil des Netzes von der

Gestapo zerschlagen. Zum Teil

wurde die illegale Arbeit

danach vom Ausland aus

nach Deutschland hinein

betrieben. Mit Beginn des

Zweiten Weltkrieges 1939

gestaltete sich dies

zunehmend schwieriger,

dennoch „überlebte [die IUL] den

Krieg nicht etwa in einem Zustand der

Lethargie, sondern stets sprungbereit,

wollten. Die Geschichte der Gewerkschaft

Nahrung-Genuss-Gaststätten“, S. 496)

„Ich habe bei NGG 163 Streiks organisiert. Für mich war das Schönste, als ich im November

2005 bei Gate Gourmet beim Streik war und die Streikenden mitgenommen

habe zu Nestlé in Marseille. Da sollte das Werk geschlossen werden. Die Kolleginnen

und Kollegen waren seit einem Jahr im Widerstand gegen die Werksschließung. Die

haben sich riesig gefreut, dass wir 1.500 Kilometer gefahren sind, um sie zu unterstützen:

Das ist gelebte internationale Solidarität! Nachdem die Kollegen bei Nestlé

ihren Kampf erfolgreich beendet hatten, haben sie mir ein Dankesschreiben geschickt,

das mir die Tränen in die Augen getrieben hat. Für solche Momente habe ich Gewerkschaftsarbeit

gemacht!“

Jürgen Hinzer, ehemaliger Gewerkschaftssekretär und Bundesstreikbeauftragter

Foto: IG Metall

150 Jahre NGG – Einig, solidarisch, stark!

Im Namen der IG Metall gratuliere ich

unserer älteren Schwester NGG zu ihrem

150-jährigen Bestehen. Seit Eurer Gründung

tretet Ihr mit großem Engagement,

Mut und oft in einem schwierigen Umfeld

für faire Arbeit und ein gutes Leben der Beschäftigten

ein: ob als wichtige Vorreiterin

für den gesetzlichen Mindestlohn oder im

tagtäglichen Einsatz der vielen engagierten

Kolleginnen und Kollegen vor Ort. Ich

wünsche Euch, dass Ihr diese solidarische

und erfolgreiche Gewerkschaftsarbeit

fortsetzt – und freue mich auf die Zusammenarbeit im DGB!

Jörg Hofmann,

Vorsitzender der IG Metall

Was die Wiedereingliederung der NGG in die

internationale Gemeinschaft der Gewerkschaften

betrifft, so ist sicherlich das Jahr

1953 hervorzuheben. Auf Anregung Hans

Nätschers, des damaligen 1. Vorsitzendenden

der NGG (s. S. 10), beschloss die IUL,

eine eigene Fachgruppe Tabak einzurichten.

Nätscher wurde Präsident der Fachgruppe,

1958 dann auch der IUL.

Im Laufe der folgenden Jahrzehnte nahm die

NGG, zumeist vertreten durch ihren (1.)

Vorsitzenden oder dessen Vorstandssekretär,

ihren festen Platz in den Gremien der IUL

ein.

Da es immer mehr Auseinandersetzungen

mit multinationalen Konzernen gab, war die

IUL bemüht, auf den verschiedenen Kontinenten

Regionalbüros einzurichten: auch

finanziell eine nicht ganz leichte Aufgabe.

Mit der Drohung, die Produktion in Steueroasen

zu verlagern, versuchten die Konzerne,

die Arbeiterschaft und sogar Regierungen

gefügig zu machen. Nationale Gewerkschaften

vermochten und vermögen da oft

nur wenig auszurichten. Auch darum war

und ist es eine der Aufgaben der IUL, die

ArbeitnehmervertreterInnen vor Ort zu

unterstützen und zu internationalen

Solidaritätsaktionen aufzurufen.

helfend und stützend, wo immer im Rahmen

ihrer Zuständigkeit sich eine Möglichkeit bot

[…]. Mit Zuversicht können die organisierten

Lebens- und Genussmittelarbeiter den Tag

erwarten, an dem ihre Internationale Union,

in noch höherem Ausmaß wie [sic] vor dem

Krieg, die Berufsorganisationen aller Länder

vereinigen wird, um für den Aufstieg und die

Befreiung der Arbeiterklasse von aller

Bedrückung zu kämpfen.“ (s. Willy Buschak:

„Von Menschen, die wie Menschen leben

Internationale Arbeit seit 1945

Dieser scheinbar ungebrochenen internationalen

Arbeitersolidarität ist es wohl zu

danken, dass der IUL-Kongress - ungeachtet

der fürchterlichen Verbrechen, die

Deutschland während des Zweiten

Weltkrieges verübt hatte, - im Juli

1946 beschloss, den neuen deutschen

Gewerkschaften alle Hilfe zu

geben und sie wieder in die Internationale

aufzunehmen, sobald sie einen

entsprechenden Antrag stellen sollten. Wie

groß auch in Deutschland der Wunsch nach

dauerhaftem Frieden und der Wiederaufnahme

in die Völkergemeinschaft war, wurde

auch auf dem Gründungsverbandstag der

NGG 1949 in München deutlich. Günter

Pufal, 1. Vorsitzender der NGG: „[…] Als

Grundpfeiler, worauf wir dieses Haus

errichten, lassen Sie uns die Begriffe

Freundschaft, Vertrauen, Solidarität,

Humanität setzen […]. Lassen Sie uns frei

von jeder Parteipolitik für die Völkerverständigung

und für die Sicherung des Weltfriedens

werben.“

Die EFFAT in Europa

Die heutige Europäische Gewerkschaftsföderation

für den Landwirtschafts-, Nahrungsmittel-

und Tourismussektor EFFAT basiert

auf dem 1980 gegründeten IUL-Ausschuss

EAL und der europäischen Gewerkschaftsföderation

EFA. Beide fusionierten im Jahr

2000 zu einer europäischen Dachorganisation

nationaler Gewerkschaften, darunter

auch NGG. Eine der wichtigen Aufgaben der

EFFAT ist die Unterstützung bei der Gründung

einigkeit 6 /2015

35


Menschen

machen

sich stark!

INTERNATIONALES

Europäischer Betriebsräte. In den vergangenen

Jahren ist dies in mehr als 100 Konzernen

gelungen.

Die in Brüssel ansässige EFFAT vertritt

derzeit die Interessen der Mitglieder von 120

nationalen Gewerkschaften in 35 europäischen

Ländern (www.effat.org). Die IUL,

angesiedelt in Genf, macht sich mit ihren

409 Mitgliedsverbänden für deren Mitglieder

in 126 Ländern stark (www.iuf.org).

Die immer stärkere Internationalisierung der

Ernährungsindustrie und des Gastgewerbes

ist Anlass für NGG, auch personell zu

reagieren. Mit Peter Schmidt, dem langjährigen

Vorsitzenden des Europäischen Betriebsrats

bei Nestlé, hat NGG einen

international versierten Kollegen für die

internationale Arbeit gewonnen. Peter

Schmidt: „Die internationale Arbeit muss in

Zukunft eine größere Bedeutung und Rolle

haben. Zum einen werden politische

Entscheidungen immer seltener von den

nationalen Regierungen getroffen, vielmehr

finden Entscheidungen in Brüssel statt. Zum

anderen entstehen immer mehr multinationale

und europäische Konzerne. Nationale

und regionale Unternehmensführungen

können keine Entscheidungen mehr treffen,

diese finden in den Konzernzentralen statt.

Foto: Knoth

Es muss uns gelingen, gewerkschaftliche

Strukturen auf diesen Ebenen aufzubauen,

um Einfluss auf die Unternehmenspolitik

beziehungsweise Europäische Politik zu

nehmen. Hierzu müssen sich die Gewerkschaften

besser untereinander koordinieren

und vor allem grenzübergreifend kooperieren.

Ebenso werden mehr Europa- und

weltweite Kampagnen gegen Konzerne

geführt werden müssen und schließlich

müssen die europäischen Betriebsräte von

den Gewerkschaften stärker unterstützt

werden.“

Ein herzliches Glückauf!

Wenn die Geschichte der Arbeiterbewegung

eines lehrt, dann vor allem dies:

Den Arbeitnehmern ist nie etwas geschenkt

worden. Soziale Wohltaten sind

nie vom Himmel gefallen. Es gab sie, weil

die Arbeitnehmer sich in Gewerkschaften

zusammengeschlossen haben und gemeinsam

für ihre Rechte gekämpft haben.

Die Zukunft kommt von alleine, sozialer

Fortschritt nur mit uns - mit NGG und

EFFAT.

Harald Wiedenhofer,

EFFAT-Generalsekretär

Foto: NGG / Cintula

EFFAT-Kongress 2009 in Berlin

36

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