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Veranstaltungen des Sächsischen Landtags Heft 55
FESTAKT
zum Tag der
Deutschen Einheit am
3. Oktober 2013
FESTAKT
zum Tag der
Deutschen Einheit am
3. Oktober 2013
Musikalische Umrahmung:
Robert-Schumann-Quartett:
Hartmut Schill – 1. Violine
Katarzyna Radomska – 2. Violine
Ulla Walenta – Viola
Tilman Trüdinger – Violoncello
Herausgegeben vom Sächsischen Landtag
Inhalt
Begrüßungsansprache
des Präsidenten des Sächsischen Landtags
Dr. Matthias Rößler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6
Ansprache
des Ministerpräsidenten des Freistaates Sachsen
Stanislaw Tillich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
Festrede
Joachim Reinelt
Bischof em. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
Impressum:
Herausgeber: Sächsischer Landtag,
Bernhard-von-Lindenau-Platz 1, 01067 Dresden
V. i. S. d. P.: Ivo Klatte, Sächsischer Landtag
Redakteurin: Christin Morgenstern
Fotos: Steffen Füssel
Gestaltung, Satz: www.oe-grafik.de
Druck: Sächsischer Landtag
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Begrüßungsansprache
des Präsidenten des Sächsischen Landtags
Dr. Matthias Rößler
Ich werde nie vergessen, wie Bischof Joachim Reinelt an diesem Abend zu
uns sagte, dass in Leipzig die Schützenpanzerwagen abziehen und dass
alles friedlich bleiben wird. Die Zeit schien den Atem angehalten zu haben.
Eine Entscheidung von historischer Tragweite war gefällt. In dieser Weltminute
hat sich deutsche und europäische Geschichte entschieden. Was niemand
von uns wusste: Der Stein, der an jenem Abend – bildlich gesprochen – aus
der Mauer gebrochen wurde, ist zum Meilenstein auf dem Wege zur Deutschen
Einheit und zur Wiedererrichtung des Freistaates Sachsen geworden.
Ich freue mich, dass Sie meiner Einladung zur Feierstunde des Sächsischen
Landtags aus diesem Anlass gefolgt sind, und begrüße Sie hier im
Plenarsaal unseres Parlamentes ganz herzlich.
Ich begrüße unseren Ministerpräsidenten Stanislaw Tillich, die Präsidentin
unseres Verfassungsgerichtshofes Birgit Munz und meinen hochverehrten
Amtsvorgänger Erich Iltgen.
Ich begrüße die Abgeordneten des Europäischen Parlamentes, des
Deutschen Bundestages und des Sächsischen Landtags sowie ehemalige
Abgeordnete.
Ich freue mich über die Anwesenheit von aktiven und ehemaligen Mitgliedern
der Staatsregierung und des Verfassungsgerichtshofes.
Ich begrüße die Vertreter des konsularischen Korps, der Kirchen und
Religionsgemeinschaften, der Städte und Landkreise, den Präsidenten des
Sächsischen Rechnungshofes, die Vertreter der Bundeswehr, von Universitäten
und Hochschulen, der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen,
der sorbischen Minderheit in unserem Freistaat, der Medien sowie
viele weitere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens.
Besonders freue ich mich, dass an unserer heutigen Feierstunde auch
Gäste aus dem Landtag Nordrhein-Westfalen unter der Leitung seines
Vizepräsidenten Eckhard Uhlenberg teilnehmen.
| 6 | Begrüßungsansprache des Landtagspräsidenten
Seien Sie alle recht herzlich zum Festakt anlässlich des Tages der Deutschen
Einheit und – das ist das Besondere an Sachsen – der Wiedergründung des
Freistaates Sachsen im Sächsischen Landtag willkommen.
Seit nunmehr 23 Jahren sind wir Deutschen wieder eine ungeteilte Nation.
Sachsen ist nach sechs Jahrzehnten nationalsozialistischer und kommunistischer
Gewaltherrschaft – wie es in der Präambel unserer Sächsischen
Verfassung heißt – als Freistaat der Bundesrepublik Deutschland in die
europäische Geschichte zurückgekehrt.
Am 27. Oktober 1990 hat die konstituierende Sitzung des Sächsischen
Landtags in der Dreikönigskirche stattgefunden. Dort ist 1992 auch die Säch -
sische Verfassung verabschiedet worden. In Sachsen passte eine Nutzung
des Kirchengebäudes auch wegen der wichtigen Rolle ins Bild, welche die
Kirchen in der Friedlichen Revolution gespielt haben. Viele Demonstrationen
entwickelten sich aus den Kirchen. Hier wurde regelmäßig zum friedlichen
Wandel der Gesellschaft aufgerufen.
Begrüßungsansprache des Landtagspräsidenten | 7|
| 8 | Begrüßungsansprache des Landtagspräsidenten
Meine Generation hat Kirche und persönlichen Glaubensvollzug in der
Auseinandersetzung mit dem sozialistischen Staat in den Achtzigerjahren
erlebt. Damit wurde immer wieder die Frage verbunden, ob das Zurückziehen
in Nischen, der Verzicht auf Karriere und die Verweigerung gegenüber
dem kommunistischen System schon passiver Widerstand oder gar Opposition
gewesen sind. Ich selbst habe vor 1989 nicht zur organisierten Opposition
gehört. Aber mit Tausenden von jungen Menschen besuchte ich im
Rahmen der Aktion »Schwerter zu Pflugscharen« – dem Symbol der Friedensbewegung
– an jenem 13. Februar 1982 die Kreuzkirche. Freya Klier
hat diesem Tag in ihrem Buch »Kalenderblätter« ein literarisches Denkmal
gesetzt. Unter dem schützenden Dach der Kirche leisteten wir Widerstand
gegen den Bau des Reinstsiliziumwerkes Dresden und andere Umweltzerstörungen,
bei denen die Umweltbewegung auch dank des Untergangs der
DDR letztendlich erfolgreich war.
Schlüsselerlebnisse brachte das Jahr 1989. Zu den Themen »Bewahrung der
Schöpfung« und »Bergpredigt« habe ich Oppositionsgruppen erlebt und
das Gefühl der Gemeinsamkeit unter Gleichgesinnten auf dem Leipziger
Kirchentag. Durch die Propaganda der atheistischen Ideologie rückten die
Christen beider Konfessionen näher zusammen und bemühten sich um
ökumenische Gemeinsamkeiten, die zu einem Zeugnis christlichen Lebens
wurden. Die ökumenische Versammlung 1988/89 war ein gemeinsamer Ver -
such zur christlichen Bewältigung der Probleme der untergehenden DDR
aus dem Geist des Evangeliums heraus.
Meine Damen und Herren, die Sächsische Verfassung nahm Anregungen
aus dieser Zeit in Präambel und Verfassungstext auf. Sie schuf damit die
Wertebasis für ein gemeinsames Menschen- und Weltverständnis, das uns
Sachsen zusammenhält, Christen und Nichtchristen. Sie würdigt gleichzeitig
die historische Rolle der Kirchen im Vorfeld der Friedlichen Revolution,
Andersdenkenden und Hilfesuchenden Dach und Schutz gewesen zu sein,
und ermutigt damit auch heute.
Dieser Bezug zur Verfassung unseres Freistaates stellt zugleich auch
eine Verbindung zum Festredner der heutigen Veranstaltung her. Vor zwei
Jahren hatte ich die Ehre, Herrn Bischof Joachim Reinelt für seine besonderen
Verdienste um die freiheitliche demokratische Entwicklung die Sächsische
Verfassungsmedaille zu verleihen. Heute begrüße ich ihn als Ehrengast
und Festredner in unserer Mitte.
Als Joachim Reinelt im vorigen Jahr in den wohlverdienten Ruhestand ein -
getreten ist, konnte er auf eine 24-jährige Amtszeit als Bischof seines Bistums
Dresden-Meißen zurückblicken. Damit gehörte er nicht nur zu den
dienst ältesten deutschen Bischöfen. Er war Seelsorger und geistlicher Wür -
denträger in der Zeit der Diktatur, als es keine freien Wahlen, Meinungs-,
Presse- und Gewissensfreiheit gab und auch Religions- oder Bildungsfreiheit
nur Lippenbekenntnisse der damaligen Machthaber waren. Bischof Reinelt
war ein wichtiger Wegbereiter der Friedlichen Revolution und Begleiter dieser
Entwicklung zu einem selbstbestimmten Leben, in dem offene Grenzen,
Meinungs- und Wahlfreiheit zu den bleibenden Errungenschaften gehören.
Die Tage im Herbst 1989 forderten auch ihn als Bischof zum Handeln
heraus. Er musste uns, die wir in den Kirchen zusammengeströmt waren,
beruhigen und gleichzeitig ermutigen. Er musste vermitteln zwischen uns
Demonstranten auf der einen Seite sowie der Volkspolizei und staatlichen
Stellen auf der anderen. Und er musste übermitteln wie an jenem denk-
Begrüßungsansprache des Landtagspräsidenten | 9|
| 10 | Begrüßungsansprache des Landtagspräsidenten
würdigen 9. Oktober in der Dresdner Hofkirche, als er zu rund 8.000 Menschen
in der Kirche und zu Tausenden davor sprach.
Ich stand damals in seiner Nähe, als ihn die Bitte erreichte, den Demonstranten
mitzuteilen, dass die SED-Führung einsichtig sei, Gesprächsbereitschaft
signalisiere und nicht mehr beabsichtige, mit Volkspolizei, Kampfgruppen
und Nationaler Volksarmee gegen die Demonstranten in Leipzig,
Dresden, Karl-Marx-Stadt und Plauen vorzugehen. Mit seinen Worten machte
er den Menschen Mut und mahnte zur Besonnenheit. Dieser Abend war
ganz gewiss auch für ihn ein Schlüsselerlebnis.
Ich hatte damals meine schweißnassen Hände in den Taschen meiner
Studentenkutte geballt. Erstmals habe ich an Bischof Reinelt dieses fröhliche
Gottvertrauen bewundert, das ich bei jeder unserer Begegnungen
immer wieder spüre und das so wunderbar auf andere Menschen übergreift.
Mut machte er den Christen im Bistum Dresden-Meißen wenige Tage
später auch mit seinem viel beachteten Hirtenbrief, der zu Zivilcourage
aufrief und Reisefreiheit, gesellschaftliche Pluralität sowie Gewalt-, Meinungs-
und Pressefreiheit forderte. »Jetzt ist eine Zeit zum Reden«, hieß es
damals in seinem Hirtenbrief. »Jetzt ist eine Zeit zum Reden.« Für ihn sind
diese Worte auch heute noch ein wichtiger Grundsatz. Sein stets offenes
Ohr für die Anliegen anderer, auch der Politiker, ist seit Langem bekannt.
Er hat immer seine Unterstützung gegeben.
Sehr geehrte Damen und Herren, Bischof Joachim Reinelt gilt zweifellos
als ein Mann, der sich seit seiner Weihe zum Bischof im Jahre 1988 aus der
ganzen Kraft seines Glaubens und der Weltverantwortung der Christen
heraus beharrlich in die Gestaltung unserer Gesellschaft eingebracht hat.
So übernahm er in der Deutschen Bischofskonferenz sowohl in der Kommission
für gesellschaftliche und soziale Fragen als auch in der Kommission
für karitative Fragen eine führende Rolle.
Immer wieder setzte er sich für die Sicherung der Errungenschaften der
Friedlichen Revolution und das Zusammenwachsen der Deutschen im wiedervereinigten
Vaterland ein. Ich denke hier unter anderem an seine Erklärungen
zu Landtags- und Bundestagswahlen, seine Fürbitten und Gebete
für politische Verantwortungsträger, seine festlichen Dankgottesdienste
anlässlich des 20. Jahrestages der Friedlichen Revolution und der Konstituierung
des Sächsischen Landtags.
Denkanstöße in die Politik einzubringen – und damit komme ich zum
Schluss – hat er als eine bleibende Aufgabe verstanden, gerade in der heu-
tigen Gesellschaft, die um Orientierung, Halt und innere Stützung bei der
Wahrung ethischer und moralischer Werte zu ringen hat.
»Jetzt ist eine Zeit zum Reden, auch hier und heute.« Dafür danke ich
unserem Festredner, unserem Ministerpräsidenten und dafür danke ich
Ihnen allen.
Begrüßungsansprache des Landtagspräsidenten | 11 |
Ansprache
des Ministerpräsidenten des Freistaates Sachsen
Stanislaw Tillich
Sehr geehrter Herr Landtagspräsident Rößler,
sehr geehrter Herr Vizepräsident Uhlenberg,
sehr geehrter Herr Bischof Reinelt,
sehr geehrte Frau Präsidentin des Sächsischen
Verfassungsgerichtshofes Munz,
meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordneten,
»Jetzt ist eine Zeit zum Reden.« – Ich möchte diesen Satz aus Ihrer Rede,
verehrter Herr Landtagspräsident, gern aufgreifen. Wie Worte, wie Reden
wirken können, diese Erfahrung kennen wir aus der Friedlichen Revolution
von 1989. Aber wir wissen auch, dass Worte manchmal nichts mehr ausrichten
können.
Das lehrt uns die Geschichte des Volksaufstandes in der DDR vom 17. Juni
1953. Wir haben in diesem Sommer der Opfer gedacht, die vor 60 Jahren
auf die Straße gegangen sind, damit ihre Worte gehört werden. Sie wurden
von Panzern und Gewehren übertönt. Eine Losung damals hieß: »Wir wollen
freie Menschen sein!«. Gemeint war damit auch: Wir wollen nicht mehr
schweigen in der Diktatur. Wir wollen das sagen können, was wir meinen
– ohne Gefahr für Leib und Leben. Zurück blieben von Panzern niedergewalzte
Hoffnungen. Angst und Terror hielten das Land für lange Zeit eisern
im Griff. Und diese dramatische, ja traumatische Situation brannte sich
damals tief in die Köpfe und Herzen der Menschen ein.
So schreibt eine Bürgerin aus Girbigsdorf bei Görlitz am Abend des 17. Juni
1953 in ihr Tagebuch: »Wir legen unser Schicksal in Gottes Hände.« 1
36 Jahre später kam die Zeit, in der die Menschen in der DDR ihr Schicksal
in ihre eigenen Hände nehmen konnten. Es war eine Zeit, in der Worte
wiedergefunden wurden, um die Sprachlosigkeit und die Angst von vier
| 12 | Ansprache des Ministerpräsidenten
Jahrzehnten sozialistischer Diktatur zu überwinden. Es war eine Zeit, um
Mauern zu überwinden, um aufeinander zu zu gehen. So sind im Herbst
1989 aufrechte Bürger den Weg in die Freiheit zu Ende gegangen, der 1953
jäh unterbrochen wurde.
Der Juni-Aufstand von 1953 und die Friedliche Revolution 1989 stehen
also in einem engen, einem inneren Zusammenhang. Das gilt auch für den
3. Oktober, den Tag der Deutschen Einheit. Die Hoffnungen von 1953 und
1989 fanden hier ihre Erfüllung: »Einigkeit und Recht und Freiheit« – das
sind die Worte und Werte, nach denen vier Jahrzehnte lang nur in einem
Teil unseres Vaterlandes gestrebt werden durfte. Erst mit dem 3. Oktober
1990 konnten alle drei Worte in ganz Deutschland gelebt werden. Und es
passt sehr gut, dass der »3. Oktober« seinen Namen – Tag der Deutschen
Einheit – vom Gedenktag zum 17. Juni 1953 »geerbt« hat.
Meine Damen und Herren, den 3. Oktober 1990 habe ich in Berlin erlebt.
Hinter mir lagen – mit anderen gemeinsam – arbeitsreiche Monate in der
Ansprache des Ministerpräsidenten | 13 |
| 14 | Ansprache des Ministerpräsidenten
ersten und letzten frei gewählten Volkskammer der DDR. Wir alle, die
damals wie in einer »Werkstatt der Geschichte« ohne Blaupause und ohne
Vorbild an der Einheit Deutschlands gearbeitet hatten, fühlten: In diesem
Moment, als die deutsche Fahne vor dem Reichstag wehte, kam etwas zur
Ruhe. Die große Sehnsucht nach Freiheit und Einheit Deutschlands in Frieden
war nun erfüllt. Aber es war keineswegs das »Ende der Geschichte«,
das ein amerikanischer Historiker 2 an dieser Zeitenwende ausgerufen hatte.
Seitdem sind viele neue Kapitel der Geschichte aufgeschlagen worden.
Blicken wir kurz in einige deutsche und europäische Kapitel: Wir in Sachsen,
in Ostdeutschland, können zu Recht stolz sein auf die Aufbauleistung
der letzten zwei Jahrzehnte. Gleichzeitig sind wir dankbar für die solidarische
Hilfe, die wir bisher aus ganz Deutschland erfahren haben. Meinem
Empfinden nach spielt die Herkunft – »westdeutsch« oder »ostdeutsch« –
immer weniger eine Rolle unter uns Deutschen. Vielmehr geht es darum,
wie wir gemeinsam etwas erreichen, unser Land voranbringen können.
Nicht zuletzt deshalb ist es uns gelungen, gut durch die Wirtschafts- und
Finanzkrise der letzten Jahre zu kommen.
Das führt mich zu den europäischen Kapiteln unserer Geschichte: Für
mich ist es bemerkenswert, wie Deutschland in Europa wahrgenommen
wird. Insbesondere bei unseren direkten sächsischen Nachbarn, in Polen
und Tschechien. Natürlich gibt es kritische Stimmen, die vor einem allzu
starken Deutschland warnen. Aber ich bin der festen Überzeugung: In
Europa muss niemand mehr Angst haben vor einer deutschen Übermacht.
So weit ist das Vertrauen insgesamt in sechs Jahrzehnten europäischer
Zusammenarbeit gewachsen. Dieses Vertrauen über Grenzen hinweg ist
für mich ebenso ein Gewinn an Freiheit, wie es die Friedliche Revolution
gewesen ist.
Auch wenn wir uns in Europa darüber streiten, wie Gelder verteilt werden
sollen oder Gurken und Äpfel aussehen dürfen, wichtig ist doch, worüber
wir uns nicht streiten: Über unsere errungene Freiheit, die wir in vielerlei
Form auf diesem Kontinent erreicht haben. Ich nenne hier nur die
Reisefreiheit oder die Meinungsfreiheit, die wir vom Nordkap bis Sizilien,
vom Atlantik bis an die Ostsee genießen dürfen. Sie ist uns so selbstverständlich
geworden, dass wir kaum noch darüber nachdenken. Wenn Freiheit
und Demokratie selbstverständlich sind, dann ist das wunderbar für
eine Gesellschaft. Aber es ist wichtig, Freiheit und Demokratie immer wieder
neu zu erringen, sie sich aktiv anzueignen und damit auseinanderzu-
setzen. Der ehemalige Verfassungsrichter Udo di Fabio hat das einmal so
ausgedrückt: »Erst wer befreit ist, trägt die Last der Freiheit.« 3
Und das gilt gerade für die Nachgeborenen, die Krieg und Diktatur in
Europa nur noch aus dem Geschichtsbuch kennen. Freiheit und Demokratie
sind nur dann von Dauer und eine Selbstverständlichkeit, wenn wir ganz
bewusst als freie Bürger denken, fühlen und handeln. Und diese Freiheit
darf sich nicht auf die Freiheit des Besitzes beschränken. Der Mehrwert der
Freiheit besteht ja nicht darin, dass ich das Auto fahren kann, das mir
gefällt, oder in fremde Länder reisen kann, wie es mir gefällt. Freiheit heißt
auch Verantwortung. Wirklich frei können wir nur sein, wenn wir gemeinsam
mit anderen das tun, was uns für das Gemeinwohl nützlich erscheint.
Das ist es, was unsere Gesellschaft zusammenhält, was unsere Gesellschaft
erhält. Dass wir schauen, was zu unserer Linken und zu unserer
Rechten passiert. Dass es mir nicht egal ist, wie es meinem Nachbarn geht.
Dass wir Hand in Hand – wie die Demonstranten bei den Montagsdemonstrationen
in Leipzig und überall im Land – für unsere freie Gesellschaft
eintreten. So entsteht aus Freiheit und Verantwortung Solidarität.
So schaffen wir es, dass dieser Dreiklang Freiheit – Verantwortung – Solidarität
das Fundament einer uns guten Heimat ist: hier im Freistaat Sachsen,
in Deutschland und in Europa. Und dieses Fundament müssen wir erhalten:
Indem wir der bitteren, tragischen und traurigen Momente ge den ken,
wie zum Beispiel der Opfer des 17. Juni 1953.
Indem wir die guten und schönen Momente feiern, wie den Tag der Deutschen
Einheit. Jeder dieser Momente hat seine Berechtigung und ist doch
untrennbar mit dem anderen verbunden. Die Erinnerung daran wachzuhalten
und die Bedeutung dieser Augenblicke für die Zukunft zu bewahren,
das ist unser Auftrag. Und deshalb – ich wiederhole es gerne noch einmal
– ist auch jetzt und heute »eine Zeit zum Reden«.
Vielen Dank.
1 Gertrud Pätzold, sie lebte in Girbigsdorf bei Görlitz.
2 Francis Fukuyama: Das Ende der Geschichte (1992)
3 FAZ v. 16. September 2013, S. 7.
Ansprache des Ministerpräsidenten | 15 |
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Festrede
von Joachim Reinelt, Bischof em.
Sehr geehrter Herr Landtagspräsident Dr. Rößler,
sehr geehrter Herr Ministerpräsident Tillich,
sehr verehrte Damen und Herren,
Tag der Deutschen Einheit, ein wunderbares Wort, ich denke, wir genießen
das noch zu wenig – ein Tag des Dankes und der Freude. Eine 40 Jahre währende
Zerrissenheit Deutschlands und eine Leidensgeschichte der Ostdeutschen
haben diesem Tag den Weg gebahnt. Bevor am 3.Oktober 1990
die Einheit Deutschlands gefeiert werden konnte, wurde das Volk in der
DDR seiner Freiheit beraubt, ideologisch erpresst, mit Lüge und Angst in
Schach gehalten und um einen wohlverdienten Wohlstand betrogen.
Sie haben mich als Zeitzeugen hierher gerufen. Ich will versuchen, einige
der aufregenden Erfahrungen tragischer und schließlich großartiger
Zeiten nacherleben zu lassen. Ich denke, das ist der Sinn des Treffens in
diesem wunderschönen Landtag hier. Wer die Ereignisse von 1989, die ja
Voraussetzung für eine Feier der Deutschen Einheit sind, verstehen will,
muss sich zunächst die innere Verfasstheit eines Volkes unter kommunistischer
Diktatur vergegenwärtigen. 44 Jahre den Mund halten müssen. Viele
haben das nicht gekonnt – Gott sei Dank. Sie haben für ihre politische
Offenheit schwer gebüßt. Viele verfielen einer Lethargie der verdrängten
Angst. Nur nicht auffällig werden! (Auffällig: Das war Jargon der Stasi.) Viele
passten sich an. Manche wurden vorsichtig aufmüpfig. Viele gingen dabei
der SED zu weit. Parteiverfahren, Verlust der Posten oder Bautzen II:
Kader schulung, Disziplinierung der sozialistischen Brigaden, Bildung von
Kampfgruppen sollten die Erwachsenen an die Reihen der Partei schmieden,
so die Sprache der Genossen. In der Schule: Erziehung zum Hass
gegen das »revanchistische« Westdeutschland und gegen die NATO-Feinde
(ein westdeutscher Bischof war damals laut sozialistischer Presse simpel
| 18 | Festrede von Joachim Reinelt
ein NATO-Bischof), und Margot Honnecker sorgte durch ihre Lehrer dafür,
dass die »geliebte junge sozialistische Generation« ganz im Sinne von
Marx und Lenin zu denken und zu kämpfen versteht.
Wachsame Eltern bekamen Gewissensbisse, als sie erlebten, wie so
manche Schule ihre Kinder ideologisch verbog. Mehrmals wurde mir be -
richtet, wie politisch fanatische Lehrerinnen die Schulklasse im 2. Schuljahr
aufforderte aufzustehen und eine Schülerin auszulachen, die immer
noch an Gott glaube. Das ist nicht zu fassen, denn da wurde jede Ehrfurcht
vor einer kindlichen Persönlichkeit mit Füßen getreten und rücksichtslos
die Psyche eines wehrlosen Kindes schwer verletzt. Kein Einzelfall, manche
möchten das gern zu Einzelfällen erklären. Einige widerstanden tapfer der
zwanghaften Werbung zur Pionier- oder FDJ-Organisation. Nicht wenige
lehnten die sozialistische Jugendweihe ab. Aber Eltern quälte dann die Frage:
Verbauen wir durch unsere ablehnende Haltung unseren Kindern die Zu -
kunft? Die Frage war: Einknicken oder stark bleiben? Aber schon mit 16
Festrede von Joachim Reinelt | 19 |
| 20 | Festrede von Joachim Reinelt
begannen viele junge Menschen, sich selbst aus den Schlingen der Partei
zu ziehen. Sie organisierten sich kleine Räume der Freiheit. Mutige Aktionen
wie neue, junge Musik oder »Schwerter zu Pflugscharen«, machten
anderen Mut. Der Widerstand – zum Beispiel – gegen die Sprengung der
Leipziger Universitätskirche brachte ganz besonders auch junge Christen
auf die Straße. Eine beachtliche Zahl junger Leute verweigerte den Wehrdienst
an der Grenze nach Westdeutschland – auch das ist heute nicht
mehr bekannt, das war sehr mutig und brachte auch viele Nachteile, oder
meldete sich zu sogenannten Spatentruppen, die oft von den führenden
Militärs in gemeiner Weise »fertiggemacht« wurden. Manche wurden
bewusst in hochgiftigen Produktionsstätten der Aluminiumerzeugung eingesetzt
und so für ihr ganzes Leben geschädigt. Sklaven des Sozialismus!
Dazu kamen die erschreckenden Ungerechtigkeiten der Parteijustiz,
der ewige Mangel an Konsumgütern, die ständige offene oder geheime
Kontrolle durch Staatsorgane, die 1.000 oft sinnlosen Vorschriften und
Einengungen und natürlich die mangelnde Reisefreiheit. Die unaufhör -
lichen Lügen in den sozialistischen Medien, die lächerlichen Störsender
und die unerträglichen Hasstiraden prominenter Politagenten – das alles
schuf auf Dauer eine Atmosphäre, die viele nicht mehr ertragen konnnten.
»Wir wollen raus.« Aus den meisten Friedensgottesdiensten wurden
Versammlungen derer, die ihre Ausreise erzwingen wollten. Ein Drama
nach dem anderen spielte sich ab. Familien wurden auseinanderge -
ris sen. Gefangene wurden freigekauft. Zwangsadoptionen wurden angeordnet.
Festrede von Joachim Reinelt | 21 |
| 22 | Festrede von Joachim Reinelt
Daneben sollten politisch sehr naive Entscheidungen die Lage entspannen.
Man glaubte in Berlin immer noch, dass nur »wenige Fanatiker« in den
Westen wollten und ließ sie gehen. Aber gerade dadurch wuchs die Zahl
der Antragssteller auf Ausreise. Kleine Eingeständnisse des Versagens
einiger lokaler Funktionäre sollten den Eindruck einer ehrlich selbstkritischen
Partei hinterlassen. Das haben die Leute aber nicht geglaubt. Grund -
sätzlich aber wurde die alte Parteiparole eingehämmert: »Die Partei, die
Partei hat immer recht.« Es war eine Art Gnadenerweis der Genossen, dass
sie bisweilen einige Ventile zuließen, um den in der Bevölkerung entstandenen
Druck ein wenig zu mindern. Politische Kabaretts durften etwas
deutlicher werden, daher waren ihre Darbietungen heiß begehrt. Politische
Witze hatten Konjunktur. Wenn man sich unter Freunden wähnte, schimpften
alle, sogar die Parteigenossen.
Dann und wann musste die Partei sogar unerwartete Schläge einstecken.
So erlebte ich als Pfarrer, dass es in meiner Stadt zu einer überraschenden
Story kam. Es gab da eine sehr große gärtnerische Produktionsgenossenschaft,
die übrigens zum Ärger der Gärtner alles in den Westen
liefern musste, während Gemüse in der eigenen Stadt Mangelware war.
Diese GPG hatte Jahresschlussversammlung, aber kein Parteigenosse fand
sich begabt genug, die fällige Ansprache zu halten. Ein Christ erklärte sich
schließlich bereit, die Rede zu halten. Er sagte pflichtgemäß allen Brigaden
mit geschickten Worten Dank und schloss: »Nach all unseren Brigaden
danke ich aber jetzt auch dem Schöpfer der Natur für die gute Ernte. Ihr
sagt zwar immer: Ohne Gott und Sonnenschein bringen wir die Ernte ein.
Ich aber sage euch: Ohne Sonnenschein und Gott macht die GPG bankrott!
Es folgte brausender Applaus. Es folgte aber auch von höherer Stelle ein
Verfahren gegen die Parteileitung der GPG wegen gesellschaftlicher Unzuverlässigkeit.
Die Stadt hatte endlich mal wieder etwas zu lachen. Die
überzeugten Parteistrategen aber, das Volk nannte sie die Hundertprozentigen,
diese kannten kaum Humor. Ihre Sache war Verbissenheit.
Noch Ende Juli 1989 wurde ich von einem Berliner Staatsekretär nach
Karl-Marx-Stadt vorgeladen, weil ich mich des Vertragsbruchs schuldig
gemacht hätte. Was war geschehen? Die Regierung hatte »gnädigerweise«
der Mutter Teresa von Kalkutta genehmigt, dass drei ihrer Ordensschwestern
aus dem Ausland nach Karl-Marx-Stadt einreisen durften, um Kranke
zu betreuen. Nun hatte die Stasi festgestellt, dass sich sechs junge Frauen
aus Sachsen den Schwestern angeschlossen hatten. Das schien ihnen
natürlich staatsgefährdend zu sein. Ich sollte die sechs Frauen des Hauses
verweisen, denn nur drei seien vertraglich genehmigt. Ich lehnte ab und
riet dem Staatssekretär, nichts gegen die Schwestern zu unternehmen,
denn Mutter Teresa habe vor kurzem den Friedensnobelpreis empfangen.
Da schrie der Herr: »So schwach ist die DDR noch nicht!« Wenige Wochen
danach war die angeblich mächtige DDR schon erledigt.
Auch noch 1989 wurde ich vom Kardinal von Breslau zu einer Hedwigswall -
fahrt nach Trebnitz in Polen eingeladen. Dazu benötigte ich eine Ge neh mi -
gung der Regierung. Ich bekam sie. Bei der Rückfahrt verlangte der Offizier
der Grenzkontrolle in Görlitz die schriftliche Genehmigung. Er nahm sie und
zerriss sie süffisant vor meinen Augen. Wie viele mussten diese widerliche,
abstoßende Verbissenheit der Überzeugten über sich ergehen lassen.
Im gehobenen Parteideutsch nannte man alle diese menschenverachtenden
Allüren Führungsanspruch der Arbeiterklasse und ihrer marxistischleninistischen
Partei. Aber schließlich begann die Macht der Parteien im
sozialistischen Lager zu bröckeln. Solidarnoscz in Polen, Gorbatschow und
Perestroika, Ungarn und offene Grenzen – endlich kam Bewegung in das
starre System. Nur Honecker blieb stur und restriktiv. Auch die Reise in die
Tschechoslowakei wurde nun genehmigungspflichtig. Das machte das
Maß voll. Die Flucht in die bundesdeutschen Botschaften in Prag und Warschau
bewiesen die Verzweiflung der meist jungen Familien, die das Ge -
fängnis Staatsgebiet DDR nicht mehr ertragen konnten. Die politisch völlig
naive Entscheidung Honeckers, die Flüchtlingszüge über DDR-Gebiet in
die Bundesrepublik zu leiten, trieb dann alles auf die Spitze.
Als ich am 4. Oktober 1989 auf den Dresdner Hauptbahnhof fuhr, um den
jungen Leuten, die unbedingt auf den durchfahrenden Zug aus Prag aufspringen
wollten, die Gefährlichkeit klar zu machen, fassten sie die Stimmung
vieler in der DDR in prägnante Worte: »Herr Bischof, wir sind die letzten,
die hier rauskommen. Wenn wir weg sind, machen die euch alle fertig.«
– Ein Schrei der Verzweiflung. In ihrer verzweifelten Lage waren sie eher be -
reit, das Leben zu riskieren, als in diesem Staat zu bleiben. Die Volkspolizei
verhinderte ihre Flucht mit den Zügen, aber sie flohen in unsere Kathedrale
und wir konnten schließlich eine gefahrlose Ausreise für diese jungen
Menschen mit Kindern erreichen. Die Auseinandersetzungen auf dem
Hauptbahnhof hinterließen Spuren, die ein erstes Zeichen dafür waren,
dass nun nicht mehr einfach hingenommen wurde, was die Mächtigen
erzwingen wollten.
Festrede von Joachim Reinelt | 23 |
| 24 | Festrede von Joachim Reinelt
Die erste Reaktion der Staatsorgane war ein brutales Eingreifen. Man verhaftete
sogar Leute, die mit den Protesten überhaupt nichts zu tun hatten.
Es traf sogar eigene Parteigenossen, die zufällig auf der Straße waren. In
den Neustädter Polizeikasernen wurden die Inhaftierten wie Schwerverbrecher
behandelt. Als die Dresdner davon erfuhren, kam es zu einer Welle
der Empörung und der Solidarisierung mit den Betroffenen. Man ließ
den 40. Jahrestag der DDR noch in Ruhe, danach aber zeigten immer mehr
auf der Straße, was sie von diesem sogenannten Arbeiter- und Bauernstaat
hielten. Am 7. Oktober fuhr ich zu einer Demonstration in die Stadt
und fand mich plötzlich mitten unter den Demonstranten wieder. Ein junger
Mann schlug auf mein Auto ein. Da lief ein junges Mädchen mit einer
Kerze in der Hand hinzu und rief: Keine Gewalt, keine Gewalt! Diese Worte
der Bergpredigt Jesu bestimmten fortan die Haltung der Demonstranten.
Erste Anzeichen eines friedlichen Verlaufs. Die Staatsmacht aber ging
immer noch brutal gegen diese friedlichen Demonstranten vor. In Dresden-
Johannstadt wurden sie wie Vieh auf Lastwagen verladen und nach Bautzen
ins Gelbe Elend transportiert. Dort erwartete sie wortwörtlich Spießrutenlaufen
und Inhaftierung. Dadurch kam es bei den Dresdnern zu einer
noch stärkeren Solidarisierungswelle, mit der die Bezirksparteileitung
nicht gerechnet hatte. Am 8. Oktober setzten sich Demonstranten auf die
Prager Straße, um friedlichen Protest zum Ausdruck zu bringen. Die Volkspolizei
signalisierte jedoch wieder gewaltsames Einschreiten, sogar mit
einer Hundestaffel. Da fassten zwei Kapläne Mut und handelten mit dem
Einsatzleiter eine friedliche Lösung aus. Eine Gruppe von 20 Demonstranten
sollte im Namen aller beim Dresdner Oberbürgermeister Berghofer ihre
politischen Forderungen darlegen. Das Ergebnis des Gesprächs sollte
nach Forderung der Polizei am Abend des 9. Oktober nicht auf der Straße,
sondern in vier großen Kirchen der Stadt bekanntgegeben werden.
Zu meiner Überraschung besuchte mich am Nachmittag des 9. Oktober
der Chef der Abteilung Inneres vom Rat des Bezirkes Dresden, der irgendwoher
erfahren hatte, dass ich die Volksversammlung am Abend in der
Kathedrale leiten würde. Er war sichtlich von den Ereignissen erregt und
gedemütigt. Er eröffnete mir, dass sich die Bezirke Leipzig, Dresden und
Karl-Marx-Stadt geeinigt hätten, dass am Abend in Leipzig bei der Demonstration
nicht geschossen würde. Dann wörtlich: »Und die in Berlin wissen
auch Bescheid.« – Diesen Satz habe ich nie vergessen. Mir fiel ein Stein
vom Herzen. Er hatte aber noch ein Anliegen: Am Abend sollte auch in
Dresden alles friedlich verlaufen. Deshalb solle ich den Versammelten
sagen, dass der Staat bereit sei zum Dialog mit der Bevölkerung, man
wolle einen gemeinsamen Ausweg aus dieser Krise suchen und es gäbe
Korrekturen nicht nur in Worten, sondern es käme zu wirklichen Verbesserungen.
Ich legte natürlich meine Zweifel an der Ehrlichkeit dieser Aussagen dar,
weil in kritischen Situationen die Partei immer einen sanfteren Kurs versprochen
hatte – auch nach dem 17. Juni kam das – und danach alles verschärft
wurde. Er beschwor mich, dass es dieses Mal ganz anders weitergehen
würde. Ich forderte eine Bedingung für die gewünschte Ansage: Im
weiten Umkreis von den vier Kirchen dürfe kein Volkspolizist zu sehen sein.
Nur dann werde ich diese Ansage machen.
Ich ging sofort zum Landesbischof Hempel. Wir waren damals natürlich
ganz eng und tief miteinander verbunden. Die Ökumene war in der DDR-
Zeit und danach in Sachsen nie bloß Gerede, sondern Leben. Und wir verdanken
unserer evangelischen Schwesterkirche unwahrscheinlich viel für
das Wirken in dieser Zeit. Mit Landesbischof Hempel stimmte ich mich ab.
Er übernahm die Aufgabe in Leipzig und ich in Dresden, für gewaltloses
Verhalten der empörten Bevölkerung einzutreten. Jeder von uns wollte den
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jeweils Anwesenden die Unterstützung des anderen Bischofs versichern,
natürlich um die eigene Position zu stärken. So nahte der aufregendste
Abend meiner 24-jährigen Dienstzeit als Bischof. Bei der Fahrt in das Stadtzentrum
sah ich tatsächlich keinen einzigen Polizisten. Die Kathedrale war
mit 8.000 Menschen gefüllt. 4.000 standen noch vor den Türen. Alle in
Höchstspannung. Als ich ansagen konnte, dass auf die Leipziger Demonstranten
nicht geschossen werde, kam es zu einem unbeschreiblichen
Jubel, denn die Zeitungen hatten ja genau das Gegenteil angekündigt. Die
schon erwähnten parteipolitischen Zusagen des Bezirkes wurden eher mit
großer Skepsis aufgenommen. Die Leute waren mit Erfahrungen gefüllt,
sie kannten die Tricks und die Geschichte. Als ich der Versammlung Erfolg
wünschte, kam bereits im Applaus zum Ausdruck, dass nun das Volk selbst
seine Sache in die Hand nahm. Die sicherlich anwesenden Stasi-Agenten
dürften in dem Moment der Versammlung keine guten Gefühle gehabt
haben.
Ein Student aus der Gruppe der 20 legte zunächst dar, dass die Gruppe in
der Nacht ein klares Konzept für das Gespräch mit dem Oberbürgermeister
erarbeitet hatte, hingegen beim Oberbürgermeister nur die Tageszeitung
auf dem Schreibtisch lag. So begann die Versammlung mit einem Gelächter
Tausender. Das entkrampfte die Situation. Danach wurden die Forderungen
der Gruppe der 20 bekannt gegeben. Zunächst ging es um die Solidarisierung
mit den Inhaftierten der letzten Tage und die Forderung der Freilassung.
Das war ein gutes Zeichen der Leute, die dort versammelt waren, dass sie
nicht zuerst an sich gedacht haben, nicht zuerst an Reisefreiheit gedacht
haben, sondern an die Freilassung der Inhaftierten. Sie dachten an die
anderen, an die, die in großer Not lebten. Die Freilassung wurde übrigens von
einem Mitarbeiter des Oberbürgermeisters versprochen. Großer Applaus.
Dann verlangte man eine Korrektur der verlogenen Darstellungen der De -
monstrationen in den Medien, das sollten ja alle »Rowdies« gewesen sein.
Sehr lang anhaltender Applaus. Da hatte sich der Oberbürgermeister für
nicht zuständig erklärt, was die Versammlung mit Pfiffen quittierte. Dann
forderte man Informationen über das Neue Forum, Reisefreiheit in alle Länder,
freie Wahlen, Zivilersatzdienst, De mons trationsfreiheit und konstruktiven
Dialog. Jedes Wort dieses Studenten wurde mit einem immensen
Applaus unterstützt. – Ich denke, Sie können sich daran noch gut erinnern.
Auch aus den Reihen der versammelten 8.000 kamen mutige und weise
Beiträge. Man konnte dort reden, das gab es vorher nicht. Dass der Oberbürgermeister
seine Inkompetenz gegenüber den meisten Forderungen der
Gruppe der 20 mit der Bemerkung er klärte, er sei eben nur OB und nicht
Gorbatschow, konterte ein Student mit einer umjubelten Aussage: »Dann
erklären wir hiermit die Kompetenz des Volkes!« Aus Demonstranten wa -
ren selbstbewusste Ver hand lungspartner geworden, die von Vertretern des
Staates ernst genommen werden mussten. Ein ermutigendes Signal für viele
andere Städte. Die Gesprächsergebnisse waren zwar noch minimal. Von
höchster Bedeutung aber war die Einigkeit der Versammelten, die ihr Recht
und die Freiheit entschlossen einforderten. Sie wussten damals noch nicht,
dass sie bald »Einigkeit und Recht und Freiheit« als ihre Hymne anstimmen
würden. Sie hätten das am 9. Oktober 1989 noch nicht für möglich halten
können. Weil vor der Kathedrale noch 4.000 standen und auf Einlass warteten,
wurde die Versammlung um 22 Uhr wiederholt und ich konnte ansagen,
dass bei der Demonstration in Leipzig nicht geschossen wurde. Den
Jubel dieser zweiten Versammlung kann man nicht beschreiben.
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Ein mutiger Anfang war gemacht, aber die Angst vor der Staatsmacht hielt
noch viele in den Stuben zurück. Aber man begann, die Wahrheit ans Licht
zu bringen. Und Wahrheit ist immer auch Feuer. Wer da hineingreift, der
verbrennt sich die Finger. Das begriff schließlich auch der einfachste Ge -
nosse. So überschlugen sich die Ereignisse. Der Funke von Leipzig, Dresden,
Plauen und Berlin erweckte den Freiheitswillen des Volkes sehr bald
in jeder Stadt. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich in Sachsen eine Stadt
erlebt habe, wo nichts losging. Einige Medien wurden vorsichtig der Parteilinie
untreu. Die Dissonanzen zwischen Ostberlin und Moskau wurden
immer bekannter. Der Staat kam ins Schlingern. Rettungsversuche des ZK
der SED durch Absetzung Honeckers und fragwürdige Dialogbereitschaft
liefen ins Leere. Die Entmachtung der Stasi durch das Volk war dann der
griffigste Schritt zum Ende eines Regimes, das durch Kontrolle und Angst
die Bevölkerung in Schach hielt. Ich erinnere mich, dass bei Stürmung der
Stasi in Dresden zwei Offiziere dieses Unterdrückungsapparates bei mir
anriefen und um Schutz durch einen Medienaufruf für Gewaltlosigkeit
baten. Ich erwiderte: »Ihr habt doch die Volkspolizei.« Die Antwort habe
ich noch genau im Gehör: »Die helfen uns auch nicht mehr!«
Wer konnte sich das vorstellen? Die mächtige Stasi ruft die verhasste Kirche
um Hilfe! Die Angst wechselte die Seiten. Zum Glück gab es auch in diesem
Fall keine Gewalt. Das ist ein Wunder, denn die Bevölkerung wusste,
wie brutal bei der Stasi gefoltert wurde, wie man Geständnisse erpresst
und manche dauerhaft unmenschlich behandelte. Das war nun endlich
vorbei. Auch das feiern wir dankbar am heutigen Tag. Aber wird der Opfer
jener Grausamkeiten ausreichend gedacht? Diese Frage sollten wir ruhig
unbeantwortet im Raum stehen lassen. Sind sie genügend gewürdigt?
Am 9. November ’89 kam dann wie ein Blitzeinschlag der Fall der Mauer
und der Grenzzäune. Aller Welt, dem Westen wie dem Osten, wurde nun
unübersehbar, was die Deutschen wirklich wollten: die Einheit in Frieden.
Wir hatten uns am Sonntag danach zu einer Wallfahrt im sorbischen
Rosenthal versammelt, um Gott zu danken für diese wunderbaren Ereignisse.
Die Begeisterung der vielen Tausend Teilnehmer erweckte bei mir
den Eindruck eines neuen Pfingsten. Jetzt geht es noch einmal richtig los:
Die drückende Last schwerer Jahrzehnte war den Menschen von den Schultern
gefallen. Überall im Land konnte man die Erleichterung und Freude an
den Gesichtern erkennen. Ich erinnere mich an die Gelöstheit der Menschen
in einer Leipziger Straßenbahn. Es war am frühen Morgen, da man
gewöhnlich noch müde vor sich hin döste und schwieg. Das war plötzlich
ganz anders: Fröhliche, helle Gesichter. Man lachte und sprach miteinander,
wie bei einem Fest. Verwandelte Gesellschaft, wie hatte sich doch
plötzlich alles verändert. Aber noch war die Geschichte der glücklichen
Tage für unser Volk nicht zu Ende. Ein bedeutender Schritt nach vorn war
mit der Rede von Bundeskanzler Helmut Kohl an der Ruine der Dresdner
Frauenkirche verbunden. Mit diesem historischen Ereignis verknüpfte sich
eine lustige Episode. Der Kanzler hatte uns gebeten, die Kapellknaben der
Hofkirche neben seinem Rednerpult zu positionieren, damit, falls das Volk
unerlaubt die Hymne der Bundesrepublik anstimme, schnell das Lied
»Großer Gott, wir loben dich« ins Mikrofon singen könnten. Aber die Sachsen
waren schlau genug, eine unanfechtbare Lösung zu wählen. Sie besannen
sich auf den Text der DDR-Hymne, der auf Anweisung der SED jahrelang
nicht mehr gesungen werden durfte. Dieser Text erschien auf einem
großen Transparent und das Volk skandierte ihn unaufhaltsam, denn da
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stand die DDR-Hymne, wie sie noch ganz am Anfang, als ich noch zur Schule
ging, gesungen wurde: »Deutschland einig Vaterland, Deutschland einig
Vaterland.« Das war für Helmut Kohl der Anstoß, mit Entschlossenheit die
Einheit Deutschlands in schwierigen Verhandlungen anzugehen. Welch ein
Wunder, dass das schließlich gelang!
Wir sollten auch nicht übersehen, dass Helmut Kohl nicht den Weg einer
raffinierten, diplomatischen Taktik wählte, sondern den zu jeder Zeit auch
in der Politik empfehlenswerten Weg der persönlichen Freundschaft. Auf
diesem Weg lassen sich die größten Hindernisse überwinden. Die Sowjets
hatten zwar noch im Januar 1990 erwogen, ob sie nicht doch mit ihren Panzern
in der DDR einschreiten sollten, so Horst Teltschik. Dann wäre es aber
zu einer unvorstellbaren Katastrophe gekommen. Der Weg des persönli-
chen Kontaktes und der ehrlichen Annäherung hat schließlich das Wunder
bewirkt, das wir heute feiern. Wir sind Helmut Kohl zu großem Dank verpflichtet.
Nach mühsamen Verhandlungen mit den Mächtigen öffnete sich Schritt
um Schritt der Weg zur Einheit Deutschlands. Unvergesslich war für mich
der 18. März 1990: Zum ersten Mal in meinem Leben konnte ich frei und
demokratisch wählen. Das war ein Hocherlebnis. Das Volk machte der SED
bzw. PDS ein Ende. Die CDU gewann die überragende Mehrheit der Volkskammer
der DDR. Volksvertreter, die wirklich das Volk vertraten, konnten
nun in einer freien, mehrheitlichen, demokratischen Entscheidung für ein
geeintes Deutschland entscheiden. Wir Christen sind überzeugt, dass diese
großen Tage unserer Geschichte nicht nur glückliche Zufälle sind, sondern
auch eine Frucht unzähliger Gebete und leidenschaftlicher Sehnsüchte nach
der Einheit Deutschlands durch alle Jahrzehnte der Spaltung hindurch.
Nach der Besiegelung der Einheit wurde es jedoch noch einmal spannend.
Der unwiderstehliche Trend zur schnellen Wohlstandsgesellschaft
erzwang die sofortige Währungsunion. Nur mit dem gleichen Geld in der
Hand gehören wir Ostdeutschen wirklich dazu – das war die Überzeugung
der meisten. Ich gestehe: Ich war auch begeistert, dass diese breite Palette
von Angeboten plötzlich ganz selbstverständlich zugänglich war.
Irgendwie ein bisschen paradiesisch kam uns das vor. Langsam aber wurde
auch deutlich, dass uns Ostdeutschen der Umgang mit Freiheit und
Demokratie zunächst ungewohnt war. Dass jetzt der Staat eben nicht mehr
alles regelt, war zwar erwünscht, aber die Konsequenz der Eigenverantwortung
fanden nicht wenige unbequem. Einige verstanden sehr schnell,
dass sie jetzt selber gefordert sind. Andere haben es bis heute nicht begriffen.
Hier sei mir ein ausdrücklicher Dank an die politisch Engagierten in
Sachsen erlaubt. Angefangen von den Runden Tischen bis zur Erarbeitung
der Sächsischen Verfassung wurde selbstlos und kompetent gearbeitet.
Die Verfassung vom Mai 1992 ist ein Meisterwerk. Sie ist gleichzeitig wie
eine Zusammenfassung all der Sehnsüchte und Wünsche eines Volkes,
das so lange auf eine Gesellschaft in Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit
warten musste. Gesellschaftliche und personale Werte waren nun endlich
wieder geschätzt. Danke allen Beteiligten! Unser Dank gilt jeder und jedem
Abgeordneten, die sich fern jedes Extremismus in Verantwortung für das
Allgemeinwohl eingesetzt haben. Ebenso danken wir den Regierenden, die
unser Land Sachsen auf die vorderen Plätze gebracht haben.
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Die Zukunft unseres Freistaates wird nun stark davon abhängig sein, ob
der Schwung des Anfangs immer wieder neu entfacht werden kann.
Der Wert der Arbeit ist mit dem Erneuerungsprozess enorm gestiegen.
Die Sachsen waren zwar in der Zeit vor 1989 auch ein tüchtiges Volk, erfinderisch
in Zeiten des Mangels und geistvoll in Kunst, Wissenschaft und
Technik. Es fehlte aber bei uns in vielen Bereichen der Zugang zur modernen
Technologie. Die im Westen hoch entwickelte technische Ausstattung
erreichte nach 1990 in rasantem Tempo fast jeden Arbeitsplatz. Arbeit verlangt
heute meist weniger Muskelkraft als vielmehr Intelligenz. Nur Insider
haben die enorme industrielle Revolution in den neuen Ländern so richtig
bemerkt. Es gab eine Ausnahme: Die eindrucksvolle Menge von Baukränen
in Städten und Dörfern, die vor 1990 bei uns relativ selten zu sehen
waren, konnte von keinem übersehen werden. Das Baugewerbe legte ein
Tempo vor, das es so wohl noch nie gegeben hatte. Wie sind unsere Städte
und auch viele Dörfer in 20 Jahren in neuem Glanz erstanden! Das frühere
Grau in Grau mit den maroden Gebäuden ist leuchtenden Farben und
vielfältiger Architektur gewichen. Eine erstaunliche Zahl von Unternehmern
und Fachleuten kam zu uns in den Osten mit Fachwissen und einem
starken Willen zum Aufbau. Leider gab es auch viele, die sich an östlicher
Unerfahrenheit bedient haben. Jedoch die Ansiedlung von zahlreichen hoch
technologisierten Großbetrieben wurde von kompetenten Politikern ge -
för dert. Die arbeitsamen Sachsen wurden Schritt um Schritt wettbewerbsfähiger.
Was sie erst allmählich begriffen haben, ist die Herausforderung
zum Kampf für Lohngerechtigkeit und soziale Sicherung. Nicht mehr der
Staat allein trägt hier die Sorgepflicht, sondern jeder Berufstätige und
jeder Arbeitgeber. Ein menschlich gutes Zusammenspiel der Tarifparteien
oder besser: der Menschen, die gemeinsam für gerechten Lohn und gute
Bedingungen am Arbeitsplatz sorgen, kann immer mehr die Atmosphäre in
unseren Büros und Produktionsstätten optimieren. Die Kultur einer engagierten
gegenseitigen Verantwortung macht den Arbeitsplatz wohltuend.
Wo einer Tag für Tag froh ist, dass endlich Feierabend ist, da stimmt etwas
nicht. Wo einer Freude an der Arbeit hat, dort kommt es zu den guten Er -
gebnissen. Und wir müssen unbedingt dafür sorgen, dass jeder von seiner
Arbeit auch gut leben kann.
Einen besonderen Wert in einer demokratisch geordneten Gesellschaft
hat nach unserer Soziallehre das Prinzip der Subsidiarität. Was eine kleinere
gesellschaftliche Gruppe oder Gemeinschaft an Aufgaben überneh-
men kann, darf nicht von der größeren übernommen werden. Nur so bleibt
das Ganze vital und wird Eigenverantwortung ernst genommen. Es ist wie
bei einem Orchester. Der Dirigent spielt nicht die einzelnen Instrumente. Er
sorgt für das gute Zusammenspiel. Viele unnötige Paragrafen könnten wir
einsparen, wenn man der Versuchung der Bürokratie weniger erläge, alles
bis ins kleinste Detail festzulegen. Ein Orchester, das zu eng geführt wird,
spielt langweilig. Ein Volk, das unnötig gegängelt wird, wird lahm.
Ein weiterer Höchstwert einer freien Gesellschaft ist Gleichheit. Nicht nur
gleiches Recht – das natürlich auch besonders, doch das ist meist am
ehesten garantiert – sondern auch gleiches Ansehen, gleiche Chancen,
weil gleiche Würde eines jeden Mannes, einer jeden Frau! Wir dürfen
besonders den Rand der Gesellschaft nicht übersehen. Für uns steht jeder
in der Mitte. Auch Wohnungslose, Asylbewerber, Behinderte, Ungeborene
haben gleiche Menschenwürde! Missachtung der Ausländer ist eine der
traurigsten Entwicklungen in Europa. Gleiche Würde verlangt aber auch
einen würdevollen Umgangston, eine Atmosphäre der Ehrfurcht voreinander.
Wir sollten uns wehren gegen eine Vermarktung der Menschen, besonders
der Frau. Das Lebensgefühl vieler, die durch Respektlosigkeit erniedrigt
wurden, könnte durch menschlichen Umgang miteinander mächtig
gewinnen. Und vor allem in allem: gleiches Recht auf Leben.
Ganz besonders ist dieser unserer erneuerten Gesellschaft und jedem
Einzelnen das beharrliche Suchen nach der Wahrheit aufgetragen. Das ist
keine private Geschmacksfrage. Eine Gesellschaft ohne für alle gültige
Grundwerte zerfällt. Die Ausübung der persönlichen Freiheit muss hinzielen
auf für alle gültige Normen, die geradezu natürlich sind. Schon ein Kind
weiß genau, dass es gut sein soll und nicht böse sein darf. Ganz natürlich
versteht jeder Mensch, dass das Eigentum eines anderen zu respektieren
ist, dass die Lüge Freundschaft zerstört, dass man Eltern Dank schuldet,
dass ein Mensch kein Gegenstand ist. Bei aller Unterschiedlichkeit der Kulturen
dieser Welt verbindet alle gemeinsam diese natürliche Grundlage für
ein geordnetes Miteinander, das jedem Menschen in gleicher Weise eingepflanzt
ist. Diese Vorgaben im Gewissen eines jeden gilt es zu pflegen. Hier
haben unsere Elternhäuser, Schulen, Künstler und die Medien eine hohe
Verantwortung.
Das Gute der Menschen und dieser Gesellschaft darzustellen, ist keineswegs
nur romantischen und unrealistischen Kategorien zuzuordnen. Das
Gute, die Guten gibt es doch! Das ist Realität. Wirklich! Das kleine Gute ist
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doch eigentlich das große Kostbare unseres Lebens: Das muss gezeigt, da -
rauf muss hingewiesen werden. Helfen wir einander, richtig hinzu-schauen.
Das Schöne, Wahre, Echte und Liebevolle dieser Welt und ihrer Menschen
zu entdecken macht uns alle echt liebevoller, wahrhaftiger und, so
glaube ich, auch schöner. Vielleicht sind deshalb die sächsischen Mädchen
so schön.
Wo diese natürlichen Grundwerte gelebt werden, sind die Einzelnen und
ist die Gesellschaft eher fähig, wirklich sozial zu sein. Die Anlage dazu hat
der Mensch seinem Wesen nach. Wir sind Gemeinschaftswesen. Wir leben
in ständiger Beziehung zu anderen. Der Jude Martin Buber sagt – und die
Juden haben immer die große Weisheit, das kann man auch wunderbar an
der neuen Synagoge sehen: »Alles Leben ist Begegnung.« Wir sind nicht
als einsame Wesen geschaffen, sondern als soziale Wesen gewollt. Wir
können nur in Verbindung mit anderen wachsen. Das ist ein Geschenk. Das
verpflichtet aber auch. Von mir weg konzentriere ich mich auf den anderen.
Das nennen wir Christen Nächstenliebe, das nennen auch die Juden Nächstenliebe.
Sie befreit mich aus der egozentrischen Gefangenschaft. Paulus
sagt uns: »Lacht mit den Lachenden und weint mit den Weinenden.« Diese
Grundhaltung impliziert wie von selbst auch die soziale Gerechtigkeit. Für
mich ist sehr beeindruckend, wie im Fall einer sozialen Not sofort einige
eintreten, um Benachteiligten entweder selbst durch freiwilligen Einsatz
zu helfen oder auch berechtigte öffentliche Lösungen zu fördern. Wer hat
nicht mit Begeisterung gesehen, wie Zigtausende junge Leute bei den
Hochwasserkatastrophen zugepackt haben? Das ist ein Kennzeichen, ge -
rade auch in Sachsen. Was die sozialen Werke in unserem Land Tag für Tag
von vielen unbemerkt heilend und helfend bewirken, das kann uns doch
nur dankbar machen. Die Grundintention ihres oft kräftezehrenden Einsatzes
für Kranke, Senioren und Kinder ist die Liebe zum Hilflosen, der wir ja
alle werden können.
Nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch in der sozialen Frage ist Deutsch -
land für viele vorbildlich. Aber es bleiben auch immer Lücken. Wir sollten
diese in der Zukunft mit Entschiedenheit angehen. Da ist noch vieles Gute
zutun. Helfen wir besonders unseren Familien, dass sie sich Zeit nehmen
füreinander, den Kindern ein wohliges Zuhause bieten und genügend Kinder
haben.
Wenn auch Dresden als deutsche Großstadt der vielen Geburten gefeiert
wird, können wir die Augen nicht schließen vor der Kinderarmut in ganz
Europa. Ein wieder junges Europa müsste keineswegs der Traum eines
alten Mannes bleiben. Wo Familie gesund und auskömmlich leben kann,
wo der authentische Optimismus einer jungen Generation unterstützt wird,
wo der Segen Gottes auf den jungen Leuten ruht, da bekommen sie Lust
auf Kinder. Ein solches Sachsen, ein solches Deutschland und ein solches
Europa wünsche ich uns von ganzem Herzen.
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Die Schriftenreihe »Veranstaltungen des Sächsischen Landtags«
dokumentiert die Reden zu Fest- und Gedenkveranstaltungen im Sächsischen Landtag.
Folgende Dokumentationen sind bereits erschienen:
Sonder- Festakt zum Tag der Deutschen Einheit und
druck: zur Bildung des Landes Sachsen
am 3. Oktober 1990
auf der Albrechtsburg Meißen
Heft 1: Festrede anläßlich des Festakts
des Säch sischen Landtags
zum Tag der Deutschen Einheit 1991
Heft 2: Festakt des Sächsischen Landtags
zum Tag der Deutschen Einheit
am 3. Oktober 1992
Heft 3: Festakt des Verfassungsgerichtshofes
des Freistaates Sachsen
am 12. Juli 1993
im Alten Rathaus zu Leipzig
Heft 4: Festakt des Sächsischen Landtags
zum Tag der Deutschen Einheit
am 3. Oktober 1993
Heft 5: 4. Jahrestag der Gründung des
Koordinierungsausschusses zur Bildung
des Landes Sachsen am 6. Mai 1994
Heft 6: Schlüsselübergabe und Festakt anläßlich
der feierlichen Einweihung der Neubauten
des Sächsischen Landtags
am 12. Februar 1994
Heft 7: Festakt des Sächsischen Landtags
zum Tag der Deutschen Einheit
am 3. Oktober 1994
Heft 8: Gedenkstunde des Sächsischen Landtags
anlässlich des 50. Jahrestages des Kriegsendes
am 7. Mai 1995
Heft 9: Fachtagung Ȁnderung der Bestimmungen
über die konkurrierende Gesetzgebung – alter
Wein in neuen Schläuchen?«
am 26. Mai 1995
Heft 10: Festakt des Sächsischen Landtags
zum Tag der Deutschen Einheit
am 3. Oktober 1995
Heft 11: Vorstellung des Forschungsprofils
des Simon-Dubnow-Instituts für jüdische
Geschichte und Kultur e.V.
am 9. November 1995
Heft 12: Festakt des Sächsischen Landtags
zum Tag der Deutschen Einheit
am 3. Oktober 1996
Heft 13:
Heft 14:
Heft 15:
Heft 16:
Heft 17:
Heft 18:
Heft 19:
Heft 20:
Heft 21:
Heft 22:
Heft 23:
Heft 24:
Heft 25:
Heft 26:
Symposium anlässlich des 50. Jahrestages der
Konstituierung eines sächsischen Landtags
am 22. November 1946
Feierstunde zum 5. Jahrestag der
Verabschiedung der Sächsischen Verfassung
am 26. Mai 1997
Festakt des Sächsischen Landtags
zum Tag der Deutschen Einheit
am 3. Oktober 1997
Reden zur Eröffnung der Ausstellung
»Deutsche Jüdische Soldaten«
am 20. November 1997
Feststunde anläßlich des 50. Jahrestages
der Gründung des Staates Israel
am 5. Dezember 1997
Festakt des Sächsischen Landtags
zum Tag der Deutschen Einheit
am 3. Oktober 1998
Kolloquium »Wirkungsforschung zum
Recht – Folgen von Gerichtsentscheidungen«
vom 25. bis 27. November 1998
Eröffnung der Ausstellung
»10 Jahre friedliche Revolution – Ein Weg
der Erinnerung« am 2. Oktober 1999
Festakt des Sächsischen Landtags
zum Tag der Deutschen Einheit
am 3. Oktober 1999
Festveranstaltung zum
50-jährigen Bestehen der Nato
am 21. November 1999
Festveranstaltung zum Jubiläum
»10 Jahre Freistaat Sachsen – 10 Jahre
Sächsischer Landtag« am 27. Oktober 2000
Gedenken an die Opfer der Terroranschläge
in den USA zur 43. Sitzung des Sächsischen
Landtags am 13 . September 2001
Festakt des Sächsischen Landtags
zum Tag der Deutschen Einheit
am 3. Oktober 2001
Symposium »Unverstandenes
Parlament – unaufgeklärte Bürger.
Warum parlamentarische Öffentlichkeitsarbeit?«
am 23. November 2001
Heft 27:
Festveranstaltung
»10 Jahre Sächsische Verfassung«
am 27. Mai 2002
Heft 28: Festakt des Sächsischen Landtags
zum Tag der Deutschen Einheit
am 3. Oktober 2002
Heft 29: Podiumsdiskussion »Unsere Zukunft
in Europa – die Rolle der Regionen im
zukünftigen Gefüge der Europäischen Union«
am 24. Februar 2003
Heft 30: Gedenkveranstaltung
»Volksaufstand für die Freiheit«
am 17. Juni 2003
Heft 31 : Festakt des Sächsischen Landtags
zum Tag der Deutschen Einheit
am 3. Oktober 2003
Heft 32: Symposium »Unverstandenes
Parlament – unaufgeklärte Journalisten.
Warum parlamentarische Öffentlichkeits arbeit?«
am 14. November 2003
Heft 33 : Festakt des Sächsischen Landtags
zum Tag der Deutschen Einheit
am 3. Oktober 2004
Heft 34: Festakt des Sächsischen Landtags
zum Tag der Deutschen Einheit
am 3. Oktober 2005
Heft 35: Festveranstaltung
»175 Jahre sächsische Verfassung«
am 4. September 2006
Heft 36: Festakt des Sächsischen Landtags
zum Tag der Deutschen Einheit
am 3. Oktober 2006
Heft 37: Gedenkstunde für die Opfer
des Nationalsozialismus
am 28. Januar 2007
Heft 38: Feststunde »15 Jahre Sächsische
Verfassung« am 24. Mai 2007
Heft 39: Festakt des Sächsischen Landtags
zum Tag der Deutschen Einheit
am 3. Oktober 2007
Heft 40: Gedenkstunde für die Opfer
des Nationalsozialismus
am 27. Januar 2008
Die einzelnen Hefte stehen Interessenten in der Bibliothek des Sächsischen Landtags zur Verfügung.
Heft 41:
Heft 42:
Heft 43:
Heft 44:
Heft 45:
Heft 46:
Heft 47:
Heft 48:
Heft 49:
Heft 50:
Heft 51:
Heft 52:
Heft 53:
Heft 54:
Festveranstaltung aus Anlass
des 60. Jahrestages der Gründung
des Staates Israel
am 14. Mai 2008
Gedenkstunde für die Opfer
des Nationalsozialismus
am 27. Januar 2009
Festakt zur Verabschiedung von
Landtagspräsident Erich Iltgen
am 2. Oktober 2009
Festakt des Sächsischen Landtags
zum Tag der Deutschen Einheit
am 3. Oktober 2009
Festakt »20 Jahre Friedliche Revolution«
am 9. Oktober 2009
im Neuen Gewandhaus in Leipzig
Festakt zum Gedenken
an die Opfer des Nationalsozialismus
am 27. Januar 2010
Festakt des Sächsischen Landtags
zum Tag der Deutschen Einheit
am 3. Oktober 2010
Festakt des Sächsischen Landtags
»20 Jahre Sächsischer Landtag«
am 27. Oktober 2010
Haus der Kirche/Dreikönigskirche
in Dresden
Eröffnung der Ausstellung »Akteure im
Bild – Der Sächsische Landtag 1990 bis 1994«
am 25. November 2010
»Gedenken an die Opfer
des Nationalsozialismus«
am 27. Januar 2011
Festakt des Sächsischen Landtags
zum Tag der Deutschen Einheit
am 3. Oktober 2011
»Gedenken an die Opfer
des Nationalsozialismus«
am 27. Januar 2012
Festakt des Sächsischen Landtags
zum Tag der Deutschen Einheit
am 3. Oktober 2012
»Gedenken an die Opfer
des Nationalsozialismus«
am 27. Januar 2013
Bernhard-von-Lindenau-Platz 1 | 01067 Dresden | Tel. 0351 493-50 | info@slt.sachsen.de | www.landtag.sachsen.de