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GLanzLIchTER Im nOVEmBER - Sonnendeck

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4 – POOL<br />

Rabih Mroué: With Soul, With Blood<br />

an den Wühltischen des<br />

menschlichen Desasters<br />

Die Istanbuler biennale zeigt ein ungemein politisch<br />

motiviertes Programm, reiht Völkermord an religiösen<br />

extremismus, Kapitalismuskritik an digitale Diktaturen<br />

und überschreibt das ganze mit dem brecht-Zitat<br />

„Wovon lebt der Mensch?“. Von Hansjörg Fröhlich<br />

Eigentlich ist es kompletter Irrsinn,<br />

sich in einer derart anmutigen Stadt<br />

wie Istanbul in ein Gruselkabinett<br />

zu begeben. Doch überbordende<br />

Schönheit kann leicht zur Gewohnheit<br />

werden und so ist es für die<br />

Nachhaltigkeit touristischen Staunens<br />

ganz gut, sich zwischendurch<br />

mal so richtig ins Inferno strammlinker<br />

Ausstellungsrhetorik zu begeben.<br />

Danach ist man dann wieder<br />

für jedes Lächeln auf der Straße, für<br />

jeden friedlich vor sich hin dampfenden<br />

Mokka und für jede noch so<br />

unspektakuläre Bimmelbahnfahrt<br />

dankbar.<br />

Die 11. Istanbul Bienali zeigt an drei<br />

Ausstellungsorten 141 Arbeiten von<br />

70, überwiegend aus Osteuropa und<br />

dem Nahen Osten eingeladenen<br />

Künstlern, Projekten und Kollektiven.<br />

Die Kuratoren, die vierköpfige<br />

Frauengruppe What, How & for<br />

Whom /WHW aus Zagreb, haben<br />

eine Ausstellung zusammengetragen<br />

die radikaler kaum sein könnte,<br />

behandelt sie doch die Gegenwartsthemen,<br />

Krise, Krieg, Verslumung<br />

und globaler Raubtierkapitalismus<br />

in einem marxistischen „Krieg den<br />

Palästen“-Duktus. Das klingt nach<br />

Stress und Kommunardeneifer,<br />

lässt den wiederholten Einsatz der<br />

Lesebrille befürchten und schreit<br />

nicht gerade nach den munter daherdesignten<br />

Latte Macchiato-Belanglosigkeiten,<br />

die einem unlängst auf<br />

so manch anderer Kunstbiennale<br />

als latest Schönheit verkauft wurde.<br />

Doch wenn die Welt brennt, muss die<br />

Schönheit halt warten.<br />

Schon beim Erreichen des ersten<br />

und wichtigsten Veranstaltungsortes<br />

Antrepo No.3, im Gebäude des ehemaligen<br />

Hafenzollamts im Stadtteil<br />

Tophane, schwant dem Besucher,<br />

dass er hier postkapitalistisches<br />

Ge lände betritt, wo dem großen<br />

Virus Geld mit Verachtung begegnet<br />

wird. Die freundlichen Freischärler<br />

an der Kasse nehmen gerade mal zehn<br />

Türk lira Eintritt, was dem Gegenwert<br />

von vier Hypo Real Estate-Aktien,<br />

also etwa fünf Euro entspricht. Fünf<br />

Euro für 141 Werke von 32 Män-<br />

nern,30 Frauen und 8 Kollektiven,<br />

die im Durchschnitt 43,1 Jahre alt<br />

sind, aus 40 Ländern kommen und in<br />

14 Fällen die doppelte Staatsbürgerschaft<br />

besitzen – wie das Handbuch<br />

zur Biennale in seinem 16-seitigen,<br />

dem alten linken Glauben an die<br />

Objektivität von Tabellen frönenden,<br />

Statistikteil weiß. Dass fünf Euro<br />

ganz klar ein Lockangebot sein<br />

muss, das niemals kosten deckend<br />

sein kann, bestätigt der nochmalige<br />

Blick ins Handbuch, wo eine Schar<br />

nationaler und internationaler Sponsoren<br />

aufgelistet ist, darunter der<br />

türkische Medienunternehmer und<br />

Militär-Protegé Aydin Dogan, eine<br />

Art türkischer Berlusconi, und die<br />

Koc-Holding, die zusammen mit<br />

Shell das türkische Erdölgeschäft<br />

kontrolliert und in deren Aufsichtsrat<br />

Heinrich „Schmiergeld“ von Pierer<br />

sitzt. Das traurige am Klassenkampf<br />

ist, dass er immer von Unternehmern<br />

finanziert wird. Wer angesichts solch<br />

ehrloser Ungereimtheiten zwischen<br />

Anspruch und Umsetzung der Biennale<br />

hier schon aussteigen möchte<br />

und sich nach der quirligen Unbekümmertheit<br />

des Menschenauflaufs<br />

am Hafen von Eminönü und den dort<br />

angebotenen leckeren und garantiert<br />

frisch zubereiteten Fischbrötchen<br />

sehnt, dem sei gesagt: Der Klassenkampf<br />

ist kein Ponyhof, Marx hatte<br />

einen langen Bart, und das Gute, das<br />

Erhabene kommt immer erst nach<br />

der Revolution.<br />

Nicht jammern – arbeiten!<br />

Nach einer ausgiebigen Taschenkontrolle<br />

empfängt den Besucher am<br />

Eingang zum ersten Saal Hüseyin<br />

Bahri Alptekins Leuchttafel „Don’t<br />

complain“. Ein Vademecum für<br />

Kunstinteressierte, die angesichts<br />

der bevorstehenden, schweren Biennale-Kost<br />

nicht verzagen sollen und<br />

allgemeiner betrachtet, eine Durchhalteparole<br />

für wegrationalisierte<br />

Arbeitskräfte im globalen Dumpinglohnsektor.<br />

Bloß nicht jammern<br />

jetzt! Die Zeiten sind schwer, der<br />

Chef ein Hund, da gehen wir jetzt<br />

durch. Der Libanese Rabih Mroué<br />

zeigt in seinem genialen schwarz-<br />

weiß Video „With Soul, With Blood“<br />

innerhalb von knapp fünf Minuten,<br />

wie er aufgrund seiner persönlichen<br />

Geschichte zu der Überzeugung<br />

kam, dass eine Gesellschaft nicht auf<br />

Werten wie Vaterland, Abstammung<br />

und Aufopferung bauen kann, ohne<br />

in eine Sackgasse zu geraten. Er fühlt<br />

sich verloren, sieht sich außerhalb<br />

der Gesellschaft und entschuldigt<br />

sich in seiner Arbeit „I, the undersigned“,<br />

für seine Unversehrtheit im<br />

Libanonkrieg, sein Liebäugeln mit<br />

der Emigration und vieles mehr, was<br />

seinen Status als geistiger Deserteur<br />

markiert und ihn als Freund<br />

und liebenswertes Mitglied in der<br />

Gemeinschaft der zu Recht mit<br />

den Zuständen an ihrem Wohnort<br />

hadernden Menschen macht. Von<br />

Bürgerkriegen zerfleischte Sozialstrukturen<br />

thematisiert auch der<br />

türkische Künstler Erkan Özgen in<br />

seinen Videos. In „Origin“ singen<br />

statuslose afrikanische <strong>Im</strong>migranten<br />

in Süd-Spanien ein Zitat aus der türkischen<br />

Nationalhymne, welches<br />

vom Vorteil Türke zu sein berichtet.<br />

Ein Knast für politische Gefangene<br />

in Diyarbarkir, der exemplarisch<br />

für die Unterdrückung kurdischer<br />

Kultur und Politik in der Türkei<br />

steht, bildet die Kulisse für „Robben“.<br />

Protagonisten springen gegen die<br />

Gefängnismauer an, singen tragische<br />

Lieder und bewerfen ein vorher an<br />

der Mauer angebrachtes Portrait<br />

Michel Foucaults mit Steinen, bis es<br />

zu Boden fällt. Solche unmittelbaren<br />

Bezugnahmen zur Zeitgeschichte,<br />

zeigt die Istanbul Biennale zuhauf.<br />

Fern ab von Kunstdiskursen geht es<br />

um konkrete Einmischung. Dabei<br />

nehmen viele Arbeiten die Form<br />

der reinen Dokumentation an. Etwa<br />

„Terörün Yönetimi“ (dt. Terrorherrschaft)<br />

des Medienkollektivs Bureau<br />

d’études, eine Weltkarte, die verborgene<br />

aber mächtige globale Strukturen<br />

der Finanzwelt und des „World<br />

Governance“ aufzeigt. Ein Versuch<br />

Parallelen und Verbindungen zwischen<br />

verschiedenen Systemen der<br />

Unterdrückung und Manipulation<br />

sichtbar zu machen, die im Informations-Overkill<br />

westlicher Demo-<br />

POOL – 5

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